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WB 24592-5 Hornung 001-302 VIS

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260.<br />

Sechstes Kapitel<br />

Wirkung der Gottheit<br />

und Antwort des Menschen<br />

Der Mensch bewegt sich im unsichtbaren, aber wirkenden Kraftfeld<br />

der Götter. Wenn der ägyptische Priester allmorgendlich den verschlossenen<br />

Schrein des Kultbildes im Allerheiligsten des Tempels öffnet,<br />

ergreifen ihn Ehrfurcht und Schauer – „Die Ehrfurcht vor dir ist<br />

in meinem Leib, Schauer vor dir geht durch alle meine Glieder“,<br />

spricht er im täglichen Ritual zum Götterkönig Amun-Re. 1 „Ehrfurcht“<br />

und „Schauer“ sind dabei unvollkommene Versuche, die entsprechenden<br />

ägyptischen Begriffe sendjet und schefschefet mit einem<br />

Wort unserer Sprache wiederzugeben; sendjet kann auch die konkrete<br />

„Furcht“ vor jemandem bedeuten, schefschefet die gebietende „Autorität“,<br />

die von einer Respektsperson ausgeht.<br />

Beim Anblick des Götterbildes spürt der Priester die Wirkung, die<br />

von göttlichen Wesen ausstrahlt, die sich bei der Erscheinung der<br />

Gottheit selbst in Glanz, Duft und Feuer offenbart (Kap. IV). Die<br />

erste Regung, die den ägyptischen Menschen in der Begegnung mit<br />

einer Gottheit oder mit einem Götterbild ergreift, ist Furcht, die sich<br />

mit Staunen und jubelnder Freude mischt. Bei einer Theophanie sind<br />

Himmel und Erde in Freude, alle Welt jubelt, Lachen und festliche<br />

Stimmung herrschen. 2 Aber zugleich muß auch die ägyptische Gottheit,<br />

wie es die Erzählung vom „Schiffbrüchigen“ überliefert, das<br />

„Fürchte dich nicht“ sprechen, um dem Menschen eine Begegnung<br />

überhaupt möglich zu machen. Denn immer sind die Götter über -<br />

legene, unberechenbare, bisweilen auch furchtbare und unheimliche<br />

Mächte, denen eigentlich nur Pharao standhalten kann. Ihr Antlitz<br />

zeigt neben der Liebe und Güte auch den Schrecken.<br />

1 Moret, Rituel, S. 66.<br />

2 Eine Fülle von Beispielen dafür bietet Assmann, Liturg. Lieder S. 250–


210<br />

Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />

Aber die Götter sind nicht in der Welt, um Furcht und Schrecken<br />

zu verbreiten und ihren menschlichen Partner zum ängstlichen Sklaven<br />

zu erniedrigen – solcher Haltung ist nur der Mensch fähig, wo er<br />

Herrschaft über andere Menschen ausübt. Die Götter haben die Welt<br />

geschaffen und sorgen dafür, daß nicht nur der Mensch, sondern alle<br />

Wesen in ihr leben und sich entfalten können. Was aber hat den<br />

Schöpfergott veranlaßt, die Welt mit all ihren Wesen ins Sein zu rufen<br />

und im Sein zu erhalten? Kein bisher bekannter ägyptischer Text gibt<br />

eine eindeutige, direkte Antwort auf Fragen dieser Art. Offenbar hat<br />

der Ägypter hier kein ernsthaftes Problem gesehen. Die Götter können<br />

nur Vollendetes schaffen, und die Welt in ihrem Anfangszustand<br />

ist das Vollendete und Ausgewogene schlechthin. Indem die Welt ins<br />

Sein tritt, bringt ihr Schöpfer den Dialog mit ihr in Gang, das gegenseitige<br />

Geben und Nehmen, von dem Götter und Menschen leben.<br />

In den Sargtexten (um 2000 v.Chr.) gibt der berühmte „Monolog<br />

des Allherrn“ eine Aufzählung der vier wichtigsten Schöpfungstaten<br />

(CT VII 462d–464f):<br />

Ich habe viererlei Vollendetes getan<br />

im Innern des Horizont-Tores.<br />

Ich habe die vier Winde geschaffen,<br />

damit jedermann atmen kann in seinem Lebensraum.<br />

Das ist eines davon.<br />

Ich habe die Große Flut geschaffen,<br />

damit der Arme wie der Reiche sich ihrer bemächtige.<br />

Das ist eines davon.<br />

Ich habe jedermann wie seinesgleichen geschaffen<br />

und nicht befohlen, daß sie Unrecht tun.<br />

Es ist (nur) ihr Wille, der meinem Wort zuwiderhandelt.<br />

Das ist eines davon.<br />

Ich habe veranlaßt, daß ihre Herzen den Westen (das Totenreich) nicht vergessen<br />

können,<br />

damit den Gaugöttern (Totenrichter?) Opfer dargebracht werden.<br />

Das ist eines davon.<br />

Das ist beinahe ein ägyptisches Programm der „Freiheit, Gleichheit,<br />

Brüderlichkeit“, das hier, nach dem Zusammenbruch des Alten


Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />

Reiches, als Grundlegung einer neuen Ordnung verkündet wird! Luft,<br />

Nahrungsfülle (Anteil an der Nilüberschwemmung), Gleichheit der<br />

Chancen und ständige Verbindung mit den Verstorbenen und Göttern<br />

– das sind die vier vornehmsten Schöpfertaten und zugleich materielle<br />

wie ideelle Grundlage der menschlichen Existenz.<br />

Durch die anfängliche Trennung von Himmel und Erde entsteht der<br />

Luftraum und damit der Lebensatem – das Wichtigste, was die Göt ter<br />

den Menschen spenden. Denn Luft ist Leben, im dörrenden Wüstenklima<br />

Ägyptens ist jeder „Hauch des Nordwindes“ belebende Erfrischung.<br />

Das Lebenszeichen, das die Götter als häufigstes Attribut in der Hand<br />

tragen, weist sie als Träger und Spender des Lebens aus. In unzähligen<br />

Szenen auf Grab- und Tempelwänden halten sie dem Kö nig – als Vertreter<br />

der ganzen Menschheit – dieses Lebenszeichen an die Nase,<br />

durch die der Lebenshauch in den Menschen eingeht (Taf. 3).<br />

Eine Steigerung bringt die Darstellung geflügelter Gottheiten,<br />

die im Umkreis der Amarnazeit beliebt wird, sich aber schon unter<br />

Hatschepsut ankündigt. 3 Mit ihren Flügeln können sie den Menschen<br />

(oder Osiris) schützend umfassen, ihm aber auch die Atemluft zu -<br />

fächeln. Der Ägypter konnte darauf vertrauen, daß ihm seine Götter<br />

immer wieder „ein neues Atemfeld“ schenken, wie es Rilke von den<br />

wiederkehrenden Göttern erhofft. Für die Verstorbenen ist es eine<br />

ganz wesentliche Verheißung, daß ihnen der Sonnengott auf seiner<br />

Nachtfahrt immer neu den Lebenshauch spendet. In diesem „Atemfeld“,<br />

in diesem Raum der Freiheit, konnte sich eine große und schöpferische<br />

Kultur entfalten.<br />

Leben und Freiheit liegen sichtbar in den Händen der ägyptischen<br />

Götter und sind allen Wesen bestimmt, nicht nur dem Menschen.<br />

Schon die Grabreliefs des Alten Reiches zeigen, wie die liebende Fürsorge<br />

des Schöpfers in der ganzen Natur wirkt und selbst dem Igel in<br />

3 Ein Skarabäus der Königin in New York zeigt eine geflügelte löwenköpfige<br />

Göttin: W. Seipel (Hrsg.), Gold der Pharaonen, Wien 2<strong>001</strong>, S. 73. Seit<br />

Amenophis III. begegnen der Gott Bes, die Maat und die Himmelsgöttin Nut<br />

mit Flügeln, und danach können viele andere Gottheiten geflügelt erscheinen,<br />

in der Spätzeit auch mit vier und sogar acht Flügeln.<br />

211


212<br />

Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />

seinem Erdloch die nötige Nahrung spendet. In den Hymnen des Neuen<br />

Reiches begegnet das Bild vom Küken im Ei, das der Sonnengott atmen<br />

läßt und am Leben erhält. In diesem Bild, das der Ägypter als Schrift -<br />

zeichen für „innen, im Inneren“ verwendet, 4 prägt sich die „Innigkeit“<br />

dieser stetigen Gottesfürsorge am reinsten aus. Sie durchdringt, den<br />

Sonnenstrahlen gleich, die ganze Schöpfungswelt – „Dei ne Strahlen, sie<br />

umfassen die Länder bis zum Ende von allem, was du geschaffen hast“,<br />

ruft Echnaton im Großen Atonhymnus seinem Gott zu.<br />

Zugleich haben die Künstler Echnatons mit dem „Strahlenaton“<br />

(Abb. 30) das eindruckvollste Symbol für die welterhaltende Mühe<br />

des Sonnengottes geschaffen, dessen Licht Leben bedeutet. Die weitausgreifenden<br />

Strahlen der Sonnenscheibe laufen in menschliche<br />

Hände aus und halten den Mitgliedern der Königsfamilie das Lebenszeichen<br />

an die Nase. Hier ist, in aller Deutlichkeit, das Licht als Träger<br />

des Lebensatems gestaltet. Licht ist Leben, auch im nächtlichen Totenreich,<br />

das der Sonnengott durchquert. Wo seine Strahlen und sein<br />

Schöpferwort hindringen, da springen verschlossene Türen auf, wird<br />

die lähmende Finsternis vertrieben und erheben sich die Toten zu<br />

neuem Leben, wie es in den Unterweltsbüchern des Neuen Reiches<br />

ausführlich geschildert wird. 5<br />

Schon vor Echnaton preist der Kairoer Amunhymnus die Segensfülle<br />

des Sonnengottes für alle Kreatur (ÄHG 87, 111–119):<br />

Der Futterkraut schafft, um das Vieh zu ernähren,<br />

und den „Lebensbaum“ für die Menschen.<br />

Der macht, wovon die Fische des Stromes<br />

und die Vögel im Himmel leben.<br />

Der Luft gibt Dem im Ei<br />

und das Junge der Schlange am Leben erhält.<br />

Der macht, wovon die Mücken leben,<br />

und ebenso die Würmer und Flöhe,<br />

der für die Mäuse in ihren Löchern sorgt …<br />

4 A. Hermann, Rilkes ägyptische Gesichte, Symposion 4, 1955, 440f. mit<br />

Taf. 2 (Neudruck Darmstadt 1966).<br />

5 E. <strong>Hornung</strong>, Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich–München 1972,<br />

31989; ders., Die Nachtfahrt der Sonne, Zürich–München 1991.

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