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Riga - Exkursion in die lettische Hauptstadt (Juli 2008)

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<strong>Riga</strong> - <strong>Exkursion</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>lettische</strong> <strong>Hauptstadt</strong> (<strong>Juli</strong> <strong>2008</strong>)Steffen Noack, Koord<strong>in</strong>ator Welterbe und Great Volga Route Project„Wer aus dem Kommunismus heraus tritt, der kehrt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichte zurück.“(A. Glucksmann)<strong>Riga</strong>, Lettlands <strong>Hauptstadt</strong>, war vom neunten bis zwölften <strong>Juli</strong> Ziel der Schüler-AGWelterbe der Carl-Zeiss-Schule <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Die <strong>Exkursion</strong> verstand sich als Beitrag zurGroßen-Wolga-Route (GVRR – Great Volga River Route), e<strong>in</strong>es von Russland<strong>in</strong>itiierten Projektes, welches Jugendliche von Welterbestätten zwischen Norwegenund Schwarzem und Kaspischem Meer zusammenführt.Die Baudenkmäler <strong>Riga</strong>s von der Hansezeit bis zu den Jugendstilbauten des 19.Jahrhunderts s<strong>in</strong>d UNESCO-Welterbe und bieten zahllose Anlässe, sich mit derwechselvollen Geschichte der Stadt ause<strong>in</strong>ander zu setzen.Darüber h<strong>in</strong>aus regt <strong>die</strong> unmittelbare Vergangenheit seit dem Verlust derUnabhängigkeit des Landes 1940 bis zu deren Wiedererlangung 1990 dazu an, sichmit <strong>die</strong>ser wichtigen Epoche des Landes und Europas zu befassen.Beide Aspekte waren Schwerpunkte des <strong>Exkursion</strong>sprogramms, das wir <strong>in</strong> großenTeilen geme<strong>in</strong>sam mit unseren <strong>lettische</strong>n Partner realisieren konnten: <strong>die</strong> Geschichteder Stadt seit ihrer Gründung und <strong>die</strong> unmittelbare Vergangenheit des Landes.Die Erkundung <strong>Riga</strong>s begann mit dem Besuch des Stadtmuseums, dessen Exponatee<strong>in</strong>en Überblick über mehr als 800 Jahre Stadtgeschichte geben. 1201 gegründet trat<strong>die</strong> Stadt 1282 der Hanse bei und entwickelte sich wegen se<strong>in</strong>er Lage schnell zue<strong>in</strong>em der bedeutendsten Handelszentren im Ostseeraum. Die ersten Rigenser,Geistliche, Kreuzritter, Kaufleute, Handwerker etc., trafen auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heimischeBevölkerung, <strong>die</strong> sie teilweise unterwarfen und kolonisierten, mit der sie aber auch <strong>in</strong>Teilen verschmolzen. „<strong>Riga</strong>s Gründung ist transnationaler Art, stammt aus e<strong>in</strong>er


Epoche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Enge der nationalen Welt noch nicht kannte. Sie ist e<strong>in</strong>e Geburt ausdem Geist des Handels“ (Karl Schlögel, Promenade <strong>in</strong> Jalta und andere Städtebilder.München 2001), der <strong>die</strong> Lage der Stadt zu nutzen wußte. Zuwanderung vonMenschen, <strong>die</strong> der Unternehmergeist trieb und nicht <strong>die</strong> Suche nach Heimat, wurdee<strong>in</strong> bestimmendes Merkmal der Stadt. Man war immer zuerst Rigenser, danach erstkam <strong>die</strong> landsmannschaftliche oder Volkszugehörigkeit.Aus spätmittelalterlicher und frühbürgerlicher Zeit stammen <strong>die</strong> meistenBaudenkmäler <strong>in</strong> der Altstadt, teilweise nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkriegwieder errichtet wie das Schwarzhäupterhaus, des Haus der Zunft unverheirateterKaufleute. Weiter der Dom, <strong>die</strong> Petrikirche, <strong>die</strong> Große und Kle<strong>in</strong>e Gilde, <strong>die</strong>Jakobikirche sowie das Schloss, <strong>die</strong> ehemalige Burg der Ordensritter.Die Herren über <strong>Riga</strong> wechselten, vom Deutschen Orden, der Bürgerschaft, demSchwedenkönig zum russischen Zaren. Solange <strong>die</strong>se an Handel, Austausch undFortentwicklung festhielten, prosperierte <strong>die</strong> Stadt durch ihre Handelsbeziehungennach England und Skand<strong>in</strong>avien, nach Berl<strong>in</strong> und Odessa.„<strong>Riga</strong> lebte nicht bloß aus dem Selbstbewusstse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bürgerschaft, sondern ausdem Gegensatz zu agrarischen Welt“. <strong>Riga</strong> war <strong>die</strong> Stadt als Konterpunkt zurBegrenztheit der Ländlichkeit - vielleicht e<strong>in</strong>e Erklärung dafür, dass sich mit demnationalen Erwachen der <strong>lettische</strong>n Bevölkerung im 19. Jahrhundert der Gegensatzzwischen kosmopolitischer Stadt und e<strong>in</strong>er mehr völkischen Sichtweise vertiefte, mitFolgen bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart.Den Ordensrittern folgten für fast hundert Jahre <strong>die</strong> Schweden, wovon heute nochdas Schwedentor Zeugnis ablegt, gefolgt vom zaristischen Russland, dessendrittgrößter Hafen <strong>Riga</strong> wurde. Die zweite Stadtgründungsphase, <strong>die</strong> des modernen<strong>Riga</strong>s, begann. Anstelle der alten Befestigungsanlagen entstand <strong>die</strong> Neustadt mitihren unzähligen Jugendstilbauten, früher Wohnort von Künstlern und Intellektuellenwie Isiah Berl<strong>in</strong>, heute im freien und unabhängigen Lettland Sitz zahlreicherBotschaften.


Zwischen beiden Teilen der Stadt das 1935 errichtete Freiheitsdenkmal, das für <strong>die</strong>Unabhängigkeitsbewegung der 80er Jahre von großer symbolischer Bedeutung war.Ab 1913 – so Karl Schlögel <strong>in</strong> dem bereits zitierten Essay – beg<strong>in</strong>nt <strong>die</strong>Selbstdemontage der Stadt durch Nationalisierung und Prov<strong>in</strong>zialisierung. Im ErstenWeltkrieg, <strong>in</strong> der Nachkriegszeit und vor allem während der sowjetischen undnationalsozialistischen Okkupation wird <strong>die</strong> gemischte Gesellschaft <strong>Riga</strong>s zerrieben.Russen und Juden fliehen schon 1914 <strong>in</strong>s Russische Reich, nach 1919 folgen großeTeile der enteigneten Deutschbalten, <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Deutsche Reich auswandern. DerAnschluss Lettlands an <strong>die</strong> UdSSR entsprechend des Hitler-Stal<strong>in</strong>-Paktes führt 1940zur Dezimierung der jungen <strong>lettische</strong>n Elite, den ersten Deportationen vonTausenden Letten sowie zur Zwangsumsiedlung der verbliebenen deutschenRigenser. Mit der Besetzung des Landes durch <strong>die</strong> Nationalsozialisten 1941 beg<strong>in</strong>ntauch <strong>in</strong> Lettland der baltische Holocaust, dem fast sämtliche e<strong>in</strong>heimische Judensowie e<strong>in</strong> Großteil der ersten aus Deutschland nach <strong>Riga</strong> deportierten Juden zumOpfer fallen. Nach dem Wiedere<strong>in</strong>marsch der Roten Armee beg<strong>in</strong>nen Verfolgungenund Deportationen <strong>in</strong> großen Maßstab sowie <strong>die</strong> verstärkte Ansiedlung vonrussischer Bevölkerung. <strong>Riga</strong> wird zur geschlossenen Stadt an der Peripherie desSowjetreiches.Unverkennbare Überbleibsel <strong>die</strong>ser Epoche der Stadt s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> immer nochvorhandenen Freiflächen <strong>in</strong> der Altstadt, <strong>die</strong> Plattenbauten der Vorstädte, derKulturpalast am Rande der Innenstadt. E<strong>in</strong>drucksvoll <strong>die</strong> 2007 errichteteGedenkstätte an <strong>die</strong> jüdischen Opfer <strong>in</strong> der Moskauer Vorstadt, welches <strong>die</strong>jenigenLetten ehrt, <strong>die</strong> ihren jüdischen Mitbürgern <strong>in</strong> schwerer Zeit zu Hilfe kamen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erZeit, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>e nicht unerhebliche Anzahl kollaborierte und sich viele Menschen<strong>in</strong>different verhielten. Das Mahnmal liegt direkt neben den Überresten derHauptsynagoge, <strong>in</strong> der Zuflucht suchende Juden verbrannt wurden.Die Verbrechen der Sowjetmacht und ihrer Helfer werden im Okkupationsmuseumam Rathausplatz der Altstadt ausführlich dokumentiert, <strong>die</strong> der Nationalsozialistenund ihrer e<strong>in</strong>heimischen Unterstützer ebenfalls dargestellt. Die Zeit sche<strong>in</strong>tgekommen zu se<strong>in</strong>, dass sich <strong>die</strong> <strong>lettische</strong> Öffentlichkeit nach der Aufarbeitung derkommunistischen Verbrechen nun der Vernichtung der <strong>lettische</strong>n und anderen Juden


im Lande und den Verstrickungen von Letten <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses Menschheitsverbrechenzuzuwenden beg<strong>in</strong>nt.Opposition und Widerstand gegen Unfreiheit und Fremdherrschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong>Sowjetherrschaft bedeutete, hörten nie auf, <strong>die</strong> Bewegung <strong>in</strong> allen drei baltischenStaaten wuchs vor allem zur Zeit Gorbatschows an und gipfelte <strong>in</strong> der „S<strong>in</strong>gendenRevolution“, <strong>die</strong> dem Land 1990 <strong>die</strong> Unabhängigkeit brachte. E<strong>in</strong> Denkmal im Nordender Altstadt er<strong>in</strong>nert an <strong>die</strong> kritischen Tage 1990, als Rigenser Bürger <strong>die</strong> Altstadtverbarrika<strong>die</strong>rten, um das Parlament der Stadt vor sowjetischen Speziale<strong>in</strong>heiten zuschützen. Die Vernunft setzte sich durch, das Land wurde frei.In Er<strong>in</strong>nerung an <strong>die</strong> „S<strong>in</strong>gende Revolution“ und <strong>die</strong> große Bedeutung der LiederundTanztraditionen des Baltikums wurden <strong>die</strong>se zum immateriellen Welterbe derUNESCO ernannt. Während der Zeit unseres Aufenthaltes fand an unzähligen Orten<strong>in</strong> der Stadt das alle 5 Jahre stattf<strong>in</strong>dende „<strong>Riga</strong> Song and Dance Festival <strong>2008</strong>“statt, so dass wir e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Tradition bekommen konnten.Während unseres Besuches trafen sich <strong>die</strong> Berl<strong>in</strong>er <strong>Exkursion</strong>steilnehmer mit<strong>lettische</strong>n Schülern und Kollegen, <strong>die</strong> sie e<strong>in</strong>en Nachmittag lang auf ihrem Ausflug an<strong>die</strong> „Lettische Riviera“, an <strong>die</strong> Bucht von <strong>Riga</strong> begleiteten. Ziel war der BadeortJurmala, der sich bereits im 19. Jahrhundert zum mondänen Erholungsgebiet derRigenser entwickelte. Prächtige Holzvillen und Parks er<strong>in</strong>nern an <strong>die</strong>se Zeit, aberauch moderne Stadtvillen, Boutiquen und Restaurants entlang der Fußgängerzoneparallel zum Strand zeigen, dass <strong>die</strong> Region prosperiert und Fortschritte erkennbars<strong>in</strong>d. Die deutschen Teilnehmer ließen es sich nicht nehmen, <strong>in</strong> der Ostsee e<strong>in</strong>ziemlich erfrischendes Bad zu nehmen.Mit den <strong>lettische</strong>n Kollegen, der Vertreter<strong>in</strong> der Nationalkommission ebenso wie mitKollegen der UNESCO-Waldorfschule wurde vere<strong>in</strong>bart, dass <strong>die</strong> Kontakte zwischenBerl<strong>in</strong> und <strong>Riga</strong> ausgebaut werden sollen. E<strong>in</strong> erster Schritt soll <strong>die</strong> Teilnahme vonzwei <strong>lettische</strong>n Schülern am <strong>die</strong>sjährigen Internationalen UNESCO-Schülersem<strong>in</strong>ar<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Glienicke se<strong>in</strong>. An <strong>die</strong>ser Stelle Dank unseren <strong>lettische</strong>n Freunden, Dankfür ihre Unterstützung und Hilfe.


Die Transformation des Landes schreitet langsam, aber stetig voran. Für viele, vorallem junge Letten, zu langsam. Sie arbeiten oder stu<strong>die</strong>ren mittlerweile im Auslandund fehlen im Lande. Das Verhältnis zum russisch stämmigen Bevölkerungsteil istnicht immer konfliktfrei; schneller und oft schwer nachvollziehbarer Reichtum E<strong>in</strong>igerruft Neid und Missgunst hervor. Und der schwer kalkulierbare große Nachbar imOsten verunsichert weiterh<strong>in</strong>.Machen wir also weiter, br<strong>in</strong>gen wir Jugendliche aus verschiedenen Länder - wie<strong>die</strong>ses Mal – <strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samen Projekten zusammen, erörtern und diskutieren wir <strong>die</strong>Fragen, <strong>die</strong> Vergangenheit und Gegenwart stellen, geme<strong>in</strong>sam. E<strong>in</strong>en anderen,bequemeren Weg gibt es nicht. 2009 jähren sich der Hitler-Stal<strong>in</strong>-Pakt und derBeg<strong>in</strong>n des Zweiten Weltkrieges e<strong>in</strong>erseits und andererseits mit dem Fall der Berl<strong>in</strong>erMauer das Ende des Sowjetkommunismus. Zwei wichtige Anlässe, <strong>in</strong> Kooperationmit unseren Partnern der Großen Wolga Route Projekte zu planen und zu realisieren.Damit der Ungeist der Vergangenheit beherrschbar wird.<strong>Riga</strong>, Altstadt, <strong>die</strong> Welterbe-AGvor e<strong>in</strong>er Kunst<strong>in</strong>stallation<strong>Riga</strong>, Altstadt, H<strong>in</strong>weistafelauf dem Trottoir auf <strong>die</strong>Welterbestätte <strong>Riga</strong> Altstadt


<strong>Riga</strong>, Altstadt, Freiheitsdenkmal <strong>in</strong>Er<strong>in</strong>nerung an <strong>die</strong> Barrikadengegen <strong>die</strong> sowjetischen Ordnungskräfte 1991<strong>Riga</strong>, Stadtpark, vor dem Denkmaldes <strong>lettische</strong>n Dichters Ra<strong>in</strong>is

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