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Münchhausen-Syndrom: Das gefährliche Spiel mit der Krankheit

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Betroffen sind 0,5 bis 2 Prozent <strong>der</strong> PatientenSchätzungsweise 0,5 bis zwei Prozent <strong>der</strong> allgemeinmedizinischen Patienten leidenan dieser Störung. „<strong>Das</strong> sind etwa so viele wie bei Magersucht“, sagt ProfessorAnnegret Eckhardt-Henn, Ärztliche Direktorin <strong>der</strong> Klinik für PsychosomatischeMedizin und Psychotherapie am Klinikum Stuttgart."Sie reisen oft von Klinik zu Klinik, sind also ständig auf Tour"Landläufig spricht man auch vom <strong>Münchhausen</strong>-<strong>Syndrom</strong>, angelehnt an dieLügengeschichten, die dem Baron <strong>Münchhausen</strong> zugeschrieben werden. Expertenbetonen aber, dass das <strong>Münchhausen</strong>-<strong>Syndrom</strong> nur eine spezielle, sehr selteneForm einer artifiziellen Störung ist. Die Betroffenen täuschen nicht nur Symptomevor, son<strong>der</strong>n denken sich auch immer neue, oft aufsehenerregendeLebensgeschichten aus. „Typisch sind für sie auch ständige Beziehungsabbrüche.Sie reisen oft von Klinik zu Klinik, sind also ständig auf Tour“, erklärt Eckhardt-Henn.Manchmal geben sie sich sogar als Mediziner aus.Betroffene täuschen Ärzte, indem sie sich über <strong>Krankheit</strong>en informierenDie meisten Patienten <strong>mit</strong> artifiziellen Störungen sind aber eher sozial angepasst undtreten unauffällig auf. Etwa 80 Prozent sind weiblich. „Sie kommen aus allengesellschaftlichen Schichten und kennen sich in <strong>der</strong> Medizin gut aus“, berichtetEckhardt-Henn, die sich seit 35 Jahren <strong>mit</strong> diesen Phänomenen beschäftigt. Nachihren Erfahrungen informieren sich die Betroffenen im Internet oft genau überbestimmte <strong>Krankheit</strong>en, sodass es ihnen gut gelingt, Ärzte zu täuschen. Nicht seltenarbeiten sie im Medizinbetrieb.Fast alle <strong>Krankheit</strong>en denkbarTäuschungsversuche sind bei so gut wie allen <strong>Krankheit</strong>en denkbar. Oft wird dieHaut manipuliert: „Es kommt zum Beispiel vor, dass Patienten heimlich Wundenverunreinigen, um den Heilungsprozess zu verzögern“, berichtet <strong>der</strong> PsychiaterProfessor Hans Stoffels, Chefarzt <strong>der</strong> „Park-Klinik Sophie Charlotte“ in Berlin. „Ichhabe auch schon erlebt, dass sich eine Patientin Blut abgezapft hat, um einekünstliche Anämie zu erzeugen.“ Durch solche Maßnahmen würde <strong>der</strong> Arztgezwungen, die Sache durch weitere, zum Teil invasive Untersuchungen abzuklären.„Wenn ein Patient auffällig viel Wissen hat und auf bestimmte Untersuchungenpocht, sollte man als Arzt Verdacht schöpfen“, sagt Stoffels.


Oft sind Kindheitserfahrungen <strong>der</strong> GrundMit Simulanten darf man diese Menschen nicht verwechseln. Simulanten spielen<strong>Krankheit</strong>en bewusst vor, um etwa finanziell davon zu profitieren o<strong>der</strong> nicht in dieArbeit gehen zu müssen. Patienten <strong>mit</strong> artifiziellen Störungen beschreiben ihrVerhalten dagegen oft als Zwang o<strong>der</strong> Sucht, aus <strong>der</strong> sie sich nicht befreien können.Ihre Motive erscheinen schwer verständlich. „Den merkwürdigen Wunsch, unbedingtPatient sein zu wollen, kann man sich nur erklären, wenn man die Biografienanschaut“, sagt Stoffels. „Meist gab es dramatische Vorfälle in <strong>der</strong> Kindheit.“ So sindviele – auch Feldmans Patientin Nellie – in ihrer Kindheit misshandelt o<strong>der</strong> starkvernachlässigt worden. Zärtlichkeit und Geborgenheit mussten sie entbehren, wieStoffels erklärt. Hinter dem Wunsch, sich untersuchen und behandeln zu lassen,stecke denn auch die Sehnsucht nach körperlicher Zuwendung: „Es handelt sich umeinen Hilfeschrei nach Beziehung“, betont Stoffels.Wunsch nach Aufmerksamkeit?Feldman erklärt das Verhalten <strong>der</strong> Patienten vor allem <strong>mit</strong> dem Wunsch nachAufmerksamkeit, Mitleid und Zuwendung. Diese Erklärung hält Eckhardt-Henn aberfür zu einfach: „Darum geht es nur an <strong>der</strong> Oberfläche. Fürsorge könnte man auchleichter bekommen.“ Etwa 30 Prozent <strong>der</strong> Betroffenen legten ein lebensbedrohlichesVerhalten an den Tag. So spritzte sich eine ihrer Patientinnen eine Kotlösung in dieVenen und erzeugte dadurch eine schwere Blutvergiftung. Eine an<strong>der</strong>e Patientinbrach sich regelmäßig den Arm, indem sie ihn in eine Zugtür klemmte. In zehnJahren brachte sie es auf rund 400 Krankenhausaufenthalte.Ob den Betroffenen bewusst ist, was sie tun, lässt sich schwer sagen. Offenbarleiden sie oft an einem Gefühl <strong>der</strong> Entfremdung (Depersonalisation), wenn sie ihremKörper schaden.Ein an<strong>der</strong>er Fall: das "<strong>Münchhausen</strong>-Stellvertreter-<strong>Syndrom</strong>"Eine an<strong>der</strong>e Form von artifizieller Störung ist das „<strong>Münchhausen</strong>-Stellvertreter-<strong>Syndrom</strong>“: Dabei täuschen die Betroffenen vor, dass ein Schutzbefohlener, in <strong>der</strong>Regel ihr Kind, krank sei. Mütter behaupten zum Beispiel, ihr Kind habe einenKrampfanfall o<strong>der</strong> Atemstillstand gehabt und verleiten Ärzte dazu, es entsprechendzu behandeln. Dahinter steckt nach Feldmans Auffassung <strong>der</strong> Wunsch, alsaufopferungsvolle Mutter anerkannt und bewun<strong>der</strong>t zu werden.


Auch Machtgefühle und <strong>der</strong> Versuch, eine Paarbeziehung durch Konzentration aufein krankes Kind zu kitten, können eine Rolle spielen. Meistens sind die Täterinnen –fast immer handelt es sich um Frauen – in ihrer Kindheit misshandelt worden undgeben ihre traumatischen Erfahrungen weiter. Für die Kin<strong>der</strong> ist die Opferrolle fatal:Man rechnet, dass 5 bis 30 Prozent an den Folgen <strong>der</strong> Misshandlungen sterben,an<strong>der</strong>e überleben schwer traumatisiert.Viel Fingerspitzengefühl notwendigDen Betroffenen zu helfen, ist schwierig. Zuerst muss man sie überhaupt dazubringen, sich behandeln zu lassen. Dafür ist viel Fingerspitzengefühl nötig. Wenn diePatienten direkt <strong>mit</strong> dem Verdacht konfrontiert werden, streiten sie oft alles ab un<strong>der</strong>greifen die Flucht. Und selbst wenn Einsicht da ist, gibt es zumindest für echte<strong>Münchhausen</strong>-Patienten „keine wirklich guten Therapiekonzepte“, wie Eckhardt-Henn sagt. Sie seien in einer Klinik, die auf schwere Persönlichkeitsstörungenspezialisiert sei, am besten aufgehoben. Bei an<strong>der</strong>en Patienten <strong>mit</strong> artifiziellenStörungen könne eine Verhaltenstherapie, die <strong>mit</strong> einer tiefenpsychologischenTherapie kombiniert werde, helfen.

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