eine Wahrheit in die öffentliche Wahrnehmung, die in unserem bisherigen Gerechtigkeitssystemnicht „wahr“-genommen wur<strong>de</strong>. Unzählige Ablehnungsbeschei<strong>de</strong> von Staatsanwaltschaften, einVielfaches davon an achselzucken<strong>de</strong>n Hinweisen auf die strafrechtlichen Verjährungsfristenhaben die längst erwachsenen Opfer, so sie sich <strong>de</strong>nn trauten, erfahren müssen. So viele„bedauerliche Einzelschicksale“ drängten in die Akten, die dann darüber geschlossen wur<strong>de</strong>n.Die bun<strong>de</strong>srepublikanische Wirklichkeit war – nach Schauergeschichten aus Portugal, Irland,Großbritannien und <strong>de</strong>n USA - schon in <strong>de</strong>n letzten Jahren eingeholt wor<strong>de</strong>n von Berichten aus<strong>de</strong>m Werkhof Torgau aus <strong>de</strong>r damaligen DDR, die nach aktuellen Meldungen nicht nur <strong>Gewalt</strong>,son<strong>de</strong>rn auch regelhafte sexuelle Übergriffe <strong>de</strong>s Heimleiters(!) umfassen (Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung,3.4.2010). Staatliche und kirchliche (!) Einrichtungen <strong>de</strong>r Schwarzen Pädagogik praktizierten in<strong>de</strong>n 50er, 60er Jahren und bis in die 70er Jahre in <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik systematischeKin<strong>de</strong>rmisshandlungen, die bei näherem Hinschauen und Nachfragen in erschrecken<strong>de</strong>rVoraussehbarkeit sexuellen Kin<strong>de</strong>smissbrauch umfassen.Bis ins Mark erschüttert unsere aufgeklärte und erziehungswissenschaftlich so fortgeschrittene,gesellschaftliche Überzeugung die nicht mehr bestreitbare, weil gestan<strong>de</strong>nekin<strong>de</strong>rmissbrauchen<strong>de</strong> Pädosexualitat <strong>de</strong>s höchst angesehenen Leiters eines Leuchtturmspädagogischen Fortschritts, <strong>de</strong>r O<strong>de</strong>nwaldschule. Das waren nicht finstere katholischeZwangsrituale, son<strong>de</strong>rn offene, progressive Ansätze, in Wertschätzung die Kin<strong>de</strong>r und ihrevorhan<strong>de</strong>nen Entwicklungsmöglichkeiten zu Entfaltung zu bringen, zu för<strong>de</strong>rn. Und auch da:Ausgeliefertsein, Unfreiheit, sexuelle Ausbeutung! Und überall auf <strong>de</strong>r bun<strong>de</strong>srepublikanischenLandkarte tauchen neue, auch hoch angesehene kirchliche und weltliche Erziehungsheime,Internatsschulen und sonstige gruppenmäßig geschlossene Verbün<strong>de</strong> auf, mit weiteren Opfern,die jetzt <strong>de</strong>n Mut haben zu berichten: die Wahrheit.Die Opfer von ritueller <strong>Gewalt</strong> und rituellem Missbrauch wissen um die Wahrheit.Mit <strong>de</strong>n Herausgeberinnen hatte ich einen Disput über die Relevanz all dieser in jüngster Zeitöffentlich gewor<strong>de</strong>nen Berichte für das Buchthema <strong>Rituelle</strong> <strong>Gewalt</strong>.Nach <strong>de</strong>r <strong>Definition</strong> von Thorsten Becker und Ulla Fröhling (2008) erkenne ich <strong>de</strong>nunmittelbaren Bezug an <strong>de</strong>m, was all diese Heimkin<strong>de</strong>r erleben mussten an „physischer,sexueller und psychischer Form von <strong>Gewalt</strong>, die planmäßig und zielgerichtet im Rahmen vonZeremonien ausgelebt wur<strong>de</strong>“. Den „i<strong>de</strong>ologischen Hintergrund“ und die Inszenierungen zumZwecke von Täuschung und Einschüchterung haben diese Heimkin<strong>de</strong>r erlebt, allerdings scheintes zu fehlen an <strong>de</strong>n Symbolen, Tätigkeiten und Ritualen, „die <strong>de</strong>n Anschein von Religiosität,Magie o<strong>de</strong>r übernatürlichen Be<strong>de</strong>utungen haben“. Ziel war es aber auch da, „die Opfer zuverwirren, in Angst zu versetzen, gewaltsam einzuschüchtern und mit religiösen, spirituelleno<strong>de</strong>r weltanschaulich religiösen Glaubensvorstellungen zu indoktrinieren“, ob I<strong>de</strong>ologie undReligion nun Zweck an sich o<strong>de</strong>r nur Mittel für Täuschung und Einschüchterung mit <strong>de</strong>m Ziel<strong>de</strong>s Gefügigmachens waren. Dass es sich dabei nicht „um singuläre Ereignisse, son<strong>de</strong>rn umGeschehnisse han<strong>de</strong>lte, die über einen längeren Zeitraum wie<strong>de</strong>rholt“ wur<strong>de</strong>n, markiert diezeitliche Dimension <strong>de</strong>r Ausweglosigkeit.Aus Sicht <strong>de</strong>r damaligen Kin<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lte es sich um ein geschlossenes System, überhöht mitvorgeschobenen und religiösen o<strong>de</strong>r pädagogischen Dogmen, objektiv wie subjektivunentrinnbar, ihnen vorgegeben als ihr gewolltes, bestimmtes o<strong>de</strong>r auch „selbstverschul<strong>de</strong>tes“Schicksal. Die Rituale von Bestrafung und Belohnung weisen auf ein normatives Regelsystemfür Ausbeutung und Unterdrückung hin, die vielen Schil<strong>de</strong>rungen beweisen die Organisiertheitdieses Systems aus unmittelbarer körperlicher <strong>Gewalt</strong> und normativer Erzwingung und erfüllenfür mich die <strong>Definition</strong> <strong>de</strong>r <strong>Rituelle</strong>n <strong>Gewalt</strong>.4
Entschei<strong>de</strong>nd für mich sind subjektive Ausweglosigkeit, gewollte und systematisch angerichteteUnentrinnbarkeit für die Opfer.Nach<strong>de</strong>m nun die Öffentlichkeit anhand <strong>de</strong>r Berichte sowohl das Opfer- wie auch das Täterbild,welches bisher die „bedauernswerten Einzelschicksale“ als solche disqualifizierte und damit aus<strong>de</strong>r Wirklichkeit verdrängte, verabschie<strong>de</strong>n muss, ringt die gesellschaftliche Diskussion darüber,wie sie <strong>de</strong>n laut und beredt gewor<strong>de</strong>nen Opfern gerecht wird und <strong>de</strong>n Tätern, oft hochangesehene Persönlichkeiten aus ihrer Mitte, gegenübertritt. Die Verjährung <strong>de</strong>r Taten ist jetztnicht mehr die letzte und gültige Antwort, die Opfer wer<strong>de</strong>n ermuntert und zu berichtenaufgefor<strong>de</strong>rt, die bisher unterdrückte Wahrheit offenzulegen und geltend zu machen. Dass ihnenGenugtuung, dass ihnen auch Entschädigung geboten wer<strong>de</strong>n muss, ist selbstverständlichgewor<strong>de</strong>n.Deswegen fin<strong>de</strong> ich gera<strong>de</strong> für das Thema dieses Buches die aktuellen Ereignisse undErkenntnisse absolut spannend. Wenn es nun gelungen ist, die Wahrheit in das Licht <strong>de</strong>röffentlichen Wahr-Nehmung zu heben, for<strong>de</strong>rt die Gerechtigkeit weitergehen<strong>de</strong> und mitunterganz an<strong>de</strong>re Regelungen und Reaktionen, als sie das bisher gelten<strong>de</strong> gesetzte Recht vorsieht. Alldiese Opfer haben die „Organisation von Machtbeziehungen in einem ausweglosem Raum“erlebt (Georg Seeßlen“, taz 10.03.2010). Das gilt doch erst recht für die Opfer von kultischen<strong>Gewalt</strong>systemen und ist in meinen Augen eine ungeheure Gelegenheit, die dort erfahreneWirklichkeit als Wahrheit in die Öffentlichkeit zu heben und mit <strong>de</strong>mselben Recht die Wahr-Nehmung, also Anerkennung von erlittenem Leid zu for<strong>de</strong>rn.Ich plädiere für die Bekundung von Wahrheit als Anspruch <strong>de</strong>r Opfer auf Gerechtigkeit. Werjetzt laut die – seine - Wahrheit sagt, <strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>t auch die – seine - Gerechtigkeit. Die Wür<strong>de</strong>dieses Menschen wird wie<strong>de</strong>r unantastbar, auch <strong>de</strong>r dunkle Bereich <strong>de</strong>s Opferseinsschreckschrumpft nicht mehr bei je<strong>de</strong>r Näherung. Das Trauma, die Wun<strong>de</strong>, kommt ans Licht undschließt sich, die Narbe wird zum Or<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Bestehens, zum Ausweis <strong>de</strong>r wahren Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>sÜberlebens und <strong>de</strong>s Wissens darum, nicht für Mitleid, son<strong>de</strong>rn für die Überwindung <strong>de</strong>s Leids,zum eigenen Weiterleben. In dieser Gesellschaft ist niemand mehr allein.LiteraturBecker, T. (2008). Organisierte und <strong>Rituelle</strong> <strong>Gewalt</strong>. In: Fliß, C., Igney, C. (Hg.) (2008). Handbuch Trauma undDissoziation. Lengerich: Pabst Science Publishers, S. 23-37.Huber, M. (2003). Trauma und Traumabehandlung. Teil 1: Trauma und die Folgen. Pa<strong>de</strong>rborn: Junfermann.Oksana, Chr. (1996). Safe Passage to Healing (In Sicherheit heilen - ein Leitfa<strong>de</strong>n für Überleben<strong>de</strong> von rituellemMissbrauch), Übersetzung ausgewählter Kapitel. Erhältlich über VIELFALT e.V., Postfach 10 06 02, 28006Bremen, www.vielfalt-info.<strong>de</strong>.5