WB 24592-5 Hornung 001-302 VIS
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Sechstes Kapitel<br />
Wirkung der Gottheit<br />
und Antwort des Menschen<br />
Der Mensch bewegt sich im unsichtbaren, aber wirkenden Kraftfeld<br />
der Götter. Wenn der ägyptische Priester allmorgendlich den verschlossenen<br />
Schrein des Kultbildes im Allerheiligsten des Tempels öffnet,<br />
ergreifen ihn Ehrfurcht und Schauer – „Die Ehrfurcht vor dir ist<br />
in meinem Leib, Schauer vor dir geht durch alle meine Glieder“,<br />
spricht er im täglichen Ritual zum Götterkönig Amun-Re. 1 „Ehrfurcht“<br />
und „Schauer“ sind dabei unvollkommene Versuche, die entsprechenden<br />
ägyptischen Begriffe sendjet und schefschefet mit einem<br />
Wort unserer Sprache wiederzugeben; sendjet kann auch die konkrete<br />
„Furcht“ vor jemandem bedeuten, schefschefet die gebietende „Autorität“,<br />
die von einer Respektsperson ausgeht.<br />
Beim Anblick des Götterbildes spürt der Priester die Wirkung, die<br />
von göttlichen Wesen ausstrahlt, die sich bei der Erscheinung der<br />
Gottheit selbst in Glanz, Duft und Feuer offenbart (Kap. IV). Die<br />
erste Regung, die den ägyptischen Menschen in der Begegnung mit<br />
einer Gottheit oder mit einem Götterbild ergreift, ist Furcht, die sich<br />
mit Staunen und jubelnder Freude mischt. Bei einer Theophanie sind<br />
Himmel und Erde in Freude, alle Welt jubelt, Lachen und festliche<br />
Stimmung herrschen. 2 Aber zugleich muß auch die ägyptische Gottheit,<br />
wie es die Erzählung vom „Schiffbrüchigen“ überliefert, das<br />
„Fürchte dich nicht“ sprechen, um dem Menschen eine Begegnung<br />
überhaupt möglich zu machen. Denn immer sind die Götter über -<br />
legene, unberechenbare, bisweilen auch furchtbare und unheimliche<br />
Mächte, denen eigentlich nur Pharao standhalten kann. Ihr Antlitz<br />
zeigt neben der Liebe und Güte auch den Schrecken.<br />
1 Moret, Rituel, S. 66.<br />
2 Eine Fülle von Beispielen dafür bietet Assmann, Liturg. Lieder S. 250–
210<br />
Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />
Aber die Götter sind nicht in der Welt, um Furcht und Schrecken<br />
zu verbreiten und ihren menschlichen Partner zum ängstlichen Sklaven<br />
zu erniedrigen – solcher Haltung ist nur der Mensch fähig, wo er<br />
Herrschaft über andere Menschen ausübt. Die Götter haben die Welt<br />
geschaffen und sorgen dafür, daß nicht nur der Mensch, sondern alle<br />
Wesen in ihr leben und sich entfalten können. Was aber hat den<br />
Schöpfergott veranlaßt, die Welt mit all ihren Wesen ins Sein zu rufen<br />
und im Sein zu erhalten? Kein bisher bekannter ägyptischer Text gibt<br />
eine eindeutige, direkte Antwort auf Fragen dieser Art. Offenbar hat<br />
der Ägypter hier kein ernsthaftes Problem gesehen. Die Götter können<br />
nur Vollendetes schaffen, und die Welt in ihrem Anfangszustand<br />
ist das Vollendete und Ausgewogene schlechthin. Indem die Welt ins<br />
Sein tritt, bringt ihr Schöpfer den Dialog mit ihr in Gang, das gegenseitige<br />
Geben und Nehmen, von dem Götter und Menschen leben.<br />
In den Sargtexten (um 2000 v.Chr.) gibt der berühmte „Monolog<br />
des Allherrn“ eine Aufzählung der vier wichtigsten Schöpfungstaten<br />
(CT VII 462d–464f):<br />
Ich habe viererlei Vollendetes getan<br />
im Innern des Horizont-Tores.<br />
Ich habe die vier Winde geschaffen,<br />
damit jedermann atmen kann in seinem Lebensraum.<br />
Das ist eines davon.<br />
Ich habe die Große Flut geschaffen,<br />
damit der Arme wie der Reiche sich ihrer bemächtige.<br />
Das ist eines davon.<br />
Ich habe jedermann wie seinesgleichen geschaffen<br />
und nicht befohlen, daß sie Unrecht tun.<br />
Es ist (nur) ihr Wille, der meinem Wort zuwiderhandelt.<br />
Das ist eines davon.<br />
Ich habe veranlaßt, daß ihre Herzen den Westen (das Totenreich) nicht vergessen<br />
können,<br />
damit den Gaugöttern (Totenrichter?) Opfer dargebracht werden.<br />
Das ist eines davon.<br />
Das ist beinahe ein ägyptisches Programm der „Freiheit, Gleichheit,<br />
Brüderlichkeit“, das hier, nach dem Zusammenbruch des Alten
Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />
Reiches, als Grundlegung einer neuen Ordnung verkündet wird! Luft,<br />
Nahrungsfülle (Anteil an der Nilüberschwemmung), Gleichheit der<br />
Chancen und ständige Verbindung mit den Verstorbenen und Göttern<br />
– das sind die vier vornehmsten Schöpfertaten und zugleich materielle<br />
wie ideelle Grundlage der menschlichen Existenz.<br />
Durch die anfängliche Trennung von Himmel und Erde entsteht der<br />
Luftraum und damit der Lebensatem – das Wichtigste, was die Göt ter<br />
den Menschen spenden. Denn Luft ist Leben, im dörrenden Wüstenklima<br />
Ägyptens ist jeder „Hauch des Nordwindes“ belebende Erfrischung.<br />
Das Lebenszeichen, das die Götter als häufigstes Attribut in der Hand<br />
tragen, weist sie als Träger und Spender des Lebens aus. In unzähligen<br />
Szenen auf Grab- und Tempelwänden halten sie dem Kö nig – als Vertreter<br />
der ganzen Menschheit – dieses Lebenszeichen an die Nase,<br />
durch die der Lebenshauch in den Menschen eingeht (Taf. 3).<br />
Eine Steigerung bringt die Darstellung geflügelter Gottheiten,<br />
die im Umkreis der Amarnazeit beliebt wird, sich aber schon unter<br />
Hatschepsut ankündigt. 3 Mit ihren Flügeln können sie den Menschen<br />
(oder Osiris) schützend umfassen, ihm aber auch die Atemluft zu -<br />
fächeln. Der Ägypter konnte darauf vertrauen, daß ihm seine Götter<br />
immer wieder „ein neues Atemfeld“ schenken, wie es Rilke von den<br />
wiederkehrenden Göttern erhofft. Für die Verstorbenen ist es eine<br />
ganz wesentliche Verheißung, daß ihnen der Sonnengott auf seiner<br />
Nachtfahrt immer neu den Lebenshauch spendet. In diesem „Atemfeld“,<br />
in diesem Raum der Freiheit, konnte sich eine große und schöpferische<br />
Kultur entfalten.<br />
Leben und Freiheit liegen sichtbar in den Händen der ägyptischen<br />
Götter und sind allen Wesen bestimmt, nicht nur dem Menschen.<br />
Schon die Grabreliefs des Alten Reiches zeigen, wie die liebende Fürsorge<br />
des Schöpfers in der ganzen Natur wirkt und selbst dem Igel in<br />
3 Ein Skarabäus der Königin in New York zeigt eine geflügelte löwenköpfige<br />
Göttin: W. Seipel (Hrsg.), Gold der Pharaonen, Wien 2<strong>001</strong>, S. 73. Seit<br />
Amenophis III. begegnen der Gott Bes, die Maat und die Himmelsgöttin Nut<br />
mit Flügeln, und danach können viele andere Gottheiten geflügelt erscheinen,<br />
in der Spätzeit auch mit vier und sogar acht Flügeln.<br />
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Wirkung der Gottheit und Antwort des Menschen<br />
seinem Erdloch die nötige Nahrung spendet. In den Hymnen des Neuen<br />
Reiches begegnet das Bild vom Küken im Ei, das der Sonnengott atmen<br />
läßt und am Leben erhält. In diesem Bild, das der Ägypter als Schrift -<br />
zeichen für „innen, im Inneren“ verwendet, 4 prägt sich die „Innigkeit“<br />
dieser stetigen Gottesfürsorge am reinsten aus. Sie durchdringt, den<br />
Sonnenstrahlen gleich, die ganze Schöpfungswelt – „Dei ne Strahlen, sie<br />
umfassen die Länder bis zum Ende von allem, was du geschaffen hast“,<br />
ruft Echnaton im Großen Atonhymnus seinem Gott zu.<br />
Zugleich haben die Künstler Echnatons mit dem „Strahlenaton“<br />
(Abb. 30) das eindruckvollste Symbol für die welterhaltende Mühe<br />
des Sonnengottes geschaffen, dessen Licht Leben bedeutet. Die weitausgreifenden<br />
Strahlen der Sonnenscheibe laufen in menschliche<br />
Hände aus und halten den Mitgliedern der Königsfamilie das Lebenszeichen<br />
an die Nase. Hier ist, in aller Deutlichkeit, das Licht als Träger<br />
des Lebensatems gestaltet. Licht ist Leben, auch im nächtlichen Totenreich,<br />
das der Sonnengott durchquert. Wo seine Strahlen und sein<br />
Schöpferwort hindringen, da springen verschlossene Türen auf, wird<br />
die lähmende Finsternis vertrieben und erheben sich die Toten zu<br />
neuem Leben, wie es in den Unterweltsbüchern des Neuen Reiches<br />
ausführlich geschildert wird. 5<br />
Schon vor Echnaton preist der Kairoer Amunhymnus die Segensfülle<br />
des Sonnengottes für alle Kreatur (ÄHG 87, 111–119):<br />
Der Futterkraut schafft, um das Vieh zu ernähren,<br />
und den „Lebensbaum“ für die Menschen.<br />
Der macht, wovon die Fische des Stromes<br />
und die Vögel im Himmel leben.<br />
Der Luft gibt Dem im Ei<br />
und das Junge der Schlange am Leben erhält.<br />
Der macht, wovon die Mücken leben,<br />
und ebenso die Würmer und Flöhe,<br />
der für die Mäuse in ihren Löchern sorgt …<br />
4 A. Hermann, Rilkes ägyptische Gesichte, Symposion 4, 1955, 440f. mit<br />
Taf. 2 (Neudruck Darmstadt 1966).<br />
5 E. <strong>Hornung</strong>, Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich–München 1972,<br />
31989; ders., Die Nachtfahrt der Sonne, Zürich–München 1991.