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Anmerkungen zur Rolle des Lehrers

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Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005Heinz-Hermann Haar- Schriftführer -info@westfaelische-direktorenvereinigung.deDr. Bernhard BuebDie Lehrer als Erzieher<strong>Anmerkungen</strong> <strong>zur</strong> <strong>Rolle</strong> und zum Selbstverständnis der Lehrer„In früherer Zeit fiel der Schule in der Hauptsachenur der Unterricht als Aufgabe zu. Für dieErziehung sorgten im allgemeinen Elternhausund Umgebung. Heute muss die Schule dieAufgaben der Erziehung z. T. mit übernehmenund darf sich mit der Erledigung <strong>des</strong> bloßenUnterrichts nicht mehr begnügen. Wie wenigder Schulunterricht für die Charakterbildungder Jugend genügt, beweist die Lebensführungeines großen Teils der schulentlassenen Jugend.Verwahrlosung und Zügellosigkeit findenwir nur zu häufig nicht bloß bei denen, welchedie Volksschule verlassen haben, sondernauch bei den „höheren“ Schülern. Man denkean die jungen Fabrikarbeiter und Kaufleutesowie an viele studentische Sitten, besser gesagtUnsitten. Die Entwicklung <strong>des</strong> großstädtischenLebens, der gesteigerten Zivilisation,denn von Kultur kann man nur selten sprechen,stellt heute an den Charakter größereAnforderungen denn zuvor. Nur wenige Schulentlassenesind ihnen einigermaßen gewachsen,ein großer Teil leidet in der Regel, sei esseelisch, sei es körperlich, ganz oder zum TeilSchiffbruch.“Diese Sätze wurden vor dem I. Weltkrieg vonHermann Lietz, dem Gründer der ersten deutschenLanderziehungsheime, formuliert. DerText könnte aus unserer Zeit stammen. Schondamals konstatierte Hermann Lietz einen Erziehungsnotstand;der Bildungsnotstand wurdeerst nach dem II. Weltkrieg ausgerufen.Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichenist heute noch größeren Gefahren ausgesetztals damals. An erster Stelle nenne ichdas Fernsehen, das Internet und den Computer.Der amerikanische Soziologe Neil Postmanhat ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel„Das Verschwinden der Kindheit“ geschrieben.Seine These lautet, dass Kindheit einenSchutzraum vor der Erwachsenenwelt darstellt,einen Schutzraum besonders vor derSexualität, der Gewalt, der Korruption und derAbhängigkeit vom Geld der Erwachsenen. DasMittelalter kannte diesen Schutzraum nicht.Kinder waren unmittelbar am Leben der Erwachsenenbeteiligt, sie genossen auch keinenRechtsschutz. Erst die Neuzeit, vor allemdas 19. und 20. Jahrhundert, haben die Ideeder Kindheit als eines eigenen geschütztenErfahrungsraumes erfunden und praktiziert.Heute haben wir uns in mittelalterliche Zustände<strong>zur</strong>ück entwickelt. Der kindliche Erfahrungsraumist aufgehoben durch das Fernsehenund das Internet. Kinder und Jugendlichesind wieder unmittelbar am Leben der Erwachsenenbeteiligt. Wer sich die Mühe machenwürde, sich einen Tag vor dem Fernseher zuzumutenbei einem Angebot von 30 bis 40Sendern, und wer versuchen würde, sich in dieMentalität eines 15-jährigen Mädchens oderJungen zu versetzen, müsste entsetzt seinüber das, was die Mehrzahl der Jugendlichentäglich erleben.1/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005Jugendliche erfahren die Beliebigkeit von Sexualität,die Auflösung aller Bindungen, denPrimat von Spaß und Egoismus, die grenzenloseKonsumgesellschaft, die Dauerpräsenzvon Gewalt, die Selbstverständlichkeit vonKorruption und die Abhängigkeit der Menschenvom Geld.Unter den Erscheinungen der Erwachsenenweltragt besonders die Bedeutung <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>hervor, als letzte sinngebende Instanz für dasHandeln und Denken der Menschen. Wir erlebendurch die Medien einen grenzenlosenMaterialismus. Geldgier, Geldbesitz und Gelderwerbsind der Hauptantrieb im Guten und imBösen. Man muss sich nur das Beispiel Sportvor Augen führen, um die Macht <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>zu erkennen. Die Güte einer Sache wird anihrem materiellen Wert gemessen, der Rangvon Berufen an der Höhe <strong>des</strong> Einkommensorientiert. In Aktiengesellschaften steht nichtan erster Stelle die Qualität <strong>des</strong> Produkts unddas Wohl der Mitarbeiter, sondern der ShareholderValue.Zu allen Zeiten haben Korruption, Geldgier undGewalt das Leben der Menschen beherrscht.Der Unterschied heute liegt darin, dass diesenErscheinungen der menschlichen Natur keinKorrektiv durch die Religionen oder durch eineIdeologie entgegentritt. Religionen und Ideologienhelfen, die negativen Elemente menschlichenHandelns zu deuten und Hoffnung aufVeränderung zu wecken. Jugendliche wachsenheute auf, ohne Religion und ohne Hoffnungauf Überwindung der Ungerechtigkeit inder Welt und ohne Hoffnung auf den Sieg derguten Kräfte über die bösen. Alle religiösenund weltlichen Utopien und Menschheitsträumehaben sich als unerfüllbar erwiesen.Der Aufbruch der Studenten der 68er-Jahrewar getragen von einem Glauben an eine gerechteWelt, inspiriert durch die marxistischeIdeologie. Es waren damals Wohlstandskinder,die auf die Straße gingen. Der französischeFilmemacher Jean-Luc Godard hat die Studentendieser Zeit die „Kinder von Karl Marxund Coca Cola“ genannt. Heute ist Karl Marxverschwunden und Coca Cola übrig geblieben.Das Denken und Verhalten der Jugendlichenorientiert sich am Konsum, eine Orientierungan humanistischen oder religiösen Ideen findetnicht mehr statt. Ein bekannter Pädagoge,Wolfgang Harder, hat die Einstellung der Jugendlichenin der kurzen Formel zusammengefasst:„ICH. ALLES. SOFORT.“ Sie sind ichbezogen,sie leben in einer Welt der unbegrenztenAngebote und sie wollen die Befriedigungvon Bedürfnissen nicht aufschieben.Darin liegt jedoch der Ursprung aller Kultur.Die Haltung „ICH. ALLES. SOFORT.“ entstehtimmer dann, wenn Menschen den Glauben andie Zukunft verloren haben. Die Zukunftserwartungenvon Jugendlichen auf eine humaneWelt sind gegen null gesunken. Man sollte sicheinmal vor Augen führen, mit welchen BedrohungenJugendliche heute fertig werden müssen:der Sinnlosigkeit <strong>des</strong> Daseins, der wachsendenÜberbevölkerung, der Ausbeutung derLebensgrundlagen der Menschen, der Vergreisungder westlichen Nationen, der Auflösungder menschlichen Werte und Bindungen, derstrukturellen Arbeitslosigkeit, dem Materialismusals sinngebender Idee u.s.w.(„Es reden und träumen die Menschen viel vonkünftigen, besseren Tagen“, so heißt es beiSchiller. Dürfen heute Jugendliche noch soträumen?)Für uns Pädagogen bedeutet die Dominanzkapitalistischen Geistes eine große Herausforderung.Der Kapitalismus <strong>des</strong> 18., 19. undauch noch teilweise 20. Jahrhunderts war inden Ländern der nördlichen Hemisphäre domestiziertdurch das Christentum. Der Essay<strong>des</strong> Soziologen Max Weber „Die protestantischeEthik und der Geist <strong>des</strong> Kapitalismus“,gibt darüber erstklassig Auskunft. Max Weberhat die These aufgestellt, dass die protestantischeEthik calvinistischer, reformierter undpuritanischer Provenienz durch die Forderungnach asketischer und rationaler Lebensführung,vor allem durch Arbeit als alterprobtesasketisches Mittel und Selbstzweck <strong>des</strong> Lebensüberhaupt („wer nicht arbeitet, soll nichtessen“, heißt es bei Paulus) den Geist <strong>des</strong>Kapitalismus geprägt habe. Wobei mit Arbeitbesonders die Berufsarbeit gemeint war. DieNützlichkeit und Gottgefälligkeit eines Berufsrichtet sich im puritanischen Verständnis nachdem wichtigsten Gesichtspunkt: „der privatwirtschaftlichenProfitlichkeit. Denn wenn Gotteinem der Seinigen eine Gewinnchance zeigt,2/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005so hat er seine Absichten dabei: und mithin hatder gläubige Christ diesem Rufe zu folgen,indem er sie sich zu Nutze macht“.Askese, Arbeit und rationale Lebensführung,das hieß vor allem, Zeit und Energie so einteilen,dass kein Müßiggang entsteht.Askese, Arbeit und rationale Lebensführungwurden zu Maximen der Erziehung von Kindernund Jugendlichen. Ich könnte Ihnen dassehr gut an der Erziehungsphilosophie KurtHahns, <strong>des</strong> Gründers von Salem, aufzeigen,Sie könnten diese Erziehungsphilosophie aberauch aus Ihrer eigenen Rückerinnerung konstruieren.Die wohlhabenden Familien pflegtenihre Kinder so zu erziehen, als ob sie nichtwohlhabend wären. Einrichtugen wie Salemübernahmen diesen Erziehungsauftrag. Eswurde der Schutzraum vor dem Materialismusder Erwachsenenwelt geschaffen, den NeilPostman verschwinden sieht. Die Erwachsenenversuchten aber auch in ihrem eigenenLeben Vorbild zu sein. Bescheidenheit undUnterstatement waren die Merkmale, an denensich die Gebildeten unter den beati possidenteserkannten. Nouveau riche bedeutete, seinAnsehen durch demonstrative Zurschaustellungmaterieller Werte zu erwerben. JesuChristi heftige Worte gegen die moralischpsychischenFolgen <strong>des</strong> Reichtums (eher gehtein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicherins Himmelreich) waren kein verkappter Sozialismus,sondern drückten die Sorge über dieMacht von Besitz und Geld über das Seelenleben<strong>des</strong> Menschen aus.Die protestantische Ethik verpflichtet die Menschenaufs Gemeinwohl. Wenn Gott denFrommen durch Wohlstand belohnte, dannforderte er von ihm auch Einsatz für das Gemeinwohl.Der Kapitalismus ist nicht mehrdurch die protestantische Ethik domestiziert, erfolgt ohne Orientierung an höheren Wertenseinen eigenen Gesetzen.Welche Antwort finden wir Pädagogen auf dieHerausforderung unserer Zeit auf den Mangelan Sinn, Moral, Orientierung?Die großen sinngebenden Institutionen, dieKirchen z. B., aber auch die Bastionen <strong>des</strong>Bildungsbürgertums z.B. das humanistischeGymnasium oder die Ideale der Arbeiterbewegungpräsentiert in deren Parteien und Institutionensind insgesamt <strong>zur</strong> Bedeutungslosigkeitherabgesunken. Es ist in weit höherem Maßedie Moral <strong>des</strong> einzelnen gefordert. Deswegenbleibt für die Pädagogen als einziger Weg, diePersönlichkeit der jungen Menschen, ihrenWiderstand gegen die Verführungen der Außenweltzu stärken. Für diese Stärkung derPerson dient immer noch am besten der etwasaltmodische Begriff Chartakterbildung. UndCharakter ist letztlich „Widerstand“.Für diesen Auftrag der Pädagogik hat Hartmutvon Hentig, der führende Pädagoge der Nachkriegszeit,die Formel geprägt: Die Sachenklären, die Menschen stärken.Diese Formel enthält die beiden großen Bereiche<strong>des</strong> gesteuerten Aufwachsens von Jugendlichen,nämlich Bildung und Erziehung.Bildung heißt, sich das Wissen und Könnender Vorfahren anzueignen, mit Hilfe diesesErfahrungsschatzes die Welt und das individuelleDasein interpretieren zu können und darausImpulse für das eigene Handeln zu gewinnen.Charakterbildung betont weniger den intellektuellenBereich als den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung.Charakter haben heißt, seineIdentität wahren gegen die Einflüsse der Außenwelt.„Charakter ist Widerstand“ (Hartmutvon Hentig). Jugendliche müssen gestärktwerden, gegen den Druck der Umgebung dasfür richtig Erkannte zu tun. Der zentrale Auftragaller Lehrer und Erzieher heißt daher Charakterbildung,also Stärkung der Persönlichkeit.Wir müssen den jungen Menschen Gelegenheitenschaffen, Vertrauen in sich und dieWelt zu gewinnen. Die Jugendlichen müssenerfahren können, dass es sich lohnt, trotz vielerÄngste vor dem eigenen Versagen oder vordem Spott der Gleichaltrigen, den eingeschlagenenWeg weiter zu gehen und Hindernissezu überwinden.Für junge Menschen gibt es keinen besserenOrt, um ihren Charakter zu bilden, als eineGemeinschaft von Jugendlichen. In TorquatoTasso von Goethe heißt es: „Es bildet ein Ta-3/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005lent sich in der Stille, sich ein Charakter in demStrom der Welt.“Zur Bildung <strong>des</strong> Charakters brauche ich denStrom der Welt. Große Gemeinschaften bietenJugendlichen den ersten Schritt in die Welt.Der Herzog von Wellington hat daher nach derSchlacht von Waterloo den berühmten Satzgeäußert: „Die Schlacht von Waterloo wurdeauf den Sportfeldern von Eton und Harrowgewonnen.“Im Verhältnis von Bildung und Erziehung istErziehung heute ein Stiefkind. Eltern und Lehrerverzichten zum Teil auf Erziehung, zumTeil resignieren sie, zum Teil fürchten sie denKonflikt, die mühselige tägliche Auseinandersetzung.Diese Auseinandersetzung ist anstrengendergeworden, weil die Anerkennungvon Autorität in Deutschland leidet, bedingtdurch unsere Geschichte, es leidet aber auchdie Autorität von Eltern und Lehrern, weil sieohne Selbstbewusststein und nicht selbstverständlichausgeübt wird.Eltern und Lehrern fällt es besonders schwer,Kinder und Jugendliche an Disziplin zu gewöhnen.Disziplin ist das ungeliebte Kind der Pädagogikund doch ist sie das Fundament allerPädagogik. Disziplin heißt Unterordnung, Konsequenz,Zwang; sie legitimiert sich durchLiebe zu Kindern und Jugendlichen. Konsequenzund Fürsorge sind die siamesischenZwillinge der Erziehung, Konsequenz ohneLiebe und Fürsorge wird unmenschlich, Liebeund Fürsorge ohne Disziplin führt zu Verwöhnungund Egoismus.„Erziehung ist Liebe und Vorbild, sonst nichts“,so hat sie Friedrich Fröbel, der Erfinder derKindergärten, beschrieben. Liebe ohne Disziplinwird herrisch oder pervertiert zu Eifersucht,die Mutter muss ihre Liebe zügeln, weil siesonst ihr Kind verwöhnt und zu Egoismus verführt,Erotische Liebe muss im Korsett derEhe gebändigt werden, weil sie sonst die Menschenüberfordert und ihre Bindungen gefährdet.Vorbild ist wiederum geläuterte, personifizierteErfahrung, menschgewordene Ethik, es ist dienach vielen Stadien der Selbstüberwindungerworbene Freiheit, die im Denken und Handelneines Menschen sichtbar wird. FröbelsSatz klingt so harmlos-freundlich und enthältdoch die harte Forderung nach Unterordnungund Selbstüberwindung.Man wird keinen großen Menschen in Geschichteund Gegenwart finden, der nicht einestrenge Erziehung genossen hat. Ό µὴ δαρεὶςά̉νθρωπος ου̉ παιδεύεθαιDer nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen;diesen Satz Menandros hat Goethe alsMotto seiner Autobiographie „Dichtung undWahrheit“ vorangestellt.Dieses eigene Wirkungsfeld war die Gemeinschaft,das Internat.Wer das Aufwachsen von Jugendlichen begleitet,als Eltern, Lehrer oder Beobachter,erlebt die Macht der Gleichaltrigen. Der Einflussder Erwachsenen auf 15-jährige tendiertgegen Null.Wenn wir den Charakter von Jugendlichenbilden wollen, müssen wir eine Umgebungschaffen, die den Faktor „Gleichaltrige“ <strong>zur</strong>Stärkung ihrer Persönlichkeit nutzt.Dieser Weg ist zu allen Zeiten gegangen worden,seitdem es Jugend gibt, also in der Neuzeit.Kirchen, Jugendverbände, Jugendbewegung,Pfadfinder, aber auch die pervertiertenFormen der Erziehung im Nationalsozialismusund Kommunismus zählen darunter.Heute fehlen den Jugendlichen Gemeinschaften,in denen sie sich aktiv erproben, indem sieihre Ich-Stärke entwickeln können. Außerdemfehlen ihnen Erwachsene, die sie beim Aufwachsenbegleiten, sie führen, ihnen Grenzensetzen, aber sie auch ermutigen, ihren Weg zusuchen und zu finden. Diese Aufgabe müssenin höherem Maß die Lehrer übernehmen.Denn der Ausweg der Jugendlichen ist dieSpaßgesellschaft. Spaß wird passiv erlebtdurch Animation von außen, in zufällig entstehenden,beliebigen „Gemeinschaften“, die diesenNamen nicht verdienen, weil sie oft ohneZiel, Struktur, innere Kommunikation und Dauerexistieren. Spaß ist nicht das Glücksgefühl,das den aktiven Menschen erfüllt.4/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005Es müssen daher Gemeinschaften gegründetwerden, Gemeinschaften von Lehrenden undLernenden, in denen Jugendlichen unter Führungvon Erwachsenen die richtigen Wertevermittelt werden und in denen sie Selbstvertrauenentwickeln können.Neben die Bildung und die Belehrung tritt dieErfahrung der eigenen Person in der Gemeinschaft.Am Beispiel Salems will ich exemplarisch zeigen,wie die Antwort der Pädagogik auf denZerfall der öffentlichen Moral praktisch aussehenkann und welche <strong>Rolle</strong> die Lehrer spielen.Erziehung <strong>zur</strong> Verantwortung heißt das zentralePrinzip in Salem. In einer GemeinschaftVerantwortung zu übernehmen, vermittelt dasGefühl, gebraucht zu werden, wichtig zu sein.Jungen Menschen Verantwortung zu übertragen,setzt wiederum ein hohes Maß an Vertrauenin die Jugendlichen voraus.Die Erzieher sind immer Lehrer. Sie leben mitden Jugendlichen zusammen im gleichenHaus, teilen die Mahlzeiten mit ihnen und begleitensie durch den Tag und den Abend.Auch nachts sind sie verantwortlich. Sie erhaltenfür ihre Tätigkeit als Erzieher einen Deputatsnachlassvon 10 – 12 Stunden; die Zahlder zu betreuenden Mädchen oder Jungenvariiert zwischen 18 und 24. Die Bezahlung istwie beim Staat. Miete und Nebenkosten sindsehr preisgünstig; pro Schüler erhalten sieeine Zulage von Euro 20,- / Monat. Es gibtkeinen Mangel an Bewerbern für diese Doppeltätigkeit.Sie ist allerdings in der Regel auffünf bis sieben Jahre beschränkt. Aber auchzum sogenannten Externat engagieren sichdie Lehrer vielfältig im Internat und am Nachmittagund Abend.Konkret sieht das so aus, dass Jugendliche inGruppen von 18 bis 24 Mädchen oder Jungenzusammen leben und sich einen älteren Schülerals Helfer oder Helferin wählen. DieserHelfer ist verantwortlich für die Betreuung derGruppe. Der begleitende Erwachsene, einLehrer, erfüllt seinen Auftrag dann, wenn ermöglichst viel Verantwortung auf den Helferdelegiert. Dieser Helfer ist verantwortlich fürdie Ordnung in der Gruppe, für die Lösung vonKonflikten, für das Verhältnis zu den Erwachsenen;er ist aber auch Berater und Organisator.Die Helfer zusammen mit den Lehrernbilden ein kleines Parlament, in dem vierzehntägigüber die Probleme <strong>des</strong> Internats gesprochenund entschieden wird.In der verantwortlichen <strong>Rolle</strong> lernen Jugendlichepolitisch zu denken und zu handeln. WennPolitik die gemeinsame Regelung der gemeinsamenVerhältnisse meint, werden sie an diesergemeinsamen Regelung beteiligt. Sie werdennicht darüber belehrt, was politischesHandeln ist, sondern sie erfahren die Politikunmittelbar.Neben dem Helferamt gibt es noch viele andereÄmter und Funktionen, in denen sich Jugendlichebewähren können: Betriebshelfer,Gästehelfer, selbst die Verwaltung der Fahrräderist einem Helfer übertragen, es gibt Studienhelferfür akademische Fächer, es gibteinen Esssaalkapitän, der für die gesamteOrganisation <strong>des</strong> Esssaals zuständig ist usw.Das für Recht Erkannte durchsetzen, das istdie wichtigste Forderung der Erziehung <strong>zur</strong>Verantwortung. Hier ist jeder als Person gefordert,Zivilcourage ist gefragt, an solchen Ämternund Funktionen kann jeder wachsen.Die Tugend <strong>des</strong> Gemeinsinns und der Wertder Hilfe für Schwächere wird in den Dienstenerfahren. Gemeinsinn und praktische Nächstenliebelernt man nicht durch Belehrung imUnterricht, sondern durch learning by doing, indem man hilft, erwirbt man Kompetenz undFreude am Helfen.Deswegen gilt in Salem die Regel, dass jederSchüler ab der 10. Klasse einen Nachmittagder Woche im Dienste anderer Menschenverbringen muss. Es gibt mehr technischeDienste wie eine Schulfeuerwehr oder einTHW oder mehr soziale Dienste, wie Altenbetreuung,Betreuung von Behinderten,Betreuung von Asylantenkindern und dergl.Entscheidend an den Diensten ist, dass sieobligatorisch sind, „der Appetit kommt mit demEssen“, durch die Dienste werden Werte undTugenden gefördert, die heute häufig verschüttetsind. Sensibilität, Verlässlichkeit, Ein-5/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005fühlungsvermögen sind solche Tugenden, aberauch Gemeinsinn und innere Beteiligung ander Not anderer. Man erinnere sich an dieSegnungen und erzieherischen Wirkungen <strong>des</strong>Zivildienstes.Um die Jugendlichen aus ihrer Langeweile undihrer passiven Spaßhaltung zu befreien, versuchenwir in Salem, jungen Menschen zu Erlebnissenund vielleicht sogar zu Abenteuern zuverhelfen. Denn Kinder und Jugendliche wachsenin einer Welt auf, in der viele äußerlicheReize auf sie einwirken, aber die Gelegenheit,sich in ungeordneten und wilden Verhältnissenselbst einen Weg zu suchen, sind verschwindendgering.Kurt Hahn war der Meinung, dass 80 Prozentder Probleme, die die Schule lösen soll, erstdurch die Schule entstehen. Er wollte daherzwischen 14 und 16 Schule in der herkömmlichenForm abschaffen und den Jugendlichenin dieser Zeit zu Abenteuern verhelfen (OutwardBound) oder ihnen Gelegenheiten schaffen,in denen sie die Erfahrung machen können,gebraucht zu werden. Ein solcher radikalerSchritt war natürlich nicht möglich. Er hatdaher Kompensationen gefordert. Ein Beispieldafür sind die Outward Bound Kurse unsererneunten Klassen.Wir schicken die Schüler der neunten Klasseim Sommer 14 Tage in die Berge oder an dieSee, wo sie ohne ein festes Dach über demKopf sich selbst versorgen müssen und 14Tage unter äußerster Anstrengung leben sollen.Das können in den Alpen Höhenwanderungen,Klettererfahrungen, Wildwasserabenteuersein, das kann eine Wanderung von derSüdspitze <strong>zur</strong> Nordspitze von Korsika sein, eskönnen Segel- und Kajakerlebnisse sein. Jeanstrengender und fordernder solche Tagesind, <strong>des</strong>to vergnügter kommen die Schüler<strong>zur</strong>ück. Denn sie haben Spaß als Folge voneigener Aktivität erlebt und nicht nur von äußererAnimation.Es gibt sehr viele weitere Aktivitäten, Arbeitsgemeinschaftenund Projekte im Internat, beidenen sich Jugendliche bewähren können.Der Sport, die Musik, das Theater sind klassischepädagogische Wege, auf denen Jugendlichesich selbst finden können und die glücklicherweisenoch vielfach begangen werden.Die Charakterbildung hat aber auch noch andereDimensionen. Das Leben im Internat isteine ständige Gratwanderung zwischen Anpassungund Widerstand. Der Jugendlichemuss lernen, sich einerseits anzupassen, aberdort Widerstand zu leisten, wo er Gefahr läuft,gegen sein Naturell und sein eigenes Wesenzu verstoßen.Eine Internatsgemeinschaft bedarf einer strengen,äußeren Disziplin. Disziplin heißt Unterordnung.Gehorsam widerspricht aber nichteiner Entwicklung zu einer freien, kritischenPersönlichkeit. Englische, amerikanische undfranzösische Schüler in den Eliteschulen dieserLänder wachsen unter einem strengenDiktat von Unterordnung, Disziplin und Gehorsamauf; das Ergebnis sind freie, kritischeBürger.Zum Beispiel müssen Schüler, die Unterrichtschwänzen oder wiederholt Hausaufgabennicht haben, Samstagabends nachsitzen; ingravierenden Fällen müssen sie das Wochenendeim Internat mit Zusatzaufgaben verbringen.Täglich muss ein Schüler in der Mittel- undOberstufe eine Urinprobe morgens um 6.30Uhr abliefern, durch das Los wird er bestimmt.Ist die Probe positiv, muss er sofort die Schuleverlassen.Die Mentoren (Erzieher) haben Alkotestgeräte.Schüler müssen jederzeit gewärtig sein, dassein Mentor sie blasen lässt, z.B. bei Festen. Impositiven Fall folgen Strafen.Dieses sind einige Beispiele. Klare Regeln undKonsequenzen machen das Gemeinschaftslebenfür Schüler einfacher und berechenbarer.Erziehung <strong>zur</strong> Verantwortung in einer Gemeinschaft,überhaupt Leben und Lernen in einerGemeinschaft ließe sich für alle Kinder undJugendlichen in Ganztagesschulen ermöglichen.Das erfordert aber ein neues Selbstverständnis<strong>des</strong> Lehrerberufes.Der Auftrag und die <strong>Rolle</strong> der Lehrer6/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005Der Dreh- und Angelpunkt aller Reformenmüssten die <strong>Rolle</strong>, die Haltung, das Selbstverständnis,die Aus- und Fortbildung, die Arbeitsbedingungen,die Stellung und die Anerkennungunserer Lehrer sein.Wir müssen unsere Lehrer vor allem gewinnen,ihren pädagogischen Auftrag zu erweitern:aus „Unterrichtern“, wie sie von den Reformern<strong>des</strong> letzten Jahrhunderts genanntwurden, müssen Erzieher werden. Die <strong>Lehrers</strong>ind die einzigen, die dem Erziehungsdefizit inDeutschland abhelfen können. Aber sie müssenes wollen, sie müssen durch ihre Ausbildungund vor allem durch Fortbildung daraufvorbereitet werden und sie müssen Bedingungenvorfinden, die es erlauben, über den Unterrichthinaus erzieherisch tätig zu werden.Die Lehrer müssen zu den Erziehern der Nationwerden, denn die Eltern, vor allem dasHeer der Alleinerziehenden (seit 1970 hat sichihre Zahl verdreifacht und die Entwicklungdauert an) ist der Aufgabe der Erziehung kaummehr gewachsen, auch durch die Zunahmeder Eltern und Kinder aus bildungsfernenSchichten. Die dreißig Prozent der intaktenFamilien und der Alleinerziehenden, denenErziehung gelingt, dürfen ihre Situation nichtzum Maßstab der Beurteilung im Lande machen.Das Bild der Lehrer in Deutschland entsprichtnicht dieser hohen Erwartung. Der Mensch imLehrer bleibt vielen Schülern verborgen. Sieerleben den Funktionär, der ihnen im Auftrag<strong>des</strong> Staates Lehrinhalte beizubringen hat undEinfluss auf ihre schulische Karriere nimmt.Sie erleben ihn in Deutschland nicht immer alseinen, der ermutigt; manchmal eher als einen,der pädagogisch zu handeln glaubt, wennKritik sein primäres Erziehungsmittel ist.Der Lehrerberuf muss revolutioniert werden.Denn alle Reformen nützen nichts, wenn unsereLehrer sich nicht ändern. Schon JesusChristus mahnt, man solle nicht neuen Wein inalte Schläuche gießen.Die Revolution wäre die Verordnung, dass derArbeitsplatz <strong>des</strong> <strong>Lehrers</strong> die Schule ist bissechzehn Uhr. Das Sein bestimmt das Bewusstsein,diese Erkenntnis von Karl Marx giltauch hier: wenn Lehrer nachmittags an derSchule wären, mit Schülern zu Mittag essen,Sport treiben, Theater spielen, Hausaufgabenmachen und Projekte durchführen würden,würde sich eine neue Dimension der Lehrer-Schüler-Beziehung entwickeln. Lehrer würdengerade Kinder aus bildungsfernen Schichtenanders erleben als im Unterricht, sie andersfördern und fordern können. Kein Kind gehtverloren, an das ein Lehrer glaubt. Dazu musser das Kind aber auch außerhalb <strong>des</strong> Unterrichtskennen und schätzen lernen. Die bloßeUnterrichtsbeziehung ist zu eindimensional.Lehrer würden ihre Kollegen neu kennen lernenund ein Defizit überwinden können, nämlichden Mangel an Zusammenarbeit. Und Lehrerwürden Eltern beraten, die vielen Alleinerziehendenund Unterschichteltern bräuchtenweniger Super Nannys und Beratungsinstitute,sie könnten sich an Lehrer wenden. Lehrermüssten schon bei der Berufswahl wissen,dass Erziehungsaufgaben so wichtig sind wiedas Unterrichten. Sie müssten aus Liebe zuKindern und Jugendlichen Lehrer werden undnicht, weil sie Beamte werden können. DasBeamtentum für Lehrer ist die Pest und müsstesofort abgeschafft werden, weil es bei derBerufswahl zu häufig zum Hauptmotiv wird. Sicherheitund Versorgung lebenslang bis zumTod, dafür erträgt man unmotivierte Kinder undJugendliche wenigstens vormittags. Außerdemwürde es dem Image der Lehrer nützen, wennsie wie alle anderen Angestellten auch nachmittagsan der Schule wären. Der Beruf <strong>des</strong><strong>Lehrers</strong> gehört zu den schönsten Berufen derWelt, ich nenne die Lehrer Menschenführer imReich der Erkenntnis! Kinder und Jugendlichemit dem Wissen und Können der Vorfahrenvertraut zu machen, sie zu ermutigen, sichselbst anzunehmen, ihr Vertrauter und Beratersein zu dürfen, eine Autorität zu sein, an dersie hochblicken und an der sie sich reibendürfen, ihnen Grenzen zu zeigen und sie <strong>zur</strong>Grenzüberschreitung zu befähigen, ihnen dieBotschaft aus einem Gedicht Paul Flemmings<strong>zur</strong> zweiten Natur werden zu lassen: „Wer seinerselbst Meister ist und sich beherrschenkann, dem ist die weite Welt und alles untertan“,diese <strong>Rolle</strong> im Leben der Jugendlichenspielen zu dürfen ist ein wunderbares Privileg.Diese Lehrer würden sich in hohem Ansehensonnen können, jeder wüsste, dass sie dieBannerträger der Zukunft sind.7/8


Veröffentlichungen der Jahrestagung 2005Eine Konsequenz der veränderten Lehrerrollewäre die Einführung der Ganztagsschule. Kinderund Jugendliche müssen in einer Gemeinschaftvon Lehrenden und Lernenden aufwachsendürfen. Ganztagsschule darf abernicht heißen, den ganzen Tag Schule, sonderndem Spiel in der Gemeinschaft unter Leitungder Lehrer am Nachmittag eine Bresche schlagen.Der Nachmittag dient dem spielerischenLernen, Sport, Theater und Projekten. DerLehrer als Partner im Spiel, das wäre eineChance für alle Kinder und Jugendlichen, fürdie, deren Erziehung zuhause gelingt, und fürdie große Zahl der Kinder und Jugendlichen,die das Privileg der Erziehung nicht genießen.Deutschland muss Bildung und Erziehung <strong>zur</strong>wichtigsten Sache <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> machen unddafür erheblich höhere finanzielle Mittel aufwenden.Das wäre die wirksamste Investitionin die Zukunft.8/8

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