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Mythos Kopfstand

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V IVEKA 1 7 S . 4<strong>Mythos</strong> <strong>Kopfstand</strong>DorelliIn loser Folge wird VIVEKA in einer Serie von Artikelnthematisieren, auf welche Weise und in welche Richtungâsanas ihre Wirkung entfalten.Dies ist kein einfaches Unterfangen. Über die Wirkungenvon âsana ist viel geschrieben worden und es ist schwer,sich zurechtzufinden zwischen Versprechungen, Wünschen,voneinander Abgeschriebenem und Realität. UnsereBetrachtungen werden eingeleitet von der Diskussioneiniger Wirkungen von âsana, die - obwohl oft undwiederholt behauptet - keinen Bezug zur Realität haben.Von dieser Vorgehensweise erhoffen wir uns, den Blickein wenig freier zu machen für die wirklichen Qualitätender âsanas, die uns bei unserer Arbeit und in der eigenenErfahrung täglich neu begeistern.D„Der <strong>Kopfstand</strong> verbessert dieDlutung des Gehirns“ - wirDkönnen sicher nicht mehr zählen, Dwie oft solche und Aussagen in gleicherRichtung in Yogastunden diePraxis dieser Umkehrhaltung begleitethaben. Trotzdem sind sie falschund ihre stetige Wiederholungmacht sie nicht richtiger. Deshalbwollen wir vor allem zwei Fragennachgehen:1. Welche Wirkungen hat eineUmkehrhaltung wie der <strong>Kopfstand</strong>nun wirklich auf die Blutzirkulation?2. Wie ist es möglich, dass sichim Kreis der Yogaunterrichtendeneine solche Vorstellung wider alle


Wirkung en von âsananaturwissenschaftliche Erkenntnisum die Funktionen des menschlichenKörpers so lange halten konnte?SchwerkraftundDurchblutungWie Wjeder Gegenstand auf dieserWelt kann unser Blut sich den Wir-Wkungen der Schwerkraft nicht ent- Wziehen. Deshalb - so wird nun behauptet- fließe dem Gehirn mehrBlut zu, wenn wir den Kopf dorthinsetzen, wo normalerweise unsereFüße den Boden berühren. Aberganz so einfach, wie solche Erklärungenzum <strong>Kopfstand</strong> glauben machenwollen, verhält es sich mit derWirkung der Schwerkraft auf dieBlutzirkulation nun doch nicht.Für eine sinnvolle Diskussion derangesprochenen Fragen bedarf eszuerst einiger weniger aber grundsätzlicherInformationen darüber,wie die Zirkulation des Blutes imKörper überhaupt zustande kommt.Das (linke) Herz pumpt Blut mitgroßem Druck in die Arterien. Wereinmal jemanden aus einer der größerenArterien hat bluten sehen,wird sich immer mit Schrecken daranerinnern, wie enorm dieser vomHerzen aufgebaute Druck ist: DasBlut kann aus einer verletzten Arterietatsächlich meterhoch spritzen.Der Druck, mit dem das Blut in dieArterien geschickt wird, ist so groß,dass auch gegen die Schwerkraftmehr als genug Blut zu jedem Organgepumpt werden kann.Von noch größerer Bedeutungfür unsere Diskussion ist aber, dass„mehr Blut“ und „mehr Blutdruck“keineswegs auch „mehr Durchblutung“bedeutet. Damit ein Organgut durchblutet wird, muss nämlichnicht nur Blut dort hinfließen, son-dern vor allem muss das verbrauchteBlut auch abfließen können.Wir werden später sehen, dasssich die Schöpfung für uns Menschen(und alle anderen Säugetiereauch) eine Regulation für den Blutflussin den Organen unseres Körpershat einfallen lassen, die von derSchwerkraft ganz unbeinflusst ist.Tatsächlich wird das Mehr oderWeniger an Durchblutung wesentlichentlang der Aktivität des jeweiligenOrgans gesteuert: „Was mehrtut, braucht mehr und bekommtmehr“. Die Überlegenheit diesesPrinzips gegenüber einer Situation,in der die Organdurchblutung vonder Schwerkraft abhängig wäre,leuchtet ein, wenn wir uns beideModelle einmal ganz praktisch vorstellen:Wie würden wir wohl damitzurechtkommen, wenn unsere Handjedesmal, wenn wir sie über denKopf heben, nicht mehr gut genugmit Blut versorgt würde oder dieDurchblutung des Beckens imStehen besser wäre als im Liegen?(Und es scheint ja auch so gewesenzu sein, daß sowohl Einstein alsauch Buddha ihre erleuchtendenGedanken sitzend, mit dem Kopfüber dem Herzen und nicht auf demKopf stehend erlebt haben).Untenstaut sich´sNNatürlich können wir alle ohneNMühe beobachten, dass undNwie die Schwerkraft auf bestimmte NWeise die Zirkulation unseres Blutesbeinflusst. Wenn wir eigene Erfahrungenernst nehmen oder auf dieBeobachtungen von Experten vertrauen,dann zeigt sich der Sog derSchwerkraft allerdings als eher hinderlichfür einen freien Fluss desBlutes. Experten in Sachen Schwerkraftund Blutzirkulation sind zumBeispiel VerkäuferInnen, die denWenn derBlutstrom zueinem Organ hinder Schwerkraftfolgen kann,verbessert sichdadurch nichtdessenDurchblutungV IVEKA 17 S . 5


V IVEKA 1 7 S . 6S e r i eZur Erklärung derWirkung einesâsana müssenwir vor allemdie Eigendynamikdes Körpersverstehen lernen,mit der er aufeine Übung und diein ihr gestelltenAnforderungenreagiertganzen Tag ununterbrochen aufden Beinen stehen. Die Füße immerganz unten - wie der Kopf beim<strong>Kopfstand</strong> - und trotzdem schwärmensie am Abend nicht davon, wiegut ihre Beine durchblutet sind.Statt dessen spüren sie ihre Füße sodick und angestaut, dass sie oftkaum noch in die Schuhe passen.Das liegt daran, dass während desganzen langen Tages die Schwerkraftden Rückfluss des Blutes zurück- nach oben - zum Herzen erschwerthat. Deshalb staut sich nunFlüssigkeit - Blut - in den Füßen undBeinen.Worauf die Schwerkraft also offenbareinen großen und manchmalnegativen Einfluss haben kann, istder venöse Teil des Blutkreislaufs,wo verbrauchtes Blut fließt, das dieStoffwechselschlacken mit sichführt.Um einen guten Rücktransportdes Blutes aus den Füßen nachoben zum Herzen hin zu bewältigen,bedarf es deshalb dessen, wasPhysiologen die „Muskelpumpe“nennen. Was ist das? Wenn wir dieBeinmuskeln aktivieren (beim Gehenzum Beispiel), dann wird dadurchdas Blut in den Venen gleichsamnach oben geschoben.Deshalb geht es einer Verkäuferinauch wesentlich besser, wennsie die Möglichkeit hat, ihre Beinebei der Arbeit in Bewegung zu halten.Am dicksten werden die Füße,wenn sie den ganzen Tag über aufeiner Stelle stehen muss und sonichts der Wirkung der Schwerkraftauf den Blutfluss in den Venen entgegenarbeitet.(Dass im Bereich derVenen der Zug des Blutes nach untenentlang der Schwerkraft deutlichereAuswirkungen zeigt als imBereich der Arterien, liegt am unterschiedlichenAufbau beider Gefäßwände.Darauf näher einzugehen,würde hier aber zu weit führen).Was wir aus dieser Alltagserfahrunglernen können ist, dass dieWirkung der Schwerkraft für dieRegulierung der Blutzirkulation (jedenfallsfür all jene Bereiche imKörper, die sich in einer bestimmtenKörperhaltung unterhalb des Herzensbefinden) weniger eine Hilfeist, sondern eher eine besondereAnforderung für die Aufrechterhaltungeiner guten Blutzirkulation darstellt,die zu bewältigen in manchenSituationen dem Körper rechtschwerfallen kann.RegulationundEigendynamikNNun machen die Regulationssys-Nteme unseres Körpers für den Kopf-Neine Ausnahme. Die erste NFolge für die Blutzirkulation in jederUmkehrposition ist also ein Blutstauim Kopfbereich. Der Rückfluss desverbrauchten Blutes zum Herzenwird erschwert, eine gute Zirkulationdes Blutes im Bereich des Kopfesbehindert. Nun haben wir imKopf und vor allem im Gehirn keineMuskelpumpe. Was tut unser System?Gottlob läßt es auch hier diesewenig vorteilhafte Situation nichtbestehen, sondern reagiert daraufsehr prompt: die Arterien im Kopfbereichwerden zusammengezogen,der Zufluss von Blut so gedrosselt,dass sich wieder ein gutes Gleichgewichtherstellt zwischen ankommendemund abfließendem Blut.Wir begegnen hier einemPrinzip, das in fast allen Beschreibungender Wirkungen von âsanaentschieden zu wenig Beachtungfindet: Der Körper reagiert auf eineKörperübung (ebenso wie auf einbesonderes Atemmuster oder jedeandere Praxis) damit, dass er seineeigene Dynamik entwickelt. Dazuspäter mehr. In unserem Fall jeden-


Wirkung en von âsanafalls geschieht diese Regulation desBlutflusses sehr rasch und wer mitder Praxis des <strong>Kopfstand</strong>es etwasErfahrung hat, weiß, dass der Körperdiese Reaktion mit der Zeit immerschneller und besser bewältigenkann: Der Kopf bleibt immer wenigerlang blaurot und das anfänglicheStaugefühl verschwindet.Unser Körpersystem brichtwährend des <strong>Kopfstand</strong>es also nichtin Jubel aus über das viele Blut, dasnun endlich Richtung Kopf fließt,sondern setzt - in der Regel mit gutemErfolg - alles daran, dieseFlutwelle zu bremsen, den normalenDurchblutungszustand wieder herzustellenund ihn dann zu erhalten.Unter den Bedingungen des<strong>Kopfstand</strong>es den Blutstrom so regulierenzu können, dass er ungefährin der gleichen Weise fließt wie imStand oder Sitzen, braucht ein gewissesMaß an Flexibilität, mankönnte auch sagen Gesundheit. Wirkönnen also froh sein, wenn es unseremKörper mit der Hilfe vielfältigerRegulationsmechanismen gelingt,während des <strong>Kopfstand</strong>es wenigstensdas Maß an Durchblutungaufrecht zu erhalten, das uns beimStehen, Sitzen oder Liegen gegebenist. Menschen mit hohen Blutdrucksteht diese Reaktionsfähigkeit nichtmehr uneingeschränkt zur Verfügung.Stellt sich eine von Bluthochdruckbetroffene Person auf denKopf, kann es deshalb zu einemBlutstau und einer gefährlichen Belastungder Arterien im Kopfbereichkommen.und Ernährung jenes Organs verhält,das einen großen Teil unseresKopfes ausfüllt: unseres Gehirns.Hierbei treffen wir auf den grundsätzlichstenIrrtum, der hinter all solchenBehauptungen steht, wie etwa:im <strong>Kopfstand</strong> würde unser Hirnbesser versorgt, gar die Altervergesslichkeithinausgezögert, odereinfach die „grauen Zellen mit frischenBlut durchtränkt“, wie es irgendwoebenso bildhaft wie falschbeschrieben wird.Die einfache Formel dieser Vorstellungist: „Mehr Blut im Kopf,mehr Blut im Hirn; je mehr Blut imHirn, desto besser.“ Eine solcheVorstellung ist nicht nur sehr platt,sie widerspricht allem Wissen derNeurophysiologie und Medizin. DieRegulationssysteme, die dem Menschengegeben wurden, sein Hirnmit Nahrung zu versorgen undAbfallstoffe zu beseitigen, sind bewundernswertkomplex. Vor allemStatt sich überdas viele Blut zufreuen, das beim<strong>Kopfstand</strong> nachunten fließt,setzt eingesunder Körperalles daran,diesen Blutstromwieder auf einnormales Maß zudrosseln.Was rastet,das rostetWWir haben bisher nur ganz allgeW-Blutstrom im Kopfbe-ochen. Nun wollen wirWuns damit befassen, wie es sich imbesonderen mit der DurchblutungEine der seltenen älterenDarstellungen einer Umkehrpostionaus der ‡rîtattvanidhi, einerSammlung unterschiedlicher âsana ,die vor etwa 150 Jahren in Mysore,Südindien, gezeichnet wurdeV IVEKA 17 S . 7


V IVEKA 1 7 S . 8S e r i esind sie weit entfernt davon, einerso mechanistischen und unpraktischenVorstellung zu folgen, die jeweiligeKörperposition könnte dabeieine Rolle spielen. Sie tut es nicht.Für diejenigen, die daran Interessehaben, sind die Details auf dergegenüberliegenden Seite in allergrößter Kürze „wissenschaftlich gesehen“zusammengefasst.Sie liefern den Schlüssel für dieBeantwortung der Frage, wie wirunser Gehirn bei guter Durchblutunghalten können und die Antwortist erfreulich einfach: Wir müssenes benutzen!Statt den Menschen einzureden,der <strong>Kopfstand</strong> könnte uns denkfähigermachen, ja gar ein Altern unseresGehirns bremsen, sollten wir siedarin bestätigen, was schon unsereGroßmütter wussten: Wer rastet,der rostet, und das gilt eben auchfür unser Gehirn.Je aufmerksamer, je mehr geistigaktiv wir sind, desto mehr Lebenkommt und bleibt in unseren Hirnzellen.Denken, lesen, mit anderenkommunizieren, meditieren und vielesandere mehr, das erhält sie jungund flexibel.Um es noch einmal zusammenzufassen:❐ Unser Hirn ist ein Organ, dasssich von unterschiedlichen Körperpositionen,den <strong>Kopfstand</strong> eingeschlossenglücklicherweise nicht beeindruckenlässt. Ein berühmterNeurochirurg (B. Ramamurthi, derselbst begeisterter Yogapraktizierenderist) hat dies auf die Fragenach den Wirkungen des <strong>Kopfstand</strong>eseinmal so ausgedrückt: „Es isteine populäre aber falsche Vorstellung,dass im <strong>Kopfstand</strong> die Blutversorgungverbessert würde. DasHirn ist ein von der Natur auf äußerstegeschütztes Organ. Es ist mechanisch,strukturell, physiologisch,chemisch und immunologisch geschützt.So gibt es zum Beispiel vieleimmunologische Erkrankungen, diezwar den Körper, aber nicht dasHirn angreifen.“Nebenstehendes Schema zeigt dieVeränderung der Durchblutung einesGehirns am Beispiel einiger ausgewählterAktivitäten. Dabei ändern sich nichtnur die Bereiche, in denen vermehrtBlut fließt (als Zeichen eines erhöhtenStoffwechsels der Gehirnzellen). Eszeigt sich darüber hinaus auch, dasssich die Gesamtdurchblutung desGehirns mit den verschiedenenAktivitäten verändert (die Prozentzahlenüber dem jeweiligen Bild, verglichen mitdem Ruhezustand, der mit 100 % fest-gesetzt wurde).


Wirkung en von âsana„Wissenschaftlich“gesehen:Alles kursiv gesetzte sind Zitate aus:Thews/Vaupel, Vegetative Physiologie, Springer1997 undSchmidt, Neuro- und Sinnesphysiologie,Springer 1998Unter normalen Bedingungen (wenn wir nichteinen 6000 Meter hohen Berg erklimmen oder ineiner Garage mit einem Auto mit laufendemMotor eingeschlossen sind) bleibt die Hirndurchblutungweitgehend konstant. Das ist eine der erstaunlichenund großenLeistungen imRahmen desHirnstoffwechsels.DerKörper sorgtunter nahezuallen Bedingungendafür,dass die VersorgungdesHirns mit Blutauf gleichemNiveau gewährleistetist.Dabei kommtim Hinblick aufdie häufigenÄnderungender Körperpositionmit entsprechendenÄnderungen des hydrostatischen Drucks imKopfbereich der „myogenen Autoregulation“ einebesondere Bedeutung bei.Was meint „myogene Autoregulation“?Sobald der Gefäßdruck in einer Arterie steigt (zumBeispiel weil wir gerade in den <strong>Kopfstand</strong> gegangensind) führt dies zu einem Zusammenziehender Gefäßmuskulatur eben dieser Arterie. Sie wirdenger, der Blutrstrom zum Gehirn gedrosselt.Dieser Mechanismus wird in den Muskeln derGefäßwänden selbst gesteuert (deshalb „myogen“,durch „Muskulatur gemacht“).Wird allerdings ein bestimmtes Maß überschritten(wenn zum Beispiel jemand mit zu hohemBlutdruck den <strong>Kopfstand</strong> übt), kann dieBlutanflutung so weit ansteigen, daß der Druck inden kleinsten Hirnadern so groß wird, dass einHirnödem auftritt. (Hier sind wir wieder bei dendicken Füßen der Verkäuferinnen. Auch sie habenein Ödem,eine Anschwellungdes Gewebes- Gottsei Dank ineinem wenigerwichtigenOrgan.)Tatsächlichhat dasHirn einenaußergewöhnlichhohenGrundbedarfanSauerstoffund Zucker.Und nundas Wichtigste:Jede zusätzlicheAktivität in einer bestimmten Hirnregionführt dort innerhalb von Sekunden zu einem erhötenSauerstoffverbrauch und einem entsprechendvermehrten Anfall an Metaboliten (Abfallstoffen).Diese Stoffwechselprodukte wiederum erweiterndie lokalen Arteriolen (kleinste Arterien), waseine Erhöhung der lokalen Durchblutung zuFolge hat. (Alle Hervorhebungen im Original)Schon einige Jahre ist es möglich, die Durchblutung der verschiedenen Hirnarealedirekt zu messen und dabei wie die hier abgebildete Aufnahmen zu erhalten, dieüber die Aktivität der Hirnzellen Aufschluss geben können.V IVEKA 17 S . 9


V IVEKA 17 S . 1 0S e r i eDie meistenBeschreibungen derWirkungen vonâsana folgeneinem krudenmechanistischenBild von derFunktion desmenschlichenKörpers❐ Die Ernährung des Gehirns istabhängig von seiner Aktivität. MehrAktivität erhöht die Zirkulation desBlutes und verbessert die Versorgungder entsprechenden Hirnarealeebenso wie den Abtransport anfallenderSchlackenstoffe.Ein BärendienstAAngesichts dieser Tatsachen (dieAt in den letzten Jahren bisAins Detail erforscht wurden, aber Aschon lange in den grundsätzlichenFakten bekannt sind) fragt man sichnatürlich, wie es möglich ist, dasssie in den Kreisen der YogabuchautorInneneinfach ignoriert wurdenund sich dort die abenteuerlichstenVorstellungen über die Funktion desmenschlichen Körpers breit machten.Was bei vielen Beschreibungvon Wirkungen von âsana immerwieder auffällt, ist Folgendes:❐ Kaum jemand versäumt es,naturwissenschaftlich oder medizinischklingende Begründungen fürdie Wirkweisen von âsanas und anderenYogaübungen zu bemühen.❐ Gleichzeitig basieren dieseWirkungsbeschreibungen auf einemdurch und durch mechanistischenBild von der Funktion des menschlichenOrganismus. Diese Vorstellungensind in aller Regel sehr vielmechanistischer als sie selbst derverbohrteste Schulmediziner jemalsformuliert hätte.Âsanas werden oft beschriebenwie ein Schalter. Ich lege ihn um,und das Licht geht an, ich dimmeauf 120 und alles läuft mit 120. Wirmüssen den Körper nur in eine bestimmteHaltung bringen und „dieNieren werden mehr durchblutet“oder die „Drüse X aktiviert“. Sofunktioniert eine Taschenlampeoder der Motor eines Autos.❐ Das menschliche System läßtsich mit solchen Modellen nicht erfassen.Es ist vielfältiger und es istvor allem getragen von einer wunderbarorganisierten Eigendynamik,die auf Einflüsse von außen, seien esâsana oder der Anblick einesSchwarzwälder Kirschtorte auf oftüberraschende Weise, vor allemaber auf seine Weise reagiert. DieseReaktion ist schließlich das Zusammenspielkaum überschaubar vielerFaktoren; manche davon sind für alleMenschen die gleichen, andereunterliegen auch noch großen individuellenUnterschieden. Deshalb istdie mechanistische und manchmalsogar einfältige Art, in der Wirkungenvon âsana bisweilen beschriebenwerden, für Yogaunterrichtendeebenso wenig hilfreich wiefür Yogaübende.Der <strong>Kopfstand</strong>- PhysiologiePologischbetrachtet,was bleibtom <strong>Kopfstand</strong>?PWir möchten noch einmal klar- Pstellen, dass es uns in unserer Diskussionausschließlich um jene Aspektedes <strong>Kopfstand</strong>es geht, die einerphysiologischen, einer medizinischen,einer wissenschaftlichen Fragestellungzugänglich sind. Wirführen diese Diskussion nicht, weilwir glauben, dass man den <strong>Kopfstand</strong>oder irgend ein anderes âsanavor allem wegen seiner medizinischnachweisbarer Wirkungen übensollte. Vielleicht gerade deshalb,weil wir selbst Mediziner sind, benutzenwir im Zusammenhang mitder Erklärung eines âsana medizinischeBegründungen nur mit großerZurückhaltung.Wir führen die Diskussion deshalb,weil in der Welt des Yogaganz offensichtlich solche Begründungenfür eine bestimmte Übungsehr attraktiv sind und immer wiederin den Mittelpunkt gestellt wurden,die ihre Autorität aus einem


Wirkung en von âsanascheinbar medizinisch-wissenschaftlichenHintergrund beziehen, dersich aber nur all zu schnell als pseudowissenschaftlicherweist. Dass aufdiese Weise unwidersprochen geradesolche Argumente für die Praxismancher âsanas überdauern konnten,die schon bei mäßig kritischemBlick einfach unhaltbar sind, zeigt,wie in sich geschlossen diese Weltdes Yoga offensichtlich manchmalist. Wir hoffen sehr, dass sich diesmit der Zeit ändert.Pseudowissenschaftliche Argumentesind nicht nur ein schlechtesFundament für die Erklärung einerso fundierten Arbeit, wie Yoga siedarstellt, sie sind auch eine Zumutungfür alle, die aus Interesse amYoga Lust auf Informationen haben.Dem Yoga erweist man damit allerdingseinen Bärendienst.Was nun der <strong>Kopfstand</strong> von dermenschlichen Physiologie her betrachtetbei Menschen bewirkt - setzenwir einmal voraus, dass sie dieseHaltung ohne Schwierigkeiten bewältigenkönnen - ist dies:❐ Der Rückfluss des Blutes ausdem unteren Körperbereich wird erleichtert.Dies bringt eine gewisseDynamik in die Blutzirkulation desKörpers insgesamt. Für einen solchenEffekt („ich fühle mich erfrischt“)muss allerdings jemandnicht gleich auf den Kopf stehen.Oft reicht hierfür schon das Hochlegender Beine in shavâsana. Auchein schöner Spaziergang oder eineRunde Tennis haben für viele Menschenganz ähnliche Wirkungen.❐ Wenn der <strong>Kopfstand</strong> auf denBlutfluss im Kopfbereich überhaupteine Wirkung zeigt, dann regelmäßigund gut vorbereitet geübt allenfallsdie Eingewöhnung einer raschenGegenregulation, die in derÜbung einen bedenklichen Blutstauverhindert und den normalen Zustandder Durchblutung ohne großeZeitverzögerung aufrecht erhält.Auch für eine solche Verbesserungunserer Regulationsfähigkeit müssenwir natürlich nicht unbedingtauf dem Kopf stehen. Jede regelmäßigekörperliche Aktivität ebensowie Tautreten oder eine täglich geübteAbfolge einfacher und dynamischerâsana kann solche Auswirkungenzeigen. (Warum sich auch unserDrüsensystem von Umkehrpositionenwenig beeindrucken lässt, wirdThema des nächsten Artikels in dieserSerie sein. Es geht dort dann umden Schulterstand.)Es gibtein Lebenohne<strong>Kopfstand</strong>!WWir haben schon einmal darauf hin-Wss die hier diskutiertenWirkungen nur einen Aspekt dessen Wbeschreiben, was eine Übung wieder <strong>Kopfstand</strong> bei einem Menschenin Gang bringen kann. Die Gründe,<strong>Kopfstand</strong> zu üben, können sehrvielfältig sein: Für manchen mag esvielleicht das wichtigste gewesensein, die Angst vor dem Umfallen zuüberwinden und wieder jemand andereszieht seine Freude aus demGefühl, den Körper auch in einersolchen Position gut beherrschen zukönnen.Ob die Praxis des <strong>Kopfstand</strong>es einemMenschen tatsächlich bei etwashelfen kann, was in Yogadiskusionenoft ins Feld geführtwird, nämlich seine Umgebung undsich selbst grundsätzlich anderswahrzunehmen („von <strong>Kopfstand</strong>aus sieht alles anders aus“), ist eineFrage, über die man sicher nächtelangdiskutieren kann. Das YogaSûtra jedenfalls schlägt für den Fall,dass ich wirklich einmal „meineWelt auf den Kopf stellen“ möchte,keine Umkehrhaltung vor, sondernganz einfach folgendes: Stelle Direinmal in aller Ruhe und Ausführlichkeitvor, wie es wäre, wenn Dualles ganz anders machen würdestals Du es gewöhnlich tust“... (33.Sûtra im 2. Kapitel des Yoga Sûtravon Patañjali). Dass dafür etwa dieEinnahme des <strong>Kopfstand</strong>es vonVorteil wäre, lesen wir bei Patañjalinicht. Wahrscheinlich hatte er fürdie Praxis seines Vorschlags an wesentlicheinfachere Körperhaltungengedacht, wie zum Beispiel das aufrechteSitzen (oder vielleicht sogareinen Spaziergang in einem stillenPark).In mancher Sekundärliteraturgern „König der âsana“ genannt,wird der <strong>Kopfstand</strong> so weder in derHa†hapradîpikâ (einem der bekanntestentraditionellen Texte über diePraxis des Yoga) noch in anderenwichtigen Yogatexten hervorgehoben.Als solcher („Íir‚âsana“) findeter in der Ha†hapradîpikâ gar keineErwähnung. Es ist aber zu vermuten,dass sicher auch der <strong>Kopfstand</strong>mit eingeschlossen ist, wenn dortdie Umkehrpositionen „(viparîta kara~î“)erläutert werden. Diese wiederumstehen in der Ha†hapradîpikâin einem ganz besonderen Kontext,nämlich dem der sogenannten „mudrâ“.Diese „mudrâ“ nun sindtatsächlich Praxisanweisungen vonbesonderer Bedeutung, auch wenndie Umkehrposition nur eine unteranderen genannten Übungen ist.Eine genauere Betrachtung des Zusammenhangs,in dem sie beschriebenund erklärt werden, kann helfen,viele jener Wirkungsbeschreibungenverstehen, die traditionellerweisemit allen Umkehrhaltungenverbunden werden. Ihnen wird zumBeispiel auf dem Hintergrund bestimmterKonzepte eine „reinigendeWirkung“ zugeschrieben und wirwerden nicht versäumen, sie in einemspäteren Artikel dieser Seriegenauer anzuschauen und auf ihrepraktische Relevanz für die Yogapraxishin zu befragen. ▼V IVEKA 17 S . 11

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