roma in europa - FRIEDRICH EBERT STIFTUNG Office in Skopje
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ROMA IN EUROPA<br />
Vom Objekt der Ausgrenzung<br />
zum Subjekt politischen Handelns<br />
Herausgegeben von<br />
Peter Thelen<br />
Friedrich Ebert Stiftung<br />
<strong>Skopje</strong><br />
2005
Herausgeber<br />
Friedrich Ebert Stiftung, <strong>Skopje</strong><br />
Bul. Sveti Kliment Ohridski 21/1<br />
http://www.fes.org.mk<br />
Redaktion<br />
Peter Thelen<br />
Cover design und pre-press<br />
Promo DSGN, <strong>Skopje</strong><br />
Auflage<br />
500<br />
Das Copyright liegt bei der Friedrich Ebert Stiftung, sofern im<br />
E<strong>in</strong>zelbeitrag nichts anderes vermerkt ist<br />
CIP – Каталогизација во публикација<br />
Народна и универзитетска библиотека “Св. Климент Охридски“,<br />
Скопје<br />
304.4(=214.58:4)(035)<br />
316.722-027.542(=214.58)(4)(035)<br />
ROMA <strong>in</strong> Europa : Vom Objekt der Ausgrenzung zum Subjekt<br />
politischen Handelns / Herausgeber: Peter Thelen. – <strong>Skopje</strong> :<br />
Friedrich Ebert Stiftung, 2005. – 258 стр. : 22,4 cm<br />
ISBN 9989-109-24-9<br />
1. Thelen, Peter<br />
а) Роми во Европа – Општествено-политичка положба – Македонија –<br />
Прирачници б) Роми – Културен идентитет – Европа – Прирачници<br />
COBISS.MK – ID 62912778<br />
2
Inhalt<br />
Vorwort<br />
Peter Thelen Der lange Weg zur politischen<br />
Partizipation<br />
Günter Grass Ohne Stimme<br />
Rajko Djuric Die Standardsprache der R<strong>roma</strong> –<br />
Bed<strong>in</strong>gung und Grundlage der<br />
nationalen und kulturellen Identität<br />
der R<strong>roma</strong><br />
Marcel Courthiade Wer hat Angst vor der Sprache der<br />
R<strong>roma</strong><br />
Andrzej Mirga Roma und der Beitritt zur EU:<br />
Gewählte und ernannte<br />
Vertreter der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
erweiterten Europa<br />
Claude Cahn Die Rechte der Roma und die<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />
Jenö Kaltennbach,<br />
László Fórika<br />
Sevdija Demirova-<br />
Abdulova<br />
Das ungarische<br />
Partizipationsmodell und se<strong>in</strong>e<br />
Umsetzung bei den Roma<br />
Die Selbstverwaltung der Roma <strong>in</strong><br />
Shuto Orizari<br />
Osman Balic Schwierigkeiten beim Aufbau e<strong>in</strong>er<br />
starken politischen Romapartei <strong>in</strong><br />
Serbien und Montenegro<br />
5<br />
9<br />
81<br />
85<br />
99<br />
131<br />
171<br />
193<br />
223<br />
243<br />
Autoren 253<br />
3
Vorwort<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Dieses Buch beschäftigt sich mit e<strong>in</strong>er neuen Politik und wird mit<br />
der Absicht vorgelegt, mehr Verständnis für das Recht der Roma,<br />
an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen sowie an der<br />
Realisierung der auf diesen Entscheidungen beruhenden<br />
Programmen und deren Kontrolle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em stärkeren Maße als <strong>in</strong><br />
der Vergangenheit teilzunehmen. Es geht also darum, e<strong>in</strong>e Roma-<br />
Politik, worunter hier e<strong>in</strong>e Politik verstanden wird, die mit Roma, die<br />
von Roma legitimiert s<strong>in</strong>d, für Roma formuliert und durchgeführt<br />
wird, im Bewusstse<strong>in</strong> der politisch Handelnden und derer, die sie<br />
vertreten zu verankern. Es richtet sich sowohl an Nicht-Roma,<br />
deren Wissen über die Roma meistens sehr ger<strong>in</strong>g und durch<br />
Vorurteile getrübt ist, sowie an Roma, die trotz der harten<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen, die die meisten von ihnen zu bewältigen<br />
haben, die Kraft f<strong>in</strong>den, sich für die Interessen ihrer Gruppe auf<br />
lokaler, regionaler, staatlicher oder europäischer Ebene<br />
e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
Die Roma s<strong>in</strong>d seit Jahrhunderten, d.h. seit ihrer Ankunft <strong>in</strong> Europa,<br />
Gegenstand politischer Entscheidungen gewesen, die sich <strong>in</strong> der<br />
Regel gegen sie gerichtet haben. Die politischen<br />
Entscheidungsträger fanden sich bei ihrer „Zigeunerpolitik“ nicht im<br />
Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit, <strong>in</strong> der aus Vorurteilen<br />
gespeiste Ängste herrschten. Die überall und zu allen Zeiten <strong>in</strong><br />
unterschiedlicher Intensität auftretende Verfolgung der Roma fand<br />
mit dem nationalsozialistischen Völkermord, dem Hunderttausende<br />
S<strong>in</strong>ti und Roma zum Opfer fielen, ihren traurigen Höhepunkt.<br />
Trotz dieses geschichtlichen H<strong>in</strong>tergrundes verschwanden die<br />
Roma bei Fortdauer ihrer Benachteiligung für Jahrzehnte<br />
weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstse<strong>in</strong> und dem politischen<br />
Interesse. Erst mit dem Prozess der Überw<strong>in</strong>dung der Teilung<br />
Europas rückten die Roma mehr <strong>in</strong> das Blickfeld der politischen<br />
Aufmerksamkeit. Das Zusammenwachsen Europas und das<br />
gestiegene Interesse der europäischen Politik an den Roma bietet<br />
erstmals die Möglichkeit, den Circulus vitiosus aus Vorurteilen und<br />
sozialer Ausgrenzung zu überw<strong>in</strong>den. Viele Roma sehen <strong>in</strong> dieser<br />
Entwicklung die Chance, die Diskussion über die Roma zu<br />
politisieren und Partizipation e<strong>in</strong>zufordern. Im ersten Beitrag dieses<br />
Buches versucht der Herausgeber, diese Diskussion, ihre<br />
H<strong>in</strong>tergründe und die von ihr ausgehenden Impulse zu erfassen und<br />
dem <strong>in</strong>teressierten Publikum verständlich zu machen. – Der<br />
Literaturnobelpreisträger Günter Grass war wohl der erste<br />
5
Peter Thelen<br />
prom<strong>in</strong>ente Nicht-Roma, der sich öffentlich für die Partizipation der<br />
Roma auf europäischer Ebene e<strong>in</strong>setzte. Der entsprechende<br />
Auszug aus se<strong>in</strong>er Straßburger Rede wird hier dokumentiert.<br />
Zum H<strong>in</strong>tergrund der Diskussion über die politische Partizipation<br />
der Roma gehört auch die Erörterung der Frage, als was die Roma<br />
angesehen werden und wie sie sich selbst sehen. Dabei wird die<br />
Frage der Identität als geme<strong>in</strong>schaftsbildender Faktor berührt. Bei<br />
ethnischen M<strong>in</strong>derheiten oder Nationen ist die geme<strong>in</strong>same<br />
Sprache nicht nur e<strong>in</strong> Mittel der Kommunikation sondern auch der<br />
Identitätsf<strong>in</strong>dung. Die Sprache der Roma, die e<strong>in</strong> Jahrtausend der<br />
Migration überstanden hat, ist e<strong>in</strong> gefährdetes, aber<br />
schützenswertes kulturelles Erbe Europas. Mit den politischen und<br />
l<strong>in</strong>guistischen Aspekten des Gebrauchs der Roma-Sprache<br />
beschäftigen sich Rajko Djuric und Marcel Courthiade <strong>in</strong> ihren<br />
Beiträgen.<br />
Andrzej Mirga, der selbst e<strong>in</strong>er der Initiatoren der Diskussion um die<br />
politische Partizipation der Roma war und der bis heute den<br />
Entstehungsprozess e<strong>in</strong>er Roma-Politik im oben genannten S<strong>in</strong>ne<br />
aktiv begleitet und gestaltet, beschreibt e<strong>in</strong>e sehr <strong>in</strong>formative<br />
Diskussion zwischen Vertretern der Roma und Vertretern des<br />
Europäischen Parlamentes und der Europäischen Kommission.<br />
Damit macht er auch e<strong>in</strong>e Momentaufnahme der durch die EU-<br />
Politik notwendig gewordenen Partizipation der Roma <strong>in</strong><br />
verschiedenen EU-Beitrittsländern.<br />
Der wesentliche Grund für die unhaltbare Situation, <strong>in</strong> der sich die<br />
Mehrheit der Roma bef<strong>in</strong>det, ist der Antiziganismus, der immer<br />
wieder zur Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma führt. Claude Cahn,<br />
beschäftigt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag mit der aktuellen Lage und mit<br />
der gegen die Diskrim<strong>in</strong>ierung gerichteten Gesetzgebung.<br />
E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressantes – wenn auch <strong>in</strong> Teilen kritikwürdiges –<br />
Partizipationsmodell für M<strong>in</strong>derheiten hat Ungarn zu Anfang der<br />
90er Jahre e<strong>in</strong>geführt. Jenö Kaltenbach war an der Formulierung<br />
dieses Modells beteiligt und begleitet se<strong>in</strong>e Implementierung als<br />
Ombudsman bis heute. Mit László Fórika beschreibt er die Wirkung<br />
des ungarischen M<strong>in</strong>derheitengesetzes auf die Roma. E<strong>in</strong> weiteres<br />
Beispiel für die Übernahme politischer Verantwortung durch die<br />
Roma, das wohl das wichtigste auf kommunaler Ebene ist, ist die<br />
makedonische Geme<strong>in</strong>de Shuto Orizari, die von Sevdija Demirova-<br />
Abdulova beschrieben wird. Osman Balic geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag<br />
auf die Schwierigkeiten e<strong>in</strong>, die Partizipation der Roma durch<br />
Roma-Parteien <strong>in</strong> Serbien und Montenegro effektiver zu machen.<br />
6
ROMA IN EUROPA<br />
Der Autor hat sich bemüht, <strong>in</strong> diesem Band zwar nicht<br />
ausschließlich aber mehrheitlich Roma zu Wort kommen zu lassen.<br />
E<strong>in</strong>ige verwenden dabei wohlbegründet die Schreibweise Rrom.<br />
Andere bleiben bei Rom.<br />
Peter Thelen<br />
Budapest, Nov. 2005<br />
7
Peter Thelen<br />
Der lange Weg zur politischen Partizipation<br />
1. Roma <strong>in</strong> Europa<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Am 1. Mai 2004 vergrößerte sich die Europäische Union um 1o<br />
neue Mitglieder. Die Gesamte<strong>in</strong>wohnerzahl des "Europa der 25"<br />
stieg durch die größte Erweiterung um 74 Mill. auf <strong>in</strong>sgesamt 453<br />
Mill.. Weitere Länder streben <strong>in</strong> die EU und werden voraussichtlich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em überschaubaren Zeitraum ebenfalls Mitglieder se<strong>in</strong>. Die<br />
vor fast 60 Jahren <strong>in</strong> Jalta beschlossene Teilung Europas ist damit<br />
überwunden.<br />
Die Ause<strong>in</strong>andersetzungen um e<strong>in</strong>e Verfassung für die erweiterte<br />
Union zeigten, dass es schwierig ist, funktionierende Mechanismen<br />
der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung für diese große Geme<strong>in</strong>schaft zu<br />
schaffen. Es geht schließlich um die Gewichtung der Macht der<br />
Mitglieder, und Mitglieder s<strong>in</strong>d Staaten.<br />
Die Größe oder Bedeutung e<strong>in</strong>es Staates kann anhand<br />
unterschiedlicher Maßstäbe (z. B. Fläche, BIP) gemessen werden.<br />
E<strong>in</strong> nahe liegendes Kriterium ist sicher die E<strong>in</strong>wohnerzahl, die auch<br />
<strong>in</strong> der Debatte um die Gewichtung der Stimmen <strong>in</strong> den<br />
Entscheidungsorganen der EU von zentraler Bedeutung ist. Die<br />
Größenunterschiede der Mitgliedsstaaten s<strong>in</strong>d danach beträchtlich.<br />
Während Deutschland 82 Mill. E<strong>in</strong>wohner hat, liegen drei Staaten<br />
unter 1 Mill. ( Zypern 0,8 Mill., Luxemburg und Malta je 0,4 Mill.).<br />
Weniger als 3 Mill. E<strong>in</strong>wohner haben Estland, Litauen und<br />
Slowenien. Die E<strong>in</strong>wohnerzahl von 11 der 25 Mitgliedsstaaten ist<br />
niedriger als 6 Mill..<br />
Mit der Vollendung des jüngsten Erweiterungsprozesses kam auch<br />
e<strong>in</strong> großer Teil e<strong>in</strong>es Volkes 1 <strong>in</strong> die EU, das ke<strong>in</strong>en eigenen Staat<br />
1 Hier und im Folgendem wird "Volk" <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unspezifizierten S<strong>in</strong>n gebraucht, um<br />
den Term<strong>in</strong>us "Geme<strong>in</strong>schaft" und die damit verbundene Diskussion um<br />
geme<strong>in</strong>schaftsbildende Faktoren, die es seit F. Tönnies – also seit dem Ende des 19.<br />
Jahrhunderts – <strong>in</strong> der deutschen Literatur gab, zu vermeiden. Dem hiesigen Gebrauch<br />
dürfte am ehesten das englische "people" entsprechen. Der Term<strong>in</strong>us "Volk" wird<br />
auch von Roma-Vertretern gebraucht. Vgl. u.a, Djuric, R., Ohne Heim – ohne Grab.<br />
Die Geschichte der Roma und S<strong>in</strong>ti, Berl<strong>in</strong> 2002, S. 17f<br />
9
Peter Thelen<br />
hat. Mit der jüngsten Erweiterung verdoppelte sich die Zahl der<br />
Roma <strong>in</strong> der Union auf m<strong>in</strong>destens 3 Mill. Bürger. Die<br />
Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Lage der<br />
Roma <strong>in</strong> der Europäischen Union vom 28 4. 2005 spricht von 7 bis<br />
9 Millionen Roma, die <strong>in</strong> der EU leben. In den Ländern, die sich mit<br />
Aussicht auf Erfolg um die EU-Mitgliedschaft bemühen, gibt es<br />
ebenfalls erhebliche Teile der Bevölkerung, die Roma s<strong>in</strong>d. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
Rumänien wird die Zahl auf 1,5 bis 3 Mill. geschätzt. Die nächste<br />
Erweiterungsrunde dürfte also nochmals e<strong>in</strong>e erhebliche<br />
Vergrößerung der Anzahl der Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> der EU br<strong>in</strong>gen.<br />
In den Ländern Südost<strong>europa</strong>s, für die die EU besondere<br />
Verantwortung übernommen hat und die ebenfalls <strong>in</strong> die EU<br />
streben, gibt es ebenfalls große Bevölkerungsteile, die Roma s<strong>in</strong>d.<br />
In den Staaten der Balkanhalb<strong>in</strong>sel wird deren Zahl auf ca.1 Million<br />
geschätzt.<br />
Die Anzahl der Roma <strong>in</strong> der erweiterten EU ist also schon jetzt<br />
größer als die E<strong>in</strong>wohnerzahl e<strong>in</strong>er Reihe von Mitgliedsstaaten.<br />
Geht man von der vorsichtigen Schätzung von 3 Millionen Roma <strong>in</strong><br />
der EU aus, trifft dies schon jetzt für 6 Staaten zu. Nach der<br />
nächsten Erweiterungsrunde gilt dies <strong>in</strong> jedem Fall für mehr als e<strong>in</strong><br />
Drittel der Staaten, die dann voraussichtlich EU-Mitglieder s<strong>in</strong>d.<br />
Dazu kommt e<strong>in</strong> bisher äußerst starkes Wachstum der Roma-<br />
Bevölkerung. Von e<strong>in</strong>igen Autoren wird geschätzt, dass die Zahl der<br />
Roma <strong>in</strong> Europa seit dem 2. Weltkrieg auf das Fünffache gestiegen<br />
ist. Hier muss allerd<strong>in</strong>gs auf die statistische Unsicherheit sowohl der<br />
Ausgangsdaten aus Volkszählungen als auch der aktuellen<br />
Schätzungen verwiesen werden. Trotzdem kann davon<br />
ausgegangen werden, dass die Geburtenrate der Roma erheblich<br />
höher ist als die der Mehrheitsbevölkerung. Untersuchungen <strong>in</strong><br />
Bulgarien, Tschechien, der Slowakei und <strong>in</strong> Ungarn haben gezeigt,<br />
dass die Zahl der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Roma-Familien zwei- bis dreimal höher<br />
ist als im Landesdurchschnitt. Dabei liegt die K<strong>in</strong>derzahl der Roma<br />
noch über der der armen Familien der Mehrheitsbevölkerung. Diese<br />
Daten weisen e<strong>in</strong>erseits auf die Korrelation von Geburtenraten mit<br />
der sozialen Lage und andererseits auf die besonders schlechte<br />
soziale Situation der Roma h<strong>in</strong>. Mit e<strong>in</strong>er Verbesserung der<br />
Situation der Roma dürfte sich auch die Geburtenrate der der<br />
Mehrheitsbevölkerung annähern.<br />
Der weitaus größte Teil der Roma-Bevölkerung ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
jeweiligen Heimatland besonders benachteiligt, leidet unter<br />
Vorurteilen und Diskrim<strong>in</strong>ierung und wird ausgegrenzt. Diese<br />
Benachteiligung existiert nicht nur <strong>in</strong> den neuen Mitgliedstaaten und<br />
10
ROMA IN EUROPA<br />
<strong>in</strong> den beitrittswilligen Staaten sondern auch <strong>in</strong> den alten EU-<br />
Ländern. Roma haben also im Gegensatz zu anderen nationalen<br />
M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>en doppelten M<strong>in</strong>derheitenstatus: Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />
ethnische Gruppe und bilden gleichzeitig die am meisten<br />
benachteiligte Schicht <strong>in</strong> Europa.<br />
Alle<strong>in</strong> schon die Quantität und ihre Dynamik sowie die besonderen<br />
Probleme dieses europäischen Bevölkerungsteils führt zu der<br />
Frage, wie die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten auf die<br />
neue Situation reagieren und was die Roma wollen und selbst tun<br />
können. E<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, die sich demokratisch def<strong>in</strong>iert, kann<br />
e<strong>in</strong>e Ausgrenzung e<strong>in</strong>es großen Teils ihrer Bürger auf Dauer nicht<br />
dulden. E<strong>in</strong>e große ausgegrenzte Bevölkerung wird ihrerseits auf<br />
Dauer nicht passiv bleiben und versuchen, wenn ke<strong>in</strong> anderer Weg<br />
gesehen wird, ihre Interessen auch außerhalb der etablierten<br />
politischen Prozesse durchzusetzen. "The social unrests <strong>in</strong> the<br />
Romani 'mahala' (neighbourhood) of Plovdiv, Bulgaria <strong>in</strong> 2002 and<br />
the riots <strong>in</strong> eastern Slovakia <strong>in</strong> February 2004 are warn<strong>in</strong>gs of the<br />
consequences of <strong>in</strong>decision and <strong>in</strong>action." 2<br />
Die Frage ist also, welche Rolle dieser Bevölkerungsteil, der für das<br />
europäische Verständnis von Demokratie und sozialem Ausgleich<br />
von hoher Relevanz ist, <strong>in</strong> der EU, <strong>in</strong> anderen europäischen<br />
Organisationen und <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten spielen soll und kann.<br />
Mit dem letzten Erweiterungsprozess der EU ist die Bedeutung der<br />
Roma für Europa <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der Politik gerückt. Ihre Lage <strong>in</strong><br />
den Beitrittsländern war e<strong>in</strong> Thema <strong>in</strong> den jährlichen<br />
länderbezogenen Fortschrittsberichten der Kommission. Dar<strong>in</strong><br />
wurde von den Regierungen der Beitrittsländer e<strong>in</strong>e aktive Politik<br />
zur Verbesserung der Lage dieser M<strong>in</strong>derheit gefordert. Seit dem<br />
Jahr 2000 hat die EU e<strong>in</strong> eigenes Programm zur Förderung der<br />
Roma aufgelegt. Bei diesen auf e<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage dieser<br />
M<strong>in</strong>derheit zielenden Maßnahmen s<strong>in</strong>d die Roma Objekt der Politik.<br />
Die Frage ist, ob e<strong>in</strong>e Romapolitik, die diesen Namen verdient, nicht<br />
e<strong>in</strong>schließt, dass die Roma an den sie betreffenden<br />
Entscheidungsprozessen aktiv beteiligt s<strong>in</strong>d, dass sie von Objekten<br />
zu Subjekten dieser Politik werden und wie dies geschehen kann.<br />
Daraus ergeben sich andere Fragen, vor allem die zentrale Frage,<br />
wer diejenigen Roma s<strong>in</strong>d oder se<strong>in</strong> sollen, die im Namen der<br />
Roma sprechen. Es geht dabei nicht zuletzt um die demokratische<br />
2 Plaks, L., Mirga, A., <strong>in</strong>: Project on Ethnic Relations, Roma and EU Accession:<br />
Elected and appo<strong>in</strong>ted Romani representatives <strong>in</strong> an enlarged Europe, Pr<strong>in</strong>ceton,<br />
New Jersey, 2004, S. 2<br />
11
Peter Thelen<br />
Legitimation. Um diese Frage zu beantworten, soll zuerst darauf<br />
e<strong>in</strong>gegangen werden, was die Roma s<strong>in</strong>d, wie sie von anderen<br />
gesehen werden und als was sie sich selbst betrachten.<br />
2. Europäer seit 6 Jahrhunderten<br />
In allen europäischen Staaten leben Roma. Häufig werden sie mit<br />
anderen Namen bezeichnet oder nennen sich selbst anders. Zu den<br />
Autonymen, also den Namen, die sie sich selbst geben, gehören<br />
- S<strong>in</strong>ti, die vor allem <strong>in</strong> Deutschland, Österreich, Norditalien,<br />
Slowenien und Ostfrankreich leben,<br />
- Manusch, die <strong>in</strong> Frankreich s<strong>in</strong>d,<br />
- Kale aus Spanien und<br />
- Romanichals <strong>in</strong> Großbritannien.<br />
Daneben gibt es e<strong>in</strong>e große Zahl von Namen für Untergruppen, die<br />
sich häufig aus Bezeichnungen für Berufsgruppen oder Länder, <strong>in</strong><br />
denen sich die Gruppe früher wirklich oder verme<strong>in</strong>tlich aufgehalten<br />
hat, herleiten lassen. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d die Kalderas<br />
(Kesselmacher) und die Lovara (Pferdehändler), die wiederum zu<br />
den Vlach-Roma (Regionym, das auf die Herkunft aus der Walachei<br />
h<strong>in</strong>deutet) gerechnet werden können. 3<br />
Die bekanntesten Fremdbezeichnungen s<strong>in</strong>d Zigeuner, Tsigane,<br />
Z<strong>in</strong>gari, Cigany sowie Gypsy und Gitano, wobei die beiden letzten<br />
Bezeichnungen auf die fälschlicherweise vermutete Herkunft aus<br />
Ägypten h<strong>in</strong>weisen. Im Gegensatz zu diesen Exonymen ist Roma 4<br />
e<strong>in</strong> Autonym für e<strong>in</strong>e große Gruppe, die vor allem <strong>in</strong> Mittel<strong>europa</strong><br />
lebt. Dieser Name wird aber auch als Oberbegriff für alle<br />
Untergruppen gebraucht und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Wissenschaft und<br />
Politik sowie auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene verwendet. 5<br />
3<br />
An dieser Stelle werden nur e<strong>in</strong>ige Namen angeführt. Die Zahl der Eigen- und<br />
Fremdbezeichnungen ist erheblich größer. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu<br />
erheben, führt Hübschmannova <strong>in</strong> ihrem Glossar 51 Namen auf. Vgl.<br />
Hübschmannova, M., Rombase, <strong>in</strong>: www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />
4<br />
Roma ist der Plural von Rom (Mensch, Ehegatte). Die weibliche Form ist Romni.<br />
Romani ist das Adjektiv.<br />
5<br />
So wird auch hier verfahren, zumal die umfassenden Exonyme – vor allem der<br />
Name Zigeuner – von den meisten Roma als diskrim<strong>in</strong>ierend empfunden wird.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs werden hier die Term<strong>in</strong>i Zigeuner und Gypsies dann verwendet, wenn sie<br />
Bestandteil von Zitaten s<strong>in</strong>d, im Zusammenhang mit zitierter Literatur stehen, im<br />
historischen Zusammenhang zu sehen s<strong>in</strong>d oder damit auf antiziganistische Inhalte<br />
verwiesen werden soll (z. B. „Zigeunerpolitik“).<br />
12
ROMA IN EUROPA<br />
Der Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung <strong>in</strong> den Ländern der<br />
alten EU lag zwischen 0,1 und 2 %. In den meisten Ländern<br />
Mittel<strong>europa</strong>s, die am 1. Mai 2004 beigetreten s<strong>in</strong>d, und <strong>in</strong> den<br />
anderen, die - wie Rumänien, Bulgarien und die noch nicht<br />
beigetretenen Länder der Balkanhalb<strong>in</strong>sel - <strong>in</strong> der Zukunft mit dem<br />
Beitritt rechnen können, liegt der Anteil – wie oben ausgeführt -<br />
wesentlich höher.<br />
Überprüfbare Angaben zur Gesamtzahl der Roma oder zu ihrem<br />
Anteil an der Gesamtbevölkerung gibt es nicht. Die offiziellen<br />
Zahlen, häufig aus Volkszählungen oder –befragungen gewonnen,<br />
weichen stark von Schätzungen von Experten und Nicht-<br />
Regierungsorganisationen ab. Dafür gibt es Gründe: Die seit<br />
mehreren Jahrhunderten gemachten Erfahrungen der<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung und Verfolgung – auch und besonders durch die<br />
Staatsmacht – lässt es opportun ersche<strong>in</strong>en, sich <strong>in</strong> offiziellen<br />
Zählungen nicht zu dieser M<strong>in</strong>derheit zu bekennen. Die Ergebnisse<br />
von Volkszählungen hängen stark von negativen Vorurteilen der<br />
Mehrheitsgesellschaft gegenüber dieser M<strong>in</strong>derheit und von der<br />
daraus resultierenden Furcht der Befragten, Nachteile zu erleiden,<br />
ab. Die Ergebnisse von aufe<strong>in</strong>ander folgenden Zählungen können<br />
daher auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausmaß von e<strong>in</strong>ander abweichen, das durch<br />
die demografische Entwicklung nicht zu erklären ist.<br />
Besonders unrealistisch waren die offiziellen Angaben <strong>in</strong> der<br />
kommunistischen Zeit über die M<strong>in</strong>derheiten und hier <strong>in</strong>sbesondere<br />
über die Roma, deren Zahl heute auf das bis zu Zehnfache der<br />
damals angegebenen Zahlen geschätzt wird. Aber auch nach dem<br />
Systemwechsel geben die Volkszählungsergebnisse ke<strong>in</strong><br />
realistisches Bild. So gaben <strong>in</strong> der Slowakischen Republik im Jahre<br />
2001 nur 89.000 Bürger an, Roma zu se<strong>in</strong>. Die meisten<br />
Schätzungen gehen dagegen von 480.000 bis 520.000 Roma <strong>in</strong><br />
diesem Land aus. DieVolkszählung, die im gleichen Jahr <strong>in</strong> der<br />
Tschechischen Republik durchgeführt wurde, weist nur ca. 12.000<br />
Roma aus, während Schätzungen e<strong>in</strong>en Anteil von 2 bis 3 % an der<br />
Gesamtbevölkerung, also bis zu 300.000 Roma, angeben. Aber<br />
auch derartige Schätzungen können ke<strong>in</strong>en Anspruch auf<br />
Objektivität deklarieren, da die ethnische Zuordnung durch Dritte<br />
stets auch von deren Interessen und eigenen Vorurteilen<br />
bee<strong>in</strong>flusst wird. 6<br />
6 Zur Problematik der Bestimmung der Zahl der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Bevölkerungsgesamtheit siehe Ladanyi, J., Szelenyi, I., Die "gesellschaftliche<br />
Konstruktion" der Roma-Ethnizität <strong>in</strong> Bulgarien, Ungarn und Rumänien <strong>in</strong> der Periode<br />
des Übergangs zur Marktwirtschaft, <strong>in</strong>: Zeitgeschichte, 30. Jg., S. 64ff, bzw. Ladany,<br />
13
Peter Thelen<br />
Festzustellen bleibt, dass <strong>in</strong> den meisten Ländern die<br />
Expertenschätzungen und die Angaben von Roma-Organisationen<br />
für die Zahl der Roma erheblich über den Ergebnissen der<br />
Volkszählungen liegen und manchmal e<strong>in</strong> Vielfaches davon<br />
ausmachen. Andererseits bestehen zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<br />
Schätzungen selbst wieder deutliche Unterschiede. In jedem Fall<br />
liegen die Schätzungen aber deutlich über den Ergebnissen aus<br />
Selbstidentifikationen. Es kann daher die These aufgestellt werden,<br />
dass sich bei e<strong>in</strong>er Verm<strong>in</strong>derung der rechtlichen und faktischen<br />
Diskrim<strong>in</strong>ation der Roma die Ergebnisse von Volkszählungen <strong>in</strong> die<br />
Richtung der Schätzungen bewegen werden. Die gleiche Wirkung<br />
dürfte auf Dauer die im Folgenden beschriebenen Bemühungen zur<br />
Steigerung des Selbst- und Geme<strong>in</strong>schaftsbewusstse<strong>in</strong>s der Roma<br />
haben.<br />
In jedem e<strong>in</strong>zelnen Land s<strong>in</strong>d die Roma trotz ihrer großen Zahl e<strong>in</strong>e<br />
M<strong>in</strong>derheit. Ihre Situation unterscheidet sich von den meisten der<br />
anderen nationalen M<strong>in</strong>derheiten vor allem durch drei Umstände:<br />
Sie gibt es <strong>in</strong> allen europäischen Staaten. Sie s<strong>in</strong>d überall die am<br />
meisten benachteiligte Gruppe und sie haben ke<strong>in</strong> eigenes<br />
Territorium oder e<strong>in</strong>en Heimatstaat, der ihre Interessen vertritt.<br />
Trotz der Größe dieses Volkes wissen die meisten Europäer nur<br />
sehr wenig über diese Mitbürger. Dies liegt sicher auch an der<br />
Außenseiterrolle, die die Roma <strong>in</strong> der Geschichte zu spielen hatten<br />
und die sie <strong>in</strong> der Gegenwart immer noch spielen. Die Situation, <strong>in</strong><br />
der sich die meisten Roma heute bef<strong>in</strong>den, ist ohne e<strong>in</strong>ige<br />
Kenntnisse der Geschichte kaum zu verstehen. Deshalb und wegen<br />
der weiteren Argumentation sollen hier e<strong>in</strong>ige historische Fakten<br />
und Theorien festgehalten werden.<br />
Da die Roma ke<strong>in</strong>e eigene schriftliche Überlieferung haben, lag ihre<br />
Geschichte und Herkunft lange im Dunkeln.<br />
Sprachwissenschaftliche Analysen lieferten gegen Ende des 18.<br />
Jahrhunderts den Beweis, dass das Romanes, die Sprache der<br />
Roma, mit dem Sanskrit, wie es im Nordwesten Indiens gesprochen<br />
wurde, verwandt ist. Die Zugehörigkeit der Roma zu den<br />
<strong>in</strong>doeuropäischen Völkern kann zwar nach der l<strong>in</strong>guistischen<br />
J., Szelenyi, I., The social construction of Roma ethnicity …, <strong>in</strong>: Review of Sociology,<br />
Vol. 7, 2001, S. 79ff - Babusik, F., Legitimacy, Statistics and Research Methodology<br />
– Who Is Romani <strong>in</strong> Hungary Today and What Are We (Not) Allowed to Know About<br />
Roma, <strong>in</strong>: Roma Rights, 2004, Nr. 2<br />
14
ROMA IN EUROPA<br />
Beweisführung als gesichert gelten, die Frage aber, wann und<br />
warum sie ihre Heimat verlassen haben, ist bis heute nicht mit<br />
Sicherheit zu beantworten. Es gibt dazu <strong>in</strong> der Literatur e<strong>in</strong>e große<br />
Variationsbreite. Sie reicht<br />
- vom 4. Jahrhundert v. Chr., als Alexander der Große mit<br />
se<strong>in</strong>er Armee bis Nord<strong>in</strong>dien kam,<br />
- über das 5. Jahrhundert n. Chr., als Bahram Gur, der<br />
damalige Schah von Persien, 12. 000 Musikanten, Tänzer<br />
und Akrobaten aus Indien anwarb,<br />
- über die Zeit der Eroberungszüge von Mahmud von Ghazni<br />
zu Beg<strong>in</strong>n des 11. Jahrhunderts<br />
- bis zu den Feldzügen Dsch<strong>in</strong>gis Kahns im 13. Jahrhundert.<br />
Die datierbaren Veränderungen des Sanskrit deuten aber darauf<br />
h<strong>in</strong>, dass sich das Romanes zwischen dem 9. und dem 14.<br />
Jahrhundert von ihm getrennt haben muss. In dieser Zeit dürften die<br />
Roma ihre Heimat verlassen haben. Vermutlich gab es mehrere<br />
Auswanderungswellen über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum, wobei die<br />
Gründe sowohl <strong>in</strong> militärischen Überfällen und Eroberungen,<br />
Anwerbungsaktionen für Handwerker, Händler und Künstler,<br />
Verschleppungen oder Rekrutierungen durch fremde Armeen oder<br />
Hungersnöte gewesen se<strong>in</strong> können. Die größte<br />
Auswanderungswelle dürfte auf die 17 Kriegszüge Mahmuds von<br />
Gazni zwischen 1000 und 1027 n. Chr. zurückzuführen se<strong>in</strong>. 7<br />
Auch h<strong>in</strong>sichtlich der Gesellschaftsschicht und der Berufsgruppen,<br />
denen die wandernden Roma angehörten, besteht bis heute ke<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>igkeit. Dass die Roma der untersten Schicht angehört hätten, ist<br />
möglicherweise e<strong>in</strong> unzulässiger Schluss, der aus der<br />
marg<strong>in</strong>alisierten Situation, <strong>in</strong> der sich die Mehrheit der Roma heute<br />
bef<strong>in</strong>det, gezogen wird. Die von Wissenschaftlern herangezogenen<br />
Dokumente und Theorien weisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Richtung. In ihrer<br />
Heimat herrschte das Kastenwesen. In dessen Gefüge „gehörte die<br />
Romani-Geme<strong>in</strong>schaft im Wesentlichen der dritten Kaste an...“ 8<br />
Diese Kaste bestand vor allem aus Kaufleuten und Handwerkern<br />
und war nicht Waffen tragend. Diese These wird aber nicht von<br />
allen, die sich mit der Frühgeschichte der Roma beschäftigen,<br />
geteilt. So versuchte der Inder W. R. Rishi nachzuweisen, dass zu<br />
7<br />
So Djuric, R., Zigeuner des Lexikons – Die Roma <strong>in</strong> Nachschlagewerken: E<strong>in</strong><br />
Vorschlag zur Korrektur, <strong>in</strong>:<br />
www.m<strong>in</strong>derheiten.org/<strong>roma</strong>/textarchiv/texte/djuric_lexikon.htm - S. auch Djuric, R.,<br />
Ohne Heim – ohne Grab, a.a.O, S. 57f – Hübschmannova, M., Herkunft der Roma, <strong>in</strong>:<br />
Romabase, www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />
8<br />
Djuric, R., Ohne Heim – ohne Grab, a.a.O., S. 35<br />
15
Peter Thelen<br />
den auswandernden Roma neben Handwerkern zum<strong>in</strong>dest auch<br />
Krieger gehörten. 9<br />
Auch zu den Wanderungswegen gibt es mehrere Theorien.<br />
Aufgrund sprachwissenschaftlicher Analysen kann aber als<br />
gesichert gelten, dass zum<strong>in</strong>dest der größte Teil der<br />
auswandernden Roma bzw. deren Nachkommen für e<strong>in</strong>e längere<br />
Zeit <strong>in</strong> Persien und später <strong>in</strong> Armenien lebten. Obwohl e<strong>in</strong>ige<br />
H<strong>in</strong>weise existieren, die Schlüsse auf die Existenz von Roma im<br />
Byzant<strong>in</strong>ischen Reich seit dem Jahre 1000 zulassen, datieren<br />
Belege für Roma <strong>in</strong> Europa auf die Zeit um 1300 (1290 – Berg<br />
Athos <strong>in</strong> Griechenland, 1322 – Kreta). Danach häufen sich die<br />
schriftlichen H<strong>in</strong>weise über die Roma <strong>in</strong> Europa (z. B. 1348 –<br />
Prizren <strong>in</strong> Serbien, 1362 Dubrovnik <strong>in</strong> Kroatien). Zum ersten Mal<br />
wird 1407 über Roma im deutschen Raum (Hildesheim) berichtet,<br />
danach <strong>in</strong> zahlreichen anderen Dokumenten <strong>in</strong> anderen Gegenden<br />
Deutschlands sowie im heutigen Rumänien, <strong>in</strong> Ungarn, Tschechien,<br />
der Schweiz, Belgien, <strong>in</strong> den Niederlanden sowie <strong>in</strong> Frankreich,<br />
Italien und Spanien. Ab Beg<strong>in</strong>n des 16. Jahrhunderts ist die<br />
Anwesenheit von Roma auf den britischen Inseln, <strong>in</strong> den<br />
skand<strong>in</strong>avischen und baltischen Ländern und <strong>in</strong> Russland<br />
dokumentiert. 10<br />
Auffällig ist, dass die Roma nicht wie andere wandernde Völker<br />
versuchten, sich mit Waffengewalt e<strong>in</strong> Land zu nehmen. Dies mag<br />
daran liegen, dass sie nicht gleichzeitig und als ganzes Volk<br />
auswanderten sondern <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Verbänden und über e<strong>in</strong>en langen<br />
Zeitraum verteilt. Es kann aber auch daran liegen, dass sie – wie<br />
Djuric me<strong>in</strong>t – e<strong>in</strong>er nicht Waffen tragenden Kaste angehörten und<br />
kriegerische Gewalt nicht zu ihrer ursprünglichen Kultur passte.<br />
Nachdem sie <strong>in</strong> Europa angekommen waren, wanderten sie<br />
weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Verbänden über weite Distanzen h<strong>in</strong>weg,<br />
vermutlich um Europa zu erkunden. Später wurde die Reichweite<br />
der Reisen merklich e<strong>in</strong>geschränkt. Schon im 15. Jahrhundert<br />
gaben e<strong>in</strong>zelne Gruppen das Reisen ganz auf, wurden sesshaft und<br />
arbeiteten als Landarbeiter, Händler oder Handwerker. Im<br />
osmanischen Reich zieht e<strong>in</strong> Teil der Roma als Dienstleister (z.B.<br />
Waffenschmiede) mit der Armee. E<strong>in</strong> großer Teil wird sesshaft,<br />
9 Vgl. Mart<strong>in</strong>s-Heuß, K., Zur mythischen Figur des Zigeuners <strong>in</strong> der deutschen<br />
Zigeunerforschung, Frankfurt a. M. 1983, S. 44f<br />
10 S. dazu Liégeois, J.-P., Roma, S<strong>in</strong>ti, Fahrende, Berl<strong>in</strong> 2002, S. 28ff – Mayerhofer,<br />
C., Der Donauraum, 40. Jg., 2001, a.a.O., S. 11<br />
16
ROMA IN EUROPA<br />
andere bleiben bei der nomadischen oder halbnomadischen<br />
Lebensweise.<br />
Der Wechsel vom permanenten Wandern zu zeitweiligem oder<br />
saisonalem Reisen oder zur vollständigen Sesshaftigkeit kann<br />
ebenso wie die Beibehaltung der nomadischen Lebensweise<br />
verschiedene Ursachen haben. E<strong>in</strong>mal kann es sich um<br />
Entscheidungen der Roma selbst handeln. Die Faktoren, die die<br />
Entscheidung bee<strong>in</strong>flussen, können bei der Beibehaltung des<br />
mobilen Lebens im Wunsch nach Unabhängigkeit, der nicht<br />
unbegründeten Angst vor Versklavung oder <strong>in</strong> der Freude am<br />
Ortswechsel liegen. Die Entscheidungen dürften <strong>in</strong> der Regel aber<br />
wirtschaftlich begründet se<strong>in</strong>. Ist z. B. der potenzielle Kundenkreis<br />
e<strong>in</strong>es Handwerkers bei dichter Besiedlung räumlich konzentriert,<br />
lohnt sich e<strong>in</strong>e Ansiedlung unter der weiteren Voraussetzung, dass<br />
die Obrigkeit und die Bevölkerung dies h<strong>in</strong>nimmt. Bei dünner<br />
Besiedlung im ländlichen Raum ist der Kundenkreis verstreut. In<br />
diesem Fall ist es s<strong>in</strong>nvoller, zu den Kunden zu reisen. Hier handelt<br />
es sich um den sog. Dienstleistungsnomadismus, der von der<br />
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung <strong>in</strong> der<br />
Gesamtbevölkerung determ<strong>in</strong>iert wird und der daher e<strong>in</strong>em<br />
entsprechenden Wandel unterliegt. – Neben diesen "strukturellen"<br />
gibt es "umstandsbed<strong>in</strong>gte" Gründe, die auf Entscheidungen von<br />
Nicht-Roma (Gadje) beruhen. 11 In diesen Fällen handelt es sich um<br />
Vertreibung oder um ihr Gegenteil, die Zwangsansiedlung oder die<br />
Versklavung.<br />
In der Realität spielen sicher häufig mehrere Gründe für die<br />
Ansiedlung oder Nichtansiedlung e<strong>in</strong>e Rolle. Hier sollen aber die<br />
umstandsbed<strong>in</strong>gte Mobilität und die ebenfalls fremdbestimmte<br />
Sesshaftigkeit mit e<strong>in</strong>igen Beispielen hervorgehoben werden, da sie<br />
<strong>in</strong> der Geschichte der Roma e<strong>in</strong>e besonders große Rolle gespielt<br />
haben. Der Grad der Fremdbestimmtheit ist bei e<strong>in</strong>em Volk, das<br />
sich <strong>in</strong> viele kle<strong>in</strong>e Gruppen aufgeteilt hat und wahrsche<strong>in</strong>lich ohne<br />
Waffene<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> fremde Länder gezogen ist, höher als bei anderen<br />
Völkern.<br />
Im Osmanischen Reich wurden die Roma vergleichsweise tolerant<br />
behandelt und besaßen ähnliche Rechte wie Angehörige anderer<br />
Bevölkerungsteile. 12 Anfänglich wurden sie auch <strong>in</strong> West- und<br />
Mittel<strong>europa</strong> beschützt oder toleriert. Obwohl sie hier bei ihrer<br />
11 Liégeois, J.-P., a.a.O., S. 39<br />
12 Zur Geschichte der Roma im Osmanischen Reich: Marushiakova, E., Popov, V.,<br />
The Gypsies <strong>in</strong> the Osman Empire, Hatfield, 2001<br />
17
Peter Thelen<br />
Ankunft unter dem Schutz höchster weltlicher und kirchlicher<br />
Autoritäten standen und <strong>in</strong> der Bevölkerung mit Neugierde und<br />
tätiger Nächstenliebe aufgenommen wurden, änderte sich die<br />
Haltung der Bevölkerung und der Obrigkeit relativ schnell. Von der<br />
Kirche wurden sie der Zauberei geziehen und als unchristlich<br />
gebrandmarkt. Die weltlichen Autoritäten sahen <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong><br />
H<strong>in</strong>dernis, e<strong>in</strong>e stärkere Kontrolle über die Untertanen zu erlangen.<br />
Für die ansässigen, <strong>in</strong> Zünften organisierten Handwerker stellten<br />
sie e<strong>in</strong>e zu bekämpfende Konkurrenz dar. Schon 42 Jahre,<br />
nachdem sie zum ersten Mal im deutschen Raum dokumentiert<br />
worden s<strong>in</strong>d, wurden sie "1449 gewaltsam aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong><br />
vertrieben, und zum Ende des Jahrhunderts ist die Ablehnung<br />
generalisiert ..." 13 Auf dem Reichsgebiet werden sie ab 1501 nicht<br />
mehr geduldet und können straffrei ermordet werden. Der Verdacht,<br />
dass sie Spionagedienste für die Türken leisten, führte im 16.<br />
Jahrhundert zu e<strong>in</strong>er ersten systematischen Verfolgung der Roma<br />
auf deutschem Gebiet. Diese Politik erzeugte e<strong>in</strong>e europäische<br />
Wirkung, da die angrenzenden Länder vermeiden wollten, dass die<br />
Roma <strong>in</strong> ihre Gebiete flüchteten. „Schließlich gaben mit e<strong>in</strong>iger<br />
Verzögerung alle mittel- und westeuropäischen Länder e<strong>in</strong>e ‚Anti-<br />
Zigeuner-Gesetzgebung’ heraus“. 14 "Im 17. Jahrhundert werden<br />
S<strong>in</strong>ti und Roma entlang der Grenzen aufgehängt – als Illustration<br />
der Strafe, die diejenigen zu erwarten hatten, die beim<br />
Überschreiten der Grenzen aufgegriffen wurden." 15 Ihnen wird<br />
sowohl die Sesshaftigkeit als auch das Reisen verboten. Insofern<br />
kann man das Wandern der Roma auch als permanente Flucht<br />
aufgrund regional wechselnder Verfolgungs<strong>in</strong>tensität ansehen.<br />
Zu der fremdbestimmten Mobilität gehören auch die<br />
Migrationswellen, die durch die politischen Entscheidungen der<br />
jüngsten Geschichte ausgelöst wurden. So wurden im 2. Weltkrieg<br />
Roma aus Italien, Kroatien und Slowenien vertrieben. 16 Die letzte<br />
große Migrationswelle dieser Art geht auf das Ause<strong>in</strong>anderfallen<br />
Jugoslawiens zurück. Dort waren sie überall die Leidtragenden, da<br />
sie jeweils von allen Seiten der sich bekämpfenden Nationalisten<br />
angegriffen wurden.<br />
E<strong>in</strong>en neuen traurigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung<br />
1999 im Kosovo, und zwar unter den Augen der KFOR, die<br />
angetreten war, die "ethnischen Säuberungen" zu beenden. Die<br />
13<br />
Liégois, J.-P., a. a. O., S. 159<br />
14<br />
Samer, H., 16.-18. Jahrhundert, <strong>in</strong>: Rombase, www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />
15<br />
Liégeois, J.-P., a.a.O., S. 159<br />
16<br />
Ebd., S. 36<br />
18
ROMA IN EUROPA<br />
kosovarischen Roma, die meist seit Generationen ansässig waren,<br />
wurden nach der Beendigung der Militäraktionen der NATO und<br />
nach dem Abzug der jugoslawischen Truppen ermordet,<br />
vergewaltigt und aus ihren Häusern vertrieben. 17 Die anwesenden<br />
Kfor-Soldaten waren und s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> der Lage, sie vor dem<br />
doppelten Hass der Albaner und der Serben zu schützen, "sei es,<br />
weil sie überfordert s<strong>in</strong>d, sei es, weil wieder e<strong>in</strong>mal den<br />
Angehörigen des Romavolkes Schutz verweigert wird". 18 Vier<br />
Fünftel der im Kosovo damals lebenden Roma – ca. 120.000<br />
Personen - flohen aus dem Kosovo oder wurden B<strong>in</strong>nenvertriebene<br />
<strong>in</strong>nerhalb des Kosovo. 19 Von den Flüchtl<strong>in</strong>gen lebt ungefähr die<br />
Hälfte <strong>in</strong> Serbien und Montenegro sowie <strong>in</strong> anderen Balkanländern.<br />
Die andere Hälfte ist <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>. Die wenigsten haben e<strong>in</strong>en<br />
dauerhaften Flüchtl<strong>in</strong>gsstatus. Den meisten droht permanent die<br />
Abschiebung <strong>in</strong> den Kosovo. Bisher wurde wenig getan, damit die<br />
Vertriebenen sicher <strong>in</strong> ihre Heimat zurückkehren können. Trotz<br />
jahrelanger UN-Verwaltung kommt es immer wieder zu<br />
Ausschreitungen und Gewalttaten gegen Roma im Kosovo.<br />
Heimkehrende Roma wurden ermordet, andere bedroht. Paul<br />
Polanski, der mit e<strong>in</strong>em Untersuchungsteam vom 1. März bis 30.<br />
September 2003 im Kosovo war, stellt fest, dass im<br />
Untersuchungszeitraum mehr Roma den Kosovo verlassen haben<br />
als zurückgekommen s<strong>in</strong>d. 20 Den Gewaltausbrüchen im März 2004<br />
fielen nicht nur Serben und orthodoxe Kirchen und Klöster zum<br />
Opfer sondern auch e<strong>in</strong>ige hundert Roma, Ashkali und Ägypter,<br />
deren Häuser von albanischen Kosovaren <strong>in</strong> Brand gesetzt wurden.<br />
Die Gewalt gegen die Roma fand allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> der öffentlichen<br />
Berichterstattung kaum Beachtung. Es ist zu befürchten, dass bei<br />
der zu erwartenden Unabhängigkeit des Kosovo die Gewalt gegen<br />
die Roma weiter eskaliert. Die bestehende und die erwartete<br />
Bedrohung führen dazu, dass viele Roma, geflohene wie<br />
verbliebene, ke<strong>in</strong>e Zukunft mehr <strong>in</strong> ihrer Heimat sehen.<br />
17 S. dazu European Roma Right Center, Roma <strong>in</strong> the Kosovo Conflict, Budapest<br />
1999 – Report der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kosovo – Unter den Augen der<br />
KFOR: Massenvertreibung der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter, 7.Aufl., 2001<br />
18 Grass, G., Ohne Stimme – Reden zugunsten des Volkes der Roma uns S<strong>in</strong>ti,<br />
Gött<strong>in</strong>gen, 2000, S. 37 – G. Grass sagt zu diesem Thema auch: "Zu Recht werden <strong>in</strong><br />
Holland serbische und kroatische Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt.<br />
Wo aber ist der Ort, wo die im Kosovo Verantwortung tragenden europäischen<br />
Regierungen wegen unterlassener Hilfe angeklagt werden und ihren Richter f<strong>in</strong>den?",<br />
ebd., S. 76f<br />
19 Zur Zahlenangabe s. Europäische Kommission (Hrsg.), Die Situation der Roma <strong>in</strong><br />
der erweiterten Europäischen Union, Luxemburg, 2004, S. 11<br />
20 Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Roma, Aschkali und "Ägypter" – Ohne<br />
Zukunft im Kosovo, Gött<strong>in</strong>gen 2003<br />
19
Peter Thelen<br />
Nicht nur die Migration sondern auch die Sesshaftigkeit kann<br />
sowohl die eigene Entscheidung der Roma se<strong>in</strong> als durch<br />
Zwangsmaßnahmen herbeigeführt werden. In beiden Fällen liegt <strong>in</strong><br />
der Regel e<strong>in</strong>e ökonomische Motivation zugrunde, und zwar<br />
entweder bei den Roma oder bei der Mehrheitsbevölkeurng bzw.<br />
der Regierung. So kann e<strong>in</strong>e Regierung zu der Erkenntnis kommen,<br />
dass es zu viel Kraft b<strong>in</strong>det, die Roma dauernd zu verfolgen und zu<br />
vertreiben, dass es e<strong>in</strong>fach zu teuer ist. Andererseits können die<br />
Roma als e<strong>in</strong> Reservoir billiger Arbeitskräfte angesehen werden,<br />
das es sich lohnt zu erschließen. So verfolgte Spanien über e<strong>in</strong>en<br />
langen Zeitraum „abwechselnd und mit größter Konsequenz sowohl<br />
die Vernichtung der Roma als auch ihre vollständige Assimilation“.<br />
Ab 1539 wurden die „Gitanos“ h<strong>in</strong>gerichtet oder auf königliche<br />
Galeeren gebracht. Philipp III befahl, sie des Landes zu vertreiben<br />
und drohte ihnen bei Rückkehr mit dem Tod. Sie durften aber<br />
bleiben, wenn sie sesshaft wurden und sich assimilierten. 1633<br />
untersagte Philipp den Roma, <strong>in</strong> Gruppen zusammenzuleben, ihre<br />
Sprache zu sprechen und sich anders zu kleiden als die Spanier.<br />
Se<strong>in</strong> Nachfolger führte diese Politik weiter. Zu Beg<strong>in</strong>n des 18.<br />
Jahrhunderts war die Sesshaftmachung der „Gitanos“ weitgehend<br />
gelungen. Das Ziel der Assimilierung war allerd<strong>in</strong>gs nicht erreicht.<br />
Am 20. Juli 1749 ordnete Philipp V. an, alle greifbaren Roma<br />
zusammenzutreiben und als staatliche Zwangsarbeiter e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
An diesem „Schwarzen Mittwoch“ wurden 9.000 bis 10.000 Roma<br />
ermordet. 21<br />
E<strong>in</strong> anderes historisches Beispiel für e<strong>in</strong>e zwangsweise<br />
Ansiedlungs- und Assimilierungspolitik war die Politik von Maria<br />
Theresia, Kaiser<strong>in</strong> von Österreich und Ungarn, und von ihrem<br />
Nachfolger ab 1758. Die Roma wurden als Knechte <strong>in</strong> der<br />
Landwirtschaft gebraucht und zwangsangesiedelt. Damit das<br />
Projekt auf Dauer gel<strong>in</strong>gt, sollte gleichzeitig ihre Kultur durch e<strong>in</strong>e<br />
Reihe von Zwangsmaßnahmen zerstört werden: Ihre Anführer (ung.<br />
Vajda) wurden verboten, der Begriff Zigeuner (ung. Cigany) wurde<br />
durch Neubauer u. Ä. ersetzt, die Heirat von Roma untere<strong>in</strong>ander<br />
wurde untersagt und Mischehen mit staatlichen Zuschüssen<br />
gefördert, die K<strong>in</strong>der ihren Eltern fortgenommen. Der Gebrauch des<br />
Romanes wurde untersagt und bestraft. Die Politik der physischen<br />
Vertreibung und Vernichtung wurde durch e<strong>in</strong>e Politik der<br />
Elim<strong>in</strong>ierung der Kultur der Roma ersetzt. Trotz dieser<br />
jahrzehntelangen Unterdrückung gelang die dauerhafte<br />
Sessbarmachung lediglich im Gebiet des heutigen Burgenlandes<br />
21 Vgl. Samer, H., a.a.O.<br />
20
ROMA IN EUROPA<br />
und die Zerstörung der Romani Identität nur partiell. – E<strong>in</strong> weiterer<br />
Ansiedlungsdruck erfolgte später unter den kommunistischen<br />
Regimen. Auch hier dom<strong>in</strong>ierten ökonomische Motive, und zwar die<br />
Nutzung der Roma als billige und unausgebildete Reservearmee <strong>in</strong><br />
der arbeits<strong>in</strong>tensiven Industrie und Landwirtschaft.<br />
E<strong>in</strong> Beispiel für erzwungene Sesshaftigkeit mit anschließender<br />
Migration ist die Geschichte der Roma im Gebiet des heutigen<br />
Rumäniens. Schon die ersten <strong>in</strong> diesem Raum dokumentierten<br />
Roma waren versklavt. Sie wurden 1382 an e<strong>in</strong> Kloster verkauft. 22<br />
Die endgültige Aufhebung der Sklaverei <strong>in</strong> der Walachei und der<br />
Moldau, die e<strong>in</strong>e erzwungene Sesshaftigkeit, bzw. Teilsesshaftigkeit<br />
be<strong>in</strong>haltete, im Jahre 1856 löste e<strong>in</strong>e große Migrationswelle aus.<br />
E<strong>in</strong> großer Teil der mehrere hunderttausend Vlach-Roma verließ<br />
das Gebiet des heutigen Rumänien und wanderte sowohl nach<br />
Ost<strong>europa</strong> als auch nach Österreich-Ungarn und nach Deutschland,<br />
aber auch nach Nord-und Südamerika sowie nach Australien aus.<br />
Diese Abfolge von umstandsbed<strong>in</strong>gter Ansiedlung und Migration<br />
besteht bis <strong>in</strong> die Gegenwart fort. So wurden <strong>in</strong> der<br />
kommunistischen Zeit 100.000 Roma aus dem slowakischen Teil<br />
der CSSR <strong>in</strong> den Braunkohlerevieren Böhmens angesiedelt. Nach<br />
der Teilung <strong>in</strong> die Tschechische und <strong>in</strong> die Slowakische Republik<br />
wurde diesen Roma die tschechische Staatsbürgerschaft verweigert<br />
und so – verstärkt durch die alltägliche Diskrim<strong>in</strong>ierung - e<strong>in</strong><br />
Auswanderungsdruck erzeugt.<br />
Trotz der unterschiedlichen Mobilität der verschiedenen<br />
Romagruppen, die von permanentem Nomadismus über saisonales<br />
oder regional begrenztes Reisen bis zur vollständigen<br />
Sesshaftigkeit reicht, herrscht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Teil der<br />
europäischen Bevölkerung immer noch das stereotype Bild der<br />
Zigeuner als ewige Nomaden. Es lässt sich heute nicht mehr mit<br />
Sicherheit feststellen, welches die ursprüngliche Lebensweise der<br />
Roma <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>dischen Heimat war, ob ihre Vorfahren nomadisch<br />
oder sesshaft waren. Es lässt sich aber feststellen, dass <strong>in</strong> den<br />
verschiedenen Dialekten der Romasprache Begriffe, die mit der<br />
sesshaften Lebensweise und der Landwirtschaft verbunden s<strong>in</strong>d,<br />
überwiegend <strong>in</strong>discher Herkunft s<strong>in</strong>d, während Begriffe aus der<br />
nomadischen Lebensweise vor allem aus europäischen Sprachen,<br />
hauptsächlich aus dem Rumänischen, entliehen s<strong>in</strong>d. 23 Dies kann<br />
22 Vgl. Erich, R. M., Roma, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 107<br />
23 S. dazu Marushiakova, E., Popov, V., Zigeuner – auf beiden Seiten der Grenze, <strong>in</strong>:<br />
Materialien des SFB "Differenzen und Integration". Berichte aus den Arbeitsgruppen:<br />
21
Peter Thelen<br />
als Indiz dafür angesehen werden, dass die Roma <strong>in</strong> ihrer alten<br />
Heimat sesshaft waren. - Welche Gründe auch immer zur<br />
Ansiedlung oder zur dauernden Mobilität geführt haben mögen,<br />
heute lässt sich feststellen, dass die weit überwiegende Mehrheit<br />
der europäischen Roma sesshaft ist. 24<br />
Die Geschichte der Roma <strong>in</strong> Europa ist e<strong>in</strong>e Geschichte der<br />
Ablehnung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung und<br />
durch andere M<strong>in</strong>derheiten. Sie ist e<strong>in</strong>e Geschichte der Verfolgung,<br />
Vertreibung und Vernichtung sowohl durch die Bevölkerung als<br />
auch durch die Staatsmacht. Andererseits gab es immer wieder<br />
Phasen <strong>in</strong> der "Zigeunerpolitik", die eher als Politik gegen die Roma<br />
zu bezeichnen ist, <strong>in</strong> denen die Ansiedlung mit dem Ziel der<br />
Assimilierung erzwungen wurde. Den H<strong>in</strong>tergrund dieser Politik<br />
bildete die Vorstellung, dass die "Zigeuner" aufgrund ihrer Kultur<br />
m<strong>in</strong>derwertig und für die Gesellschaft schädlich seien. Durch<br />
Sesshaftigkeit als Voraussetzung für Erziehung und Assimilierung<br />
sollten diese verme<strong>in</strong>tlichen Nachteile zum<strong>in</strong>dest partiell<br />
aufgehoben werden und die Arbeitskraft dieser sich schnell<br />
vermehrenden Bevölkerung genutzt werden. Auch <strong>in</strong> Deutschland<br />
wurde zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts dieses Ziel von vielen<br />
verfolgt. Gleichzeitig wurde aber auch - vor allem auf der lokalen<br />
Ebene - das Gegenteil, nämlich die "Zigeuner" loszuwerden,<br />
angestrebt. Die konsequente Auflösung dieses Widerspruches<br />
brachte die nationalsozialistische Politik. Die "M<strong>in</strong>derwertigkeit" der<br />
Roma, von der auch die Befürworter der Assimilation ausgehen,<br />
wurde durch die Rassenideologie als unveränderbar def<strong>in</strong>iert. Die<br />
"Zigeunerfrage" konnte nur durch physische Vernichtung gelöst<br />
werden. „Die nationalsozialistische Synthese war der Tod. Er war<br />
der e<strong>in</strong>zige Ort, an dem Vertriebense<strong>in</strong> und Sesshaftigkeit dauerhaft<br />
identisch wurden." 25<br />
Grenzen und Übergänge. Orientwissenschaftliches Zentrum, Universität Halle-<br />
Wittenberg, 2002<br />
24 Wie schon erwähnt wurde, ist die Quantifizierung der Roma-Bevölkerung schwierig<br />
und problematisch. Hemetek gibt den Anteil der sesshaften Roma <strong>in</strong> Europa mit 95 %<br />
an. Vgl. Hemetek, U., a.a.O., S. 21, Liegeois spricht von ca 20 % als Anteil der<br />
"Nomaden" und ebenso vielen "Halbnomaden" an den S<strong>in</strong>ti, Roma und Fahrenden <strong>in</strong><br />
Europa. Vgl. Liegeois, J.-P., a.a.O., S. 47. Dass dieser Anteil höher ist als der von<br />
Hemetek geschätzte Anteil mag daran liegen, dass die Travellers ethnisch nicht zu<br />
den Roma gehören und <strong>in</strong> größerem Maße reisen.<br />
25 M. Zimmermann auf der Konferenz der DFG "Zwischen Erziehung und Vernichtung.<br />
Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im Europa des 20. Jahrhunderts“, Bonn, 29. 9.<br />
-1. 10. 2004 (zit.nach Hilbrenner, A., Süddeutsche Zeitung vom 5. 10. 2004,<br />
Veröffentlichung ist für 2006 geplant)<br />
22
ROMA IN EUROPA<br />
Unter den Nationalsozialisten <strong>in</strong> Deutschland g<strong>in</strong>g die Verfolgung<br />
ihrem traurigen Höhepunkt, der nicht aus dem kollektiven und<br />
<strong>in</strong>dividuellen Gedächtnis der Roma gelöscht werden kann und darf,<br />
entgegen. Schon 1933, also im Jahr der so genannten<br />
Machtergreifung, wurde die Verfolgung der Roma <strong>in</strong>tensiviert und<br />
rassistisch begründet. Dem Boxer Trollmann wird der Titel e<strong>in</strong>es<br />
deutschen Meisters aus rassistischen Gründen aberkannt. Die<br />
Gesetze zur Legalisierung der Zwangssterilisation wurden auch auf<br />
die Roma angewandt. 1934 begannen die Transporte <strong>in</strong> die Lager,<br />
<strong>in</strong> denen Sterilisation und Kastrationen an Roma vorgenommen<br />
wurden. Die von Himmler 1938 angekündigte "endgültige Lösung"<br />
der "Zigeunerfrage" führte zur Ermordung von Roma aus<br />
Deutschland und den von deutschen Truppen besetzten Gebieten<br />
Europas.<br />
Zwar gab es noch bis <strong>in</strong> die 80er Jahre <strong>in</strong> Deutschland<br />
Wissenschaftler, die der Ermordung e<strong>in</strong>es großen Teils der<br />
europäischen Roma-Bevölkerung den Charakter e<strong>in</strong>es Genozids<br />
absprachen, 26 aber dennoch fand dieser Völkermord – wenn auch<br />
sehr spät, und zwar unter dem sozialdemokratischen<br />
Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahre 1982 – se<strong>in</strong>e offizielle<br />
Anerkennung. „Den S<strong>in</strong>ti und Roma ist durch die NS-Diktatur<br />
schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen<br />
Gründen verfolgt. Diese Verbrechen s<strong>in</strong>d als Völkermord<br />
anzusehen.“ 27 Diese politische Anerkennung kann als erster Erfolg<br />
der Roma-Bewegung <strong>in</strong> Deutschland, die zuvor auch mit Aktionen<br />
<strong>in</strong> den ehemaligen Konzentrationslagern Bergen-Belsen und<br />
Dachau öffentlich auf das Thema aufmerksam gemacht hatte,<br />
angesehen werden. Auch der dritte Weltkongress der International<br />
Romani Union (IRU), der 1981 <strong>in</strong> der deutschen Stadt Gött<strong>in</strong>gen<br />
stattgefunden hatte, behandelte schwerpunktmäßig den Völkermord<br />
26 So spricht Streck vom „so genannten zweiten Genozid“ (nach dem richtigen<br />
Genozid an den Juden), der auf ke<strong>in</strong>em „Antitziganismus“ aufbaut habe. S. Streck, B.,<br />
Die nationalsozialistische Methode zur „Lösung des Zigeunerproblems“, <strong>in</strong>: Tribüne,<br />
Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 20. Jg., 1981, H. 78, S 53ff – Zur Antwort<br />
auf diese Thesen s. Rose, R., Die neue Generation und die alte Ideologie, <strong>in</strong>: Tribüne,<br />
21. Jg., 1982, H. 81, S. 88ff - Inzwischen ist auch der Term<strong>in</strong>us „Holocaust“ weit<br />
gehend akzeptiert, wie se<strong>in</strong>e Verwendung <strong>in</strong> Dokumenten der EU zeigt. So z. B. <strong>in</strong><br />
der Entschließung des Europäischen Parlamentes zur Lage der Roma <strong>in</strong> der<br />
Europäischen Union vom 28. 4. 2005 oder im Bericht „Die Lage der Roma <strong>in</strong> der<br />
erweiterten Europäischen Union“, der 2004 von der Europäischen Kommission<br />
herausgegeben wurde.<br />
27 Helmut Schmidt zitiert nach Strauß, D., „da muss man wahrhaft alle Humanität<br />
ausschalten...“ – Zur Nachkriegsgeschichte der S<strong>in</strong>ti und Roma <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />
www.m<strong>in</strong>derheiten.org/<strong>roma</strong>/textarchiv<br />
23
Peter Thelen<br />
an den Roma. Diesem Verbrechen fielen nach Angaben des<br />
Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma<br />
500.000 Roma zum Opfer. 28<br />
Weniger als anderen Völkern war es den Roma möglich, die<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen ihres Lebens selbst zu bestimmen. Wie sie<br />
und ob sie überhaupt leben sollten, wurde und wird <strong>in</strong> der Regel<br />
von e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Umwelt bestimmt. Selbst dann, wenn es<br />
darum geht, ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu verbessern, werden bis<br />
heute die Entscheidungen meistens durch kommunale, staatliche<br />
oder europäische Behörden, <strong>in</strong> denen die Roma ke<strong>in</strong><br />
Mitspracherecht haben, getroffen. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund setzen<br />
viele Roma große Hoffnungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes Europa, <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Europa, das ihnen erstmals <strong>in</strong> ihrer Geschichte die Möglichkeit<br />
eröffnen könnte, die sie betreffenden Entscheidungen zum<strong>in</strong>dest zu<br />
bee<strong>in</strong>flussen.<br />
3. Ausgrenzung als Folge des Antiziganismus<br />
Trotz vieler Unterschiede gibt es e<strong>in</strong>ige Parallelen im Schicksal von<br />
Juden und Roma. E<strong>in</strong>e Parallele ist die Dispersion. Sowohl die<br />
Juden als auch die Roma s<strong>in</strong>d seit Jahrhunderten Teil der<br />
europäischen Bevölkerung. Sie stellten <strong>in</strong> allen Ländern e<strong>in</strong>en<br />
merkbaren, wenn auch unterschiedlich großen Teil der<br />
Bevölkerung.<br />
Das zweite Phänomen, das sowohl mit Roma als auch mit Juden<br />
verbunden ist, s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> Teilen der Bevölkerung vorhandenen<br />
Vorurteile gegen sie. Die Motivation dieser Vorurteile hat sich im<br />
Laufe der Geschichte zwar geändert und ist ab der zweiten Hälfte<br />
des 18. Jahrhunderts rassistisch aufgeladen worden. 29 Die daraus<br />
resultierende fe<strong>in</strong>dliche Haltung besteht aber bis heute fort.<br />
Gegenüber den Juden wird sie <strong>in</strong>zwischen mehrheitlich verurteilt<br />
und hat nach dem 2. Weltkrieg abgenommen. Die ablehnende bis<br />
28 Vgl. u.a. Rose, R. (Hrsg.), Der nationalsozialistische Völkermord an den S<strong>in</strong>ti und<br />
Roma, Heidelberg 1995 sowie andere Veröffentlichungen des Dokumentations- und<br />
Kulturzentrums Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma. Aber auch hier gibt es unterschiedliche<br />
Zahlenangaben. E<strong>in</strong>ige Autoren gehen von „nur“ 250.000 Opfern unter den Roma<br />
aus. Das United States Holocaust Memorial Research Institute gibt e<strong>in</strong>e Spanne von<br />
e<strong>in</strong>er halben Million bis e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Millionen an.<br />
29 S. dazu: Wippermanns Ausführungen zu He<strong>in</strong>z Moritz Grellmann <strong>in</strong>:Wippermann,<br />
W., Wie die Zigeuner – Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berl<strong>in</strong> 1997,<br />
S. 97 ff<br />
24
ROMA IN EUROPA<br />
fe<strong>in</strong>dliche Haltung zu den Roma ist dagegen <strong>in</strong> der europäischen<br />
Mehrheit der Bevölkerung verankert und nimmt eher zu als ab.<br />
Die aus den Vorurteilen entstehenden fe<strong>in</strong>dlichen Haltungen zu<br />
Juden und Roma werden als Antisemitismus und als<br />
Antiziganismus bezeichnet. Für die dah<strong>in</strong>ter stehende Motivation<br />
können unterschiedliche Gründe (z. B. religiöse, im Aberglauben<br />
verankerte, wirtschaftliche) herangezogen werden. Die radikalsten<br />
Ausprägungen s<strong>in</strong>d der rassistisch begründete Antisemitismus und<br />
Antiziganismus. Die extremste Form erreichte diese Verfolgung mit<br />
den "Nürnberger Gesetzen" und den daraus folgenden<br />
Verordnungen, die sich ausdrücklich auf Juden und "Zigeuner"<br />
bezogen und die die Völkermordmasch<strong>in</strong>erie an beiden Teilen der<br />
europäischen Bevölkerung <strong>in</strong> Gang setzten. 30<br />
Obwohl sowohl der moderne Antisemitismus als auch der<br />
neuzeitliche Antiziganismus Ausprägungen rassistischer<br />
Denkschemata s<strong>in</strong>d und obwohl Juden und Roma beide Opfer der<br />
Vernichtungsmasch<strong>in</strong>erie im Holocaust waren, s<strong>in</strong>d Unterschiede<br />
zwischen beiden nicht unerheblich. 31 Während sich der Begriff des<br />
Antisemitismus, der 1879 von dem Antisemiten Wilhelm Marr<br />
geprägt wurde, früh <strong>in</strong> der wissenschaftlichen und politischen<br />
Term<strong>in</strong>ologie zur Bezeichnung rassistisch motivierter<br />
Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit etablierte, 32 wurde der Begriff Antiziganismus<br />
erst <strong>in</strong> den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. 33 Der<br />
Grund für diese vergleichsweise späte E<strong>in</strong>führung des Term<strong>in</strong>us<br />
Antiziganismus oder Antigypism 34 liegt dar<strong>in</strong>, dass die Vorurteile<br />
gegen die Roma vom überwiegenden Teil der Gesellschaft<br />
akzeptiert wurden und als normal galten, sodass das Fehlen e<strong>in</strong>es<br />
30 Der Völkermord an den S<strong>in</strong>ti und Roma, der <strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> den von<br />
Deutschen besetzten Gebieten stattfand, ist auf e<strong>in</strong>drucksvolle Weise im<br />
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma <strong>in</strong> Heidelberg<br />
dokumentiert.<br />
31 Zu den Unterschieden, auf die hier nicht e<strong>in</strong>gegangen wird, vgl. u.a. Zimmermann,<br />
M., Die nationalsozialistische Verfolgung der Zigeuner. E<strong>in</strong> Überblick, <strong>in</strong>: Matras, Y.,<br />
u.a., S<strong>in</strong>ti, Roma, Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart, Berl<strong>in</strong>, 2003, S. 142 ff<br />
32 Wippermann, W., a.a.O., S. 10, 86ff<br />
33 Der Begriff wurde erstmals <strong>in</strong> Frankreich verwendet und fand von dort E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong><br />
die deutsche Literatur. S. dazu Wippermann, W., a.a.O., S. 11, 17. - In Deutschland<br />
wird der Begriff auch von Repräsentanten der S<strong>in</strong>ti und Roma gebraucht, so von<br />
Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrates deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma. Rose,<br />
R.,a.a.O., S. 8<br />
34 Im englischsprachigen Bereich setzte sich der Term<strong>in</strong>us Antigypism durch, der<br />
ebenfalls auch von Repräsentanten der Roma gebraucht wird, so u.a. Hancock, I.,<br />
The Pariah Syndrome. An account of Gypsy slavery and persecution, Ann Arbor,<br />
Michigan, 1987, S. 115ff<br />
25
Peter Thelen<br />
Begriffs dafür nicht auffiel. 35 Während antisemitisches Gedankengut<br />
und Verhalten nach dem Holocaust politisch geächtet wurden,<br />
geschah dies mit dem Antiziganismus nicht. Er bleibt im Denken<br />
und Fühlen der Mehrheit der europäischen Bevölkerung verwurzelt.<br />
Erst <strong>in</strong> jüngster Zeit – vor allem durch die Bemühungen der Roma-<br />
Organisationen auf nationaler und <strong>in</strong>ternationaler Ebene – entsteht<br />
e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> für die Existenz des Antiziganismus.<br />
Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass die Vorurteile gegen<br />
"Zigeuner" <strong>in</strong> der letzten Zeit zugenommen haben. Für Deutschland<br />
konstatiert z. B. Wippermann e<strong>in</strong>en Anstieg von 51% im Jahre 1987<br />
auf 68 % im Jahr 1994. 36 E<strong>in</strong>e Ursache für diese Entwicklung mag<br />
dar<strong>in</strong> liegen, dass die politischen Veränderungen der letzten 15<br />
Jahre auch dazu geführt haben, dass viele Roma ihre Heimat<br />
verlassen haben. E<strong>in</strong> großer Teil von ihnen war bedroht, viele<br />
waren Opfer der ethnischen Ause<strong>in</strong>andersetzungen, <strong>in</strong> denen auch<br />
viele Roma ermordet und vertrieben wurden. In den<br />
Zufluchtsländern stießen sie kaum auf Verständnis sondern<br />
paradoxerweise vielmehr auf zunehmende Ablehnung. 37<br />
Auch <strong>in</strong> anderen Ländern, die <strong>in</strong> den 90er Jahren den<br />
Systemwechsel e<strong>in</strong>geleitet haben, ist e<strong>in</strong> Anstieg der negativen<br />
Vorurteile gegen Roma konstatiert worden. In der kommunistischen<br />
Zeit war das Thema Roma zum<strong>in</strong>dest teilweise tabuisiert. In den<br />
offiziellen Bevölkerungsstatistiken wurde nur e<strong>in</strong> Bruchteil der<br />
Roma-E<strong>in</strong>wohnerzahl angegeben. Nach 1989 verstärkte sich die<br />
Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppe durch die Mehrheit.<br />
Aber auch diese Wahrnehmung wurde zunehmend negativ belastet,<br />
nicht zuletzt aufgrund vorurteilsbehafteter Berichterstattung <strong>in</strong> den<br />
Medien. 38<br />
In vielen Ländern kam es <strong>in</strong> den letzten Jahren zu e<strong>in</strong>em<br />
sprunghaften Anstieg von Gewalt gegen Roma, die häufig von der<br />
35 Wippermann, W., a.a.O., S. 11<br />
36 Ebenda, S. 243. Diese Angaben dürften auf die Umfrageergebnisse von EMNID<br />
zurückgehen. S. dazu Bastian, T., S<strong>in</strong>ti und Roma im Dritten Reich, München, 2001,<br />
S. 87<br />
37 Mit der Virulenz antiziganistischer Stereotype <strong>in</strong> Deutschland beschäftigt sich auch<br />
Änneke W<strong>in</strong>ckel. S. W<strong>in</strong>ckel, Ä., Antiziganismus – Rassismus gegen Roma und S<strong>in</strong>ti<br />
im vere<strong>in</strong>igten Deutschland, Münster, 2002<br />
38 Für Rumänien zitiert Roth hierzu die Untersuchungen von Baican und Perva<strong>in</strong>, s.<br />
Roth, A., Die Roma <strong>in</strong> Rumänien: e<strong>in</strong>e marg<strong>in</strong>alisierte M<strong>in</strong>derheit, <strong>in</strong>: Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung (Hrsg.), Verdammt zur Marg<strong>in</strong>alität. Die Roma <strong>in</strong> Rumänien, Bukarest, o. J.,<br />
S. 57f<br />
26
ROMA IN EUROPA<br />
Polizei weder verh<strong>in</strong>dert noch verfolgt wurde. Insbesondere die<br />
Verlierer des Systemwechsels entluden häufig ihre Frustration<br />
durch Aggression gegen die Roma, die ebenfalls zu den Verlierern<br />
gehören. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Tschechien gab es zwischen 1989 und 2000 über<br />
30 Morde an Roma. 39<br />
In der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung wird die Situation, <strong>in</strong> der sich die<br />
Mehrheit der Roma bef<strong>in</strong>det, häufig auf e<strong>in</strong>en speziellen Charakter<br />
der Roma und auf die ihnen eigene "zigeunerische Lebensweise"<br />
zurückgeführt. Dieses Urteil ist nicht neu. Es wurde und wird auch<br />
von Wissenschaftlern, die sich mit den Roma beschäftigen,<br />
vertreten. Die These von den ethnisch bed<strong>in</strong>gten Besonderheiten,<br />
dem Andersse<strong>in</strong> der Roma, ist auch dann abzulehnen, wenn sie<br />
philoziganistisch geme<strong>in</strong>t ist. Sie kann bei positiver Interpretation<br />
entweder zu e<strong>in</strong>er weitgehenden Akzeptanz der Lage, da deren<br />
Veränderung die positiv empfundenen Besonderheiten dieses<br />
Bevölkerungsteils zerstören könnte, oder zu e<strong>in</strong>er segregativen<br />
Behandlung (z. B. im Schulsystem), die auf die angeblichen<br />
Besonderheiten Rücksicht nimmt, führen. 40 Bei negativer<br />
Interpretation führt die Argumentation mit der Andersartigkeit der<br />
Roma zu Diskrim<strong>in</strong>ierung und Verfolgung und im Extremfall zur<br />
physischen Vernichtung.<br />
Obwohl e<strong>in</strong> Teil der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern durchaus seit langer<br />
Zeit sesshaft war und sich mit Recht als Teil der Gesellschaft ihres<br />
jeweiligen Heimatlandes betrachtet, was sie allerd<strong>in</strong>gs nicht vor<br />
Verfolgung und Ermordung im Holocaust schützte, kann festgestellt<br />
werden, dass die weit überwiegende Mehrheit nicht oder nur<br />
mangelhaft <strong>in</strong> die Wirtschaften und Gesellschaften ihrer<br />
Heimatländer <strong>in</strong>tegriert ist. Die e<strong>in</strong>seitige Erklärung dieses<br />
Zustandes aus charakterlichen, kulturellen oder sonstigen<br />
Besonderheiten der Roma ist nicht schlüssig. Sie verh<strong>in</strong>dert zudem<br />
den Blick auf außerhalb der Roma liegende Ursachen, also auf das<br />
Verhalten der Mehrheitsbevölkerung und auf die Politik. Diese<br />
39 Thurner, E., E<strong>in</strong>e Zeitbombe tickt – EU-Osterweiterung zur Entschärfung des<br />
europäischen Roma-Problems, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 89<br />
40 Mit dieser Aussage soll nicht gegen besondere Fördermaßnahmen für Roma, die<br />
aufgrund ihrer Benachteiligung bis zu deren Behebung notwendig s<strong>in</strong>d, gesprochen<br />
werden. In der südungarischen Staat Pecs gibt es z. B. e<strong>in</strong> Gymnasium für Roma,<br />
durch das der äußerst niedrige Anteil der Roma an der Zahl der Studierenden an den<br />
allgeme<strong>in</strong>en Universitäten des Landes erhöht werden soll. Ca 80 % der Absolventen<br />
des Gandhi-Gymnasiums gehen an Hochschulen oder zur Universität. Diese guten<br />
Erfahrungen haben im Herbst 2004 zur Eröffnung e<strong>in</strong>es Gymnasiums für Roma <strong>in</strong><br />
Zvolen <strong>in</strong> der Slowakei beigetragen.<br />
27
Peter Thelen<br />
externen Faktoren verh<strong>in</strong>derten seit dem Mittelalter die Integration<br />
der Roma. Dass sich aus diesen Erfahrungen bei den Roma<br />
wiederum Schutz- und Abwehrmechanismen entwickeln konnten,<br />
ist nicht verwunderlich. Dieser Umstand weist eher darauf h<strong>in</strong>, dass<br />
sich Verhaltensweisen von Gruppen, die zum Bestand der Kultur<br />
gerechnet werden, durch das Verhalten anderer Gruppen<br />
verändern können, dass Kultur nicht statisch ist, sondern als<br />
Prozess zu sehen ist.<br />
In den häufig anzutreffenden Me<strong>in</strong>ungen über die Roma werden die<br />
Kausalitäten zum<strong>in</strong>dest nicht ausreichend analysiert. Ist z. B. e<strong>in</strong><br />
besonders ausgeprägtes Bedürfnis der Roma nach Freiheit und<br />
Unabhängigkeit der Grund dafür, dass viele Roma über<br />
Jahrhunderte e<strong>in</strong> nomadisches Leben führten, oder ist diese<br />
Lebensweise nicht auch darauf zurückzuführen, dass sie daran<br />
geh<strong>in</strong>dert wurden, sich anzusiedeln und dass sie die Ansiedlung<br />
nicht wie andere Völker mit Waffengewalt erzwungen haben? Ist<br />
e<strong>in</strong>e hohe Rate an Eigentumsdelikten auf e<strong>in</strong> nicht ausgeprägtes<br />
Verhältnis zur Institution des Eigentums <strong>in</strong> der kapitalistischen<br />
Gesellschaft zurückzuführen oder darauf, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er äußerst<br />
schlechten sozialen Situation s<strong>in</strong>d, sodass e<strong>in</strong> Vergleich mit<br />
anderen Bevölkerungsteilen <strong>in</strong> vergleichbaren Umständen, wie<br />
schlechter Ausbildung und extremer Arbeitslosigkeit, zu ähnlichen<br />
Ergebnissen führen würde? Welche Rolle spielen Vorurteile und<br />
welche die verfehlte Politik <strong>in</strong> Vergangenheit und Gegenwart sowie<br />
die Ablehnung durch die Mehrheitsbevölkerung bei der mangelnden<br />
Integration der Roma <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt?<br />
Auf die geistesgeschichtliche Tradition der Zuordnung bestimmter<br />
Eigenschaften aufgrund der Zugehörigkeit zu den Roma weist W.<br />
D. Hund h<strong>in</strong>: “Die Kategorie Zigeuner ist, als sie im Gefolge der<br />
Aufklärung e<strong>in</strong>er am Begriff der Rasse orientierten,<br />
wissenschaftlichen Ethnisierung unterworfen wird, stark sozial<br />
geprägt und signalisiert nicht zuletzt die Verweigerung von<br />
Untertänigkeit und Arbeitsamkeit, zweier Tugenden, auf die im<br />
Verlauf der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft und mit dem<br />
Siegeszug der protestantischen Ethik zusehends Wert gelegt wird.<br />
Die Bedeutungsgeschichte macht sich das Zigeunerstereotyp<br />
doppelt zunutze, <strong>in</strong>dem es den diagnostizierten Müßiggang der<br />
Zigeuner mit den Vorstellungen des Nomaden und der Freiheit<br />
verb<strong>in</strong>det.“ 41<br />
41 Hund, W. D., Romantischer Rassismus. Zur Funktion des Zigeunerstereotyps, <strong>in</strong>:<br />
Hund, W. D. (Hrsg.), Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie, Duisburg,<br />
2000, S. 15f<br />
28
ROMA IN EUROPA<br />
Das Grundproblem ist, dass bei der Verwendung von Stereotypen<br />
verme<strong>in</strong>tliche Gruppencharakteristika auf die Mitglieder der Gruppe<br />
übertragen werden und dass dabei weder die Veränderbarkeit von<br />
Verhaltensweisen noch die Individualität der Gruppenmitglieder<br />
berücksichtigt wird. Die Stereotypen werden daher der Realität nicht<br />
gerecht. Dabei ist es irrelevant, ob die zugeordneten Eigenschaften<br />
als positiv oder negativ empfunden werden. Romantisierung, die<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Roma ebenfalls häufig vorkommt, und<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung s<strong>in</strong>d nur zwei Seiten derselben Medaille und<br />
entstammen beide dem Antiziganismus. 42<br />
Die Vernachlässigung der Individualität und der Zeitgebundenheit<br />
bei der Def<strong>in</strong>ition der Roma kann aus zwei Quellen kommen. Die<br />
e<strong>in</strong>e ist die biologistische Herangehensweise, die die Roma für e<strong>in</strong>e<br />
genetisch determ<strong>in</strong>ierte Menschengruppe hält. Die andere geht von<br />
den Lebensformen aus, die als abweichend von denen der<br />
Mehrheitsbevölkerung empfunden werden. "Sowohl die<br />
kulturalistische als auch die biologistische Konstruktion laufen<br />
Gefahr, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> rassistisches Zigeunerbild e<strong>in</strong>zumünden". 43 Die<br />
biologistische Konstruktion ist nach dem Stand der<br />
naturwissenschaftlichen Kenntnisse heute nicht mehr vermittelbar.<br />
Der kulturalistische Ansatz sche<strong>in</strong>t dagegen aktueller zu se<strong>in</strong>. Mit<br />
ihm werden die Kulturen "gegene<strong>in</strong>ander gesetzt, die kulturellen<br />
Differenzen für unüberbrückbar und die Kultur der Zigeuner für<br />
untragbar erklärt". 44 Diese Argumentation führt letztlich dazu, dass<br />
den Roma die Schuld an ihrer Diskrim<strong>in</strong>ierung und sozialen<br />
Benachteiligung selbst zugesprochen wird, da sie die Anpassung<br />
an die Mehrheitsbevölkerung verweigert hätten.<br />
Der kulturalistische Ansatz betont die kulturellen Unterschiede<br />
zwischen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung und den Roma und<br />
führt diese Unterschiede alle<strong>in</strong> auf die ethnische Zugehörigkeit<br />
zurück. Dabei werden die Interdependenzen zwischen dem Denken<br />
und Verhalten verschiedener Gruppen vernachlässigt. Die<br />
Wandelbarkeit von Kulturen bleibt unberücksichtigt. Zudem<br />
vernachlässigt diese Denkweise die große Heterogenität der<br />
verschiedenen Roma-Gruppe und die Individualität ihrer Mitglieder.<br />
42 S. a. W<strong>in</strong>ckel, Ä., a.a.O., S. 11<br />
43 Zimmermann, M., a.a.O., S. 117. Zur M<strong>in</strong>derwertigkeit aus Gründen, die im "Blut"<br />
liegen, muss hier nicht e<strong>in</strong>gegangen werden. Zudem gibt es – wenn auch spät –<br />
<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e umfangreiche Literatur, die auch auf den Irrs<strong>in</strong>n der<br />
"rassehygienischen Forschung" e<strong>in</strong>geht.<br />
44 Ebd., S. 117<br />
29
Peter Thelen<br />
Die Kritik an diesen Betrachtungsweisen ist auch dann berechtigt,<br />
wenn die den Roma zugeordneten Eigenschaften und<br />
Verhaltensweisen positiv gewertet werden. In diesen Fällen wird<br />
meistens – wie z. B. bei den so genannten Tsiganologen – die<br />
„Kultur der Freiheit“ als wesentlich für die „zigeunerische<br />
Lebensweise“ betrachtet. 45 Diese Lebensweise entziehe sich den<br />
Kontrollansprüchen sowohl der kapitalistischen als auch der<br />
sozialistischen Systeme. Die Zigeunerkultur sei „tendenziell als<br />
eigenständige Stammeskultur zu begreifen“, die sich <strong>in</strong> der<br />
Dichotomie zwischen Nationalorganisation und<br />
Stammesorganisation auf die „menschliche Seite“ stelle. 46 Diese<br />
Ansätze der „Tsiganologen“ wurden von anderen Wissenschaftlern<br />
und von den Betroffenen heftig kritisiert, so u. a. von Wippermann:<br />
"Ne<strong>in</strong>, die S<strong>in</strong>ti und Roma gehören zu e<strong>in</strong>em Volk und<br />
repräsentieren <strong>in</strong> der Bundesrepublik e<strong>in</strong>e ethnische M<strong>in</strong>derheit. Sie<br />
s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e soziale Formation und können auch nicht samt und<br />
sonders zu den 'sozialen Randgruppen' gezählt werden ..." Die<br />
Ethnisierung von Verhaltensweisen sei auch dann abzulehnen,<br />
wenn sie als Zeichen e<strong>in</strong>er 'oppositionellen Lebensweise'<br />
verherrlicht werde. 47<br />
Auf das rassistische Element positiv bewerteter Vorurteile weist<br />
auch Hund <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Betrag über den <strong>roma</strong>ntischen Rassismus<br />
h<strong>in</strong>: „Die Ambivalenz des Zigeunerstereotyps erlaubt die Variation<br />
e<strong>in</strong>es <strong>roma</strong>ntischen Elements vom Zynismus bis zur Identifikation.<br />
Doch auch die <strong>roma</strong>ntische Identifikation ist im ideologischen<br />
Schwerefeld des Zigeunerstereotyps nur als Rassismus zu<br />
haben.“ 48<br />
Das Fortdauern des Antiziganismus führt zur Perpetuierung der<br />
Probleme, mit denen die Roma konfrontiert s<strong>in</strong>d. Die daraus<br />
resultierende Verhaltensweise der Mehrheitsgesellschaft sowie der<br />
45 S. Gronemeyer, R., Unaufgeräumte H<strong>in</strong>terzimmer. Ordnungsabsichten<br />
sozialistischer Zigeunerpolitik am Beispiel Ungarn, <strong>in</strong>: Münzel, M., Streck, B.(Hrsg.),<br />
Kumpania und Kontrolle. Moderne Beh<strong>in</strong>derungen zigeunerischen Lebens, Giessen<br />
1981, S. 196<br />
46 Vgl. Münzel, M., Zigeuner und Nation, Formen der Verweigerung e<strong>in</strong>er<br />
segmentären Gesellschaft, <strong>in</strong>: Münzel, M., Streck, B., a.a O., S. 21<br />
47 Wippermann, W., a.a.O., S. 201 – S. auch Rose, R., Die neue Generation und die<br />
alte Ideologie, a.a.O., - Hund, W.D., a.a.O., S. 17 – Teichmann spricht <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang von e<strong>in</strong>em kulturellen Rassismus, der den genetischen Rassismus <strong>in</strong><br />
den 70er und 80er Jahren zunehmend überlagerte. Vgl. Rassismus und<br />
Menschenrechte, <strong>in</strong>: www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at.rombase<br />
48 Hund, W.D., a.a.O., S. 30<br />
30
ROMA IN EUROPA<br />
anderen M<strong>in</strong>derheiten erschwert den Integrationsprozess weiter.<br />
Dies gilt nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt. Selbst bei gleicher<br />
Qualifikation wird e<strong>in</strong> freier Arbeitsplatz eher dem Bewerber, der<br />
nicht Roma ist, angeboten als dem, den man schon äußerlich als<br />
Roma zu erkennen glaubt.<br />
Der Antiziganismus führt auch zu Diskrim<strong>in</strong>ierungen <strong>in</strong> anderen<br />
wichtigen Bereichen, die für die Situation und die<br />
Entwicklungschancen jeder Bevölkerung – und damit auch der<br />
Roma – entscheidend s<strong>in</strong>d. Als e<strong>in</strong> solcher Schlüsselbereich wird<br />
allgeme<strong>in</strong> die Bildung akzeptiert. Auch die Lissabon-Strategie hebt<br />
die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung für die Entwicklung<br />
Europas hervor. Gerade <strong>in</strong> diesem Bereich s<strong>in</strong>d aber wiederum die<br />
Roma besonders benachteiligt. Diese Benachteiligung verlängert<br />
ihre heutige Situation <strong>in</strong> die Zukunft. Obwohl Statistiken – soweit<br />
vorhanden – und wissenschaftliche Untersuchungen die<br />
Benachteiligung der Roma <strong>in</strong> den Bildungssystemen vieler Länder<br />
e<strong>in</strong>drücklich belegen und obwohl die Beschlüsse des Europäischen<br />
Rates von Lissabon den Bildungssystemen e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert<br />
zuschreiben, „besteht die reale Gefahr, dass die Art der EU-<br />
Prioritäten von Lissabon im Bereich der Bildung zusammen mit dem<br />
Fehler, bis heute nicht die rassistische Trennung und andere<br />
Formen der Ausgrenzung aufgrund der ethnischen Herkunft als<br />
e<strong>in</strong>e Bedrohung der Lissaboner Ziele erkannt zu haben, <strong>in</strong><br />
Aktivitäten gipfeln kann, die die Situation der Roma und anderer<br />
Randgruppen der Bildungssysteme <strong>in</strong> Europa verschlechtern. 49<br />
Voraussetzung für e<strong>in</strong>e Strategie zur Verbesserung der<br />
Bildungschancen von Roma ist auch hier die Erkenntnis der<br />
Ursachen. Und e<strong>in</strong>e Ursache ist die antiziganistische motivierte<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma.<br />
Als weiterer Lebensbereich, der für die Überw<strong>in</strong>dung der<br />
Ausgrenzung der Roma von wesentlicher Bedeutung ist, sei hier<br />
das Wohnen erwähnt. Dieser Bereich, der ganz offenkundig auch<br />
von antiziganistischen Verhaltensweisen determ<strong>in</strong>iert wird, ist für<br />
die Integration von großer Bedeutung. „Werden die<br />
Wohnverhältnisse bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad verbessert, kommt<br />
es regelmäßig zu e<strong>in</strong>em Punkt, an dem die Integration zu e<strong>in</strong>em<br />
unumkehrbaren Prozess wird.“ 50<br />
49<br />
Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 21<br />
50<br />
Ebd., S. 30<br />
31
Peter Thelen<br />
Die immer noch existierenden starken Vorurteile gegen Roma s<strong>in</strong>d<br />
auch e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis, politische Programme zur Verbesserung der<br />
Situation der Roma durchzusetzen. Wegen der Unpopularität<br />
derartiger Programme befürchten Politiker häufig, dass sich ihre<br />
Wahlchancen durch Stimmenverluste <strong>in</strong> der Mehrheitsbevölkerung<br />
verr<strong>in</strong>gern. Selbst dort, wo nationale Programme zur Verbesserung<br />
der Lage der Roma beschlossen wurden, bleiben sie häufig ohne<br />
den angestrebten Erfolg, weil ihre Implementierung durch lokale<br />
oder regionale Autoritäten, die entweder selbst Vorurteile gegen<br />
Roma haben oder aber die Reaktion der antiziganistischen<br />
Mehrheit fürchten, verh<strong>in</strong>dert wird.<br />
Die europäische Roma-Bevölkerung unterscheidet sich also von<br />
anderen nationalen oder ethnischen M<strong>in</strong>derheiten dadurch,<br />
- dass sie <strong>in</strong> allen Teilen Europas lebt, wenn auch <strong>in</strong><br />
unterschiedlicher Konzentration,<br />
- dass sie überall mit negativen Vorurteilen konfrontiert ist<br />
und<br />
- dass sie der am meisten benachteiligte Bevölkerungsteil,<br />
also der Teil der mehrheitlich am wenigsten <strong>in</strong> die<br />
Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ihrer Heimatländer<br />
<strong>in</strong>tegriert ist,<br />
ist. Roma haben im Gegensatz zu anderen M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>en<br />
doppelten M<strong>in</strong>derheitenstatus. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ethnische Gruppe und<br />
bilden aufgrund des weiterh<strong>in</strong> starken und wachsenden<br />
Antiziganismus die am meisten benachteiligte Gruppe.<br />
Da der Antiziganismus se<strong>in</strong>e Ursachen nicht bei den Roma hat,<br />
sondern e<strong>in</strong> Problem der Nicht-Roma ist, kann er nur durch e<strong>in</strong>e<br />
Politik bekämpft werden, die bei den Nicht-Roma ansetzt. Es muss<br />
e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> für die historischen Ursachen und die<br />
Auswirkungen des Antiziganismus geschaffen werden. Die<br />
wissenschaftliche Beschäftigung mit den die Roma betreffenden<br />
Themen und ihre schulische und universitäre Behandlung müssen<br />
ebenso gefördert werden wie die Sensibilität für antiziganistische<br />
Vorurteile <strong>in</strong> den Medien. Dazu gehört nicht zuletzt die<br />
Beschäftigung mit dem Völkermord an den Roma, der immer noch<br />
nicht <strong>in</strong> dem Maße Bestandteil des Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />
geworden ist wie der Holocaust an den Juden. Dass die<br />
Bekämpfung des Rassismus Erfolg haben kann, beweist der<br />
zum<strong>in</strong>dest partielle Rückgang des Antisemitismus nach 1945.<br />
32
ROMA IN EUROPA<br />
4. Roma als soziales Problem oder soziale Probleme der<br />
Roma?<br />
Es dürfte aufgrund vieler wissenschaftlicher Untersuchungen und<br />
Berichte <strong>in</strong>ternationaler Organisationen (z. B. der OSZE) und von<br />
NGOs, aber auch aufgrund e<strong>in</strong>facher Beobachtungen, die jeder<br />
machen kann, wenn er Roma-Siedlungen besucht, unbestritten<br />
se<strong>in</strong>, dass diese Bevölkerungsgruppe <strong>in</strong> ihrer überwiegenden<br />
Mehrheit besonders benachteiligt ist.<br />
Der größte Teil der europäischen Roma lebt <strong>in</strong> ehemals<br />
kommunistischen Ländern. Unabhängig davon, ob die Roma e<strong>in</strong>e<br />
nomadische Lebensweise hatten oder als Handwerker (z. B.<br />
Schmiede, Keramiker, Kunsthandwerker) sesshaft waren, waren <strong>in</strong><br />
diesen Ländern ihre traditionellen Tätigkeiten, die meistens<br />
unabhängig und <strong>in</strong>formell ausgeübt wurden, nicht mehr gefragt und<br />
galten als unerwünscht. Sie passten nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zentral gelenkte<br />
Planwirtschaft. Gleichzeitig entstand durch die extensive<br />
Industrialisierung e<strong>in</strong> hoher Bedarf an nicht ausgebildeten<br />
Arbeitskräften. Daher wurden viele Roma <strong>in</strong> den Industriegebieten<br />
angesiedelt und im der Industrie vorgelagerten Hoch- und Tiefbau<br />
sowie <strong>in</strong> der Produktion, und zwar vor allem im schwer<strong>in</strong>dustriellen<br />
Bereich, e<strong>in</strong>gesetzt. So entstanden ghettoartige Großsiedlungen <strong>in</strong><br />
<strong>in</strong>dustriellen Ballungsgebieten. Die Roma wurden also aus dem<br />
<strong>in</strong>formellen Sektor <strong>in</strong> die staatlich gelenkte Wirtschaft transferiert<br />
und proletarisiert. Damit wurden sie abhängig vom Besitz e<strong>in</strong>es<br />
Arbeitsplatzes bzw. von sozialer Unterstützung. - Dieser Prozess<br />
hatte noch e<strong>in</strong>en weiteren erwünschten Effekt. Mit ihm wurden<br />
häufig die großen Familienverbände, <strong>in</strong> denen die Sprache und die<br />
Kultur der Roma tradiert wurden und die ihren Mitgliedern e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Sicherheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Umwelt boten, dadurch<br />
zerschlagen, dass ihre Mitglieder räumlich getrennt angesiedelt<br />
wurden. E<strong>in</strong> Arbeitskollektiv war leichter zu kontrollieren als e<strong>in</strong><br />
Clan mit e<strong>in</strong>er fremden Sprache und e<strong>in</strong>em hohen<br />
Zusammengehörigkeitsgefühl.<br />
Die wenig erfolgreiche Assimilierungspolitik der meisten<br />
kommunistischen Staaten g<strong>in</strong>g davon aus, dass Roma<br />
ausschließlich als soziale Problemgruppe zu betrachten s<strong>in</strong>d.<br />
Ethnisches Bewusstse<strong>in</strong> galt als falsches Bewusstse<strong>in</strong>, das die<br />
Klassengegensätze überdeckte. Die Klassenzuordnung der Roma<br />
„stand im krassen Gegensatz zur <strong>in</strong> West<strong>europa</strong> praktizierten<br />
kulturalistischen E<strong>in</strong>ordnung der Roma und S<strong>in</strong>ti als ausschließlich<br />
kulturelle M<strong>in</strong>derheit. Auf der e<strong>in</strong>en Seite wurden soziale Faktoren<br />
auf Kosten kultureller überbewertet, auf der anderen Seite kulturelle<br />
33
Peter Thelen<br />
auf Kosten sozialer. In beiden Fällen handelt es sich um<br />
rassistische Konstruktion“ 51<br />
Da gerade die schwer<strong>in</strong>dustriellen Bereiche, <strong>in</strong> denen die Roma<br />
hauptsächlich beschäftigt waren, mit der E<strong>in</strong>führung der<br />
Marktwirtschaft <strong>in</strong> die Krise kamen und da die fehlende<br />
Berufsausbildung der Roma ihre E<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong> die neue<br />
Arbeitswelt verh<strong>in</strong>derte, verschlechterte sich <strong>in</strong> den 90er Jahren die<br />
soziale Lage der Roma. Aufgrund der Ansiedlungspolitik der alten<br />
Regime traten die Probleme zudem <strong>in</strong> starker lokaler oder<br />
regionaler Konzentration auf.<br />
E<strong>in</strong> Teil der Roma lebte schon <strong>in</strong> der kommunistischen Zeit auf dem<br />
Lande, häufig <strong>in</strong> speziellen Siedlungen am Rande der Dörfer. Sie<br />
wurden meistens als Hilfskräfte <strong>in</strong> den Genossenschaften und<br />
Staatsbetrieben e<strong>in</strong>gesetzt oder als Saisonarbeiter zu<br />
Erntee<strong>in</strong>sätzen transportiert. Mit der Umstrukturierung der<br />
Agrarwirtschaft verloren die Roma nach dem Systemwechsel auch<br />
auf dem Lande ihre Beschäftigung. Auch sie hatten kaum<br />
überw<strong>in</strong>dbare Probleme, neue Arbeitsplätze zu f<strong>in</strong>den. Zudem<br />
konnten sie nicht wie andere bei der Auflösung der<br />
Genossenschaften und bei der Rückübereignung des<br />
landwirtschaftlich nutzbaren Bodens Ansprüche aus ehemaligem<br />
Besitz geltend machen, um als selbstständige Landwirte ihren<br />
Lebensunterhalt zu f<strong>in</strong>den.<br />
In e<strong>in</strong>igen Regionen trat e<strong>in</strong> zusätzliches Problem auf. Im Rahmen<br />
der früheren Ansiedlungspolitik wurden den Roma Siedlungen oder<br />
Land, auf dem sie Wohnungen errichten konnten, zugewiesen,<br />
allerd<strong>in</strong>gs ohne dass damit e<strong>in</strong> Eigentumstitel entstanden wäre.<br />
Nach der Rückübereignung an die ehemaligen Besitzer verloren sie<br />
das Recht auf die Wohnungen, deren gutgläubige Inhaber sie<br />
bisher waren. 52 Das Ergebnis - verstärkt durch Arbeitsplatz- und<br />
Wohnungsverlust <strong>in</strong> den Industriezentren - war, dass e<strong>in</strong>e große<br />
Zahl von obdachlosen oder illegal wohnenden Roma entstand.<br />
51 Teichmann, M., a.a.O.<br />
52 Dies ist ke<strong>in</strong>e Ausnahme und nicht auf kommunistische Regime beschränkt. "Wo<br />
immer Roma siedeln, achtet die Bürokratie penibel darauf, dass sich für sie ke<strong>in</strong>e<br />
Ansprüche, weder des Besitzes noch der Nutzung, ergeben. Als die wenigen<br />
burgenländischen Roma, die die Vernichtungslager der Nationalsozialisten<br />
überlebten, 1945 <strong>in</strong> ihre Dörfer zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser zerstört oder<br />
von den Geme<strong>in</strong>den für kommunale Zwecke genutzt ... Ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen der<br />
österreichischen Roma gelang es, sich wieder <strong>in</strong> den Besitz dessen zu setzen, was<br />
ihm vorher gehört hatte ..." Gauß, K.-M., Die Hundeesser von Sv<strong>in</strong>a, Wien 2004, S.<br />
100f<br />
34
ROMA IN EUROPA<br />
Das Leben ohne e<strong>in</strong>en amtlich registrierten Wohnsitz führt<br />
se<strong>in</strong>erseits wiederum dazu, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
erschwert wird, dass auch ke<strong>in</strong>e Sozialleistungen beantragt werden<br />
können und dass den K<strong>in</strong>dern der Zugang zu den Schulen verwehrt<br />
wird. – Das Fehlen von Personaldokumenten ist häufig die Folge<br />
des Verhaltens der Behörden. Besonders eklatant war dies bei der<br />
Teilung der CSSR. E<strong>in</strong> Drittel der <strong>in</strong> der neuen Tschechischen<br />
Republik lebenden Roma war – wie oben schon erwähnt – <strong>in</strong> der<br />
kommunistischen Zeit aus dem slowakischen Teil der CSSR <strong>in</strong> den<br />
tschechischen Industriegebieten angesiedelt worden. Aufgrund des<br />
tschechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1993 wurden viele<br />
Roma staatenlos, da die Bürger, deren Eltern im slowakischen Teil<br />
des bisherigen Staates geboren waren, ke<strong>in</strong>en Anspruch auf die<br />
Staatsbürgerschaft erhielten. Diese Roma wurden zu Fremden <strong>in</strong><br />
ihrer Heimat und verloren damit wesentliche Rechte, wie den<br />
Zugang zum Bildungssystem für die K<strong>in</strong>der.<br />
Im kommunistischen System hatten zwar viele Roma Arbeit <strong>in</strong> der<br />
Industrie oder <strong>in</strong> der Landwirtschaft, aber auch hier besetzten sie<br />
meistens nur die niedrigsten Stufen der Hierarchie. Immerh<strong>in</strong> war<br />
e<strong>in</strong> erster Schritt zu sozialer Integration getan. 53 Dazu gehörte auch,<br />
dass trotz weitgehender Segregation und mangelnder<br />
Chancengleichheit im Bildungssystem mehr K<strong>in</strong>der die Schulen<br />
besuchten und e<strong>in</strong>e - wenn auch kle<strong>in</strong>e - Schicht von Intellektuellen<br />
der Roma entstand, worauf unten noch zurückzukommen se<strong>in</strong> wird.<br />
Mit dem Systemwechsel wurden aber auch diese bescheidenen<br />
Ansätze weit gehend zerstört.<br />
Die Roma waren also <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht die ersten und größten<br />
Verlierer des Systemwechsels. Die strukturellen Veränderungen,<br />
die der Systemwechsel verursachte, und die Benachteiligung der<br />
Roma auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ger<strong>in</strong>gerer Ausbildung sowie<br />
aufgrund bestehendem, bzw. wachsendem Antiziganismus führten<br />
zu extrem hohen Arbeitslosenzahlen unter den Roma. So betrug<br />
z. B. im Jahr 2003 die Arbeitslosenquote nach offiziellen Angaben<br />
<strong>in</strong> der Slowakei unter Roma 87,5 % gegenüber 14,2 % <strong>in</strong> der<br />
Gesamtbevölkerung. In anderen Ländern – auch <strong>in</strong> alten EU-<br />
Ländern – sieht es ähnlich aus. 54 In e<strong>in</strong>igen Roma-Siedlungen geht<br />
die Arbeitslosigkeit gegen 100 %.<br />
53 Für Rumänien s. dazu Roth, a.a.O., S. 35<br />
54 Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., 28<br />
35
Peter Thelen<br />
Die Entwicklung nach 1989 verstärkte also die soziale<br />
Marg<strong>in</strong>alisierung der Roma. Ihre Integration <strong>in</strong> das Wirtschaftsleben<br />
der Transitionsländer, die alle mit den Problemen des<br />
Strukturwandels zu kämpfen hatten und haben, war wegen<br />
objektiver Probleme, wie mangelnde schulische und berufliche<br />
Ausbildung, äußerst schwierig. Ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem<br />
engen Arbeitsmarkt litt zusätzlich unter den Vorurteilen der Anbieter<br />
der knappen Arbeitsplätze. Dazu kam, dass mit dem<br />
Systemwechsel auch die bisherigen Strukturen der sozialen<br />
Sicherheit obsolet wurden und neue noch nicht greifen konnten,<br />
bzw. Mechanismen geschaffen wurden, die den Roma den Zugang<br />
zum sozialen System und zur schulischen Bildung erschwerten<br />
oder versperrten. 55<br />
Ladany und Szelenyi beschreiben am Beispiel e<strong>in</strong>es<br />
nordungarischen Dorfes e<strong>in</strong>drucksvoll die Entwicklung der sozialen<br />
Position der Roma über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 150 Jahren. 56 Sie<br />
stellen dabei zyklische Bewegungen fest, die zu e<strong>in</strong>em großen Teil<br />
von der Politik determ<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Für die ersten Jahrzehnte des<br />
kommunistischen Systems diagnostizieren sie, dass die Roma –<br />
zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> diesem Dorf – der lower class zugerechnet werden<br />
konnten. Die meisten Männer und viele Frauen hatten e<strong>in</strong>e<br />
dauerhafte Full-Time-Beschäftigung - meistens als ungelernte<br />
Arbeiter <strong>in</strong> der Schwer<strong>in</strong>dustrie – und daher auch soziale Kontakte<br />
zu Nicht-Roma. Seit Mitte der 80er Jahre verschlechterte sich die<br />
Situation. Die Arbeitsplätze g<strong>in</strong>gen verloren und die soziale<br />
Exklusion wurde total. Das Dorf, <strong>in</strong> dem früher auch Nicht-Roma<br />
lebten, entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en Roma-Ghetto, aus dem<br />
selbst die ambitionierteren Roma fortzogen. Aus der lower class<br />
entstand die underclass des Postkommunismus durch geografische<br />
Separation vom Ma<strong>in</strong>stream der Gesellschaft. Dieser Ma<strong>in</strong>stream<br />
sieht die Mitglieder der underclass im Gegensatz zu den Armen der<br />
Allgeme<strong>in</strong>heit als überflüssig, nicht zum Nutzen der Allgeme<strong>in</strong>heit<br />
beitragend und das soziale System nur belastend an. Diese neue<br />
underclass ist durch Hoffnungslosigkeit – auch für die nächste<br />
Generation – gekennzeichnet.<br />
Die katastrophale Lage, <strong>in</strong> der die Roma sich nach dem<br />
Systemwechsel wiederfanden, führte bei der Mehrheit der<br />
Bevölkerung nicht dazu, dass sie sich mit den Ursachen der<br />
55 S. dazu Mihok, B., Soziale Ausgrenzung und Bildungssegregation – Roma <strong>in</strong><br />
Rumänien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, <strong>in</strong>: Ost<strong>europa</strong>, 54. Jg., 2004, Nr. 1<br />
56 Ladany, J., Szelenyi, I., Historical variations <strong>in</strong> <strong>in</strong>ter-ethnic relations: Toward a<br />
social history of Roma <strong>in</strong> Csenyete, 1859 – 2000, <strong>in</strong>: Romani Studies, No. 1, 2003<br />
36
ROMA IN EUROPA<br />
Entwicklung vertraut machten, sondern bestärkte die<br />
antiziganistischen Vorurteile: e<strong>in</strong> circulus vitiosus, der schwer zu<br />
durchbrechen ist.<br />
Natürlich hat der Systemwechsel nicht nur die Roma negativ<br />
betroffen. Auch <strong>in</strong> der Mehrheitsbevölkerung gab es viele Verlierer.<br />
Gerade bei diesen Verlierern fanden <strong>in</strong> der Folge radikale Parolen<br />
Resonanz, was zu e<strong>in</strong>er Stärkung extremer Parteien, die <strong>in</strong> der<br />
Regel ausgesprochen antiziganistisch (und antisemitisch)<br />
e<strong>in</strong>gestellt s<strong>in</strong>d, führte. Es häuften sich rassistisch motivierte<br />
Gewalttaten gegen Roma, Attacken gegen die Wohnungen von<br />
Romani Familien durch die Nachbarn, die ke<strong>in</strong>e Roma <strong>in</strong> ihrer<br />
Wohngegend haben wollen, sowie Gewaltakte von Polizisten gegen<br />
Roma. Die früher herrschende Zuordnung der Roma zu e<strong>in</strong>er<br />
sozialen Randgruppe wurde nun zunehmend durch e<strong>in</strong>en teils<br />
kulturellen, teils biologistischen Rassismus überlagert. 57<br />
Die Komb<strong>in</strong>ation von schlechter sozialer Lage und ger<strong>in</strong>ger<br />
Aussicht auf den Arbeitsmärkten e<strong>in</strong>erseits und die Ablehnung<br />
durch e<strong>in</strong>en großen Teil der Mehrheitsbevölkerung, die bis zu<br />
lebensbedrohenden Angriffen reicht, andererseits hat die<br />
Migrationsbereitschaft der Roma erhöht. 58<br />
Da die Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> ihrer überwiegenden Mehrheit<br />
offensichtlich unter großen sozialen Problemen leidet, bzw. unter<br />
den Benachteiligten die am meisten benachteiligte Gruppe ist,<br />
vertreten e<strong>in</strong>ige Wissenschaftler und Politiker, aber auch e<strong>in</strong>ige<br />
Romavertreter, die Auffassung, dass die Romafrage e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />
soziale Frage ist. E<strong>in</strong>e spezielle Romapolitik ist bei e<strong>in</strong>em solchen<br />
Ansatz nicht notwendig. Die Probleme werden danach <strong>in</strong> dem Maße<br />
gelöst, wie es gel<strong>in</strong>gt, die soziale Lage der Bevölkerung <strong>in</strong>sgesamt<br />
zu verbessern.<br />
Richtig daran ist, dass Menschen, die <strong>in</strong> absoluter Armut leben, die<br />
ihre vitalen Grundbedürfnisse an Ernährung, Unterkunft oder<br />
sanitärer Versorgung nicht annähernd befriedigen können, kaum <strong>in</strong><br />
der Lage s<strong>in</strong>d, sich für die Verwirklichung anderer Grundrechte<br />
57 Vgl. Teichmann, M., a.a.O.,<br />
58 Auf die Reaktion der E<strong>in</strong>wanderungsländer soll hier nicht näher e<strong>in</strong>gegangen<br />
werden. Vgl. dazu Pluim, M ., Current Roma Migration from the EU Candidate States:<br />
The Scope and Features of Recent Roma Movements, the Effects on the EU<br />
Candidate States and the Reaction of the Host Countries, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O.,<br />
S. 60ff<br />
37
Peter Thelen<br />
e<strong>in</strong>zusetzen. E<strong>in</strong>e Mutter, die ihre K<strong>in</strong>der nicht ausreichend<br />
ernähren und mediz<strong>in</strong>isch versorgen kann, ist an deren Ausbildung<br />
allenfalls sekundär <strong>in</strong>teressiert. Von ihr kann auch kaum erwartet<br />
werden, dass sie sich auf der politischen Ebene am<br />
Willensbildungsprozess beteiligt.<br />
Trotzdem ist der Ansatz, die Situation der Roma ausschließlich als<br />
soziales Problem zu def<strong>in</strong>ieren, nicht ausreichend. Er<br />
vernachlässigt die besonderen Umstände, die die Lage der Roma<br />
zum<strong>in</strong>dest mitverursachen, nämlich die spezielle Diskrim<strong>in</strong>ation<br />
aufgrund antiziganistischer Vorurteile. Bei der sozialen Marg<strong>in</strong>alität<br />
der Roma "handelt es sich um e<strong>in</strong>e Marg<strong>in</strong>alität, als e<strong>in</strong>en<br />
objektiven, gegebenen Zustand, der auf e<strong>in</strong>e lange soziale<br />
Entwicklung <strong>in</strong> der Geschichte zurückgeht. Die soziale<br />
Marg<strong>in</strong>alisierung ist Absicht und hat ihren Ursprung <strong>in</strong><br />
nationalistischen (vorwiegend rassistischen) Vorurteilen". 59<br />
Die Diskussion über die E<strong>in</strong>ordnung e<strong>in</strong>er auf die Roma<br />
ausgerichteten Politik spiegelt die Diskussion um die oben erwähnte<br />
Def<strong>in</strong>ition dessen, was die Roma darstellen, wider. Der angesichts<br />
der sozialen Probleme naheliegende Schluss, dass Romapolitik Teil<br />
der allgeme<strong>in</strong>en Sozialpolitik ist, hat zum<strong>in</strong>dest den positiven Effekt,<br />
dass "l<strong>in</strong>ke" Wissenschaftler und Politiker, denen der soziale<br />
Ausgleich e<strong>in</strong>e Grundmotivation ist, angeregt werden, sich mit den<br />
Problemen der Roma zu beschäftigen. Dies geschieht auch.<br />
Die Def<strong>in</strong>ition der Romapolitik berührt aber noch e<strong>in</strong>e andere Ebene<br />
der Diskussion: Besonders liberal orientierte Theoretiker und<br />
Politiker scheuen sich davor, bestimmte Probleme als Probleme<br />
e<strong>in</strong>er Gruppe, vor allem wenn sie sich ethnisch oder national<br />
def<strong>in</strong>iert, zu akzeptieren, weil es <strong>in</strong> diesem Fall naheliegend ist,<br />
dieser Gruppe über die <strong>in</strong>dividuellen Rechte h<strong>in</strong>aus kollektive<br />
Rechte zuzubilligen. Danach s<strong>in</strong>d kollektive Rechte Sonderrechte,<br />
die nicht <strong>in</strong> das demokratische System passen. Sie weisen zudem<br />
auf die Gefahr h<strong>in</strong>, dass die Wahrnehmung solcher Rechte auch<br />
negative Effekte haben kann, da bestehende Aversionen gegen<br />
diese Gruppe auf gefährliche Weise verstärkt werden können.<br />
Diese Argumentation er<strong>in</strong>nert an bei Antisemiten bekannte<br />
Argumentationsmuster, die letztendlich darauf h<strong>in</strong>auslaufen, dass<br />
die Opfer die eigentlich Schuldigen s<strong>in</strong>d.<br />
59 Roth, A., a.a.O., S. 9<br />
38
ROMA IN EUROPA<br />
Wer die Probleme der Roma als re<strong>in</strong>e soziale Probleme sieht, der<br />
neigt auch dazu, die Roma als soziale (Rand-)Gruppe zu def<strong>in</strong>ieren.<br />
In der wissenschaftlichen Literatur wird zur Beschreibung der<br />
Position der Roma vor allem <strong>in</strong> der postkommunistischen<br />
Gesellschaft der Begriff underclass verwendet. Dieser von Gunnar<br />
Myrdal geprägte Begriff ist dann problematisch, wenn er zur<br />
Kennzeichnung e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe gebraucht wird. In diesem<br />
Fall kann er kritisiert werden „for blam<strong>in</strong>g the victims and be<strong>in</strong>g part<br />
oft the neo-conservative attack on the welfare state“. 60 – Stewart<br />
weist zudem auf die Unschärfe und die negativen Konnotationen<br />
des Term<strong>in</strong>us underclass, der auch im allgeme<strong>in</strong>en<br />
Sprachgebrauch verwendet wird, h<strong>in</strong>. Durch se<strong>in</strong>en Gebrauch<br />
würden die Unterschiede der diese Gruppe angehörenden<br />
Personen zur übrigen Bevölkerung überbetont und die<br />
Möglichkeiten von Veränderungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es<br />
gesellschaftlichen Systems vernachlässigt. Er macht auf die Gefahr<br />
des politischen Missbrauchs aufmerksam, wenn der Begriff<br />
underclass mit Wertungen, wie asozial, nicht anpassungsfähig,<br />
geme<strong>in</strong>schaftsfremd oder staatsschädigend verbunden wird. 61<br />
Wegen der Möglichkeit von Missverständnissen und politischen<br />
Missbrauch sollte der Begriff underclass zum<strong>in</strong>dest im politischen<br />
Sprachgebrauch zur Bezeichnung von Roma vermieden werden.<br />
Zur Bezeichnung der Position der Roma <strong>in</strong> der Gesellschaft eignet<br />
sich soziale Ausgrenzung besser, da damit leichter e<strong>in</strong> Prozess zu<br />
begreifen ist, der auch das Ergebnis von Verhaltensweisen der<br />
Nicht-Roma sowie des politischen Handelns ist. Viele Roma lehnen<br />
daher die E<strong>in</strong>ordnung der Roma als underclass aber auch als<br />
Randgruppe als diskrim<strong>in</strong>ierend ab. Deshalb lehnen die meisten<br />
<strong>in</strong>tellektuellen Sprecher der Roma diese Sichtweise<br />
diskrim<strong>in</strong>atorisch ab. Zudem befürchten sie, dass angesichts der<br />
Qualität und Quantität der Probleme e<strong>in</strong>erseits und der wegen der<br />
Strukturkrise besonders begrenzten f<strong>in</strong>anziellen Resourcen<br />
andererseits nur wenig zur Veränderung der Lage geschieht. 62<br />
60 Ladany, J., Szelenyi, I., Historical variations <strong>in</strong> <strong>in</strong>ter-ethnic relations, a.a.O., S.9 –<br />
Die beiden Autoren, die den Begriff für ihren historischen Vergleich heranziehen, trifft<br />
diese Kritik nicht. „Hence, we use the term ‚underclass’ not to label Gypsies as such.<br />
The notion of underclass describes the Roma condition under very specific historical<br />
conditions and it does not characterize all Roma, but captures only the experiences of<br />
Roma ghetto poor“. S. 12<br />
61 Stewart, M., ‚Underclass’ oder soziale Ausgrenzung? Der Fall der Roma, <strong>in</strong>: Hann,<br />
C. (Hrsg.), Postsozialismus – Transformationsprozesse <strong>in</strong> Europa und Asien aus<br />
ethnologischer Perspektive, Frankfurt, New York, 2002, S. 210f<br />
62 So Mirga, A., Gheorghe, N., The Roma <strong>in</strong> the twenty-first century: a policy, <strong>in</strong>:<br />
Project on Ethnic Relations, Pr<strong>in</strong>ceton, New Jersey, 1997, S. 12f<br />
39
Peter Thelen<br />
Diese Vertreter der Roma fordern e<strong>in</strong>en politischen Ansatz, der von<br />
e<strong>in</strong>em anerkannten Status der Roma ausgeht und der ihnen<br />
Partizipation <strong>in</strong> den Entscheidungsprozessen ermöglicht.<br />
5. Die Statusfrage<br />
Bis <strong>in</strong> die jüngste Vergangenheit blieben die Roma <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> fast<br />
allen Ländern – unabhängig vom politischen System – von der<br />
Anerkennung als ethnische M<strong>in</strong>derheit ausgeschlossen. Auch dort,<br />
wo sie e<strong>in</strong>e Anerkennung als ethnische Gruppe erlangten, waren<br />
sie gegenüber anderen M<strong>in</strong>derheiten benachteiligt. 63<br />
Die Quantität und Qualität der Probleme, mit denen sich die Roma<br />
konfrontiert sehen, trat erst mit dem Systemwechsel <strong>in</strong> den<br />
mitteleuropäischen Ländern und der sich daraus ergebenden<br />
Perspektive der Osterweiterung der EU <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der<br />
politischen Akteure <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>. Dabei mag die Furcht vor<br />
weiterer oder verstärkter Zuwanderung e<strong>in</strong> Grund, vielleicht der<br />
wichtigste Grund, gewesen se<strong>in</strong>. Gleichzeitig begann sich e<strong>in</strong>e<br />
neue Elite der Roma auf nationaler und europäischer Ebene zu<br />
artikulieren, um die bisherige Perzeption der Roma und der sie<br />
betreffenden Politik <strong>in</strong> die Richtung e<strong>in</strong>es anerkannten und<br />
verb<strong>in</strong>dlichen Status zu verändern.<br />
Der erste Ansatzpunkt zum Schutz der Interessen von M<strong>in</strong>derheiten<br />
ist die e<strong>in</strong>zelstaatliche Ebene. Hier ist noch e<strong>in</strong>mal auf die schon<br />
erwähnte Besonderheit der Roma zurückzukommen. Nationale<br />
M<strong>in</strong>derheiten entstanden häufig durch Grenzverschiebungen <strong>in</strong>folge<br />
von Kriegen. Dies ist der Grund, warum autochthone M<strong>in</strong>derheiten<br />
häufig konzentriert <strong>in</strong> Grenzregionen leben. E<strong>in</strong>e andere Ursache<br />
für das Entstehen von nationalen M<strong>in</strong>derheiten waren massive,<br />
meist wirtschaftlich motivierte Auswanderungsbewegungen, die<br />
z. B. typisch für das Entstehen der deutschen M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong><br />
Mittel- und Ost<strong>europa</strong> waren. Dazu können auch die<br />
Arbeitsmigrationen gezählt werden, die <strong>in</strong> der zweiten Hälfte des<br />
letzten Jahrhunderts <strong>in</strong> den westlichen Industrieländern zum<br />
Entstehen von neuen, als solche meist nicht anerkannten<br />
nationalen M<strong>in</strong>derheiten führten. Die Schaffung von Nationalstaaten<br />
auf dem Balkan nach dem Untergang des osmanischen Imperiums<br />
führte hier zum Entstehen von M<strong>in</strong>derheiten, von denen zum<strong>in</strong>dest<br />
63 S. dazu Thurner, E., a.a.O., S. 85ff<br />
40
ROMA IN EUROPA<br />
e<strong>in</strong> großer Teil sich dem Volk (und der Religion) e<strong>in</strong>es<br />
Nachbarstaates zugehörig fühlte.<br />
In den meisten Fällen gibt es also für die M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong><br />
"Mutterland", das sich für se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit mehr oder weniger<br />
verantwortlich fühlt. Dabei geht es nicht mehr wie häufig <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheit, um den machtpolitischen Missbrauch dieser<br />
M<strong>in</strong>derheiten oder um die Verwirklichung irredentistischer Ziele.<br />
Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>nerhalb der EU, <strong>in</strong> der die Bedeutung von Grenzen<br />
sukzessive abnimmt, wird dies ke<strong>in</strong>er mehr ernsthaft unterstellen.<br />
Wenn man von der Situation auf dem Balkan sowie von extremen<br />
nationalistischen Kräften absieht, geht es vielmehr um die Pflege<br />
der Sprache und Kultur der M<strong>in</strong>derheiten. Aus diesem Grunde<br />
wurden vielfach bilaterale Verträge zwischen dem Mutterland und<br />
dem Wohnland abgeschlossen, <strong>in</strong> denen die sprachlichen und<br />
kulturellen Rechte garantiert sowie die Förderung der M<strong>in</strong>derheiten<br />
auf diesen Feldern durch das Mutterland ermöglicht wurden, wie<br />
z. B. im deutsch-ungarischen Kulturabkommen, das noch vor der<br />
politischen Wende abgeschlossen werden konnte.<br />
Für die M<strong>in</strong>derheit der Roma besteht diese Möglichkeit nicht. Ihr<br />
fehlt das Mutterland, das sich für sie mitverantwortlich fühlt, wenn<br />
man von e<strong>in</strong>igen Ansätzen Indiens unter Indira Gandhi absieht. Aus<br />
diesem Grund wird häufig – wie im ungarischen M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />
von 1993 – zwischen nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />
unterschieden, wobei <strong>in</strong> dieser Term<strong>in</strong>ologie nationale M<strong>in</strong>derheiten<br />
e<strong>in</strong>en Bezug zu e<strong>in</strong>em Mutterland, der den ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />
fehlt, haben. Diese Unterscheidung führt allerd<strong>in</strong>gs nicht zur<br />
Gewährung unterschiedlicher Rechte. So garantiert das erwähnte<br />
ungarische Gesetz den Roma die gleichen Rechte wie den anderen<br />
M<strong>in</strong>derheiten. De facto fehlt den Roma aber e<strong>in</strong> Staat als Anwalt,<br />
der bei Verletzungen ihrer Rechte ihre Interessen vertritt.<br />
Wegen des Fehlens e<strong>in</strong>es Staates, der sich bilateral für die<br />
Interessen der Roma e<strong>in</strong>setzt, ist für sie die europäische und<br />
<strong>in</strong>ternationale Ebene besonders wichtig. Es ist nicht verwunderlich,<br />
dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Bedeutung der<br />
Roma erst mit der Eröffnung der Perspektive der Osterweiterung<br />
der EU <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der europäischen Politik gerückt ist. Die<br />
schwierige Situation, <strong>in</strong> der sich die große M<strong>in</strong>derheit der Roma <strong>in</strong><br />
den Transitionsländern befand, kam <strong>in</strong>s Bild. Sie wurde als Gefahr<br />
für die soziale Kohäsion dieser Länder erkannt. Der Import dieser<br />
Instabilität <strong>in</strong> die EU durch den Beitritt dieser Länder sollte<br />
verh<strong>in</strong>dert werden.<br />
41
Peter Thelen<br />
Die Vorstufe zu e<strong>in</strong>er europäischen Roma-Politik kann auf das Jahr<br />
1993 datiert werden. In diesem Jahr nahm die Parlamentarische<br />
Versammlung des Europarates die Empfehlung 1203 über die<br />
Roma <strong>in</strong> Europa, die auf dem Bericht von Joseph<strong>in</strong>e Verspaget<br />
basierte, an. In der Empfehlung wurden die Roma als "true<br />
European m<strong>in</strong>ority" anerkannt. Es wurde festgehalten, dass sie alle<br />
Rechte von M<strong>in</strong>derheiten beanspruchen können und dass sie<br />
darüber h<strong>in</strong>aus als "non-territorial m<strong>in</strong>ority <strong>in</strong> Europe Gypsies need<br />
special protection". - Nach e<strong>in</strong>em weiteren Verspaget-Report im<br />
Jahre 1995 richtete der Europarat e<strong>in</strong>e Arbeitsgruppe für Roma-<br />
Fragen (Specialist Group on Roma/Gypsies) e<strong>in</strong>. Diese Gruppe, die<br />
seit 2003 von dem polnischen Roma Andrzej Mirga geleitet wird<br />
und heute Group of Specialists on Roma, Gypsies and Travellers<br />
genannt wird, soll als Katalysator und Koord<strong>in</strong>ator <strong>in</strong> allen die Roma<br />
betreffenden Fragen dienen. Sie beschäftigt sich <strong>in</strong> Studien,<br />
Empfehlungen, Konferenzen und Sem<strong>in</strong>aren auch mit dem legalen<br />
Status der Roma und hat e<strong>in</strong>e Reihe von Empfehlungen des<br />
M<strong>in</strong>isterrates angeregt.<br />
Ebenfalls im Jahre 1993 legte der Hohe Kommissar für Nationale<br />
M<strong>in</strong>derheiten der OSZE, van der Stoel, se<strong>in</strong>en ersten Bericht über<br />
die Roma <strong>in</strong> den OSZE-Ländern vor, wobei er schwergewichtig die<br />
Situation <strong>in</strong> den Transitionsländern behandelte. Auch auf diesen<br />
Report folgten organisatorische Neuerungen. Im Rahmen des<br />
<strong>Office</strong> of Democratic Institutions and Human Rights wurde der<br />
Contact Po<strong>in</strong>t for Roma and S<strong>in</strong>ti Issues (ODIHR/CPRSI) <strong>in</strong><br />
Warschau e<strong>in</strong>gerichtet. Se<strong>in</strong>e Aufgabe ist es "to promote full<br />
<strong>in</strong>tegration of Roma and S<strong>in</strong>ti communities <strong>in</strong>to the societies they<br />
live <strong>in</strong>, while preserv<strong>in</strong>g their identity". 64 Die Leitung hat der aus<br />
Rumänien stammende Roma Nicolae Gheorghe.<br />
Die genannten Organisationen haben seit ihrem Bestehen durch<br />
Berichte, Beratung und Projektarbeit vieles leisten können. Im<br />
Bericht des Europarates zur rechtlichen Situation der Roma <strong>in</strong><br />
Europa hält Csaba Tabajdi im Jahre 2002 fest: " From a legal po<strong>in</strong>t<br />
of view, Roma were not treated as an ethnic or national m<strong>in</strong>ority <strong>in</strong><br />
most of the European countries <strong>in</strong> 1993. By now, this problem has<br />
been solved <strong>in</strong> many of the member states. Despite the positive<br />
trend, there are still hesitat<strong>in</strong>g countries which makes it necessary<br />
to underl<strong>in</strong>e aga<strong>in</strong> that the Roma must be recognized legally as an<br />
64 OSCE M<strong>in</strong>isterial Decision, Oslo, 1998 (s.ODIHR/CPRSI web site)<br />
42
ROMA IN EUROPA<br />
ethnic or national m<strong>in</strong>ority all over Europe." 65 Im Tabajdi-Report wird<br />
gefordert, dass die Situation der Roma weiter zu verbessern ist,<br />
<strong>in</strong>sbesondere durch ihre vollständige Anerkennung als ethnische<br />
oder nationale M<strong>in</strong>derheit und ihrer "<strong>in</strong>dividual and community<br />
rights". Auch drei Jahre später, also im Jahr 2005, gibt es noch EU-<br />
Mitgliedsstaaten und Beitrittsländer, die die Roma immer noch nicht<br />
als ethnische oder nationale M<strong>in</strong>derheit anerkennen.<br />
Durch e<strong>in</strong>e Anerkennung als nationale M<strong>in</strong>derheit fallen die Roma<br />
unter das Rahmenabkommen zum Schutz der nationalen<br />
M<strong>in</strong>derheiten, das 1995 vom Europarat verabschiedet wurde und<br />
das das erste rechtsverb<strong>in</strong>dliche Instrument zum<br />
M<strong>in</strong>derheitenschutz auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene ist. Diese<br />
Anerkennung war allerd<strong>in</strong>gs – u. a. wegen e<strong>in</strong>es fehlenden<br />
Mutterlandes - umstritten und blieb offen, zumal e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung über<br />
die Def<strong>in</strong>ition des Begriffs "nationale M<strong>in</strong>derheit" nicht gelungen<br />
war.<br />
Die fehlende Def<strong>in</strong>ition und die Erklärungen der Staaten, die das<br />
Rahmenabkommen ratifiziert haben, schließt allerd<strong>in</strong>gs die Roma<br />
von der Anwendung des Abkommens auf sie nicht aus. 66 So<br />
erkennt die Bundesrepublik Deutschland nur die autochthonen<br />
M<strong>in</strong>derheiten an. Nach ihrer Erklärung anlässlich der<br />
Verabschiedung des Abkommens vom 11.5.1995 f<strong>in</strong>det das<br />
Rahmenabkommen zum Schutz Nationaler M<strong>in</strong>derheiten nur<br />
Anwendung auf die nationalen M<strong>in</strong>derheiten der Dänen und der<br />
Sorben sowie auf die traditionell <strong>in</strong> Deutschland lebenden<br />
"ethnischen Gruppen" der Friesen und der S<strong>in</strong>ti und Roma, soweit<br />
sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Roma ohne diese<br />
Staatsangehörigkeit genießen daher nicht den M<strong>in</strong>derheitenschutz<br />
<strong>in</strong> Deutschland. Das Problem der Anerkennung als M<strong>in</strong>derheit ist für<br />
die Roma allerd<strong>in</strong>gs auch <strong>in</strong> anderen Ländern nicht gelöst. Dazu<br />
gehören Frankreich, das ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit auf se<strong>in</strong>em Territorium<br />
anerkennt, Griechenland, die Niederlande, die Slowakei und<br />
Irland. 67<br />
De facto werden die Roma aber auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene als<br />
M<strong>in</strong>derheit akzeptiert, was besonders durch die Existenz und die<br />
Aktivitäten des Europarates und se<strong>in</strong>er Group of Roma, Gypsies<br />
and Travellers und der OSZE mit ihrem Contact Po<strong>in</strong>t zum<br />
65<br />
Report: Legal situation of the Roma <strong>in</strong> Europe, Stand: 19.4.2002, Rapporteur:<br />
Csaba Tabajdi<br />
66<br />
Klopcic, V., The legal Status of the Roma, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.o., S. 73<br />
67<br />
Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 44<br />
43
Peter Thelen<br />
Ausdruck kommt. Damit f<strong>in</strong>den auch die kollektiven Rechte der<br />
Roma Anerkennung. Schon <strong>in</strong> der Empfehlung 1203 des<br />
Europarates wird auf den "respect for the rights of Gypsies,<br />
<strong>in</strong>dividual, fundamental and human rights and their rights as a<br />
m<strong>in</strong>ority" h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
6. M<strong>in</strong>derheit oder Nation<br />
Die Anerkennung der Roma als nationale M<strong>in</strong>derheit entsprechend<br />
dem Rahmenabkommen zum Schutz der nationalen M<strong>in</strong>derheiten<br />
hat vor allem auf nationalstaatlicher Ebene Bedeutung. Die<br />
Pr<strong>in</strong>zipien und Verpflichtungen des Rahmenabkommens sollen<br />
durch die nationalen Gesetzgebungen und die Politik der<br />
Regierungen implementiert werden.<br />
Die Diskussion über die Anerkennung der Roma bzw. über die<br />
Frage, was die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft ist und was daraus folgt, ist<br />
<strong>in</strong>zwischen zum<strong>in</strong>dest unter den Repräsentanten und Intellektuellen<br />
der Roma fortgeschritten. Die Suche nach der Selbstdef<strong>in</strong>ition der<br />
Roma kreuzte sich <strong>in</strong> den 90er Jahren mit den Bemühungen auf<br />
europäischer Ebene, den Schutz der M<strong>in</strong>derheiten zu garantieren.<br />
Damit ist geme<strong>in</strong>t, dass die Roma-<strong>in</strong>terne Diskussion nicht von<br />
außen <strong>in</strong>duziert wurde, dass sie vielmehr älter ist und sich <strong>in</strong>haltlich<br />
entwickelt hat, auch wenn dies ke<strong>in</strong> die Mehrheit der Roma-<br />
Bevölkerung e<strong>in</strong>schließender Prozess war.<br />
Das R<strong>in</strong>gen um die Selbstdef<strong>in</strong>ition der Roma ist häufig Anlass oder<br />
Ergebnis von Versuchen, die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft zu organisieren,<br />
gewesen. Die ersten Ansätze solcher Organisationen fanden zu<br />
Beg<strong>in</strong>n des vergangenen Jahrhunderts auf dem Balkan statt. Schon<br />
bei diesen frühen Versuchen g<strong>in</strong>g es um politische Rechte. Dass<br />
dies zuerst auf dem Balkan geschah, liegt wohl daran, dass die<br />
Roma im Osmanischen Reich e<strong>in</strong>ige Bürgerrechte besaßen, die<br />
ihnen <strong>in</strong> anderen Regionen verwehrt wurden. Im<br />
Entstehungsprozess der neuen Nationalstaaten auf dem Balkan<br />
wollten sie nicht ihre bisherige Stellung verlieren. Sie begannen,<br />
sich zu organisieren, und forderten ihre Rechte e<strong>in</strong>, wie z. B. auf<br />
dem Kongress <strong>in</strong> Sofia im Jahre 1905, dem Proteste gegen die<br />
Verweigerung des Wahlrechtes folgten. 68<br />
68 S. Marushiakova, E., Popov, V., The Roma – a Nation Without a State? Historical<br />
Backgrounds and Contemporary Tendencies, <strong>in</strong>: Mitteilungen des SFB „Differenz und<br />
Integration“, Orientwissenschaftliche Hefte, Nr. 14, 2004<br />
44
ROMA IN EUROPA<br />
In den 20er und 30er Jahren nahm die Organisationsdichte auf dem<br />
Balkan - <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bulgarien und Rumänien - deutlich zu.<br />
Auch <strong>in</strong> anderen Ländern, wie <strong>in</strong> Polen, gab es organisatorische<br />
Aktivitäten. Der 2. Weltkrieg und der nationalsozialistische<br />
Vernichtungsfeldzug gegen die Roma unterbrachen diese<br />
Entwicklung.<br />
Nach Ende des Krieges konnten die Bemühungen um die<br />
Organisation der Roma wieder aufgenommen werden. E<strong>in</strong> zentrales<br />
Ziel war dabei das Engagement gegen den Rassismus und für die<br />
Anerkennung und Entschädigung der durch die Nationalsozialisten<br />
verfolgten und ermordeten Roma. E<strong>in</strong>e wichtige Initiative g<strong>in</strong>g dabei<br />
<strong>in</strong> Deutschland von Mitgliedern der Familie Rose, die selbst viele<br />
Opfer zu beklagen hatte, aus. Oskar und V<strong>in</strong>zenz Rose gründeten<br />
1956 den Verband der Verfolgten nicht jüdischen Glaubens, aus<br />
dem später der Verband deutscher S<strong>in</strong>ti hervorg<strong>in</strong>g, der 1982 mit<br />
se<strong>in</strong>en regionalen Organisationen zum Zentralrat Deutscher S<strong>in</strong>ti<br />
und Roma umgebildet wurde. Nach dem Systemwechsel <strong>in</strong> den<br />
früheren kommunistischen Ländern nahm die Zahl der Roma-<br />
Organisationen noch e<strong>in</strong>mal erheblich zu. In e<strong>in</strong>igen Ländern (z. B.<br />
Makedonien) entstanden auch politische Parteien der Roma, denen<br />
es gelang, zum<strong>in</strong>dest mit e<strong>in</strong>em Abgeordneten <strong>in</strong>s Parlament zu<br />
kommen.<br />
Auch auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene brachten die Bemühungen, Roma-<br />
Organisationen zu bilden, Fortschritte. Die beiden wichtigsten<br />
Organisationen, die e<strong>in</strong>e Reihe <strong>in</strong>ternationaler Kongresse<br />
durchgeführt haben, s<strong>in</strong>d die International Romani Union (IRU), die<br />
seit Oktober 2004 von e<strong>in</strong>em Präsidenten aus Polen und e<strong>in</strong>em<br />
Generalsekretär aus Makedonien geführt wird, und der Roma<br />
National Congress (RNC) mit Sitz <strong>in</strong> Hamburg. 69<br />
Häufig werden Roma-Organisationen von außen deshalb nicht<br />
ernst genommen, weil ihre Zahl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern sehr groß ist,<br />
weil sie unterschiedliche Positionen und Interessen vertreten und<br />
weil sie untere<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konkurrenzverhältnis stehen. Dass<br />
dies so ist, ist nicht gerade verwunderlich. Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den von der<br />
69 Zur Entstehung der Roma-Organisationen auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene vgl. Liegeois,<br />
J.-P., a.a.O., S. 312ff, - Djuric, R., a.a.O., S. 25ff – Hancock, I., We are the Romani<br />
people, Hatfield, 2003, S. 120ff - Zur Geschichte der IRU s.a. Marushiakova, E.,<br />
Popov, V., The Roma – a Nation Without a State?, a.a.O., - Zur Struktur, politischen<br />
Orientierung und Aktivitäten der IRU auf UN-Ebene s. Klimova-Alexander, I., The<br />
Romani Voice <strong>in</strong> World Politics – The United Nations and Non-State Actors, Hants,<br />
Burl<strong>in</strong>gton, 2005<br />
45
Peter Thelen<br />
Tradition geprägten Roma-Geme<strong>in</strong>schaften gilt – wie <strong>in</strong> vielen<br />
anderen traditionellen Gesellschaften - die Hauptloyalität der (Groß-<br />
)Familie. Dies und die räumliche Dispersion der Roma mit der<br />
Bildung e<strong>in</strong>er großen Zahl von Untergruppen im Laufe der<br />
Geschichte haben lange das Entstehen von Interessen<br />
vertretenden Organisationen verh<strong>in</strong>dert und erschweren noch heute<br />
die Schaffung von großen Verbänden mit Willensbildung auf der<br />
Basis des Mehrheitspr<strong>in</strong>zips. Dazu kam zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den ehemals<br />
kommunistischen Ländern, <strong>in</strong> denen freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung und<br />
unabhängige Organisationen kaum möglich waren, e<strong>in</strong><br />
Nachholbedarf, die neuen Me<strong>in</strong>ungs- und Assoziationsfreiheiten zu<br />
gebrauchen. Dies war <strong>in</strong> den Mehrheitsgesellschaften dieser<br />
Länder nicht anders. So explodierten z. B. die Zahlen der Parteien<br />
nach Jahrzehnten der E<strong>in</strong>parteienherrschaft nach dem<br />
Systemwechsel <strong>in</strong> vielen Ländern. Ebenso wie hier im Laufe der<br />
Zeit e<strong>in</strong>e Reduktion e<strong>in</strong>trat, ist damit zu rechnen, dass auch die Zahl<br />
der Roma-Organisationen wieder abnimmt und die effektivsten<br />
übrig bleiben.<br />
Für viele Nicht-Roma wäre es e<strong>in</strong>facher, wenn es jeweils nur e<strong>in</strong>e<br />
Roma-Organisation gäbe, wenn die Roma also mit e<strong>in</strong>er Stimme<br />
sprechen würden. Diese Vorstellung ist allerd<strong>in</strong>gs sowohl<br />
wirklichkeitsfremd als auch beunruhigend. Auch <strong>in</strong> den<br />
Mehrheitsgesellschaften gibt es aufgrund unterschiedlicher<br />
Interessen und weltanschaulicher Prägungen verschiedene<br />
Verbände und Parteien. Gerade diese Vielfalt gehört zum Wesen<br />
der Demokratie.<br />
Zum<strong>in</strong>dest die wichtigsten der existierenden Roma-Organisationen<br />
haben e<strong>in</strong>s geme<strong>in</strong>sam, nämlich dass sie die Interessen der Roma<br />
gegenüber der Mehrheit, die ihren kulturellen H<strong>in</strong>tergrund, ihre<br />
Strukturen und ihre Probleme kaum kennt, vertreten wollen. Bei der<br />
Frage der Interessenvertretung tauchte im Prozess der<br />
Organisationsentwicklung und der Programmformulierung die Frage<br />
auf, was die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft ist, deren Interessen vertreten<br />
werden sollen. Es gab und gibt e<strong>in</strong>e Reihe möglicher Antworten:<br />
Die Roma s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ethnische oder nationale M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> jedem<br />
Land, e<strong>in</strong>e transnationale M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa und/oder e<strong>in</strong>e<br />
Nation.<br />
Die Def<strong>in</strong>ition ist deshalb wichtig, weil aus ihr politische<br />
Folgerungen gezogen werden können. So hatte z. B. der Zentralrat<br />
Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma Vorbehalte gegenüber dem nationalen<br />
Ansatz und der Transnationalität. Solche Def<strong>in</strong>itionen könnten den<br />
<strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Staaten erreichten Status <strong>in</strong>frage stellen. Andere<br />
46
ROMA IN EUROPA<br />
befürchten, dass die Propagierung der Roma-Nation auf der e<strong>in</strong>en<br />
Seite zu e<strong>in</strong>em radikalen Nationalismus der Roma und auf der<br />
anderen Seite zur Verstärkung des Antiziganismus führen könnte,<br />
was zu dauerhaften gewaltsam ausgetragenen Konflikten beitragen<br />
könne. Auf diese Bedenken wird zurückzukommen se<strong>in</strong>. - Zudem<br />
gibt es gerade h<strong>in</strong>sichtlich der Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation noch<br />
e<strong>in</strong>ige Unklarheiten. Trotzdem führte die Diskussion bei der<br />
Mehrheit der <strong>in</strong>tellektuellen Vertreter der Roma zur Unterstützung<br />
der Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation.<br />
Es soll hier nicht über die Motive spekuliert werde, warum von der<br />
neuen Roma-Elite den Begriff der Nation <strong>in</strong> den vergangenen<br />
Jahren verstärkt propagiert wurde. Es ist aber hier schon erwähnt<br />
worden, dass sie die Def<strong>in</strong>ition der Roma als soziale (Rand-<br />
)Gruppe überw<strong>in</strong>den wollen und e<strong>in</strong>e Roma-Politik auf der<br />
Grundlage der politischen Partizipation anstreben. E<strong>in</strong>e<br />
naheliegende und legitime Absicht mag daher auch die Erhöhung<br />
der eigenen politischen Effektivität bei der Durchsetzung dieses<br />
Ziels gewesen se<strong>in</strong>. Unabhängig davon, ob man den Begriff Nation<br />
<strong>in</strong> diesem Kontext akzeptiert oder nicht, kann der Rückgriff auf ihn<br />
die politische Wirkung nach <strong>in</strong>nen und nach außen verstärken. Viele<br />
Politiker setzen das Nationalgefühl zur Erreichung ihrer Ziele e<strong>in</strong>.<br />
Dies geschieht auch <strong>in</strong> entwickelten Demokratien und unabhängig<br />
von der ideologischen Grundausrichtung, wenn auch <strong>in</strong><br />
unterschiedlicher Intensität. Es ist daher zu akzeptieren, dass der<br />
Rückgriff auf das Nationalgefühl legitim und wirkungsvoll ist. Man<br />
kann aber muss dabei nicht soweit gehen wie der liberale<br />
Theoretiker Isaiah Berl<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>er Aussage, dass "heute ke<strong>in</strong>e<br />
politische Bewegung Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie sich nicht mit<br />
dem Nationalgefühl verb<strong>in</strong>det". 70<br />
Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> dieser Frage s<strong>in</strong>d sich auch die beiden<br />
konkurrierenden <strong>in</strong>ternationalen Organisationen der Roma e<strong>in</strong>ig.<br />
Der Roma National Congress (RNC) drückt se<strong>in</strong> Bekenntnis zur<br />
Roma-Nation schon im Namen aus. Die International Romani Union<br />
(IRU) belebte die Debatte durch die im Jahre 2000 auf ihrem Prager<br />
Kongress verabschiedete Deklaration "We, the Roma Nation".<br />
Diese Erklärung wurde noch im gleichen Jahr Kofi Annan, dem<br />
Generalsekretär der UNO, bei der die IRU seit 1979 e<strong>in</strong>en Status<br />
("Roster") und seit 1993 den vollen konsultativen Status bei dem<br />
Economic and Social Council (ECOSOC) hat, übergeben.<br />
70 Berl<strong>in</strong>, I., Der Nationalismus, Frankfurt, 1990, S. 72<br />
47
Peter Thelen<br />
In der Erklärung heißt es: "We ask for be<strong>in</strong>g recognized as a<br />
Nation, for the sake of Roma and of non-Roma <strong>in</strong>dividuals, who<br />
share the need to deal with the nowadays new challenges." Die<br />
Frage ist, was damit geme<strong>in</strong>t ist, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e<br />
allgeme<strong>in</strong> akzeptierte Def<strong>in</strong>ition des Term<strong>in</strong>us Nation gibt es<br />
ebenso wenig wie des alternativen Begriffs nationale M<strong>in</strong>derheit.<br />
Der Begriff Nation hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er langen Geschichte oft se<strong>in</strong>e<br />
Bedeutung gewechselt, sodass heute e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologische<br />
Konfusion besteht. Im Mittelalter verstand man darunter vor allem<br />
die regionale Herkunft e<strong>in</strong>er Person, unabhängig von se<strong>in</strong>er<br />
Sprache oder von anderen Merkmalen. Heute ist dieser Begriff<br />
besonders im englischen und französischen Gebrauch häufig e<strong>in</strong><br />
Synonym für den Staat. So s<strong>in</strong>d die United Nations e<strong>in</strong>e<br />
Geme<strong>in</strong>schaft von Staaten und „<strong>in</strong>ternational relations“<br />
zwischenstaatliche Beziehungen.<br />
In der deutschen und <strong>in</strong> anderen Sprachen kann dagegen e<strong>in</strong> Staat<br />
Bürger verschiedener Nationen haben. Wenn, wie z. B. auf dem<br />
Balkan, die Loyalität der Bürger zu ihrer Nation größer ist als die zu<br />
dem Staat, <strong>in</strong> dem sie leben, besteht Instabilität, die zum Zerfall des<br />
Staates führen kann.<br />
E<strong>in</strong>e im wissenschaftlichen S<strong>in</strong>ne objektive Def<strong>in</strong>ition des Begriffs<br />
Nation gibt es nicht. Nation bestimmt sich vielmehr aus dem<br />
Selbstverständnis e<strong>in</strong>er großen Gruppe von Menschen. Dieses<br />
Selbstverständnis kann sich nach zwei unterschiedlichen Mustern<br />
bilden: 71 Nach dem seit der Französischen Revolution bestehenden<br />
Verständnis gehören zur Nation alle Menschen, die frei und<br />
selbstbestimmt an der Willensbildung e<strong>in</strong>es bestehenden oder noch<br />
zu schaffenden Staates teilhaben. Diese an den Staat gebundene<br />
Def<strong>in</strong>ition ist auf die Roma kaum anwendbar. Das andere<br />
Selbstverständnis von Nation kommt dagegen den Intentionen<br />
derjenigen, die die Roma als Nation sehen, näher. Dieses<br />
Selbstverständnis beruht auf dem politischen Bewusstse<strong>in</strong>, wegen<br />
bestimmter Geme<strong>in</strong>samkeiten e<strong>in</strong>e zusammengehörige Gruppe zu<br />
se<strong>in</strong>.<br />
Entscheidend ist also das Selbstverständnis. Objektive Kriterien, die<br />
sich an bestimmten Merkmalen der Menschen orientieren, s<strong>in</strong>d<br />
nicht möglich. Demnach spielen beweisbare Faktoren, wie sie z. B.<br />
71 Zur Def<strong>in</strong>ition von Nation vgl. Drechsel, H., u. a. (Hrsg.), Gesellschaft und Staat.<br />
Lexikon der Politik, 10. Aufl., München 2003, S. 663<br />
48
ROMA IN EUROPA<br />
Anthropologen durch genetische Analysen liefern können, ke<strong>in</strong>e<br />
Rolle. Vielmehr werden häufig Begriffe wie Gefühl, Überzeugungen<br />
und Werte herangezogen, um den Begriff Nation zu erklären. Schon<br />
wenn man davon ausgeht, dass die Grundbed<strong>in</strong>gung für die<br />
Existenz e<strong>in</strong>er Nation das Nationalbewusstse<strong>in</strong>, bzw. der Wille, e<strong>in</strong>e<br />
Nation zu bilden, ist, impliziert das, dass es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht auf<br />
die Me<strong>in</strong>ung Dritter sondern auf die Selbstdef<strong>in</strong>ition ankommt. Auf<br />
dieser Grundlage können dann allerd<strong>in</strong>gs Ansprüche nach außen<br />
gestellt werden. Der wichtigste Anspruch ist die Anerkennung durch<br />
Staaten und durch <strong>in</strong>ternationale Organisationen. Es war daher<br />
konsequent, dass sich die IRU zuerst an den Generalsekretär der<br />
UNO gewandt hat.<br />
Die subjektive Basis des von den Roma gebrauchten Begriffs<br />
Nation ist diesen durchaus bewusst. "Nichts als das Bewusstse<strong>in</strong>,<br />
e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, macht e<strong>in</strong>e Nation aus – sagen wir!" 72 Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus hat der Gebrauch dieses Begriffs hier auch e<strong>in</strong>en<br />
voluntaristischen Gehalt. Das Bewusstse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, bei<br />
den zerstreut lebenden Roma herzustellen, bleibt e<strong>in</strong>e Aufgabe,<br />
nicht zuletzt e<strong>in</strong>e organisatorische Aufgabe. Es geht darum, e<strong>in</strong>e<br />
"Willensnation" zu erreichen, also um e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, "die selbst noch<br />
Ziel der Bewegung ist". 73<br />
Obwohl die Diskussion <strong>in</strong> den letzten zwanzig Jahren um die<br />
"Erf<strong>in</strong>dung der Nation" als Ablehnung der Vorstellung der Nation als<br />
e<strong>in</strong>es objektiv gegebenen Faktums meistens <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem<br />
Nationalstaat geführt wurde, lässt sich der Begriff Nation als<br />
"imag<strong>in</strong>ed community" auch auf den Gebrauch für die Roma<br />
anwenden. Die Nation kann demnach als e<strong>in</strong> gesellschaftliches<br />
Konstrukt angesehen werden: "Nation ist, was sich als Nation<br />
versteht: So lässt sich die Radikaldef<strong>in</strong>ition von Nation als e<strong>in</strong>er<br />
Selbstschöpfung, als Erf<strong>in</strong>dung ihrer selbst, scharf po<strong>in</strong>tiert<br />
umschreiben" 74<br />
Zusammenfassend soll hier e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und auf die Roma<br />
anwendbare Def<strong>in</strong>ition verwendet werden: Nation ist e<strong>in</strong>e große<br />
Gruppe von Menschen, die aufgrund ihres Bewusstse<strong>in</strong>s, das aus<br />
geme<strong>in</strong>samer Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte<br />
72 Djuric, R., Me<strong>in</strong> Volk, Roma & S<strong>in</strong>ti, wir brauchen die Solidarität, Interview mit R.<br />
Jaroschek, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 96<br />
73 Ebd., S. 96<br />
74 Langewiesche, D., Was heißt "Erf<strong>in</strong>dung der Nation"?, <strong>in</strong>: Beer, M. (Hrsg.), Auf dem<br />
Weg zum ethnisch re<strong>in</strong>en Nationalstaat?, Tüb<strong>in</strong>gen, 2004, S. 21<br />
49
Peter Thelen<br />
entstanden ist, e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft ist und e<strong>in</strong>e Nation se<strong>in</strong> will, um<br />
ihrem politischen Willen Geltung zu verschaffen. Der häufig, aber<br />
nicht immer, hergestellte Bezug zu e<strong>in</strong>em Territorium ist nicht<br />
conditio s<strong>in</strong>e qua non.<br />
Dass die Roma e<strong>in</strong>e große Gruppe von Menschen s<strong>in</strong>d und dass es<br />
<strong>in</strong> Europa mehr Roma gibt, als e<strong>in</strong>e Reihe von Staaten an<br />
E<strong>in</strong>wohnern haben, wurde schon an anderer Stelle erwähnt. - Wie<br />
oben auch erläutert wurde, leben die Roma seit vielen<br />
Jahrhunderten <strong>in</strong> Europa. Trotzdem identifizieren sie sich <strong>in</strong> weit<br />
überwiegender Mehrheit noch heute selbst als Roma, bzw. werden<br />
von außen der Gruppe der Roma zugerechnet. Zu dieser Selbst-<br />
und Fremdidentifikation als Gruppe hat sicher auch die fehlende<br />
Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaften mit ihrem tief verwurzelten<br />
Antiziganismus beigetragen. Entscheidend ist im Zusammenhang<br />
mit der Nation allerd<strong>in</strong>gs nur die Selbstidentifikation.<br />
Die Faktoren, auf die sich das Selbstverständnis, e<strong>in</strong>e Nation zu<br />
se<strong>in</strong>, stützt, werden häufig als objektive Kriterien angesehen. Auch<br />
wenn man dieser Ansicht folgt, bleibt das Bewusstse<strong>in</strong> das<br />
konstitutive Element der Nation. Sprache, Kultur, Religion und<br />
Geschichte können dieses Selbstverständnis nur stützen.<br />
Von diesen stützenden Elementen dürfte bei den Roma die Religion<br />
kaum noch e<strong>in</strong>e Rolle spielen, da sie ihre ursprüngliche, aus der<br />
nord<strong>in</strong>dischen Heimat mitgebrachte Religion weit gehend verloren<br />
und meistens die Religion der Mehrheitsbevölkerung ihrer<br />
Umgebung angenommen haben. In von der Tradition noch stark<br />
geprägten Geme<strong>in</strong>schaften mag auch die erhaltene Kultur e<strong>in</strong>e<br />
Rolle spielen. Wichtiger sche<strong>in</strong>t aber im Falle der Roma die<br />
Sprache und die Geschichte zu se<strong>in</strong>.<br />
Zwar haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern, wie z. B. <strong>in</strong> Ungarn, viele Roma<br />
ihre Sprache verloren. Außerdem hat sich die Romani Sprache<br />
durch die räumliche Trennung und den E<strong>in</strong>fluss der Sprachen der<br />
Mehrheitsbevölkerung der Länder, <strong>in</strong> denen sie lange leben oder<br />
lebten, differenziert. Dennoch können die meisten Roma überall auf<br />
der Welt <strong>in</strong> ihrer Sprache untere<strong>in</strong>ander kommunizieren. 75<br />
Die geme<strong>in</strong>same Geschichte spielt bei den Roma ebenfalls e<strong>in</strong>e<br />
wichtige Identität stiftende Rolle. Es ist das Wissen um e<strong>in</strong>e<br />
geme<strong>in</strong>same Herkunft aber auch die Erfahrung des Antiziganismus,<br />
75 S. dazu den Beitrag von Marcel Courthiade <strong>in</strong> diesem Band.<br />
50
ROMA IN EUROPA<br />
der zu Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und nicht zuletzt zum<br />
Holocaust durch Deutsche und deren Verbündete <strong>in</strong> großen Teilen<br />
Europas führte. Verfolgung stärkt das Bewusstse<strong>in</strong> der eigenen<br />
Identität, auch durch die Schaffung von Abwehrmechanismen<br />
gegen die Kultur der Verfolger. "Be<strong>in</strong>g a m<strong>in</strong>ority everywhere, they<br />
share a similarly imposed identity characterized by political and<br />
social marg<strong>in</strong>alization and stigmatization." 76<br />
Entscheidend bei der Def<strong>in</strong>ition der Nation ist also das <strong>in</strong> der<br />
Gruppe vorhandene Bewusstse<strong>in</strong> und der Wille, e<strong>in</strong>e Nation zu<br />
bilden. Schon bei Max Weber ist die Nation nicht identisch mit dem<br />
Staatsvolk. Nach ihm basiert der Begriff auf dem Bewusstse<strong>in</strong> für<br />
e<strong>in</strong>e kulturelle Mission aufgrund e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen Erbes. Es s<strong>in</strong>d<br />
dabei die Intellektuellen, die am ehesten Zugang zu diesen<br />
kulturellen Werten haben und die daher als prädest<strong>in</strong>iert<br />
ersche<strong>in</strong>en, die nationale Idee zu propagieren. Diese Beschreibung<br />
hat sich auch heute noch als aktuell erwiesen. Nach dem<br />
Systemwechsel waren es <strong>in</strong> vielen Staaten die Intellektuellen, die<br />
zuerst die nationalen Werte oder <strong>in</strong> überzogener Form die nationale<br />
Überlegenheit ihrer Nation auf die Tagesordnung setzten.<br />
Unglücklicherweise wurden auf dem Balkan und anderswo die<br />
territorialen Bezüge hergestellt und Ansprüche auf e<strong>in</strong>en eigenen<br />
Nationalstaat gestellt. Die daraus entstandenen Spannungen, die<br />
teilweise zu Gewaltakten und Kriegen führten, dauern bis heute an.<br />
Aus der hier zugrunde gelegten Def<strong>in</strong>ition geht auch die politische<br />
Qualität des Begriffs Nation hervor. In der Regel mündet das<br />
nationale Selbstverständnis <strong>in</strong> dem Ziel, e<strong>in</strong>en eigenen<br />
Nationalstaat zu haben. Dieses Ziel ist die Basis des Nationalismus.<br />
Die Roma wollen zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihrer Mehrheit und heute diesen<br />
Weg nicht gehen. Die IRU-Deklaration spricht ausdrücklich von den<br />
Roma als Nation, „which does not want to become a State". –<br />
Während im Prozess der Globalisierung die Macht der Staaten<br />
auch gegen den Willen der Regierenden abnimmt und im Prozess<br />
der europäischen Integration e<strong>in</strong>zelstaatliche Kompetenzen<br />
willentlich auf die europäische Ebene verlagert werden, die<br />
Bedeutung von Staaten und Grenzen also abnimmt, haben die<br />
Roma zum<strong>in</strong>dest mit dem Konzept der Nation ohne Staat schon<br />
e<strong>in</strong>e höhere Ebene erreicht. Insofern können sie als das<br />
europäischste Volk betrachtet werden. Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der IRU-<br />
Deklaration wird dies so gesehen: "We have never looked for<br />
76 Mirga, A., Gheorghe, N., a.a.O., S. 6<br />
51
Peter Thelen<br />
creat<strong>in</strong>g a Roma State. And we do not want a State today, when the<br />
new society and the new economy are concretely and progressively<br />
cross<strong>in</strong>g-over the importance and the adequacy of the State as the<br />
way how <strong>in</strong>dividuals organize themselves." – Die Roma wollen also<br />
als Nation anerkannt werden, wobei das politische Element nicht <strong>in</strong><br />
der Gründung e<strong>in</strong>es Roma-Staates sondern dar<strong>in</strong> besteht, mehr<br />
E<strong>in</strong>fluss auf die Lösung der eigenen Probleme zu haben. Es geht<br />
also um politische Partizipation.<br />
Die üblicherweise hergestellte Verb<strong>in</strong>dung der Nation mit dem<br />
Willen, die Macht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em souveränen Nationalstaat auszuüben, ist<br />
<strong>in</strong> der europäischen Geschichte bis <strong>in</strong> die heutige Zeit häufig die<br />
Ursache von Kriegen und anderen gewaltsamen<br />
Ause<strong>in</strong>andersetzungen gewesen. Um diese Gefahr zu verr<strong>in</strong>gern,<br />
gab es schon früher Vorschläge zur Entkoppelung der Nation vom<br />
Territorium. Die beiden großen Theoretiker der österreichischen<br />
Sozialdemokratie, Otto Bauer und Karl Renner, beschäftigten sich<br />
damit. Schon 1918 schlug Renner vor, „die Nationen als<br />
Personalverbände statt als Gebietsherrschaft zu erfassen.“ 77 Das<br />
Nationalgefühl sollte so vom Besitz e<strong>in</strong>es Territoriums getrennt<br />
werden. Über die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er Nation konnte dabei nur<br />
der E<strong>in</strong>zelne entscheiden. Die nationalen Interessen der Individuen<br />
sollten von autonomen Organisationen vertreten werden. 78 In der<br />
Debatte um die Roma als Nation ohne Staat wurden auch die<br />
Konzepte von Bauer und Renner wieder aufgenommen. 79<br />
Die Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation ohne Staat knüpft aber - wie aus<br />
dem obigen Zitat aus der IRU-Deklaration hervorgeht – auch an die<br />
von der Globalisierung ausgelösten Entwicklungen an. Da viele<br />
Probleme nicht mehr im Rahmen gegebener Grenzen gelöst<br />
werden können, nimmt die Macht der Regierungen von<br />
E<strong>in</strong>zelstaaten ab. Neue Akteure betreten die politische Bühne. Dazu<br />
gehören supranationale Regierungsorganisationen und immer mehr<br />
grenzüberschreitend organisierte und weltweit agierende Nicht-<br />
Regierungsorganisationen (NGOs). „Es ereignet sich gegenwärtig<br />
77<br />
Renner, K., Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1.Teil: Nation und Staat,<br />
Leipzig, Wien, 1918, S. 75<br />
78<br />
Vgl. Renner, K., a.a.O., S. 111 – Die Ideen Renners s<strong>in</strong>d vor dem H<strong>in</strong>tergrund der<br />
Habsburger Vielvölkermonarchie zu sehen. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionellen Vorschläge<br />
beziehen sich daher <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nerstaatliche Ordnung, lassen sich aber<br />
partiell auch auf die europäische Ebene übertragen. Zum „Personalitätspr<strong>in</strong>zip“ bei<br />
Rennner s. a. Hanf, T., Konfliktm<strong>in</strong>derung durch Kulturautonomie. Karl Renners<br />
Beitrag zur Frage der Konfliktregelung <strong>in</strong> multi-ethnischen Staaten, <strong>in</strong>: Fröschl, E.,<br />
u. a. (Hrsg.), Staat und Nation <strong>in</strong> multi-ethnischen Gesellschaften, Wien, 1991, 64ff<br />
79<br />
S. dazu Klimanova-Alexander, I., a.a.O., S. 24<br />
52
ROMA IN EUROPA<br />
e<strong>in</strong>e schöpferische Selbstzerstörung der von Nationalstaaten<br />
dom<strong>in</strong>ierten ‚legitimen’ Weltordnung.“ 80 Die Grundlage dieser<br />
Ordnung war bisher e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Legitimität, die aus der<br />
nationalstaatlichen Legitimität abgeleitet ist. „Dieser<br />
methodologische Nationalismus setzt den Nationalstaat als<br />
Legitimationsquelle supranationaler Normen und Organisationen als<br />
konstant und absolut voraus. 81 Dagegen wird von vielen e<strong>in</strong><br />
Paradigmenwechsel der Legitimität gefordert: Die Ausübung von<br />
Macht soll - auch gegen e<strong>in</strong>zelne Staaten – durch die universellen<br />
Menschenrechte begründet werden.<br />
Da sowohl die reale Macht von E<strong>in</strong>zelstaaten durch die<br />
Entgrenzung der zu lösenden Probleme abgenommen hat als auch<br />
die alle<strong>in</strong>ige Legitimität e<strong>in</strong>zelstaatlichen Handelns <strong>in</strong>frage gestellt<br />
werden kann, liegt die mögliche Lösung <strong>in</strong> der Entgrenzung der<br />
Politik. Die Staaten verzichten im eigenen Interesse auf Autonomie,<br />
um auf e<strong>in</strong>er anderen Ebene die Souveränität zur Lösung ihrer<br />
Probleme zurückzugew<strong>in</strong>nen. Dies bedeutet sowohl<br />
Machtverlagerung auf <strong>in</strong>tergouvernementale Ebenen als auch die<br />
E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung transnationaler Netzwerke, zu denen auch die großen<br />
NGOs gehören.<br />
Diejenigen, die das Konzept der Roma als Nation ohne Staat<br />
vertreten, können sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit der Entgrenzung der Politik und<br />
der Kosmopolitisierung von Staaten 82 durchaus als im Trend<br />
liegend ansehen. Außerdem ist der kosmopolitische Staat „auf dem<br />
Pr<strong>in</strong>zip der nationalen Indifferenz gegründet“. Er garantiert durch<br />
die Trennung von Staat und Nation das „Nebene<strong>in</strong>ander der<br />
nationalen Identitäten durch das Pr<strong>in</strong>zip der konstitutionellen<br />
Toleranz“. 83 Der Staat, der den Herausforderungen aus der<br />
Globalisierung gewachsen ist, könnte auch als Staat ohne Nation,<br />
d. h. ohne e<strong>in</strong>e bestimmte, se<strong>in</strong>e Legitimität begründende Nation,<br />
angesehen werden. Dies wäre dann die Kehrseite der Nation ohne<br />
Staat. Aus beiden Konzepten kann auf die Eigenverantwortung,<br />
zum<strong>in</strong>dest aber auf die Notwendigkeit der Partizipation der Nation<br />
für ihre eigenen Angelegenheiten geschlossen werden, e<strong>in</strong><br />
Anliegen, das sicher e<strong>in</strong> starker Impuls derjenigen war und ist, die<br />
das Konzept der Roma als Nation vertreten.<br />
80<br />
Beck, U., Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M., 2002, S. 14<br />
81<br />
Ebd., S. 41<br />
82<br />
Ebd., S. 322<br />
83<br />
Ebd., 152f – Nach I. Klimova-Alexander bezieht sich e<strong>in</strong>er der Autoren der IRU-<br />
Deklaration, Paolo Pietrosanti, ausdrücklich auf U. Beck. Vgl. Klimova-Alexanser, I.,<br />
a.a.O., S. 26<br />
53
Peter Thelen<br />
Nach der oben verwendeten Def<strong>in</strong>ition des Begriffs Nation haben<br />
die Roma durchaus das Recht, sich als Nation zu bezeichnen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs muss die Inanspruchnahme dieses Rechtes als e<strong>in</strong><br />
Prozess gesehen werden. Schon Renan hat vor 120 Jahren von<br />
e<strong>in</strong>er dynamischen Def<strong>in</strong>ition der Nation gesprochen, von der<br />
Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft.<br />
Die Nation ist danach ke<strong>in</strong> gegebener Zustand sondern das<br />
Ergebnis e<strong>in</strong>es Prozesses von Solidaritätsbildung. "L'existence<br />
d'une nation est un plébiscite de tous les jours." Jede Nation lebe<br />
aus dem "geme<strong>in</strong>samen Besitz e<strong>in</strong>es reichen Erbes an<br />
Er<strong>in</strong>nerungen" und aus dem Wunsch, dieses Erbe anzunehmen. 84<br />
Diesen e<strong>in</strong>geleiteten Prozess zu vollenden, ist Aufgabe der neuen<br />
Roma-Politiker. Dabei kommt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em demokratischen Europa<br />
<strong>in</strong>sbesondere auf die demokratische Legitimation derer an, die für<br />
die Roma sprechen. Es ist damit zu rechnen, dass gerade die<br />
Diskussion um Roma als Nation sowie die daraus folgende<br />
Repräsentanz der Roma <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Institutionen den<br />
Prozess zur Entwicklung demokratisch strukturierter Organisationen<br />
e<strong>in</strong>leitet bzw. beschleunigt.<br />
Wie schon oben erwähnt wurde, ist die <strong>in</strong>ternationale und nicht<br />
zuletzt die europäische Ebene für die Roma von besonderer<br />
Bedeutung, da die Roma ke<strong>in</strong> Mutterland haben, das sich für ihre<br />
Interessen e<strong>in</strong>setzt. Der Anspruch, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, zielt daher<br />
vor allem auf die Anerkennung und die damit verbundene<br />
Repräsentanz <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen und europäischen Institutionen.<br />
Dazu zählt e<strong>in</strong> Sitz <strong>in</strong> der UNO, gewählte Mitglieder im<br />
Europäischen Parlament und <strong>in</strong> der Parlamentarischen<br />
Versammlung des Europarates. Dadurch können die Roma<br />
erreichen, dass sie vom Objekt zum Subjekt der Politik werden.<br />
Diese Vorgehensweise wird von e<strong>in</strong>igen Seiten kritisiert. Es wird<br />
darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die Internationalisierung, vor allem aber<br />
die Europäisierung der Roma-Politik, die Gefahr oder bei e<strong>in</strong>igen<br />
auch die Absicht <strong>in</strong> sich birgt, dass die nationale Verantwortung für<br />
die Verbesserung der Situation der Roma von den e<strong>in</strong>zelnen<br />
Regierungen auf die höhere Ebene abgeschoben wird. 85 Diese<br />
84<br />
Renans Rede "Qu' est-ce qu' une Nation?" erschienen 1882 <strong>in</strong> Paris. Zit. nach<br />
Langewiesche, D., a.a.O., S. 27<br />
85<br />
Dieser Verdacht tauchte konkret gegen die tschechische Regierung auf, die die<br />
Internationalisierung der Roma-Frage unterstützte und gleichzeitig e<strong>in</strong><br />
Staatsbürgerschaftsrecht e<strong>in</strong>führte, durch das Tausende von Roma staatenlos<br />
54
ROMA IN EUROPA<br />
Motivation mag durchaus bei e<strong>in</strong>igen Nicht-Roma vorhanden se<strong>in</strong>.<br />
Sie ist auch nachvollziehbar angesichts der Diskrepanz zwischen<br />
zu lösenden Problemen und vorhandenen F<strong>in</strong>anzmitteln der<br />
Länder, die noch mit den Nachwirkungen des Systemwechsels zu<br />
kämpfen haben. Die Gefahr, dass die Flucht aus der Verantwortung<br />
gel<strong>in</strong>gt, dürfte allerd<strong>in</strong>gs ger<strong>in</strong>g se<strong>in</strong>. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere vor dem<br />
H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft der Staaten, <strong>in</strong> denen die meisten<br />
Roma leben, <strong>in</strong> der EU. Die Beitrittsbed<strong>in</strong>gungen, die die EU 1993<br />
<strong>in</strong> den "Kopenhagener Kriterien" festgelegt hat, halten die<br />
e<strong>in</strong>zelstaatlichen Verpflichtungen gegenüber den M<strong>in</strong>derheiten<br />
ausdrücklich fest. Auf der Grundlage dieser Kriterien wurde für die<br />
Beitrittsländer jährlich e<strong>in</strong> Bericht von der EU-Kommission erstellt,<br />
der auch auf die Situation der Roma und die Bemühungen der<br />
Regierungen zur Verbesserung dieser Situation e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g. - Das<br />
Argument, dass die Europäisierung der Roma-Politik die<br />
E<strong>in</strong>zelstaaten aus der Verantwortung entlässt, kann <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />
Gegenteil verkehrt werden: Gerade e<strong>in</strong>e effektive Präsenz der<br />
Roma auf europäischer und <strong>in</strong>ternationaler Ebene würde den Roma<br />
die Möglichkeit eröffnen, vernehmlicher auf nationale Versäumnisse<br />
h<strong>in</strong>zuweisen und ggf. Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.<br />
Die Frage, auf welcher Ebene die Verantwortung für die E<strong>in</strong>lösung<br />
der Rechte der Roma liegt, muss nicht mit e<strong>in</strong>em Entweder-Oder<br />
beantwortet werden. Die Antwortung kann auch se<strong>in</strong>, dass diese<br />
Verantwortung sowohl auf der staatlichen (und lokalen) als auch auf<br />
der europäischen (und <strong>in</strong>ternationalen) Ebene liegt.<br />
E<strong>in</strong>e weitere, oben schon erwähnte Kritik an dem Konzept weist auf<br />
die Gefahr des Entstehens e<strong>in</strong>es radikalen Nationalismus h<strong>in</strong>. Diese<br />
Kritik wird auch von e<strong>in</strong>igen Roma geteilt. Sie po<strong>in</strong>tierte der<br />
ungarische Roma Aladar Horvath <strong>in</strong> der Diskussion um die<br />
Halonen-Initiative, auf die noch e<strong>in</strong>gegangen wird: „Indem der<br />
Europarat die europäischen Zigeuner auf Rassenbasis def<strong>in</strong>iert,<br />
schafft er e<strong>in</strong>deutig Nationalismus. Die Benachteiligungen s<strong>in</strong>d aber<br />
nicht im Mangel an Nationalismus zu suchen, sondern <strong>in</strong> der nicht<br />
erfolgten Verwirklichung der Chancengleichheit und dar<strong>in</strong>, dass<br />
auch die Roma geme<strong>in</strong>sam mit ihren vielen Millionen Menschen<br />
ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf die mächtigen politischen und wirtschaftlichen<br />
Interessen haben, mit denen sie um soziale und materielle Güter<br />
konkurrieren. Diese Nationalismus-Schaffung verh<strong>in</strong>dert bestenfalls<br />
die Solidarität mit Nicht-Zigeunern, kann aber auch zu ernster<br />
wurden. S. dazu Project on Ethnic Relations, Leadership, Representation and Status<br />
of the Roma, Pr<strong>in</strong>ceton, New Jersey, 2001, S. 36<br />
55
Peter Thelen<br />
sozialer Isolation und Instabilität sowie zu aggressiven politischen<br />
Konflikten führen." 86<br />
Es ist schon erwähnt worden, dass die Nation auf der Grundlage<br />
e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls, das als Nationalbewusstse<strong>in</strong><br />
bezeichnet werden kann, entsteht. Dieses Gefühl ist bei den Roma<br />
teilweise vorhanden, teilweise wollen die Vertreter dieses<br />
Konzeptes dieses Gefühl für die politische Bedeutung der Roma bei<br />
den Roma erst schaffen. Es ist also e<strong>in</strong> Prozess <strong>in</strong> Gang gesetzt<br />
worden, der <strong>in</strong> anderen Nationen im 19. Jahrhundert begonnen<br />
hatte. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Gefühl, e<strong>in</strong>er Nation<br />
anzugehören, leicht <strong>in</strong> das Gefühl umschlagen kann, dass diese<br />
Nation wertvoller ist als andere und dass ihre Interessen mit allen<br />
Mitteln, auch gewaltsamen, zu vertreten s<strong>in</strong>d.<br />
Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ist e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Quelle des radikalen Nationalismus. Dies verdeutlicht nicht zuletzt<br />
die Entwicklung der Paläst<strong>in</strong>enser und die Intifada. Auch die<br />
deutsche Geschichte <strong>in</strong> der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts<br />
kann als Beispiel dazu herangezogen werden. Dieser<br />
Nationalismus ist deshalb so gefährlich, weil er als Instrument der<br />
Mobilisierung und Radikalisierung der Massen e<strong>in</strong>gesetzt werden<br />
kann. Nach Isaiah Berl<strong>in</strong> ist er das Produkt e<strong>in</strong>er Wunde, die dem<br />
Stolz e<strong>in</strong>er Nation zugefügt wird. Führt die Propagierung der Roma-<br />
Nation also ebenfalls zu e<strong>in</strong>em gefährlichen Nationalismus?<br />
Kann man bei der Def<strong>in</strong>ition des Begriffs Nation noch ohne den<br />
Bezug zu e<strong>in</strong>em Territorium auskommen, geht dies kaum noch bei<br />
dem Begriff Nationalismus. "Jeder Nationalismus erstrebt e<strong>in</strong>en<br />
Nationalstaat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Territorium. Konkurrierende<br />
Ansprüche auf e<strong>in</strong> Gebiet s<strong>in</strong>d bislang selten friedlich gelöst<br />
worden." 87 Natürlich gibt es auch bei den Roma Stimmen, die e<strong>in</strong>en<br />
eigenen Nationalstaat (Romanestan 88 ) fordern. Besonders <strong>in</strong> den<br />
20-er und 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts und wiederbelebt<br />
<strong>in</strong> den 60-er Jahren <strong>in</strong> Frankreich hat dies – bee<strong>in</strong>flusst durch das<br />
Beispiel des Zionismus e<strong>in</strong>e Rolle gespielt. Die Anhänger e<strong>in</strong>es<br />
Staates der Roma s<strong>in</strong>d aber heute nur e<strong>in</strong>e sehr kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit<br />
86 Vgl. Thelen, P., Schritte zu e<strong>in</strong>er europäischen Roma-Politik,<br />
www.fes.de/<strong>in</strong>dex<strong>in</strong>foonl<strong>in</strong>e.html<br />
87 Langewiesche, D., Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen<br />
Partizipation und Aggression, S. 16 (Electr. ed.: Bonn: FES Library, 1999)<br />
88 S. dazu die Vorschläge und Initiativen aus der Familie Kwiek, u. a. bei Hancock, I.,<br />
a.a.O., S. 116ff -Marushiakova, E., Popov, V., The Roma – a Nation Without a<br />
State?, a.a.O.<br />
56
ROMA IN EUROPA<br />
und werden es bleiben, wenn die hier beschriebene Entwicklung zu<br />
Erfolgen führt.<br />
Initiatoren nationalistischer Ideologien waren – auch zuletzt auf dem<br />
Balkan – Intellektuelle. Bisher gibt es bei den Roma nur wenige<br />
Intellektuelle. Da es aber weitgehender Konsens ist, dass die<br />
Benachteiligung der Roma nur überwunden werden kann, wenn die<br />
Chancengleichheit der Roma <strong>in</strong> der Ausbildung auf allen Ebenen –<br />
also vom K<strong>in</strong>dergarten bis zur Universität – erreicht wird, muss e<strong>in</strong>e<br />
konsequente Bildungspolitik für die Roma realisiert werden. Wenn<br />
diese Politik den gewünschten Erfolg haben sollte, wird die Zahl der<br />
Intellektuellen auch bei den Roma merklich erhöht werden. Bei<br />
gleichzeitigem Fortbestehen der Marg<strong>in</strong>alisierung der Mehrheit der<br />
Roma besteht dann die Gefahr, dass diese Intellektuellen sich<br />
radikalisieren und e<strong>in</strong>e Basis <strong>in</strong> der extrem benachteiligten Roma-<br />
Bevölkerung f<strong>in</strong>den.<br />
Dieser Prozess kann durch die Propagierung der Roma-Nation<br />
verstärkt werden. Die Anerkennung der Roma als Nation <strong>in</strong> Europa<br />
und die daraus folgende Repräsentation der Roma auf den<br />
politischen Entscheidungsebenen sowie die Schaffung e<strong>in</strong>er<br />
demokratischen Legitimation der Repräsentanten kann aber auch<br />
die Voraussetzung dafür se<strong>in</strong>, dass die Entwicklung zu e<strong>in</strong>em<br />
radikalen Nationalismus nicht e<strong>in</strong>setzt. Neben den schlechten<br />
Lebensverhältnissen der Mehrheit der Roma ist gerade das Gefühl<br />
der nicht ausreichenden Anerkennung e<strong>in</strong> Faktor, der den<br />
Nationalismus hervorbr<strong>in</strong>gen und verstärken kann. Die Gefahr e<strong>in</strong>es<br />
Abrutschens <strong>in</strong> den Nationalismus kann demnach verr<strong>in</strong>gert<br />
werden, wenn die Situation der Roma verbessert wird und wenn<br />
ihnen das Gefühl gegeben wird, dass sie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Europa akzeptierte<br />
Gruppe s<strong>in</strong>d. Bed<strong>in</strong>gung für e<strong>in</strong>e positive Entwicklung ist dann<br />
aber auch, dass die Mitentscheidung der Roma merkbar ist und<br />
dass Fortschritte für die Mehrheit der Roma spürbar werden.<br />
Insofern erzw<strong>in</strong>gt der <strong>in</strong> Gang gesetzte Prozess die Anerkennung<br />
der Roma als Nation, zum<strong>in</strong>dest aber die effektive und legitimierte<br />
Partizipation der Roma an den sie betreffenden<br />
Entscheidungsprozessen.<br />
Ähnlich wie oben bei der Frage nach der e<strong>in</strong>zelstaatlichen oder<br />
<strong>in</strong>ternationalen Verantwortung für die Roma-Politik kann bei der<br />
Beantwortung der Frage, was die Roma s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit oder<br />
e<strong>in</strong>e Nation, vorgegangen werden. Auch hier sollte man nicht von<br />
sich ausschließenden Antworten ausgehen. Die Roma können<br />
57
Peter Thelen<br />
58<br />
- auf der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Ebene durchaus als nationale<br />
oder ethnische M<strong>in</strong>derheit def<strong>in</strong>iert werden, auch wenn sie<br />
- auf der europäischen und der <strong>in</strong>ternationalen Ebene als<br />
Nation anerkannt werden.<br />
Sie verlieren dadurch ke<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>zelstaatlicher Ebene erworbenen<br />
Rechte. Auch Nationen mit e<strong>in</strong>em Nationalstaat können gleichzeitig<br />
M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> verschiedenen Staaten haben. Bei den Roma ist<br />
der nach Ebenen unterschiedliche Status per se unproblematisch,<br />
da irredentistische Folgerungen, die schon bei e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen<br />
Unterscheidung der Begriffe Nation und Staat ke<strong>in</strong>e Basis haben,<br />
wegen des Fehlens des Mutterlandes unmöglich s<strong>in</strong>d.<br />
Solche nach Ebenen unterschiedlichen Def<strong>in</strong>itionen s<strong>in</strong>d<br />
ke<strong>in</strong>eswegs ungewöhnlich. Sie passen vielmehr zu den multiplen<br />
Identitäten der Gegenwart. Die Identitätskonstruktion, die ohne e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Abgrenzung des Eigenen zum Anderen nicht denkbar ist,<br />
richtet sich am jeweils <strong>in</strong>frage stehenden Betrachtungsfeld aus. So<br />
kann z. B. der Angehörige e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit sich<br />
sprachlich und kulturell mit der Mutternation identifizieren und<br />
trotzdem gleichzeitig e<strong>in</strong> Patriot <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Heimatland se<strong>in</strong>. Er hat<br />
<strong>in</strong> horizontaler H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e doppelte Identität. E<strong>in</strong> Bürger kann sich<br />
unter verschiedenen Aspekten auch vertikal unterschiedlich<br />
def<strong>in</strong>ieren. Er kann gleichzeitig Lokal- oder Regionalpatriot se<strong>in</strong>,<br />
sich se<strong>in</strong>er Nation verbunden fühlen und überzeugter Europäer und<br />
Weltbürger se<strong>in</strong>. Die jeweilige Def<strong>in</strong>ition richtet sich nach den<br />
Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Diese können je<br />
nach Anliegen auf der lokalen, regionalen, e<strong>in</strong>zelstaatlichen,<br />
europäischen und der globalen Ebene liegen. Die politische Welt<br />
entwickelt sich <strong>in</strong> zunehmendem Maße zu e<strong>in</strong>em "Mehrebenen-<br />
Geme<strong>in</strong>wesen", <strong>in</strong> dem "die Differenzierung der politischen Identität<br />
zunimmt". 89<br />
Häufig wird gesagt, dass die Roma die ersten wirklichen Europäer<br />
seien. Sie leben - wenn auch <strong>in</strong> unterschiedlicher Stärke - <strong>in</strong> allen<br />
europäischen Ländern und sie verständigen sich - von Ausnahmen<br />
abgesehen - <strong>in</strong> ihrer Sprache. Daraus entwickelten Vertreter der<br />
Roma den Vorschlag, im Rahmen der fortschreitenden<br />
europäischen Integration e<strong>in</strong>e unmittelbare europäische (Staats-<br />
)Bürgerschaft zu schaffen, die auch auf die Roma angewendet<br />
werden könnte: "While a French <strong>in</strong>dividual is French by nationality<br />
and citizenship, a Romani <strong>in</strong>dividual liv<strong>in</strong>g anywhere <strong>in</strong> Europe is<br />
89 S. dazu Meyer, T., Die Identität Europas, Frankfurt, 2004, S. 72
ROMA IN EUROPA<br />
Romani by nationality and Spanish, Hungarian, Italian or whatever<br />
else, by citizenship. The citizenship that would better fit a Roma is<br />
the European one." 90 E<strong>in</strong>e Unionsbürgerschaft gibt es auch im<br />
aktuellen Entwurf e<strong>in</strong>er Verfassung für Europa. "Unionsbürger<strong>in</strong><br />
oder Bürger ist, wer die Staatsangehörigkeit e<strong>in</strong>es Mitgliedstaates<br />
besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen<br />
Staatsbürgerschaft h<strong>in</strong>zu, ohne diese zu ersetzen." Der hier zitierte<br />
Vorschlag von Pietrosanti und Scuka geht allerd<strong>in</strong>gs über den<br />
Verfassungsentwurf h<strong>in</strong>aus. Geme<strong>in</strong>t ist e<strong>in</strong>e unmittelbare<br />
europäische Bürgerschaft.<br />
7. Politische Partizipation<br />
Aus den oben gemachten Ausführungen zur Geschichte der Roma<br />
geht hervor, dass die Roma <strong>in</strong> Europa weniger als andere Völker<br />
die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen ihres Lebens selbst bestimmen konnten.<br />
Sie waren Objekte der Politik, und zwar Objekte, die es <strong>in</strong> der Regel<br />
zu entfernen galt. Die Entfernung konnte physisch erzielt werden,<br />
<strong>in</strong>dem zu den Instrumenten der Vertreibung, der Sterilisierung oder<br />
der Ermordung gegriffen wurde. Aber auch die Assimilierungspolitik<br />
hatte zum Ziel, die Roma als Gruppe dauerhaft zu elim<strong>in</strong>ieren.<br />
Roma s<strong>in</strong>d bis <strong>in</strong> die Gegenwart Objekte derartiger<br />
Handlungsweisen gewesen, sei es im Rahmen aktiven Handelns<br />
oder sei es durch Passivität oder unzureichende<br />
Gegenmaßnahmen der politisch Verantwortlichen. Die Politiker<br />
konnten sich bei diesen Handlungen oder Unterlassungen der<br />
Zustimmung der Mehrheit ihrer Untertanen bzw. später ihrer Wähler<br />
bewusst se<strong>in</strong>. Sie konnten sich dabei auch auf die Zuarbeit von<br />
Wissenschaftlern und sog. Experten stützen. So arbeitete im<br />
nationalsozialistischen Deutschland die „rassehygienische und<br />
krim<strong>in</strong>albiologische Forschungsstelle“ mit Himmlers „Reichszentrale<br />
zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zusammen und lieferte<br />
die ideologische Grundlage für den Völkermord an den<br />
europäischen Roma. Aber auch später konnte sich die Politik gegen<br />
Roma auf wissenschaftliche Zuarbeit stützen. Gronemeyer stellt<br />
z. B. fest, dass <strong>in</strong> der Nachkriegsliteratur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
kommunistischen Ländern manche Beiträge „Er<strong>in</strong>nerungen an<br />
rassenbiologische Zigeunerforschung wach werden lassen“. Der<br />
Gesamte<strong>in</strong>druck sei: „E<strong>in</strong>mütig – von wenigen Ausnahmen<br />
90<br />
Pietrosanti, P., The Romani Nation or: "Ich B<strong>in</strong> E<strong>in</strong> Zigeuner", <strong>in</strong>: Roma Rights,<br />
2003, Nr. 4, S. 51<br />
59
Peter Thelen<br />
abgesehen – werden die Zigeuner als Adressaten e<strong>in</strong>er<br />
assimilativen Politik verstanden.“ 91<br />
In Deutschland wollten seit dem Ende der 70er Jahre e<strong>in</strong>ige<br />
Wissenschaftler die noch nachwirkenden Ansätze der<br />
Zigeunerwissenschaft, die mit ihrer krim<strong>in</strong>albiologischen und<br />
rassehygienischen Argumentation dem nationalsozialistischen<br />
Völkermord an den Roma zugearbeitet hatte, überw<strong>in</strong>den. 92 Die<br />
„zigeunerische Lebensweise“, die früher Begründung für<br />
Verfolgung, Vertreibung und Ermordung war, wurde nun von ihnen<br />
positiv umgedeutet als e<strong>in</strong>e Kultur der Freiheit, die sich den<br />
Zwängen der Industriegesellschaft entzieht. „Folgen von<br />
Ausgrenzung werden tsiganologisch zu ethnischen Eigenschaften<br />
naturalisiert und durch diese Operation ihres gesellschaftlichen<br />
Gehaltes beraubt. Was früher als Nichtarbeit gekennzeichnet<br />
wurde, erhält die Pat<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>er Alternative zu der herrschenden<br />
Wirtschaftsweise.“ 93 Aus dem alternativen und emanzipatorischen<br />
Potenzial, das die „Tsiganologen“ der Lebensweise der Zigeuner<br />
zuordnen, kann gefolgert werden, dass die Politik diese<br />
Lebensweise, zu der extreme Arbeitslosigkeit und Armut, schlechte<br />
gesundheitliche Versorgung sowie gesellschaftliche Ausgrenzung<br />
gehören, weder verändern soll noch kann.<br />
Die Zuordnung positiv bewerteter Eigenschaften aufgrund der<br />
Zugehörigkeit zu den Roma kann auch zu e<strong>in</strong>er Politik gegen das<br />
Interesse der Roma, ihre Benachteiligung zu überw<strong>in</strong>den, führen.<br />
Wenn z. B. selbst „Analphabetismus als typisches Merkmal ihrer<br />
Sonderkultur“ und der „Verzicht auf das Schriftliche e<strong>in</strong> Teil der<br />
ethnischen Identität“ angesehen wird, 94 und wenn das staatliche<br />
Ausbildungssystem als Instrument der „zwangsweisen Vermittlung<br />
von Kulturtechniken der Nichtzigeuner“ 95 def<strong>in</strong>iert wird, kann noch<br />
der Analphabetismus als erhaltenswert betrachtet werden. Der<br />
91<br />
Gronemeyer, R., Zigeuner <strong>in</strong> Ost<strong>europa</strong>. E<strong>in</strong>e Bibliographie zu den Ländern Polen,<br />
Tschechoslowakei und Ungarn, München 1983, S. 7<br />
92<br />
Auf die Kritik an die Ansätze der “Tsiganologen“ wurde oben schon h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
93<br />
Niemann, S., E<strong>in</strong>e nomadische Kultur der Freiheit. Vom Traum der Tsiganologen,<br />
<strong>in</strong>: Hund, W. D., a.a.O., S.42<br />
94<br />
Vgl. Rakelmann, G. A., Zigeuner <strong>in</strong> der Schule – Regulierung durch Pädagogik, <strong>in</strong>:<br />
Münzel, M., Streck, B., a.a.O., 173 – Rakelmann konzediert zwar, dass es auch<br />
Zigeuner gibt, die lesen und schreiben können. Diesen würde aber von anderen<br />
Zigeunern ihr Zigeuner-Se<strong>in</strong> abgesprochen. Rose nennt diesen Ansatz,<br />
„Analphabetismus mit all se<strong>in</strong>en negativen Auswirkungen für uns als positiv<br />
darzustellen“ blanken Hohn und verweist darauf, dass die Nationalsozialisten se<strong>in</strong>em<br />
Volk verboten haben, Schulen zu besuchen und Lesen und Schreiben zu erlernen.<br />
Vgl. Rose, R., Vorwort, <strong>in</strong>: Mart<strong>in</strong>s-Heuß, K.,a.a.O., S. 9<br />
95<br />
Münzel, M., Streck, B., a.a.O., S. 9<br />
60
ROMA IN EUROPA<br />
Staat wäre damit aus der Pflicht, se<strong>in</strong>e Bürger gleich zu behandeln,<br />
entlassen.<br />
Aber auch die Vertretung der eigenen Interessen durch die Roma<br />
wird <strong>in</strong> diesem Ansatz zum<strong>in</strong>dest problematisiert. Die Bildung von<br />
Organisationen gehöre nicht zur segmentären und flexiblen<br />
Gesellschaft der Zigeuner. Sie sei vielmehr „die Anpassung der<br />
Zigeuner an die nicht-zigeunerische Welt der Interessenverbände,<br />
Gremien, Konferenzen und Auszeichnungen.“ 96 Die Zuordnung von<br />
kaum veränderbaren Eigenschaften aufgrund der Zugehörigkeit zu<br />
den Roma und ihre positive Bewertung führt also <strong>in</strong> letzter<br />
Konsequenz zu e<strong>in</strong>em Verzicht auf Politik für die Roma und zur<br />
Verh<strong>in</strong>derung der Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Demokratie.<br />
Es ist verständlich, dass diese Denkweise zum<strong>in</strong>dest bei den neuen<br />
Roma-Vertretern auf heftige Kritik gestoßen ist und ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />
auf die Diskussion <strong>in</strong>nerhalb der Roma sowie auf ihre Bemühungen<br />
um politischen E<strong>in</strong>fluss zur Verbesserung der Lage ihres Volkes<br />
hatte.<br />
Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Politik nach 1990<br />
zwar vor allem darauf gerichtet war, die ökonomische und soziale<br />
Situation der Roma zu verbessern, dass die Roma aber dennoch<br />
e<strong>in</strong>stweilen weiterh<strong>in</strong> Objekte der Politik bleiben. Die meisten<br />
bisherigen Ansätze, die Situation der Roma zu verbessern, können<br />
am ehesten mit der traditionellen Entwicklungspolitik, also der<br />
Politik der Industriestaaten gegenüber den Entwicklungsländern,<br />
verglichen werden. Ebenso wie die Probleme der<br />
Entwicklungsländer zum<strong>in</strong>dest zum Teil durch die frühere<br />
Kolonialpolitik, aber auch durch die gegenwärtigen Macht- und<br />
Wirtschaftsstrukturen verursacht wurden, war die "Zigeunerpolitik"<br />
der Vergangenheit und ist die Politik bis <strong>in</strong> die Gegenwart<br />
mitverantwortlich für die Situation der Roma. So wie mit den Mitteln<br />
der Entwicklungspolitik seit den 70er Jahren versucht wird, zur<br />
Verbesserung der Lage der Menschen <strong>in</strong> Asien, Afrika und<br />
Late<strong>in</strong>amerika beizutragen, entstanden nicht zuletzt durch den<br />
Druck der EU <strong>in</strong> den Staaten, die Mitglied der EU geworden s<strong>in</strong>d<br />
oder die Mitglied werden wollen, Programme, die auf die<br />
Verbesserung der Situation der Roma gerichtet s<strong>in</strong>d.<br />
Ohne hier auf die Ursachen e<strong>in</strong>gehen zu wollen, kann konstatiert<br />
werden, dass die Bilanz der 30-jährigen Entwicklungspolitik ke<strong>in</strong><br />
96 Münzel, M., Streck, B., S. 8<br />
61
Peter Thelen<br />
Anlass ist, mit ihren Erfolgen besonders zufrieden zu se<strong>in</strong>.<br />
Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob dieser Ansatz für e<strong>in</strong>e<br />
Roma-Politik adäquat ist. Diese Frage wird auch von der neuen<br />
Roma-Elite gestellt: "Should the elite <strong>in</strong>sist on implement<strong>in</strong>g Third<br />
World development strategies for their communities, despite the fact<br />
that most of the Romani people live among some of the most<br />
advanced and developed societies <strong>in</strong> the world?" 97<br />
Auch wenn heute eher von Entwicklungszusammenarbeit<br />
gesprochen wird, liegen die Entscheidungen über die Höhe der im<br />
Rahmen dieser Politik von den e<strong>in</strong>zelnen Staaten zur Verfügung<br />
gestellten F<strong>in</strong>anzmittel letztlich trotz <strong>in</strong>ternational e<strong>in</strong>gegangener<br />
Verpflichtungen ebenso bei den Regierungen der Geberländer wie<br />
die Formulierung der Programme. Entwicklungspolitik ist Teil der<br />
<strong>in</strong>ternationalen Kooperation, <strong>in</strong> der die Interessen der Geberländer<br />
e<strong>in</strong>e nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Dieser Weg ist bei<br />
der Roma-Politik zwar gangbar. Er entspricht aber kaum den<br />
europäischen Vorstellungen von Demokratie. Roma leben zwar<br />
auch außerhalb von Europa, sie s<strong>in</strong>d aber <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie seit<br />
Jahrhunderten Teil der europäischen Bevölkerung.<br />
Trotzdem wurden sie bisher meistens nur als Objekt der Politik<br />
wahrgenommen. "Sie s<strong>in</strong>d ohne Stimme. Das heißt: Sie s<strong>in</strong>d da,<br />
doch dort, wo gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen<br />
werden, werden sie nicht wahrgenommen.... Man tut e<strong>in</strong>erseits so,<br />
als bestehe das Volk der Roma aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber<br />
andererseits nicht bereit, über Proklamationen h<strong>in</strong>aus dieser so<br />
zahlreichen M<strong>in</strong>derheit zu e<strong>in</strong>em demokratischen Mitspracherecht<br />
zu verhelfen." 98<br />
Roma überwiegend nur als Objekt der Politik zu betrachten,<br />
widerspricht nicht nur demokratischen Pr<strong>in</strong>zipien, sondern trägt<br />
auch zur häufig beklagten ger<strong>in</strong>gen Effektivität vieler Programme,<br />
mit denen die Situation der Roma verbessert soll, bei. Auf diesen<br />
Aspekt wird meistens von Vertretern der Roma h<strong>in</strong>gewiesen. Aber<br />
die Europäische Kommission hatte wohl auch diesen E<strong>in</strong>druck. Sie<br />
vergab e<strong>in</strong>e Studie, „weil mit den bestehenden politischen<br />
Maßnahmen sowohl <strong>in</strong>nerhalb der EU der 15 (der „alten“<br />
Mitgliedstaaten) als auch <strong>in</strong> den neuen Mitgliedstaaten die<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung dieser Geme<strong>in</strong>schaft nicht angemessen bekämpft<br />
und deren Integration <strong>in</strong> die Gesellschaft nicht genügend gefördert<br />
97 Mirga, A., Gheorghe, N., a.a.O., S. 41<br />
98 Grass, G., a.a.O., S. 35<br />
62
ROMA IN EUROPA<br />
wird.“ 99 Die im Jahre 2004 veröffentlichte Studie bedauert die<br />
„generell bedeutenden Defizite <strong>in</strong> Bezug auf die Ziele“, die e<strong>in</strong>e<br />
Evaluierung der Maßnahmen zum<strong>in</strong>dest sehr erschweren, und hält<br />
fest: „Die Roma werden bei der Gestaltung und der Durchführung<br />
politischer Maßnahmen, von denen sie profitieren sollen,<br />
gegenwärtig gar nicht oder nur sehr selten und im Allgeme<strong>in</strong>en nur<br />
zögerlich konsultiert und mit e<strong>in</strong>gebunden. Dies steht <strong>in</strong> starkem<br />
Kontrast zu den gut etablierten Standardverfahren <strong>in</strong> Bezug auf<br />
andere kulturelle und ethnische M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Mitgliedstaaten der Europäischen Union.“ 100 Der Bericht empfiehlt<br />
daher, „die Beteiligung der Roma bei der Ausarbeitung, Umsetzung<br />
und Bewertung von politischen Maßnahmen aktiv zu fördern“. 101<br />
Diese Partizipation sei „zu jeder Zeit der Schlüssel für den<br />
tatsächlichen Erfolg und die Nachhaltigkeit von Initiativen“. 102<br />
Die Partizipation der Roma ist <strong>in</strong> der jüngsten Zeit auch<br />
Diskussionsgegenstand bei e<strong>in</strong>er wichtigen Initiative, die die<br />
Situation der Roma <strong>in</strong> Europa verbessern soll. An der von der<br />
Weltbank und dem Open Society Institute <strong>in</strong>itiierten Konferenz<br />
„Roma <strong>in</strong> an Expend<strong>in</strong>g Europe“ nahmen im Juni 2003 <strong>in</strong> Budapest<br />
Regierungschefs und andere hochrangige Vertreter der<br />
Regierungen aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Bulgariens,<br />
Rumäniens, Makedoniens, Kroatiens und aus Serbien und<br />
Montenegro sowie Vertreter der Europäischen Kommission, des<br />
Europarates, des UNDP und der OSZE teil. Sie kündigten für die<br />
Zeit von 2005 bis 2015 die Decade of Roma Inclusion an. Durch die<br />
Roma-Dekade, auf die sich seit dem viel Hoffnung richtet, soll die<br />
soziale Inklusion und die Verbesserung der wirtschaftlichen und<br />
sozialen Lage der Roma beschleunigt werden. Jedes teilnehmende<br />
Land soll e<strong>in</strong>en Aktionsplan entwickeln, um die Ausbildung, die<br />
Beschäftigung, die Gesundheitsversorgung und die Wohnsituation<br />
der Roma zu verbessern. Dabei soll die Partizipation der Roma e<strong>in</strong>e<br />
Schlüsselrolle spielen. Sie sollen an der Erarbeitung der nationalen<br />
Aktionspläne ebenso beteiligt se<strong>in</strong> wie am Monitor<strong>in</strong>g der<br />
Implementierung. „Full Roma participation is envisaged <strong>in</strong> the<br />
planned course of action.“ 103<br />
99<br />
Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 1<br />
100<br />
Ebd., S. 48<br />
101<br />
Ebd., S. 54<br />
102<br />
Ebd., S. 55<br />
103<br />
Weltbank, Decade of Roma Inclusion, <strong>in</strong>: www.worldbank.org/<strong>roma</strong> - s. a. M<strong>in</strong>ority<br />
Rights Center, Decade of Roma, Belgrad, 2005, S. 7<br />
63
Peter Thelen<br />
Dies ist e<strong>in</strong> guter und Erfolg versprechender Ansatz. Trotzdem gab<br />
es von Beg<strong>in</strong>n an auch Kritik an der Vorgehensweise. So wurde<br />
schon die wenig repräsentative Beteiligung der Roma an der<br />
Initialkonferenz von Budapest bedauert: „ The organisers <strong>in</strong>vited 70<br />
so-called ‚young Roma leaders’ as Roma representatives, but the<br />
selection process had <strong>in</strong> a number of cases been controversial. A<br />
number of important older traditional leaders were excluded...“ 104<br />
Dieses Verfahren erwies sich als nicht sehr hilfreich für die<br />
deklarierte Partizipation der Roma. Es entstand bei e<strong>in</strong>er Reihe<br />
wichtiger Sprecher der Roma der E<strong>in</strong>druck, dass von außen<br />
bestimmt werden soll, wer die Roma vertritt. „Because of the<br />
controversial choice of Roma representatives at the conference,<br />
there was little mediation to prevent them from escalat<strong>in</strong>g, which<br />
complicated the entire partnership process envisioned by the<br />
decade.“ 105<br />
Die durch die Initialkonferenz von Budapest entstandene Situation<br />
wurde auch durch die zweite Konferenz, auf der im Februar 2005 <strong>in</strong><br />
Sofia die Declaration of Roma Inclusion signiert wurde, nicht<br />
verbessert. Wiederum g<strong>in</strong>g es um die repräsentative Vertretung der<br />
Roma. Dieses Mal wurde von den Organisatoren e<strong>in</strong>e junge<br />
unbekannte Romni aus der Slowakei auf das Podium neben die<br />
Regierungschefs, den Weltbankpräsidenten und George Soros<br />
gesetzt, während dem Gründungspräsidenten des European Roma<br />
and Travellers Forum (ERTF), Rudko Kawczynski, und anderen<br />
Vertretern wichtiger Roma-Organisationen nur e<strong>in</strong>e Zuhörerfunktion<br />
zugebilligt wurde. Wieder konnte der E<strong>in</strong>druck entstehen, dass die<br />
Vertretung der Roma von Nicht-Roma bestimmt wurde.<br />
Die unzureichende und wenig repräsentative Rolle der Roma bei<br />
den beiden Konferenzen, die das Fundament der Roma-Dekade<br />
legten, hat möglicherweise dazu beigetragen, dass auch die<br />
Beteiligung der Roma auf der nationalen Ebene bei der Erstellung<br />
der Decade Action Plans als nicht angemessen zu kritisieren war.<br />
Diese Kritik wurde u. a. auf Konferenzen, <strong>in</strong> denen auf nationaler<br />
Ebene die Aktionspläne und ihr Entstehen diskutiert wurden,<br />
deutlich. 106 Der IRU-Generalsekretär formulierte se<strong>in</strong>e Kritik <strong>in</strong><br />
104 Nicolae, V., The decade of Roma Inclusion – Between Hopes, Glitches and<br />
Failures, <strong>in</strong>: www.eumap.org – Valeriu Nicolae ist Deputy Director of the European<br />
Roma Information <strong>Office</strong> (ERIO) <strong>in</strong> Brüssel. Die Kritik wurde aber auch von anderen<br />
geteilt, wie z. B. Zoran Dimov, dem Generalsekretär der International Romani Union<br />
(IRU), <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offenen Brief.<br />
105 Nicolae, V., a.a.O.<br />
106 Der Autor nahm an e<strong>in</strong>er solchen von PER <strong>in</strong>itiierten Konferenz gegen Ende 2004<br />
<strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> teil. Aus der Diskussion g<strong>in</strong>g hervor, die sich die Kritik, die an der<br />
64
ROMA IN EUROPA<br />
e<strong>in</strong>em im Internet veröffentlichten Text: „"As for the preparations of<br />
these draft action plans, very few of the benefiteurs of these action<br />
plans were <strong>in</strong>cluded <strong>in</strong> the mak<strong>in</strong>g, the ones who would have the<br />
ma<strong>in</strong> role <strong>in</strong> the Roma Decade, i.e. the Roma”<br />
“To conclude, the most important issue here revolves around the<br />
fact that the Decade has been advertised as a real partnership<br />
between national governments and Roma communities. The lack of<br />
such partnership until now has arguable been the ma<strong>in</strong> cause of its<br />
failure to establish noticeable improvement <strong>in</strong> the situation of the<br />
Roma so far. It has also made it more difficult to attract substantial<br />
new European fund<strong>in</strong>g for Roma communities” 107 Es bleibt zu<br />
hoffen, dass die Strukturfehler der Startphase durch e<strong>in</strong>e<br />
angemessenere Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Zukunft wenigstens<br />
teilweise überwunden werden können, um mehr von dem<br />
bedeutenden Entwicklungspotenzial der Dekade ausschöpfen zu<br />
können.<br />
Auch die Diskussion um die Roma als europäische M<strong>in</strong>derheit und<br />
als Nation hat <strong>in</strong> der neuen Elite der Roma die Ansprüche auf<br />
politische Partizipation verstärkt. Diese Ansprüche beziehen sich<br />
auf alle Ebenen der politischen Willensbildung, auf die kommunale,<br />
die regionale, die e<strong>in</strong>zelstaatliche sowie die <strong>in</strong>ternationale und<br />
<strong>in</strong>sbesondere die europäische Ebene.<br />
Auf der nationalen Ebene gibt es die Möglichkeit, Interessen<br />
<strong>in</strong>dividuell oder kollektiv wahrzunehmen. In Ungarn werden z. B.<br />
beide Wege beschritten. Im nationalen Parlament waren und s<strong>in</strong>d<br />
seit dem Systemwechsel immer Roma Mitglieder gewesen, die über<br />
die Listen der sozialistischen, der liberalen oder der konservativen<br />
Parteien (MSZP, SZDSZ, FIDESZ) gewählt wurden. Im Rahmen<br />
des M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungssystems haben alle anerkannten<br />
nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten das Recht, sowohl auf<br />
lokaler als auch auf nationaler Ebene Selbstverwaltungen zu<br />
bilden. 108 Seit 2002 gibt es <strong>in</strong> Ungarn e<strong>in</strong>en Staatssekretär, der für<br />
Angelegenheiten der Roma zuständig ist. Auch <strong>in</strong> der Regierung<br />
Partizipation der Roma <strong>in</strong> Makedonien geäußert wurde, auch auf andere Länder<br />
übertragen lässt.<br />
107 Nicolae, V., a.a.O.<br />
108 Obwohl es berechtigte Kritik an diesem System, z. B. h<strong>in</strong>sichtlich des<br />
Wahlsystems, der ger<strong>in</strong>gen F<strong>in</strong>anzausstattung und der Fähigkeit, die sozialen<br />
Probleme der Roma zu lösen, gibt, sche<strong>in</strong>t es doch e<strong>in</strong> Schritt <strong>in</strong> die richtige Richtung<br />
zu se<strong>in</strong>. Mehr dazu im Beitrag von J. Kaltenbach und L. Fórika <strong>in</strong> diesem Band. –<br />
Inzwischen gibt es e<strong>in</strong>e Initiative zur Novellierung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes <strong>in</strong><br />
Ungarn.<br />
65
Peter Thelen<br />
der Republik Serbien ist e<strong>in</strong> Roma als M<strong>in</strong>ister ohne Portefeuille<br />
vertreten. Natürlich werden diese Positionen durch den jeweiligen<br />
Regierungschef besetzt. Die Ernennung e<strong>in</strong>es Roma zum M<strong>in</strong>ister<br />
oder Staatssekretärs kann daher nicht als unmittelbare Partizipation<br />
der Roma gewertet werden. Aber immerh<strong>in</strong> handelt es sich <strong>in</strong><br />
diesen Fällen um Politiker, die selbst Roma s<strong>in</strong>d und die daher die<br />
Probleme der Roma besser verstehen dürften als ihre Kollegen, die<br />
nicht diesen H<strong>in</strong>tergrund haben.<br />
In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens sowie <strong>in</strong> Rumänien<br />
und Bulgarien, also <strong>in</strong> Ländern mit e<strong>in</strong>er großen Zahl von Roma,<br />
s<strong>in</strong>d Roma schon relativ früh politisch aktiv geworden. E<strong>in</strong> Teil von<br />
ihnen ist <strong>in</strong> die existierenden Nicht<strong>roma</strong>-Parteien e<strong>in</strong>getreten. 109<br />
Daneben s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Ländern, vor allem auf dem<br />
Balkan, Roma-Parteien entstanden. Auch hier ist das oben<br />
erwähnte Phänomen der Zersplitterung zu konstatieren. So gibt es<br />
<strong>in</strong> Serbien nach der Gründung der ersten Roma-Partei, der<br />
Sozialdemokratischen Partei der Roma, im Jahre 1990 durch Sait<br />
Balic und Rajko Djuric zurzeit 12 Roma-Parteien, von denen sich<br />
alle<strong>in</strong> 4 als sozialdemokratisch bezeichnen. In anderen Ländern<br />
sieht es ähnlich aus. Trotz dieser Fragmentierung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige<br />
Roma-Parteien <strong>in</strong> den nationalen Parlamenten, z.B. <strong>in</strong> Makedonien,<br />
Rumänien und Bulgarien, vertreten. In der Regel unterstützen sie <strong>in</strong><br />
der parlamentarischen Arbeit die sozialdemokratischen Kräfte. 110 –<br />
In e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den mit überwiegender Roma-Bevölkerung , wie<br />
z. B. Shuto Orizari, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Stadtteil der makedonischen Hauptstadt<br />
<strong>Skopje</strong>, gibt es Bürgermeister, die Roma s<strong>in</strong>d, und überwiegend<br />
aus Roma bestehende Geme<strong>in</strong>deräte. 111<br />
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Roma <strong>in</strong> den Parlamenten<br />
(und <strong>in</strong> den Regierungen) – gemessen an ihrem Anteil an der<br />
Bevölkerung – weit unterrepräsentiert s<strong>in</strong>d. „Because many<br />
parliaments conta<strong>in</strong> none or, at most, a few Romani Members of<br />
Parliament, they fail to reflect the diversity oft he population at<br />
large.“ Damit wird auch e<strong>in</strong>e wesentliche Funktion demokratischer<br />
109 In Serbien s<strong>in</strong>d z. B. Roma <strong>in</strong> allen relevanten Parteien vertreten. Pikanterweise<br />
hat die nationalistische Serbische Radikale Partei die größte Zahl von Roma <strong>in</strong> ihren<br />
Reihen. So Osman Balic, Roma und Bürgermeister von Nis, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag auf der<br />
Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung über "Politische Partizipation der Roma" im<br />
Nov. 2004 <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>.<br />
110 Zu dieser Regel gibt es Ausnahmen, wie z. B. <strong>in</strong> Makedonien von 1998 bis 2002.<br />
111 S. dazu den Beitrag von Sevdija Demirova-Abdulova <strong>in</strong> diesem Band.<br />
66
ROMA IN EUROPA<br />
Parlamente verfehlt, nämlich „to represent the entire electorate of a<br />
country, without exclud<strong>in</strong>g certa<strong>in</strong> demographic groups“ 112<br />
Auch wenn der Anteil der Roma an der wahlberechtigten<br />
Bevölkerung ger<strong>in</strong>ger ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung<br />
(z. B. wegen fehlender Personaldokumente oder wegen des sehr<br />
hohen Anteils junger, noch nicht wahlberechtigter Roma) stellen sie<br />
doch <strong>in</strong> vielen Ländern e<strong>in</strong> für die Parteien <strong>in</strong>teressantes<br />
Stimmenpotenzial. Stimmen von Roma könnten von den Parteien<br />
durch E<strong>in</strong>gehen auf die Bedürfnisse der Roma <strong>in</strong> Wahlprogrammen<br />
und im Wahlkampf gewonnen werden. Dass dies häufig nicht oder<br />
nicht ausreichend getan wird, liegt an dem verbreiteten<br />
Antiziganismus, der bewirkt, dass e<strong>in</strong> Zugew<strong>in</strong>n an Roma-Stimmen<br />
zu e<strong>in</strong>em größeren Verlust von Stimmen aus der<br />
Mehrheitsbevölkerung und von anderen M<strong>in</strong>derheiten führen kann.<br />
E<strong>in</strong> starkes Engagement für die Anliegen der Roma wird daher –<br />
wie der Autor aus persönlichen Begegnungen weiß - manchmal<br />
auch von Politikern vermieden, deren programmatischer und<br />
kultureller H<strong>in</strong>tergrund antiziganistische Motive ausschließt.<br />
„Therefore, <strong>in</strong>creased Romani participation can only be achieved if<br />
ma<strong>in</strong>stream political discourse produces more nuanced,<br />
differentiated and positive perceptions of Roma.“ 113<br />
Aber auch die auf ethnischer Basis agierenden Parteien haben es<br />
schwer, genügend Stimmen zu erhalten, um e<strong>in</strong>e die Roma<br />
quantitativ repräsentierende Kraft im Parlament zu werden. Diese<br />
Schwäche führt ihrerseits wiederum dazu, dass die wenigen<br />
gewählten Roma nur wenig bewegen können, zu wenig, um das<br />
Vertrauen ihrer Wählerschaft <strong>in</strong> sie dauerhaft zu stärken. 114 –<br />
Nicolae Gheorghe macht zudem auf die Konkurrenz, die der stark<br />
angewachsene NGO-Sektor für die Parteien darstellt, aufmerksam.<br />
Viele jüngere und talentierte Roma engagieren sich <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anziell gut<br />
ausgestatteten NGOs. 115 Damit wird den Parteien der Elan der<br />
engagierten Roma-Jugend entzogen.<br />
Auf der europäischen Ebene erhielt die Diskussion über die<br />
politische Partizipation der Roma e<strong>in</strong>en neuen Impuls durch e<strong>in</strong>e<br />
112<br />
Vermeersch, P., Roma <strong>in</strong> domestic and <strong>in</strong>ternational politics: an emerg<strong>in</strong>g voice?,<br />
<strong>in</strong>: Roma Rights, 2001, No. 4, S. 5<br />
113<br />
Vermeersch, P., a.a.O., S. 6<br />
114<br />
Zu den Problemen der Bildung erfolgreicher Roma-Parteien <strong>in</strong> Jugoslawien, also <strong>in</strong><br />
dem Land, <strong>in</strong> dem relativ früh und <strong>in</strong>tensiv mit der Organisation von Roma-Parteien<br />
begonnen wurde, s. den Beitrag von Osman Balic <strong>in</strong> diesem Band.<br />
115<br />
In search of a new deal for Roma, Interview mit Nicolae Gheorghe, <strong>in</strong>: Roma<br />
Rights, 2001, No. 4, S. 14<br />
67
Peter Thelen<br />
sozialdemokratische Politiker<strong>in</strong>. Während der f<strong>in</strong>nischen EU-<br />
Präsidentschaft machte die Staatspräsident<strong>in</strong> F<strong>in</strong>nlands, Tarja<br />
Halonen, im Januar 2001 den Vorschlag, e<strong>in</strong> "European Roma<br />
Consultative Forum" (ERF) mit beratender Funktion bei dem<br />
Europarat mit Ausstrahlung auf andere europäische Institutionen,<br />
wie die EU, zu schaffen, um, wie sie <strong>in</strong> ihrer Rede vor der<br />
Parlamentarischen Versammlung des Europarates sagte, "give a<br />
voice to the Roma". 116<br />
Dieser Vorschlag stieß auf großes Interesse. So wurde er von den<br />
auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene aktiven Roma auf e<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar im<br />
Oktober 2001 <strong>in</strong> Hels<strong>in</strong>ki begrüßt. Auch die Specialist Group on<br />
Roma/Gypsies des Europarates unterstützte im gleichen Monat den<br />
Vorschlag. Die aufgrund des oben erwähnten Tabajdi-Reports<br />
durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates<br />
verabschiedete Recommondation 1557 befürwortete ebenfalls die<br />
Schaffung e<strong>in</strong>es europäischen Roma-Forums. Der M<strong>in</strong>isterrat des<br />
Europarates begrüßte im November 2002 den Vorschlag und<br />
entschied, ihn weiter auf der Tagesordnung zu halten.<br />
Diese pr<strong>in</strong>zipiell positive, aber vage Stellungnahme des<br />
M<strong>in</strong>isterrates deutete aber auch darauf h<strong>in</strong>, dass es Bedenken<br />
gegen die Realisierung des Vorschlages gab. Es bestand bei den<br />
Regierungen e<strong>in</strong>iger Staaten die Befürchtung, dass für die Roma<br />
e<strong>in</strong> Status mit besonderen Rechten geschaffen würde. Damit sei<br />
der verfassungsmäßig verankerte Gleichheitsgrundsatz e<strong>in</strong>iger<br />
Länder und das <strong>in</strong> Artikel 14 der Europäischen Konvention für<br />
Menschenrechte festgelegte Pr<strong>in</strong>zip der Nicht-Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
tangiert. E<strong>in</strong>e Lösung des Problems zeichnete sich im Juni 2003 <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Vorschlag der f<strong>in</strong>nischen Präsident<strong>in</strong> und des<br />
französischen Präsidenten ab. 117 Um das Ziel der Integration der<br />
Roma <strong>in</strong> die europäische Gesellschaft ohne Verletzung des<br />
Gleichheitsgrundsatzes zu erreichen, wurde vorgeschlagen, e<strong>in</strong>e<br />
Vere<strong>in</strong>igung im S<strong>in</strong>ne des französischen Rechtes zu schaffen.<br />
Diese unabhängige NGO, die jetzt European Roma and Travellers<br />
Forum (ERTF) genannt wurde, soll das vertraglich abgesicherte<br />
Recht haben, Vertreter <strong>in</strong> die Organe des Europarates, die sich mit<br />
116 Schon se<strong>in</strong>er Rede vor dem Europarat am 11. Okt. 2000 hatte der<br />
Literaturnobelpreisträger Günter Grass den Titel "Ohne Stimme" gegeben und e<strong>in</strong>e<br />
Änderung dieses Zustandes angemahnt. S. Grass, G., a.a.O., S. 25ff – S. auch den<br />
Auszug <strong>in</strong> diesem Band.<br />
117 S. dazu Vuolasranta, M., European Forum for Roma and Travellers: From the<br />
F<strong>in</strong>nish <strong>in</strong>itiative to the Franco-F<strong>in</strong>nish proposal, <strong>in</strong>: Roma Rights, 2003, Nr. 4, S. 46ff<br />
68
ROMA IN EUROPA<br />
Roma betreffenden Fragen beschäftigen, zu entsenden. Durch<br />
diese Konstruktion soll der Konflikt mit den M<strong>in</strong>derheitenrechten<br />
vermieden werden.<br />
Diese Lösung erregte bei e<strong>in</strong>igen Vertretern der Roma Kritik:<br />
"Regardless the fact that this NGO will probably have Consultative<br />
Status at the Council of Europe, I strongly believe that such an<br />
NGO is by no means a substitute for the representative Roma<br />
assembly that I and so many other Roma leaders had supported,<br />
and for which so many are now still hop<strong>in</strong>g" 118 E<strong>in</strong>e weitere Kritik<br />
bezog sich darauf, daß das ERTF auch die Travellers vertreten soll.<br />
Damit sei dem Anliegen, e<strong>in</strong> Vertretungsorgan für das Volk der<br />
Roma zu schaffen, nicht Genüge getan. Diese Kritik ist allerd<strong>in</strong>gs<br />
nur verständlich, wenn den ethnischen oder nationalen Interessen<br />
e<strong>in</strong>e höhere Priorität zugemessen wird als der Interessengleichheit<br />
bei unterschiedlicher Ethnizität. Außerdem wird davon<br />
ausgegangen, dass der Begriff „Fahrende“ (auch) für Nicht-Roma<br />
verwendet wird. 119<br />
Trotz dieser Kritikpunkte war die Mehrheit der Roma-Vertreter der<br />
Auffassung, dass die Schaffung des Forums für die Roma<br />
notwendig ist und dass se<strong>in</strong>e Anb<strong>in</strong>dung an den Europarat zur<br />
Erhöhung se<strong>in</strong>er Wirkung führt. Daher brachte der französischf<strong>in</strong>nische<br />
Vorschlag wieder Bewegung <strong>in</strong> die festgefahrene<br />
Situation. Im Juli 2004 wurde von an der Diskussion beteiligten<br />
Roma beim Gericht <strong>in</strong> Straßburg die Registrierung der<br />
<strong>in</strong>ternationalen Assoziation European Roma and Travellers Forum<br />
(ERTF) beantragt. Im November stimmte der M<strong>in</strong>isterrat des<br />
Europarates der engen und privilegierten Zusammenarbeit mit dem<br />
ERTF zu. Am 15. Dezember 2004 wurde <strong>in</strong> Anwesenheit der<br />
Initiator<strong>in</strong>, Tarja Halonen, der Vertrag zwischen dem ERTF und dem<br />
Europarat unterzeichnet.<br />
Von der Unterbreitung des Vorschlages bis zur<br />
Vertragsunterzeichnung fand e<strong>in</strong> vierjähriger, nicht immer leichter<br />
118 Ivan Vesely, Chairman of Dzeno Association, www. dzeno.cz - Auf die Kritik von<br />
Aladar Hovath wurde schon im Abschnitt 6 h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
119 Die Bezeichnung "Fahrende" wird für Gruppen verwendet, die vom ethnischen<br />
Kriterium her nicht zu den Roma, aber durch ihre Lebensweise eng mit Roma-<br />
Gruppen verbunden s<strong>in</strong>d. Vgl. Machiels, T., Distanz wahren oder Teilnahme wagen –<br />
Roma und Fahrende <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>, Brüssel, 2002, S. 4, und Liegeois, J.-P., a.a.O.,<br />
S. 51 – In Irland und im Großbritannien wird der Begriff „travellers“ verschiedenen<br />
Roma-Gruppen zugeordnet, und zwar unabhängig davon, ob nomadisch leben oder<br />
sesshaft s<strong>in</strong>d.<br />
69
Peter Thelen<br />
Diskussionsprozess statt. Auf e<strong>in</strong>ige Aspekte der Diskussion wurde<br />
schon h<strong>in</strong>gewiesen. Der schwierigste Punkt war und ist die<br />
Repräsentativität bzw. die Legitimation des neuen Forums. Schon<br />
die erste aufgrund des Halonen-Vorschlages im Jahre 2002<br />
gebildete Arbeitsgruppe, <strong>in</strong> der neben Repräsentanten der OSZE,<br />
der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes und<br />
des Europarates erstmals auch Vertreter der beiden <strong>in</strong>ternationalen<br />
Roma-Organisationen, Roma National Congress (RNC) und<br />
International Romani Union (IRU) vertreten waren, legte im Oktober<br />
2001 e<strong>in</strong>en Entwurf zur Bildung e<strong>in</strong>es European Roma Forums<br />
(ERF) vor, um den Roma erstmals <strong>in</strong> ihrer 600-jährigen<br />
europäischen Geschichte e<strong>in</strong>e hörbare Stimme zu geben. Danach<br />
sollte das ERF unter dem Dach des Europarates gegründet werden.<br />
Es sollte aber gleichzeitig mit der EU und der OSZE kooperieren<br />
und zusammengesetzt se<strong>in</strong> aus Roma, die von Roma gewählt<br />
werden, um für Roma zu wirken. Das Ziel war dabei "to participate<br />
and <strong>in</strong>fluence governance <strong>in</strong> Europe at all level – european,<br />
national, regional and local".<br />
Es wurde <strong>in</strong> der Diskussion deutlich, dass die Realisierung des<br />
Halonen-Vorschlages den ersten Schritt zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Partizipation der Roma darstellen könnte. Obwohl die Initiative auf<br />
politischer Ebene begrüßt wurde, wurde auch Kritik geäußert. 120 E<strong>in</strong><br />
wesentliches Problem war schon <strong>in</strong> dieser frühen Phase der<br />
Diskussion der befürchtete Mangel an demokratischer Legitimation<br />
der Mitglieder <strong>in</strong> der zu schaffenden Institution. Dieses Problem war<br />
der Arbeitsgruppe, die den ersten Vorschlag erarbeitete, wohl<br />
bewusst. In ihrem Bericht hält sie fest: "Certa<strong>in</strong> members of the<br />
group stressed that while representation <strong>in</strong> Europe for the Roma<br />
through elections by <strong>in</strong>dividual ballot<strong>in</strong>g was not a realistic option at<br />
this stage, it would <strong>in</strong> their own view be desirable to promote such<br />
an aim at a later stage. The group's recommendation entail the<br />
establishment of the European Roma Forum accord<strong>in</strong>g to<br />
democratic pr<strong>in</strong>ciples based on a composition as representative as<br />
possible."<br />
Die schärfste Kritik an dieser Vorgehensweise bei der Gründung<br />
des ERTF <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er jetzigen Form wurde vom damaligen<br />
Commissioner for Foreign Affairs der IRU formuliert. Se<strong>in</strong>e Position<br />
ist, dass Legitimität sowohl von Roma- als auch von Nicht<strong>roma</strong>-<br />
Organen nur durch e<strong>in</strong> unzweifelhaftes demokratisches Verfahren<br />
entstehen kann. E<strong>in</strong> solches Verfahren könne für e<strong>in</strong> Forum, das<br />
120 Auf die Kritik von Aladar Hovath wurde schon im Abschnitt 6 h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
70
ROMA IN EUROPA<br />
legitimiert ist, für die Roma Europas zu sprechen, nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
echten <strong>europa</strong>weiten Wahl bestehen. Auch er sieht die<br />
Schwierigkeiten, diesen Weg zu gehen, hält sie aber für<br />
überw<strong>in</strong>dbar. 121 Die meisten an der Diskussion beteiligten Experten<br />
waren h<strong>in</strong>sichtlich der Überw<strong>in</strong>dbarkeit der Schwierigkeiten<br />
skeptischer. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe basierte also auf dem<br />
pragmatischen Gedanken, dass, wenn der Idealzustand zurzeit<br />
nicht zu erreichen ist, doch etwas geschaffen werden kann, das<br />
besser ist als der augenblickliche Zustand. Dadurch sollte Druck<br />
aufgebaut werden, die Mängel <strong>in</strong> der Zukunft zu beseitigen, das<br />
heißt, die demokratische Legitimation zu verbessern. In Anlehnung<br />
an die für den Kosovo formulierte Politik kann dieser Ansatz so<br />
zusammengefasst werden: Institution vor Standard, Standard durch<br />
Institution.<br />
Der Prozess der Nom<strong>in</strong>ierung der Delegierten zum ERTF 122 birgt<br />
Chancen und Gefahren. Neben den <strong>in</strong>ternationalen Roma-<br />
Organisationen können aus Ländern, <strong>in</strong> denen Dachorganisationen<br />
der Roma, die mehr als 75 % der die Roma repräsentierenden<br />
Strukturen <strong>in</strong> ihrem Land vertreten, Delegierte <strong>in</strong> die<br />
Vollversammlung und das Exekutivkomitee des ERTF entsandt<br />
werden. Die Zahl der stimmberechtigten Delegierten hängt dabei<br />
von der Zahl der Roma im jeweiligen Land ab. Sie liegt zwischen 1<br />
und 4, wobei sicher gestellt muss, dass beide Geschlechter sowie<br />
die Jugend vertreten s<strong>in</strong>d. - Die Voraussetzung der Existenz e<strong>in</strong>er<br />
repräsentativen Dachorganisation ist <strong>in</strong> vielen Ländern zurzeit nicht<br />
gegeben. In diesen Fällen müssen die landesweit tätigen Roma-<br />
NGOs, die im Parlament vertretenen Roma-Parteien und die<br />
Beratungs- und Selbstverwaltungskörperschaften der Roma ihre<br />
Landesdelegation wählen. 123 Dies schafft e<strong>in</strong>en Druck zur<br />
Kommunikation zwischen den Roma-Organisationen und zur<br />
geme<strong>in</strong>samen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung auf Landesebenen. Dieser<br />
Prozess kann sowohl dazu führen, dass die<br />
Kooperationsbereitschaft der beteiligten Organisationen gestärkt<br />
wird, als auch dazu, dass die Spannungen wachsen und die<br />
Legitimation von Landesdelegationen bestritten wird.<br />
Das Verfahren der Delegiertenauswahl beim Fehlen e<strong>in</strong>er<br />
repräsentativen Dachorganisation ist nur <strong>in</strong> der ersten, vier Jahre<br />
dauernden Periode zugelassen. Dadurch soll die Motivation,<br />
derartige Dachorganisationen zu bilden, erhöht werden. Zudem wird<br />
121 Vgl. Pietrosanti, P., a.a.O., S. 52ff<br />
122 Statut des ERTF, Art. 5 und 6<br />
123 Statut des ERTF, Transitional clauses, Nr. 2<br />
71
Peter Thelen<br />
von den Dachorganisationen gefordert, dass die gewählten<br />
Delegierten "should be representative of their community, and enjoy<br />
the confidence and trust of the population they represent" 124 Diese<br />
Lösung spiegelt die oben erwähnte Diskussion um den<br />
demokratischen Standard e<strong>in</strong>es Roma-Forums wider. Über die<br />
Institutionalisierung des ERTF soll die demokratische Legitimation<br />
verbessert werden. Dieser Prozess hat beabsichtigte<br />
Rückwirkungen auf die Roma-Organisationen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />
Ländern. Wenn er gel<strong>in</strong>gt, wird diese Stimme nicht mehr zu<br />
überhören se<strong>in</strong> und der E<strong>in</strong>fluss der Roma sowohl auf europäischer<br />
als auch auf e<strong>in</strong>zelstaatlicher Ebene gestärkt.<br />
Der Halonen-Vorschlag hatte schon vor se<strong>in</strong>er Realisierung e<strong>in</strong>ige<br />
positive Effekte. Er führte zu e<strong>in</strong>er mehrjährigen Diskussion, an der<br />
sowohl die Roma-Elite als auch Nicht-Roma, vor allem aus<br />
europäischen Institutionen und aus <strong>in</strong>ternationalen Organisationen,<br />
beteiligt waren. Dadurch entstand e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> besserer<br />
Informationsstand der beteiligten Gadje über die Anliegen der<br />
Roma. Andererseits erhöhte der geme<strong>in</strong>same Wille, e<strong>in</strong>e<br />
vernehmbare Stimme der Roma auf europäischer Ebene zu<br />
schaffen, bei den rivalisierenden <strong>in</strong>ternationalen Roma-<br />
Organisationen, vor allem beim RNC und der IRU, die Bereitschaft<br />
zu kooperieren. So e<strong>in</strong>igten sich diese Organisationen im<br />
Entstehungsprozess des ERTF auf e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Sprecher,<br />
das Mitglied des makedonischen Parlamentes, Nezdet Mustafa. E<strong>in</strong><br />
Zeichen für die Verbesserung des Klimas zwischen den<br />
Organisationen war die E<strong>in</strong>ladung der IRU an Rudko Kawczynski<br />
vom RNC zu ihrem 6. Weltkongress im Oktober 2004 <strong>in</strong> Lanciano,<br />
Italien. Kawczynski, der <strong>in</strong>zwischen die Funktion des<br />
Gründungspräsidenten des ERTF übernommen hatte, nutzte die<br />
Gelegenheit, um zu und mit den Vertretern der<br />
Konkurrenzorganisation zu sprechen.<br />
Die Schaffung des ERTF ist deshalb von so großer Bedeutung, weil<br />
damit zum ersten Mal e<strong>in</strong>e repräsentative Organisation entstehen<br />
kann, die über Ländergrenzen und konkurrierende Organisationen<br />
h<strong>in</strong>aus die Interessen der Roma formulieren und für sie Gehör<br />
f<strong>in</strong>den kann. Formal wird das Forum zwar im Rahmen des<br />
Europarates tätig. Es hat aber darüber h<strong>in</strong>aus die Möglichkeit, mit<br />
anderen <strong>in</strong>ternationalen und <strong>in</strong>sbesondere europäischen<br />
Institutionen, wie der EU, <strong>in</strong> Kontakt zu treten und auch dort se<strong>in</strong>e<br />
124 Council of Europe, The European Roma and Travellers Forum (ERTF),<br />
www.coe.<strong>in</strong>t/T/E/social_cohesion/Roma_Travellers/ERTF<br />
72
ROMA IN EUROPA<br />
Stimme zu Gehör zu br<strong>in</strong>gen. "To encourage the development and<br />
implementation of policies, programmes and activities … it shall<br />
deliver op<strong>in</strong>ions and make proposals to decision-mak<strong>in</strong>g bodies <strong>in</strong><br />
Europe at the European, <strong>in</strong>ternational and national level and, where<br />
appropriate, at the regional or local level <strong>in</strong> order to <strong>in</strong>fluence<br />
decision-mak<strong>in</strong>g processes likely to affect, directly or <strong>in</strong>directly, the<br />
populations (of Roma, S<strong>in</strong>ti, Kalé, Travellers and related groups <strong>in</strong><br />
Europe)…" 125 Dies ist e<strong>in</strong> Schritt, den von Günter Grass<br />
beschriebenen Zustand der Stimmlosigkeit der Roma zu<br />
überw<strong>in</strong>den.<br />
Schon kurz nach dem Vertragsschluss des ERTF mit dem<br />
Europarat wurde das Forum auch <strong>in</strong> Richtung anderer europäischer<br />
Institutionen aktiv und fand bei ihnen Beachtung. So überreichte<br />
e<strong>in</strong>e Delegation des ERTF am 7. 4. 2005 – also am Vorabend des<br />
jährlich gefeierten <strong>in</strong>ternationalen Roma-Tages 126 – dem<br />
Präsidenten des Europäischen Parlamentes, J. Borrell, die Flagge<br />
der Roma und bat das Parlament um Kooperation. „This is the<br />
beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g of speak<strong>in</strong>g with – and not just about – Roma“, so der<br />
Gründungspräsident des Forums, R. Kawczynski.<br />
Am 28. 4. 2005 verabschiedete das Europäische Parlament e<strong>in</strong>e<br />
Entschließung zu der Lage der Roma <strong>in</strong> der Europäischen Union.<br />
Dieser Entschließung ist deutlich anzumerken, dass die Diskussion<br />
um die Gründung e<strong>in</strong>es europäischen Forums für die Roma und die<br />
darauf aufbauende Etablierung des ERTF die Akzeptanz der<br />
politischen Partizipation der Roma gefördert hat. Es wird mit<br />
Bedauern festgestellt, dass die Roma immer noch <strong>in</strong> den<br />
Regierungsstrukturen und Behörden der Länder, <strong>in</strong> denen sie e<strong>in</strong>en<br />
erheblichen Anteil an der Bevölkerung stellen, unterrepräsentiert<br />
s<strong>in</strong>d und dass e<strong>in</strong>e wirksame Beteiligung der Roma am politischen<br />
Leben sicherzustellen ist, und zwar <strong>in</strong>sbesondere dort, wo von den<br />
Entscheidungen ihre Geme<strong>in</strong>schaft betroffen ist. Die Entschließung<br />
begrüßt ausdrücklich die Bildung des ERTF und anerkennt die<br />
Bedeutung der Zusammenarbeit mit diesem Forum.<br />
Bisher s<strong>in</strong>d die Roma <strong>in</strong> der Regel Objekte der Programme auf<br />
europäischer, e<strong>in</strong>zelstaatlicher und lokaler Ebene. Durch das Forum<br />
soll diese von den Roma kritisierte Vorgehensweise überwunden<br />
werden. "It is only natural that the Roma themselves, as the best<br />
125 Statut des ERTF, Art. 3.1<br />
126 Sowohl der <strong>in</strong>ternationale Roma-Tag als auch die Flagge und die Hymne der<br />
Roma wurden 1971 vom Londoner Weltkongress der Roma e<strong>in</strong>geführt.<br />
73
Peter Thelen<br />
experts, should take part <strong>in</strong> plann<strong>in</strong>g and monitor<strong>in</strong>g activities. Up to<br />
now the Roma have been ma<strong>in</strong>ly the focus of activities, but from<br />
now on they will have their own opportunity to participate. The<br />
forum offers a way to convey the Roma's views and expertise to<br />
decision-makers. This is beneficial for the Roma as well as<br />
governments and <strong>in</strong>ternational organizations." 127<br />
Die Gründung der ERTF kann dazu beitragen, dass die Roma aus<br />
ihrer Rolle als Objekte der Politik zu teilnehmenden Subjekten<br />
werden. Diese Chance besteht trotz aller Probleme <strong>in</strong> der Praxis.<br />
Längerfristig wird der Erfolg allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>er weiteren<br />
Verbesserung der demokratischen Legitimation des Gremiums<br />
abhängen. Vielleicht kann die Arbeit des Forums dazu beitragen,<br />
dass die organisatorischen Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e<br />
unzweifelhafte Repräsentativität der Roma geschaffen werden. Dies<br />
wäre auf längere Sicht der Übergang von e<strong>in</strong>em Forum zu e<strong>in</strong>em<br />
Parlament der Roma.<br />
127<br />
Tarja Halonen <strong>in</strong> ihrer Rede zur Eröffnung des ERTF <strong>in</strong> Straßburg am 15. Dez.<br />
2004<br />
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80
Günter Grass<br />
Ohne Stimme 1<br />
ROMA IN EUROPA<br />
... Dennoch ist <strong>in</strong>sgesamt zu sagen, daß sich die Europäische<br />
Union, <strong>in</strong>klusive zukünftiger Beitrittsländer, mehr und mehr als<br />
Festung begreift. Europa will sich dicht machen, um dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen<br />
der Elenden, die aus Afrika, Asien und Rußland kommen,<br />
kommen wollen oder bereits unterwegs s<strong>in</strong>d, widerstehen zu<br />
können. Das ist nicht e<strong>in</strong>fach. Die langen Meeresküsten Spaniens<br />
und Italiens, die rigorosen Schleuserbanden, die Durchlässigkeit der<br />
osteuropäischen Grenzen, all das spricht gegen den Erfolg der<br />
Festungsbauer. Noch behilft man sich mit der Abschiebepraxis. Noch<br />
glaubt man mit - wenn auch zögerlichem und unzureichendem -<br />
Schuldenerlaß den armen Ländern genügend Hilfe zu gewähren.<br />
Doch <strong>in</strong>nerhalb der Festung Europa macht sich Festungsmentalität<br />
breit. Immer neue Gesetze werden erlassen, die die demokratischen<br />
Spielräume verengen. Dem Rechtsradikalismus, der oft genug die<br />
regierungsamtliche Politik auf die brutalstmögliche Weise <strong>in</strong> die Tat<br />
umsetzt, will man, wie anfangs gesagt, mit e<strong>in</strong>em Parteiverbot der<br />
NPD 2 beikommen. Das Denken verengt sich. Ängste gehen um,<br />
die sich aus latenter und oft genug mit politischem Kalkül ermunterter<br />
Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit speisen. Da es aber nicht gel<strong>in</strong>gt,<br />
Europas Grenzen nach außen total abzusichern, richtet sich der<br />
e<strong>in</strong>mal entfesselte Sicherheitswahn gesamteuropäisch auch gegen<br />
M<strong>in</strong>derheiten, die seit Jahrhunderten Mitbewohner unseres<br />
Kont<strong>in</strong>ents s<strong>in</strong>d.<br />
Von ihnen soll hier die Rede se<strong>in</strong>. Sie stehen ständig unter<br />
Verdacht. Sie s<strong>in</strong>d allerorts nur geduldet. Ihre Existenz ist von<br />
gleichbleibend starren Vorurteilen beschwert. Man hat sie<br />
diskrim<strong>in</strong>iert, verfolgt und während zwölf Jahren, als nach<br />
deutschen Rassegesetzen Recht gesprochen wurde, deportiert und <strong>in</strong><br />
Konzentrationslagern ermordet. Sie werden, wenn Schuld<br />
e<strong>in</strong>gestanden wird, vergessen oder allenfalls beiläufig genannt. Ich<br />
spreche von S<strong>in</strong>ti und Roma. Die grob geschätzt zwanzig Millionen<br />
Angehörigen dieses Volkes bilden die größte und dennoch nicht<br />
ausreichend anerkannte M<strong>in</strong>derheit Europas. Sie s<strong>in</strong>d wie ohne<br />
Stimme. Das heißt: Sie s<strong>in</strong>d da, doch dort, wo<br />
1 Auszug aus der Rede vor dem Europarat <strong>in</strong> Straßburg am 11. Oktober 2000. Günter<br />
Grass: Ohne Stimme, © Steidl Verlag, Gött<strong>in</strong>gen 2000. Der Abdruck erfolgt mit<br />
freundlicher Genehmigung des Steidl Verlags.<br />
2 Abk. für e<strong>in</strong>e nicht im Bundestag vertretene rechtsradikale Partei (Anm. des Hrsg.)<br />
81
Günter Grass<br />
gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, werden sie<br />
nicht wahrgenommen. Wenn von ihrer Kultur die Rede ist, fehlt es<br />
nicht an schwärmerischen H<strong>in</strong>weisen auf die Zigeunermusik und<br />
deren E<strong>in</strong>flüsse auf spanische, ungarische und deutsche<br />
Komponisten. Man tut e<strong>in</strong>erseits so, als bestehe das Volk der Roma<br />
aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber andererseits nicht bereit, über<br />
Proklamationen h<strong>in</strong>aus dieser so zahlreichen M<strong>in</strong>derheit zu e<strong>in</strong>em<br />
demokratischen Mitspracherecht zu verhelfen.<br />
Ich muß mich korrigieren: In Ansätzen gibt es diese Mitsprache.<br />
In der jungen und bisher von den blutigen Wirren des Balkans<br />
verschonten Republik Makedonien s<strong>in</strong>d Abgeordnete aus vier<br />
Roma-Parteien im Parlament vertreten. In e<strong>in</strong>igen Stadtbezirken<br />
der Hauptstadt ist sogar Romanes, die Sprache der Roma,<br />
Amtssprache. Doch <strong>in</strong> Tschechien, wo selbst unter kommunistischer<br />
Herrschaft dem Parlament elf Abgeordnete der Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheit angehörten, ist es seit der politischen Wende mit dieser<br />
Mitsprache vorbei. Als kürzlich <strong>in</strong> Prag e<strong>in</strong> Kongreß der<br />
Internationalen Romani Union stattfand und sich vierhundert Vertreter<br />
der weit zerstreuten M<strong>in</strong>derheit versammelt hatten, wurden <strong>in</strong> der<br />
ihnen geme<strong>in</strong>samen Sprache all die <strong>europa</strong>weit zu belegenden<br />
Ungerechtigkeiten laut, die seit Jahrhunderten dem Volk der Roma<br />
zugefügt werden: Diskrim<strong>in</strong>ierung, Ausgrenzung, Vertreibung,<br />
Verfolgung, Totschlag. So s<strong>in</strong>d zur Zeit von den<br />
hundertfünfzigtausend Roma-Angehörigen im Kosovo nur noch<br />
fünfzehn- bis zwanzigtausend geblieben, die, <strong>in</strong> Ghettos gepfercht, zu<br />
überleben versuchen; der Großteil hat, verfolgt vom Haß und den<br />
Gewalttätigkeiten der Serben und Albaner, die Flucht ergreifen<br />
müssen. Die gegenwärtig anwesenden Kfor-Soldaten waren und<br />
s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> der Lage, sie vor dem doppelten Haß zu schützen, sei<br />
es, weil sie überfordert s<strong>in</strong>d, sei es, weil wieder e<strong>in</strong>mal den<br />
Angehörigen des Romavolkes Schutz verweigert wird. Und dennoch<br />
wurde auf dem Kongreß <strong>in</strong> Prag kühn und aus verletztem<br />
Selbstbewußtse<strong>in</strong> von der Nation der Roma gesprochen. E<strong>in</strong><br />
Beschluß wurde gefaßt, nach dem demnächst <strong>in</strong> Brüssel e<strong>in</strong> Büro<br />
der <strong>in</strong>ternationalen Organisation e<strong>in</strong>gerichtet werden soll. Denn<br />
auch dort, wo alle Interessengruppen aus Wirtschaft und Industrie<br />
kraft ihrer jeweiligen Lobby mitsprechen und Entscheidungen<br />
bee<strong>in</strong>flussen, s<strong>in</strong>d die Roma ohne Stimme.<br />
Doch das ist und kann nicht genug se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e so große M<strong>in</strong>derheit,<br />
die bei uns <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerer Zahl, doch <strong>in</strong> Spanien und Portugal, <strong>in</strong><br />
Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien<br />
überaus zahlreich ist, verlangt aus e<strong>in</strong>sichtigen Gründen nach<br />
e<strong>in</strong>em demokratischen Mitspracherecht. Wo anders sollte e<strong>in</strong><br />
solches Recht verwurzelt se<strong>in</strong> als hier <strong>in</strong> Straßburg, im Europäischen<br />
Parlament. Es ist nicht damit getan, daß dann und wann so<br />
82
ROMA IN EUROPA<br />
feierliche wie gutwillige Resolutionen verabschiedet werden, die<br />
dem Volk der Roma ihre ohneh<strong>in</strong> unübersehbare Existenz<br />
bestätigen. Vielmehr ist es an der Zeit, den hochgesteckten Ansprüchen<br />
der immer größer werdenden Europäischen Union<br />
gerecht zu werden. Europa muß mehr se<strong>in</strong> als nur e<strong>in</strong> erweiterter<br />
Markt und e<strong>in</strong>e auf Wirtschafts<strong>in</strong>teressen ausgerichtete Bürokratie.<br />
Europa hat e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same, wenn auch widerspruchsvolle und allzu<br />
oft <strong>in</strong> Krieg und Gewalt umschlagende Geschichte; seit dem fünfzehnten<br />
Jahrhundert s<strong>in</strong>d die Gitanes, Gypsies, Zigeuner dieser<br />
Geschichte zugehörig, oft genug als Leidtragende und Verfolgte. Europa<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Vielgestalt hat e<strong>in</strong>e sich wechselseitig <strong>in</strong>spirierende<br />
Kultur; wer wollte leugnen, daß <strong>in</strong>sbesondere die Musik von der<br />
Musikalität der Roma bee<strong>in</strong>flußt worden ist. Und Europa hat e<strong>in</strong>e<br />
geme<strong>in</strong>same Verantwortung. Nach e<strong>in</strong>em Jahrhundert, <strong>in</strong> dem<br />
totalitäre Ideologien und Rassenwahn, Weltkriege und Völkermorde,<br />
bl<strong>in</strong>dwütige Zerstörung und Massenvertreibungen unseren<br />
Kont<strong>in</strong>ent wiederholt an den Abgrund gebracht haben, sich aber<br />
schließlich doch e<strong>in</strong> demokratisches Selbstverständnis erprobt und<br />
endlich auch e<strong>in</strong>gebürgert hat, sollte es möglich se<strong>in</strong>, der größten<br />
M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa, dem Volk und der Nation der Roma, im<br />
Straßburger Parlament Sitz und Stimme zu geben.<br />
Schon bei der nächsten Europawahl könnten die Vertreter dieser<br />
Nation mit e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Liste Mandate anstreben. Ich weiß,<br />
der Weg bis zu e<strong>in</strong>em demokratischen Wahlgang ist mit<br />
Schwierigkeiten besonderer Art gepflastert. Nicht nur die<br />
e<strong>in</strong>gefleischten Vorurteile gegenüber Zigeunern werden gegen e<strong>in</strong>en<br />
solchen Entschluß wirksam werden, auch wird es nicht leicht se<strong>in</strong>,<br />
die Angehörigen des Romavolkes, unter ihnen viele Staatenlose,<br />
dazu zu bewegen, sich für e<strong>in</strong>e anstehende Wahl registrieren zu<br />
lassen. Alle<strong>in</strong> dieses Wort ruft bei ihnen Er<strong>in</strong>nerungen wach an<br />
Hunderttausende Familienangehörige, die registriert, das heißt<br />
schriftlich erfaßt und mit Hilfe genau geführter Listen verhaftet, deportiert,<br />
<strong>in</strong> deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Also<br />
ist die Scheu vor e<strong>in</strong>er Registrierung selbst dann, wenn sie für e<strong>in</strong>e<br />
demokratische Wahl Voraussetzung ist, verständlich und muß doch<br />
überwunden werden. H<strong>in</strong>zu kommt, daß Romanes, die Sprache<br />
des Romavolkes, nur <strong>in</strong> Ansätzen verschriftlicht ist. Zwar wird sie <strong>in</strong><br />
allen europäischen Ländern neben der Landessprache von den<br />
Roma und S<strong>in</strong>ti <strong>in</strong> jeweiligem Dialekt gesprochen, aber diese<br />
<strong>in</strong>nere Verständigung dr<strong>in</strong>gt nicht nach außen. Sie kapselt ab. Sie bot<br />
und bietet Schutz. Sie ist die Geheimsprache der Diskrim<strong>in</strong>ierten<br />
und Verfolgten. Doch auch diese Widerstände müssen nach und<br />
nach überwunden werden. Auf der Prager Tagung der Internationalen<br />
Romani Union wurden solche Forderungen laut. Es könnte,<br />
83
Günter Grass<br />
zum Beispiel, Aufgabe der europäischen Behörden und der<br />
Europäischen Investitionsbank se<strong>in</strong>, mit e<strong>in</strong>em langfristigen<br />
Programm die Sprachentwicklung des Romanes zur<br />
Unterrichtssprache zu fördern. Nur so wird sich den K<strong>in</strong>dern der<br />
Roma und S<strong>in</strong>ti der Weg zu weiterführenden Schulen und <strong>in</strong> die<br />
Universitäten öffnen lassen, nur so können sie <strong>in</strong> ausreichender<br />
Zahl zu Sprechern ihres Volkes werden, nicht zuletzt und wie hier<br />
gefordert im Europaparlament zu Straßburg.<br />
... Doch das hier <strong>in</strong> Straßburg gesetzte Thema ist von<br />
grenzüberschreitender Bedeutung. Und weil es nicht damit getan<br />
ist, <strong>in</strong> wohlformulierten Erklärungen gegen den Rassismus zu<br />
protestieren, es vielmehr darauf ankommt, mutig politische<br />
Zeichen zu setzen, das heißt, tätig den Rassismus zu überw<strong>in</strong>den,<br />
wiederhole ich me<strong>in</strong>en Vorschlag als Forderung. Für das Europäische<br />
Parlament <strong>in</strong> Straßburg wäre es e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n, wenn <strong>in</strong> ihm die frei<br />
gewählten Abgeordneten des Romavolkes Sitz und Stimme hätten.<br />
Sie s<strong>in</strong>d Europas beweglichste Bürger. Sie überw<strong>in</strong>den Grenzen. Sie<br />
s<strong>in</strong>d mehr als alle anderen bewährte, weil leidgeprüfte Europäer.<br />
84
Rajko Djuric<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Die Standardsprache der R<strong>roma</strong> - Bed<strong>in</strong>gung und<br />
Grundlage der nationalen und kulturellen Identität der<br />
R<strong>roma</strong> 1<br />
Jahrhunderte h<strong>in</strong>durch waren Geschichte, Kultur und Sprache der<br />
R<strong>roma</strong> Gegenstand zahlreicher Untersuchungen der Nicht-R<strong>roma</strong>.<br />
Sie behaupteten, die R<strong>roma</strong> seien fahrendes Volk, Analphabeten<br />
und Menschen ohne Schulbildung und verwehrten mit derartigen<br />
Argumenten den R<strong>roma</strong> den Zugang zu ihrer geschichtlichen und<br />
kulturellen Vergangenheit und deren Erforschung. Ende der 60iger<br />
Jahre des letzten Jahrhunderts traten erstmals <strong>in</strong>tellektuelle R<strong>roma</strong><br />
öffentlich <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung, es entstanden erste Anfänge e<strong>in</strong>er<br />
nationalen und kulturellen Bewegung der R<strong>roma</strong>. Das R<strong>roma</strong>nes,<br />
die vorher lediglich als Untersuchungsgegenstand betrachtete<br />
Sprache der R<strong>roma</strong>, wurde nun als e<strong>in</strong>e wichtigen Sache. Man<br />
begann, sie als e<strong>in</strong> wesentliches Merkmal der nationalen und<br />
kulturellen Identität zu behandeln. Seither wird sie nicht mehr nur<br />
als bloße l<strong>in</strong>guistische und kulturelle Tatsache angesehen, sondern<br />
hat auch erheblich an politischer Bedeutung gewonnen. Als<br />
wesentlicher Bestandteil des lebendigen Gedankens wurde die<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache zum Ort der Erfahrung und der Begegnung mit<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der R<strong>roma</strong>. Mit anderen<br />
Worten, das R<strong>roma</strong>nes wurde nicht mehr nur aus etymologischer<br />
Sicht, aus der Sicht e<strong>in</strong>er vergleichenden und dialektologischen<br />
Philologie (wie das bis dah<strong>in</strong> meist der Fall gewesen war)<br />
betrachtet, sondern wir begannen, <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache das Herz<br />
der Geschlechter, Familien, Clans und Gruppen zu sehen,<br />
<strong>in</strong>sbesondere derer, die <strong>in</strong> Europa leben. Ab diesem Zeitpunkt<br />
wurde zwischen den R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale – die bis dah<strong>in</strong> ohne<br />
kont<strong>in</strong>uierlichen Kontakt und unter unterschiedlichsten<br />
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bed<strong>in</strong>gungen 800 Jahre<br />
lang vone<strong>in</strong>ander getrennt gelebt hatten - e<strong>in</strong> höherer Grad an<br />
kultureller, nationaler und sozialer Integration erreicht.<br />
Das Bewusstse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Sprache zu haben, und der Wille, sich zu<br />
dieser Sprache zu bekennen, manifestierten sich 1971 beim Ersten<br />
Weltkongress der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> London, als die Kommission für r<strong>roma</strong>ni<br />
1<br />
Die französische Fassung dieses Beitrags erschien im August 2005 <strong>in</strong> Etudes<br />
Tsiganes<br />
85
Rajko Djuric<br />
Sprache und Bildung gegründet wurde. Bis jedoch diese<br />
Kommission e<strong>in</strong>gerichtet werden konnte, mussten viele<br />
Voraussetzungen geschaffen und viele – sowohl subjektiv wie<br />
objektiv – falsche Wege wieder verlassen werden, wie wir gesehen<br />
haben. E<strong>in</strong>e der wichtigsten Voraussetzungen ist der politische und<br />
rechtliche Status der R<strong>roma</strong>. Die R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale besaßen<br />
damals gar ke<strong>in</strong>en Status, sie galten weder als ethnische Gruppe<br />
noch als nationale M<strong>in</strong>derheit. Ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Land erkannte sie als<br />
Geme<strong>in</strong>wesen, als Geme<strong>in</strong>schaft an.<br />
Als erstes Land der Welt nahm Ex-Jugoslawien den Status der<br />
R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Verfassung auf (Ustav). Die jugoslawische<br />
Verfassung gab den R<strong>roma</strong> als ethnische Gruppe die Möglichkeit,<br />
eigene Organisationen und Kulturklubs zu gründen, die eigene<br />
Sprache zu sprechen, die Alphabetisierung und die Kultur zu<br />
fördern, das R<strong>roma</strong>nes <strong>in</strong> der Schule zu lernen und Medien auf<br />
R<strong>roma</strong>nes zu gründen. In den Gebieten mit der größten R<strong>roma</strong>-<br />
Konzentration, wie z. B. <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>, Prisht<strong>in</strong>a, Nis, Belgrad und<br />
anderen Orten, errichtete man für K<strong>in</strong>der ab dem 5. und 6.<br />
Lebensjahr Schulen, an denen sie von r<strong>roma</strong>ni Lehrern auf<br />
R<strong>roma</strong>nes und Serbisch unterrichtet wurden. Bei r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>dern,<br />
welche die Grundschule des Stadtviertels besuchten, sah der<br />
Lehrplan auch e<strong>in</strong>ige Stunden Unterricht <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
und der r<strong>roma</strong>ni Geschichte vor. Es musste jedoch erst noch e<strong>in</strong>e<br />
Pädagogische Hochschule für die Ausbildung der Lehrkräfte<br />
errichtet werden, welche die R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Sprache, Geschichte und<br />
Kultur unterrichten wollten.<br />
In <strong>Skopje</strong> entstand das PRALIPE-Theater, an dem 4 oder 5<br />
Theaterstücke <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Sprache aufgeführt wurden. 2 Gleichzeitig<br />
dazu entstehen <strong>in</strong> mehreren Städten Jugoslawiens (<strong>Skopje</strong>, Tetovo,<br />
Prisht<strong>in</strong>a, Mitrovica, Belgrad, Novi Sad, Sarajevo, Maribor, Murska<br />
Sobota) Radio- und Fernsehsendungen auf R<strong>roma</strong>nes, es<br />
ersche<strong>in</strong>en Zeitungen auf R<strong>roma</strong>nes. Nach dem Zusammenbruch<br />
der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien g<strong>in</strong>gen viele<br />
dieser Errungenschaften verloren. Von den neuen, gerade<br />
entstandenen Staaten gestanden Makedonien und Slowenien den<br />
R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> ihrer Verfassung den Status e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit<br />
(selorri) zu, ohne jedoch den Begriff ‚nationale M<strong>in</strong>derheit’ näher zu<br />
def<strong>in</strong>ieren. In <strong>Skopje</strong>, der Hauptstadt Makedoniens, senden Radio-<br />
und Fernsehstationen Programme auf Romanes und es gibt e<strong>in</strong>e<br />
2 Dieses Theater erlangte <strong>in</strong>ternationale Anerkennung und arbeitet jetzt <strong>in</strong><br />
Deutschland am Theater von Mühlheim an der Ruhr.<br />
86
ROMA IN EUROPA<br />
Zeitung <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache. In Serbien werden <strong>in</strong> den Städten<br />
Nis und Novi Sad ebenfalls Sendungen auf R<strong>roma</strong>nes gebracht.<br />
Diese kurze Erfahrung <strong>in</strong> Ex-Jugoslawien bildete die Grundlage des<br />
Gedankens an e<strong>in</strong>e allen R<strong>roma</strong> geme<strong>in</strong>same Sprache.<br />
Den Lehrern der kle<strong>in</strong>en 5 bis 6jährigen R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der war<br />
aufgefallen, dass diese viel schneller und auch besser sowohl<br />
R<strong>roma</strong>nes wie auch Serbisch lernten, wenn der Unterricht <strong>in</strong> zwei<br />
Sprachen abgehalten wurde: e<strong>in</strong>e Stunde auf R<strong>roma</strong>nes, e<strong>in</strong>e<br />
Stunde auf Serbisch. So hatten diese K<strong>in</strong>der erstmals die<br />
Möglichkeit, <strong>in</strong> der Schule unter vergleichbaren Voraussetzungen<br />
mit den anderen K<strong>in</strong>dern zu lernen und waren nicht mehr, wie<br />
vorher die ganze Zeit, schon bei Schule<strong>in</strong>tritt benachteiligt. Anders<br />
gesagt, die r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>der hatten bis dah<strong>in</strong> nicht genug Kenntnisse<br />
der serbischen Sprache, sie hatten <strong>in</strong> Bezug auf Verständnis und<br />
Aneignung des Schulstoffs nicht die gleichen Chancen wie die<br />
K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> aus besser gestellten Familien.<br />
Aber auch K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> aus dem gleichen Milieu, aus<br />
armen Familien, sprechen nicht gut Serbisch. Ihr Wortschatz ist<br />
ger<strong>in</strong>g und die Grammatik fehlerhaft, aber die Lehrer behaupten,<br />
r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>der würden deswegen nicht gut Serbisch sprechen, weil<br />
sie R<strong>roma</strong> seien, die zuhause e<strong>in</strong>e andere Sprache sprechen. Sie<br />
unterscheiden zwischen den sozial benachteiligten K<strong>in</strong>dern aus<br />
Nicht-R<strong>roma</strong> Familien und den R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>dern: Bei den R<strong>roma</strong><br />
führen sie alle Schwierigkeiten auf die Nation, die Sprache, die<br />
Familie etc. zurück. Das heißt, dass unsere K<strong>in</strong>der im Vergleich zu<br />
K<strong>in</strong>dern aus Nicht-R<strong>roma</strong> Familien deutlich benachteiligt s<strong>in</strong>d, da<br />
letztere <strong>in</strong> der Schule <strong>in</strong> ihrer Muttersprache lernen.<br />
Andererseits hielt man die K<strong>in</strong>der der R<strong>roma</strong> jedoch auch für<br />
‚weniger <strong>in</strong>telligent’ als die K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> und schickte sie<br />
daher <strong>in</strong> Sonderschulen, ja sogar <strong>in</strong> Schulen für geistig Beh<strong>in</strong>derte,<br />
so genannte ‚Irrenschulen’. Als Psychologen und Pädagogen aus<br />
Belgrad, Novi Sad und Maribor mit <strong>in</strong> Sonderschulen e<strong>in</strong>geschulten<br />
R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>dern Tests durchführten, erwies sich jedoch, dass diese<br />
durchaus <strong>in</strong>telligenter waren als Nicht-R<strong>roma</strong> K<strong>in</strong>der. Diese Tests<br />
beruhten jedoch nicht auf Fähigkeiten zur verbalen Kommunikation,<br />
sondern auf mathematischen und logischen Pr<strong>in</strong>zipien und hier<br />
zeigte sich die Überlegenheit der R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der.<br />
Aus den bisher gemachten Erfahrungen lässt sich schließen, dass<br />
R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der, wenn sie mit R<strong>roma</strong>-Lehrern auf R<strong>roma</strong>nes lernen<br />
können, größeres Selbstvertrauen entwickeln und <strong>in</strong> ihren<br />
87
Rajko Djuric<br />
Wünschen und Ambitionen anspruchsvoller werden, e<strong>in</strong> Phänomen,<br />
das überall dort zu beobachten war, wo R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Schule<br />
Sprache, Geschichte und Kultur der R<strong>roma</strong> lernen konnten. Vorher<br />
galt die Schulpflicht für R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der bis zur vierten Klasse,<br />
danach g<strong>in</strong>gen viele nicht weiter zur Schule. Als sie anf<strong>in</strong>gen, ihre<br />
Muttersprache und ihre Geschichte zu lernen, schlossen viele nicht<br />
nur die achte Klasse der Grund- und Hauptschule ab sondern<br />
besuchten weiterführende Schulen, e<strong>in</strong>ige schafften es sogar bis an<br />
die Universität. Das R<strong>roma</strong>nes erwies sich als wichtiger Faktor zur<br />
Entwicklung von Persönlichkeit und Intelligenz der jungen<br />
Menschen, e<strong>in</strong>e Tatsache, die auch L<strong>in</strong>guistiker und<br />
Psychol<strong>in</strong>guistiker anerkennen. Sprache ist nicht nur e<strong>in</strong> Mittel zur<br />
Kommunikation und zur Verständigung, sie ist vielmehr - wie<br />
allgeme<strong>in</strong> anerkannt wird - untrennbar mit Bewusstse<strong>in</strong>, Verstehen,<br />
Werten und Emotionen verbunden. Sie steht schlicht im Zentrum<br />
des Prozesses, der für die F<strong>in</strong>dung und Verwirklichung der<br />
Persönlichkeit notwendig ist.<br />
Diese Erfahrung machte man auch an der Sommerschule der<br />
R<strong>roma</strong>, die von 1989 bis 1993 <strong>in</strong> Belgrad, Wien, Karia, Rom und<br />
Montpellier abgehalten wurde. Die jungen Menschen empfanden<br />
die Begegnung mit der r<strong>roma</strong>ni Sprache wie e<strong>in</strong>e Begegnung mit<br />
sich selbst. Durch Etymologie, Wortschatz, Grammatik und Syntax<br />
der r<strong>roma</strong>ni Sprache fanden sie e<strong>in</strong>en Weg, der ihnen ihre nationale<br />
und kulturelle Identität wies, der sie letztlich zu sich selber führte,<br />
tief <strong>in</strong> ihre Herzen und Seelen. Viele von ihnen haben hier zum<br />
ersten Mal erlebt, dass R<strong>roma</strong>, die weit vone<strong>in</strong>ander entfernt <strong>in</strong><br />
verschiedenen Ländern leben, sich <strong>in</strong> der Sprache ganz nah s<strong>in</strong>d –<br />
e<strong>in</strong>e starke Motivation, die Sprache der R<strong>roma</strong> so gut wie möglich<br />
zu erlernen, da sie als Königsweg zur E<strong>in</strong>heit der R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und<br />
Kale begriffen wird.<br />
Die Idee e<strong>in</strong>er Standard r<strong>roma</strong>ni Sprache war Thema mehrerer<br />
Konferenzen, an denen <strong>in</strong>tellektuell gebildete R<strong>roma</strong> teilnahmen.<br />
1976 fand an der Akademie der Wissenschaft und Künste von<br />
Belgrad das Symposium ‚Das Leben und die R<strong>roma</strong> (R<strong>roma</strong>nipen)’<br />
statt. Mehrere Beiträge dieses Symposiums waren dem Thema<br />
Sprache gewidmet. Im Jahr 1983 fand im Rahmen des ersten<br />
Internationalen Kulturfestivals <strong>in</strong> Chandigarh <strong>in</strong> Indien e<strong>in</strong><br />
Symposium zu diesem Thema statt, dann 1986 das große<br />
Symposium für Tsiganistische Studien <strong>in</strong> Beaubourg (Paris).<br />
Das wichtigste Symposium mit dem Titel ‚Sprache und Kultur der<br />
R<strong>roma</strong>’ fand ebenfalls 1986 <strong>in</strong> Sarajevo statt. Danach folgte 1990<br />
e<strong>in</strong>e Konferenz <strong>in</strong> Warschau, zwei Tage später eröffnete man den<br />
88
ROMA IN EUROPA<br />
4. Internationalen Kongress der R<strong>roma</strong>. An diesem Kongress<br />
nahmen unter anderem auch 30 – 35 begeisterte und engagierte<br />
Sprachwissenschaftler teil. Die Ergebnisse ihrer Diskussionen<br />
bildeten die Grundlagen für die Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache; zum ersten Mal manifestierte sich hier das Bewusstse<strong>in</strong>,<br />
dass die Sprache <strong>in</strong> der nationalen r<strong>roma</strong>ni Identität e<strong>in</strong>e große<br />
politische Rolle spielt. Wie damals schon betont wurde, ist die<br />
Standardisierung der Sprache e<strong>in</strong> komplexer Prozess, e<strong>in</strong>e<br />
schwierige, geme<strong>in</strong>same Aufgabe, für deren Umsetzung zahlreiche<br />
Voraussetzungen erfüllt se<strong>in</strong> müssen – angefangen beim<br />
Fachwissen bis h<strong>in</strong> zu Schulen, Universitäten, Medien etc…<br />
Theoretisch verläuft die Standardisierung <strong>in</strong> zehn verschiedenen<br />
Etappen: (1) die Auswahl e<strong>in</strong>er Norm, mit anderen Worten, die<br />
Entscheidung, welche organischen Idiome die Grundlage der<br />
Standardsprache bilden sollen, (2) die Analyse der <strong>in</strong>ternen<br />
Gliederung dieser Grundlage, (3) die Wahl des Standardmodells<br />
(monolektal oder polylektal) mit e<strong>in</strong>em gewissen Toleranzgrad, (4)<br />
die Kodifizierung der Schrift, (5) die Standardisierung der<br />
Verständnisprobleme, (6) die Ausarbeitung von Term<strong>in</strong>ologien, (7)<br />
die Versuchsphase, (8) die Akzeptanzphase, (9) die<br />
Normenbeschreibung, e<strong>in</strong>e Arbeit, die von Wissenschaftlern<br />
durchzuführen ist, (10) die Entwicklung durch Literatur, populäre<br />
Schriften und journalistische Arbeiten.<br />
Bis heute ist die Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache noch nicht<br />
über die Phasen 5, 6 und 7 h<strong>in</strong>aus gelangt, weil die wichtigsten<br />
Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e weitere, weltweite Erprobung dieses<br />
Experiments noch nicht geschaffen werden konnten.<br />
Marcel Courthiade arbeitet mit anderen R<strong>roma</strong>-Mitgliedern der<br />
Sprachkommission weiter an dieser großen und schwierigen<br />
Aufgabe. Die Kommission wurde während des Vierten Kongresses<br />
gewählt, 3 als ihr Koord<strong>in</strong>ator konnte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Arbeiten<br />
signifikante Ergebnisse vorweisen, die zusammen mit den Arbeiten<br />
der Kommission viel Beachtung fanden. Se<strong>in</strong>e Arbeiten und se<strong>in</strong><br />
Name werden <strong>in</strong> die Geschichte der R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>gehen – dafür<br />
müssen allerd<strong>in</strong>gs diejenigen Sorge tragen, die später e<strong>in</strong>mal die<br />
Geschichte unserer Sprache und unserer Kultur aufschreiben<br />
werden.<br />
3 Anlässlich des 4. Weltkongresses <strong>in</strong> Prag im Jahr 2000 wurde daraus das<br />
„Kommissariat für Sprache und l<strong>in</strong>guistische Rechte“. Der Kongress von<br />
Pietraferrazzara bestätigte 2004 die Fortführung des Kommissariats.<br />
89
Rajko Djuric<br />
Die Arbeiten zur Standardisierung des R<strong>roma</strong>nes erfordern die<br />
Untersuchung von Dialekten <strong>in</strong> vielen Ländern. Milena<br />
Hübschmanová, Indolog<strong>in</strong> an der Prager Universität, hat zum<br />
Beispiel e<strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni-tschechisches Lexikon herausgebracht;<br />
Gheorghe Sarqu aus Budapest e<strong>in</strong> ‚Kle<strong>in</strong>es Lexikon der r<strong>roma</strong>nirumänischen<br />
Sprache’; Ian Hancock, Professor <strong>in</strong> Aust<strong>in</strong> (Texas)<br />
veröffentlichte se<strong>in</strong>e ‚Bemerkungen zur r<strong>roma</strong>ni Grammatik’; <strong>in</strong><br />
Moskau erschien das ‚Lexikon Russisch – Zigan/ Zigan – Russisch;<br />
Dr. René Gsell, e<strong>in</strong> bekannter L<strong>in</strong>guist und Phonetiker aus Paris,<br />
legte e<strong>in</strong>e weitere wichtige Veröffentlichung vor und zu erwähnen<br />
wären auch noch Kenrick, Bakker, Pobozniak und andere….<br />
Parallel zu diesen Arbeiten werden <strong>in</strong> zahlreichen europäischen<br />
Ländern <strong>in</strong> Literatur und Wissenschaft neue Bücher sowie<br />
Übersetzungen aus anderen Sprachen <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
herausgebracht. So übersetzte Trifun Dimic (Jugoslawien)<br />
Bibelpassagen <strong>in</strong>s R<strong>roma</strong>nes, ebenso Joszef Daroczi Choli aus<br />
Budapest und e<strong>in</strong>ige andere. Es ersche<strong>in</strong>en viele Tageszeitungen<br />
auf R<strong>roma</strong>nes, auch Radio- und Fernsehsendungen werden <strong>in</strong><br />
dieser Sprache ausgestrahlt, z. B. <strong>in</strong> Jugoslawien, Ungarn, der<br />
Tschechischen Republik etc…<br />
Schließlich wird an der Universität von Paris e<strong>in</strong> Lehrstuhl für<br />
Rromologie e<strong>in</strong>gerichtet, e<strong>in</strong> für uns historisches Ereignis. Hier<br />
können junge Menschen nicht nur die r<strong>roma</strong>ni Sprache studieren,<br />
sondern auch Geschichte, Ethnologie, Tradition und Soziol<strong>in</strong>guistik,<br />
die Literatur der R<strong>roma</strong> sowie die Geschichte und Ethnologie<br />
Indiens, wobei hier unter sechs oder sieben <strong>in</strong>dischen Sprachen<br />
gewählt werden kann. Alle<strong>in</strong> das alles zu beschreiben, wäre schon<br />
Stoff für e<strong>in</strong>en langen Artikel.<br />
Es hat verschiedene Reaktionen auf die Arbeiten der Kommission<br />
gegeben, die an der Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache arbeitet.<br />
Ich möchte sie an dieser Stelle kurz beschreiben und analysieren.<br />
Diese Reaktionen gehen <strong>in</strong> zwei Richtungen: Die e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d<br />
überzeugt, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache wegen ihrer großen „Armut“<br />
nicht standardisiert werden kann - wie sie behaupten. Diese<br />
Behauptung wird nicht offen gemacht, eher versteckt, <strong>in</strong> Form von<br />
Anspielungen. Die anderen sagen, dass e<strong>in</strong>e Standardisierung der<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache gar nicht s<strong>in</strong>nvoll sei, weil sich die Dialekte dann<br />
‚vone<strong>in</strong>ander entfernen’ würden.<br />
Diese Thesen beruhen im Allgeme<strong>in</strong>en auf Vorurteilen gegenüber<br />
den R<strong>roma</strong>. Auch Ethnologen hatten ja behauptet, dass die R<strong>roma</strong><br />
90
ROMA IN EUROPA<br />
ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Nation, sondern e<strong>in</strong>e „Randgruppen“ seien,<br />
gemischt mit allen möglichen anderen „Staubpartikeln“(!). Ebenso<br />
verbreiten auch L<strong>in</strong>guisten und Philologen – ob bewusst oder nicht -<br />
derartige rassistische Thesen über die R<strong>roma</strong>. Vielleicht genügt zur<br />
Veranschaulichung dieses Themas e<strong>in</strong> Zitat von Rade Uhlik <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>en „Bemerkungen zur Verwendung der Laute <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache“: „E<strong>in</strong>e nachlässige Betonung und krim<strong>in</strong>elle<br />
Vernachlässigung der Konsonanten - das s<strong>in</strong>d die Ursachen aller<br />
sprachlichen Deformationen und formaler Entgleisungen im<br />
Vokabular dieser primitiven Welt. Die Degeneration des<br />
l<strong>in</strong>guistischen Werkzeugs zeigt sich, neben zahlreichen anderen<br />
negativen Symptomen, <strong>in</strong> der rückläufigen Entwicklung der<br />
Dentallaute. So wie zum Beispiel e<strong>in</strong>ige ethnische Gruppierungen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e zwar zahlreiche, aber qualitätsschwache Nachkommenschaft<br />
degenerieren, zeichnet sich auch der Wortschatz e<strong>in</strong>iger R<strong>roma</strong>-<br />
Gruppen durch unverhältnismäßig zahlreiche Parallelwendungen<br />
und Nuancen aus, die, trotz dieser Vielfalt, oft krankhaft und<br />
geschmacklos s<strong>in</strong>d.“<br />
Rade Uhlik kannte zahllose r<strong>roma</strong>ni Idiome - ke<strong>in</strong>e Monographie<br />
gibt es, ke<strong>in</strong> Buch, das ihn nicht als ‚größten L<strong>in</strong>guisten und<br />
Philologen’ erwähnen würde. Tatsächlich verfügte er über<br />
ausgezeichnete Sprachkenntnisse und war e<strong>in</strong> gelehrter Philologe,<br />
was er jedoch darüber schrieb, ist ganz gewöhnlicher Rassismus,<br />
der bisher noch niemandem aufgefallen ist. Was er zum<br />
Phonem<strong>in</strong>ventar der r<strong>roma</strong>ni Sprache anmerkt, ist geradezu e<strong>in</strong><br />
Paradebeispiel dafür, dass selbst bei denen, die wie Uhlik ihr<br />
ganzes Leben über die R<strong>roma</strong> und die r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
geschrieben haben, immer noch große Vorurteile gegen die R<strong>roma</strong><br />
bestehen und dass rassistische Thesen vertreten werden. Auch er<br />
hat erklärt, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht ‚auf die Ebene e<strong>in</strong>er<br />
Norm’ gehoben werden könne und dass sie unfähig zur Entwicklung<br />
sei. Aber auch junge Menschen haben, ohne die Sprache<br />
überhaupt sprechen zu können, mit viel Getöse von der „Armut“ der<br />
R<strong>roma</strong>-Sprache berichtet und davon, dass ihr Reiz <strong>in</strong> eben dieser<br />
Armut liege. E<strong>in</strong>e Amerikaner<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e gewisse Dame namens<br />
Fonceka, bat e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en schlecht R<strong>roma</strong>nes sprechenden Nicht-<br />
R<strong>roma</strong>, e<strong>in</strong>e Passage aus e<strong>in</strong>em Werk von Shakespeare <strong>in</strong> die<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache zu übertragen, danach wandte sie sich an e<strong>in</strong>en<br />
anderen, der den Text wieder <strong>in</strong>s Englische übersetzte. Sie musste<br />
feststellen, dass die beiden Texte nicht identisch waren und zog<br />
daraus die Schlussfolgerung, dass das R<strong>roma</strong>ni e<strong>in</strong>e sehr arme<br />
Sprache sei, ke<strong>in</strong>en Wortschatz habe und deshalb so „drastisch“<br />
sei, wie die primitive Sprache von Wilden. Sie hat diese<br />
Diffamierung sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Buch veröffentlicht.<br />
91
Rajko Djuric<br />
Andere, mit besseren Kenntnissen <strong>in</strong> Sozialwissenschaften und<br />
allgeme<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>guistik, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihren Aussagen zur r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
weniger explizit als Uhlik oder die Amerikaner<strong>in</strong>. Sie verbergen<br />
ihren Rassismus auf andere Weise, sie sagen zum Beispiel: „man<br />
sollte die r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht standardisieren, das würde zur<br />
Verarmung der Sprache führen“(!), andere wieder stellen fest, dass<br />
es „zahlreiche Dialekte gibt und es daher unmöglich sei, e<strong>in</strong>en<br />
Standard e<strong>in</strong>zuführen“.<br />
In der Tat gibt es <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache viele Dialekte. Es ist<br />
jedoch bekannt, dass e<strong>in</strong>e lebendige Sprache Dialekte braucht.<br />
Warum wird denn e<strong>in</strong>e so offenkundige Tatsache übergangen,<br />
warum werden nirgendwo die Urheber e<strong>in</strong>er Sprachreform erwähnt,<br />
die es <strong>in</strong> jedem Land gegeben hat? Heute ist doch <strong>in</strong> zahlreichen<br />
Ländern Asiens, <strong>in</strong> Afrika und auch bei uns <strong>in</strong> Europa die<br />
Standardisierung der Sprache allgeme<strong>in</strong> vollzogen. Wenn also die<br />
Sprache der R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>e Sprache ist und wenn die R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Nation s<strong>in</strong>d wie alle anderen <strong>in</strong> Europa, Asien und Afrika, warum, so<br />
muss man sich fragen, wird dann die Standardisierung des<br />
R<strong>roma</strong>nes a priori so schief angesehen, als ob hier etwas<br />
‚Schlechtes’ vorg<strong>in</strong>ge?<br />
Es geht hier jedoch gar nicht um die r<strong>roma</strong>ni Sprache und ihre<br />
Unterarten und Dialekte, sondern um etwas anderes, das aus e<strong>in</strong>er<br />
ganz anderen Richtung kommt: Es geht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um<br />
Vorurteile, auch wenn diese heutzutage nicht offen und offiziell<br />
gegen die R<strong>roma</strong> gerichtet s<strong>in</strong>d, sondern sich auf ‚neutraleres<br />
Gebiet’ zurückziehen müssen, wie dem der Sprache und ihrer<br />
Dialekte.<br />
E<strong>in</strong>ige Philologen und ‚padre padroni’ der R<strong>roma</strong> führen die<br />
vielfältigen r<strong>roma</strong>ni Gruppen als Beweis für ihre Behauptungen an.<br />
Sie argumentieren, dass ‚diese Gruppen da’ ihre Sprache für die<br />
beste hielten. Dieses ‚Argument’ ist ke<strong>in</strong>eswegs neu, wie viele<br />
Anthropologen <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten und <strong>in</strong> anderen Ländern<br />
bezeugen. Jede menschliche Gruppierung <strong>in</strong> Afrika, Late<strong>in</strong>amerika<br />
etc. me<strong>in</strong>t, dass ihre Sprache die beste, die reichste sei. Warum?<br />
Weil, sagen die Anthropologen, die Frage: Wer hat die ‚beste<br />
Sprache’ immer ethnisch und nicht philologisch oder l<strong>in</strong>guistisch<br />
def<strong>in</strong>iert wird. Menschen ohne Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik oder<br />
Philologie empf<strong>in</strong>den ihren Dialekt als Wert, als Tradition,<br />
manchmal sogar als ihren Besitz, ihren Vorteil, als ihr eigen Fleisch<br />
und Blut. Sie denken: „ Me<strong>in</strong> Dialekt ist der beste, weil me<strong>in</strong>e<br />
Gruppe die beste ist.“ Auch heute noch zeigen solche unter den<br />
R<strong>roma</strong> durchgeführten Untersuchungen eigentlich nur das Wissen<br />
92
ROMA IN EUROPA<br />
(oder die Unwissenheit) derer, die derartige Befragungen bei den<br />
R<strong>roma</strong> durchführen; ohne ger<strong>in</strong>gste Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik und<br />
Anthropologie schw<strong>in</strong>gen sie sich zu obersten Richtern auf. Ihre<br />
Argumente s<strong>in</strong>d deshalb irreführend und gehören nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
seriöse Debatte zur Standardisierung der Sprache.<br />
Das Zigan muss als e<strong>in</strong>zig, e<strong>in</strong>heitlich und gleichberechtigt mit<br />
den anderen Sprachen der gleichen Familie angesehen<br />
werden. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Sprache <strong>in</strong> der<br />
ihr eigenen Form zu kennen und aus allen Dialekten den<br />
geme<strong>in</strong>samen Zigan-Kern zu extrahieren. Wie e<strong>in</strong> Metall muss<br />
dieser Kern von allen Unre<strong>in</strong>heiten befreit werden, die sich<br />
aufgrund verschiedenster Umstände im Verlauf der Zeit auf<br />
ihm festgesetzt haben.<br />
Anto<strong>in</strong>e Kal<strong>in</strong>a „Die Sprache der slowakischen Zigeuner“.<br />
Leider gibt es auch andere, die all das sehr wohl wissen und<br />
trotzdem derartige Untersuchungen durchführen, weil sie den<br />
R<strong>roma</strong> gegenüber destruktive Absichten hegen. Das ist versteckter<br />
Rassismus.<br />
Völlig vergessen wird hier die ‚dritte Dimension’ der Sprache, die<br />
<strong>in</strong>nig mit der Zukunft und dem Wohlergehen der R<strong>roma</strong> verbunden<br />
ist. Letztere können ihre politische und soziale Stellung nämlich nur<br />
dann ändern, wenn sie als nationale M<strong>in</strong>derheit und politisches<br />
Subjekt anerkannt werden. Umgekehrt können sie ohne diese<br />
Anerkennung nicht ihre Kultur emanzipieren und ihre Sprache<br />
entwickeln. E<strong>in</strong>e neue Politik der R<strong>roma</strong> kann nicht ohne Politik und<br />
ohne l<strong>in</strong>guistische Planung stattf<strong>in</strong>den. So war es auch <strong>in</strong> der<br />
Geschichte anderer Nationen: Alle Sprachreformen mussten nicht<br />
nur l<strong>in</strong>guistische, zur Sprache und zum Wissen gehörende Faktoren<br />
berücksichtigen, sondern auch die reale Situation der Nation und<br />
ihrer politischen und kulturellen Strömungen.<br />
Ohne r<strong>roma</strong>ni Standardsprache können R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale<br />
weder ihre nationale und kulturelle Identifikation noch ihre soziale<br />
Integration voranbr<strong>in</strong>gen. Häufig s<strong>in</strong>d sie noch nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der<br />
Lage, ihre Menschenrechte wahrzunehmen, die ihnen doch <strong>in</strong><br />
zahlreichen <strong>in</strong>ternationalen Akten und Dokumenten zuerkannt<br />
worden s<strong>in</strong>d.<br />
Zwei Beispiele aus Deutschland:<br />
93
Rajko Djuric<br />
E<strong>in</strong> Roma hatte e<strong>in</strong>e Straftat begangen und musste vor Gericht<br />
ersche<strong>in</strong>en. Er erklärte dem Gericht, dass er sich <strong>in</strong> der Sprache<br />
der R<strong>roma</strong> ausdrücken wolle, was ja e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> ganz Europa<br />
und über dessen Grenzen h<strong>in</strong>aus anerkanntes Recht war. Das<br />
Hamburger Gericht beschied ihm: „Ja, Du kannst R<strong>roma</strong>nes<br />
sprechen, aber de<strong>in</strong>e Aussagen können nicht offiziell anerkannt<br />
werden, weil die r<strong>roma</strong>ni Sprache bei uns nicht als offizielle<br />
Sprache anerkannt ist.“ Mit anderen Worten, die R<strong>roma</strong>-Sprache ist<br />
nicht ‚<strong>in</strong> offiziellem Gebrauch’. Als man mich zur Sitzung vorlud und<br />
ich nach Hamburg fuhr, um <strong>in</strong>s Deutsche zu übersetzen, stellte ich<br />
fest, dass er wirklich nur das R<strong>roma</strong>nes beherrschte und sonst<br />
kaum e<strong>in</strong>e andere Sprache. Was war ihm also widerfahren? Wenn<br />
wir uns an die Verleumdungen der Standardisierungsgegner<br />
hielten, hätte er nur <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>es Zeltes und auf den<br />
Landstrassen R<strong>roma</strong>nes sprechen dürfen. Nur dar<strong>in</strong> – so glauben<br />
diese ‚Theoretiker’ - bestehe die „echte Zigeunerfreiheit, das<br />
richtige Zigeunerleben“ und nur die auf der Strasse Fahrenden<br />
seien ‚echten R<strong>roma</strong>’(!).<br />
E<strong>in</strong> anderes Beispiel aus Berl<strong>in</strong>: E<strong>in</strong> junger R<strong>roma</strong>, der auch nur<br />
R<strong>roma</strong>nes gut spricht, wird zur Urteilsverkündung geladen. Auch er<br />
hatte darum gebeten, während se<strong>in</strong>es Prozesses R<strong>roma</strong>nes<br />
sprechen zu dürfen. Der Gerichtshof gab ihm die Erlaubnis. Dieser<br />
junge Mann war unschuldig und wurde freigesprochen. Aber was<br />
wäre passiert, wenn das Berl<strong>in</strong>er Gericht R<strong>roma</strong>nes nicht als<br />
offizielle Sprache anerkannt hätte? 4<br />
Diese beiden Beispiele illustrieren, <strong>in</strong> welchem Ausmaß die<br />
Anerkennung der r<strong>roma</strong>ni Sprache e<strong>in</strong> aktuelles Problem im<br />
täglichen Leben darstellt und wie wichtig es für die R<strong>roma</strong> ist, ihre<br />
elementaren Menschenrechte wahrnehmen zu können. Für alle, die<br />
aus Jugoslawien oder Rumänien fliehen mussten, ist die<br />
Standardisierung e<strong>in</strong>e Frage des Überlebens, es geht um ihre<br />
Existenz… Die Tatsache, dass die Sprache der R<strong>roma</strong> noch nicht<br />
als offizielle Sprache anerkannt ist, hängt unmittelbar damit<br />
zusammen, dass die R<strong>roma</strong> nicht als nationale M<strong>in</strong>derheit<br />
anerkannt s<strong>in</strong>d; unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen haben sie nicht die<br />
4 In Frankreich setzt die Beschwerdekommission für Flüchtl<strong>in</strong>ge auf e<strong>in</strong>faches<br />
Ersuchen des Antragstellers Dolmetscher für R<strong>roma</strong>nes e<strong>in</strong>. So können die<br />
betroffenen Personen besser zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, welche Leiden sie im<br />
Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit erfahren haben. Werden derartige<br />
Schilderungen <strong>in</strong> Mehrheitssprachen ausgeführt, neigen sie oft dazu, sich an offizielle<br />
Standards anzupassen und daher stereotyp zu werden – selbst wenn der Sprecher<br />
die Mehrheitssprache ansonsten gut beherrscht.<br />
94
ROMA IN EUROPA<br />
ger<strong>in</strong>gste Chance, Informationen oder effektiven Rechtsschutz <strong>in</strong><br />
ihrer Muttersprache zu erhalten.<br />
Nur mit der Anerkennung der Sprache alle<strong>in</strong> ist es jedoch noch<br />
nicht getan. Das R<strong>roma</strong>nes muss Nuancierungen entwickeln, e<strong>in</strong>e<br />
Rechtsterm<strong>in</strong>ologie aufbauen und die R<strong>roma</strong> müssen nicht nur<br />
deren Worte lernen, sondern auch die Konzepte verstehen, die<br />
h<strong>in</strong>ter den Gesetzen stehen und die sich <strong>in</strong> den Menschenrechten<br />
widerspiegeln, auf deren Grundlagen am Gericht entschieden wird.<br />
Es darf sich nicht wiederholen, was vor 50 Jahren <strong>in</strong> Ungarn<br />
geschah, als die Behörden den R<strong>roma</strong> den Zugang zum<br />
Jurastudium sperrten, aus Furcht, dass diese dann mehr Diebstähle<br />
begehen und sich vor Gericht besser verteidigen können würden.<br />
Das ist Rassismus <strong>in</strong> re<strong>in</strong>ster Form.<br />
Die Gegner der Standardisierung wollen nicht, dass die R<strong>roma</strong> aus<br />
ihren sozialen und kulturellen Ghettos herauskommen und als<br />
Menschen und Nation anerkannt werden. Das ist gewöhnlicher<br />
Rassismus, ob sie das nun offen zugeben oder nicht. Leider gibt es<br />
auch e<strong>in</strong>ige R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>ti, die diese rassistischen und von Nicht-<br />
R<strong>roma</strong> vorgebrachten Thesen anerkennen. An erster Stelle stehen<br />
die R<strong>roma</strong>, die ke<strong>in</strong>erlei Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik und Philologie<br />
besitzen, für sie ist die Sprache e<strong>in</strong>e natürliche Tatsache, die sub<br />
specie aeternitatis zu e<strong>in</strong>em Stamm gehört. Natürlich gibt es, wie <strong>in</strong><br />
jedem anderen Volk, auch unter den R<strong>roma</strong> Menschen ohne jede<br />
Bildung. Wenn jedoch der Unwissende den Wissenden belehren<br />
darf, wird dem Wissenden die Wahrheit vorenthalten. Dieser<br />
Vorgang ist e<strong>in</strong>malig und trägt bereits den Keim des Rassismus <strong>in</strong><br />
sich.<br />
E<strong>in</strong>e andere Spezies von Rassisten hält die R<strong>roma</strong>-Sprache für e<strong>in</strong><br />
‚wunderbares Geheimnis’, an das nicht gerührt werden darf. Die<br />
Verfechter dieser These beziehen sich auf die Vergangenheit, auf<br />
die Tatsache, dass nationalsozialistische Philologen zahlreiche<br />
R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>ti <strong>in</strong> die Konzentrationslager gebracht haben. Die<br />
Forschungstätigkeit rassistischer Philologen jener Zeit beruhte<br />
jedoch auf ganz anderen Motiven und Absichten. Hier vermischte<br />
man die Erforschung der Sprache mit Forschungsarbeiten, die <strong>in</strong><br />
Wirklichkeit zutiefst <strong>in</strong>humanen Zielen dienten. Dies ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />
e<strong>in</strong> Argument gegen die Standardisierung, es zeigt lediglich, dass<br />
jede Forschungstätigkeit sowohl hehren Zielen als auch perversen<br />
Absichten dienen und somit zu schlimmsten Entgleisungen führen<br />
kann.<br />
95
Rajko Djuric<br />
Die r<strong>roma</strong>ni Sprache stellt ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Tabu dar, sie ist<br />
vielmehr, wie jede andere Sprache, e<strong>in</strong> philologisches und<br />
kulturologisches Phänomen. Wer sie tabuisieren will, weiß entweder<br />
nicht, was das bedeutet - oder er hat ganz andere Interessen und<br />
versteckt sie h<strong>in</strong>ter gewundenen, l<strong>in</strong>guistischen Vorwänden, weil<br />
e<strong>in</strong>e Anerkennung der R<strong>roma</strong> als Nation verh<strong>in</strong>dert werden soll. Die<br />
R<strong>roma</strong> sollen auch weiter nur e<strong>in</strong>e abgeschottete, „asoziale“, ja<br />
sogar „antisoziale“ oder folkloristische Gruppe bleiben, mit der man<br />
machen kann, was man will.<br />
Schließlich gibt es noch jene R<strong>roma</strong>, die allen Anweisungen von<br />
Nicht-R<strong>roma</strong> folgen. Manchmal tun sie das gegen Geld, manchmal<br />
aufgrund von trügerischen Versprechungen oder auch aus<br />
kle<strong>in</strong>licher Ruhmsucht. Sie s<strong>in</strong>d dabei ke<strong>in</strong>eswegs an der<br />
Entwicklung und der Emanzipation der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong>teressiert, es geht<br />
ihnen nur um das Geld, das man ihnen als Vertreter der R<strong>roma</strong> und<br />
S<strong>in</strong>ti gibt oder um das bisschen Ruhm, das sie auf ihrer sozialen<br />
Stufenleiter von den Rassisten ergattern können. Es gibt leider<br />
auch so genannte R<strong>roma</strong>-Stiftungen, die sich der Standardisierung<br />
kategorisch widersetzen. In diesen Stiftungen wurden wichtige<br />
Posten mit ungebildeten R<strong>roma</strong> besetzt, weil diese den R<strong>roma</strong> <strong>in</strong><br />
ihrer Sprache das verkünden, was Nicht-R<strong>roma</strong> verkündet haben<br />
wollen. In derartigen Schlüsselpositionen entscheiden dann R<strong>roma</strong>,<br />
die lediglich e<strong>in</strong>e zwei- oder dreijährige Schulbildung h<strong>in</strong>ter sich<br />
haben, über Projekte, die von promovierten R<strong>roma</strong> ausgearbeitet<br />
wurden. In Wirklichkeit übernehmen sie e<strong>in</strong>e schändliche Rolle, sie<br />
s<strong>in</strong>d nichts weiter als e<strong>in</strong> Schild, h<strong>in</strong>ter dem die Gadjes ihren<br />
Rassismus gegen Roma und S<strong>in</strong>ti verbergen.<br />
All das führt uns zu folgenden Schlussfolgerungen:<br />
1) Die R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale s<strong>in</strong>d über tausend Jahre h<strong>in</strong>durch<br />
verfolgt worden. Man hat sie ermordet und <strong>in</strong> die Gaskammern<br />
geschickt und doch haben sie ihre Sprache nie ganz verloren. Jetzt<br />
fordern sie ihre Rechte als Menschen und Nation e<strong>in</strong> und eröffnen<br />
damit auch die Diskussion der Standardisierung ihrer Sprache –<br />
was viele gerne verh<strong>in</strong>dern würden.<br />
2) Der Standardisierungsprozess hängt überwiegend von<br />
Menschen ab, die <strong>in</strong> Politik, Kultur und im Bildungsbereich tätig<br />
s<strong>in</strong>d. Er liegt also <strong>in</strong> der Zuständigkeit von Behörden und nicht <strong>in</strong><br />
den Händen der R<strong>roma</strong> und ihrer <strong>in</strong>tellektuellen Vertreter. Zwar<br />
entstanden sehr gute Schriften und Dokumente, die jedoch erst<br />
96
ROMA IN EUROPA<br />
noch <strong>in</strong> die Praxis umgesetzt werden müssen, damit die R<strong>roma</strong> als<br />
nationale und l<strong>in</strong>guistische M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa ihre Chance<br />
wahrnehmen können.<br />
Nichts deutet darauf h<strong>in</strong>, dass Sprache lediglich Werkzeug zur<br />
Kommunikation ist. Vielmehr kommt ihr <strong>in</strong> Wirklichkeit <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Gesellschaft e<strong>in</strong>e Macht zu, die nicht neutral, sondern im Gegenteil<br />
determ<strong>in</strong>istisch wirkt.<br />
Kasuya Keisuke „l<strong>in</strong>guistische Hegemonie“<br />
3) Die Londoner Gruppe zur Verteidigung der Rechte der<br />
M<strong>in</strong>derheiten hat anlässlich der Züricher Konferenz vom 17.05.1976<br />
erklärt, dass die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Sprache auch gleichzeitig die<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung all derjenigen ist, die diese Sprache sprechen. Die<br />
Sprache verleiht dem Menschen nicht nur Worte, vielmehr ist sie<br />
Ausdruck se<strong>in</strong>er Gedanken, Wünsche, Hoffnungen, Gefühle, der<br />
Sicht se<strong>in</strong>er Welt, se<strong>in</strong>es Lebens, se<strong>in</strong>er Ethik. Wird se<strong>in</strong>e Sprache<br />
nicht anerkannt, wird er selbst nicht anerkannt und als Mensch<br />
diskrim<strong>in</strong>iert. Heute, da wir <strong>in</strong> zahlreichen Ländern nationalchauv<strong>in</strong>istische<br />
und faschistische Ges<strong>in</strong>nungen wieder aufleben<br />
sehen, müsste sich eigentlich jeder der Tatsache bewusst se<strong>in</strong>,<br />
dass dies zur Katastrophe führen kann. Wir müssen für die<br />
Anerkennung der R<strong>roma</strong> kämpfen, damit sie nicht als l<strong>in</strong>guistische<br />
M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa vergessen werden.<br />
4) Die gegenwärtige Situation der R<strong>roma</strong> ist <strong>in</strong> vielen Ländern<br />
Europas alarmierend. Deshalb müssen die UNO und die<br />
europäischen Institutionen die R<strong>roma</strong> als nationale M<strong>in</strong>derheit ohne<br />
Staatsgebiet anerkennen. Es müssen geeignete Mittel und Wege<br />
gefunden werden, um die R<strong>roma</strong> als „Volk ohne Land“ unter Schutz<br />
zu stellen.<br />
5) Zur Integration der R<strong>roma</strong> muss e<strong>in</strong> europäischer Fonds errichtet<br />
werden, mit dessen Hilfe unter anderem auch der<br />
Standardisierungsprozess der R<strong>roma</strong>-Sprache f<strong>in</strong>anziert werden<br />
kann.<br />
6) Das Recht auf die Muttersprache ist e<strong>in</strong> Grundrecht, das <strong>in</strong><br />
zahlreichen Dokumenten verbrieft ist. Hierauf verweist<br />
<strong>in</strong>sbesondere das Abkommen gegen Diskrim<strong>in</strong>ierung im<br />
Bildungswesen (UNESCO; Dok. 11C, 14.12.1960). Tatsache ist,<br />
dass die R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den Bereichen Bildungswesen und<br />
Kultur von allen Völkern am stärksten diskrim<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Zur<br />
E<strong>in</strong>dämmung dieser Diskrim<strong>in</strong>ierung müssen als erstes die für den<br />
97
Rajko Djuric<br />
Gebrauch und die Entwicklung der R<strong>roma</strong>-Sprache erforderlichen<br />
Voraussetzungen geschaffen werden.<br />
7) Die R<strong>roma</strong>-Sprache ist wesentlicher Bestandteil der nationalen<br />
und kulturellen Identität der R<strong>roma</strong>. So wie die UNESCO das<br />
kulturelle Erbe anderer Länder und Nationen anerkannt hat, muss<br />
sie jetzt das R<strong>roma</strong>nes anerkennen. Sie muss ihre Programme<br />
e<strong>in</strong>setzen, damit die für die Entwicklung und Entfaltung des<br />
R<strong>roma</strong>nes erforderlichen konkreten Mittel und Instrumente zur<br />
Verfügung gestellt werden.<br />
8) Es ist dr<strong>in</strong>gend notwendig, den an der Universität von Paris<br />
(Inalco) bestehenden Lehrstuhl für R<strong>roma</strong>ni Wissenschaften<br />
bekannter zu machen. Es müssen mehr junge Menschen an dieser<br />
Fakultät studieren, damit sich <strong>in</strong> der Folge die Rromologie auf e<strong>in</strong>e<br />
mit den anderen kulturellen und wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
vergleichbare Qualitätsstufe h<strong>in</strong> entwickelt. Nach und nach müssen<br />
dann <strong>in</strong> den verschiedenen Ländern weitere derartige Lehrstühle<br />
geschaffen werden und auf europäischer Ebene<br />
zusammenarbeiten.<br />
98
Marcel Courthiade<br />
ROMA IN EUROPA<br />
WER HAT ANGST VOR DER SPRACHE DER RROMA?<br />
Nationalsprachen waren <strong>in</strong> der Geschichte selten unumstritten. Da<br />
ist auch die Sprache der R<strong>roma</strong> überhaupt ke<strong>in</strong>e Ausnahme. Es<br />
wird <strong>in</strong> der Tat <strong>in</strong> vielfältiger Weise gegen verschiedene Aspekte<br />
ihrer Anwendung polemisiert: die Sprache der R<strong>roma</strong> als Sprache<br />
und als Nationalsprache, als Medium gruppen<strong>in</strong>terner und<br />
grenzüberschreitender Kommunikation, als geschriebenes Wort<br />
etc... Im Wesentlichen geht es bei dieser Ause<strong>in</strong>andersetzung um<br />
Folgendes:<br />
• Handelt es sich bei der r<strong>roma</strong>ni Sprache tatsächlich um e<strong>in</strong>e<br />
Sprache oder nicht?<br />
• Wieviele Sprache(n) werden von den R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Europa<br />
gesprochen?<br />
• Wieviele Dialekte s<strong>in</strong>d darunter?<br />
• Welche Art der Beziehung besteht zwischen diesen Dialekten?<br />
• Wollen R<strong>roma</strong> ihre Muttersprache anwenden?<br />
• Kann man sie als e<strong>in</strong>e moderne Sprache anwenden oder nicht?<br />
• Kann man sie standardisieren oder nicht?<br />
• Kann man sie schriftlich fixieren oder nicht? Und wenn ja, wie<br />
kann man sie buchstabieren?<br />
• E<strong>in</strong> Dialekt? Alle Dialekte? E<strong>in</strong>e uns<strong>in</strong>nige Frage, wenn man die<br />
Struktur an sich richtig versteht.<br />
• S<strong>in</strong>d R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> der Lage, sie zu schreiben oder nicht?<br />
• Sollte ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Dorf e<strong>in</strong>e europäische Norm verwenden?<br />
• Ist es schwierig, <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache zu schreiben? Und<br />
wor<strong>in</strong> liegt letzten Endes die Schwierigkeit?<br />
Schon e<strong>in</strong>e oberflächliche Untersuchung verdeutlicht, dass die<br />
Mehrzahl jener, die diese Fragen aufwerfen, nicht das ger<strong>in</strong>gste<br />
konzeptionelle Instrument besitzen, mit dem sie <strong>in</strong> den meisten<br />
Fällen sofort erkennen könnten, dass es e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und<br />
e<strong>in</strong>deutige Antwort darauf gibt. Man muss sich deshalb von allen<br />
vorgefassten Me<strong>in</strong>ungen über Mehrheitssprachen, die noch aus der<br />
Schulzeit stammen, freimachen. Außerdem gehört fast niemand<br />
unter den Polemikern zum Kreis derer, die die r<strong>roma</strong>ni Sprache im<br />
Alltag verwenden.<br />
99
Marcel COURTHIADE<br />
100<br />
1. Das Thema des Dialektes<br />
Erste Frage: „Wie unterscheidet man e<strong>in</strong>e Sprache von e<strong>in</strong>em<br />
Dialekt?“ In Europa 1 bestehen relativ klare geografische<br />
Abgrenzungen zwischen den Sprachen, manchmal durch so<br />
genannte Übergangsdialekte. Echte Dialekte s<strong>in</strong>d im Wesentlichen<br />
kle<strong>in</strong>ere Unterteilungen <strong>in</strong>nerhalb der Sprachen. Im Falle e<strong>in</strong>er<br />
Sprache ohne eigenem festen Sprachgebiet, wie z. B. der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache, kann e<strong>in</strong>e Dialektvariante von weit verstreut lebenden<br />
Menschen gesprochen werden, während enge Nachbarn durchaus<br />
unterschiedliche Formen verwenden können. Das wirft<br />
zweifelsohne e<strong>in</strong>ige Fragen auf. Der Grundsatz der dialektal<br />
gezogenen Unterteilungen bleibt jedoch derselbe, obwohl die<br />
Varianten nicht an e<strong>in</strong> konkretes Gebiet gebunden s<strong>in</strong>d. Um das<br />
Thema richtig zu verstehen, müssen deshalb e<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge vorab<br />
geklärt werden:<br />
1.1 Dialekte stehen immer genetisch mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung.<br />
In diesem S<strong>in</strong>ne kann e<strong>in</strong>e Sprache X, die sich von Sprache Y<br />
durchaus unterscheidet, nicht e<strong>in</strong>fach als e<strong>in</strong> „weiterer Dialekt der<br />
Sprache Y“ klassifiziert werden, wie im Falle der Bajaš-Sprache<br />
(e<strong>in</strong>er besonderen Form des Rumänischen, wahrsche<strong>in</strong>lich aus<br />
Südserbien); sie wird von verstreut lebenden, aber nicht von den<br />
R<strong>roma</strong> abstammenden Personen gesprochen, die jedoch von der<br />
un<strong>in</strong>formierten (und des<strong>in</strong>teressierten) Landbevölkerung als<br />
„Zigeuner“ – <strong>in</strong> Analogie zu den R<strong>roma</strong> 2 – etikettiert werden. Das<br />
1 Das trifft nicht auf alle Kont<strong>in</strong>ente zu; <strong>in</strong> Indien bef<strong>in</strong>den sich z.B. die meisten<br />
Sprachen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geografischen Kont<strong>in</strong>uum. Dasselbe trifft jedoch auch auf e<strong>in</strong>ige<br />
europäische Sprachen wie volkstümliches Serbokroatisch zu.<br />
2 Das Konzept er<strong>in</strong>nert an die Lage des jüdischen Volkes, das vor Jahrhunderten<br />
se<strong>in</strong>e Muttersprache aufgegeben und verschiedene lokale Sprachen angenommen<br />
hat. Die Juden s<strong>in</strong>d aber durch e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Herkunft und Ethnie mite<strong>in</strong>ander<br />
verbunden, während die R<strong>roma</strong>, Beás und Ägypter (oder Albano-Ägypter, Ashkali,<br />
Evgjit) nie mite<strong>in</strong>ander verbunden waren: Die R<strong>roma</strong> stammen aus Indien, die Beás<br />
aus Südserbien und die Ägypter wahrsche<strong>in</strong>lich aus Ägypten. Somit stellt sich die<br />
Situation grundsätzlich anders dar (auch im Falle der Juden klänge die Feststellung,<br />
dass Jiddisch e<strong>in</strong> jüdisch-spanischer oder semitischer Dialekt sei, eher nach e<strong>in</strong>em<br />
Witz), aber es ist auch klar, dass ausländische Wissenschaftler, die sich dem Thema<br />
vom sozialen Standpunkt nähern und die Sprache der R<strong>roma</strong> nicht beherrschen,<br />
kaum verstehen, dass es sich dabei um unterschiedliche Völker handelt – vor allem,
ROMA IN EUROPA<br />
gleiche trifft auf albanische Dialekte zu, die von Ägyptern des<br />
Balkans gesprochen werden.<br />
1.2 Ke<strong>in</strong>e zwei Personen sprechen denselben Idiolekt. Man<br />
könnte auch h<strong>in</strong>zufügen: Selbst e<strong>in</strong> und dieselbe Person benutzt<br />
unterschiedliche Formen ihrer eigenen Sprache je nachdem, ob es<br />
sich um leichte Unterhaltung im Familienkreis, e<strong>in</strong>e feierliche<br />
Ansprache, berufliche Gespräche etc. handelt. So kann – mit<br />
Ausnahme von Personen, die zwei unterschiedliche Dialekte (oder<br />
Sprachen) <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten anwenden, davon<br />
ausgegangen werden, dass alle anderen nur verschiedene Register<br />
(Sprachstile) des eigenen Dialektes (oder Idiolektes) verwenden. Im<br />
Grunde sprechen noch nicht e<strong>in</strong>mal Verwandte genau dieselbe<br />
Sprachvariante; es ist dabei zu berücksichtigen, dass l<strong>in</strong>guistische<br />
Unterschiede bestimmte Dialekte nur dann auszeichnen, wenn<br />
diese Unterschiede erheblich größer s<strong>in</strong>d als bei zur selben Familie<br />
gehörenden Sprechern: Dies ist die unterste Schwelle für e<strong>in</strong>e<br />
Differenzierung zwischen Dialekten.<br />
1.3 Es bestehen weniger Unterschiede zwischen Dialekten<br />
e<strong>in</strong>er Sprache als zwischen Sprachen. Die statistische<br />
Dialektometrie hat gezeigt, dass die Unterschiede zwischen<br />
e<strong>in</strong>zelnen Dialekten der r<strong>roma</strong>ni Sprache weniger ausgeprägt s<strong>in</strong>d<br />
als jene, die zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Sprachen<br />
herangezogen werden 3 . Demzufolge handelt es sich bei allen<br />
Sprachvarianten der R<strong>roma</strong> um Dialekte e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />
Sprache, die als r<strong>roma</strong>ni Sprache bezeichnet werden kann.<br />
1.4 Die Verdrängung e<strong>in</strong>es Teils e<strong>in</strong>er Sprache führt nicht zur<br />
Entstehung e<strong>in</strong>es neuen Dialekts. Dialekte entstehen <strong>in</strong>nerhalb<br />
wenn sie das gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Deshalb sollte man die wirkliche<br />
Me<strong>in</strong>ung der „Zielgruppe“ (nicht nur ihrer Führung) sorgfältig recherchieren.<br />
3 Zur Berechnung dieser Unterschiede vgl. Courthiade 1985: 1-7. Tatsächlich liegt der<br />
<strong>in</strong> dialektometrischen E<strong>in</strong>heiten ausgedrückte Unterschied zwischen der Sprache der<br />
R<strong>roma</strong> und der der S<strong>in</strong>ti bei ungefähr dem kritischen Wert von e<strong>in</strong>s, während der<br />
Unterschied zum spanischen Kalo (oder Chipi kali) bei über e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit liegt; <strong>in</strong> der<br />
Tat handelt es sich bei Kalo nicht um e<strong>in</strong>e Sprache, sondern um e<strong>in</strong>en sehr<br />
begrenzten Wortschatz, der aus der Sprache der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> die spanische oder<br />
katalanische Sprache E<strong>in</strong>gang gefunden hat. Es handelt sich auch nicht um e<strong>in</strong>en<br />
Dialekt der r<strong>roma</strong>ni Sprache, sondern um e<strong>in</strong> besonderes Sprachgebilde, das man<br />
„Paggerdilekte“ nennt.<br />
101
Marcel COURTHIADE<br />
e<strong>in</strong>er Sprache aus verschiedenen, <strong>in</strong> der L<strong>in</strong>guistik wohlbekannten<br />
Gründen. Dazu zählt aber nicht die Tatsache, dass e<strong>in</strong>ige R<strong>roma</strong><br />
aufgrund besonderer Umstände e<strong>in</strong>en Teil ihrer Muttersprache<br />
vergessen haben. Dies führt auch nicht zur Entstehung neuer<br />
Dialekte. Man könnte Parallelen zu den <strong>in</strong> Deutschland geborenen<br />
Türken ziehen: Zwar haben sie e<strong>in</strong>en Teil ihrer Muttersprache<br />
verloren, aber ke<strong>in</strong>en neuen türkischen Dialekt entwickelt. Sie<br />
haben e<strong>in</strong>fach nur Türkisch zum Teil verlernt. Trifft e<strong>in</strong> junger Türke<br />
aus Deutschland, der nicht <strong>in</strong> Türkisch unterrichtet wurde, auf e<strong>in</strong>en<br />
jungen Türken aus Frankreich oder England, der auch nicht <strong>in</strong><br />
Türkisch unterrichtet wurde, werden sie erhebliche<br />
Verständigungsprobleme haben. Das heißt aber nicht, dass sie<br />
verschiedene türkische Dialekte sprechen. Sie versuchen nur,<br />
teilweise verlerntes (und auf unterschiedliche Weise verlerntes)<br />
Türkisch zu sprechen. Dasselbe gilt auch für die Sprache der<br />
R<strong>roma</strong> 4 .<br />
1.5 Die E<strong>in</strong>beziehung e<strong>in</strong>es modernen lokalen Wortschatzes<br />
führt nicht zu e<strong>in</strong>em neuen Dialekt. Wenn e<strong>in</strong>e endaj 5 der R<strong>roma</strong><br />
durch e<strong>in</strong>e Grenze <strong>in</strong> zwei Teile gespalten wird, wird jede<br />
Untergruppe aus den jeweiligen Mehrheitssprachen die meisten<br />
jener Begriffe übernehmen, die sich auf die Gastgesellschaft<br />
beziehen (wie z.B. bei den Cerhàri R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Ungarn und der<br />
Ukra<strong>in</strong>e). Das bedeutet jedoch nicht, dass Cous<strong>in</strong>s unterschiedliche<br />
Dialekte sprechen, sondern vielmehr, dass die jüngste<br />
Sprachschicht e<strong>in</strong>e lexikalische Abweichung aufweist. Im<br />
Gegensatz dazu übernehmen R<strong>roma</strong> unterschiedlicher dialektaler<br />
Herkunft, die geme<strong>in</strong>sam den Sprachraum derselben<br />
Mehrheitssprache bewohnen, die meisten jener Begriffe aus dieser<br />
Sprache, die sich auf die geme<strong>in</strong>same Gastgesellschaft beziehen.<br />
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie denselben Dialekt sprechen –<br />
selbst wenn im Ergebnis ihre Kommunikation <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />
4 Vgl. Duka 2001: 181-190 bzgl. der Hauptgründe für e<strong>in</strong>e Sprachverarmung. Häufig<br />
wird sie von der Sprache der Umgebung verursacht: Unterscheidet diese, im<br />
Gegensatz zur r<strong>roma</strong>ni Sprache, nicht zwischen zwei Sprachkonzepten, wird sich die<br />
Sprache der R<strong>roma</strong> im Laufe e<strong>in</strong>iger Jahrzehnte anpassen und e<strong>in</strong>e der zwei Lexeme<br />
verlieren, die die zwei ursprünglichen Konzepte prägten.<br />
5 Endaj (weibl.) ist der alte Begriff <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong> (<strong>in</strong> Bulgarien und<br />
Rumänien noch <strong>in</strong> Gebrauch) für „e<strong>in</strong>e Gruppe von R<strong>roma</strong>, die sich durch e<strong>in</strong>e<br />
geme<strong>in</strong>same l<strong>in</strong>guistische Variante, ihrem Endajolekt, auszeichnet“.<br />
102
ROMA IN EUROPA<br />
Sprache dadurch erleichtert wird. Auch wenn der Alltagswortschatz 6<br />
e<strong>in</strong>en sehr e<strong>in</strong>fachen Referenzrahmen für Außenstehende darstellt,<br />
kann man diesen nicht zur Unterscheidung zwischen Dialekten<br />
heranziehen.<br />
1.6 Differenzierung nach Dialekten hängt von tiefergründigen<br />
Dialekteigenschaften ab. Nicht jede dialektale Unterscheidung ist<br />
für die Bestimmung e<strong>in</strong>es Dialektes von gleicher Bedeutung; e<strong>in</strong>ige<br />
wirken sich nur „oberflächlich“ aus und können praktisch <strong>in</strong> jeder<br />
Sprache auftreten 7 , andere s<strong>in</strong>d spezifischer Art und daher aus<br />
dialektologischer H<strong>in</strong>sicht von größerem Interesse. Im Falle der<br />
Sprache der R<strong>roma</strong> ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal<br />
der Vokal <strong>in</strong> der Endung der ersten Person (S<strong>in</strong>gular) <strong>in</strong> der<br />
Vergangenheitsform der Verben: o 8 im sogenannten O-Archidialekt<br />
und e im sogenannten E-Archidialekt. Die zweite E<strong>in</strong>teilungsebene,<br />
die jüngeren Datums zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, basiert auf der Aussprache<br />
zweier phonologischer E<strong>in</strong>heiten, die ćh und Ŵ geschrieben<br />
werden: entweder als aspiriertes „tsch+h“ (wie <strong>in</strong> klatschhaft) und<br />
„dsch“ (wie <strong>in</strong> Dschungel) <strong>in</strong> Dialektvarianten ohne Lautwandel und<br />
als sehr weicher Laut „sch“ und „zsch“ (beziehungsweise polnisch ś<br />
und ź oder im Vergleich zu englisch weicher als sheep und<br />
pleasure) <strong>in</strong> den Dialektvarianten mit Lautwandel. Diese zwei<br />
Merkmale differenzieren zwischen vier „Ebenen“: 1 oder „O ohne<br />
Lautwandel“, 1# oder „O mit Lautwandel“, 2 oder „E ohne<br />
Lautwandel“ und schließlich 2# (häufiger als 3 bezeichnet) oder „E<br />
mit Lautwandel“. Die erste Ebene wird nochmals <strong>in</strong> vier Dialekte<br />
unterteilt, sodass es zusammen sieben Gruppen von Endajolekten<br />
6 Die meisten alltäglichen D<strong>in</strong>ge um e<strong>in</strong>en herum gehören eher zur<br />
Mehrheitsgesellschaft und s<strong>in</strong>d deshalb zur Dialektbestimmung weniger geeignet als<br />
Listen, die von Dialektologen ausgearbeitet wurden.<br />
7 Zu den nicht relevanten Eigenschaften zählen die verschiedenen Palatalisierungen<br />
der Konsonanten, wie z. B. „ge“ <strong>in</strong> gelem (ich g<strong>in</strong>g), spontan [g], [ģ], [dj] oder sogar<br />
[dž] <strong>in</strong> verschiedenen Gegenden und Dialekten ausgesprochen, ohne dass zwischen<br />
ihnen e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung bestünde. Diese Entwicklung tritt auch <strong>in</strong> vielen anderen<br />
Sprachen überall <strong>in</strong> der Welt auf.<br />
8 Der Vokal u kann auch im O-Archidialekt auftreten, z. B. bisterdŏm (oder<br />
bisterdŭm) „Ich vergaß“, gelǒm (oder gelǔm) "Ich g<strong>in</strong>g", xalǒm (oder xalǔm) "I aß"<br />
etc…, im Ggs. zu bisterdem, gelem, xalem. Tatsächlich bef<strong>in</strong>det sich dieser<br />
Lautwandel auch im Verbstamm mukhel/mekel “lassen” und im Plural des<br />
bestimmten Artikels o/e.<br />
103
Marcel COURTHIADE<br />
(vgl. Fußnote 5) ergibt, wie die folgende Tabelle darstellt (von unten<br />
nach oben gelesen):<br />
E E# = E mit Lautwandel 3 (oder 2#) lovàra, kelderàra, drizàra etc…<br />
↑ E♮ = E ohne Lautwandel 2 gurbet, ćergar, Ŵambaz, filipiŴi<br />
etc…<br />
↑ O# = O mit Lautwandel 1# cerhàri, colàri, ćuràri etc…<br />
O<br />
1N<br />
Polska R<strong>roma</strong>, xaladìtka etc…<br />
↑ O♮ = O ohne Lautwandel 1C<br />
karpatiko, rromungro etc…<br />
↑<br />
1V<br />
vendetika-ślajferika<br />
↑<br />
1S<br />
baćòri, fićìri, mećkàri, kabuŴìa,<br />
↑<br />
↑<br />
èrli, thare-gone, mahaŴèri etc…<br />
1.7 Außerdem haben sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen soziol<strong>in</strong>guistischen<br />
Szenarien spezifische Idiome herausgebildet, die Para-r<strong>roma</strong>ni<br />
oder „Paggerdilekte“ genannt werden. Dabei s<strong>in</strong>d zwei<br />
wesentliche Entwicklungen zu berücksichtigen, durch die<br />
Paggerdilekte und periphere Idiome von der Sprache der R<strong>roma</strong> (im<br />
wörtlichen S<strong>in</strong>ne oder als Sprache der östlichen R<strong>roma</strong>) abgetrennt<br />
wurden (bzgl. der dialektalen Unterschiede zwischen der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache und diesen Idiomen, s. oben 1.3 und Fußnote 3):<br />
• E<strong>in</strong>e sehr starke Durchdr<strong>in</strong>gung mit fremden Sprachelementen<br />
(vor allem Wortschatz) hat die S<strong>in</strong>to-Idiome geschaffen (durch<br />
germanischen E<strong>in</strong>fluß im Norden und italischen im Süden);<br />
• Die Aufgabe der r<strong>roma</strong>ni Sprache als Heimatsprache hat zur<br />
Bildung von „Paggerdilekten“ geführt (e<strong>in</strong> vor allem zu sozialen<br />
Zwecken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ansonsten spanische, katalanische oder englische<br />
Sprache wieder e<strong>in</strong>geführter Restwortschatz aus der Sprache der<br />
R<strong>roma</strong>).<br />
Der überwältigende Teil dieser E<strong>in</strong>teilung gilt für die östliche<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache (fast 90%), dann für Paggerdilekte (fast 10%) und<br />
der Rest (1 oder 2%) für S<strong>in</strong>to und ähnliche periphere Idiome.<br />
Zusammenfassend sollte man zwischen vier<br />
Differenzierungsformen <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache und para-r<strong>roma</strong>ni<br />
Idiomen unterscheiden:<br />
104
ROMA IN EUROPA<br />
a) E<strong>in</strong>e strikt dialektologische E<strong>in</strong>teilung mit zwei wesentlichen<br />
Isoglossen (Dialektabgrenzungen): den O/E Gegensatz (begleitet<br />
von der lexikalischen Differenzierung e<strong>in</strong>iger Dutzend Wörter) und<br />
die Lautwandelabgrenzungen. Diese Gegensätze bee<strong>in</strong>trächtigen<br />
die E<strong>in</strong>heit der Sprache der R<strong>roma</strong> nicht, da O/E nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />
Teil der Sprache betrifft (e<strong>in</strong>e Verb-Endung, e<strong>in</strong>en Verbstamm und<br />
e<strong>in</strong>e Form des Artikels), während der Lautwandel nicht immer vom<br />
Zuhörer aufgenommen wird; beide s<strong>in</strong>d außerdem als<br />
zwischendialektale Beziehungen ganz systematisch und der<br />
Zusammenhang wird immer genau e<strong>in</strong>gehalten.<br />
b) Die soziol<strong>in</strong>guistische Ebene mit zwei wesentlichen Szenarien<br />
für die Bildung peripherer Idiome und Paggerdilekte. Sie werden nur<br />
von wenigen verwendet (ca. 10 % der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong>sgesamt) und<br />
folglich ist die E<strong>in</strong>heit der r<strong>roma</strong>ni Sprache davon nicht wesentlich<br />
betroffen.<br />
c) Die Ebene der lexikalischen Objekte oder Wörter, die lokal oder<br />
regional <strong>in</strong> Vergessenheit geraten s<strong>in</strong>d (<strong>in</strong>kl. fehlende<br />
Weiterentwicklung aufgrund der Lebensumstände: die Sprache des<br />
ländlichen Umfelds ärmer als die Sprache der R<strong>roma</strong>,<br />
Marg<strong>in</strong>alisierung etc.). Das betrifft nicht die Sprache an sich,<br />
sondern nur die Art und Weise, wie sie <strong>in</strong> bestimmten Gebieten<br />
angewendet wird. Deshalb könnte, mit nachdrücklichen<br />
didaktischen Anstrengungen im Kontext der sprachlichen<br />
Aufwertung, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Vergessenheit geratener Wortschatz wieder<br />
erworben und das Problem gelöst werden.<br />
d) Punktuelle lexikalische Diskrepanzen, bei denen es um e<strong>in</strong>e<br />
sehr begrenzte Anzahl von Lexemen geht: korr/men „Nacken“,<br />
gilabel/bagal „er s<strong>in</strong>gt“ etc.<br />
Schlussfolgerung Nr. 1: Die so genannte „dialektale“ Disparität <strong>in</strong><br />
der Sprache der R<strong>roma</strong> sollte eher als etwas verstanden werden,<br />
was sich daraus ergibt, dass Sprachelemente <strong>in</strong> Vergessenheit<br />
geraten s<strong>in</strong>d: Zwei R<strong>roma</strong> mit unterschiedlichem dialektalen<br />
H<strong>in</strong>tergrund können sich mite<strong>in</strong>ander besser verständigen, wenn<br />
beide jeweils ihren Dialekt der r<strong>roma</strong>ni Sprache sprechen, als zwei<br />
R<strong>roma</strong> mit demselben Ursprungsdialekt, die ihre Muttersprache<br />
lückenhaft gelernt haben. Das ist darauf zurückzuführen, dass das<br />
eigentliche (asiatische) Element <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong><br />
erstaunlich e<strong>in</strong>heitlich <strong>in</strong> allen Dialekten vertreten ist. Diese<br />
105
Marcel COURTHIADE<br />
Tatsache verweist auch auf die E<strong>in</strong>zigartigkeit der Sprache der<br />
<strong>in</strong>dischen Vorfahren der R<strong>roma</strong>.<br />
Folgender Vergleich ist zur Verdeutlichung herangezogen worden:<br />
- der Kern der r<strong>roma</strong>ni Sprache als Sprache ist grundsätzlich <strong>in</strong><br />
allen Dialekten derselbe – so wie der menschliche Körper im<br />
Grunde bei Jedem derselbe ist (sodass die anatomischen Begriffe<br />
mehr oder weniger von allen Dialekten geteilt werden, da sie sich<br />
auf geme<strong>in</strong>same natürliche Konzepte beziehen);<br />
- die aus europäischen Sprachen übernommenen Begriffe<br />
unterscheiden sich unter den R<strong>roma</strong>, so wie Bekleidung von Land<br />
zu Land unterschiedlich ist (sodass Begriffe, die sich auf das nicht-<br />
R<strong>roma</strong> Leben beziehen – Bekleidung, Verwaltung, Nahrung etc. –<br />
sich bei den R<strong>roma</strong> unterscheiden, da sie sich auf künstliche<br />
Konzepte beziehen);<br />
- gerät e<strong>in</strong> Wort <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache <strong>in</strong> Vergessenheit, wird es<br />
durch e<strong>in</strong>en nicht-r<strong>roma</strong>ni Begriff ersetzt, so wie e<strong>in</strong> fehlendes<br />
Organ/Glied durch e<strong>in</strong> künstliches ersetzt wird; aber dabei handelt<br />
es sich nicht um e<strong>in</strong> Modell für das Leben an sich;<br />
- können andere Dialekte das fehlende Wort ersetzen, ist diese<br />
Lösung vorzuziehen, so wie e<strong>in</strong>e Transplantation e<strong>in</strong>er Prothese<br />
vorzuziehen ist – aber dies setzt auch größere Geschicklichkeit<br />
voraus.<br />
-<br />
Damit wurden die ersten vier Fragen beantwortet und wir können<br />
daraus schlussfolgern, dass – sollte e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Wortschatz <strong>in</strong><br />
der Sprache der R<strong>roma</strong> aus ganz Europa zusammengeführt und<br />
nach den phonologischen Regeln der verschiedenen Dialekte<br />
sortiert werden – nichts dafür spricht, dass sich diese Sprache von<br />
anderen europäischen Sprachen bezüglich ihrer Unterteilung nach<br />
Dialekten unterscheidet.<br />
106<br />
2. Das Thema Sprachpraxis und Engagement<br />
Das zweite Schlüsselthema befasst sich mit der tatsächlichen<br />
Anwendung der r<strong>roma</strong>ni Sprache durch die R<strong>roma</strong>. Bevor man auf<br />
diesen Punkt weiter e<strong>in</strong>geht, sollte daran er<strong>in</strong>nert werden, dass die
ROMA IN EUROPA<br />
meisten E<strong>in</strong>wanderersprachen <strong>in</strong>nerhalb von vier Generationen 9<br />
vollkommen vergessen s<strong>in</strong>d. Man erlebt häufig, dass junge Albaner,<br />
die <strong>in</strong> Albanien oder im Kosovo geboren s<strong>in</strong>d, aber <strong>in</strong> Frankreich<br />
leben, untere<strong>in</strong>ander eher Französisch als Albanisch sprechen.<br />
Andererseits erregt die Lebendigkeit der Sprache der R<strong>roma</strong> auch<br />
nach fast tausend Jahren der Migration die une<strong>in</strong>geschränkte<br />
Bewunderung aller Beobachter: „Auch heute noch zeigt jeder<br />
Besuch bei e<strong>in</strong>er Zigeunerfamilie 10 , dass die K<strong>in</strong>der als erstes<br />
R<strong>roma</strong>ni lernen, ihre Muttersprache, und erst dann die Sprache des<br />
Landes, <strong>in</strong> dem sie leben“ (Re<strong>in</strong>hard 1976:III). E<strong>in</strong>e neuere<br />
Veröffentlichung von Halwachs und Zătreanu behauptet jedoch,<br />
dass die R<strong>roma</strong> heutzutage die r<strong>roma</strong>ni Sprache nur noch zur<br />
Begrüßung verwenden und zur Mehrheitssprache überwechseln,<br />
sobald sie e<strong>in</strong>e richtige Unterhaltung beg<strong>in</strong>nen (2004:12-14).<br />
2.1 Wie kann man die Situation objektiv beurteilen? Zwar ist für<br />
jeden offensichtlich, dass auf der europäischen Ebene die Sprache<br />
der R<strong>roma</strong> im Alltagsleben sehr viel präsenter ist als <strong>in</strong> der<br />
Broschüre von Halwachs dargestellt, aber es gibt durchaus<br />
alarmierende Anzeichen für e<strong>in</strong>en Rückgang <strong>in</strong> den letzten<br />
Jahrzehnten. Man sollte sich deshalb genauer mit den Gründen für<br />
den Niedergang der r<strong>roma</strong>ni Sprache beschäftigen, die<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich das Schicksal der meisten M<strong>in</strong>derheitssprachen <strong>in</strong><br />
großen urbanen Ansiedlungen teilt. Soziol<strong>in</strong>guisten haben darauf<br />
h<strong>in</strong>gewiesen, dass die ursprüngliche Sprache e<strong>in</strong>er Exilbevölkerung<br />
um so stärker und länger verwendet wird, je mehr diese e<strong>in</strong>er<br />
gemischt sozialen Herkunft ist. Die vielgestaltige Sozialstruktur der<br />
Vorfahren der R<strong>roma</strong> beim Verlassen Indiens begründet also das<br />
erstaunliche Überleben ihrer Sprache – im Gegensatz zu anderen<br />
E<strong>in</strong>wanderersprachen (vgl. Fußnote 9). Es sollte dabei besonders<br />
betont werden, dass die Sprache der R<strong>roma</strong> erfolgreich den<br />
radikalen Veränderungen im kulturellen Umfeld widerstanden hat,<br />
als die R<strong>roma</strong> aus dem nördlichen Indien nach Afghanistan und<br />
Persien verschleppt wurden, von wo aus sie später nach Kle<strong>in</strong>asien<br />
9 1. Generation: Muttersprache hat Vorrang vor Gastlandsprache; 2. Gen.:<br />
ausgewogene Verwendung von Muttersprache und Gastlandsprache; 3. Gen.:<br />
Gastlandsprache dom<strong>in</strong>iert im Alltag; 4. Gen.: Gastlandsprache wird neue<br />
Muttersprache; nach Japp de Ruiter „Morrocan and Turkish Communities <strong>in</strong> Europe“<br />
<strong>in</strong>: ISIM Newsletter 1/98.<br />
10 „Zigeuner“ bedeutete <strong>in</strong> früheren Zeiten etwa dasselbe wie „R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>te“.<br />
107
Marcel COURTHIADE<br />
und verschiedenen europäischen Ländern weiterzogen, wo sie<br />
jedes Mal e<strong>in</strong>er vollkommen unbekannten Kultur ausgesetzt waren.<br />
Die sehr differenzierte Zusammensetzung der Ur-<br />
R<strong>roma</strong>bevölkerung war wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Faktor, der zu ihrem<br />
Erhalt beigetragen hat. Die Tatsache, dass heutzutage die meisten<br />
Geme<strong>in</strong>schaften der R<strong>roma</strong> ähnlich anderer<br />
E<strong>in</strong>wanderergeme<strong>in</strong>schaften auf den Zustand homogener armer<br />
Gruppen reduziert s<strong>in</strong>d, setzte sie e<strong>in</strong>em vergleichbaren Risiko der<br />
Akkulturation aus. In allen Erklärungen wird jedoch immer wieder<br />
der feste Wille bekundet, die r<strong>roma</strong>ni Sprache an künftige<br />
Generationen weitergeben zu wollen.<br />
2.2 Abgesehen von der nachlassenden Präsenz der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache und dem erklärten Willen der R<strong>roma</strong> zum Erhalt der<br />
Sprache sollte besonders unterstrichen werden, dass der Erhalt<br />
e<strong>in</strong>er Sprache weniger e<strong>in</strong>e Frage von Absichtserklärungen als<br />
von Motivation ist. Da Sprache als gesellschaftliches Phänomen<br />
zwei wesentliche Seiten hat – die der Kommunikation und<br />
Identitätsstiftung – kann auch die Motivation zu ihrem Erhalt<br />
zweifacher Natur se<strong>in</strong>. Als Ausdruck der Identität wird sie von jedem<br />
unterstützt, der sich dieser gesellschaftlichen Funktion bewusst ist,<br />
aber als Kommunikationsmedium empf<strong>in</strong>den sie e<strong>in</strong>ige Sprecher<br />
der r<strong>roma</strong>ni Sprache als unangemessen, wenn es um die<br />
Vermittlung moderner Inhalte geht – e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, die auf<br />
verschiedenen Missverständnissen beruht.<br />
2.3 Die vorrangige Aufgabe der natürlichen Sprachpraxis<br />
besteht nicht <strong>in</strong> der Vermittlung komplizierter Informationen,<br />
sondern der Schaffung e<strong>in</strong>er freundlichen und herzlichen<br />
Atmosphäre des divàno zwischen Menschen, die ihre Gefühle<br />
zue<strong>in</strong>ander zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen wollen, sowie aller möglichen<br />
banalen Äußerungen, die zwar ke<strong>in</strong>e Informationen vermitteln, aber<br />
für den Seelenzustand der Geme<strong>in</strong>schaft von großer Bedeutung<br />
s<strong>in</strong>d. Dazu eignen sich alle Dialekte der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
gleichermaßen. E<strong>in</strong> Problem ergibt sich daraus, dass sich die<br />
Mehrheitssprachen unter dem E<strong>in</strong>fluss der Schulen und der Medien<br />
<strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>er Art pseudo-<strong>in</strong>tellektuellen Sprache auch im<br />
Alltagsleben bedienen. Außerdem verbreiten Schulen und Medien<br />
e<strong>in</strong> Bild der Sprache, als ob sie nur aus Term<strong>in</strong>ologie bestünde.<br />
M<strong>in</strong>derheiten neigen dazu, den Stil der Mehrheitssprache zu<br />
kopieren – allerd<strong>in</strong>gs ohne Erfolg, weil ihre Muttersprache nicht im<br />
108
ROMA IN EUROPA<br />
selben Maße sorgfältig gepflegt wurde wie die offiziellen Sprachen<br />
mit ihren stilistischen und technologischen Verfe<strong>in</strong>erungen. Vor<br />
allem besitzt jede Sprache andere Formen, um etwas zu sagen,<br />
auszudrücken und zu vermitteln (im übertragenen S<strong>in</strong>n hat jede<br />
Sprache „etwas anders zu sagen“). Infolgedessen unterbewerten<br />
M<strong>in</strong>derheiten ihre Muttersprache und wechseln mehr und mehr zur<br />
Mehrheitssprache. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie nicht<br />
mehr <strong>in</strong> ihrer Muttersprache, sondern nach dem Vorbild der<br />
Mehrheit denken; es fällt ihnen leichter, den Denkmustern der<br />
Mehrheitsgesellschaft <strong>in</strong> deren Sprache zu folgen als <strong>in</strong> ihrer<br />
eigenen Muttersprache, die sowieso <strong>in</strong> den wesentlichen<br />
Handlungsräumen der Mehrheitsgesellschaft – Medien, Schule,<br />
K<strong>in</strong>o, öffentlicher Raum, Geschäfte, Sport, Spiele etc. – vollkommen<br />
ignoriert oder sogar verachtet wird, sodass diese M<strong>in</strong>derheit bei<br />
allen diesen Aktivitäten <strong>in</strong> den Sprachmustern der Mehrheit denkt.<br />
Der Familienkreis stellt dabei e<strong>in</strong>e Art privaten Schutzraum dar, <strong>in</strong><br />
denen die letzten sprachlichen Relikte noch Verwendung f<strong>in</strong>den.<br />
Man kann aber beobachten, dass die Muttersprache nichts Eigenes<br />
mehr auszudrücken hat und e<strong>in</strong>e Sprache, die nichts mehr zu<br />
sagen hat, stirbt von selbst.<br />
Es sollte deshalb nicht verwundern, dass viele Eltern den Wert der<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht wahrnehmen (selbst wenn sie den Wunsch<br />
äußern, dass ihren K<strong>in</strong>dern diese Sprache vermittelt werden soll –<br />
aber durch Andere):<br />
• Die Sprache der R<strong>roma</strong> sollte förmliche Anerkennung und<br />
Aufwertung im öffentlichen Leben erfahren (und hat e<strong>in</strong>en<br />
Anspruch darauf) und zu jeder Tageszeit gleichwertig mit der/den<br />
Hauptsprache/n <strong>in</strong> Medien, Schule, Spiele, Sport etc. angewendet<br />
werden, wodurch auch gleichzeitig e<strong>in</strong>e Aufwertung der R<strong>roma</strong><br />
selbst stattf<strong>in</strong>det. Die Mehrheitsgesellschaften ebenso wie die<br />
R<strong>roma</strong> s<strong>in</strong>d der Wahrheit verpflichtet, <strong>in</strong>dem sie nicht nur der<br />
Sprache, sondern auch allen Elementen des R<strong>roma</strong>-Erbes wieder<br />
zu Achtung verhelfen. Diese sollten so behandelt werden, dass sie<br />
e<strong>in</strong>er Nation ohne festes Staatsgebiet und nicht e<strong>in</strong>er amorphen<br />
Ansammlung sozial marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen zugeordnet werden.<br />
• Kampagnen zur Bewusstse<strong>in</strong>sbildung über die Bedeutung<br />
aller Muttersprachen sollten <strong>in</strong> Schulen und Medien durchgeführt<br />
werden, u.a. aus Gefühlen menschlicher Solidarität. Die<br />
Vorstellung, dass Sprache nicht nur e<strong>in</strong> Instrument der<br />
109
Marcel COURTHIADE<br />
Kommunikation, sondern auch der Identitätsstiftung und geistigen<br />
Entwicklung darstellt, sollte überall verbreitet werden. Es ist <strong>in</strong><br />
diesem Zusammenhang auf die wichtige, von den Indios<br />
Kolumbiens stammende Unterscheidung zwischen<br />
„Gnossodiversität“ (Vielfalt der Denkart/der Wahrnehmungen des<br />
Lebens) und „Glottodiversität“ (Vielfalt der Sprachen) ebenso wie<br />
auf die Rolle der Sprache zur Pflege e<strong>in</strong>es immateriellen Erbes<br />
h<strong>in</strong>zuweisen.<br />
• Es sollte <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache unterrichtet und gelehrt<br />
werden, wie sich e<strong>in</strong> moderner Inhalt genauer <strong>in</strong> der Sprache der<br />
R<strong>roma</strong> ausdrücken lässt (z. B. um von „die Analyse war schlecht“<br />
zu „se<strong>in</strong> Blutzuckerwert liegt bei 1,95 g/l“ zu kommen – was<br />
zugegebenermaßen auch M<strong>in</strong>destkenntnisse der Physiologie<br />
voraussetzt, aber ebenso notwendig auch auf dem Gebiet der<br />
Verwaltung, des Rechts, der Politik etc. ist. Das wäre e<strong>in</strong>e echte<br />
Aufwertung i. S. von empowerment). Gleichzeitig sollte moderne<br />
Term<strong>in</strong>ologie als Sekundärmedium e<strong>in</strong>geführt werden – im<br />
Gegensatz ebenso wie als Ergänzung zur Ausdruckskraft der<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache mit ihren bildhaften Ausdrücken, typischen<br />
begrifflichen Ressourcen, Sprichwörtern und ähnlichen geistigen<br />
Werten.<br />
• Fehlende formale Unterrichtung <strong>in</strong> der Muttersprache führt<br />
zur Diglossie, d.h. der Ansicht, dass die Muttersprache das<br />
Ausdrucksmittel e<strong>in</strong>er mehr und mehr vergehenden Welt ist,<br />
während die Sprache des Gastlandes alle positiven Werte der<br />
Moderne, der sozialen Integration und des Erfolgs transportiert.<br />
Diese Aufspaltung führt zur Auflösung der M<strong>in</strong>derheitssprache,<br />
selbst wenn man sie vorübergehend noch e<strong>in</strong>mal „künstlich<br />
beatmet“, <strong>in</strong>dem man <strong>in</strong> den Schulen K<strong>in</strong>der dar<strong>in</strong> unterrichtet, die<br />
ihre frühere Muttersprache schon gar nicht mehr beherrschen.<br />
Man sollte sich fragen, warum sprachliche Kommunikation so<br />
effektiv ist: Wir nehmen e<strong>in</strong> Wort mit e<strong>in</strong>igen Phonemen und<br />
verstehen sofort dessen Bedeutung – „Hund“, „Haus“, „Sohn“,<br />
„Vater“ etc. – nur weil e<strong>in</strong>e solche Zusammenstellung von<br />
Phonemen aufgrund unserer Bildung mit dem entsprechenden<br />
110
ROMA IN EUROPA<br />
Gegenstand assoziiert wird 11 . Im Falle dieser Begriffe ist die<br />
Bedeutung e<strong>in</strong>fach und erschließt sich unmittelbar, während bei<br />
anspruchsvolleren Konzepten jede Kultur sich zunächst e<strong>in</strong><br />
mentales Bild des Konzepts macht, um es dann durch e<strong>in</strong>e Reihe<br />
von Phonemen nach ziemlich strikten Regeln der Ableitung,<br />
Analogie, Anleihe etc. zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen. Das erklärt die<br />
Wirkungskraft sprachlicher Kommunikation und auch warum<br />
Sprache gleichzeitig e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres und unersetzbares Spiegelbild<br />
unserer Gesellschaft und kultureller Bezüge darstellt.<br />
Schlussfolgerung Nr. 2: Die Aufgabe der eigenen Sprache ist die<br />
Reaktion naiver Menschen, die sich nur der Funktion der Sprache<br />
zur Informationsvermittlung bewusst s<strong>in</strong>d (und deren Unfähigkeit,<br />
dies zu leisten – warum sollten sie diese dann überhaupt an ihre<br />
K<strong>in</strong>der weitergeben, wenn sie so absolut unzulänglich ist?). Diese<br />
Menschen berücksichtigen nicht die Fähigkeit der Sprache, e<strong>in</strong><br />
ganzes eigenes Universum widerzuspiegeln; dies Opfer führt sie <strong>in</strong><br />
die Irre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremde Welt, <strong>in</strong> die sie erst nach Jahren, vielleicht<br />
nach Generationen E<strong>in</strong>gang f<strong>in</strong>den; gleichzeitig s<strong>in</strong>kt das Niveau<br />
der Differenziertheit im Ausdruck der neu angenommenen Sprache<br />
– wie man es beim Englisch der Nicht-Muttersprachler erlebt. Die<br />
oben beschriebene Strategie – e<strong>in</strong>schließlich der Aufklärung<br />
darüber, wie Sprache(n) wahrgenommen werden sollten – motiviert<br />
erheblich dazu, die Muttersprache <strong>in</strong> allen Lebenslagen<br />
anzuwenden. Unterricht zur Wiedererlangung der Kompetenz <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Muttersprache – zur Großmuttersprache geworden – ist nur<br />
von symbolischer Bedeutung und erhält e<strong>in</strong>e Sprache ke<strong>in</strong>esfalls<br />
am Leben, wenn nicht auch die anderen Voraussetzungen erfüllt<br />
werden. Es sollte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang darauf h<strong>in</strong>gewiesen<br />
werden, dass sehr viel Geld <strong>in</strong> solch hoffnungslose Unterfangen<br />
fließt, während nichts getan wird, um die Sprache der R<strong>roma</strong> zu<br />
11 In modernen Sprachen kann auch das lexikalische Bild als Sekundärreferenz<br />
verwendet werden, mit der man so genannte moderne zusammengesetzte Begriffe<br />
bilden kann: im engl. z.B. poverty trap, soap opera, clear<strong>in</strong>g house, shadow cab<strong>in</strong>et,<br />
dead l<strong>in</strong>e, power po<strong>in</strong>t etc.. Aufgrund ihrer höchst metaphorischen Dimension s<strong>in</strong>d sie<br />
nur <strong>in</strong>nerhalb der Kultur zu verstehen, <strong>in</strong> der sie entstanden (im Ggs. zu gewöhnlichen<br />
zusammengesetzten Begriffen, die unmittelbar verständlich s<strong>in</strong>d: im engl. firewood,<br />
wood fire, time difference etc.). Es besteht jedoch ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Trennl<strong>in</strong>ie<br />
zwischen beidem; überhaupt ist die Abgrenzung irgendwie subjektiv und von der<br />
eigenen Ursprungskultur geprägt.<br />
111
Marcel COURTHIADE<br />
erhalten und dort zu entwickeln, wo sie regelmäßig als alltägliche<br />
Muttersprache angewendet wird – oder anders gesagt, solcher<br />
Unterricht macht nur als begleitende Maßnahme S<strong>in</strong>n, dann und nur<br />
dann, wenn die Bevölkerungsgruppen, die die Sprache anwenden,<br />
über e<strong>in</strong>en soliden Bezugsrahmen verfügen, der sich aus den oben<br />
beschriebenen vier grundsätzlichen Maßnahmen ergibt. Damit s<strong>in</strong>d<br />
zwei weitere Fragen beantwortet.<br />
112<br />
3. Das Thema der Standardisierung/Modernisierung<br />
Auch hier stehen wir wieder vor ziemlich verwirrenden<br />
Vorstellungen darüber, was Standardisierung bedeutet.<br />
3.1 E<strong>in</strong>ige hängen noch immer der <strong>roma</strong>ntischen Vorstellung<br />
an, dass man Sprachen unmöglich aktiv bee<strong>in</strong>flussen kann. Die<br />
moderne L<strong>in</strong>guistik hat bewiesen, dass es „ke<strong>in</strong>e ‚natürlichen<br />
Sprachen‘ gibt, die nicht auf Regeln oder andere normative<br />
Prozesse zurückgreifen, um die Bedürfnisse der entsprechenden<br />
Sprachgeme<strong>in</strong>schaft zu erfüllen [...]. Tatsächlich ist sowohl auf der<br />
mikro- wie auf der makrol<strong>in</strong>guistischen Ebene e<strong>in</strong>e Planung der<br />
Sprache (language build<strong>in</strong>g) unvermeidlich und <strong>in</strong> allen<br />
Abstufungen möglich“ (Eloy 2004:18). Die Vorstellung e<strong>in</strong>er<br />
„Verbesserung“, „Aktualisierung“, „Standardisierung“ oder<br />
„Modernisierung“ der Sprache der R<strong>roma</strong> sollte deshalb nicht von<br />
vornhere<strong>in</strong> verworfen werden – wie es viele Beobachter tun. Diese<br />
„Spezialisten“ bestehen darauf, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
außerhalb jeder Weiterentwicklung bleiben sollte (natürlich mit<br />
Ausnahme der Verarmung des Wortschatzes, die sie<br />
zugegebenermaßen als unvermeidbar und verhängnisvoll<br />
betrachten), würden dies aber für ihre eigene Muttersprache nie<br />
akzeptieren und verstecken somit ihren diskrim<strong>in</strong>ierenden Ansatz<br />
unter dem Mäntelchen der Achtung vor der Sprache der R<strong>roma</strong> und<br />
ihrem Schicksal. Es ist <strong>in</strong>zwischen deutlich geworden, dass man<br />
e<strong>in</strong>e Sprache dazu verdammt, nur für triviale Zwecke angewendet<br />
zu werden, wenn ihre Ausdrucksmöglichkeiten nicht ständig<br />
erweitert werden, und dass man dadurch Diglossie verursacht, was<br />
letzten Endes zur vollkommenen Ausrottung der Sprache oder ihrer<br />
symbolischen Fossilierung (möglicherweise mit begleitender<br />
Maskottisierung) führt und damit das endgültige Aus nur verzögert,<br />
aber nicht abwendet. Die Frage ist also nicht, „ob“ sondern „wie“<br />
man erfolgreich e<strong>in</strong>e Wirkung auf e<strong>in</strong>e Sprache ausüben kann, um
ROMA IN EUROPA<br />
deren gesellschaftliche Funktionen zur Kommunikation und<br />
Identitätsstiftung zu optimieren.<br />
3.2 Viele Menschen verwechseln noch immer Standard- und<br />
Schriftsprache. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene<br />
Konzepte; wir werden uns später mit der Verschriftlichung<br />
(graphization, созданые алфавита, codificació <strong>in</strong>terna) der<br />
Sprache der R<strong>roma</strong> befassen. Unter Standardisierung stellen sich<br />
diese Menschen e<strong>in</strong> unverwechselbares Modell vor, wie das auch <strong>in</strong><br />
den meisten “etablierten” Sprachen der Fall ist. Im Gegensatz dazu<br />
hat das traditionelle Gefühl gegenseitiger Achtung bei<br />
verschiedenen endaja zu der sehr demokratischen Londoner<br />
Resolution geführt, nach der “ke<strong>in</strong> Dialekt besser als irgende<strong>in</strong><br />
anderer ist, aber wir benötigen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Sprachform, die<br />
es erlaubt, uns auf <strong>in</strong>ternationalen Tagungen und <strong>in</strong> der Literatur zu<br />
verständigen” (Erster Kongress der R<strong>roma</strong>, London, 8. April 1971).<br />
Abgesehen also von e<strong>in</strong>igen Beobachtern, die weder die<br />
Notwendigkeit, den Nutzen noch die Möglichkeit zur<br />
Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache erkennen – und darunter<br />
bef<strong>in</strong>den sich nur sehr wenige R<strong>roma</strong> – ist die restliche Gruppe<br />
gespalten <strong>in</strong> jene, die e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigartiges Modell erstreben, das für alle<br />
R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> ihrem Land gelten soll wie bei Mehrheitssprachen (die für<br />
gewöhnlich ke<strong>in</strong>e Vorstellung von der europäischen Dimension der<br />
r<strong>roma</strong>ni Nation haben) und jenen, die e<strong>in</strong>e flexible europäische<br />
Sprache der R<strong>roma</strong> ersehnen, die dem kulturellen Reichtum der<br />
Dialekte Rechnung trägt und trotzdem auf e<strong>in</strong>er breiteren<br />
Kommunikationsebene angewendet werden kann.<br />
3.3 E<strong>in</strong>ige s<strong>in</strong>d noch immer der Me<strong>in</strong>ung, dass r<strong>roma</strong>ni Dialekte<br />
sich so wenig ähneln, dass e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Sprache e<strong>in</strong> Traum<br />
sei. Tatsächlich gibt es schon e<strong>in</strong>e Sprache der R<strong>roma</strong> auf<br />
europäischer Ebene, gesprochen von Menschen, die auch ihren<br />
ursprünglichen Dialekt gut beherrschen. Angesichts der oben<br />
beschriebenen korrigierten Def<strong>in</strong>ition von Dialekten, e<strong>in</strong>er<br />
systematischen Überprüfung der r<strong>roma</strong>ni Endajolekte und e<strong>in</strong>er<br />
klaren Vorstellung der gegenseitigen Beziehungen zwischen ihnen<br />
kann man davon ausgehen, dass fast alle zur Grundlage für e<strong>in</strong>e<br />
geme<strong>in</strong>same r<strong>roma</strong>ni Sprache herangezogen werden können,<br />
vorausgesetzt, man wendet ihre noch nicht vergessene Variante an.<br />
Dazu ist es notwendig, dass man die r<strong>roma</strong>ni Sprachvarianten nicht<br />
mehr als unabhängige, parallel angewendete Elemente versteht,<br />
113
Marcel COURTHIADE<br />
sondern als e<strong>in</strong>e, wenn auch umfangreiche Struktur, die <strong>in</strong> sich<br />
logisch ist. Nur periphere Gruppen – wie die Sprecher e<strong>in</strong>er sehr<br />
untypischen süditalienischen Form der r<strong>roma</strong>ni Sprache – oder des<br />
f<strong>in</strong>nischen Kaalenqi ćhimb oder auch des <strong>in</strong>zwischen<br />
ausgestorbenen Waliser R<strong>roma</strong>nī – weisen ganz ungewöhnliche<br />
Merkmale auf, werden aber von kaum mehr als 2-3% der Sprecher<br />
angewendet. Die Methode der sprachlichen Festlegung besteht<br />
aus:<br />
• der möglichst umfassenden Sammlung genu<strong>in</strong>en<br />
Wortschatzes und Formen der r<strong>roma</strong>ni Sprache <strong>in</strong> ganz<br />
Europa, e<strong>in</strong>schließlich lokaler Begriffe (ausgenommen<br />
regionaler Lehnwörter jüngeren Datums, die die gegenseitige<br />
Verständigung erschweren, ohne e<strong>in</strong>en kulturellen Mehrwert<br />
zu erbr<strong>in</strong>gen); diese Aufgabe ist bisher für wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
mehr als 99% des Wortschatzes aus Interviews und<br />
Publikationen erfüllt worden – manchmal auch aus sehr alten<br />
Quellen 12 ;<br />
• der E<strong>in</strong>ordnung dieses Materials nach unterschiedlichen<br />
Dialekten und Suche nach Entsprechungen <strong>in</strong> anderen<br />
Dialekten;<br />
• ggf. Berücksichtigung möglicher Anleihen aus anderen<br />
Dialekten, aber nur <strong>in</strong> Fällen von Lücken im Wortschatz,<br />
ansonsten ist dialektale E<strong>in</strong>heitlichkeit vorzuziehen;<br />
• Berücksichtigung von Ressourcen wie Ableitung,<br />
Wiedere<strong>in</strong>führung veralteter Begriffe oder semantische<br />
Erweiterung zur Verbesserung der Ausdruckskraft der<br />
Sprache, um den aktuellen Kommunikationsbedürfnissen der<br />
heutigen Zeit Rechnung zu tragen, ohne jedoch, wo immer<br />
möglich, den festen Sprachmustern ausländischer Modelle zu<br />
folgen; dieser Methode ist der Vorzug zu geben, wenn alle<br />
europäischen Sprachen unterschiedliche Begriffe für e<strong>in</strong><br />
bestimmtes modernes Element verwenden und man nicht auf<br />
e<strong>in</strong>en gesamteuropäischen Oberbegriff zurückgreifen kann.<br />
• H<strong>in</strong>zuziehung ausländischer Lehnwörter vor allem <strong>in</strong><br />
Fällen, wo es um technische Bereiche ohne emotionale<br />
12 Z.B. ist das Wort berno (männl. Substantiv) „Kreis“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em late<strong>in</strong>ischen Text aus<br />
dem 16. Jahrhundert gefunden worden; oder e<strong>in</strong> anderes Beispiel: das Wort trom<br />
(weibl. Substantiv) „Kühnheit, Mut“ f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief aus dem Jahr 1888 von<br />
Radics Lajos aus Miskolc an Erzherzog Joseph von Habsburg (während das<br />
entsprechende Verb t<strong>roma</strong>l „ er wagt“ breite Verwendung f<strong>in</strong>det).<br />
114
ROMA IN EUROPA<br />
Dimension geht; dabei ist es s<strong>in</strong>nvoll, geme<strong>in</strong>same<br />
Neologismen für alle r<strong>roma</strong>ni Varianten zu entwickeln: Wenn<br />
ganz Europa planèta für “Planet” sagt, ist es s<strong>in</strong>nlos, <strong>in</strong><br />
Ungarn dazu "bojgòvo" 13 zu sagen, nur weil das ungarische<br />
Wort für Planet bolygó [bojgo] ist. Auf jeden Fall handelt es<br />
sich bei Lehnwörtern um e<strong>in</strong> natürliches und notwendiges<br />
Phänomen der Sprachentwicklung, durch das man sich aus<br />
dem konzeptionellen Ghetto der Vergangenheit befreien kann.<br />
• Vermeidung doppeldeutiger Lehnwörter, vor allem, wenn<br />
es dadurch zu Kommunikationsproblemen kommen kann: In<br />
e<strong>in</strong>igen Dialekten bedeutet "glàso" “Glas” (
Marcel COURTHIADE<br />
• Empfehlung, die betreffenden Formen weitgehend zu<br />
verwenden, ggf. mit Erläuterungen, falls der Kontext die<br />
Bedeutung nicht ausreichend erschließt, aber unter<br />
Beachtung der Tatsache, dass die Verwendung bestimmter<br />
Ausdrücke nur durch die Sprachpraxis bestätigt wird.<br />
• Dabei geht es um e<strong>in</strong>en wesentlichen Aspekt der<br />
Sprachbehauptung, da die Propagierung von Begriffen, deren<br />
Bedeutung nicht klar ist, ke<strong>in</strong>en Nutzen br<strong>in</strong>gt: Das gilt nicht<br />
nur für “neue” (oder “moderne”) Konzepte des Rechts, der<br />
Mediz<strong>in</strong> oder im Journalismus, sondern auch für traditionelle<br />
kulturelle Vorstellungen der R<strong>roma</strong>, die zunehmend häufiger<br />
ihren natürlichen Weg der Verbreitung verloren haben.<br />
•<br />
Die IRU-Kommission für Sprache und L<strong>in</strong>guistische Rechte ist seit<br />
mehr als 20 Jahren <strong>in</strong> diesem Bereich aktiv, <strong>in</strong> dem Dutzende ihrer<br />
Mitglieder mite<strong>in</strong>ander kooperieren. Die Ergebnisse dieser<br />
kollektiven gesamteuropäischen Anstrengungen werden jedoch<br />
nicht ausreichend gewürdigt, da es an Geld zu ihrer Verbreitung<br />
fehlt und e<strong>in</strong>ige “Freunde der R<strong>roma</strong>” e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>haltetaktik<br />
verwenden, da sie der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, die r<strong>roma</strong>ni Sprache würde<br />
ihre “Zigeuner”-Identität verlieren, wenn zusätzlich zu lokalen<br />
Varianten ihre europäische Dimension wiederhergestellt und<br />
gefördert wird. Wenn man die Sprache der R<strong>roma</strong> gefangen hält <strong>in</strong><br />
ihrer “ursprünglichen” ländlichen Form, ist das gleichbedeutend mit<br />
dem Appell, sie nur für Lieder und Folklore zu verwenden und für<br />
die wichtigen Themen des Lebens auf die Mehrheitssprachen<br />
zurückzugreifen.<br />
Außerdem s<strong>in</strong>d sehr merkwürdige Projekte im Zusammenhang mit<br />
dem “Standard-R<strong>roma</strong>nī” zu beobachten, die immer mal wieder <strong>in</strong><br />
improvisierter Form auftauchen, aber vor allem aus folgenden<br />
Gründen für die tatsächliche Umsetzung nicht taugen:<br />
• Den Fürsprechern solcher Projekte mangelt es sowohl an der<br />
Geduld wie auch der Entschlossenheit und Kompetenz, bestehende<br />
Quellen für so viele Dialekte wie möglich <strong>in</strong> allen Teilen Europas zu<br />
überprüfen. Anstatt dass sie die r<strong>roma</strong>ni Sprache nach ihrer<br />
Anwendung durch kompetente Muttersprachler aufbauen, nehmen<br />
sie das Wissen zufällig ausgewählter Sprecher (häufig selbst<br />
ernannte lokale Führungsleute, die wegen ihrer Biografie und ihres<br />
ger<strong>in</strong>gen Kommunikationsbedarfs die Sprache nur unzulänglich<br />
116
ROMA IN EUROPA<br />
beherrschen) und versuchen, die ganze Sprache aus deren<br />
dürftigen Restkenntnissen der r<strong>roma</strong>ni Sprache zu rekonstruieren.<br />
Gleichzeitig übernehmen sie massiv Begriffe aus verwandten<br />
Sprachen, orientieren sich aber sonst eng an der Sprache und den<br />
Denkmustern der Mehrheitsgesellschaft.<br />
• Wenn ihnen Ressourcen (Wortschatz, Ausdrücke etc. ...)<br />
angeboten werden, wird deren Berücksichtigung unter dem<br />
Vorwand des dialektalen Chauv<strong>in</strong>ismus, aber im Grunde aus<br />
Bequemlichkeit abgelehnt. Diese Menschen betrachten die<br />
europäische Dimension der r<strong>roma</strong>ni Sprache als unmaßgeblich<br />
oder glauben e<strong>in</strong>fach, sie könnten Millionen von R<strong>roma</strong> ihre<br />
Vorstellungen aufzw<strong>in</strong>gen. Dadurch trägt jeder E<strong>in</strong>zelne von ihnen<br />
dazu bei, dass e<strong>in</strong>e schon bestehende Sprache <strong>in</strong> wenig<br />
überzeugende E<strong>in</strong>zelprojekte für Restidiome aufgespalten wird, die<br />
auf e<strong>in</strong>er unsicheren Grundlage aufgebaut werden.<br />
• Grobe Grammatikfehler s<strong>in</strong>d dabei im Gebrauch der Sprache<br />
durchaus üblich: "kodo buti" “diese Arbeit” (kodo ist männl., aber<br />
buti weibl.), "na śaj" “er kann nicht” (richtig wäre naśti), na si “es<br />
ist nicht” (richtige Formen: naj, nane, nanaj). Wenn man sie dazu<br />
befragt, geben diese “Neusprachler” e<strong>in</strong>fach vor, dass es sich um<br />
ihren Dialekt handelt – noch e<strong>in</strong>e Manipulation des Begriffs “Dialekt”<br />
– und verstärken damit den falschen E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er dialektalen<br />
Aufspaltung der r<strong>roma</strong>ni Sprache. Man sollte <strong>in</strong> solchen Fällen eher<br />
von “Fantasiolekten” sprechen.<br />
• Vielfach ist für ihren Diskurs ke<strong>in</strong>e große Sprachgenauigkeit<br />
erforderlich. Sie übernehmen e<strong>in</strong>fach leere Worthülsen aus der<br />
Mehrheitssprache, wie man es auch auf zahlreichen<br />
Verbandstreffen erleben kann, z. B.: "Anda kodo kritićno<br />
kontèksto, amaro sociàlno projèkto śaj popravil i ekonomìćna<br />
situàcia e Rromenqi thaj lenqe problème" (anda, kodo, amaro,<br />
śaj, thaj, lenqe “<strong>in</strong>”, “dies”, “uns” “kann”, “und”, “ihr” s<strong>in</strong>d R<strong>roma</strong>nī &<br />
popravil “verbessern” ist slawisch – e<strong>in</strong>e Übersetzung des<br />
restlichen Satzes erübrigt sich). Es ist sogar unmöglich, solche<br />
Sätze <strong>in</strong> die normale r<strong>roma</strong>ni Sprache rückzuübersetzen, weil der<br />
Inhalt so wenig fassbar ist. Alle Dolmetscher kennen die<br />
Schwierigkeit der Übersetzung, wenn der Ursprungstext zu vage ist,<br />
es sei denn, die Zielsprache hat e<strong>in</strong>e ähnlich vage Term<strong>in</strong>ologie<br />
entwickelt, was <strong>in</strong> den meisten “modernen” Sprachen der Fall ist.<br />
117
Marcel COURTHIADE<br />
Die r<strong>roma</strong>ni Sprache kennt bisher solche politischen Phrasen noch<br />
nicht, und es ist auch e<strong>in</strong>e Frage der Kultur. Vielleicht kl<strong>in</strong>gt es<br />
paradox, aber die Feststellung ist trotzdem richtig, dass dieses<br />
Defizit von Vorteil ist, da es zu e<strong>in</strong>er konkreteren Analyse sehr<br />
wichtiger Probleme zw<strong>in</strong>gt.<br />
In der Tat lässt sich <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache, selbst <strong>in</strong> ihrem<br />
gegenwärtigen Zustand, sehr viel mehr ausdrücken als viele<br />
erwarten würden, solange man die ganze Bedeutung durch den<br />
Filter der r<strong>roma</strong>ni Kultur analysiert und nicht nur r<strong>roma</strong>ni Begriffe<br />
e<strong>in</strong>em ausländischen Denkmuster aufpfropft. Deshalb lassen sich<br />
auch viele Probleme sehr viel leichter lösen, wenn man unter<br />
R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> eigener Sprache spricht (z. B. bei e<strong>in</strong>em traditionellen kris<br />
der R<strong>roma</strong> – r<strong>roma</strong>ni kris), als wenn man e<strong>in</strong>e fremde Sprache<br />
oder e<strong>in</strong>e Art “Schatten”-R<strong>roma</strong>nī” spricht. Dies beweist die enge<br />
Verb<strong>in</strong>dung zwischen Sprache und Kultur. Wenn wir – aus<br />
Ignoranz, fehlendem Bewusstse<strong>in</strong>, Chauv<strong>in</strong>ismus oder Faulheit –<br />
e<strong>in</strong> gesamteuropäisches echtes R<strong>roma</strong>ni aufgeben, und damit<br />
se<strong>in</strong>e Sicht der Realität, zerstören wir sehr viel mehr als nur die<br />
Sprache selber – und zwar etwas, ohne das die Sprache nur e<strong>in</strong>e<br />
Anhäufung von Begriffen ist: die r<strong>roma</strong>ni Sicht der Welt.<br />
Es ist bedauerlich, wenn man auf vielen Tagungen Vertreter der<br />
R<strong>roma</strong> sagen hört, nachdem sie e<strong>in</strong> paar Grußworte <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache gesprochen haben: “Also mir fallen die Worte <strong>in</strong> R<strong>roma</strong>nī<br />
nicht e<strong>in</strong>, ich mache jetzt auf gaŴikanes weiter” – selbst wenn man<br />
sonst stundenlang mit ihnen <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong> plaudern<br />
kann. Es zeigt sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> tiefes Missverständnis über das<br />
Konzept von Sprache und Kultur.<br />
Ähnliche Schwierigkeiten treten häufig dann auf, wenn man –<br />
offensichtlich <strong>in</strong> der besten Absicht, aber mit schwer wiegenden<br />
Folgen für die Sprache, falls man nicht vorsichtig vorgeht – e<strong>in</strong>e<br />
Liste von nicht-R<strong>roma</strong> Begriffen <strong>in</strong> die r<strong>roma</strong>ni Sprache überträgt. In<br />
allen Ländern gibt es Beispiele dafür <strong>in</strong> den populären<br />
K<strong>in</strong>derbilderbüchern, die e<strong>in</strong>e typisch bürgerliche, urbane Welt als<br />
Universalmodell darstellen und andere Lebensarten bewusst außer<br />
Acht lassen. Gewöhnlich wird <strong>in</strong> diesen hübschen K<strong>in</strong>derbüchern<br />
ausschließlich die westliche moderne Lebensart <strong>in</strong> der Stadt mit<br />
immer den gleichen Häusern, s<strong>in</strong>nbildlichen Objekten<br />
(verschiedene Bekleidungsstücke, Möbel und Zubehör<br />
118
ROMA IN EUROPA<br />
verschiedenster Art, Mahlzeiten etc.), typischen Betätigungen<br />
(Sport, Spiele, Gartenarbeit, Unterhaltung, Arbeit, Feste etc.) und<br />
das, worum es dabei geht, dargestellt. Aus Sicht der<br />
Mehrheitsgesellschaft ist das durchaus legitim, sollte aber nicht als<br />
das alle<strong>in</strong> gültige Lebensmodell verstanden werden 15 . Auch andere<br />
Lebensstile haben e<strong>in</strong>en Anspruch darauf, dargestellt zu werden,<br />
der ihnen aber verwehrt wird. Folglich sche<strong>in</strong>en bei der r<strong>roma</strong>ni<br />
Übersetzung der Bilderbücher viele Begriffe zu fehlen, die es aber<br />
tatsächlich <strong>in</strong> der Sprache gar nicht gibt, da man sie <strong>in</strong> dieser<br />
spezifischen Gesellschaft nicht braucht und ihre Wiedergabe vor<br />
allem durch die Regeln des Marktes diktiert wird. Das Ergebnis<br />
e<strong>in</strong>er r<strong>roma</strong>ni Übersetzung dieser Bücher, die gleichzeitig <strong>in</strong><br />
Dutzenden von städtisch geprägten Sprachen herausgegeben<br />
werden, zeigt sich auf dreierlei Art:<br />
• E<strong>in</strong>erseits bietet sie e<strong>in</strong>e gute Gelegenheit, um viele sehr<br />
nützliche Begriffe aus dem Alltagsleben zu prägen und e<strong>in</strong>en neuen<br />
Wortschatz für echte soziale Bedürfnisse zu entwickeln (wie<br />
Schulbedarf, Gesundheitsdienste, Verwaltung etc.),<br />
• Andererseits wird man mit zahlreichen Konzepten konfrontiert, die<br />
aus den folgenden Gründen für e<strong>in</strong>e Nicht-Mehrheitsgesellschaft<br />
eigentlich nutzlos s<strong>in</strong>d:<br />
- weil sie im eigenen Alltag nicht vorkommen (und man sehr wohl<br />
ohne sie zurecht kommt);<br />
- weil, wenn es sie gibt, sie nicht von so zentraler Bedeutung s<strong>in</strong>d,<br />
dass man dafür e<strong>in</strong>en speziellen Begriff braucht (man kann sie<br />
umschreiben);<br />
- weil e<strong>in</strong>e Übernahme des entsprechenden Begriffs aus dem<br />
Englischen häufig s<strong>in</strong>nvoller ist, vor allem bei Objekten, die ke<strong>in</strong>e<br />
kulturellen oder geistigen Werte übermitteln (dabei bleibt die Frage<br />
der Anpassung der Grammatik);<br />
●Was auch immer zutreffend ist, jedwede Besonderheit des r<strong>roma</strong>ni<br />
Wortschatzes als Spiegel kultureller, sozialer und spiritueller Werte<br />
wird von allen ga ikane-Lesern oder Schriften als unbekannt<br />
ausgeklammert.<br />
3.4 Infolgedessen verstärken diese Publikationen noch das<br />
falsche Bild des Unzulänglichen, das der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
anhängt (oder den E<strong>in</strong>druck des Künstlichen, wenn der Übersetzer<br />
15 Darauf wurde auch von Lehrern <strong>in</strong> post-kolonialen Ländern h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
119
Marcel COURTHIADE<br />
alle möglichen Lösungen <strong>in</strong>s Auge fasst), während ihr wahrer<br />
konzeptioneller Reichtum <strong>in</strong> Vergessenheit gerät. Begriffe aus der<br />
Sprache des Gastlandes <strong>in</strong> Wörterbücher für R<strong>roma</strong>nī zu<br />
übernehmen, kann nur e<strong>in</strong>en Teil der l<strong>in</strong>guistischen Strategie<br />
ausmachen, während für die Sprachbehauptung hauptsächlich auf<br />
echte Texte (e<strong>in</strong>schließlich der Wörterbücher für R<strong>roma</strong>ni/Gastland-<br />
Sprache) zurückgegriffen werden sollte, die direkt <strong>in</strong> der Sprache<br />
der R<strong>roma</strong> mit dem entsprechenden Blickw<strong>in</strong>kel verfasst wurden<br />
und die viele Begriffe und Ausdrücke ohne Entsprechung <strong>in</strong> den<br />
Sprachen der Gastländer 16 be<strong>in</strong>halten, und die damit<br />
e<strong>in</strong>hergehenden Gefühle, Andeutungen und Konnotationen. E<strong>in</strong>er<br />
Förderung dieses Erbes kommt e<strong>in</strong>e sehr viel größere Bedeutung<br />
zu als der Förderung von Wortlisten <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache, die<br />
nach ausländischen Mustern ausgearbeitet wurden.<br />
Schlussfolgerung Nr. 3: E<strong>in</strong>e Entwicklung der Sprache der R<strong>roma</strong><br />
kann nur durch e<strong>in</strong>en additiven Prozess erreicht werden: Um<br />
Unterschiede im Wortschatz verschiedener Varianten der Sprache<br />
zu reduzieren, muss man das bestehende Vokabular so weit wie<br />
möglich verbreiten und – falls erforderlich, und nur dann –<br />
geme<strong>in</strong>same Neologismen für neue Konzepte e<strong>in</strong>führen. Dies kann<br />
als “additive Kapitalisierung” bezeichnet werden und ist <strong>in</strong> allen<br />
Sprachen das wichtigste Mittel zu ihrer Modernisierung. Im<br />
Gegensatz dazu gehen durch e<strong>in</strong>en subtraktiven Ansatz, bei dem<br />
alle nicht unmittelbar von e<strong>in</strong>zelnen handelnden Personen<br />
verstandenen Begriffe ausgeschlossen werden (die Methode des<br />
kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenners), 90 % des lexikalischen Bestands<br />
oder mehr verloren. Die sich daraus ergebene Verarmung der<br />
Sprache veranlasst die Benutzer der Sprache, künstliche<br />
Konstruktionen und Lehnwörter zum Ersatz des verlorenen<br />
Reichtums e<strong>in</strong>zuführen und damit e<strong>in</strong>e r<strong>roma</strong>ni Schattensprache zu<br />
16 Das Vorwort e<strong>in</strong>es kürzlich erschienenen Wörterbuches (2004) führt folgende<br />
Beispiele an: manralo „bedeckt mit den Resten e<strong>in</strong>es frisch angesetzten Brotteiges“,<br />
baśakărèla „e<strong>in</strong>en Laut hervorrufen“, muzgonèla „mit e<strong>in</strong>er Art ungebrannten Lehm<br />
beschichten“, lokoć<strong>in</strong>èla „Lehm anrühren“, dipi „Mitte (Boden) des Korbes [Begriff<br />
der Korbflechter]“, xonòta „der besondere Geruch der Erde nach dem Regen“,<br />
papar<strong>in</strong>ŏla „se<strong>in</strong>e Eigenschaften beim E<strong>in</strong>weichen <strong>in</strong> Wasser verlieren“, phućivèla<br />
„[Eier] ohne Schale legen“, źambàla „e<strong>in</strong> rituelles Gruppenspiel während der<br />
Herdelèzi Feier (6. Mai)“, uźdàga „e<strong>in</strong> besonderer Stab des Rlìa-Stammes“ – um nur<br />
e<strong>in</strong>ige zu erwähnen; man könnte dieser Liste Hunderte idiomatischer Ausdrücke<br />
h<strong>in</strong>zufügen.<br />
120
ROMA IN EUROPA<br />
schaffen, der es an jeglicher kultureller Dichte mangelt. Es s<strong>in</strong>d<br />
deshalb besondere Anstrengungen nötig, um alle Ausdrucksmittel<br />
des konzeptionellen Erbes der R<strong>roma</strong> wieder zu aktivieren.<br />
4. Das Thema Verschriftung<br />
Bei Überlegungen zur Strategie der Verschriftung sollten folgende<br />
wesentliche Unterschiede zwischen den Mechanismen, die dem<br />
mündlichen und schriftlichen Sprachverständnis zugrunde liegen,<br />
bedacht werden:<br />
a) Sobald man die Sprachanwendung durch die Verbreitung <strong>in</strong><br />
schriftlicher Form erweitert, stehen alle Sprachen vor e<strong>in</strong>er Reihe<br />
neuer Anforderungen: Sie verlieren wichtige nichtsprachliche<br />
Elemente wie Intonation, Gestik und die sichtbare Präsenz der<br />
betreffenden Objekte, während sie gleichzeitig komplexere,<br />
genauere und häufig auch abstraktere Ideen ausdrücken müssen.<br />
Es gibt dann auch ke<strong>in</strong>e Gelegenheit der Nachfrage für den<br />
Empfänger, wenn nicht alles verstanden wurde. Sie verändern sich<br />
von e<strong>in</strong>em weitschweifigen, redundanten, auf wenige bekannte<br />
Themen beschränkten Stil zu e<strong>in</strong>em verdichteten, ökonomisch<br />
e<strong>in</strong>gesetzten Ausdruck vielfältigster Themenfelder. Sie müssen<br />
längere Sätze mit strengerer Gliederung bilden und letztlich sollen<br />
sie sich über die Zeit bewähren, denn wir wissen: verba volant,<br />
scripta manent. Sie müssen somit nicht nur die verlorenen<br />
Ausdrucksmittel durch neue kompensieren, sondern auch<br />
zusätzliche Kunstgriffe e<strong>in</strong>setzen, um die Bedeutung klarzustellen.<br />
E<strong>in</strong>e geschriebene Sprache ist nie e<strong>in</strong>fach nur die Verschriftung der<br />
mündlichen Sprache. E<strong>in</strong> schriftlich fixierter mündlicher Text ist<br />
lesbar nur, wenn es dabei um e<strong>in</strong>en außerordentlich e<strong>in</strong>fachen<br />
Inhalt geht (weswegen demagogische Texte, vor allem<br />
Beleidigungen, <strong>in</strong> schriftlicher Form verstanden werden, selbst<br />
wenn sie nur e<strong>in</strong>e Verschriftung mündlicher Äußerungen darstellen<br />
– <strong>in</strong> solchen Fällen besteht e<strong>in</strong>e große Übere<strong>in</strong>stimmung zwischen<br />
dem mündlichen und schriftlichen Stil). Je anspruchsvoller die<br />
Bedeutung e<strong>in</strong>es Textes ist, um so größer ist die Diskrepanz<br />
zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachregister.<br />
b) Andererseits ist die verstandesmäßige Verarbeitung <strong>in</strong> der<br />
mündlichen Kommunikation ganz anders, da sie natürlich ist und<br />
von angeborenen Fähigkeiten abhängt, wie beim Lesen, da es<br />
121
Marcel COURTHIADE<br />
künstlich ist und von erlernten Fähigkeiten abhängt. Der<br />
menschliche Verstand ist <strong>in</strong> der Lage, große dialektale<br />
Diskrepanzen zwischen Sprechern unterschiedlicher Herkunft durch<br />
automatische Anpassung an se<strong>in</strong>e/ihre dialektale Struktur<br />
auszugleichen, während es e<strong>in</strong>en solchen “Dekoder” beim Lesen<br />
nicht gibt. Dies muss durch besonders entwickelte Strategien <strong>in</strong> der<br />
Schriftsprache kompensiert werden. E<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied<br />
zwischen den mündlichen und schriftlichen Sprachkodes besteht<br />
dar<strong>in</strong>, dass alle phonetischen Wiedergaben (“Laute”: [a],[e],[i],[m],<br />
[b] usw.) e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum ohne scharfe Abgrenzungen darstellen – es<br />
gibt Millionen Lautzwischenformen zwischen [a] und [e], zwischen<br />
[m] und [b] usw., wobei Sprachgewohnheiten die Unterschiede<br />
herstellen, damit man zwischen Phonemen unterscheiden kann, die<br />
“e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergeben” (sagen ≠ Segen, Bauer ≠ Mauer), während<br />
die Entsprechungen <strong>in</strong> der Schriftsprache, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />
gedruckter Form, sehr stark abgegrenzt werden. Außerdem<br />
überschneiden sich die akustischen Merkmale dieser “Laute”<br />
teilweise und machen damit die mündliche Kommunikation noch<br />
flexibler; auch dies e<strong>in</strong>e Eigenschaft, die der gedruckten Sprache<br />
fehlt. Wenn man e<strong>in</strong>en verschwommenen Laut vernimmt (oder<br />
e<strong>in</strong>en für die eigene dialektale Struktur undeutlichen Laut, der aber<br />
für die dialektale Struktur des Sprechers ganz klar ist), ordnet das<br />
Gehirn diesem Laut je nach Kontext und früherer Erfahrung e<strong>in</strong>en<br />
bestimmten Wert zu. Wenn man dies jedoch schreiben will, muss<br />
man zwischen klar abgegrenzten Buchstaben wählen und e<strong>in</strong>ige<br />
Unterschiede zu Papier br<strong>in</strong>gen, die vielleicht im ursprünglichen<br />
Dialekt gar nicht maßgeblich waren, während man gleichzeitig<br />
andere, im ursprünglichen Dialekt wesentliche, aber <strong>in</strong> der<br />
Dialektvariante des Lesers unbekannte Eigenschaften übersieht.<br />
Dies geschieht, wenn jeder nach der Rechtschreibung der<br />
Mehrheitssprache se<strong>in</strong>es Landes schreibt. Das erste Beispiel wurde<br />
schon im Zusammenhang mit dem oben genannten Lautwandel<br />
angesprochen: In der mündlichen Kommunikation s<strong>in</strong>d Dialekte mit<br />
oder ohne Lautwandel gegenseitig durchaus zu verstehen und der<br />
Lautwandel wirkt eher wie e<strong>in</strong> Akzent, der die Bedeutung des<br />
Wortes nicht verändert: [ havo]/[ avo] “Junge”, [ hib]/[ ib]<br />
“Zunge” etc. Wenn man diese zwei unterschiedlichen Aussprachen<br />
jedoch nach den Rechtschreibregeln der nicht-r<strong>roma</strong>ni Sprachen<br />
schreibt (z. B. <strong>in</strong> kroatischer Schrift: čhavo/šjavo), ergeben sich<br />
riesige Unterschiede, die vom Leser erst nach weiterem<br />
122
ROMA IN EUROPA<br />
Nachdenken über den Begriff und den Kontext erfasst werden,<br />
wenn die ausländische Aussprache zugrunde gelegt wurde. Lesen<br />
wird zu e<strong>in</strong>er Rätselaufgabe. Rajko Djurić hat <strong>in</strong> veröffentlichten<br />
Werken über die R<strong>roma</strong> und <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Wörterbüchern das<br />
Syntagma "Sprache der R<strong>roma</strong>" <strong>in</strong> den folgenden Formen<br />
gefunden: románi czib, románi čib, rōmani tschib, románi<br />
tschiwi, <strong>roma</strong>ni tšiw, romeni tšiv, <strong>roma</strong>ni tscheeb, r<strong>roma</strong>ni<br />
čhib, <strong>roma</strong>ni chib, rhomani chib, <strong>roma</strong>ni čhib, <strong>roma</strong>ji šjib,<br />
<strong>roma</strong>i şib, <strong>roma</strong>nyi shib etc. (ohne nicht-late<strong>in</strong>ische Schriften –<br />
Kyrillisch, Griechisch usw. zu erwähnen) – und zwar alles für die<br />
phonetische Wiedergabe von [r<strong>roma</strong>[n]i hib/ ib].<br />
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die zwei Formen des r-Lautes:<br />
[ oripen] “Diebstahl”/[ orripen] “Armut”, die häufig von nichtr<strong>roma</strong>ni<br />
Hörern nicht unterschieden und deshalb gleich geschrieben<br />
werden (e<strong>in</strong>ige Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts haben sogar<br />
moralische Schlussfolgerungen aus dieser für sie sche<strong>in</strong>bar<br />
une<strong>in</strong>geschränkten Homonymie gezogen). Man beachte, dass der<br />
zweite r-Laut auch am Anfang des Begriffs Rrom selbst auftaucht.<br />
Selbst junge R<strong>roma</strong>, die die r<strong>roma</strong>ni Sprache aus Büchern (oder<br />
dem Internet) lernen, glauben, dass “Diebstahl” und “Armut” <strong>in</strong> ihrer<br />
Sprache Homonyme s<strong>in</strong>d.<br />
E<strong>in</strong> so genanntes “diasystematisches” System wurde auf dem 4.<br />
Kongress für die r<strong>roma</strong>ni Sprache 1990 <strong>in</strong> Warschau (nach<br />
jahrelangen Beratungen) e<strong>in</strong>geführt, um die verschiedenen<br />
Wiedergaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verschrifteten Form zusammenzuführen und<br />
sie nicht noch weiter durch fremde Rechtschreibung zu<br />
unterscheiden. Dabei handelt es sich um das am besten<br />
funktionierende von den bisher vorgeschlagenen Systemen, wenn<br />
man berücksichtigt, dass ke<strong>in</strong>e Rechtschreibung ganz vollkommen<br />
ist (auch <strong>in</strong> Mehrheitssprachen) und dass die Wahl e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Rechtschreibung häufig die Wahl zwischen zwei Übeln<br />
ist. Im Grunde geht es darum, dass sich jeder e<strong>in</strong> wenig anstrengen<br />
muss, um sich an e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Rechtschreibung zu halten, um<br />
allen anderen Benutzern, die die Sprache lesen wollen, große<br />
Anstrengungen zu ersparen. Menschen schreiben mehr oder<br />
weniger gleich und jede/r liest so, wie er/sie es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er/ihrer<br />
Familie gelernt hat. Das ganze System mag kompliziert ersche<strong>in</strong>en<br />
und ist es bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grade auch, aber das betrifft nur<br />
die L<strong>in</strong>guisten, während jeder Benutzer se<strong>in</strong>e/ihre dialektalen<br />
123
Marcel COURTHIADE<br />
Regeln fürs Lesen und Schreiben kennen muss – und die s<strong>in</strong>d nicht<br />
komplizierter als im Italienischen oder Spanischen.<br />
E<strong>in</strong>ige Politiker und Beobachter haben e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung der<br />
Rechtschreibung gefordert. Worum geht es? Es geht darum,<br />
dass sie e<strong>in</strong>e Rechtschreibung wollen, die sie sofort verwenden<br />
können, ohne die e<strong>in</strong>, zwei für die richtige Beherrschung der<br />
europäischen Rechtschreibung erforderlichen Stunden Unterricht.<br />
Es geht darum, dass die von ihnen vorgeschlagene<br />
Rechtschreibung jener entspricht, die sie <strong>in</strong> ihren jeweiligen<br />
Schulen <strong>in</strong> den Mehrheitssprachen gelernt haben. Das bedeutet<br />
für Bulgaren, dass die Rechtschreibung bulgarisiert wird, für<br />
Ungarn, dass sie ungarisiert wird, für die Polen, dass sie polnisiert<br />
wird 17 usw. , wobei jedes Mal die E<strong>in</strong>heit der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />
zugunsten e<strong>in</strong>er Konformität mit lokalen Sprachen zerstört wird.<br />
Allgeme<strong>in</strong> wird damit argumentiert, dass R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der nicht e<strong>in</strong>e<br />
bestimmte eigene Rechtschreibung lernen könnten (während<br />
andere K<strong>in</strong>der, die zu M<strong>in</strong>derheiten gehören, das sehr wohl<br />
können). Der gemäßigte Flügel schlägt das kroatische Alphabet für<br />
alle vor, aber erkennt nicht, dass e<strong>in</strong> solches Alphabet<br />
oberflächliche Unterschiede <strong>in</strong> der Aussprache für immer festlegt<br />
und fortschreibt, die zwar die mündliche Kommunikation nicht<br />
verh<strong>in</strong>dern, aber erhebliche Unklarheiten beim Lesen entstehen<br />
lassen. Der radikale Flügel besteht jedoch weiterh<strong>in</strong> auf lokalen<br />
Alphabeten und fördert sogar verschiedene Alphabete <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und<br />
demselben Land wie z. B. <strong>in</strong> Österreich 18 , wo e<strong>in</strong> und derselbe<br />
Satz – z. B. “die Frau sagte, sie kenne die Wahrheit”,<br />
folgendermaßen geschrieben werden kann:<br />
i dschuvli pentscha so dschanel o tschatschipe (im wendischen<br />
Dialekt [1V], deutsche Rechtschreibung)<br />
17 Zis iz az if aj uer rajt<strong>in</strong>g <strong>in</strong>gliš zis uej <strong>in</strong> Jugoslawien, youz<strong>in</strong>g razeur zisse euzeure<br />
oueille <strong>in</strong> Frankreich und stil anăzăr uan, laic zis for <strong>in</strong>stăns <strong>in</strong> Rumänien, нот ту<br />
меншън зъ уан ай ўуд чуз фор България… statt der regulären englischen<br />
Rechtschreibung. Es lässt sich jeder kurze Satz <strong>in</strong> welcher Sprache auch immer mit<br />
jeder Rechtschreibung mehr oder weniger gut verstehen, aber nicht e<strong>in</strong> wirklicher<br />
Text für e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Kommunikation.<br />
18 Dieselben Wissenschaftler, die erklären, dass R<strong>roma</strong> nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e<br />
eigene Schreibweise zu verwenden, fördern verschiedene Schreibweisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und<br />
demselben Staat. Bei lokaler Rechtschreibung verwendet man tatsächlich die ganze<br />
Energie auf das Entziffern des Textes und vergisst darüber fast das Wichtigste,<br />
nämlich die menschliche Botschaft.<br />
124
ROMA IN EUROPA<br />
und<br />
e žuvli phenda so žanel o čačimos (im “Lovari” Dialekt [3L],<br />
kroatische Schreibweise). Festzuhalten ist, dass der letzte Satz<br />
auch <strong>in</strong> “Lovari”, aber auf der anderen Seite der Grenze <strong>in</strong> Ungarn,<br />
folgendermaßen geschrieben wird:<br />
é zsúlyi phéndá szó zsánél o csácsímó (ungarische<br />
Rechtschreibung), während beide Sätze <strong>in</strong> der allgeme<strong>in</strong>en<br />
Rechtschreibung so aussehen würden:<br />
i uvli phendǎ so anel o ćaćipe (wendischer Dialekt)<br />
und<br />
e uvli phenda so anel o ćaćimos (Lovari). Damit zeigt sich, dass<br />
das, was auf der lokalen Ebene vielleicht e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung<br />
darstellt, selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land, geschweige denn auf der<br />
europäischen Ebene (vgl. Fußnote 17) große Verwirrung stiften<br />
kann. E<strong>in</strong> solcher Ansatz würde dazu führen, dass Texte nur im<br />
nationalen Raum zirkulieren. Tatsächlich s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> oder sogar zwei<br />
Stunden Unterricht nichts im Vergleich zu den Vorteilen, die der<br />
Erhalt e<strong>in</strong>er paneuropäischen Sprache für den gesamten Kont<strong>in</strong>ent<br />
und das Ausmaß des Erbes, das damit Millionen von R<strong>roma</strong><br />
zugänglich gemacht würde, mit sich br<strong>in</strong>gen würde. Die Tatsache,<br />
dass mehr als 16.000 r<strong>roma</strong>ni Schüler jedes Jahr <strong>in</strong> dieser<br />
Schreibweise <strong>in</strong> Rumänien unterrichtet werden, belegt, dass dieses<br />
Problem nur vorgeschoben wird.<br />
E<strong>in</strong>ige behaupten, dass sich die Buchstaben nicht auf ihrer Tastatur<br />
bef<strong>in</strong>den. Das ist nicht wahr, da bei e<strong>in</strong>igen Computer-<br />
Schriftversionen alle r<strong>roma</strong>ni Buchstaben vertreten s<strong>in</strong>d (am<br />
weitesten verbreitet ist Arial Unicode und es ist sehr e<strong>in</strong>fach, für die<br />
verschiedenen Sonderzeichen e<strong>in</strong>en Shortcut auf der Tastatur<br />
e<strong>in</strong>zurichten). Wenn man außerdem bedenkt, dass die von 40.000<br />
Menschen gesprochene lappische (Sami) Sprache 9 eigene<br />
Tastaturen für alle neueren Microsoft-Versionen genießt, ist es<br />
dann nicht e<strong>in</strong>e auffällige Diskrim<strong>in</strong>ierung, dass die von Millionen<br />
gesprochene r<strong>roma</strong>ni Sprache noch nicht e<strong>in</strong>mal berücksichtigt<br />
wird? Wir müssen uns also dafür engagieren, dass alle r<strong>roma</strong>ni<br />
Buchstaben auf allen europäischen Tastaturen leicht e<strong>in</strong>zurichten<br />
s<strong>in</strong>d (dies ist tatsächlich <strong>in</strong> Arbeit).<br />
Schlussfolgerung Nr. 4: Global denken und lokal handeln gilt auch<br />
im Falle der r<strong>roma</strong>ni Sprache. Sagt e<strong>in</strong>e Dorflehrer<strong>in</strong>: “Warum soll<br />
ich für me<strong>in</strong>e Schüler <strong>in</strong> diesem entlegenen Bergdorf die<br />
125
Marcel COURTHIADE<br />
europäische Schreibweise benutzen?”, bedeutet das nicht, dass die<br />
r<strong>roma</strong>ni Rechtschreibung schwierig ist sondern nur, dass diese<br />
Lehrer<strong>in</strong> weder die europäische Dimension der r<strong>roma</strong>ni Sprache,<br />
Kultur und Nation verstanden hat noch wieviel ihre Schüler dadurch<br />
verlieren, dass <strong>in</strong> der geschriebenen Sprache die lokale<br />
Aussprache zugrunde gelegt wird, so wie sie <strong>in</strong> lokalen nichtr<strong>roma</strong>ni<br />
Schreibweisen wahrgenommen wird.<br />
126<br />
5. Gegenwärtige Probleme und Anliegen<br />
Es geht praktisch um folgende zentrale Probleme:<br />
a. Der Mangel an Engagement und Geld für die Veröffentlichung<br />
und Verteilung von möglichst viel Material <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />
Schreibweise und <strong>in</strong> der ursprünglichen dialektalen Variante<br />
(entsprechend editiert wie bei allen anderen Sprachen, um<br />
Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden), aber auch auf anderen<br />
Trägern wie Filmen, Bändern, elektronischen Spielen etc. .<br />
b. Der Mangel an Motivation, Bewusstse<strong>in</strong> und manchmal auch<br />
Lernwillen auf Seiten e<strong>in</strong>iger R<strong>roma</strong>, die nur zögerlich e<strong>in</strong> oder zwei<br />
Stunden Unterricht <strong>in</strong>vestieren würden, um die geme<strong>in</strong>same<br />
Rechtschreibung zu lernen, und danach vielleicht e<strong>in</strong>ige freie Zeit<br />
darauf verwenden, sich die <strong>in</strong> ihrer Geme<strong>in</strong>schaft verschütteten,<br />
aber <strong>in</strong> anderen Teilen Europas noch benutzten genu<strong>in</strong>en Begriffe<br />
der r<strong>roma</strong>ni Sprache anzueignen.<br />
c. Der Mangel an Bewusstse<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>igen r<strong>roma</strong>ni Übersetzern,<br />
die sich mit äußerst fragwürdigen Übersetzungen zufrieden geben<br />
und dafür noch bezahlt werden (das gilt leider für viele politische<br />
Dokumente des Europarates 19 oder sogar für literarische Werke wie<br />
der ersten r<strong>roma</strong>ni Übersetzung des “Kle<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zen”). Solche<br />
Veröffentlichungen entmutigen potenzielle Leser, verschwenden die<br />
für R<strong>roma</strong>-Projekte verfügbaren knappen Geldmittel und<br />
untergraben die begründete Affirmation der r<strong>roma</strong>ni Sprache als<br />
e<strong>in</strong>er modernen europäischen Sprache.<br />
19 Ich machte e<strong>in</strong>em von ihnen gegenüber e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Bemerkung dazu und er<br />
antwortete zynisch: „Was soll´s, R<strong>roma</strong> lesen nicht und Ga es verstehen es nicht.“...
ROMA IN EUROPA<br />
d. Der Mangel an Aufklärung und Motivation bei Mitmenschen, die<br />
die r<strong>roma</strong>ni Sprache immer noch ignorieren - so wie sie das<br />
Volk der R<strong>roma</strong>, den Genozid an den R<strong>roma</strong>, den Beitrag der<br />
R<strong>roma</strong> zur Zivilisation der Menschheit, den Anteil der R<strong>roma</strong> an<br />
der Geschichte usw. ignorieren.<br />
e. E<strong>in</strong>e grassierende Verachtung der <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten<br />
der R<strong>roma</strong> (s. oben).<br />
f. Nicht zuletzt kann man e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Haltung der Obstruktion<br />
bei e<strong>in</strong>igen Nicht-R<strong>roma</strong> beobachten, e<strong>in</strong>e Art Angst davor, <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em bisher verachteten Volk, das <strong>in</strong> großer Zahl <strong>in</strong>mitten Europas<br />
lebt, etwas anderes zu sehen als “Geme<strong>in</strong>schaften der R<strong>roma</strong>” 20<br />
(früher “Stämme”) und sie stattdessen als “e<strong>in</strong>e Nation der R<strong>roma</strong>”<br />
<strong>in</strong> sehr vielfältiger Gestalt zu verstehen – sowie deren Sprache nicht<br />
als “Anhäufungen von Dialekten”, sondern als “e<strong>in</strong>e r<strong>roma</strong>ni<br />
Sprache” mit ebenso großem Reichtum an kulturellen<br />
Ausdrucksmöglichkeiten. Es sche<strong>in</strong>t, als ob sie Angst vor e<strong>in</strong>er<br />
Schwächung ihrer eigenen nationalen, auf e<strong>in</strong>em Staatsgebiet<br />
basierenden Identität haben, wenn sie die E<strong>in</strong>heit von Sprache und<br />
Identität e<strong>in</strong>em Volk zuerkennen, das zahlenmäßig groß, aber nicht<br />
an e<strong>in</strong> Staatsgebiet gebunden ist. Mit anderen Worten: Es wird<br />
ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn nationale<br />
E<strong>in</strong>heit über politische Grenzen und kulturelle Unterschiede h<strong>in</strong>weg<br />
e<strong>in</strong>em Volk zugestanden wird, dessen Besonderheit auf se<strong>in</strong>em<br />
20 E<strong>in</strong> häufig angeführtes Argument dafür besteht <strong>in</strong> der Vielfalt der Kultur der R<strong>roma</strong>.<br />
H<strong>in</strong>ter dieser sche<strong>in</strong>baren Achtung der Vielfalt verbergen sich zwei Ungenauigkeiten:<br />
1. Zusammenfassen (amalgamation) – e<strong>in</strong>ige nicht-R<strong>roma</strong>-Gruppen werden von<br />
un<strong>in</strong>formierten Außenstehenden als R<strong>roma</strong> gesehen, nur weil sie mit denen e<strong>in</strong>ige<br />
soziale Eigenschaften wie Armut und Marg<strong>in</strong>alisierung geme<strong>in</strong>sam haben (e<strong>in</strong>e<br />
solche Haltung der Negation, d.h. die Leugnung e<strong>in</strong>er positiven nationalen Identität<br />
und deren Ersatz durch e<strong>in</strong>e negative soziale E<strong>in</strong>schätzung, hat e<strong>in</strong>e lange<br />
Leidensgeschichte, selbst wenn sie gegenwärtig unter dem karitativen Mäntelchen<br />
versteckt wird) und 2. Aufspalten (carv<strong>in</strong>g up) – e<strong>in</strong>ige Menschen berufen sich auf die<br />
kulturelle Vielfalt der R<strong>roma</strong>, um ihnen die Eigenschaft als eigene Nation<br />
abzusprechen. E<strong>in</strong>e solche Haltung ist gerade heutzutage unhaltbar, wo altmodische<br />
Träume von nationaler Uniformität der Vergangenheit angehören. Es sollte<br />
h<strong>in</strong>zugefügt werden, dass sowohl die Amalgamation wie die Identitätsspaltung <strong>in</strong> der<br />
Kolonialzeit ausgiebig gegen unterdrückte Völker e<strong>in</strong>gesetzt wurden und dass die<br />
Kolonialherren ihre Macht u. a. daraus gewannen, dass sie das unterdrückte Volk<br />
oder zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Führer von der Richtigkeit dieser Sicht überzeugten –<br />
manchmal aus fehlendem Bewusstse<strong>in</strong> und häufig aus direktem Eigen<strong>in</strong>teresse.<br />
127
Marcel COURTHIADE<br />
traditionellen Gefühl des Andersse<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Sprache<br />
(sei es <strong>in</strong> der tatsächlichen Praxis oder <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung als<br />
Symbol der Vergangenheit) und e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen historischen<br />
Schicksal beruht – und das ohne irgende<strong>in</strong> fassbares Staatsgebiet.<br />
Es ruft die Bemerkung e<strong>in</strong>es der großen Sanskritisten, Jules Bloch,<br />
<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, der feststellte: “Trotz der Zerstreuung ihrer Gruppen<br />
und ihrer fehlenden E<strong>in</strong>heitlichkeit betrachten sich die R<strong>roma</strong> als e<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>zigartiges Volk. Dieses von allen geteilte Gefühl der<br />
Geme<strong>in</strong>schaft erlaubt es uns, sie als e<strong>in</strong>e Nation zu betrachten,<br />
selbst wenn ihnen genau das fehlt, was für uns zum Symbol e<strong>in</strong>er<br />
Nation geworden ist, d. h. e<strong>in</strong>heitliche Institutionen und e<strong>in</strong> festes<br />
Staatsgebiet. Viele bleiben R<strong>roma</strong>, auch [...] jene, die die Sprache<br />
der Vorfahren nicht mehr benutzen.” (Bloch 1953:54).<br />
Des Lesens und Schreibens unkundige und marg<strong>in</strong>alisierte R<strong>roma</strong><br />
haben bisher die Sprache der R<strong>roma</strong> am Leben erhalten, aber<br />
werden <strong>in</strong>zwischen zunehmend stärker von den Mehrheitssprachen<br />
vere<strong>in</strong>nahmt. E<strong>in</strong>e Ausnahme s<strong>in</strong>d die Erben e<strong>in</strong>er lebendigen<br />
mündlichen Kultur, die sich ihre Liebe für und den Stolz auf ihre<br />
Muttersprache bewahrt haben. Entgegen der landläufigen Me<strong>in</strong>ung<br />
ist es ganz und gar nicht naturgegeben, dass man die Sprache der<br />
Vorfahren pflegt: Es bedarf e<strong>in</strong>es unerschütterlichen Bewusstse<strong>in</strong>s<br />
und Motivation, um die zur Akkulturation führende Tatenlosigkeit zu<br />
überw<strong>in</strong>den. Im heutigen Europa haben M<strong>in</strong>derheitssprachen nur<br />
e<strong>in</strong>e Überlebenschance dank des freiwilligen E<strong>in</strong>satzes der Eliten 21 .<br />
Wenn R<strong>roma</strong> die verfügbaren Lehrhilfen richtig nutzen und ihre<br />
europäische Elite entwickeln können, gäbe es die Hoffnung, dass<br />
diese Elite als Vorbild (e<strong>in</strong>e Art nationaler Mittelstand) für andere<br />
R<strong>roma</strong> fungiert und sie dazu ermutigt, die gegenwärtig von ihnen<br />
vernachlässigte Sprache auf mittlere Sicht wieder zu aktivieren.<br />
21 In beiden Bedeutungen des Wortes: Die formal gebildete Elite wird sich des Wertes<br />
ihres sprachlichen Erbes bewusst (manchmal zögert man noch e<strong>in</strong>e Generation lang,<br />
dieses Erbe anzunehmen) und kämpft für se<strong>in</strong>e Anerkennung, aber auch e<strong>in</strong>fache<br />
Menschen ohne Schulbildung, die sich Sorgen um den Erhalt ihrer Muttersprache<br />
machen, können zu e<strong>in</strong>er wirklichen Elite mit allen entsprechenden Eigenschaften<br />
werden.<br />
128
Bibliografie<br />
ROMA IN EUROPA<br />
BLOCH, J. 1953. 128 p. Les tsiganes. Coll. "Que sais-je?". PUF<br />
Verlag. Paris.<br />
COURTHIADE, M. 1985. Distance between R<strong>roma</strong>ni Dialects. In:<br />
Journal of the Gipsy Lore Society. North American Chapter. Nr 8,<br />
S.1-7. Silver Spr<strong>in</strong>g.<br />
COURTHIADE, M. 2004. The Dialect Structure of the R<strong>roma</strong>ni<br />
Language. In: Interface. Nr 31, S. 9-14, Paris (aktualisiert <strong>in</strong>:<br />
Structure dialectale de la langue r<strong>roma</strong>ni, Etudes tsiganes. Nr 22.<br />
S. 12-23. Paris, 2005).<br />
COURTHIADE, M. 2004. Politique l<strong>in</strong>guistique d'une m<strong>in</strong>orité<br />
nationale à implantation dispersée dans de nombreux États : le<br />
cas de la langue r<strong>roma</strong>ni. . In: Impérialismes l<strong>in</strong>guistiques hier<br />
et aujourd'hui. S.241-271. Inalco-Edisud-Fujiwara, Paris-Tokyo.<br />
COURTHIADE, M. 2005. La langue r<strong>roma</strong>ni, d'un millénaire à l'autre.<br />
In: Etudes tsiganes. Nr 22. S. 25-38. Paris, 2005.<br />
DUKA, J. 2001. Pratique <strong>in</strong>terdialectale en situation de diaspora : le<br />
lexique r<strong>roma</strong>ni – témoignage en synchronie. In: Faits de langues.<br />
Nr 18, S.181-190. Ophrys publisher. Gap-Paris (ursprünglicher<br />
r<strong>roma</strong>ni Text veröffentlicht <strong>in</strong>: Džaniben Nr 3-4 aus 2001, Prag unter<br />
dem Titel "Pan naja, pan phrala, pan ćhibǎ – naśti te oven<br />
jekh").<br />
COLL. R<strong>roma</strong>ne lila – Cigány levelek – R<strong>roma</strong>ni letters. 2003, 196<br />
Seiten Fővárosi Önkormányzat Cigány Ház Verlag. Budapest.<br />
COLL. Fjalor rromisht-shqip i të folmeve rrome në përdorim në<br />
Shqipëri. [R<strong>roma</strong>ni-Albanisches Wörterbuch der R<strong>roma</strong>ni parlers, <strong>in</strong><br />
Albanien verwendet] 2004, 252 Seiten. R<strong>roma</strong>ni baxt Verlag.<br />
Tirana.<br />
DJURIĆ, R. Fonološki sistem romskog jezika i njegov alfabet u svetlu<br />
etimoloških istraživanja. In: Konsultàcia vaś-i standardizàcia e<br />
ćhibǎqiri. Warschau, 1990.<br />
129
Marcel COURTHIADE<br />
ELOY, J.-M. 2004. Des langues collatérales: problèmes et<br />
propositions. In: Des langues collaterals – actes du colloque<br />
<strong>in</strong>ternational d'Amiens 21-24 nov. 2001. L'Harmattan, Paris.<br />
HALWACHS, D. & M. ZATREANU. 2004. 46 Seiten. Romani <strong>in</strong><br />
Language. Europarat Verlag. Strassburg.<br />
LANDABURU, J. 1997. Historia de la traducción de la Constitución de<br />
Colombia a siete lenguas <strong>in</strong>dígenas (1992-1994). In: Amer<strong>in</strong>dia:<br />
traducción y alteridad lngüística. Band 1. Bogota-Paris.<br />
Re<strong>in</strong>hard, M. D. 1976. Die Sprache der deutschen Zigeuner. In:<br />
Mitteilungen zur Zigeunerkunde. Beiheft Nr. 1. Mömbris.<br />
SARĂU, Gh. 2002. 56 p. R<strong>roma</strong>ni language – The Present Time <strong>in</strong><br />
the Education of National M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Romania. Bukarest.<br />
E<strong>in</strong>e umfassende und aktuelle Bibliographie von Lehrmaterial <strong>in</strong> der<br />
r<strong>roma</strong>ni Sprache ist auch <strong>in</strong> "El idioma r<strong>roma</strong>nó y su cultura". Paris,<br />
L'Harmattan – 2006 zur Veröffentlichung vorgesehen, enthalten.<br />
Weitere Informationen unter www.<strong>in</strong>alco.fr.<br />
130
Andrzej Mirga<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Roma und der Beitritt zur EU:<br />
Gewählte und ernannte Vertreter der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
erweiterten Europa<br />
Bericht über das Projekt für ethnische Beziehungen (PER),<br />
Pr<strong>in</strong>ceton 2005<br />
E<strong>in</strong>leitung 1<br />
1 Am 9. und 10. Dezember 2003 veranstalteten die Europäische Kommission und das<br />
Projekt für ethnische Beziehungen (PER) e<strong>in</strong> zweitägiges Sem<strong>in</strong>ar zur Rolle der<br />
Roma-Führung <strong>in</strong> den neuen Beitrittsländern der Europäischen Union. An den<br />
Beratungen nahmen Beamte der Europäischen Kommission und Mitglieder des<br />
Europäischen Parlaments sowie gewählte und ernannte Vertreter der Roma aus der<br />
Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakei (die am 1. Mai 2004<br />
Mitglieder der EU wurden) und aus den Kandidatenländern Bulgarien und Rumänien<br />
teil. Mit dem vom Projekt für ethnische Beziehungen zusammen mit der Europäischen<br />
Kommission veranstalteten Treffen <strong>in</strong> Brüssel bot sich den Vertretern der Roma das<br />
zweite Mal die Gelegenheit e<strong>in</strong>er Anhörung am Sitz der Europäischen Union. Beim<br />
ersten von PER veranstalteten Treffen <strong>in</strong> Brüssel im Juli 1999 trafen<br />
Regierungsvertreter und führende Roma mit der Europäischen Kommission<br />
zusammen, um über die Gestaltung und Umsetzung der Regierungsstrategien bzgl.<br />
der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> den beitrittswilligen Ländern zu diskutieren und zu<br />
debattieren. Damals stand die Notwendigkeit von Partnerschaften zwischen<br />
Regierungen und Roma bei der Entwicklung ihrer Strategien im Mittelpunkt. Das<br />
aktuelle Treffen fand zu e<strong>in</strong>em für Europas Roma-Bevölkerung historischen Zeitpunkt<br />
statt, nämlich am Vorabend der ersten EU-Erweiterungsrunde von 15 auf 25<br />
Mitgliedsländer. Die Tatsache, dass dabei zum ersten Mal Romani als offizielle<br />
Sprache am Sitz der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments<br />
e<strong>in</strong>gesetzt wurde, war e<strong>in</strong> symbolträchtiges Zeichen des Wandels.<br />
Diese Veranstaltung sollte zum direkten Dialog zwischen gewählten und ernannten<br />
Funktionären der Roma aus den Kandidatenländern e<strong>in</strong>erseits und der Europäischen<br />
Kommission und dem Europäischen Parlament andererseits e<strong>in</strong>laden. Für die<br />
europäischen Beamten bot sich damit e<strong>in</strong>e wichtige Gelegenheit, von Roma-<br />
Vertretern <strong>in</strong> Politik gestaltenden Funktionen direkt zu hören, wie sie politische<br />
Maßnahmen bewerten, und gleichzeitig deren E<strong>in</strong>fluss abzuwägen. Den Vertretern<br />
der Roma bot sich die Gelegenheit, e<strong>in</strong> Bild über die aktuelle Politik der EU und ihre<br />
zukünftige Haltung bzgl. der Roma-Thematik zu erhalten. Der Runde Tisch am ersten<br />
Tag mit der Kommission bestand aus Vorträgen und Erklärungen der <strong>roma</strong>ni<br />
Vertreter. Die Kommissionsvertreter <strong>in</strong>formierten die versammelten Roma über die<br />
aktuelle und zukünftige Politik der EU und über Instrumente, die den Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheiten helfen könnten. Romani Teilnehmer befragten die Beamten der<br />
Kommission auch zu e<strong>in</strong>er Reihe spezifischer Themen. Nach dem Runden Tisch<br />
trafen sich Delegationen der Roma mit Beamten der Kommission <strong>in</strong> deren Büros zu<br />
E<strong>in</strong>zelgesprächen. Am zweiten Tag des Treffens, das am Sitz des Europäischen<br />
Parlaments stattfand, stellten die Parlamentsmitglieder Fragen an die Vertreter der<br />
Roma; es folgte e<strong>in</strong>e lebhafte Diskussion.<br />
131
Andrzej Mirga<br />
Obwohl seit der Erweiterung im März 2004 e<strong>in</strong>ige Länder mit<br />
großen Roma-M<strong>in</strong>derheiten zur Europäischen Union gehören,<br />
bewahrheiteten sich die von den Medien e<strong>in</strong>iger EU-Länder<br />
geäußerten Befürchtungen nicht: Es gab ke<strong>in</strong>en Ansturm „der<br />
erbärmlich armen Roma-M<strong>in</strong>derheiten aus neuen Mitgliedsländern<br />
wie der Slowakei, Ungarn und der Tschechischen Republik“, die<br />
sich auf die besser gestellten Staaten der Union stürzten. 2<br />
Trotzdem stellen die Fragen der Roma sowohl die Regierungen wie<br />
führende Roma <strong>in</strong> den neuen Mitgliedsländern vor neue<br />
Herausforderungen. Dabei können die Erfahrungen der alten<br />
Mitgliedsländer, wie sie Probleme der Roma zu lösen versuchten,<br />
nicht als Beispiel dienen. 3 Tatsächlich hat die neue Diskussion über<br />
die Roma Mittel- und Ost<strong>europa</strong>s e<strong>in</strong>ige EU-Länder wie Spanien,<br />
Griechenland, Deutschland und Schweden veranlasst, ihre Politik <strong>in</strong><br />
dieser Frage noch e<strong>in</strong>mal zu überprüfen.<br />
Wird die Erweiterung Veränderungen für die Roma bedeuten? Wird<br />
sie deren Lebensbed<strong>in</strong>gungen verbessern und ihnen<br />
Chancengleichheit <strong>in</strong> Bildung und Beschäftigung br<strong>in</strong>gen? Wird sie<br />
zu weniger Ausgrenzung und Diskrim<strong>in</strong>ierung führen?<br />
Sowohl den Regierungen wie führenden Vertretern der Roma ist<br />
klar, dass ke<strong>in</strong>e schnellen Fortschritte zu erwarten s<strong>in</strong>d. Aber die<br />
Erweiterung hat durchaus neue Hoffnungen darauf geweckt, dass<br />
sich die Probleme der Roma nun auf andere Art und Weise und mit<br />
bisher nicht verfügbaren F<strong>in</strong>anzmitteln lösen lassen. Soziale<br />
Unruhen <strong>in</strong> der <strong>roma</strong>ni „mahala“ (Stadtbezirk) von Plovdiv/Bulgarien<br />
im Jahr 2002 und die Ausschreitungen <strong>in</strong> der östlichen Slowakei im<br />
Februar 2004 s<strong>in</strong>d erste Warnzeichen, was passieren könnte, wenn<br />
ke<strong>in</strong>e Entscheidungen und Taten folgen. 4<br />
Dieser Artikel wurde auszugsweise mit entsprechender Genehmigung dem Bericht<br />
des PER „Roma and EU Accession: Elected and Appo<strong>in</strong>ted Romani Representatives<br />
<strong>in</strong> an Enlarged Europe“ entnommen, Pr<strong>in</strong>ceton 2004 (Im Internet nachzulesen unter:<br />
http://www.per-usa.org/Per%20Brussels%20Report.pdf)<br />
2 „Those Roam<strong>in</strong>´ Roma“, The Economist, 7. Februar 2004.<br />
3 Monitor<strong>in</strong>g the EU Accession Process: M<strong>in</strong>ority Protection, Open Society Institute,<br />
EU Monitor<strong>in</strong>g Program, Budapest (2002). S. Kapitel zur „Lage der Roma <strong>in</strong><br />
Deutschland“ und zur „Lage der Roma <strong>in</strong> Spanien“. Der Volltext des Berichts ist unter<br />
http://www.eumap.org/reports/2002 verfügbar.<br />
4 Andrzej Mirga und Nicolae Gheorghe warnten 1997 vor e<strong>in</strong>er solchen Gefahr. S. The<br />
Roma <strong>in</strong> the Twenty-First Century. A Policy Paper. PER-Report, Pr<strong>in</strong>ceton, 1997. S.<br />
35.<br />
132
ROMA IN EUROPA<br />
Geme<strong>in</strong>schaften der Roma s<strong>in</strong>d dabei, sich zu organisieren und<br />
zivilgesellschaftliche und politische Organisationen aufzubauen.<br />
Führende Vertreter der Roma fordern Mitsprache am öffentlichen<br />
und politischen Leben ihrer Länder. Sie streben nach Ämtern <strong>in</strong><br />
gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung. Sie drängen<br />
auf e<strong>in</strong>e koord<strong>in</strong>ierte Politik gegenüber den Roma auf Ebene der<br />
EU. Diese Entwicklungen fordern sowohl die EU wie auch die<br />
e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedsländer heraus.<br />
In der Phase vor dem Beitritt war die EU-Politik darauf ausgerichtet,<br />
die Regierungen der Beitrittskandidaten zur Ausarbeitung von<br />
Politiken und Programmen für ihre Roma-M<strong>in</strong>derheiten zu drängen.<br />
Gleichzeitig stellte die EU F<strong>in</strong>anzhilfen für die Umsetzung dieser<br />
Programme zur Verfügung und ermunterte zum Aufbau e<strong>in</strong>er<br />
<strong>roma</strong>ni Zivilgesellschaft. Mit dem Beitritt ändert sich vieles an der<br />
EU-Politik. E<strong>in</strong>ige Instrumente - z. B. die Förderung im Rahmen von<br />
PHARE - stehen nach e<strong>in</strong>em Beitritt nicht mehr zur Verfügung. Die<br />
Europäische Kommission hat auch weniger E<strong>in</strong>fluss über schon<br />
beigetretene Länder. Sicherlich ergeben sich neue Mittel und Wege<br />
und andere Möglichkeiten f<strong>in</strong>anzieller Förderung, aber die Roma<br />
werden lernen müssen, sich diese als neue Bürger der EU zunutze<br />
zu machen.<br />
Mit den neu entstehenden politischen Organisationen der Roma<br />
strebt e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, aber wachsende Schar ihrer Politiker - Mitglieder<br />
nationaler Parlamente und Regierungsorgane - nach e<strong>in</strong>er größeren<br />
Rolle bei der Formulierung und Umsetzung politischer Maßnahmen<br />
zugunsten der Roma-M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> ihren Ländern und <strong>in</strong> der EU.<br />
Die gewählten und ernannten Vertreter der Roma kamen nach<br />
Brüssel, um sich Informationen aus erster Hand über die zukünftige<br />
EU-Politik für ihre Geme<strong>in</strong>schaften zu beschaffen. Sie forderten die<br />
EU zur Fortsetzung ihrer Unterstützung und weiterem Druck auf<br />
ihre Regierungen auf, damit diese Veränderungen e<strong>in</strong>leiten. Sie<br />
wollten die Partnerschaften zwischen den Institutionen der EU <strong>in</strong><br />
Brüssel und den Organisationen der Roma - <strong>in</strong>sbesondere den<br />
politischen - konsolidieren. Sie schlugen vor, f<strong>in</strong>anzielle und<br />
politische Mittel zugunsten der Roma zu erhöhen und empfahlen<br />
e<strong>in</strong>e Verlagerung vom ausgaben- zum ergebnisorientierten<br />
Monitor<strong>in</strong>g von diesem Zeitpunkt an. Noch wichtiger war aber, dass<br />
sie <strong>in</strong> Brüssel e<strong>in</strong>e Perspektive vertraten, bei der die nationale<br />
Politik jedes E<strong>in</strong>zelstaates im Mittelpunkt der Bemühungen um die<br />
Förderung und den Schutz der Roma-M<strong>in</strong>derheiten stand. Sie<br />
betonten, dass <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Ländern mit großen Roma-<br />
133
Andrzej Mirga<br />
Geme<strong>in</strong>schaften nationale Lösungen gefunden und dass Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheiten Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream werden müssten.<br />
1. H<strong>in</strong>tergrund<br />
EU-Förderung für Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />
Während des Prozesses zur Vorbereitung des Beitritts übten die EU<br />
und ihre Brüsseler Institutionen Druck auf Regierungen aus, damit<br />
diese politische Maßnahmen zur Verbesserung der schrecklichen<br />
Lage der Roma und zu deren besseren Integration <strong>in</strong> die<br />
Gesellschaft ergriffen. Die Beitrittsländer unternahmen<br />
entsprechende Anstrengungen, um den Anforderungen und<br />
Empfehlungen der Kopenhagener Politischen Kriterien (1993), der<br />
Agenda 2000 (1997), den regelmäßigen Fortschrittsberichten der<br />
Kommission im Vorlauf des Beitrittsprozesses (seit 1998<br />
herausgegeben und danach jedes Jahr aktualisiert) und den vom<br />
Europäischen Rat auf se<strong>in</strong>er Sitzung <strong>in</strong> Tampere 1999<br />
angenommenen COCEN-Richtl<strong>in</strong>ien zur Verbesserung der<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen der Roma Rechnung zu tragen.<br />
In den Dokumenten der Europäischen Kommission zur<br />
Beitrittspartnerschaft mit Bulgarien, der Tschechischen Republik,<br />
Ungarn und Rumänien von 1998 wurde der weiteren Integration der<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten mittelfristig politische Priorität e<strong>in</strong>geräumt,<br />
während die Slowakei ermutigt wurde, politische Maßnahmen und<br />
Institutionen zum Schutz der M<strong>in</strong>derheitenrechte zu fördern und zu<br />
stärken. Die aktualisierten Dokumente über Beitrittspartnerschaften<br />
von 2001 gaben der Umsetzung nationaler Aktionspläne oder<br />
Rahmenprogramme zugunsten der Roma politische Priorität <strong>in</strong><br />
Bulgarien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Rumänien und der<br />
Slowakei.<br />
Im Erweiterungsstrategiepapier von 2001, <strong>in</strong> dem die Fortschritte<br />
der Beitrittsländer bewertet wurden, kam die Kommission zu<br />
folgendem Schluss:<br />
134<br />
Aus allen Ländern mit größeren Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />
liegen <strong>in</strong>zwischen nationale Aktionspläne vor, um die weit<br />
verbreitete Diskrim<strong>in</strong>ierung zu bekämpfen und die noch<br />
immer extrem schwierigen Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu<br />
verbessern. In den meisten Fällen geht es mit der<br />
Umsetzung dieser Aktionspläne voran und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Ländern wurden die entsprechend höheren Mittel im
ROMA IN EUROPA<br />
Staatshaushalt e<strong>in</strong>gestellt. PHARE-Förderung steht<br />
weiterh<strong>in</strong> zur Unterstützung dieser Maßnahmen zur<br />
Verfügung. Es bedarf weiterer Anstrengungen, um sicher<br />
zu stellen, dass die unterschiedlichen Programme <strong>in</strong> enger<br />
Abstimmung mit Vertretern der Roma kont<strong>in</strong>uierlich<br />
umgesetzt werden und dass <strong>in</strong> allen Ländern dafür<br />
ausreichende Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. 5<br />
In den Umfassenden Länderberichten der Kommission von 2003<br />
zur Überprüfung der Lage <strong>in</strong> den Beitrittsländern – den letzten<br />
Berichten vor dem Beitritt e<strong>in</strong>iger dieser Länder zur EU – wird<br />
festgestellt, dass die Länder zwar im Wesentlichen den aus den<br />
Beitrittsverhandlungen resultierenden Verpflichtungen und<br />
Anforderungen nachgekommen seien, die Kommission aber<br />
nachdrücklich betone, dass erhebliche Anstrengungen zur<br />
Verbesserung der Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der Tschechischen<br />
Republik, Ungarn und der Slowakei erforderlich seien. Im E<strong>in</strong>zelnen<br />
betont der Bericht über die Slowakei, dass „die Lücke zwischen gut<br />
formulierter Politik und ihrer Umsetzung vor Ort nicht wesentlich<br />
ger<strong>in</strong>ger geworden ist. Es s<strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong> erhebliche<br />
Mehranstrengungen erforderlich, um die Lage zu korrigieren.“ 6 Der<br />
Bericht zur Situation <strong>in</strong> der Tschechischen Republik unterstreicht,<br />
dass „vielfältige Diskrim<strong>in</strong>ierung und soziale Ausgrenzung, denen<br />
die Roma ausgesetzt s<strong>in</strong>d, weiterh<strong>in</strong> Besorgnis erregen“ <strong>in</strong><br />
Bereichen wie E<strong>in</strong>stellungspraktiken, Bildung (Roma-K<strong>in</strong>der werden<br />
<strong>in</strong> Sonderschulen e<strong>in</strong>gewiesen) und im Wohnungswesen. 7 Für<br />
Ungarn kommt der Bericht zu dem Schluss, dass „die Mehrheit der<br />
Menschen, die zur Geme<strong>in</strong>schaft der Roma gehören, weiterh<strong>in</strong><br />
sozialen Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und weit verbreiteter<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> Bildung, Beschäftigung und beim Zugang zu<br />
öffentlichen Leistungen ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Segregation <strong>in</strong> den<br />
Schulen stellt noch immer e<strong>in</strong> ernstes Problem dar.“ 8<br />
5 Unter: http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report2001/<strong>in</strong>dex.htm. (Deutsche<br />
Zitate aus den Berichten s<strong>in</strong>d auch im Folgenden Teil der Übersetzung)<br />
6 Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Slovakia´s Preparations for Membership, S.<br />
34, unter:<br />
http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_sk_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />
7<br />
Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Czech Republic´s Preparations for<br />
Membership, S. 34-35, unter:<br />
http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_cz_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />
8<br />
Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Hungary´s Preparations for Membership, S.<br />
36, unter:<br />
http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_hu_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />
135
Andrzej Mirga<br />
In den Regelmäßigen Berichten über die Kandidatenländer von<br />
2003 stellt die Kommission fest, dass <strong>in</strong> Bulgarien e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />
von Initiativen vonseiten der Regierung ergriffen worden seien, u. a.<br />
e<strong>in</strong> Aktionsplan zur Umsetzung des Rahmenprogramms, „aber sich<br />
die Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit kaum verbessert hat“. 9 Im Falle<br />
Rumäniens bemerkt der Bericht, dass zwar Fortschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Bereichen zu verzeichnen seien und „die Roma-Strategie weiterh<strong>in</strong><br />
umgesetzt wird, wenn auch mangels Ressourcen die Ergebnisse<br />
ziemlich mager ausfielen“. 10<br />
Die Frage der Roma <strong>in</strong> den neuen EU-Mitgliedsstaaten und den<br />
Kandidatenländern gibt also weiterh<strong>in</strong> Anlass zur Besorgnis - e<strong>in</strong>e<br />
Tatsache, die auch von anderen <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong><br />
Europa bestätigt wird. 11<br />
In der Vorbereitungsphase gab es f<strong>in</strong>anzielle Förderung für die<br />
Beitrittskandidaten durch das Phare-Programm der EU. Es wurde<br />
1989 aufgelegt und stellte Haushaltsmittel von <strong>in</strong>sgesamt 4,2 Mrd.<br />
Euro für 1990-1994 und e<strong>in</strong>e Erhöhung auf fast 6,7 Mrd. Euro für<br />
1995-1999 zur Verfügung. Jedes der Beitrittsländer erhielt<br />
sogenannte „nationale Allokationen“ im Rahmen des Phare-<br />
Programm, wobei die Behörden aufgefordert wurden, Mittel für die<br />
Roma-Geme<strong>in</strong>schaften vorzusehen und über die<br />
zivilgesellschaftlichen Entwicklungsstiftungen weiterzugeben, die <strong>in</strong><br />
Bulgarien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Rumänien und der<br />
Slowakei zu diesem Zweck gegründet worden waren. Seit 1998<br />
haben die nationalen Phare-Programme entsprechend den <strong>in</strong> den<br />
Beitrittspartnerschaften festgelegten Prioritäten e<strong>in</strong>en Teil der Mittel<br />
zur F<strong>in</strong>anzierung von Projekten für die Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />
aufgewendet. Insgesamt belief sich der Betrag, der 1999 für<br />
Förderprogramme zugunsten der Roma aufgewendet wurde, auf<br />
11,7 Mio. Euro. In den Folgejahren stieg dieser Betrag auf 13,65<br />
Mio. Euro im Jahr 2000 und 31,35 Mio. 2001. Abgesehen von den<br />
nationalen PHARE-Fördermitteln standen den Roma-<br />
Geme<strong>in</strong>schaften auch andere EU-F<strong>in</strong>anzierungsprogramme offen,<br />
so z. B. das Lien-Programm, das ACCESS-Programm, die<br />
Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte der GD<br />
9 2003 Regular Report on Bulgaria´s Progress Towards Accession, S. 25-26, unter:<br />
http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/rr_bg_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />
10 2003 Regular Report on Romania´s Progress Towards Accession, S. 30-32, unter:<br />
http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/rr_ro_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />
11 S. dazu die jüngsten Länderberichte, die von der Europäischen Kommission gegen<br />
Rassismus und Intoleranz (ECRI) herausgegeben wurden oder die Länderberichte<br />
und Gutachten des Beratenden Ausschusses, die im Zusammenhang mit der<br />
Rahmenkonvention zum Schutz nationaler M<strong>in</strong>derheiten veröffentlicht wurden.<br />
136
ROMA IN EUROPA<br />
Außenbeziehungen, die GD Beschäftigung und Soziale<br />
Angelegenheiten u.a. 12<br />
Die Roma als Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream: Ausübung<br />
politischer Rechte<br />
In zahlreichen Empfehlungen e<strong>in</strong>er Reihe <strong>in</strong>ternationaler<br />
Organisationen, die sich mit Roma-Themen beschäftigen – u. a. im<br />
neuesten Aktionsplan der OSZE 13 - taucht immer wieder die<br />
Forderung nach Teilhabe (Inklusion) der Roma an<br />
Entscheidungsprozessen auf, d. h. ihrer Beteiligung am öffentlichen<br />
und politischen Leben ihrer Heimatländer. Die Beteiligung der<br />
Roma an Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen ist e<strong>in</strong><br />
außerordentlich wichtiger Schritt auf dem Weg zu ihrer Integration,<br />
damit sie sich als Teil der Gesellschaft begreifen. Partizipation und<br />
Partnerschaft s<strong>in</strong>d deshalb Schlüsselbegriffe für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>gliederung<br />
der Roma.<br />
Das Projekt für ethnische Beziehungen (PER) hat sich seit 1991 für<br />
diese wichtigen Ideen e<strong>in</strong>gesetzt, als man sich für Fragen der Roma<br />
<strong>in</strong> Mittel- und Ost<strong>europa</strong> zu engagieren begann. Man hat<br />
Regierungen und führende Roma-Vertreter ermutigt, konstruktive<br />
Partnerschaften e<strong>in</strong>zugehen, und den Roma den Weg <strong>in</strong><br />
parlamentarische und Regierungsgremien geebnet. PER war die<br />
erste Organisation, die Wahlstrategien der Roma entwickelte und<br />
auch die erste, die Bündnisse zwischen Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />
und politischen Gruppen der Roma befürwortete.<br />
In ihrem programmatischen Bericht für PER „The Roma <strong>in</strong> the<br />
Twenty-First Century“ kamen Andrzej Mirga und Nicolae Gheorghe<br />
1997 zu dem Schluss, dass sich unter den Roma e<strong>in</strong> starker Trend<br />
zur ethnischen Mobilisierung bemerkbar mache. Die Roma könnten<br />
versuchen, aus ihrer Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>e ebenso wirkungsvolle<br />
Lobby und Interessenvertretung wie andere nationale/ethnische<br />
12 Dazu mehr <strong>in</strong>: European Union support for Roma communities <strong>in</strong> Central and<br />
Eastern Europe, GD Erweiterung, Brüssel, Mai 2002, aktualisiert 2003, unter:<br />
http://<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/docs/pdf/brochure_<strong>roma</strong>_oct2003_en.pdf.<br />
13 Der „Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma und S<strong>in</strong>ti auf dem Gebiet<br />
der OSZE“ wurde per Beschluss Nr. 566 des Ständigen Rates der OSZE am 27.<br />
November 2003 angenommen. Kapitel sechs „Förderung der Teilnahme am<br />
öffentlichen und politischen Leben“ beschäftigt sich mit dem Thema. Der Volltext ist<br />
verfügbar unter: www.osce.org/documents/odihr/2003/11/1562_en.pdf.<br />
137
Andrzej Mirga<br />
Gruppen <strong>in</strong> der heutigen Welt zu machen. Mirga und Gheorghe<br />
deuteten an, dass die Zukunft der Roma-Bevölkerung davon<br />
abhänge, wie erfolgreich sie sich zu e<strong>in</strong>er solchen Gruppe, die sich<br />
ihrer Rechte, Interessen und Macht bewusst ist, entwickle.<br />
Gleichzeitig bekräftigten sie, dass die zur Verfügung stehenden<br />
demokratischen Mittel - z. B. freie Wahlen – von den Roma genutzt<br />
werden müssten. In ihren Augen war e<strong>in</strong>e gewählte Vertretung<br />
unbed<strong>in</strong>gt erforderlich, um die Kluft zwischen selbst ernannten<br />
Roma-Führungen und der nicht aktiven Masse der Bevölkerung zu<br />
überbrücken. 14<br />
Es bleibt jedoch bis heute schwierig, e<strong>in</strong>e wirksamere<br />
Interessenvertretung zu erreichen und die Roma <strong>in</strong> erheblich<br />
größerem Umfang am öffentlichen und politischen Leben zu<br />
beteiligen. Die Me<strong>in</strong>ungen s<strong>in</strong>d geteilt <strong>in</strong> der Frage, warum die<br />
Roma noch immer <strong>in</strong> gewählten Gremien – und der Politik ganz<br />
allgeme<strong>in</strong> – unterrepräsentiert s<strong>in</strong>d. Mehrheitlich neigen Analysten<br />
und Aktivisten zu der Ansicht, dass der Zustand der Parteien des<br />
Ma<strong>in</strong>stream, der Regierungen oder sogar der Gesellschaft<br />
allgeme<strong>in</strong> dafür verantwortlich sei, dass es den Roma nicht gel<strong>in</strong>ge,<br />
e<strong>in</strong> zufrieden stellendes Maß politischer Partizipation und<br />
Vertretung zu erreichen. Gesellschaftliche Ausgrenzung,<br />
Rassismus und Diskrim<strong>in</strong>ierung oder Augenwischerei der Politik,<br />
die nur e<strong>in</strong> paar Alibi-Roma <strong>in</strong> öffentlichen Gremien platziere,<br />
werden als Gründe für dieses Unvermögen angeführt. 15<br />
Anstelle politischer Organisationen werden die aus dem Boden<br />
schießenden zivilgesellschaftlichen Gruppen häufig als Sprachrohr<br />
der Gruppen<strong>in</strong>teressen betrachtet. E<strong>in</strong>e Vielfalt unterstützender<br />
Netzwerke ersetzt echte politische Vertretung, die ihren Wählern<br />
gegenüber rechenschaftspflichtig wäre. 16<br />
14 The Roma <strong>in</strong> the Twenty-First Century: A Policy Paper, PR Report, Pr<strong>in</strong>ceton, 1997.<br />
15 S. beispielsweise hierzu Referate <strong>in</strong>: Roma Rights Quarterly Nr. 4 (2003): Political<br />
Rights, ERRC, Budapest, April 2003, unter:<br />
http://www.lists.errc.org/rr_nr4_2003/<strong>in</strong>dex.shtml; sowie Roma Political Participation <strong>in</strong><br />
Bulgaria, Romania and Slovakia von NDI unter:<br />
www.accessdemocracy.org/library/1636_cee_<strong>roma</strong>report_033103.pdf<br />
16 S. die Arbeit von Peter Vermeersch zu diesem Thema. E<strong>in</strong>e Reihe von Umfragen<br />
bezüglich des Vertrauens, das Roma <strong>in</strong> ihre Organisationen setzen, können das<br />
Thema weiter erhellen. E<strong>in</strong>e Umfrage der UNDP aus dem Jahr 2003 zeigte, dass 86<br />
% der Roma der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, dass ihre Interessen auf nationaler Ebene nicht gut<br />
vertreten seien; 75 % glauben, dass es für sie ke<strong>in</strong>e angemessene Vertretung auf<br />
lokaler Ebene gebe. 91 % der Roma können ke<strong>in</strong>e NRO ihres Vertrauens nennen und<br />
86 % ke<strong>in</strong>e <strong>roma</strong>ni Partei ihres Vertrauens. Die Zahlen unterscheiden sich von Land<br />
zu Land, aber <strong>in</strong>sgesamt schneiden Parteien der Roma besser ab als ihre NROs.<br />
Rumänien ist dabei der <strong>in</strong>teressanteste Fall: Dort ist die Differenz zwischen dem<br />
138
ROMA IN EUROPA<br />
E<strong>in</strong>ige Stimmen wurden laut, dass <strong>roma</strong>ni Basis<strong>in</strong>itiativen und<br />
florierende Nichtregierungsorganisationen dem Entstehen<br />
politischer Organisationen der Roma im Wege gestanden und damit<br />
die politische Partizipation der Roma e<strong>in</strong>geschränkt hätten.<br />
Anstrengungen zum Aufbau starker und politisch handlungsfähiger<br />
Organisationen seien durch die Tatsache geschwächt worden, dass<br />
e<strong>in</strong> Großteil der Bildungselite <strong>in</strong> den zivilgesellschaftlichen Sektor<br />
abgewandert sei, wo man sich f<strong>in</strong>anziell besser stelle und der<br />
beträchtliche Förderung durch ausländische Geberorganisationen<br />
erhalte. 17<br />
Innerhalb der Geme<strong>in</strong>schaft der Roma herrscht weiterh<strong>in</strong><br />
Verwirrung, was Fragen der Führung und legitimierten Vertretung<br />
anbetrifft. Zwar erkennt man <strong>in</strong> wachsendem Maße, dass mehr<br />
gewählte Repräsentanten erforderlich s<strong>in</strong>d, wie man diese aber<br />
rechenschaftspflichtig machen kann gegenüber ihrer <strong>roma</strong>ni<br />
Wählerschaft, die großenteils ungebildet und manipulationsanfällig<br />
ist, bleibt e<strong>in</strong> ernstes Problem.<br />
E<strong>in</strong>e mehr symbolische Anzahl an Roma <strong>in</strong> der öffentlichen<br />
Verwaltung und e<strong>in</strong>ige wenige – ohne Zweifel zu wenige - gewählte<br />
<strong>roma</strong>ni Vertreter ist der Stand dessen, was die Roma-Bevölkerung<br />
bisher <strong>in</strong> der Ausübung politischer Rechte erreichen konnte.<br />
Vielversprechend ist dabei die Tatsache, dass auch der<br />
zivilgesellschaftliche Sektor <strong>in</strong>zwischen die Notwendigkeit zu<br />
Veränderungen erkannt hat und dass e<strong>in</strong>ige ihrer prom<strong>in</strong>enten<br />
Führungskräfte sich für e<strong>in</strong>e stärkere E<strong>in</strong>beziehung der Roma <strong>in</strong> die<br />
Parteien und die Politik des Ma<strong>in</strong>stream ausgesprochen haben. 18<br />
Vertrauen <strong>in</strong> politische Parteien der Roma und dem Vertrauen <strong>in</strong> NROs der Roma am<br />
größten; 26 % haben Vertrauen <strong>in</strong> politische Parteien der Roma gegenüber weniger<br />
als 5 %, die den NROs vertrauen.<br />
17 E. Sobotka, „The Limits of the State: Political Participation and Representation of<br />
Roma <strong>in</strong> the Czech Republic, Hungary, Poland and Slovakia“, JEMIE (Journal on<br />
Ethnopolitics and M<strong>in</strong>ority Issues <strong>in</strong> Europe), W<strong>in</strong>ter 2001/2002, auch unter www.<br />
ecmi.de.<br />
18 Rumyan Russ<strong>in</strong>ov hat dies jüngst mit se<strong>in</strong>er Aussage bestätigt: „... Die<br />
Mechanismen der Bewegung der Roma s<strong>in</strong>d ausgeschöpft und wir können ke<strong>in</strong>e<br />
Programmänderungen auf Ebene der Zivilgesellschaft mehr durchführen. ... Wir<br />
brauchen e<strong>in</strong>e breiter gefächerte E<strong>in</strong>gliederung nicht auf der Ebene der Programme,<br />
sondern auf der Ebene der Politik.“ Aus E. Sobotka, Roma <strong>in</strong> Politics <strong>in</strong> the Czech<br />
Republic, Slovakia and Poland“, Roma Rights Quarterly Nr. 4 (2003): Political Rights,<br />
ERRC, Budapest, April 2003, S. 31.<br />
139
Andrzej Mirga<br />
Parteipolitik ist e<strong>in</strong>e Frage der Zahlen und der Anteil der Roma an<br />
Macht und Positionen hängt von ihrer Stärke im politischen S<strong>in</strong>ne<br />
ab, d. h. von e<strong>in</strong>em kalkulierbaren und stabilen Wahlverhalten.<br />
Bisher gehen die Stimmen der Roma bei Wahlen nicht<br />
ausschließlich an ihre eigenen Parteien und ihre Wahlpräferenzen<br />
s<strong>in</strong>d nicht kalkulierbar. Aber was die Roma <strong>in</strong> jüngster Zeit, vor<br />
allem <strong>in</strong> den letzten nationalen und kommunalen Wahlen, erreicht<br />
haben, kann durchaus als Erfolg gewertet werden (<strong>in</strong> Ungarn,<br />
Rumänien oder <strong>in</strong> Bulgarien). 19<br />
2. Das Brüsseler Treffen<br />
EU-Unterstützung für die Roma: Auswertung und Erwartungen<br />
Alle <strong>roma</strong>ni Teilnehmer stimmten dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, dass politischer<br />
Druck der EU und f<strong>in</strong>anzielle Förderung für Regierungen und<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>e wesentliche Voraussetzung für die<br />
Verwirklichung nationaler Programme und Aktionspläne zugunsten<br />
der Roma <strong>in</strong> den Beitrittsländern darstellten. Der entsprechende<br />
Ansatz hätte dafür gesorgt, dass die Roma-Themen weiterh<strong>in</strong> Teil<br />
der Regierungsagenda wären und dass die erforderlichen<br />
Maßnahmen <strong>in</strong> partnerschaftlichem E<strong>in</strong>vernehmen mit Vertretern<br />
der Roma ausgearbeitet und beschlossen worden seien. Nach<br />
Me<strong>in</strong>ung der meisten <strong>roma</strong>ni Redner würde e<strong>in</strong>e wirksame Politik<br />
zugunsten der Roma jedoch wesentlich von der<br />
Handlungsbereitschaft der Regierung und den im Haushalt<br />
e<strong>in</strong>gestellten Mitteln abhängen, mit denen die Umsetzung<br />
beschlossener Programme und Aktionspläne sicher gestellt würde.<br />
Bei beidem sah man Probleme. E<strong>in</strong> Redner der Roma me<strong>in</strong>te dazu,<br />
dass es <strong>in</strong> der Regierung immer Menschen guten Willens gebe,<br />
aber dass es aber häufig an e<strong>in</strong>em wirklichen Engagement der<br />
Regierung selber gefehlt habe.<br />
Die <strong>roma</strong>ni Teilnehmer waren über Tempo und Ergebnis der<br />
Regierungspolitik besorgt. Sie waren der Me<strong>in</strong>ung, dass trotz<br />
steigender f<strong>in</strong>anzieller EU-Förderung an die Regierungen die <strong>in</strong><br />
ihren Ländern erreichten Fortschritte unbefriedigend seien.<br />
19 L. Plaks, „Roma Political Participation: A Story of Success or Failure?“ E<strong>in</strong>e für die<br />
Konferenz „Roma <strong>in</strong> an Enlarged European Union“ ausgearbeitete Erklärung, Brüssel,<br />
22./23. April 2004. Die <strong>in</strong> Brüssel versammelten Roma-Vertreter auf der von PER und<br />
Kommission veranstalteten Sitzung sprachen sich deutlich für weitere Anstrengungen<br />
aus, um die Zahl der <strong>roma</strong>ni Politiker <strong>in</strong> ihren Ländern <strong>in</strong> Zukunft zu erhöhen.<br />
140
ROMA IN EUROPA<br />
Besonders besorgt äußerten sie sich über das langsame Tempo bei<br />
der Implementierung von Programmen. In e<strong>in</strong>igen Ländern, wie der<br />
Slowakei und Bulgarien, seien Anstrengungen nur sehr zögerlich<br />
oder <strong>in</strong> so unzureichendem Umfang gemacht worden, dass sich die<br />
Erwartungen der Menschen auf Verbesserungen nicht erfüllt hätten.<br />
E<strong>in</strong>ige Teilnehmer äußerten sich kritisch zu der Tatsache, dass<br />
Regierungen dazu neigten, sich bei der Durchführung der<br />
Programme für die Roma sehr stark auf Hilfe von außen, vor allem<br />
der EU, zu verlassen. Sie waren gleichermaßen besorgt über die<br />
Art und Weise, wie ihre Regierungen die ursprünglich zur<br />
Förderung der Roma-M<strong>in</strong>derheiten bestimmten Geldmittel<br />
verwendet hatten. Die Abrechnungsunterlagen hätten den<br />
Vertretern der Roma ke<strong>in</strong> klares Bild darüber vermittelt, ob die Mittel<br />
dem Zweck entsprechend e<strong>in</strong>gesetzt worden seien oder ihre Ziele<br />
erreichten, und zwar sowohl was die zu unterstützenden<br />
Zielgruppen wie die Ziele der Projekte oder Programme betreffe.<br />
Die Teilnehmer forderten deshalb mehr Transparenz und<br />
Informationsaustausch mit der Regierung ebenso wie e<strong>in</strong>e<br />
Überprüfung (Monitor<strong>in</strong>g) nicht nur der Ausgaben, sondern auch der<br />
Ergebnisse.<br />
Kritik wurde auch an den zivilgesellschaftlichen<br />
Entwicklungsstiftungen und den EU-Länderdelegationen laut, denen<br />
mangelnde Transparenz bei ihren Auswahlverfahren für Projekte<br />
und bei der Vergabe von Fördermitteln vorgeworfen wurde. Die<br />
Vertreter der Roma schlugen deshalb genauere Richtl<strong>in</strong>ien der<br />
Kommission vor, die der Tatsache Rechnung tragen sollten, dass<br />
Projekte unter aktiver Beteiligung der Roma umgesetzt werden<br />
sollten, weil <strong>in</strong> vielen Fällen die <strong>roma</strong>ni Organisationen den<br />
Kürzeren zögen, wenn sie mit Nicht-Roma-Organisationen und<br />
deren hoch qualifizierten, professionellen Mitarbeitern konkurrieren<br />
müssten.<br />
Sie forderten e<strong>in</strong>e Fortsetzung der Förderpolitik der EU und des<br />
Drucks auf Regierungen. Wie e<strong>in</strong>er der versammelten Roma dazu<br />
bemerkte, bedarf es erheblicher Mehranstrengungen vonseiten aller<br />
betroffenen Akteure, um <strong>in</strong> den nächsten Jahren e<strong>in</strong>e wirkliche<br />
Verbesserung für die Roma zu erreichen. Man erwartete e<strong>in</strong>e<br />
Konsolidierung der Partnerschaften mit <strong>roma</strong>ni Organisationen, vor<br />
allem im politischen Raum. Es wurde vorgeschlagen, das<br />
Monitor<strong>in</strong>g stärker ergebnisorientiert durchzuführen. Vor allem aber<br />
sprach man sich für e<strong>in</strong>e stärkere Rolle gewählter und ernannter<br />
Roma-Vertreter <strong>in</strong> ihren Ländern aus. Nach Me<strong>in</strong>ung der<br />
Anwesenden waren die Förderpolitik der EU und ihr Druck auf die<br />
141
Andrzej Mirga<br />
Regierungen sowie Anstrengungen h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />
zivilgesellschaftlichen Entwicklung der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />
durchaus richtig und begrüßenswert, aber nicht ausreichend:<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten müssten Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream<br />
werden und ihre Themen als grundsätzlich politische Themen<br />
formulieren. Nur dann wären die Roma weniger abhängig von den<br />
Absichten Anderer und könnten aktiv am politischen Leben ihrer<br />
Länder teilhaben.<br />
Vertretung der Roma <strong>in</strong> gewählten Gremien<br />
Es war e<strong>in</strong> deutlicher Unterschied festzustellen zwischen den<br />
Ansätzen und Bewertungen der Roma-Vertreter, die schon e<strong>in</strong>e<br />
gewisse Rolle im politischen Ma<strong>in</strong>stream spielten und jenen, für die<br />
das nicht galt. Dieser Unterschied zeigte sich klar <strong>in</strong> den<br />
Gegensätzen zwischen den Roma-Delegationen aus Ungarn und<br />
Rumänien e<strong>in</strong>erseits und denen aus Bulgarien und anderen<br />
Ländern andererseits. In der ersten Gruppe waren die Roma-<br />
Vertreter Teil des politischen Establishment und ihren politischen<br />
Partnern verbunden oder sie waren an Regierungskoalitionen<br />
beteiligt. In der zweiten Gruppe waren die Roma Angestellte aus<br />
der öffentlichen oder staatlichen Verwaltung ohne Verb<strong>in</strong>dung zu<br />
Parteien des Ma<strong>in</strong>stream oder Unterstützung durch stärkere<br />
politische Organisationen der Roma. Folglich neigte die erste<br />
Gruppe eher zu e<strong>in</strong>er positiven E<strong>in</strong>schätzung ihrer eigenen<br />
Leistungen bei der Gestaltung und Umsetzung von Politik.<br />
Gleichzeitig waren sie stärker zukunftsorientiert <strong>in</strong> dem, was sie zu<br />
erreichen hofften, und mit welchen Mitteln, sowie <strong>in</strong> ihren<br />
Erwartungen gegenüber Brüssel nach dem Beitritt. Aus der zweiten<br />
Gruppe, vor allem den Delegationen, die die Slowakei und die<br />
Tschechische Republik vertraten, kamen kritischere Stimmen. In<br />
diesen Fällen hatten die Roma ke<strong>in</strong>e vergleichbare Rolle im<br />
politischen Ma<strong>in</strong>stream erreicht und konnten nur von wenigen<br />
Erfolgen berichten.<br />
Die Parlamentsmitglieder unter den Roma betrachteten Roma-<br />
Themen als im Grunde politische Themen. Wie der <strong>roma</strong>ni<br />
Abgeordnete aus Rumänien unterstrich, könnten sich die Roma<br />
nicht e<strong>in</strong>fach auf die Rolle untätiger Beobachter zurückziehen,<br />
sondern müssten sich an der Gestaltung der Lösungen ihrer<br />
Probleme beteiligen und auch e<strong>in</strong>e gewisse Verantwortung dafür<br />
tragen. Für e<strong>in</strong>e solche aktivere Rolle sei es jedoch notwendig,<br />
dass die Roma echte Partnerschaften im Rahmen des politischen<br />
Ma<strong>in</strong>stream e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen.<br />
142
ROMA IN EUROPA<br />
Organisationen der Roma haben auf unterschiedliche Art und<br />
Weise versucht, im Parlament Fuß zu fassen und sich daran<br />
orientiert, was machbar war und den Traditionen des betreffenden<br />
Landes entsprach. In Rumänien war es den NROs der M<strong>in</strong>derheiten<br />
gestattet, sich an den Parlaments- und Kommunalwahlen zu<br />
beteiligen und so entstand die Roma-Partei (heute:<br />
Sozialdemokratische Roma-Partei) als die zentrale politische Kraft<br />
zur Vertretung der Interessen der Roma. Seit Anfang der 1990er<br />
Jahre hat sie an Wahlen auf allen Ebenen teilgenommen und jedes<br />
Mal den für die Roma reservierten Sitz im Parlament gewonnen. In<br />
anderen Ländern, <strong>in</strong> denen die NROs sich nicht an Wahlen<br />
beteiligen durften, haben die Roma andere Strategien angewendet:<br />
Entweder gründeten sie ihre eigenen – ethnischen – Parteien, wie<br />
z.B. <strong>in</strong> der Slowakei und e<strong>in</strong> Stück weit auch <strong>in</strong> Bulgarien, oder sie<br />
g<strong>in</strong>gen politische Absprachen mit Parteien des Ma<strong>in</strong>stream e<strong>in</strong>, wie<br />
z.B. <strong>in</strong> Ungarn.<br />
Diese Anstrengungen haben sich <strong>in</strong> jüngster Zeit <strong>in</strong> Ungarn,<br />
Rumänien und Bulgarien, aber nicht <strong>in</strong> der Slowakei oder der<br />
Tschechischen Republik ausgezahlt. Dabei spielten demografische<br />
Faktoren häufig die entscheidende Rolle - z. B. die Größe der<br />
Roma-Bevölkerung e<strong>in</strong>iger Länder als Wählerpotenzial für die<br />
Parteien des Ma<strong>in</strong>stream - außer <strong>in</strong> der Slowakei, obwohl dort die<br />
Roma-Bevölkerung den größten Prozentsatz an der<br />
Gesamtbevölkerung hält, verglichen mit dem Rest der Region.<br />
Strategisch g<strong>in</strong>gen die Roma-Organisationen so vor, dass sie sich<br />
starke politische Bündnispartner, hauptsächlich <strong>in</strong> der stärksten<br />
Partei, suchten. Im Gegenzug für potenzielle Wählerstimmen der<br />
Roma wird die Zusammenarbeit durch politische Absprachen oder<br />
Protokolle vor den Wahlen formalisiert. In Rumänien hat es solche<br />
Abkommen zwischen der Roma-Partei und der Partei der<br />
Sozialdemokratie (PSD) gegeben.<br />
In Ungarn haben die Roma-Organisationen Abkommen mit zwei<br />
großen Parteien geschlossen - je nach erklärter Anb<strong>in</strong>dung oder<br />
politischer Ausrichtung entweder mit den Sozialisten oder der<br />
Fidesz, e<strong>in</strong>er Partei rechts der Mitte. In Bulgarien haben sich Roma-<br />
Organisationen ebenfalls mit Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />
zusammengeschlossen.<br />
Entsprechend haben die Roma <strong>in</strong> den letzten Wahlen die folgenden<br />
Sitze <strong>in</strong> den Parlamenten gewonnen: In Ungarn errangen sie drei<br />
Sitze über die Liste der Fidesz und e<strong>in</strong>en von den Sozialisten; <strong>in</strong><br />
143
Andrzej Mirga<br />
Rumänien g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> für Roma reservierter Parlamentssitz an die<br />
Roma-Partei und e<strong>in</strong> zweiter an die PSD, nachdem der frühere<br />
Präsident der Roma-Partei übergetreten war; <strong>in</strong> Bulgarien<br />
gewannen sie zwei Sitze, e<strong>in</strong>en über die Nationale Bewegung<br />
Simeon II (der Regierungspartei) und den anderen über die<br />
Koalition für Bulgarien, e<strong>in</strong>er Partei l<strong>in</strong>ks der Mitte (jetzt <strong>in</strong> der<br />
Opposition). Parlamentsabgeordnete der Roma <strong>in</strong> Bulgarien<br />
berichteten auch von Stimmenzuwachs bei den letzten<br />
Kommunalwahlen. 20<br />
Mit Blick auf die Zukunft erklärten alle Abgeordneten der Roma,<br />
dass sie sich darum bemühen würden, mehr Roma <strong>in</strong> die<br />
nationalen Parlamente zu br<strong>in</strong>gen. Für sie erschien die Lösung<br />
e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen, für die Roma reservierten M<strong>in</strong>derheitensitzes im<br />
Parlament - wie <strong>in</strong> Rumänien - unbefriedigend, da sich dadurch die<br />
parlamentarische Vertretung e<strong>in</strong>er Gruppe, die manchmal die<br />
größte M<strong>in</strong>derheit des Landes stelle, möglicherweise beschränke.<br />
Sie sprachen sich für e<strong>in</strong>e Änderung der Wahlgesetze aus, um die<br />
für politische Parteien normalerweise geltende Fünf-Prozent-Hürde<br />
für Wahllisten der Roma-M<strong>in</strong>derheiten und deren Organisationen<br />
außer Kraft zu setzen. Damit würde die eigentlich paradoxe<br />
Situation korrigiert, dass e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner <strong>roma</strong>ni Abgeordneter mit<br />
Anspruch auf e<strong>in</strong>en Quotenplatz <strong>in</strong> den Wahlen die höchste<br />
Stimmenzahl von allen im Parlament err<strong>in</strong>gt – wie <strong>in</strong> Rumänien. Mit<br />
e<strong>in</strong>er solchen Änderung könnten vielleicht auch die Roma <strong>in</strong><br />
Ländern wie der Slowakei die ihnen bisher fehlende Vertretung im<br />
Parlament erreichen. In Ungarn werde aktuell e<strong>in</strong>e Änderung des<br />
Wahlgesetzes diskutiert, um der Verfassung Genüge zu tun, die<br />
e<strong>in</strong>e parlamentarische Vertretung von M<strong>in</strong>derheiten vorschreibe. Da<br />
die politischen Lager der L<strong>in</strong>ken und Rechten <strong>in</strong> Ungarn<br />
zahlenmäßig gleich groß seien, könnten die Stimmen der Roma<br />
ausschlaggebend für die Machtverhältnisse nach den nächsten<br />
Wahlen se<strong>in</strong> und somit hofften die ungarischen Roma auf e<strong>in</strong>e<br />
zunehmend wichtigere Rolle <strong>in</strong> der Politik des Landes.<br />
20 In Bulgarien wurden beispielsweise <strong>in</strong> den Kommunalwahlen 2003 <strong>in</strong>sgesamt 164<br />
Vertreter der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>deräte gewählt gegenüber 101 im Jahr<br />
1997. In den Kommunalwahlen 2004 <strong>in</strong> Rumänien konnten die Roma ihre Stimmen<br />
mehr als verdoppeln und erreichten 372 Sitze gegenüber 151 im Jahr 2000 und 139<br />
<strong>in</strong> 1996. Bei den Kommunalwahlen 1998 <strong>in</strong> der Slowakei stellten die Roma 6<br />
Bürgermeister und 86 Geme<strong>in</strong>deräte; 2002 wurden 158 Geme<strong>in</strong>deräte der Roma und<br />
10 Bürgermeister gewählt.<br />
144
Institutionalisierung der Roma-Politik<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Schon seit Langem betrachtet man die Institutionalisierung der<br />
Roma-Politik als Voraussetzung für e<strong>in</strong>e effektive Behandlung und<br />
Lösung der Probleme der Roma. In Ungarn wurden als Folge der<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetzgebung von 1993 e<strong>in</strong>e Reihe von Institutionen<br />
unter Beteiligung der Roma gegründet. Die <strong>in</strong>stitutionelle Basis<br />
wurde später erweitert, nachdem Regierungsstrategien entwickelt<br />
worden waren: In Ungarn und Rumänien gab es sehr viele und sehr<br />
komplexe Strukturen (<strong>in</strong>term<strong>in</strong>isterielle Kommissionen,<br />
Fachgremien, Berater, Stiftungen etc.), während das <strong>in</strong> den<br />
anderen auf der Konferenz vertretenen Ländern nicht im selben<br />
Umfang der Fall war. Forderungen nach dem Aufbau von<br />
ausschließlich mit Roma-Fragen befassten Regierungsstellen<br />
waren im Falle Rumäniens und Ungarns auch Teil der Absprachen<br />
vor den Wahlen mit den Parteien des Ma<strong>in</strong>stream. In diesen<br />
Ländern wurden dann auch irgendwann Büros für Roma-<br />
Angelegenheiten auf Regierungsebene unter der Leitung von<br />
<strong>roma</strong>ni Beamten e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
Die <strong>in</strong> Brüssel versammelten Abgeordneten der Roma,<br />
<strong>in</strong>sbesondere aus Rumänien und Ungarn, berichteten, dass sie e<strong>in</strong>e<br />
zentrale Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung der Roma-Politik<br />
<strong>in</strong> ihren Ländern spielten. Der anwesende Roma-Abgeordnete aus<br />
Rumänien stellte fest, dass die Roma-Partei 1997 die<br />
Verhandlungen mit der PSD aufgenommen und 1999 e<strong>in</strong><br />
Abkommen abgeschlossen habe. Im unterzeichneten<br />
Verhandlungsprotokoll (Protocol of Understand<strong>in</strong>g) habe man die<br />
Ziele und Prioritäten der Roma festgehalten, die die PSD nach den<br />
Wahlen unterstützen und umsetzen wollte: u. a. den Aufbau e<strong>in</strong>es<br />
<strong>in</strong>stitutionellen Mechanismus zur Umsetzung der Roma-Politik;<br />
gesicherte Beteiligung der Roma an der öffentlichen Verwaltung auf<br />
verschiedenen Ebenen sowie den Entwurf e<strong>in</strong>es nationalen<br />
Programms zur Behandlung von Roma-Fragen und die Förderung<br />
und Unterstützung gesetzlicher Regelungen, die den Roma dabei<br />
helfen sollten, ihre gegenwärtige benachteiligte Position <strong>in</strong> der<br />
Gesellschaft zu überw<strong>in</strong>den.<br />
Zwei gegenwärtig im rumänischen Parlament vertretene<br />
Abgeordnete der Roma arbeiten aktiv an e<strong>in</strong>er Gesetzgebung mit,<br />
die die Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong>sgesamt verbessern soll<br />
(Unterlagen mit Informationen zu den Gesetzes<strong>in</strong>itiativen der<br />
<strong>roma</strong>ni Abgeordneten im rumänischen Parlament wurden der<br />
Kommission und dem Europäischen Parlament zur Verfügung<br />
gestellt). E<strong>in</strong>e Neuauflage des Protokolls sei 2002 unterzeichnet<br />
145
Andrzej Mirga<br />
worden und habe e<strong>in</strong>e neue Institution für die Roma-M<strong>in</strong>derheit<br />
geschaffen - e<strong>in</strong> nationales Büro für die Roma unter Leitung e<strong>in</strong>es<br />
Rom sowie Bezirksbüros auf Ebene der Präfekturen. Schließlich sei<br />
2003 e<strong>in</strong> drittes Protokoll unterzeichnet worden, das e<strong>in</strong>e weitere<br />
Stärkung des <strong>in</strong>stitutionellen Rahmens für die Umsetzung der Politik<br />
vorgesehen habe, nämlich den Aufbau e<strong>in</strong>er nationalen Behörde<br />
zur Implementierung der Roma-Politik.<br />
Im Falle Ungarns s<strong>in</strong>d nach Aussage des <strong>roma</strong>ni Abgeordneten und<br />
Staatssekretärs, der die Roma-Regierungsstelle leitet, die 2002 von<br />
der Regierung e<strong>in</strong>geleiteten Änderungen von zentraler Bedeutung<br />
für die Bemühungen um e<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage der Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheit gewesen. E<strong>in</strong> mittelfristiger Aktionsplan sei <strong>in</strong> Kraft und<br />
detaillierte Maßnahmen bis 2006 festgeschrieben. Es gebe<br />
Fortschritte bei der Institutionalisierung der Roma-Politik, die er als<br />
e<strong>in</strong>en Meilenste<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Integrationspolitik bezeichnete: E<strong>in</strong><br />
staatliches Sekretariat für Roma-Angelegenheiten sei e<strong>in</strong>gerichtet<br />
worden; zahlreiche Roma-Vertreter seien <strong>in</strong> die staatliche<br />
M<strong>in</strong>isterialverwaltung berufen worden und weitere Roma arbeiteten<br />
auf der Ebene der Geme<strong>in</strong>deverwaltungen. Das Bildungs- und<br />
Wohnungswesen und Beschäftigung hätten obersten Stellenwert<br />
und erhielten getrennt ausgewiesene Haushaltsmittel. Er unterstrich<br />
gleichzeitig, dass das neue Gesetz gegen Hassreden und für<br />
Chancengleichheit, für das sich <strong>roma</strong>ni Abgeordnete e<strong>in</strong>gesetzt<br />
hätten, demnächst im Parlament zur Abstimmung anstehe und für<br />
die Roma außerordentlich wichtig sei.<br />
In Ungarn bestehen zwei verschiedene Strukturen zur<br />
Interessenvertretung der Roma: zum e<strong>in</strong>en die<br />
Parlamentsabgeordneten der Roma und <strong>in</strong> die Regierung berufene<br />
Roma-Vertreter und zum anderen das schon bestehende<br />
Selbstverwaltungssystem der Roma-M<strong>in</strong>derheit. Auf lokaler und<br />
kommunaler Ebene arbeiten annähernd e<strong>in</strong>tausend Roma-Vertreter<br />
für die M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung, wovon 800 <strong>in</strong> der eigentlichen<br />
Selbstverwaltung tätig s<strong>in</strong>d. An deren Spitze steht das nationale<br />
Selbstverwaltungsorgan der Roma. Dessen Direktor, selber<br />
Teilnehmer des Brüsseler Runden Tisches, bestätigte, dass man<br />
zwar erhebliche Fortschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bereichen zu verzeichnen<br />
habe, dass es aber weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige ungelöste Probleme im<br />
Bildungs- und Wohnungswesen und bei der Beschäftigung gebe.<br />
Es habe aber auch vielversprechende Anstrengungen gegeben,<br />
z. B. e<strong>in</strong> Stipendiatenprogramm für Roma-Studierende, für das drei<br />
Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung stünden; e<strong>in</strong><br />
„Slumsanierungsprogramm“, das nach den Planungen 460 Slums<br />
beseitigen solle; es sei außerdem vorgesehen, aus dem Nationalen<br />
146
ROMA IN EUROPA<br />
Entwicklungsprogramm erhebliche Mittel für Roma-Projekte<br />
aufzuwenden. Die Selbstverwaltungse<strong>in</strong>richtungen der Roma und<br />
das staatliche Sekretariat würden geme<strong>in</strong>sam über die Verwendung<br />
der Mittel entscheiden.<br />
Der bulgarische <strong>roma</strong>ni Abgeordnete betonte, dass die Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung<br />
unterrepräsentiert sei. Er vertrat den Standpunkt, dass sich nur<br />
wenig verbessern oder erreichen ließe ohne e<strong>in</strong>e stärkere Präsenz.<br />
Abgesehen von den zwei augenblicklich im bulgarischen Parlament<br />
vertretenen Abgeordneten gebe es bisher nur e<strong>in</strong>en weiteren<br />
<strong>roma</strong>ni Angestellten der Regierungsverwaltung - wenn auch<br />
versprochen worden sei, im kommenden Jahr weitere Roma <strong>in</strong><br />
verschiedenen M<strong>in</strong>isterien e<strong>in</strong>zustellen. Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />
müssten die Roma <strong>in</strong> Bulgarien e<strong>in</strong>e wirkungsvollere Vertretung<br />
anstreben und partnerschaftliche Beziehungen auf politischer<br />
Ebene zur Regierung und ihren Institutionen pflegen. Er gab zwar<br />
ohne Weiteres zu, dass die Roma noch nicht ausreichend politisch<br />
aktiv seien, stellte aber gleichzeitig fest, dass man ihnen auch die<br />
Möglichkeit dazu e<strong>in</strong>räumen müsse, da es unter der Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong>e gebildete Elite gebe, die am öffentlichen Leben<br />
teilnehmen könne. Er sprach sich dafür aus, die Roma als<br />
konstruktiven Faktor und nicht als H<strong>in</strong>dernis auf dem Weg zur<br />
Integration Bulgariens <strong>in</strong> die EU zu sehen. In se<strong>in</strong>er<br />
Parlamentsarbeit konzentriere er sich auf soziale Themen, wie die<br />
Erhöhung der Sozialleistungen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />
unter den Roma und vor allem bessere<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Regionen mit e<strong>in</strong>er hohen<br />
Konzentration der Roma.<br />
Als Erfolg bezeichnete er den Beschluss über e<strong>in</strong>en Aktionsplan zur<br />
Umsetzung der Roma-Strategie der Regierung und die<br />
Verabschiedung von Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen im Parlament.<br />
Bezüglich des ersten Punktes verwies er jedoch darauf, dass die<br />
Haushaltsmittel zur Umsetzung des Aktionsplans nicht ausreichten.<br />
Außerdem verlangte er mehr Transparenz von der Regierung, was<br />
die Verwendung der Mittel anbetreffe. 21 Zu den Anti-<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen führte er aus, dass sie se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />
nach wichtig für die Roma seien, aber behauptete, dass die Roma<br />
21 E<strong>in</strong>e ähnliche Me<strong>in</strong>ung wurde vom „Balkan Menschenrechtsprojekt“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Presseveröffentlichung am 16. Oktober 2003 vertreten unter dem Titel „Bulgaria: the<br />
Government worked out its Action Plan for the Roma m<strong>in</strong>ority but it raises a number of<br />
questions.“<br />
147
Andrzej Mirga<br />
darüber nicht ausreichend <strong>in</strong>formiert seien. Grundsätzlich sah er die<br />
Notwendigkeit, von Diskussionen und Plänen wegzukommen und<br />
wirklich zur Tat zu schreiten, damit sich vor Ort endlich etwas<br />
bewege. E<strong>in</strong>e bessere Kommunikation zwischen den Roma und der<br />
Regierung würde dabei hilfreich se<strong>in</strong>. Der zweite anwesende<br />
Delegierte aus Bulgarien setzte h<strong>in</strong>zu, dass man sich um die<br />
Ausarbeitung lokaler Aktionspläne bemüht habe als e<strong>in</strong>em Weg,<br />
den nationalen Aktionsplan wirkungsvoll umzusetzen.<br />
Die Sicht der <strong>roma</strong>ni Regierungsbeamten<br />
In der Slowakei und der Tschechischen Republik ist die Roma-<br />
Bevölkerung gegenwärtig nicht im Parlament vertreten. Die<br />
schwachen Institutionen, die die Aufgabe haben, sich um Roma-<br />
Themen zu kümmern, wie auch die wenigen, <strong>in</strong> der öffentlichen<br />
Verwaltung beschäftigten Roma stehen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis zu der<br />
Größenordnung der Probleme, mit dem diese M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> beiden<br />
Ländern konfrontiert wird. Die Roma s<strong>in</strong>d weder politisch so gut<br />
organisiert noch als Interessenvertretung wirkungsvoll genug, um<br />
von den Parteien des Ma<strong>in</strong>stream ernst genommen zu werden.<br />
Das Büro des Bevollmächtigten für Roma-Angelegenheiten ist die<br />
e<strong>in</strong>zige E<strong>in</strong>richtung für die Roma, die auf Regierungsebene <strong>in</strong> der<br />
Slowakei geschaffen wurde. Es wurde beauftragt, e<strong>in</strong>e<br />
Regierungsstrategie auszuarbeiten, deren Umsetzung zu<br />
koord<strong>in</strong>ieren und mit Organisationen der Roma<br />
zusammenzuarbeiten. Der Bevollmächtigte für Roma-<br />
Angelegenheiten bestätigte, dass e<strong>in</strong>ige dieser Aufgaben<br />
<strong>in</strong>zwischen abgeschlossen seien. So sei beispielsweise e<strong>in</strong>e von<br />
se<strong>in</strong>em Büro ausgearbeitete langfristige Strategie im April 2003 von<br />
der Regierung beschlossen worden. Das Büro unterstütze<br />
gleichzeitig Roma-Organisationen und <strong>in</strong>sbesondere Bürgermeister<br />
aus der Roma-Bevölkerung. Man bemühe sich z. Z. auch um e<strong>in</strong>e<br />
Verstärkung des Büros durch Eröffnung von fünf Regionalbüros <strong>in</strong><br />
der Slowakei.<br />
Nach Ansicht des Bevollmächtigen ist e<strong>in</strong>e erfolgreiche Umsetzung<br />
der Regierungspolitik vom politischen Willen und von ausreichender<br />
F<strong>in</strong>anzierung abhängig – beides sei z. Z. e<strong>in</strong> Problem. Es wurde<br />
auch darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass es zwar viele Parteien der Roma<br />
(18) gebe, aber diese weder die Regierung richtig unter Druck<br />
setzten noch das Büro des Bevollmächtigten unterstützten. Der<br />
Bevollmächtigte, der aus den Reihen der NROs stammt und<br />
ke<strong>in</strong>erlei politische B<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e der Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />
148
ROMA IN EUROPA<br />
hat, könne sich nicht auf die Unterstützung der Roma-Parteien<br />
verlassen. Unterstützung von außen und Druck von E<strong>in</strong>richtungen<br />
der EU hätten sich jedoch als hilfreich für die Arbeit erwiesen.<br />
Kritisch äußerte sich auch e<strong>in</strong> anderer Roma-Teilnehmer aus der<br />
Slowakei, der im Bildungsm<strong>in</strong>isterium arbeitet. Es seien wenige<br />
Fortschritte bei der Schulerziehung von Roma-K<strong>in</strong>dern zu<br />
verzeichnen. 2001 habe das slowakische Bildungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong><br />
Förderprogramm für die Bildung von Roma-K<strong>in</strong>dern als Teil se<strong>in</strong>es<br />
langfristigen nationalen Programms beschlossen. Die Regierung<br />
habe e<strong>in</strong>ige bestehende Gesetze geändert und verschiedene<br />
Verordnungen und Entschließungen verabschiedet, damit e<strong>in</strong>e<br />
„Null-Ebene“ -e<strong>in</strong>e Art Vorschulprogramm <strong>in</strong> den Grundschulen -<br />
sowie die Funktion e<strong>in</strong>es Lehrassistenten e<strong>in</strong>geführt werden<br />
konnten. Es sei das Ziel beider Initiativen gewesen, „e<strong>in</strong> positives<br />
Lernumfeld für K<strong>in</strong>der und Jugendliche aus benachteiligten sozialen<br />
und kulturellen Schichten zu schaffen“ – hauptsächlich K<strong>in</strong>der der<br />
Roma. 22 Das Bildungsm<strong>in</strong>isterium habe auch Unterricht <strong>in</strong> der<br />
<strong>roma</strong>ni Sprache und Literatur <strong>in</strong> den Lehrplan für die erste bis<br />
neunte Klasse der Hauptschule aufgenommen. Dies sei seit<br />
September 2003 <strong>in</strong> Kraft. Verschiedene Projekte zur<br />
Schulerziehung der Roma-K<strong>in</strong>der seien verwirklicht oder auf den<br />
Weg gebracht worden, die entweder im Rahmen von PHARE<br />
f<strong>in</strong>anziert oder von anderen ausländischen Gebern gefördert<br />
worden seien.<br />
Es gebe aber weiterh<strong>in</strong> Probleme: u. a. die faktische Segregation<br />
der Roma und ihrer Schulen <strong>in</strong> Gegenden mit starker Konzentration<br />
der Roma-Bevölkerung; qualitativ schlechte Infrastruktur mit nicht<br />
ausreichendem Platz und Kapazitäten <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>dergärten und<br />
Grundschulen; das ungelöste Thema der E<strong>in</strong>weisung von Roma-<br />
K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> Sonderschulen für geistig Beh<strong>in</strong>derte; die E<strong>in</strong>stellung der<br />
<strong>roma</strong>ni Eltern zum Sonderunterricht; fehlendes Interesse der Lehrer<br />
an der Arbeit <strong>in</strong> getrennten Schulen der Roma sowie die Tendenz,<br />
K<strong>in</strong>der der Nicht-Roma Bevölkerung aus den K<strong>in</strong>dergärten und<br />
Grundschulen zu nehmen, sobald dort e<strong>in</strong>e wachsende Zahl von<br />
Roma-Schülern unterrichtet würden. Nach Me<strong>in</strong>ung des Vertreters<br />
des slowakischen Bildungsm<strong>in</strong>isteriums klaffen Politik und<br />
Umsetzung, verbale Unterstützung und Praxis ause<strong>in</strong>ander. Um<br />
diesbezügliche Probleme der Roma-M<strong>in</strong>derheit zu lösen, müsse die<br />
Regierung se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die Pr<strong>in</strong>zipien positiver<br />
22 Jan Hero, „Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g and Education of Roma Children and Students <strong>in</strong> Slovakia“,<br />
e<strong>in</strong>e schriftliche Erklärung, ausgearbeitet für das Brüsseler Treffen.<br />
149
Andrzej Mirga<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung, sozialer E<strong>in</strong>gliederung und multikultureller<br />
Erziehung verfolgen.<br />
Für die Teilnehmer aus der Tschechischen Republik waren<br />
Regional- und Selbstverwaltungspolitik zugunsten der Roma,<br />
Beschäftigung und Wohnungswesen Themen von herausragender<br />
Bedeutung. Nach der Dezentralisierungsreform und der E<strong>in</strong>richtung<br />
von vierzehn Regionen liege die Umsetzung der<br />
Regierungsstrategie für die Roma <strong>in</strong> den Händen regionaler<br />
Behörden. E<strong>in</strong> Koord<strong>in</strong>ator für Roma-Angelegenheiten sei <strong>in</strong> jeder<br />
dieser Regionen als e<strong>in</strong>e Art Verb<strong>in</strong>dungsbeamter zwischen den<br />
Behörden und den Roma-Organisationen e<strong>in</strong>gesetzt worden. Der<br />
Koord<strong>in</strong>ator für Roma-Angelegenheiten Zentralböhmens – der<br />
größten Region – arbeite mit zwanzig NROs und drei Bürgerzentren<br />
der Roma zusammen. In se<strong>in</strong>er Region gebe es nur zwei Stadträte<br />
der Roma.<br />
Regionalbehörden seien für die Umsetzung der Roma-Strategie der<br />
Regierung zuständig, die <strong>in</strong> der Unterstützung bedürftiger oder von<br />
sozialer Ausgrenzung bedrohter Bürger bestehe. Dies sei e<strong>in</strong>e<br />
projektorientierte Politik, d. h., die Behörden stellten Zuschüsse für<br />
Projekte der NROs zur Verfügung. Die Regierung plane, 40 Mio.<br />
tschechische Kronen (annähernd 1.522.000 $) 2004 für die<br />
Umsetzung der Roma-Strategie <strong>in</strong> den Haushalt e<strong>in</strong>zustellen. Der<br />
Roma-Koord<strong>in</strong>ator Zentralböhmens äußerte jedoch Zweifel, ob<br />
diese Gelder dazu beitragen würden, die Ziele der Strategie zu<br />
erreichen. Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach wird die Umsetzung der<br />
Regierungsstrategie nicht wirklich überprüft, weil es den regionalen<br />
und kommunalen Behörden an politischem Willen fehle. Er vertrat<br />
den Standpunkt, dass diese zuschussorientierte Politik nicht zu<br />
positiven Ergebnissen führe und dass die Lage tatsächlich<br />
schlimmer werde.<br />
In der Tschechischen Republik sei die Lage auf dem<br />
Wohnungsmarkt kritisch. Privatisierung und der Verkauf von<br />
Wohnungen habe dazu geführt, dass Privateigentümer versuchten,<br />
<strong>roma</strong>ni Anwohner oder Mieter loszuwerden, die häufig ihre Miete<br />
und Nebenkosten nicht zahlen könnten. Infolgedessen würden<br />
<strong>roma</strong>ni Mieter vor die Tür gesetzt und zum Umzug <strong>in</strong> Slums oder<br />
zur Auswanderung <strong>in</strong>s Ausland gezwungen.<br />
Die zweite Teilnehmer<strong>in</strong> von den tschechischen Roma, die im Büro<br />
des Ombudsmans für Menschenrechte arbeitet, führte im E<strong>in</strong>zelnen<br />
dazu aus, dass nach ihrer Erfahrung – sie arbeite seit 2001 im Büro<br />
des Ombudsmans – besonders die <strong>in</strong> Sozialwohnungen lebenden<br />
150
ROMA IN EUROPA<br />
Roma von Zwangsräumungen betroffen seien. Nach ihrer Aussage<br />
hat die jüngste Dezentralisierungsreform der Verwaltung den<br />
kommunalen Behörden unbegrenzte Entscheidungsbefugnisse <strong>in</strong><br />
der Wohnungspolitik gegeben, wobei e<strong>in</strong>e Klage auf Rücknahme<br />
oder Sanktionierung ihrer Entscheidungen wenig Aussicht auf<br />
Erfolg habe. Infolgedessen griffen die Behörden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Geme<strong>in</strong>den hart und kompromisslos durch, siedelten <strong>roma</strong>ni Mieter<br />
um oder wiesen sie aus Sozialbauwohnungen oder –häusern aus.<br />
Beide Teilnehmer bestätigten, dass das Ausmaß politischer<br />
Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Tschechischen Republik<br />
unzureichend sei und dass man nur wenige Institutionen geschaffen<br />
habe, die dies fördern sollten – wie z. B. die <strong>in</strong>term<strong>in</strong>isterielle<br />
Kommission für Roma-Angelegenheiten und das Amt e<strong>in</strong>es<br />
regionalen Roma-Koord<strong>in</strong>ators; ansonsten kümmerten sich NROs<br />
um die Interessenvertretung für die Roma.<br />
Identifikation mit den Anliegen der Roma und Verantwortung:<br />
zivilgesellschaftliche und politische Organisationen<br />
Für gewählte Vertreter der Roma sei es etwas Neues und sicherlich<br />
auch e<strong>in</strong> Zeichen ihrer wachsenden politischen Reife, dass man als<br />
Politiker handele und nicht nur den eigenen <strong>roma</strong>ni Wählern,<br />
sondern auch den politischen Partnern <strong>in</strong> den Parteien des<br />
Ma<strong>in</strong>stream gegenüber rechenschaftspflichtig sei, bemerkte e<strong>in</strong>er<br />
der Teilnehmer. Gerade die Roma-Abgeordneten neigten zu der<br />
Vorstellung, dass sie als demokratisch gewählte Vertreter e<strong>in</strong>e<br />
andere Art von Verantwortung als die Führungen der NROs und<br />
Aktivisten der Roma tragen würden.<br />
Die Tatsache, dass es für den politischen und zivilgesellschaftlichen<br />
Sektor unterschiedliche Rollen und Kapazitäten bei der Lösung der<br />
Roma-Probleme gebe, wurde von allen Teilnehmern deutlich<br />
ausgesprochen. Nach Ansicht der meisten versammelten Roma<br />
gibt es zwar e<strong>in</strong>e Vielzahl an <strong>roma</strong>ni NROs mit Programmen und<br />
Projekten, die auf Bedürfnisse der Roma-Bevölkerung reagieren,<br />
aber zur Lösung ihrer Probleme brauche man mehr als das,<br />
nämlich e<strong>in</strong>e Politik auf nationaler Ebene. Zu diesem Zweck<br />
müssten die Roma <strong>in</strong> gewählten Entscheidungsgremien vertreten<br />
se<strong>in</strong>. Diejenigen, die <strong>in</strong> Parlament und Regierung vertreten seien,<br />
würden politische Mittel e<strong>in</strong>setzen, um die Situation vor Ort durch<br />
Gesetzgebung und Regierungsmaßnahmen <strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne zu<br />
verändern. Ihre Bemühungen konzentrierten sich auf<br />
Systemlösungen, die ganze Geme<strong>in</strong>schaften bee<strong>in</strong>flussten. Das sei<br />
151
Andrzej Mirga<br />
durch NRO-Projekte nicht zu erreichen. Mit diesem Ansatz gehe<br />
jedoch auch e<strong>in</strong>e andere Art von Verantwortung e<strong>in</strong>her, da man<br />
Erfolge vorweisen und bei Misserfolg belastender Kritik ausgesetzt<br />
sei und e<strong>in</strong>en politischen Preis zahlen müsse. Welche Wirkungen<br />
sie mit ihren Bemühungen erzielten, hänge von ihrem Geschick und<br />
ihrer relativen Macht gegenüber dem Gesetzgeber und den<br />
Regierungsm<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> der Verfolgung der Interessen der Roma<br />
ab. Deshalb sei es auch sehr wichtig, betonten die Roma-<br />
Abgeordneten nachdrücklich, dass man politische Verbündete oder<br />
Partner habe, die sie unterstützten.<br />
Die Regierungen erwarteten oder forderten sogar, dass die Roma<br />
selbst mehr Verantwortung und Engagement zeigten, um die Lage<br />
ihrer Geme<strong>in</strong>schaften zu verbessern. Beim Wiener OSZE-Treffen 23<br />
hätten Konzepte der Identifikation (ownership) und Verantwortung<br />
im Mittelpunkt der Debatten gestanden, berichtete der<br />
OSZE/ODIHR-Berater für Angelegenheiten der Roma und S<strong>in</strong>ti. Die<br />
Regierungen hätten auf dieser Sitzung die Ansicht vertreten, dass<br />
die Roma selbst e<strong>in</strong>e gewisse Verantwortung für die gegenwärtige<br />
Situation trügen und mehr tun müssten, um sie zu verändern. Diese<br />
Betonung der Eigenverantwortung der Roma käme nahe an die<br />
Vorstellung heran, dass die Roma selbst die gegenwärtige Lage zu<br />
verantworten hätten – e<strong>in</strong>e Vorstellung, der die Mehrheit der<br />
versammelten Vertreter der Roma widersprach. In dem 2003 <strong>in</strong><br />
Maastricht angenommenen OSZE-Aktionsplan habe man sich<br />
deshalb auf die Frage konzentriert, welche aktive Rolle die Roma <strong>in</strong><br />
diesem Prozess spielten. Oder anders gesagt, den Roma sollte<br />
mehr Verantwortung übertragen werden, sobald es e<strong>in</strong>e klar<br />
def<strong>in</strong>ierte Rolle und entsprechendes Engagement im Prozess der<br />
Gestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen zur<br />
Verbesserung der Lage der Roma-Bevölkerung gebe. Diese<br />
Aufgabe werde zunehmend mit gewählten und ernannten Vertretern<br />
der Roma <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht. Der OSZE-Aktionsplan habe der<br />
Frage der politischen Partizipation der Roma – sowohl als Wähler<br />
wie als Kandidaten – hohen Stellenwert beigemessen und man<br />
beabsichtige, noch mehr <strong>in</strong> dieser Richtung zu tun.<br />
Derselbe Redner stellte auch fest, dass andere, großenteils<br />
zivilgesellschaftliche Akteure aufseiten der Roma e<strong>in</strong>e solche Rolle<br />
für gewählte und ernannte Roma-Vertreter <strong>in</strong> Frage stellten. Roma-<br />
Aktivisten aus den NROs zweifelten die Legitimität der Vertreter <strong>in</strong><br />
23 Die Sondersitzung zu Fragen der Roma und S<strong>in</strong>ti fand vom 10. bis 11. April 2003<br />
während des OSZE-Ergänzungstreffen zur Menschlichen Dimension <strong>in</strong> Wien statt.<br />
152
ROMA IN EUROPA<br />
gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung an und<br />
stellten üblicherweise sogar die Frage, ob diese Menschen<br />
tatsächlich die wirklichen Interessen der Roma-Bevölkerung<br />
verträten. Zurückzuführen sei diese Kontroverse e<strong>in</strong>erseits auf die<br />
unterschiedlichen politischen Ziele beider Sektoren und<br />
andererseits auf die E<strong>in</strong>stellung der NROs zum Staat und se<strong>in</strong>er<br />
Politik. Die Roma-Zivilgesellschaft positioniere sich als Verteidiger<br />
der Menschenrechte, während sich die gewählten und ernannten<br />
Vertreter als Teil staatlicher Strukturen um soziale und<br />
wirtschaftliche Themen kümmerten. NROs der Roma seien<br />
gewöhnt, den Staat und se<strong>in</strong>e Politik als Gegner der Roma zu<br />
sehen, sodass jene, die zum Teil dieses Staates würden, sich der<br />
Kritik aussetzten, dass sie andere Anliegen verträten, die nichts mit<br />
den Roma zu tun hätten. Wie e<strong>in</strong>er der Roma-Abgeordneten jedoch<br />
abschließend feststellte, wäre es weit wichtiger, dass Roma-<br />
Vertreter ihren Geme<strong>in</strong>schaften klar machten, was für Aufgaben<br />
gewählte und ernannte Roma-Vertreter erfüllten und ob ihre<br />
Bemühungen zu konkreten Ergebnissen führten, als auf diese<br />
Weise mite<strong>in</strong>ander zu konkurrieren.<br />
Die Roma nach dem Beitritt: welcher Rahmen, welche Politik?<br />
In se<strong>in</strong>er Darstellung der Politik der Europäischen Union wies der<br />
Leiter der Direktion für die Koord<strong>in</strong>ierung der Verhandlungen und<br />
Beitrittsvorbereitungen für Bulgarien, Rumänien und der Türkei der<br />
Generaldirektion für Erweiterung darauf h<strong>in</strong>, dass bei diesem<br />
Treffen sowohl die Roma-Vertreter wie Beamte <strong>in</strong> Brüssel Neuland<br />
betreten würden. Die Roma müssten über die Politik der<br />
Europäischen Union <strong>in</strong>formiert werden und darüber, was sie<br />
realistischerweise von Brüssel erwarten könnten. Andererseits<br />
brauchten die Institutionen der Europäischen Union e<strong>in</strong>e Reaktion<br />
vonseiten der Roma, um zu verstehen, was funktioniere und welche<br />
Programme und politische Maßnahmen zur Unterstützung der<br />
Roma-Bevölkerung verbessert werden müssten. Er betonte, dass<br />
Vertreter der Roma lernen müssten, wie man mit den Brüsseler<br />
Institutionen umgeht: Sie seien vielleicht bürokratisch und komplex,<br />
aber das solle die Roma nicht abschrecken. Man müsse<br />
Stehvermögen haben und sich aktiv <strong>in</strong> Netzwerken engagieren;<br />
diese Art von Treffen leiste dazu e<strong>in</strong>en Beitrag.<br />
In der Vorbereitungsphase für den Beitritt habe die Kommission mit<br />
ihren Regelmäßigen Berichten Druck auf die Regierungen der<br />
Beitrittskandidaten ausgeübt, damit diese politische Maßnahmen<br />
zur Verbesserung der Lage der Roma-Bevölkerung ergriffen.<br />
153
Andrzej Mirga<br />
Sobald die Erweiterung abgeschlossen sei, gebe es jedoch ke<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit mehr für die Kommission, direkt auf Regierungen<br />
e<strong>in</strong>zuwirken und sie zu drängen - mit möglicherweise negativen<br />
Konsequenzen für die Roma. Außerdem werde das PHARE-<br />
Programm für Beitrittsländer wie die Tschechische Republik,<br />
Ungarn und die Slowakei bis Mai 2004 abgeschlossen. Dieses<br />
Programm gelte dann nur noch für Bulgarien und Rumänien bis zu<br />
deren endgültigen Beitritt. Von 2004 an müssten Roma <strong>in</strong> den<br />
neuen EU-Mitgliedsländern die Instrumente und unterschiedlichen<br />
F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten der Union nutzen, um die<br />
Weiterführung laufender Maßnahmen oder Projekte sicher zu<br />
stellen. Deshalb sei es notwendig, dass die Roma diese<br />
Instrumente und F<strong>in</strong>anzierungsformen, die <strong>in</strong>nerhalb der Union zur<br />
Verfügung stünden, besser kennen lernen und verstehen.<br />
Er unterstrich, dass die Politik der Kommission und der Druck, den<br />
sie <strong>in</strong> der Vergangenheit ausgeübt habe, offensichtlich u. a. zur<br />
Folge gehabt habe, dass Regierungen politische Programme und<br />
Aktionspläne zugunsten ihrer Roma-Bevölkerung ausgearbeitet und<br />
mit ihrer Umsetzung begonnen hätten. Die Europäische<br />
Kommission sei sich bewusst, dass die Gesamtlage der Roma <strong>in</strong><br />
den Beitrittsländern alles andere als unproblematisch sei. Man<br />
müsse deshalb sicher stellen, dass die vorliegenden Aktionspläne<br />
von den Regierungen vollständig verwirklicht würden, <strong>in</strong>sbesondere<br />
auf der regionalen und kommunalen Ebene. Man werde deshalb<br />
weitere Anstrengungen weniger förmlicher Art zu diesem Zweck<br />
unternehmen.<br />
Mit dem vollständigen Beitritt seien die neuen Mitgliedsländer „dem<br />
Vere<strong>in</strong> beigetreten“ und somit <strong>in</strong> der Lage, die Politik und das<br />
Regelwerk der EU mitzugestalten. Die restliche Zeit der Sitzung<br />
solle deshalb dazu verwandt werden zu überlegen, wie die<br />
zukünftige Politik der EU gestaltet werden könne, um die Belange<br />
der Roma-Bevölkerung und deren E<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Union zu verbessern, führte der Vertreter der Kommission<br />
aus.Vertreter der Roma sollten den direkten Dialog mit ihren<br />
Landesregierungen suchen und dort ihre Anliegen vorbr<strong>in</strong>gen, da<br />
man die zukünftige Roma-Politik nur über die Regierungsvertreter<br />
im Europäischen Rat bee<strong>in</strong>flussen könne. Selbst wenn bei den<br />
Roma vielleicht e<strong>in</strong> Gefühl der Unzufriedenheit mit bestehenden<br />
Instrumenten entstehen würde, sei es hilfreich für die Kommission,<br />
davon zu erfahren, weil es auf Verbesserungsbedarf h<strong>in</strong>weise.<br />
Abschließend betonte er die Notwendigkeit der Zusammenarbeit,<br />
da letzten Endes „die meisten der hier Versammelten bald Bürger<br />
der EU se<strong>in</strong> werden.“<br />
154
ROMA IN EUROPA<br />
E<strong>in</strong> anderer Vertreter der Kommission erläuterte, dass man<br />
weiterh<strong>in</strong> so weit wie möglich Druck auf die Regierungen ausüben<br />
werde, was die Probleme der Roma anbetreffe, aber dies nur im<br />
Rahmen bestehender Gesetzgebung möglich sei. „Ke<strong>in</strong> Programm<br />
für die Roma ohne die Roma“ sei e<strong>in</strong> gängiges Pr<strong>in</strong>zip, aber die<br />
Kommission könne souveräne Regierungen nicht dazu zw<strong>in</strong>gen.<br />
Desgleichen sei die Kommission zwar aufgeschlossen gegenüber<br />
Regierungsmaßnahmen und Aktionsplänen für die Roma, könne<br />
aber ke<strong>in</strong>e Vorschriften erlassen, wie diese umgesetzt werden<br />
sollten. Die Europäische Kommission habe mit Regierungen zu tun<br />
und Richtl<strong>in</strong>ien der Kommission beschäftigten sich mit den<br />
Bedürfnissen und Rechten der Bürger. Aus Sicht der Europäischen<br />
Union handele es sich bei den Roma zunächst und vor allem um<br />
Bürger und nicht unbed<strong>in</strong>gt um M<strong>in</strong>derheiten. Die Kommission sehe<br />
aber die Probleme der Roma-Bevölkerung und kümmere sich<br />
darum. Der Dialog mit e<strong>in</strong>er Vielzahl an Organisationen und<br />
Vertretern sei für die Kommission im Großen und Ganzen die<br />
Grundlage ihrer Arbeit, d. h., sie pflege regelmäßigen Kontakt mit<br />
allen möglichen Nicht-Regierungsorganisationen. Dieser Redner<br />
begrüßte deshalb die Tatsache, dass die Kontakte und der Dialog<br />
<strong>in</strong>zwischen auch die gewählten und ernannten Vertreter der Roma<br />
<strong>in</strong> den neuen Mitgliedsländern umfasse.<br />
Außerdem betonten die Redner, dass die EU nicht auf alle<br />
Probleme der Roma e<strong>in</strong>e Antwort habe, aber viele Chancen zur<br />
Bewältigung dieser Probleme vor allem <strong>in</strong> den neuen<br />
Mitgliedsstaaten biete.<br />
EU-Instrumente und Rahmenpolitik<br />
Vertreter der Kommission stellten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag die EU-<br />
Instrumente und EU-Politik vor und beschrieben kurz jene, die der<br />
Roma-Bevölkerung helfen könnten. Drei Bereiche wurden erwähnt:<br />
EU-Gesetzgebung, F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten und<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zur Koord<strong>in</strong>ierung der Politik, um<br />
geme<strong>in</strong>same Ziele zu erreichen. Wie e<strong>in</strong> Vertreter der Kommission<br />
dazu feststellte, gebe es alle<strong>in</strong> im Bereich der Beschäftigungs- und<br />
Sozialpolitik – die gleichermaßen für die Bevölkerung der Roma wie<br />
für andere Bürger der Union wichtig seien – an die fünfundsiebzig<br />
Gesetze, deren Spektrum vom Arbeits- und Gesundheitsschutz bis<br />
zur Gleichstellung von Mann und Frau reichten. Er verwies<br />
<strong>in</strong>sbesondere auf die Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000, die sogenannte<br />
Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie, die schon früher auf der Sitzung<br />
155
Andrzej Mirga<br />
erwähnt worden sei. E<strong>in</strong>ige Länder hätten diese Richtl<strong>in</strong>ie erst sehr<br />
spät <strong>in</strong> die nationale Gesetzgebung übernommen, aber die Roma<br />
sollten wissen, dass sie gegen ihre Regierungen vor dem<br />
Europäischen Gerichtshof klagen können, falls sich Behörden nicht<br />
an die Vorschriften dieses Gesetzes hielten.<br />
Die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds seien die wichtigsten<br />
F<strong>in</strong>anzierungsquellen. Diese Mittel ständen allen neuen<br />
Mitgliedsstaaten offen. Die Strukturfonds arbeiteten mit<br />
mittelfristigen Programmplanungszeiträumen von sieben Jahren;<br />
der gegenwärtige Planungszeitraum umfasse die Zeit von 2000 -<br />
2006. Die zehn neuen Mitgliedsländer, die der EU am 1. Mai 2004<br />
beigetreten seien, fielen <strong>in</strong> den gegenwärtigen Planungszeitraum<br />
und würden zwischen 2004 und 2006 davon profitieren; danach<br />
werde e<strong>in</strong> neuer Planungszeitraum (für 2007 - 2013) gelten.<br />
Zweiundzwanzig Milliarden Euro seien für alle Struktur<strong>in</strong>strumente<br />
<strong>in</strong> den zehn neuen EU-Mitgliedsländern vorgesehen. Der<br />
Beitrittsvertrag sehe vor, dass Beitrittsländer vom 1. Januar 2004 an<br />
Anspruch auf F<strong>in</strong>anzierung durch die Strukturfonds und den<br />
Kohäsionsfonds hätten, sobald die entsprechenden, für diese<br />
Fonds geltenden Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt seien. Bei diesen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen handele es sich um die vollständige Umsetzung der<br />
Implementierungsregeln der Fonds sowie der politischen Vorgaben<br />
und der Gesetzgebung der Geme<strong>in</strong>schaft.<br />
Zahlungen aus den Strukturfonds h<strong>in</strong>gen vom BIP e<strong>in</strong>es Landes<br />
und der Bevölkerungsgröße ab. Nach den Vorschriften der<br />
Strukturfonds konzentrierten sich Strukturmaßnahmen auf drei<br />
Kernziele: Beim ersten Ziel gehe es vorrangig um wirtschaftliche<br />
Entwicklung und Strukturanpassung <strong>in</strong> zurückgebliebenen<br />
Regionen. Anspruch auf Förderung hätten Regionen, die weniger<br />
als 75 % des durchschnittlichen BIP der EU aufwiesen. Beim<br />
zweiten Ziel gehe es um die Unterstützung wirtschaftlicher und<br />
sozialer Konversion für Gebiete mit strukturellen Schwierigkeiten<br />
(<strong>in</strong>dustriell, ländlich, städtisch und Fischereiwesen). Ziel 3 diene der<br />
Entwicklung der Arbeitsmärkte und der Beschäftigten und solle die<br />
Anpassung und Modernisierung nationaler Bildungs-, Ausbildungs-<br />
und Beschäftigungspolitik und –systeme fördern. Der Europäische<br />
Fonds für regionale Entwicklung f<strong>in</strong>anziere Programme, die auf Ziel<br />
e<strong>in</strong>s und zwei ausgerichtet seien. Für diesen Fonds sei die<br />
Generaldirektion Regionalpolitik zuständig. Der Europäische<br />
Sozialfonds f<strong>in</strong>anziere Programme im Zusammenhang mit Ziel drei<br />
und dafür sei die GD für Beschäftigung und soziale<br />
Angelegenheiten zuständig. Diese beiden Fonds seien für die<br />
Roma wichtig, während die zwei anderen Fonds – für die Bereiche<br />
156
ROMA IN EUROPA<br />
Landwirtschaft und Fischereiwesen – weniger <strong>in</strong>teressant für sie<br />
seien.<br />
Wie funktioniere das? Regierungen legten nationale<br />
Entwicklungspläne auf – Strategien zur Nutzung der Strukturfonds<br />
für den Zeitraum 2004-2006. Dieser Plan be<strong>in</strong>halte: e<strong>in</strong>e<br />
Situationsanalyse im Zusammenhang mit dem betreffenden Ziel;<br />
e<strong>in</strong>e Analyse vorrangiger Bedürfnisse; geplante Strategie- und<br />
Handlungsprioritäten und e<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>anzierungsplan. Dieses<br />
Dokument solle landesweit ausgiebig diskutiert und dann als<br />
Grundlage der Verhandlungen der Kommission vorgelegt werden.<br />
Die Kommission greife generell auf der Ebene der Strategien und<br />
Prioritäten e<strong>in</strong>, während die Länderregierungen für die Festlegung<br />
der Maßnahmen und Projektkriterien zuständig seien. In den<br />
meisten Fällen würden die Entwicklungspläne der Beitrittsländer als<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmen (Community Support Frameworks,<br />
CSF) mit e<strong>in</strong>zelf<strong>in</strong>anzierten operativen Programmen (s<strong>in</strong>gle-funded<br />
operational programmes, SOP) für die Implementierung aufgelegt.<br />
Alle Verhandlungen über CSFs und SOPs im Rahmen des<br />
Strukturfonds seien im Dezember 2003 mit den neuen<br />
Mitgliedsländern abgeschlossen und vertraglich besiegelt worden.<br />
Sobald sie von der Kommission angenommen worden seien,<br />
würden die Entwicklungspläne von ausführenden Behörden<br />
umgesetzt, die von den Mitgliedsstaaten ernannt worden seien. Die<br />
Implementierung der Maßnahmen und Projekte werde von<br />
Monitor<strong>in</strong>g-Ausschüssen beaufsichtigt. Alle von der EU geförderten<br />
Projekte müssten kof<strong>in</strong>anziert werden; die Projektauswahl werde<br />
von den für e<strong>in</strong>zelne Projekte zuständigen nationalen und<br />
regionalen Behörden, nicht der Kommission vorgenommen.<br />
Beschäftigungs- und sozialpolitischer Rahmen<br />
Wie oben erwähnt, ist die GD für Beschäftigung und soziale<br />
Angelegenheiten für den Europäischen Sozialfonds zuständig - dem<br />
wichtigsten Instrument, die Beschäftigung benachteiligter Gruppen<br />
zu fördern und ihnen Zugang zu den Arbeitsmärkten zu<br />
verschaffen. Diese Generaldirektion bietet F<strong>in</strong>anzierung für<br />
Maßnahmen im Zusammenhang mit Ziel 3 entsprechend den<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
und Beschäftigungsrichtl<strong>in</strong>ien (beschlossen auf dem Luxemburger<br />
157
Andrzej Mirga<br />
Gipfel 1997) 24 und den sozialpolitischen Zielen des Lissaboner<br />
Europäischen Rates 2000, bei denen es um Armutsbekämpfung<br />
und soziale Ausgrenzung geht. 25 Dieses Instrument war für die<br />
Roma von besonderer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass<br />
sie als Bevölkerungsgruppe stark von Armut und Arbeitslosigkeit<br />
betroffen s<strong>in</strong>d. Der Vertreter der GD Beschäftigung und soziale<br />
Angelegenheiten führte aus, dass der Europäische Sozialfonds<br />
auch von den gegenwärtigen Mitgliedsstaaten wie Spanien,<br />
Griechenland und Frankreich für Projekte genutzt worden sei, die<br />
die Roma betrafen. Im Laufe der Verhandlungen hätte die<br />
Kommission die neuen Mitgliedsstaaten aufgefordert, Romaspezifische<br />
Projekte über den Fonds zu beantragen. E<strong>in</strong> weiterer<br />
Fonds wurde ebenfalls erwähnt – die Geme<strong>in</strong>schafts<strong>in</strong>itiative<br />
EQUAL. Dieser Fonds unterstütze <strong>in</strong>novative Projekte zur<br />
Förderung benachteiligter Gruppen, um ihnen den Zugang zum<br />
Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dutzende solcher Projekte, die sich<br />
<strong>in</strong>sbesondere an Roma richteten, seien <strong>in</strong> den gegenwärtigen<br />
Mitgliedsländern schon gefördert worden.<br />
Die <strong>roma</strong>ni Teilnehmer wurden darüber unterrichtet, dass es <strong>in</strong> der<br />
GD für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten vier<br />
verschiedene Programme gebe, die sich jeweils mit sozialer<br />
Ausgrenzung, Gleichheit von Mann und Frau, Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
und Beschäftigungsanreizen befassen. In allen diesen Bereichen<br />
gelte die Aufmerksamkeit der Kommission <strong>in</strong>sbesondere den Roma.<br />
Als das Referat „Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung“ vor kurzem dazu aufgefordert<br />
habe, Projektvorschläge e<strong>in</strong>zureichen, seien die Roma besonders<br />
erwähnt worden.<br />
24 Mit dem 1997 <strong>in</strong> Amsterdam unterzeichneten EU-Vertrag wurde das<br />
Beschäftigungsthema fester Bestandteil der politischen Tagesordnung der Union. Die<br />
Verpflichtung, Beschäftigungspolitik und Schaffung von mehr und besseren<br />
Arbeitsplätzen zu koord<strong>in</strong>ieren, wurde mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
auf dem Luxemburger Gipfel 1997 umgesetzt. Die Beschäftigungsstrategie war als<br />
das zentrale Instrument zur Ausrichtung und gesicherten Koord<strong>in</strong>ierung der Prioritäten<br />
<strong>in</strong> der Beschäftigungspolitik gedacht, auf die sich die Mitgliedsstaaten auf Ebene der<br />
EU verständigt hatten.<br />
25 Die Treffen des Europäischen Rates <strong>in</strong> Lissabon und Feira (2000) setzten e<strong>in</strong><br />
neues Ziel: den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Die vom Europäischen<br />
Rat festgelegten politischen Richtl<strong>in</strong>ien und Ziele enthielten u. a. die Forderung, e<strong>in</strong><br />
besseres Verständnis über soziale Ausgrenzung zu fördern, E<strong>in</strong>gliederung zu e<strong>in</strong>em<br />
wesentlichen Faktor der allgeme<strong>in</strong>en Beschäftigungs-, Bildungs- und Ausbildungs-,<br />
Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik der Mitgliedsländer zu machen sowie<br />
Prioritäten zugunsten bestimmter Zielgruppen (z. B. M<strong>in</strong>derheitengruppen, K<strong>in</strong>der,<br />
ältere Menschen und Beh<strong>in</strong>derte) zu setzen.<br />
158
ROMA IN EUROPA<br />
Während der Verhandlungen mit den neuen Mitgliedsländern habe<br />
die Kommission der Roma-Thematik besondere Aufmerksamkeit<br />
geschenkt und die Regierungen aufgefordert, die Strukturfonds<br />
auch für die Bevölkerungsgruppe der Roma zu nutzen. Es wurde<br />
jedoch auch darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die Roma selbst mit den<br />
Länderbehörden oder -regierungen Kontakt aufnehmen müssten,<br />
um sicher zu stellen, dass ihre Geme<strong>in</strong>schaften von dieser<br />
Förderung profitierten.<br />
Zwar habe die Kommission weniger Möglichkeiten, auf<br />
Vollmitglieder Druck auszuüben als auf Kandidaten- oder<br />
Beitrittsländer, aber man habe doch e<strong>in</strong>ige Mittel, die hilfreich se<strong>in</strong><br />
könnten. E<strong>in</strong>es der <strong>in</strong> diesem Zusammenhang erwähnten<br />
Instrumente ist die sogenannte „offene Methode“ der Koord<strong>in</strong>ierung<br />
im Bereich der Rahmenpolitik für Beschäftigung und soziale<br />
E<strong>in</strong>gliederung. 26 Das bedeute, dass sich die Mitgliedsländer auf<br />
Ebene der EU auf geme<strong>in</strong>same Ziele und deren Umsetzung<br />
verständigten. Die Regierungen müssten dann der Kommission<br />
gegenüber Bericht erstatten, wie sie versucht hätten, diese Ziele zu<br />
erreichen; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Peer Review“-Verfahren würden die<br />
Kommission und die Regierungen dann auswerten, wie erfolgreich<br />
e<strong>in</strong>zelne Länder bei der Erreichung ihrer Ziele gewesen seien.<br />
26 Die im Rahmen der Beschäftigungsstrategie e<strong>in</strong>geführte „offene Methode“ der<br />
Koord<strong>in</strong>ierung umfasst folgende Schritte: a) Beschäftigungsrichtl<strong>in</strong>ien: Auf Vorschlag<br />
der Kommission verständigt sich der Europäische Rat jedes Jahr auf e<strong>in</strong>e Reihe von<br />
Richtl<strong>in</strong>ien, die geme<strong>in</strong>same Prioritäten <strong>in</strong> der Beschäftigungspolitik der<br />
Mitgliedsländer festschreiben. b) Nationale Aktionspläne, <strong>in</strong> denen beschrieben wird,<br />
wie die Richtl<strong>in</strong>ien umgesetzt werden sollen, werden von jedem Mitgliedsland<br />
ausgearbeitet. c) Die Kommission und der Europäische Rat prüfen geme<strong>in</strong>sam jeden<br />
Nationalen Aktionsplan und arbeiten e<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>samen Beschäftigungsbericht aus;<br />
dann erstellt die Kommission e<strong>in</strong>en neuen Vorschlag zur Überarbeitung der<br />
Richtl<strong>in</strong>ien für das nächste Jahr. d) Nach Erhalt des Kommissionsvorschlags kann<br />
der Rat beschließen, länderspezifische Empfehlungen auszusprechen. So entsteht<br />
mit Hilfe der offenen Koord<strong>in</strong>ierungsmethode e<strong>in</strong> fortlaufendes Programm jährlicher<br />
Planung, Monitor<strong>in</strong>g, Prüfung und Neuanpassung. Nach dem Treffen des<br />
Europäischen Rates <strong>in</strong> Lissabon (2000) wurde die offene Koord<strong>in</strong>ierungsmethode<br />
auch auf den sozialpolitischen Bereich ausgeweitet, wobei man nunmehr Zweijahres-<br />
Zeiträume für Planung, Berichterstattung und die Neufestsetzung von Prioritäten<br />
vorsah. Die Kandidatenländer waren entsprechend den Bestimmungen der<br />
Beitrittspartnerschaften an beiden Rahmenverfahren beteiligt. Geme<strong>in</strong>same<br />
Auswertungspapiere (jo<strong>in</strong>t assessment papers, JAP) zur Beschäftigungspolitik wurden<br />
das erste Mal 2001 mit den Beitrittsländern abgeschlossen als<br />
Vorbereitungsdokumente für die Entwicklung nationaler und regionaler Strategien,<br />
nach denen zukünftig Mittel aus den europäischen Strukturfonds nach dem Beitritt<br />
beantragt werden könnten. Für den sozialpolitischen Bereich wurde im Dezember<br />
2003 von den beitretenden Ländern ebenfalls e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames Memorandum zur<br />
Sozialen E<strong>in</strong>gliederung (Jo<strong>in</strong>t Memorandum on Social Inclusion, JIM) mit der<br />
Kommission ausgearbeitet und unterzeichnet.<br />
159
Andrzej Mirga<br />
Sowohl für den Bereich Beschäftigung wie für soziale E<strong>in</strong>gliederung<br />
seien geme<strong>in</strong>same Ziele vere<strong>in</strong>bart worden, die auch Interessen der<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten tangierten.<br />
Die gegenwärtigen Mitgliedsstaaten würden Berichte zur sozialen<br />
E<strong>in</strong>gliederung herausgeben; auf der Grundlage dieser Berichte<br />
würde die Kommission e<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>samen Bericht zur Sozialen<br />
E<strong>in</strong>gliederung erstellen. Die neuen Mitgliedsländer seien Teil des<br />
Verfahrens und hätten im Dezember 2003 e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames<br />
Memorandum zur sozialen E<strong>in</strong>gliederung (engl. Abkürzung: JIM)<br />
unterzeichnet. Alle Memoranden hätten Maßnahmen zur sozialen<br />
E<strong>in</strong>gliederung e<strong>in</strong>en besonderen Stellenwert zugewiesen, vor allem<br />
bei Gruppen, die besonders von langfristiger Arbeitslosigkeit<br />
bedroht seien wie Jugendliche, ältere Menschen oder Frauen,<br />
sowie bei besonders benachteiligten Gruppen wie den Roma und<br />
anderen ethnischen M<strong>in</strong>derheiten. Diese Prioritäten und<br />
Maßnahmen seien auch <strong>in</strong> die Dokumente im Rahmen der<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsförderung (CSF) übernommen worden.<br />
Bei der Ausarbeitung dieser Dokumente und den entsprechenden<br />
Verhandlungen habe die Kommission und <strong>in</strong>sbesondere die GD für<br />
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten die Regierungen<br />
aufgefordert, die Roma-Thematik aufzugreifen und ihr besondere<br />
Aufmerksamkeit zu schenken. Man könne diese Dokumente nun als<br />
politisches Mittel e<strong>in</strong>setzen, um Regierungen zur Verantwortung zu<br />
ziehen und nachzufragen, ob die geme<strong>in</strong>samen Ziele, auf die sie<br />
sich verpflichtet hätten, auch erreicht worden seien. Gegenwärtig<br />
überprüfe die Kommission die bestehenden Vere<strong>in</strong>barungen,<br />
politischen Vorgaben und Programme, um festzustellen, ob man sie<br />
nicht noch wirkungsvoller e<strong>in</strong>setzen könne, um Fragen der Roma <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er erweiterten Union zu behandeln. E<strong>in</strong>e Untersuchung über die<br />
Lage der Roma, die u. a. <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem Europäischen<br />
Roma-Informationsbüro (ERIO) durchgeführt werde, sowie e<strong>in</strong>e für<br />
April 2004 <strong>in</strong> Brüssel geplante Konferenz verfolgten das gleiche<br />
Ziel: auf die besonderen Bedürfnisse der Roma-M<strong>in</strong>derheiten mit<br />
den Instrumenten der EU zu reagieren. 27<br />
27 Die Konferenz „Roma <strong>in</strong> an enlarged European Union“ fand vom 22. bis 24. April<br />
2004 <strong>in</strong> Brüssel statt. Der Bericht über „The Situation of Roma <strong>in</strong> an enlarged<br />
European Union, Fundamental Rights and Anti-discrim<strong>in</strong>ation“ wurde von der<br />
Generaldirektion für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Referat D3,<br />
Europäische Geme<strong>in</strong>schaften, 2004 veröffentlicht. Der Bericht nimmt aber nicht<br />
Stellung zu politischer Partizipation und Vertretung der Roma.<br />
160
ROMA IN EUROPA<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten als Nutznießer der Strukturfonds: Chancen<br />
und Risiken<br />
Die Bemerkungen der Roma-Teilnehmer machten deutlich, dass<br />
unter ihnen nur e<strong>in</strong>ige wirklich gut über diese Instrumente,<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Dokumente sowie die Verfahrensweise<br />
der Strukturfonds <strong>in</strong>formiert waren. Roma-M<strong>in</strong>derheiten mit starker<br />
politischer Präsenz im Heimatland waren sicherlich erfolgreicher<br />
dar<strong>in</strong>, die Interessen der Roma zu vertreten und engagiert für die<br />
E<strong>in</strong>beziehung ihrer Ziele <strong>in</strong> Programmdokumente zu werben. Es<br />
zeigte sich auch, dass die Roma <strong>in</strong> vielen Fällen vom<br />
Konsultationsprozess ausgeschlossen worden s<strong>in</strong>d oder – mit<br />
wenig Macht oder politischem E<strong>in</strong>fluss ausgestattet - nur schwerlich<br />
die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen konnten, damit<br />
<strong>in</strong> den ausgehandelten Dokumenten angemessen auf ihre<br />
Probleme reagiert werden konnte.<br />
Nach Aussage e<strong>in</strong>es der Roma-Vertreter aus Ungarn seien die<br />
Probleme der Roma <strong>in</strong> allen fünf Operativen Programmen des<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmens (CSF) se<strong>in</strong>es Landes angesprochen<br />
worden. Dazu beigetragen habe die Tatsache, dass sich die<br />
Kommission <strong>in</strong> den Verhandlungen vor dem Beitritt nachdrücklich<br />
auf die Roma konzentriert habe: Nach der ersten<br />
Verhandlungsrunde habe die Kommission angedeutet, dass es zu<br />
wenig Maßnahmen zur Förderung der Roma gebe und die<br />
Regierung aufgefordert, weitere Schritte zur Verbesserung der Lage<br />
der Roma e<strong>in</strong>zuleiten.<br />
Auch der Roma-Vertreter aus der Slowakei berichtete, dass das<br />
E<strong>in</strong>greifen der Kommission - u. a. ihr Drängen auf E<strong>in</strong>beziehung<br />
des Bevollmächtigten für Roma-Angelegenheiten <strong>in</strong> die Delegation<br />
während der letzten Verhandlungsphase <strong>in</strong> Brüssel - hilfreich<br />
gewesen sei, um die Bedürfnisse der Roma <strong>in</strong> den Kapiteln über<br />
grundlegende Infrastruktur und Humanressourcen des<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmens (CSF) zur Sprache zu br<strong>in</strong>gen.<br />
E<strong>in</strong> Vertreter der Kommission bemerkte, dass der Beitrag aus den<br />
Strukturfonds für Maßnahmen zugunsten der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong><br />
der Slowakei höher als sonst üblich bei 80% liegen werde, d. h., zur<br />
Kof<strong>in</strong>anzierung seien nur 20 % erforderlich – während für andere<br />
Maßnahmen der Anteil der F<strong>in</strong>anzierung und Kof<strong>in</strong>anzierung bei<br />
jeweils 75 % und 25 % liege. Im Falle der Tschechischen Republik<br />
seien die Roma <strong>in</strong> zwei Operativen Programmen angesprochen<br />
worden, die festlegten, welcher Anteil der Mittel <strong>in</strong> Roma-Projekte<br />
161
Andrzej Mirga<br />
fließen solle. Damit habe die Kommission sicher stellen wollen,<br />
dass Mittel der Strukturfonds auch zugunsten der Roma-<br />
Bevölkerung verwendet würden.<br />
Es sei jedoch für die Kommission politisch schwierig, genauere<br />
Vorgaben zu machen - wie z. B. die schwerpunktmäßige Förderung<br />
von Roma-M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Regionen mit starker Konzentration<br />
dieser Gruppe oder die Lösung ihrer Wohnprobleme, wie von e<strong>in</strong>em<br />
der Roma-Vertreter gefordert. Diese Fragen lägen im<br />
Ermessensspielraum der Mitgliedsländer. Der Kommission mangele<br />
es außerdem an zuverlässigen statistischen Daten über<br />
M<strong>in</strong>derheiten, besonders der Roma. Die Kommission formuliere<br />
allgeme<strong>in</strong>e Ziele: Im Bereich Beschäftigung müssten die<br />
Mitgliedsländer beispielsweise die Kluft <strong>in</strong> der Arbeitslosigkeit von<br />
benachteiligten Gruppen und der allgeme<strong>in</strong>en Bevölkerung<br />
reduzieren. Um genauere quantitative Vorgaben machen zu<br />
können, müsse man zunächst Daten über die ethnischen<br />
M<strong>in</strong>derheiten sammeln – e<strong>in</strong> sowohl für die Regierungen wie<br />
<strong>in</strong>nerhalb der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften heikles Thema.<br />
Die Teilnehmer aufseiten der Roma vertraten den Standpunkt, dass<br />
für die Zielsetzung <strong>in</strong> der Sozialpolitik Daten über alle möglichen<br />
sozialen Gruppen erforderlich seien; man sprach sich deshalb für<br />
die Sammlung von Daten aus, die den sozialen Status<br />
benachteiligter Bevölkerungsgruppen allgeme<strong>in</strong> festhalten. Man war<br />
jedoch gegen die Aufnahme der Roma <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong> ethnisches<br />
Archiv oder Register.<br />
Die Vertreter der Kommission erläuterten, dass man nur sehr<br />
beschränkte Möglichkeiten habe, konkrete Maßnahmen oder<br />
Projekte zu bee<strong>in</strong>flussen, da sowohl die Verwaltung der<br />
Strukturfonds wie die Projektauswahl <strong>in</strong> die Zuständigkeit des<br />
E<strong>in</strong>zelstaates fielen. Sie unterstrichen außerdem, dass die<br />
Regierungen e<strong>in</strong>iger Länder die Entscheidungsbefugnisse über die<br />
Verwendung der Strukturfondsmittel entsprechend der<br />
Dezentralisierungspolitik der EU an regionale und kommunale<br />
Behörden übertragen hätten. Andererseits sei der Zugang zu den<br />
Strukturfonds aber e<strong>in</strong>facher geworden: Projektanträge müssten<br />
nicht jedes Mal e<strong>in</strong>zeln mit der Kommission ausgehandelt werden<br />
wie noch im Falle der PHARE-F<strong>in</strong>anzierung. Es sei wichtig für die<br />
Roma, dass man e<strong>in</strong>e vielleicht ger<strong>in</strong>gere Zahl an qualitativ<br />
besseren Projekten beantrage. Sie stellten auch fest, dass Roma-<br />
Organisationen Mitglied im Monitor<strong>in</strong>g-Ausschuss werden könnten,<br />
der die Aufsicht darüber führe, wie Mittel der Strukturfonds<br />
verwendet würden. Dieser Ausschuss sei ggf. auch befugt,<br />
162
ROMA IN EUROPA<br />
Maßnahmen zu ändern oder Mittel an andere Maßnahmen<br />
umzuleiten.<br />
Die Teilnehmer der Roma äußerten sich aber besorgt, <strong>in</strong>wieweit die<br />
Kapazitäten der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften und Organisationen<br />
überhaupt zur Beantragung solcher Projekte ausreichten,<br />
<strong>in</strong>sbesondere da die Forderung nach Kof<strong>in</strong>anzierung<br />
diesbezügliche Initiativen beschränken könnten. Desgleichen waren<br />
sie besorgt, ob kommunale Behörden überhaupt genügend<br />
Interesse daran hätten, entsprechende Förderprojekte zugunsten<br />
der Roma-Bevölkerung zu beantragen oder deren eigene Projekte<br />
zu unterstützen. Nach Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>iger Teilnehmer s<strong>in</strong>d die Roma<br />
nicht gut <strong>in</strong>formiert über diese neuen F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten,<br />
und auch nicht darüber, wie man sie beantragt und <strong>in</strong>wieweit ihre<br />
Bedürfnisse <strong>in</strong> den Programmdokumenten angesprochen wurden.<br />
E<strong>in</strong>er der Roma-Teilnehmer aus Rumänien kam zu dem Schluss,<br />
dass die zentrale Botschaft des Treffens für ihn dar<strong>in</strong> bestanden<br />
habe, dass sowohl während wie nach dem Beitrittsverfahren<br />
Regierungen e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle spielten. Für ihn bedeute das,<br />
dass e<strong>in</strong>e politische Vertretung für die Roma-M<strong>in</strong>derheiten absolut<br />
Vorrang habe – ob nun im Parlament oder der Regierung oder<br />
sogar <strong>in</strong> den Brüsseler Institutionen. Ohne e<strong>in</strong>e aktive Mitarbeit der<br />
Roma-Vertreter <strong>in</strong> diesen Institutionen könnten die Interessen der<br />
Roma nicht ausreichend vertreten werden.<br />
Das Thema der Teilhabe an Entscheidungs- und<br />
Konsultationsprozessen <strong>in</strong> unterschiedlichen Institutionen wurde<br />
wiederholt von den Roma-Vertretern angesprochen. Unabhängig<br />
vone<strong>in</strong>ander schlugen e<strong>in</strong>ige Roma-Teilnehmer vor, dass<br />
gewählten und ernannten Vertretern der Roma die Möglichkeit<br />
regelmäßiger Beratungen mit den Institutionen der EU über diese<br />
Thematik e<strong>in</strong>geräumt werden solle. Sie schlugen vor, e<strong>in</strong> Gremium<br />
am Sitz der Europäischen Kommission e<strong>in</strong>zurichten mit dem<br />
Auftrag, Vertreter der Roma und der EU-Institutionen<br />
zusammenzubr<strong>in</strong>gen; dieses Gremium solle für Kooperation,<br />
Koord<strong>in</strong>ierung, Dialog, Orientierung und Überwachung der EUweiten<br />
Maßnahmen für Roma-M<strong>in</strong>derheiten zuständig se<strong>in</strong>. Es<br />
wurde ebenfalls betont, dass man die Umsetzung EU-f<strong>in</strong>anzierter<br />
Maßnahmen und die bestehenden Strategien oder Aktionspläne der<br />
Regierungen zugunsten der Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> den<br />
Mitgliedsländern <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form koord<strong>in</strong>ieren müsse. Die<br />
gleiche Forderung wurde von Roma-Vertretern <strong>in</strong> den Gesprächen<br />
im Europäischen Parlament aufgestellt. E<strong>in</strong>ige Mitglieder des EP<br />
unterstützten die Idee regelmäßiger Treffen <strong>in</strong> Brüssel.<br />
163
Andrzej Mirga<br />
Als Antwort auf diese Forderung stellte e<strong>in</strong> Vertreter der<br />
Europäischen Kommission fest, dass die EU <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Weise vorgehe: Der EU-Rat, bestehend aus Vertretern der<br />
Mitgliedsländer, treffe Entscheidungen auf Anweisung der<br />
Regierungen. Es sei deshalb vielleicht erforderlich, dass sich<br />
Roma-Vertreter zunächst an ihre eigenen Regierungen wendeten<br />
und dort für ihre Vorschläge grünes Licht erhielten. Er unterstrich<br />
ebenfalls, dass solche Vorschläge gut ausgearbeitet werden sollten,<br />
bevor man sie vorlege. 28<br />
Der Ansatz der Roma-Vertreter: Roma-Themen s<strong>in</strong>d politische<br />
Themen 29<br />
Der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen<br />
Parlamentes (EP) hat sich aktiv mit der Roma-Thematik beschäftigt;<br />
sie ist seit Aufnahme der Verhandlungen mit den Beitrittsländern<br />
immer wieder auf se<strong>in</strong>e Tagesordnung gesetzt worden. Für die<br />
Roma-Bevölkerung der neu beitretenden Länder wird der mit<br />
Roma-Fragen beschäftigte Ausschuss für Bürgerrechte des EP e<strong>in</strong><br />
wichtiges Gremium se<strong>in</strong>, da es sich dabei zukünftig um <strong>in</strong>nere<br />
Angelegenheiten der EU handelt. Zwar wird sich der Ausschuss für<br />
Auswärtige Angelegenheiten auch weiterh<strong>in</strong> mit Angelegenheiten<br />
der Roma beschäftigen, allerd<strong>in</strong>gs nur für die Kandidatenländer<br />
(d.h. Bulgarien und Rumänien). Er wird se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit auch<br />
auf die Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> den früheren jugoslawischen Staaten<br />
richten.<br />
28 In e<strong>in</strong>er Pressemitteilung unter dem Titel: „Kommission fordert mehr<br />
Aufmerksamkeit für Fragen der Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten EU“<br />
nach der Konferenz „Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten Europäischen Union“, die <strong>in</strong> Brüssel<br />
vom 22. bis 24. April 2004 stattfand, stellte die Generaldirektor<strong>in</strong> der GD für<br />
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Frau Odile Qu<strong>in</strong>t<strong>in</strong>, fest: „ wir müssen<br />
sicher stellen, dass politische Maßnahmen der EU die Lage der Roma-Bevölkerung<br />
überall <strong>in</strong> der erweiterten Union wirklich verändern. Alle Beteiligten müssen koord<strong>in</strong>iert<br />
zusammenarbeiten. Wir können es uns nicht länger leisten, <strong>in</strong> dieser Frage nur<br />
stückweise vorzugehen.“ Als Beispiel für die Art von Ansatz, der erforderlich wäre,<br />
schlug Frau Qu<strong>in</strong>t<strong>in</strong> die Überprüfung der <strong>in</strong>ternen Koord<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Kommission vor, um sicher zu stellen, dass es e<strong>in</strong>en „<strong>in</strong>tegrierten“ Ansatz <strong>in</strong> Fragen<br />
der Politik gegenüber den Roma zwischen allen Generaldirektionen der Kommission<br />
gebe. Mehr dazu unter:<br />
http://<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/employment_social/news/2004/apr/<strong>roma</strong>2_en.html<br />
29 Der zweite Tag des von PER und Kommission veranstalteten Treffens brachte die<br />
Roma-Vertreter mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments zusammen.<br />
164
ROMA IN EUROPA<br />
Nach Me<strong>in</strong>ung der Mitglieder des Europäischen Parlamentes<br />
(MEPs) war es e<strong>in</strong> ermutigendes Zeichen, mit Roma<br />
zusammenzutreffen, die politische Ämter übernommen hätten und<br />
sich politisch aktiv für die Interessen ihrer Geme<strong>in</strong>schaften<br />
e<strong>in</strong>setzten. Sie unterstrichen die grundlegende Bedeutung<br />
politischer Partizipation für die Roma, da es schwieriger wäre, ohne<br />
eigene politische Organisation der Roma deren Probleme zu lösen;<br />
Lösungen müssten vor Ort, auf der nationalen und kommunalen<br />
Ebene, gefunden werden.<br />
Die Roma-Teilnehmer erläuterten ihren Ansatz und ihre<br />
Sichtweisen zur Roma-Thematik <strong>in</strong> der nationalen und<br />
europäischen Politik. Nach Aussage der Redner müsse man Roma-<br />
Themen im Grunde als politische Themen verstehen, die deshalb<br />
e<strong>in</strong>e politische Lösung erforderten. Das bedeute, dass die Roma<br />
Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream und engagierte Akteure werden<br />
müssten, die ihren <strong>roma</strong>ni Wählern und politischen Verbündeten<br />
gegenüber politisch verantwortlich seien. Als gewählte und<br />
ernannte Amtsträger <strong>in</strong> Parlamenten und Regierungen habe man<br />
die Rolle von Politikern der Roma übernommen. Zwar gebe es<br />
bisher nur wenige von ihnen, aber mit jeder weiteren Wahl <strong>in</strong> der<br />
Region würde die Zahl der gewählten Roma-Abgeordneten oder<br />
Stadt- und Geme<strong>in</strong>deräte zunehmen. Diese Entwicklung müsse<br />
zukünftig gefördert und verstärkt werden.<br />
Die Roma-Vertreter sprachen sich auch für e<strong>in</strong>e Institutionalisierung<br />
der <strong>in</strong>nenpolitischen Rolle der Roma aus, d. h. die Schaffung<br />
bestimmter <strong>in</strong>stitutioneller Strukturen auf zentraler und kommunaler<br />
Regierungsebene, um Roma-Themen auf der politischen<br />
Tagesordnung zu halten und ihre regelmäßige und kont<strong>in</strong>uierliche<br />
Erörterung sicherzustellen. Sie sprachen sich für e<strong>in</strong>e Partizipation<br />
der Roma <strong>in</strong> diesen Strukturen aus, damit die Roma e<strong>in</strong> gesichertes<br />
Mitspracherecht bei Entscheidungen hätten. Im Übrigen hielten die<br />
Roma-Vertreter e<strong>in</strong>e Stärkung der politischen Organisationen oder<br />
Parteien der Roma für notwendig, um dadurch die Roma-<br />
Geme<strong>in</strong>schaften politisch zu mobilisieren; sie hoffen, damit eher<br />
Maßnahmen zur besseren E<strong>in</strong>gliederung der Roma umsetzen zu<br />
können.<br />
Die MEPs diskutierten diese Vision und überlegten, ob dies der<br />
beste Ansatz sei. Nach Ansicht zahlreicher MEPs ist die von den<br />
Roma angestrebte Bildung getrennter Parteien oder ethnisch<br />
ausgerichteter politischer Organisationen vielleicht nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
die beste Wahl und könnte sogar kontraproduktiv für die<br />
Bemühungen um e<strong>in</strong>e Integration der Roma <strong>in</strong> den Ma<strong>in</strong>stream des<br />
165
Andrzej Mirga<br />
politischen und öffentlichen Lebens wirken. Stattdessen<br />
favorisierten sie e<strong>in</strong>e Strategie, die von der Mitgliedschaft der Roma<br />
<strong>in</strong> den politischen Parteien des Ma<strong>in</strong>stream ausgeht. Dazu wurden<br />
positive Beispiele entsprechender Anstrengungen der M<strong>in</strong>derheiten<br />
aus dem Vere<strong>in</strong>igten Königreich angeführt.<br />
Als Antwort auf diese Kritik vertraten die Roma-Abgeordneten die<br />
Ansicht, dass diese Option gegenwärtig <strong>in</strong> Mittel- und Südost<strong>europa</strong><br />
nicht zur Verfügung stehe. Weder seien die Parteien des<br />
Ma<strong>in</strong>stream daran <strong>in</strong>teressiert noch bereit, Politiker der Roma als<br />
Mitglieder aufzunehmen oder Roma-Themen <strong>in</strong> ihrem<br />
Parteiprogramm anzusprechen. Alle<strong>in</strong> die Bereitschaft dieser<br />
Parteien, vor den Wahlen Absprachen mit Organisationen oder<br />
Parteien der Roma zu treffen, sei als Durchbruch zu werten. Die<br />
Parteien des Ma<strong>in</strong>stream seien daran <strong>in</strong>teressiert, e<strong>in</strong>en<br />
kalkulierbaren Anteil der Stimmen der ethnischen M<strong>in</strong>derheit für<br />
sich zu gew<strong>in</strong>nen – was die Organisationen der M<strong>in</strong>derheiten<br />
versprechen; das könne e<strong>in</strong>en Machtgew<strong>in</strong>n für die Politiker der<br />
M<strong>in</strong>derheiten bedeuten.<br />
Die Roma-Geme<strong>in</strong>schaften bildeten immer noch nicht e<strong>in</strong><br />
zuverlässiges Wählerpotenzial und <strong>roma</strong>ni Politiker seien noch nicht<br />
so erfolgreich <strong>in</strong> der Mobilisierung möglicher Wähler wie die<br />
Führungen anderer M<strong>in</strong>derheiten, doch allmählich erkenne man die<br />
Politik des Ma<strong>in</strong>stream und der ethnischen Gruppen besser. Wie<br />
der Abgeordnete der Roma aus Bulgarien jedoch bekannte, kann<br />
sich die Roma-M<strong>in</strong>derheit dort bei der Vertretung und Durchsetzung<br />
ihrer Interessen nicht auf andere starke M<strong>in</strong>derheiten – wie<br />
beispielsweise die Türken – verlassen. Die türkische M<strong>in</strong>derheit sei<br />
im Parlament durch ca. zwanzig Abgeordnete vertreten, habe<br />
Leitungsfunktionen <strong>in</strong> verschiedenen M<strong>in</strong>isterien der Regierung und<br />
viele Türken arbeiteten <strong>in</strong> der staatlichen und kommunalen<br />
Verwaltung. Deshalb stelle man Bulgarien häufig als e<strong>in</strong>e Art Modell<br />
für ethnische Politik dar. Vielleicht funktioniere das Modell ja für die<br />
Türken, aber nicht für die Roma-M<strong>in</strong>derheit, bemerkte dazu der<br />
Redner. Dieser Teilnehmer vertrat den Standpunkt, dass die Roma<br />
ihre Rechte und Interessen alle<strong>in</strong> schützen und umsetzen müssten,<br />
<strong>in</strong>dem sie sich als ethnische M<strong>in</strong>derheit politisch engagieren.<br />
Romani Teilnehmer stellten fest, dass e<strong>in</strong>e Analyse der politischen<br />
Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Region seit 1989 zu e<strong>in</strong>igen<br />
<strong>in</strong>teressanten Ergebnissen führe. Erstens seien die Kandidaten der<br />
Roma, die über die Listen ihrer eigenen Organisationen und<br />
Parteien an den nationalen Wahlen teilnähmen, <strong>in</strong> den meisten<br />
Fällen nicht erfolgreich. Diejenigen, die sich den Parteien des<br />
166
ROMA IN EUROPA<br />
Ma<strong>in</strong>stream angeschlossen hätten und dann über deren Listen<br />
kandidierten, hätten eher gesiegt. Zweitens werde die – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Ländern zahlenmäßig starke Wählerschaft der Roma zunehmend<br />
auch für die Parteien des Ma<strong>in</strong>stream <strong>in</strong> ihrer Suche nach<br />
Wählerstimmen <strong>in</strong>teressant. Dies zeige sich deutlich an der<br />
Bereitschaft dieser Parteien, vor den Wahlen Absprachen mit<br />
Organisationen oder Parteien der Roma zu treffen, und die Roma<br />
profitierten davon, da man sich dadurch Sitze <strong>in</strong> gewählten Gremien<br />
und Ämter <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung sichere. Drittens sche<strong>in</strong>e<br />
dieselbe Strategie auch auf kommunaler Ebene zu funktionieren;<br />
Roma-M<strong>in</strong>derheiten würden bei jeder neuen Wahl mehr Sitze <strong>in</strong> den<br />
Geme<strong>in</strong>de- und Stadträten gew<strong>in</strong>nen.<br />
F<strong>in</strong>anzierung für Roma-Projekte<br />
Zahlreiche Roma-Teilnehmer sprachen das Thema der EU-<br />
F<strong>in</strong>anzierung für Roma-Projekte an. Sie äußerten sich besorgt<br />
darüber, dass häufig Mittel, die für diese Gruppen vorgesehen oder<br />
die verfügbar seien, nicht die Zielgruppen erreichten, sondern an<br />
besser <strong>in</strong>formierte und besser organisierte Organisationen flössen<br />
und damit nicht unbed<strong>in</strong>gt zugunsten der Roma-Bevölkerung<br />
e<strong>in</strong>gesetzt würden. Wie es e<strong>in</strong> Teilnehmer der Roma formulierte,<br />
blühe „das ethnische Geschäft“. Es wurde auch darauf<br />
h<strong>in</strong>gewiesen, dass sich die Kritik an der gegenwärtigen<br />
Verwendung der Mittel zur Verbesserung der Lage und<br />
E<strong>in</strong>gliederung der Roma unter den Roma-Organisationen und ihren<br />
führenden Vertretern häufe: Zwar flössen mehr Gelder, aber es<br />
zeige sich ke<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage der Roma; das stelle die<br />
Effektivität der EU-Ausgaben <strong>in</strong> Frage. Die Roma-Vertreter<br />
forderten mehr Transparenz <strong>in</strong> der Verwendung der Mittel, vor allem<br />
bei den Ausgaben der Regierungen. Es sollten nicht nur Ausgaben,<br />
sondern auch Folgewirkungen und Ergebnisse überprüft werden.<br />
Als Reaktion auf diese Forderungen und kritischen Äußerungen<br />
widersprach e<strong>in</strong> Vertreter der Kommission der Behauptung, dass<br />
die f<strong>in</strong>anzierten Projekte ke<strong>in</strong>e Ergebnisse gebracht hätten; die<br />
Ergebnisse seien vielleicht nicht ausreichend, aber man habe<br />
durchaus e<strong>in</strong>ige positive Veränderungen vor Ort bewirkt, stellte er<br />
fest. Es wurde auch angemerkt, dass es e<strong>in</strong>e Frage der Qualität der<br />
Projekte sei; gegenwärtig fehle es an guten Roma-Projekten. Dieser<br />
Redner er<strong>in</strong>nerte die Roma-Teilnehmer daran, dass sie sich nicht<br />
nur auf Förderung und F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten durch die EU<br />
verlassen sollten – das seien nur ergänzende Mittel. Es sei<br />
zunächst e<strong>in</strong>mal Aufgabe des e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedslandes, sich um<br />
167
Andrzej Mirga<br />
die Probleme der Roma-M<strong>in</strong>derheiten zu kümmern und sie zu<br />
lösen.<br />
Trotzdem räumte e<strong>in</strong> MEP e<strong>in</strong>, dass es sich hierbei um e<strong>in</strong><br />
gravierendes Problem handele, um das sich das Europäische<br />
Parlament kümmern sollte. Er gab zu, dass man die Verwendung<br />
der EU-Gelder verbessern und sicher stellen müsse, dass die Mittel<br />
ihre rechtmäßigen Empfänger erreichen und nicht irgendwo <strong>in</strong><br />
Regierungsbüros hängen bleiben. Er sicherte zu, dass sich das<br />
Parlament darum kümmern werde, dass EU-Hilfe für die Roma-<br />
Bevölkerung auch wirklich ihr Ziel erreiche und zur Umsetzung von<br />
Roma-Projekten zur Verfügung stehe. In diesem Zusammenhang<br />
wies der OSZE-Berater für Angelegenheiten der Roma und S<strong>in</strong>ti auf<br />
den Haushaltsausschuss des EP h<strong>in</strong>, der den Haushalt der<br />
Kommission verabschiede; über diesen Weg könne man E<strong>in</strong>fluss<br />
auf die F<strong>in</strong>anzierungspolitik der EU nehmen.<br />
Aussichten für e<strong>in</strong>e Kooperation mit dem Europäischen<br />
Parlament<br />
Als Antwort auf die Forderung der Roma nach engerer<br />
Zusammenarbeit umriss der Sitzungsvorsitzende und Vertreter des<br />
Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des EP die Formen<br />
möglicher geme<strong>in</strong>samer Anstrengungen. Als Erstes wurde<br />
vorgeschlagen, dass diese Art von Treffen mit gewählten und<br />
ernannten Vertretern der Roma zukünftig regelmäßig stattf<strong>in</strong>den<br />
solle – vielleicht e<strong>in</strong>mal pro Jahr. Die Tagesordnung solcher Treffen<br />
solle um die Thematik der Roma <strong>in</strong> den „alten“ Mitgliedsstaaten der<br />
Europäischen Union erweitert werden und nicht nur die der Roma <strong>in</strong><br />
den neuen Mitgliedsstaaten oder Beitrittsländern behandeln. Auch<br />
Vertreter der Roma aus jenen Ländern sollten daran teilnehmen.<br />
Die am Treffen beteiligten Mitglieder des EP versprachen, alles zu<br />
tun, um die Roma-Thematik <strong>in</strong>nerhalb des Europäischen<br />
Parlaments zu unterstützen und zur Diskussion zu stellen. Es<br />
wurden e<strong>in</strong>ige, zu diesem Zweck besonders nützliche Ausschüsse<br />
genannt, nämlich die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten,<br />
Bürgerrechte, Justiz und Inneres, Regionalentwicklung (für<br />
Strukturfonds zuständig) und Haushaltsfragen.<br />
Die Teilnehmer wurden auch daran er<strong>in</strong>nert, dass die<br />
Verhandlungen zum neuen Programmzeitraum der EU-<br />
Strukturfonds 2007 - 2013 gerade erst beg<strong>in</strong>nen würden und<br />
Mitglieder des EP sich nach möglichen besonderen oder<br />
zusätzlichen Maßnahmen für die Roma erkundigen könnten.<br />
168
ROMA IN EUROPA<br />
Offiziell liege die Roma-Thematik nicht im Zuständigkeitsbereich der<br />
EU-Politik; diesbezüglich gebe es auch gegenwärtig ke<strong>in</strong>e<br />
Änderungsvorschläge <strong>in</strong> der neuen EU-Verfassung. Man könne<br />
aber den Standpunkt vertreten, dass die Roma-M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong>e<br />
besondere, mit ke<strong>in</strong>er Gruppe vergleichbare M<strong>in</strong>derheit sei. Das<br />
könne vielleicht e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stieg für Initiativen zugunsten der Roma<br />
se<strong>in</strong>. Es wurde vorgeschlagen, dass die Mitglieder des EP bei der<br />
Formulierung der Bed<strong>in</strong>gungen für den Zeitraum 2007-2013 des<br />
Strukturfonds berücksichtigen sollten, wie man die Roma-<br />
Bevölkerung e<strong>in</strong>beziehen oder sicher stellen könne, dass die<br />
Förderung sie erreiche - vor allem <strong>in</strong> den Regionen, wo Roma unter<br />
den allen wohl bekannten schwierigen Umständen lebten.<br />
Die Mitglieder des EP unterstützten auch den Vorschlag der Roma-<br />
Vertreter, e<strong>in</strong> Gremium e<strong>in</strong>zurichten, <strong>in</strong> dem Vertreter der Roma<br />
und der Brüsseler Institutionen zu Kooperation, Koord<strong>in</strong>ierung und<br />
Dialog sowie zur Orientierung und Überprüfung der EU-weiten<br />
Politik gegenüber den Roma-M<strong>in</strong>derheiten zusammenkommen<br />
könnten. Es sei jedoch Aufgabe der Roma, sich darum zu<br />
kümmern. E<strong>in</strong> solches Gremium könne e<strong>in</strong> Gegenpart für das<br />
Europäische Parlament oder sogar für nationale Parlamente<br />
bilden. 30<br />
30 Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 hat sich e<strong>in</strong>e neue<br />
Möglichkeit ergeben, e<strong>in</strong>e Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen zu realisieren,<br />
die <strong>in</strong> den Diskussionen <strong>in</strong> Brüssel zur Sprache kamen. Livia Jaroka, e<strong>in</strong>e junge Rom<br />
aus Ungarn, wurde über die Parteiliste der Fidesz gewählt. Sie wurde damit die zweite<br />
Abgeordnete der Roma im EP nach Juan de Dios Ramirez-Heredia aus Spanien, der<br />
von 1994 - 1999 im Parlament war. Später wurde dann e<strong>in</strong>e weitere Vertreter<strong>in</strong> der<br />
Roma aus Ungarn, Frau Victoria Mohasci, von der Sozialistischen Partei <strong>in</strong>s<br />
Europäische Parlament gewählt.<br />
169
Claude Cahn<br />
Die Rechte der Roma und die<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />
ROMA IN EUROPA<br />
In diesem Aufsatz 1 geht es um die gegenwärtigen Anstrengungen<br />
zur Umsetzung der <strong>in</strong> den letzten Jahren erheblich erweiterten<br />
gesetzlichen Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsnormen sowohl von Seiten der EU<br />
wie auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e<br />
Untersuchung <strong>in</strong>sbesondere der aktuellen Auswirkungen dieser<br />
Gesetze auf die Inklusion der Roma und die Bekämpfung der<br />
gegenwärtig starken Ressentiments gegen die Roma <strong>in</strong> Europa<br />
sowie der Aussichten für e<strong>in</strong>e wesentliche Verbesserung der<br />
beunruhigenden Lage vieler Roma-Geme<strong>in</strong>schaften aufgrund<br />
solcher Gesetze. Des weiteren geht es um die Notwendigkeit der<br />
Entwicklung zusätzlicher Rechts<strong>in</strong>strumente, d. h. von<br />
Fördermaßnahmen (positive action measures) bzw. von „für<br />
Staaten verb<strong>in</strong>dliche, rechtliche Maßnahmen, die die Inklusion der<br />
Roma gewährleisten“. Zum Schluss werden e<strong>in</strong>ige Überlegungen<br />
darüber angestellt, welche Grenzen – und Chancen – der<br />
gesellschaftlichen Umgestaltung sich mit der Gesetzgebung<br />
ergeben, vor allem <strong>in</strong> der schwierigen Frage des Rassismus.<br />
Umsetzung der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />
Im Rahmen se<strong>in</strong>er Arbeit beschäftigt sich das Europäische Zentrum<br />
für die Rechte der Roma (ERRC) sehr <strong>in</strong>tensiv mit der Förderung<br />
der Interessenvertreter der Roma; <strong>in</strong> diesem Zusammenhang hatte<br />
ich kürzlich e<strong>in</strong> Erlebnis, dass mir wieder e<strong>in</strong>mal die aktuelle Lage <strong>in</strong><br />
den meisten der Länder, <strong>in</strong> denen das ERRC arbeitet, mit aller<br />
Macht vor Augen führte. Wir sollten vor e<strong>in</strong>er Gruppe von Vertretern<br />
der Roma aus unterschiedlichen Ländern des früheren Jugoslawien<br />
anlässlich e<strong>in</strong>er Schulungsmaßnahme <strong>in</strong> Ohrid, Mazedonien,<br />
referieren, die im Herbst 2004 vom schwedischen Hels<strong>in</strong>ki-<br />
Committee veranstaltet wurde. Nach e<strong>in</strong>igem Nachdenken<br />
entschloss ich mich, kurz e<strong>in</strong>ige der Fälle anzusprechen, die wir<br />
und andere Anwälte im Laufe des Jahres 2004 im Rahmen des<br />
gerade verabschiedeten Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzes <strong>in</strong> Bulgarien<br />
gewonnen hatten.<br />
1 Stand: 30. Mai 2005<br />
171
Claude Cahn<br />
Bei den betreffenden Fällen – damals gab es fünf Siege vor Gericht,<br />
<strong>in</strong>zwischen ist ihre Zahl weiter gestiegen – g<strong>in</strong>g es um für e<strong>in</strong>ige<br />
von uns sicherlich banale D<strong>in</strong>ge. In e<strong>in</strong>em Fall wurde e<strong>in</strong>e Romani<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geschäft für Unterwäsche <strong>in</strong> Sofia nicht bedient. In e<strong>in</strong>em<br />
anderen wurde e<strong>in</strong>em Rom e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stellungsgespräch verweigert,<br />
nachdem er am Telefon dem zukünftigen Arbeitgeber gesagt hatte,<br />
er sei „Zigeuner“ und gefragt hatte, ob das se<strong>in</strong>e Aussichten auf<br />
den Arbeitsplatz bee<strong>in</strong>trächtigen könne. In den anderen Fällen g<strong>in</strong>g<br />
es um die Stromversorgung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von Roma bewohnten<br />
Stadtbezirk Sofias namens Fakulteta. In e<strong>in</strong>em Fall hatte der<br />
Stromversorger allen Anwohnern des Stadtbezirks den Strom<br />
gesperrt, weil e<strong>in</strong>ige der Verbraucher nicht gezahlt hatten. In zwei<br />
Fällen hatte das Versorgungsunternehmen - alle<strong>in</strong> aufgrund der<br />
<strong>roma</strong>ni Herkunft des Kunden - beschlossen, den Stromzähler für die<br />
Wohnung auf e<strong>in</strong>en neun Meter hohen Mast zu <strong>in</strong>stallieren mit dem<br />
Argument, dass der Verbraucher sonst das Gerät manipulieren<br />
würde.<br />
In allen fünf Fallen entschieden die bulgarischen Gerichte, dass die<br />
beklagten Personen oder Unternehmen den<br />
Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt hatten. Sie verurteilten die<br />
Beklagten, die diese ungesetzlichen Handlungen begangen hatten,<br />
zur Zahlung von Entschädigungen an die betreffenden Opfer<br />
aufseiten der Roma.<br />
Noch während ich diese Fälle den ungefähr 25 versammelten<br />
Vertretern der Roma aus dem früheren Jugoslawien vortrug,<br />
machte sich e<strong>in</strong>e merkwürdige Stille im Raum bemerkbar. Ich<br />
übertreibe nicht mit der Feststellung, dass e<strong>in</strong>em oder zweien von<br />
ihnen der Mund offen stehen blieb. Nach dem Vortrag gab es e<strong>in</strong>en<br />
Ansturm an Fragen: Wer hatte die Fälle vor Gericht gebracht? Wie?<br />
Was war passiert, nachdem die Gerichtsurteile ergangen waren?<br />
Die Vorstellung, dass e<strong>in</strong> Rom e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierungsklage gegen<br />
e<strong>in</strong>en Täter, der nicht zu den Roma gehörte, gew<strong>in</strong>nen konnte,<br />
schien den versammelten Roma-Vertretern e<strong>in</strong>fach deshalb an e<strong>in</strong><br />
Wunder zu grenzen, weil es sich dabei zwar um Banalitäten<br />
handelte, aber ke<strong>in</strong>er von ihnen jemals von etwas Ähnlichem<br />
irgendwo sonst gehört hatte. Die bloße Tatsache e<strong>in</strong>er Bestrafung<br />
der Diskrim<strong>in</strong>ierung – von der Art, die Roma tagtäglich überall <strong>in</strong><br />
Europa erleben – schien bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach außerhalb ihrer<br />
Vorstellungskraft zu liegen.<br />
Paradox war an den vor dem Jahr 2000 bestehenden<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsregelungen vor allem, dass sich mit Ausnahme<br />
172
ROMA IN EUROPA<br />
e<strong>in</strong>iger nordeuropäischer Länder wie z. B. des Vere<strong>in</strong>igten<br />
Königreichs, der Niederlande, Irlands und Schwedens die<br />
Verfassungen der meisten europäischen Länder zwar dem hehren<br />
Ideal der Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung deklaratorisch verpflichteten, aber die<br />
meisten Rechtsordnungen entweder gar ke<strong>in</strong>e Regelungen zur<br />
Sanktionierung e<strong>in</strong>es Täters und Entschädigung für das Opfer<br />
enthielten, oder wenn es solche gab, diese außerordentlich<br />
unzulänglich waren. In e<strong>in</strong>igen Fällen musste man die h<strong>in</strong>tersten<br />
Ecken der Gesetze durchforsten, um Implementierungsvorschriften<br />
zu f<strong>in</strong>den. Solche Verfahren waren üblicherweise nicht nur den<br />
Laien, sondern auch den Mitgliedern des Anwaltstandes<br />
vollkommen unbekannt. In anderen Fällen war Diskrim<strong>in</strong>ierung zwar<br />
im Rahmen der Implementierungsgesetzgebung verboten – aber<br />
nur als strafrechtlich relevanter Tatbestand, für den die Vorschriften<br />
bei Zuwiderhandlung u. a. auch Gefängnisstrafen vorsahen. In<br />
jenen Ländern, die Diskrim<strong>in</strong>ierung strafrechtlich verbieten, ist es<br />
zwar allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass Diskrim<strong>in</strong>ierung gegen das Gesetz<br />
verstößt, aber das Vergehen wird nie geahndet, da die Vorstellung,<br />
e<strong>in</strong>en Wirt dafür <strong>in</strong>s Gefängnis zu schicken, dass er e<strong>in</strong>em Zigeuner<br />
e<strong>in</strong> Bier verweigert, <strong>in</strong> den meisten, wenn nicht allen Fällen, e<strong>in</strong>fach<br />
absurd ersche<strong>in</strong>t.<br />
Diese paradoxe Situation hat <strong>in</strong> vielen Gesellschaften fatale<br />
Wirkungen gehabt. E<strong>in</strong>erseits unterstützt es verachtete<br />
M<strong>in</strong>derheiten wie die Roma und andere Diskrim<strong>in</strong>ierungsopfer <strong>in</strong><br />
den meisten Ländern Kont<strong>in</strong>ental<strong>europa</strong>s <strong>in</strong> ihrer Me<strong>in</strong>ung, dass<br />
ihre Gesellschaften im Grunde zutiefst heuchlerisch handeln: Zwar<br />
wird auf höchster Ebene der Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung Tribut gezollt,<br />
aber gleichzeitig unterstützen die Regierungen ihrer Länder<br />
praktisch e<strong>in</strong> System, <strong>in</strong> dem Diskrim<strong>in</strong>ierung une<strong>in</strong>geschränkt<br />
geduldet wird. Dabei lassen sich die privilegierten Mitglieder der<br />
Nicht-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der Gesellschaft durch die Vorstellung<br />
beruhigen, dass ihre Gesellschaft nicht nur gerecht, sondern<br />
irgendwie fast ohne Tadel ist, weil das Gesetz besagt, dass ke<strong>in</strong>e<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung möglich ist und weil niemand dafür bestraft wird.<br />
Abgesehen von der fundamentalen Ungerechtigkeit, die daraus für<br />
Tausende von Menschen <strong>in</strong> Europa tagtäglich entsteht, schreibt die<br />
bestehende Ordnung den sozialen Konflikt fest, ja sie verstärkt ihn<br />
noch, wenn zu Parias gewordene M<strong>in</strong>derheiten aufgrund<br />
regelmäßiger Benachteiligung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand tiefster<br />
Entfremdung fallen – voller Skepsis, ob ihnen jemals e<strong>in</strong> gutes<br />
Leben <strong>in</strong> ihren eigenen Gesellschaften offen stehen wird.<br />
173
Claude Cahn<br />
Die Ausbreitung der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung <strong>in</strong><br />
Europa<br />
Offensichtlich aus der Überzeugung heraus, dass der oben<br />
beschriebene Zustand unhaltbar war, ergriffen sowohl der<br />
Europarat wie auch die Europäische Union im Jahr 2000<br />
Maßnahmen, die allmählich die Gesellschaften Europas zu<br />
verändern beg<strong>in</strong>nen, wenn auch nicht so schnell, wie e<strong>in</strong>ige es<br />
gehofft hatten. Im Juni 2000 verabschiedete die Europäische Union<br />
die Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000 des Rates zur „Verwirklichung des<br />
Grundsatzes der Gleichbehandlung bei Personen ohne Unterschied<br />
der Rasse oder ethnischen Herkunft“. Im November 2000 machte<br />
der Europarat das Protokoll 12 zur Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention unterschriftsreif. Beides war der<br />
Schlusspunkt unter e<strong>in</strong>em Jahrzehnt der Entwicklungen sowohl<br />
<strong>in</strong>nerhalb dieser Institutionen wie auch auf der Ebene nationaler<br />
Regierungen und der Zivilgesellschaft, die dem alarmierenden<br />
Wiederaufflammen e<strong>in</strong>es hässlichen Rassismus <strong>in</strong> Europa<br />
begegnen wollten, <strong>in</strong>dem sie wesentliche Defizite der europäischen<br />
Rechtsordnungen korrigierten.<br />
Das Protokoll 12 erweitert das Diskrim<strong>in</strong>ierungsverbot im Rahmen<br />
der Europäischen Konvention (d.h. <strong>in</strong> allen Mitgliedsstaaten des<br />
Europarates) so, dass die Realisierung jedes gesetzlich<br />
geschützten Rechtes e<strong>in</strong>geschlossen ist. Das bestehende Verbot<br />
im Rahmen des Artikels 14 der Europäischen Konvention bezieht<br />
sich nur auf die Verwirklichung der <strong>in</strong> der Europäischen Konvention<br />
selber aufgeführten Rechte. Als es unterschriftsreif war,<br />
unterzeichneten 25 Länder das Protokoll 12, das bisher von 11<br />
Ländern ratifiziert wurde. Es trat am 1. April 2005 <strong>in</strong> Kraft.<br />
Von vielleicht noch größerer Wirkung war die Verabschiedung der<br />
EU-Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000, e<strong>in</strong>em Dokument, das wir <strong>in</strong>zwischen<br />
üblicherweise als „Anti-Rassismusrichtl<strong>in</strong>ie“ oder<br />
„Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie“ bezeichnen. Richtl<strong>in</strong>ien s<strong>in</strong>d für die<br />
Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich und müssen <strong>in</strong><br />
nationale Gesetzgebung übernommen werden. E<strong>in</strong>e Übernahme<br />
wird auch von allen Beitrittskandidaten gefordert. Die Anti-<br />
Rassismusrichtl<strong>in</strong>ie beschreibt ausführlich die Bed<strong>in</strong>gungen für den<br />
Schutz, der allen Personen gewährt werden soll. Dabei geht es u.<br />
a.um Folgendes:<br />
• In zahlreichen Bereichen, u. a. bei Beschäftigung, Bildung und<br />
Ausbildung sowie bei Gesundheitsversorgung,<br />
174
ROMA IN EUROPA<br />
Wohnungswesen, Sozialdienste und –leistungen darf es ke<strong>in</strong>e<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung geben.<br />
• Das Verbot muss sich sowohl auf e<strong>in</strong>e „unmittelbare“ wie<br />
„mittelbare“ Diskrim<strong>in</strong>ierung erstrecken. Nach der Richtl<strong>in</strong>ie<br />
„liegt e<strong>in</strong>e unmittelbare Diskrim<strong>in</strong>ierung vor, wenn e<strong>in</strong>e Person<br />
aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
vergleichbaren Situation e<strong>in</strong>e weniger günstige Behandlung als<br />
e<strong>in</strong>e andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“<br />
„E<strong>in</strong>e mittelbare Diskrim<strong>in</strong>ierung“ ist nach der Richtl<strong>in</strong>ie<br />
verboten und liegt vor, „wenn dem Ansche<strong>in</strong> nach neutrale<br />
Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die e<strong>in</strong>er<br />
Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, <strong>in</strong> besonderer<br />
Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden<br />
Vorschriften, Kriterien oder Verfahren s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong><br />
rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel s<strong>in</strong>d zur<br />
Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“.<br />
• Wenn im Streitfall e<strong>in</strong>e Partei Tatsachen glaubhaft machen<br />
kann, die e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung vermuten lassen, obliegt die<br />
Beweislast dem mutmaßlichen Täter, der beweisen muss,<br />
dass ke<strong>in</strong>e Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />
vorgelegen hat. (Gerade diese Vorschrift beseitigt e<strong>in</strong>es der<br />
zentralen Ärgernisse <strong>in</strong> jedem Streitfall zur<br />
Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, nämlich der Anforderung, dass das<br />
mutmaßliche Opfer den Schaden nach hohen<br />
Beweisstandards glaubhaft machen muss, selbst wenn sich<br />
e<strong>in</strong> Großteil, wenn nicht alle Beweise für die Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
im Besitz des Täters bef<strong>in</strong>den).<br />
• Die Gesetzgebung muss Sanktionen vorsehen, die „wirksam,<br />
verhältnismäßig und abschreckend“ s<strong>in</strong>d. Es kann sich dabei<br />
auch um Geldbußen handeln.<br />
Die Richtl<strong>in</strong>ie sieht e<strong>in</strong>e Anzahl weiterer Vorschriften vor, u. a. dass<br />
Mitgliedsstaaten „e<strong>in</strong>e oder mehrere Stellen bezeichnen, deren<br />
Aufgabe dar<strong>in</strong> besteht, die Verwirklichung des Grundsatzes der<br />
Gleichbehandlung aller Personen ohne Diskrim<strong>in</strong>ierung aufgrund<br />
der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu fördern“.<br />
Die Union legte den endgültigen Term<strong>in</strong> für die Übernahme der<br />
Richtl<strong>in</strong>ie durch die EU-Mitgliedsstaaten auf Juli 2003 fest. Für<br />
Staaten, die der Europäischen Union im Mai 2004 beigetreten s<strong>in</strong>d,<br />
wurde der Stichtag auf den Beitrittsterm<strong>in</strong> gelegt, aber die Union hat<br />
175
Claude Cahn<br />
Bulgarien und Rumänien aktiv ermuntert, umfassende<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze schon vor dem Beitritt zu<br />
verabschieden und wird wahrsche<strong>in</strong>lich auch bei den folgenden<br />
Beitrittskandidaten ähnlich verfahren. Tatsächlich haben Bulgarien<br />
und Rumänien schon e<strong>in</strong>ige Zeit vor dem Beitritt zur EU<br />
entsprechende Gesetze verabschiedet – und Rumänien hat <strong>in</strong> der<br />
Zwischenzeit se<strong>in</strong>e Gesetze schon e<strong>in</strong>ige Male durch Änderungen<br />
verschärft. E<strong>in</strong>ige Mitgliedsstaaten der EU, z. B. die Tschechische<br />
Republik, Polen, F<strong>in</strong>nland, Deutschland und Griechenland, haben<br />
es bisher noch nicht oder nur teilweise geschafft, die Richtl<strong>in</strong>ie <strong>in</strong><br />
nationales Gesetz zu übernehmen, sodass die Europäische<br />
Kommission <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> Verfahren wegen Vertragsverletzung<br />
gegen sie e<strong>in</strong>geleitet hat. Das könnte letzten Endes zu Sanktionen<br />
führen, die die Kommission verhängt, falls der Europäische<br />
Gerichtshof <strong>in</strong> Luxemburg dies für angemessen hält. Andere<br />
Länder, die e<strong>in</strong>e EU-Mitgliedschaft anstreben wie z. B. Mazedonien,<br />
haben noch ke<strong>in</strong>e ernsthafte Debatte über das Thema angestoßen;<br />
Me<strong>in</strong>ungen wie „<strong>in</strong> Mazedonien gibt es ke<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung“ oder<br />
„die Verfassung verbietet Diskrim<strong>in</strong>ierung und das reicht“ herrschen<br />
noch immer vor. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Positionen<br />
schnell aufgegeben werden, sobald die EU ihre Anforderungen<br />
bekannt macht und die Unzulänglichkeit der bestehenden<br />
Rechtsvorschriften sichtbar wird.<br />
Es lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau sagen, wie sich<br />
diese Gesetze auf jene europäischen Gesellschaften auswirken<br />
werden, die bisher noch ke<strong>in</strong>e Erfahrung mit der Anwendung von<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen haben. In e<strong>in</strong>igen Ländern s<strong>in</strong>d die<br />
ersten Entwicklungen deprimierend. Z. B. hat Ungarn zwar im<br />
Dezember 2003 e<strong>in</strong>e umfangreiche<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung verabschiedet - offensichtlich,<br />
um der EU-Richtl<strong>in</strong>ie Genüge zu tun. Aber bis zum Tag der<br />
Niederschrift des Beitrags ist es dem Land nicht gelungen, die vom<br />
Gesetz vorgesehene Gleichbehandlungskommission e<strong>in</strong>zurichten,<br />
sodass die Umsetzung nur langsam vonstatten g<strong>in</strong>g. In e<strong>in</strong>em der<br />
ersten Fälle, die im Rahmen des Gesetzes zur Verhandlung<br />
anstanden – bei dem es nicht um Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, sondern<br />
um e<strong>in</strong>en Fall g<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e katholische Universität e<strong>in</strong>em<br />
Studenten e<strong>in</strong> Diplom verweigert hatte, weil er homosexuell war –<br />
kam e<strong>in</strong> Gericht der ersten Instanz zu dem schockierenden<br />
Ergebnis, dass es sich dabei nicht um Diskrim<strong>in</strong>ierung gehandelt<br />
habe. Auf verschiedenen Konferenzen mit Mitgliedern des<br />
ungarischen Richterstandes zeigte sich, dass viele Vertreter des<br />
Rechts <strong>in</strong> Ungarn erhebliche Bedenken gegen die Anwendung des<br />
176
ROMA IN EUROPA<br />
Gesetzes hegten. Probleme <strong>in</strong> der Umsetzung zeigten sich auch <strong>in</strong><br />
Rumänien.<br />
Aus genau diesem Grunde ist der stete Fluss positiver<br />
Gerichtsurteile aus Bulgarien so begrüßenswert. Trotz e<strong>in</strong>iger von<br />
den bulgarischen Gesetzgebern und Rechtsexperten vorgebrachten<br />
Argumente, dass die (damals) vorgeschlagenen Vorschriften<br />
unangemessen seien (hauptsächlich aufgrund der falschen<br />
Vorstellung, dass Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung e<strong>in</strong> den kont<strong>in</strong>entalen<br />
Rechtssystemen fremdes Element darstelle und deshalb auch nicht<br />
dar<strong>in</strong> verankert werden könne), haben es bulgarische Gerichte mit<br />
Leichtigkeit geschafft, <strong>in</strong> den meisten, wenn nicht allen der<br />
e<strong>in</strong>gebrachten Fälle Gerechtigkeit herzustellen. Die oben<br />
beschriebenen Urteile bestanden meistens aus e<strong>in</strong>er Geldstrafe für<br />
den Täter und Schadensersatz für die Opfer. Diese Gerichtsurteile<br />
gehen als Höhepunkte der europäischen Rechtsprechung bei<br />
Rassendiskrim<strong>in</strong>ierungsfällen <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong> – ebenso wie<br />
das Urteil e<strong>in</strong>es irischen Gerichts, das e<strong>in</strong>en Kneipenwirt für<br />
„moralisch ungeeignet“ zur Führung e<strong>in</strong>er Bar bezeichnete, weil er<br />
fahrendes Volk diskrim<strong>in</strong>ierte, sowie das schwedische Urteil, das<br />
Ladenbesitzern das Recht absprach, Frauen der Roma <strong>in</strong><br />
traditionellen langen Röcken des Ladens zu verweisen, nur weil sie<br />
Angst haben, dass die Frauen darunter gestohlene Ware<br />
verstecken könnten.<br />
Diese Urteile haben nicht nur e<strong>in</strong>e Wirkung auf die Opfer, die<br />
gerecht entschädigt werden und auf die Täter, die bestraft werden.<br />
Die Öffentlichkeit erfährt dadurch außerdem, dass Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
nicht nur grundsätzlich schlecht ist, sondern dass auch die<br />
Merkmale der verbotenen Handlungen klar festgelegt s<strong>in</strong>d und man<br />
zur Rechenschaft gezogen wird, sobald man gegen die Regeln<br />
verstößt. Viele Beobachter haben schon feststellen können, dass im<br />
Laufe der Zeit e<strong>in</strong>e umfassende Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />
– vor allem wenn sie gut umgesetzt wird – e<strong>in</strong> Anstoß se<strong>in</strong> kann für<br />
die wichtige Debatte über die Rolle der Rassengleichheit <strong>in</strong> der<br />
Gesellschaft und über die Grenzen der zumutbaren Behandlung<br />
anderer Menschen. So gesehen können diese Gesetze sehr viel<br />
stärker aufklärend wirken als Programme oder Sem<strong>in</strong>are zum<br />
„Toleranztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g“ oder ähnliche Maßnahmen.<br />
Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass<br />
solche Gesetze und Urteile, <strong>in</strong> denen sie sich widerspiegeln, den<br />
mutigen und ehrgeizigen Mitgliedern der Paria-M<strong>in</strong>derheit Kraft<br />
geben, sich vehement für die Inklusion e<strong>in</strong>zusetzen und sich der<br />
Behandlung rassischer Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> den Weg zu stellen, die<br />
177
Claude Cahn<br />
gegenwärtig so unbekümmert und gedankenlos als Norm im Leben<br />
europäischer Gesellschaften praktiziert wird. Sie stärken damit das<br />
Element der Gerechtigkeit <strong>in</strong> den europäischen Gesellschaften und<br />
kratzen am falschen Bild des „untadeligen Verhaltens“ unter den<br />
selbstgefälligeren von ihnen. Gleichzeitig fühlen sich dadurch jene<br />
unangenehm berührt, die sich an e<strong>in</strong>e überzogene Vorstellung<br />
kollektiver Unschuld gewöhnt haben; dieses Unbehagen ist aber<br />
durchaus von Vorteil - ebenso wie die Herstellung von Gerechtigkeit<br />
für die gesamte Gesellschaft von Nutzen ist.<br />
Jenseits der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung: für die<br />
Staaten verb<strong>in</strong>dliche, rechtliche Maßnahmen zur gesicherten<br />
Inklusion der Roma<br />
Aber natürlich ist e<strong>in</strong>e umfassende<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den EU-<br />
Standards nicht das Allheilmittel. Es geht dabei nicht so sehr<br />
darum, dass die oben beschriebenen gesetzlichen<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsvorschriften nicht notwendig s<strong>in</strong>d. Tatsächlich<br />
wirken sie wie Wasser <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er endlosen Wüste für viele – z. B. die<br />
Roma-Vertreter <strong>in</strong> Ohrid -, denen es zunächst um Möglichkeiten<br />
geht, die jahrhundertelange tagtägliche Ungerechtigkeit<br />
e<strong>in</strong>zudämmen und rückgängig zu machen. Vielmehr beschäftigt<br />
jene, die sich mit Fragen der Rechte der Roma ause<strong>in</strong>ander setzen,<br />
e<strong>in</strong> anderes Problem häufig sehr viel mehr: Reichen diese Gesetze<br />
aus, um die Lage wirklich langfristig zu ändern nicht nur für Roma,<br />
die tagtäglich e<strong>in</strong>er demütigenden Behandlung ausgesetzt werden,<br />
weil sie von Nicht-Roma als „Zigeuner“ wahrgenommen werden,<br />
sondern können damit auch die vielen extrem marg<strong>in</strong>alisierten<br />
Roma, die sich <strong>in</strong> unterschiedlichen Stadien langfristiger sozialer<br />
Ausgrenzung und Armut – praktisch über Generationen – bef<strong>in</strong>den,<br />
damit aus dieser Lage befreit und unter Achtung ihrer Würde <strong>in</strong> die<br />
Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert werden?<br />
Es gibt <strong>in</strong> der Slowakei – aber nicht nur dort – e<strong>in</strong>ige Hundert<br />
außerordentlich heruntergekommene Slumsiedlungen der Roma.<br />
Sie zeichnen sich durch extreme Verwahrlosung aus. Es fehlen für<br />
gewöhnlich e<strong>in</strong>e oder mehrere der folgenden<br />
Versorgungsleistungen: Strom, Heizung, Versorgung mit<br />
Tr<strong>in</strong>kwasser, Abwasser- und/oder Müllentsorgung,<br />
Straßenbeleuchtung, Fußgängerwege, gepflasterte Straßen und<br />
E<strong>in</strong>beziehung <strong>in</strong> die öffentlichen Verkehrssysteme. Sie bef<strong>in</strong>den<br />
sich außerdem häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>iger Entfernung von Schulen,<br />
Krankenhäusern und kommunalen oder anderen öffentlichen<br />
178
ROMA IN EUROPA<br />
Behörden. Die Nichtzustellung der Post hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen dazu<br />
geführt, dass die Bewohner solcher Siedlungen nicht rechtzeitig vor<br />
Gericht erschienen, nicht erfuhren, dass sie e<strong>in</strong> Stipendium<br />
gewonnen hatten oder ganz e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Nachricht von ihnen<br />
nahestehenden Personen erhielten. E<strong>in</strong>ige, wie die Siedlung<br />
Patoracka <strong>in</strong> der Nähe von Rudn’any, s<strong>in</strong>d extrem gefährlich;<br />
Patoracka bef<strong>in</strong>det sich am Ende e<strong>in</strong>er ehemaligen<br />
Quecksilberm<strong>in</strong>e.<br />
Worum es <strong>in</strong> den slowakischen Siedlungen geht, ist aber nicht nur<br />
e<strong>in</strong>e vorübergehende materielle Verelendung. Die Lage kompliziert<br />
sich zudem durch extreme Ressentiments der nicht-<strong>roma</strong>ni<br />
Slowaken gegen die Roma und durch e<strong>in</strong>en Grad der Verzweiflung<br />
und Verwahrlosung, der so extrem ist, dass es im Februar 2004 zu<br />
Aufständen der Roma kam. Die Unruhen wurden durch Änderungen<br />
im Sozialhilfegesetz ausgelöst, die e<strong>in</strong>e weitere Senkung der<br />
sowieso schon niedrigen Sozialleistungen vorsahen, ohne ernsthaft<br />
andere E<strong>in</strong>kommensmöglichkeiten <strong>in</strong> Aussicht zu stellen. Nach den<br />
Unruhen schrieb Ingrid Antalova, Leiter<strong>in</strong> der<br />
Nichtregierungsorganisation Milan-Simecka-Stiftung mit Sitz <strong>in</strong><br />
Bratislava, folgenden Artikel <strong>in</strong> der slowakischen Tageszeitung<br />
SME. Ich zitiere hier ausführlich aus ihrem Artikel, um e<strong>in</strong> Gefühl<br />
von den Problemen zu vermitteln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft zutage<br />
treten, <strong>in</strong> der sich diese Probleme verhärtet haben und wo sich<br />
Menschen guten Willens, die sich mit den Rechten der Roma<br />
beschäftigen, fragen, ob das gerade erlassene<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetz der Slowakei wirklich alle auftretenden<br />
Probleme bewältigen kann:<br />
Die Plünderungen und Unruhen <strong>in</strong> den Siedlungen waren<br />
e<strong>in</strong> Ausdruck der Wut. Jetzt folgen Hoffnungslosigkeit,<br />
Verzweiflung und Hunger. Schon seit geraumer Zeit ist<br />
Hunger e<strong>in</strong> ständiges Problem <strong>in</strong> den Roma-Siedlungen.<br />
Selbst jene Familien, denen es bisher trotz ihrer<br />
Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung gelang, ihre<br />
Mittel so aufzuteilen, dass sie den ganzen Monat zu essen<br />
hatten, bef<strong>in</strong>den sich jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ernsten f<strong>in</strong>anziellen<br />
Notlage.<br />
Ich telefonierte mit e<strong>in</strong>igen me<strong>in</strong>er Freunde <strong>in</strong> den Roma-<br />
Siedlungen, e<strong>in</strong>er jungen Familie mit drei K<strong>in</strong>dern. Diese<br />
Familie erhielt bisher 10.500 slowakische Kronen im Monat<br />
und war die e<strong>in</strong>zige Familie <strong>in</strong> der Siedlung (mit Ausnahme<br />
der wucherischen Geldverleiher), der es gelang, jeden<br />
Monat 3.000 Kronen auf die Bank zu br<strong>in</strong>gen. Sie sparten<br />
179
Claude Cahn<br />
180<br />
für e<strong>in</strong>en neuen Schrank und e<strong>in</strong> neues Bett für e<strong>in</strong> seit<br />
Langem versprochenes neues Haus. Natürlich wird es ke<strong>in</strong><br />
neues Haus geben. Man hätte vor zwei Jahren mit dem<br />
Bau beg<strong>in</strong>nen sollen, kam aber nie über e<strong>in</strong>ige<br />
Versprechungen und Landvermessungen h<strong>in</strong>aus. Es gab<br />
ke<strong>in</strong> Geld für das Projekt und im darauf folgenden Jahr<br />
konnten die Mittel nicht mehr e<strong>in</strong>gesetzt werden, da das<br />
Baum<strong>in</strong>isterium irgendwie „vergessen“ hatte, sie im<br />
nächsten Haushalt e<strong>in</strong>zustellen. Mit Unterstützung unserer<br />
Sozialarbeiter war es der Familie gelungen, ihren Sohn <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er „normalen“ (d.h. weißen) Schule unterzubr<strong>in</strong>gen. Im<br />
selben Jahr fand die Mutter e<strong>in</strong>e verantwortungsvolle<br />
Tätigkeit, <strong>in</strong>dem sie die Erstklässler morgens abholte, zur<br />
Schule brachte und dem Lehrer beim Unterricht half. Aber<br />
jetzt werden sie ke<strong>in</strong> Geld mehr sparen: Nach den<br />
Änderungen erhalten sie nur noch 4.700 slowakische<br />
Kronen im Monat und müssen deshalb auf ihre Ersparnisse<br />
zurückgreifen, um genug zum Leben zu haben. Der Sohn<br />
geht auf die weiße Schule und muss adrett gekleidet se<strong>in</strong>;<br />
dafür wird er Unterstützung brauchen. Der Vater bereitet<br />
sich gerade auf se<strong>in</strong>e Abreise <strong>in</strong> die Tschechische Republik<br />
vor, um dort zu arbeiten.<br />
E<strong>in</strong>e weitere Familie ist nicht e<strong>in</strong> solcher „Modellfall“. Es<br />
gibt zehn K<strong>in</strong>der und bisher erhielt die Familie monatlich<br />
20.000 Kronen. Selbst das reichte nie. Wenn alle K<strong>in</strong>der<br />
schon zehn Tage vor der Auszahlung der nächsten<br />
Sozialhilfe Hunger litten, waren die Kredithaie nur zu gern<br />
bereit zu „helfen“. Obwohl sie wirklich zu denen gehörten,<br />
die am schlimmsten dran waren, konnten wir sie<br />
überreden, den ältesten Sohn zur Schule zu schicken. Jetzt<br />
erhalten sich nur noch 9.000 Kronen im Monat. Ihre erste<br />
Sparmaßnahme wird dar<strong>in</strong> bestehen, den ältesten Sohn<br />
von der Schule zu nehmen. Das Stipendium unserer<br />
Stiftung reicht nicht, um alle se<strong>in</strong>e Ausgaben zu f<strong>in</strong>anzieren<br />
und er kann (und will) nicht das Familiene<strong>in</strong>kommen weiter<br />
belasten. Jedes Familienmitglied erhält 750 Kronen<br />
monatlich. Kann man davon leben?<br />
Unterstützungsleistungen, die für den Arbeitsmarkt<br />
qualifizieren sollen, br<strong>in</strong>gen weitere 200 Kronen pro Kopf.<br />
Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei die Tatsache,<br />
dass die Familie für ihre Lehmhütte noch nicht e<strong>in</strong>mal Miete<br />
zahlen muss und auch nicht für das Wasser aus dem Fluss<br />
zum Tr<strong>in</strong>ken zahlt.
ROMA IN EUROPA<br />
Wir haben gerade u. a. e<strong>in</strong> Stipendienprojekt für K<strong>in</strong>der aus<br />
benachteiligten Familien laufen. Ich will gar nicht wissen,<br />
wie viele K<strong>in</strong>der nach diesen Änderungen der Sozialhilfe<br />
nicht mehr zur Schule gehen werden. Warum machen wir<br />
ke<strong>in</strong>e Unterschiede <strong>in</strong> diesen Fällen? Warum helfen wir<br />
nicht jenen Familien, die sich wirklich bemühen und ihre<br />
K<strong>in</strong>der tatsächlich zur Schule schicken? Die neue Reform<br />
wird diese Eltern genauso treffen wie jene, die sich gar<br />
nicht um ihre K<strong>in</strong>der kümmern, die noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />
wissen, wie viele K<strong>in</strong>der sie haben. Es soll hier ke<strong>in</strong>eswegs<br />
verheimlicht werden, dass es auch solche Familien gibt.<br />
Ich bezweifele nicht, dass die Reform (des<br />
Sozialhilfegesetzes) kommen musste. Die Reform war<br />
nötig, sie hätte früher kommen und schon seit Langem<br />
umgesetzt werden sollen. Eben weil die Reform nicht vor<br />
Jahren angepackt wurde, haben wir – das heißt der Staat –<br />
diese Familien noch abhängiger von Sozialleistungen<br />
gemacht. Durch die neue Reform wirkt diese plötzliche<br />
„Therapie“ wie e<strong>in</strong> Schock und hat zu sehr traurigen<br />
Ergebnissen geführt. Die Lehrer <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en Dörfern<br />
wissen, wie hungrige K<strong>in</strong>der aussehen: die Art und Weise,<br />
wie sie auf alles <strong>in</strong> ihren Händen herumknabbern; ihr<br />
aggressives Verhalten; ihre fehlende<br />
Konzentrationsfähigkeit. Nunmehr werden diese K<strong>in</strong>der<br />
nicht mehr nur e<strong>in</strong>ige Tage hungrig se<strong>in</strong>, sondern e<strong>in</strong>e<br />
ganze Woche lang, bis wieder Sozialhilfe ausgezahlt wird.<br />
Die extremen Verhältnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen der ostslowakischen<br />
Siedlungen der Roma – Orte wie Hermanovce, Letanovce, Sv<strong>in</strong>ia<br />
und Jarovnice – veranlassten die Europäische Union nach e<strong>in</strong>em<br />
Besuch des damaligen Kommissars für die Erweiterung Günther<br />
Verheugen im Jahr 1999 dazu, die Mittel für Infrastruktur <strong>in</strong> den<br />
slowakischen Siedlungen der Roma im Rahmen des Phare-<br />
Programms für Beitrittsländer erheblich aufzustocken. Das erste<br />
größere Projekt für Roma-Siedlungen <strong>in</strong> der Slowakei wurde <strong>in</strong> das<br />
Phare-Programm für 2001 aufgenommen. In der ersten Phase sah<br />
Phare 2001 sowohl Infrastrukturmaßnahmen <strong>in</strong> den Roma-<br />
Kommunen wie auch Leistungen für die angrenzenden Standorte<br />
der Nicht-Roma <strong>in</strong> 30 Geme<strong>in</strong>den der Slowakei vor. Phare 2001<br />
plante dafür 10 Millionen Euro als EU-Beitrag e<strong>in</strong>, der durch 8<br />
Millionen Euro des slowakischen Staates aufgestockt werden sollte.<br />
Das war e<strong>in</strong>e der größten Zuwendungen für Roma-spezifische<br />
Projekte, die es bislang jemals irgendwo gegeben hat.<br />
181
Claude Cahn<br />
Nach Auskunft der EU-Vertretung <strong>in</strong> Bratislava wurden die<br />
Auswirkungen des 2001-Programms von Phare bis zum frühen<br />
Dezember 2004 noch nicht offiziell ausgewertet. Es war noch nicht<br />
e<strong>in</strong>mal klar, ob die EU-Vertretung überhaupt e<strong>in</strong>e förmliche<br />
Auswertung der im Rahmen von Phare 2001 gelaufenen Projekte<br />
beabsichtigt, da das Büro der Vertretung bald geschlossen wird und<br />
e<strong>in</strong>ige Mitarbeiter der Vertretung andeuteten, dass es nicht Aufgabe<br />
der EU se<strong>in</strong> könne, irgend etwas anderes als die Rechtmäßigkeit<br />
der Verträge zu überwachen (die offizielle Projektaufsicht liegt nach<br />
Auskunft dieser EU-Mitarbeiter beim Baum<strong>in</strong>isterium). Es deutet<br />
jedoch alles darauf h<strong>in</strong>, dass die Umsetzung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den<br />
sehr schlecht gelaufen ist. E<strong>in</strong> Dorf (Sv<strong>in</strong>ia) verweigerte sich von<br />
Anfang an. Andere haben ansche<strong>in</strong>end Projekte entweder planlos<br />
oder unwirtschaftlich durchgeführt und/oder Gelder veruntreut. Es<br />
gibt e<strong>in</strong> ständiges frustriertes Gemurmel grundsätzlicher Art<br />
vonseiten der nicht-slowakischen Mitarbeiter aus der EU-Vertretung<br />
<strong>in</strong> Bratislava <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass ke<strong>in</strong>s der Projekte gut laufe.<br />
Das Monitor<strong>in</strong>g der slowakischen Phare-2001 Infrastruktur <strong>in</strong> den<br />
Roma-Geme<strong>in</strong>den und anderer EU-f<strong>in</strong>anzierter Projekte wirft die<br />
Frage auf, <strong>in</strong>wieweit Mittel der EU-Kommission und anderer Quellen<br />
– zusammen mit den Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen zur Umsetzung<br />
der Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie – alle<strong>in</strong> schon ausreichen, um e<strong>in</strong>e<br />
Inklusion der Roma <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten.<br />
Erfahrungen mit den Auswirkungen von Projekten wie Phare 2001<br />
haben verschiedentlich die Forderung nach rechtlichen<br />
Maßnahmen auf der Ebene der EU laut werden lassen, um die<br />
Inklusion der Roma für alle Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />
vorzuschreiben.<br />
Gegenwärtig liegen e<strong>in</strong>ige Vorschläge auf dem Tisch, wie man die<br />
Rechts<strong>in</strong>strumente auf EU-Ebene weiterentwickeln könnte. Es geht<br />
dabei um e<strong>in</strong>e EU-Gesetzgebung, die entweder Fördermaßnahmen<br />
zugunsten der Roma oder benachteiligter Gruppen im allgeme<strong>in</strong>en<br />
zw<strong>in</strong>gend vorschreibt. Dabei handelt es sich <strong>in</strong>sbesondere um<br />
Folgendes:<br />
1. In se<strong>in</strong>em „Bericht für 2003 zur Lage der Grundrechte <strong>in</strong> der<br />
Europäischen Union“ vom Januar 2004, der aber erst am 26.<br />
Mai 2004 veröffentlicht wurde, empfiehlt das EU-Netzwerk<br />
unabhängiger Grundrechtsexperten die Annahme e<strong>in</strong>er<br />
182
ROMA IN EUROPA<br />
„Richtl<strong>in</strong>ie, die explizit die Integration der Roma fördert“. 2 Das<br />
EU-Netzwerk unabhängiger Grundrechtsexperten ist e<strong>in</strong><br />
angesehenes Gremium, das auf Beschluss des Europäischen<br />
Parlamentes von der Europäischen Kommission e<strong>in</strong>gerichtet<br />
wurde mit dem Auftrag, die Lage der Grundrechte <strong>in</strong> den<br />
Mitgliedsstaaten und <strong>in</strong> der Union zu überwachen. Das<br />
Gremium setzt sich aus führenden Juristen aller EU-<br />
Mitgliedsstaaten zusammen.<br />
In der Darlegung der Gründe für e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie stellt das<br />
EU-Expertennetzwerk zunächst fest, dass „das Konzept e<strong>in</strong>es<br />
umfassenden Auftrags [...] vor allem auf die besondere Lage<br />
von Geme<strong>in</strong>schaften e<strong>in</strong>gehen sollte, die unter Bed<strong>in</strong>gungen<br />
der Segregation leben, abgeschnitten von der restlichen<br />
Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Fällen, wo ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>kommen<br />
e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis zur Benutzung kostenpflichtiger Verkehrsmittel<br />
darstellen. Dies trifft <strong>in</strong>sbesondere auf die Lage der Roma <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Staaten zu“.<br />
Im Bericht heißt es dann weiter: „Der wichtigste Beitrag, den die<br />
Europäische Geme<strong>in</strong>schaft zum Schutz von M<strong>in</strong>derheiten<br />
<strong>in</strong>nerhalb ihrer Zuständigkeiten leisten könnte, wäre die<br />
Verabschiedung e<strong>in</strong>er Richtl<strong>in</strong>ie, die explizit die Integration der<br />
Roma fördert. Die Stellungnahmen des Beratenden<br />
Ausschusses zum Rahmenübere<strong>in</strong>kommen zum Schutz<br />
nationaler M<strong>in</strong>derheiten lassen ke<strong>in</strong>en Zweifel an den Defiziten<br />
der Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG vom 29. Juni 2000, selbst wenn sie<br />
den Schutz der Roma gegen jede Form der Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
aufgrund der Mitgliedschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe<br />
vorsieht. Der dr<strong>in</strong>gende Appell, e<strong>in</strong>e gesonderte Richtl<strong>in</strong>ie auf<br />
der Grundlage von Artikel 13 EG zur Förderung der Integration<br />
der Roma zu beschließen, begründet sich nicht nur durch die<br />
ernste Besorgnis, die <strong>in</strong> den Auswertungsberichten zur Lage<br />
dieser M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Mitgliedsstaaten der Europäischen<br />
Union zum Ausdruck gebracht wurde - und zwar nicht nur <strong>in</strong><br />
den Beitrittsländern, wo sich das Problem der Integration der<br />
Roma mit besonderer Dr<strong>in</strong>glichkeit stellt. Handlungsbedarf<br />
ergibt sich auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>ige Unzulänglichkeiten der<br />
2 Netzwerk unabhängiger Grundrechtsexperten der Europäischen Union, „Bericht für<br />
2003 zur Lage der Grundrechte <strong>in</strong> der Europäischen Union“, Brüssel, Januar 2004, S.<br />
103. Der Volltext des Berichtes auf Englisch ist im Internet auf der Homepage der<br />
Generaldirektion der Europäischen Kommission für Justiz und Inneres unter:<br />
www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/justice_home/<strong>in</strong>dex_en.htm nachzulesen. Die Zitate auf<br />
Deutsch s<strong>in</strong>d Teil der Übersetzung.<br />
183
Claude Cahn<br />
184<br />
Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG, die nicht explizit die Integration<br />
traditionell ausgegrenzter Gruppen wie den Roma zum Ziel<br />
hatte“. Ausführliche Argumente für e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie aus<br />
Bereichen wie Beschäftigung, Wohnungswesen, Bildung und<br />
Gesundheit werden dann im Bericht aufgelistet.<br />
Am Schluss stellt das EU-Expertennetzwerk fest, dass die<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung der EU gegenwärtig nicht<br />
die Probleme aufgreift, die sich beim Zugang zu persönlichen<br />
Dokumenten ergeben: „Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG verbietet nicht<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausstellung von<br />
Verwaltungsdokumenten. Solche Dokumente s<strong>in</strong>d aber häufig<br />
notwendig, um Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten, die<br />
gerade für marg<strong>in</strong>alisierte Völker e<strong>in</strong>e wesentliche<br />
Integrationshilfe darstellen. Auch aus diesem Grunde ist e<strong>in</strong>e<br />
explizit für die Roma geltende Richtl<strong>in</strong>ie unumgänglich. Artikel<br />
13 EG liefert die angemessene Rechtsgrundlage für e<strong>in</strong>e<br />
solche Richtl<strong>in</strong>ie.“ 3<br />
2. E<strong>in</strong> zweiter zur Diskussion stehender Vorschlag zur<br />
Gesetzgebung zugunsten der Integration der Roma auf EU-<br />
Ebene konzentriert sich auf e<strong>in</strong>e „Desegregationsrichtl<strong>in</strong>ie“, die<br />
die Bereiche Bildung, Wohnungswesen und Gesundheit<br />
umfassen würde. Diese Idee war der zentrale Programmpunkt<br />
<strong>in</strong> den Vorschlägen von Victoria Mohacsi, Mitglied des<br />
Europäischen Parlaments und, nebenbei bemerkt, frühere<br />
Mitarbeiter<strong>in</strong> des ERRC (Europäisches Zentrum für Roma-<br />
Rechte) und gegenwärtig e<strong>in</strong>es der zwei <strong>roma</strong>ni Mitglieder des<br />
EP <strong>in</strong> Brüssel (beide stammen aus Ungarn). Zwar liegt dem<br />
ERRC bisher noch ke<strong>in</strong> umfassender Vorschlag über den<br />
Geltungsbereich e<strong>in</strong>er solchen Richtl<strong>in</strong>ie vor, aber auf<br />
rechtlicher Ebene würde damit wahrsche<strong>in</strong>lich der Versuch<br />
gemacht, <strong>in</strong> die EU-Gesetzgebung e<strong>in</strong> ergänzendes Verbot<br />
aufzunehmen ähnlich dem Segregationsverbot des Artikels 3<br />
des Internationalen Übere<strong>in</strong>kommens zur Beseitigung jeder<br />
Form von Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung (ICERD). 4<br />
3 Ebenda, S. 102-107.<br />
4 Artikel 3 des ICERD besagt: „ Die Vertragsstaaten verurteilen <strong>in</strong>sbesondere die<br />
Segregation und die Apartheid und verpflichten sich, alle derartigen Praktiken <strong>in</strong> ihren<br />
Hoheitsgebieten zu verh<strong>in</strong>dern, zu verbieten und auszumerzen.“ Die Regelungen von<br />
Artikel 3 stellen e<strong>in</strong>e Ergänzung von Artikel 5 und anderen ICERD-Regelungen dar,<br />
die Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> unterschiedlichen Bereichen des zivilen, sozialen und<br />
wirtschaftlichen Lebens verbieten.
ROMA IN EUROPA<br />
3. Andere haben mögliche Schritte h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er „Förderrichtl<strong>in</strong>ie“<br />
(i.S. von „positiven Maßnahmen“) <strong>in</strong>s Auge gefasst, die die EU-<br />
Mitgliedsstaaten verpflichten würde, Fördermaßnahmen<br />
zugunsten von M<strong>in</strong>derheiten und anderen benachteiligten<br />
Gruppen e<strong>in</strong>zuleiten oder auf anderem Wege die<br />
Verpflichtungen der EU-Mitgliedsstaaten bezüglich solcher<br />
Maßnahmen zu klären. E<strong>in</strong>e solche „Förderrichtl<strong>in</strong>ie“ könnte e<strong>in</strong><br />
gesondertes Kapitel über die Roma enthalten oder sich auf<br />
andere Weise explizit auf die Roma beziehen.<br />
Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie der EU lässt die Möglichkeit von<br />
Fördermaßnahmen vonseiten der Mitgliedsstaaten offen und führt<br />
dazu aus, dass es sich dabei nicht um Diskrim<strong>in</strong>ierung handelt<br />
(d. h. sie nicht i.S. der Richtl<strong>in</strong>ie als gesetzeswidrig gelten würden).<br />
Im Gegensatz zu e<strong>in</strong>igen völkerrechtlichen Regelungen geht die<br />
Richtl<strong>in</strong>ie jedoch nicht so weit, Fördermaßnahmen e<strong>in</strong>zufordern:<br />
„Der Gleichbehandlungsgrundsatz h<strong>in</strong>dert die Mitgliedsstaaten nicht<br />
daran, zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung <strong>in</strong> der Praxis<br />
spezifische Maßnahmen, mit denen Benachteiligungen aufgrund<br />
der Rasse oder ethnischen Herkunft verh<strong>in</strong>dert oder ausgeglichen<br />
werden, beizubehalten oder zu beschließen.“<br />
Es besteht auch e<strong>in</strong>e Rechtsgrundlage außerhalb des EU-Systems<br />
für die E<strong>in</strong>leitung von Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter<br />
Gruppen. In H<strong>in</strong>blick auf M<strong>in</strong>derheiten bieten die Artikel 1(4) und<br />
2(2) des Internationalen Übere<strong>in</strong>kommens zur Beseitigung jeder<br />
Form der Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung (ICERD) grundsätzliche<br />
Parameter für solche Maßnahmen. 5 Der Europarat hat <strong>in</strong> den<br />
5 Artikel 1(4) des ICERD stellt fest:<br />
Sondermaßnahmen, die e<strong>in</strong>zig zu dem Zweck getroffen werden, e<strong>in</strong>e<br />
angemessene Entwicklung bestimmter Rassengruppen, Volksgruppen oder<br />
Personen zu gewährleisten, die Schutz benötigen, soweit e<strong>in</strong> solcher<br />
erforderlich ist, damit sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
gleichberechtigt genießen und ausüben können, gelten nicht als<br />
Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, sofern diese Maßnahmen nicht die Beibehaltung<br />
getrennter Rechte für verschiedene Rassengruppen zur Folge haben und<br />
sofern sie nicht fortgeführt werden, nachdem die Ziele, deretwegen sie<br />
getroffen wurden, erreicht s<strong>in</strong>d.<br />
Artikel 2(2) des ICERD regelt diesbezüglich:<br />
Die Vertragsstaaten treffen, wenn die Umstände es rechtfertigen, auf<br />
sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem und sonstigem Gebiet besondere<br />
und konkrete Maßnahmen, um die angemessene Entwicklung und e<strong>in</strong>en<br />
h<strong>in</strong>reichenden Schutz bestimmter Rassengruppen oder ihnen<br />
angehörender E<strong>in</strong>zelpersonen sicherzustellen, damit gewährleistet wird,<br />
dass sie <strong>in</strong> vollem Umfang und gleichberechtigt <strong>in</strong> den Genuss der<br />
Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen. Diese Maßnahmen dürfen<br />
185
Claude Cahn<br />
letzten Jahren diesen normativen Rahmen erheblich erweitert, vor<br />
allem durch das Rahmenübere<strong>in</strong>kommen zum Schutz nationaler<br />
M<strong>in</strong>derheiten, 6 wie auch durch Urteile des Europäischen<br />
Menschenrechtshofs. 7 Die Frage, welche Rolle die EU spielen<br />
sollte, um Mitgliedsstaaten zur E<strong>in</strong>haltung dieser Verpflichtungen zu<br />
drängen, ist jedoch noch ungeklärt.<br />
E<strong>in</strong>zelne Vertreter der Europäischen Kommission haben der<br />
Vorstellung, auf irgendwelche rechtlichen Maßnahmen zu drängen,<br />
die über die bestehenden Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsrichtl<strong>in</strong>ien<br />
h<strong>in</strong>ausgehen würden, e<strong>in</strong>e deutliche Abfuhr erteilt. Von der<br />
Kommission liegt dazu offiziell noch ke<strong>in</strong>e öffentliche<br />
Stellungnahme vor, aber e<strong>in</strong>ige Beamte der Kommission und<br />
andere ihr nahestehende Personen äußerten sich dazu <strong>in</strong><br />
folgendem S<strong>in</strong>ne:<br />
• „Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie (43/2000) behandelt alle für die<br />
Inklusion der Roma maßgeblichen Aspekte; es geht nunmehr<br />
um die umfassende Implementierung <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten“;<br />
• „Das gegenwärtige (raue, sicherheitsdom<strong>in</strong>ierte) politische<br />
Klima spricht gegen e<strong>in</strong> Drängen auf weitere Richtl<strong>in</strong>ien; es<br />
186<br />
<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall die Beibehaltung ungleicher oder getrennter Rechte für<br />
verschiedene Rassengruppen zur Folge haben, nachdem die Ziele, um<br />
deretwegen sie getroffen wurden, erreicht s<strong>in</strong>d.<br />
6 Artikel 4(2) und 4(3) des Rahmenübere<strong>in</strong>kommens stellt fest:<br />
2. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene<br />
Maßnahmen zu ergreifen, um <strong>in</strong> allen Bereichen des wirtschaftlichen,<br />
sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und<br />
tatsächliche Gleichheit zwischen Angehörigen e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit<br />
und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser H<strong>in</strong>sicht<br />
berücksichtigen sie <strong>in</strong> gebührender Weise die besonderen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
der Angehörigen nationaler M<strong>in</strong>derheiten.<br />
3. Die <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit Absatz 2 ergriffenen Maßnahmen werden<br />
nicht als Diskrim<strong>in</strong>ierung angesehen.<br />
7<br />
Grundsatzurteil im Fall Thlimmenos gg. Griechenland im Jahr 2000, wo das Gericht<br />
zu folgendem Schluss kam:<br />
Das Gericht war bisher der Ansicht, dass das <strong>in</strong> Artikel 14 geregelte Recht<br />
auf Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausübung von im Übere<strong>in</strong>kommen<br />
garantierten Rechten verletzt wird, wenn Staaten Personen <strong>in</strong><br />
vergleichbaren Situationen unterschiedlich behandeln, ohne dafür e<strong>in</strong>e<br />
objektive und vernünftige Rechtfertigung zu haben.[...]. Das Gericht ist der<br />
Ansicht, dass dies nicht der e<strong>in</strong>zige Aspekt des Diskrim<strong>in</strong>ierungsverbots <strong>in</strong><br />
Artikel 14 darstellt. Das Recht auf Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausübung<br />
von im Übere<strong>in</strong>kommen garantierten Rechten wird auch verletzt, wenn<br />
Staaten ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung Personen nicht<br />
unterschiedlich behandeln, deren Lage erheblich unterschiedlich ist.“<br />
(Übersetzung aus dem Engl.)
ROMA IN EUROPA<br />
könnte im Gegenteil bald notwendig se<strong>in</strong>, die bestehenden<br />
Richtl<strong>in</strong>ien gegen Bemühungen zu ihrer Abschwächung zu<br />
verteidigen“;<br />
• „Die Erweiterung und die Notwendigkeit, unter 25<br />
Mitgliedsstaaten e<strong>in</strong>en Konsens herbeizuführen, macht die<br />
Annahme neuer Richtl<strong>in</strong>ien unwahrsche<strong>in</strong>lich, wenn nicht<br />
unmöglich“.<br />
Die gegenwärtig fehlende Unterstützung der Kommission für<br />
weitere rechtliche Maßnahmen stellt e<strong>in</strong> Problem dar. Alle oben<br />
aufgeführten Argumente müssen natürlich ernsthaft erwogen<br />
werden, aber ke<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>t letzten Endes ausreichend schlüssig,<br />
um die Untätigkeit zu rechtfertigen. Bezüglich des ersten Arguments<br />
ist es <strong>in</strong> der Tat so, dass die bestehenden<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsrichtl<strong>in</strong>ien nicht e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> allen<br />
völkerrechtlich relevanten Aspekten verbieten und dass die<br />
bestehenden Richtl<strong>in</strong>ien wahrsche<strong>in</strong>lich notwendig, aber nicht<br />
ausreichend s<strong>in</strong>d, um die Inklusion der Roma zu erreichen.<br />
Zweitens ist festzustellen, dass es nicht sicher ist, ob es überhaupt<br />
irgendwann e<strong>in</strong>en günstigen Zeitpunkt für<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze gibt, da diese normalerweise nicht zu<br />
den vorrangigen Forderungen der Öffentlichkeit gehören. Die<br />
Befürworter der Antirassismusrichtl<strong>in</strong>ie g<strong>in</strong>gen gewiss nicht davon<br />
aus, dass sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em idyllischen politischen Klima bewegten,<br />
als sie sich für e<strong>in</strong>e solche Maßnahme stark machten. Und das<br />
dritte Argument lässt sich erst beweisen, wenn man es versucht<br />
hat.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Aspekt <strong>in</strong> dieser Ansammlung bestehender Dilemmata<br />
ist die faktische Macht der Kommission, Mitgliedsstaaten zur<br />
Inklusion der Roma zu zw<strong>in</strong>gen. De jure hat die Union viel mehr<br />
Macht über Mitgliedsstaaten als über Beitrittsländer. In der Praxis<br />
ist das Kräfteverhältnis gerade umgekehrt: Während die<br />
Kommission unnachgiebig die Beitrittsbed<strong>in</strong>gungen für die neuen<br />
Kandidaten diktierte und die Lage der Roma zu e<strong>in</strong>er<br />
Schlüsselfrage des Beitrittsprozesses machte, reagierte sie sehr<br />
zögerlich und <strong>in</strong> der mildesten Form, die möglich war, auf jene<br />
Politiken der Mitgliedsstaaten, die grundsätzliche Fragen der<br />
Menschenrechte tangierten. Manchmal wurde dieses Paradox<br />
sogar öffentlich gemacht, z. B. als die Kommission dem Parlament<br />
und dem Rat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offiziellen Stellungnahme im Oktober 2003<br />
mitteilte: „Die Kommission ist überzeugt, dass es <strong>in</strong> dieser<br />
Wertegeme<strong>in</strong>schaft nicht notwendig se<strong>in</strong> wird, die im Rahmen von<br />
Artikel 7 des Unionsvertrages und Artikel 309 des EG-Vertrages<br />
vorgesehenen Strafen zu verhängen.“ Diese Tatsache ist sowohl <strong>in</strong><br />
187
Claude Cahn<br />
den Mitgliedsstaaten wie den Beitrittsländern genauestens bekannt<br />
und stellt die Glaubwürdigkeit der Union ebenso <strong>in</strong> Frage wie deren<br />
Fähigkeit, Mitglieder zu ernsthaften Anstrengungen für e<strong>in</strong>e<br />
Inklusion der Roma zu bewegen. Aufseiten der Beitrittskandidaten<br />
hat es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen dazu geführt, dass man Strategien der<br />
Verzögerung, Obstruktion, Vermeidung und teilweisen<br />
Implementierung angewandt hat <strong>in</strong> Erwartung jenes magischen<br />
Augenblicks des Beitritts, wenn man alle Anstrengungen ohne<br />
Umschweife aufgeben oder auf Sparflamme kochen lassen kann.<br />
Auch <strong>in</strong> der slowakischen Implementierung von Phare 2001 kamen<br />
solche Ansätze z. B. zum Tragen. Rechtliche Maßnahmen auf<br />
Ebene der Union könnten dies Problem vielleicht beheben und<br />
damit tatsächlich erhebliche Auswirkungen sowohl für die<br />
Mitgliedsstaaten wie die Beitrittsländer haben, und vielleicht sogar<br />
für Länder, die ke<strong>in</strong>e zukünftigen EU-Beitrittskandidaten s<strong>in</strong>d.<br />
Der jüngst veröffentlichte Bericht über die Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
erweiterten Europa, der von der Europäischen Kommission<br />
veröffentlicht wurde, aber nicht unbed<strong>in</strong>gt deren Me<strong>in</strong>ung<br />
wiedergibt, stellt Folgendes zu dem Problem fest, nachdem alle<br />
oben erwähnten Argumente des EU-Netzwerks der<br />
Grundrechtsexperten noch e<strong>in</strong>mal dargestellt wurden:<br />
188<br />
Die Autoren des vorliegenden Berichts s<strong>in</strong>d der Me<strong>in</strong>ung,<br />
dass die Schlussfolgerungen der EU-<br />
Grundrechtsexperten ausreichend belegt s<strong>in</strong>d und dass<br />
ohne e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie nicht genügend Anreiz für die<br />
EU-Mitgliedsstaaten besteht, Roma und andere als<br />
„Zigeuner“ bezeichnete Gruppen zu <strong>in</strong>tegrieren. Man<br />
muss jedoch zugeben, dass dieser Vorschlag e<strong>in</strong>ige<br />
rechtliche und praktische Fragen aufwirft. Erstens,<br />
<strong>in</strong>wieweit könnten die angesprochenen Probleme durch<br />
e<strong>in</strong>e bessere Implementierung und Durchsetzung der<br />
bestehenden europäischen und nationalen<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung gelöst werden?<br />
Zweitens wäre es wünschenswert, Gesetzgebung<br />
vorzuschlagen oder zu beschließen, die nur e<strong>in</strong>e<br />
spezifische ethnische M<strong>in</strong>derheitengruppe zum Ziel hat,<br />
anstelle e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Gleichbehandlungsrahmens<br />
zugunsten aller M<strong>in</strong>derheiten? Drittens, <strong>in</strong>wieweit ist die<br />
EU zuständig dafür, Anforderungen für<br />
Fördermaßnahmen (positive actions) aufzustellen<br />
angesichts der Rechtsprechung des Europäischen<br />
Gerichtshofs?
...<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Es wäre die Annahme von EU-Regeln, die Segregation<br />
aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft zum<strong>in</strong>dest<br />
<strong>in</strong> den Bereichen Bildung, Wohnungswesen und<br />
Gesundheitsversorgung verbieten, zu erwägen. Die<br />
Union sollte sich näher mit möglichen rechtlichen<br />
Maßnahmen <strong>in</strong> diesem Bereich beschäftigen, dabei u. a.<br />
beispielhafte Def<strong>in</strong>itionen und M<strong>in</strong>destmaßnahmen zur<br />
Bekämpfung der Rassensegregation, wie formale<br />
Monitor<strong>in</strong>g-Verfahren und Sanktionen, vorsehen. E<strong>in</strong>ige<br />
haben e<strong>in</strong>e „Desegregationsrichtl<strong>in</strong>ie“ vergleichbar den<br />
Richtl<strong>in</strong>ien zu Rasse und Beschäftigung im Rahmen des<br />
Artikels 13 vorgeschlagen. Dieser Vorschlag verdient e<strong>in</strong>e<br />
genauere Betrachtung und sollte im Mittelpunkt weiterer<br />
Forschungs- und politischer Initiativen stehen. Die<br />
Autoren dieser Untersuchung s<strong>in</strong>d außerdem der<br />
Me<strong>in</strong>ung, dass die Idee rechtlicher Maßnahmen, die e<strong>in</strong>e<br />
Integration der Roma für Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />
vorschreiben - wie vorgeschlagen - ausführlich erörtert<br />
werden sollte und dass wir der europäischen<br />
Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e fundierte Debatte zu dem Thema<br />
schuldig s<strong>in</strong>d. Im Idealfall solle e<strong>in</strong>e solche Debatte unter<br />
Federführung der Institutionen der Europäischen Union,<br />
<strong>in</strong>sbesondere der Europäischen Kommission, stattf<strong>in</strong>den. 8<br />
Außerhalb der Institutionen der Europäischen Union hat es jüngst<br />
<strong>in</strong>teressante Weiterentwicklungen im Rahmen des Europäischen<br />
Menschenrechtshofs gegeben, der im Fall Connors gegen das<br />
Vere<strong>in</strong>igte Königreich vom Juni 2004 das Vere<strong>in</strong>igte Königreich der<br />
Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention aus<br />
folgenden Gründen für schuldig befand:<br />
„Die prekäre Lage der Zigeuner als M<strong>in</strong>derheit bedeutet,<br />
dass ihren Bedürfnissen und ihrem anderen Lebensstil<br />
sowohl im Rahmen der maßgeblichen Verordnungen wie <strong>in</strong><br />
den Urteilen zu bestimmten Fällen (Buckley-Urteil[...], S.<br />
1292-95, §§ 76, 80 und 84) besonders Rechnung getragen<br />
werden sollte. In diesem S<strong>in</strong>ne besteht e<strong>in</strong>e positive<br />
Verpflichtung aufseiten der Vertragsstaaten im Rahmen<br />
des Artikels 8, Zigeunern ihren eigenen Lebensstil zu<br />
8 Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales der Europäischen Kommission,<br />
Roma <strong>in</strong> an Enlarged European Union, Oktober 2004. (Text ist Teil der Übersetzung,<br />
nicht im Orig<strong>in</strong>al).<br />
189
Claude Cahn<br />
190<br />
ermöglichen (s. Chapman, [...], § 96 und die dar<strong>in</strong><br />
s<strong>in</strong>ngemäß zitierten Instanzen)“.<br />
Das Gericht hatte diese Grundsätze schon <strong>in</strong> früheren Urteilen<br />
aufgestellt, aber bis zum Fall Connors nie e<strong>in</strong> Mitglied des<br />
Europarates deswegen der Verletzung der Europäischen<br />
Konvention für schuldig befunden. Bei der Prüfung der Probleme,<br />
die im Fall Connors e<strong>in</strong>e Rolle spielten, beschäftigte sich das<br />
Gericht e<strong>in</strong>gehend mit der Frage lokaler Zuständigkeiten für die<br />
Implementierungspolitik bezüglich der Inklusion der Roma sowie<br />
mit der Frage, ob Zigeuner tatsächlich „e<strong>in</strong>en Nutzen“ aus diesen<br />
politischen Maßnahmen zögen, die zum<strong>in</strong>dest auf dem Papier zu<br />
ihrer Unterstützung gedacht waren. Nach dem Fall Connors<br />
könnte es jetzt e<strong>in</strong>e Reihe positiver Verpflichtungen im Rahmen<br />
des Fallrechts der Europäischen Konvention geben, die grob<br />
folgendermaßen umschrieben werden könnten:<br />
• Es muss e<strong>in</strong>en Rahmen geben der sicherstellt, dass e<strong>in</strong><br />
„Lebensstil der Zigeuner“ ermöglicht wird und dass<br />
angesichts der „prekären Lage der Zigeuner als M<strong>in</strong>derheit“<br />
ihre Bedürfnisse „besondere Berücksichtigung“ erfahren;<br />
• Diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen implementiert werden;<br />
• Lokale Zuständigkeiten für die Umsetzung der<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen klar zugeordnet werden;<br />
• Es sollten ke<strong>in</strong>e willkürlichen H<strong>in</strong>dernisse der Nutzung dieser<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen im Weg stehen;<br />
• Die Wirksamkeit der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen wird zum<strong>in</strong>dest<br />
teilweise ausgewertet, um festzustellen, ob die Roma<br />
„irgende<strong>in</strong>en Nutzen“ von diesen Bed<strong>in</strong>gungen haben;<br />
• Als Teil der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen Grund- und<br />
Menschenrechte – <strong>in</strong>sbesondere die unter der Europäischen<br />
Konvention gewährten Rechte – tatsächlich verwirklicht<br />
werden. 9<br />
E<strong>in</strong> möglicher Ausweg aus der oben beschriebenen Zwickmühle<br />
könnte dar<strong>in</strong> bestehen, dass man sich der Probleme annimmt, die<br />
beim Implementierungs-Monitor<strong>in</strong>g von EU-Projekten zutage treten,<br />
wie z. B. der Probleme, die sich bei der oben beschriebenen<br />
Implementierung von Phare 2001 <strong>in</strong> der Slowakei ergaben. Es<br />
lassen sich durchaus Argumente fiskalischer Art sowie der<br />
9 Zu den Auswirkungen des Connors-Urteils, was die Regierungsverpflichtungen im<br />
Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention anbetrifft, s. Cahn, Claude,<br />
„Towards Realis<strong>in</strong>g a Right to Positive Action for Roma <strong>in</strong> Europe: Connors v. UK“,<br />
veröffentlicht <strong>in</strong> Roma Rights 1/2005.
ROMA IN EUROPA<br />
Transparenz und Rechenschaftspflicht für „rechtliche Maßnahmen,<br />
die e<strong>in</strong>e Integration der Roma für Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />
vorschreiben“, f<strong>in</strong>den. Das Profil solcher rechtlich verb<strong>in</strong>dlichen<br />
Maßnahmen könnte sich aus den oben aufgezählten<br />
Anforderungen <strong>in</strong>folge des Connors-Urteils ergeben. Dabei wäre<br />
z. B. zu denken an (i) die Verpflichtung, lokale Zuständigkeiten für<br />
die Implementierung klar zuzuordnen; (ii) die Verpflichtung, Romaspezifische<br />
Vorgaben und Indikatoren zu entwickeln und<br />
e<strong>in</strong>zuhalten, z. B. Indikatoren für Desegregation <strong>in</strong> der Schule u. Ä.;<br />
(iii) und anderes mehr. E<strong>in</strong> solcher Ansatz hätte vielleicht bessere<br />
Erfolgschancen, da es dabei nicht nur um<br />
Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung und die politische Aufgabe zur<br />
sozialen Inklusion geht, sondern man könnte sich auch die<br />
Verdrossenheit über verme<strong>in</strong>tliche Verschwendung/Korruption auf<br />
Ebene der EU und anderswo zunutze machen und die Maßnahme<br />
als solide Fiskalpolitik verkaufen. E<strong>in</strong>ige Vertreter der Roma s<strong>in</strong>d<br />
schon bei ihrem Engagement auf nationaler Ebene entsprechend<br />
vorgegangen. 10<br />
E<strong>in</strong>e der vielen Schwierigkeiten auf dem ste<strong>in</strong>igen Weg zu<br />
Fördermaßnahmen (positive actions) besteht <strong>in</strong> der tief<br />
verwurzelten Fe<strong>in</strong>dseligkeit der allgeme<strong>in</strong>en Öffentlichkeit. E<strong>in</strong>ige<br />
mittel- und osteuropäische Länder verfolgten schon zu Zeiten des<br />
Kommunismus e<strong>in</strong>e Förderpolitik. Im Kommunismus vergaben die<br />
tschechoslowakischen Behörden z. B. Wohnraum vorzugsweise an<br />
Roma, bevor Nicht-Roma versorgt wurden - und das zu e<strong>in</strong>er Zeit<br />
allgeme<strong>in</strong>er Wohnungsknappheit, wo verheiratete Paare häufig<br />
jahrelang auf e<strong>in</strong>e Wohnung warten mussten. Diese Politik führte zu<br />
erheblichen Ressentiments gegen die Roma, auf die <strong>in</strong> der<br />
öffentlichen Debatte nicht e<strong>in</strong>gegangen wurde, da sie sich unter<br />
totalitären Bed<strong>in</strong>gungen entwickelten. Nach 1989 brachen diese<br />
Ressentiments – und auch Gewalt – gegen die Roma <strong>in</strong> der<br />
Tschechoslowakei mit aller Macht auf und s<strong>in</strong>d noch heute<br />
Besorgnis erregend <strong>in</strong> ihrem Ausmaß. Es ist deshalb erforderlich,<br />
dass jede umgesetzte Fördermaßnahme von umfangreichen<br />
öffentlichen Debatten und e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Konsens begleitet<br />
wird. Die Regierungen Europas müssen diese Debatten anstoßen<br />
und fördern, denn je länger man sich <strong>in</strong> diesem Bereich nicht<br />
ernsthaft bemüht, um so wahrsche<strong>in</strong>licher wird es, dass Unruhen<br />
wie die <strong>in</strong> der Slowakei 2004 zur Regel werden, da größere Teile<br />
10 S. dazu z. b. Clements, Luke und Rachel Morris, At What Cost? The Economics of<br />
Gypsy and Traveller Encampments, Policy Press, 2002.<br />
191
Claude Cahn<br />
ausgegrenzter M<strong>in</strong>derheiten immer mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand extremer<br />
Verelendung fallen.<br />
Die Grenzen der Gesetzgebung<br />
Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie wird <strong>in</strong> ganz Europa umgesetzt<br />
werden. Sie wird das Leben vieler Menschen verändern und die<br />
europäischen Gesellschaften e<strong>in</strong> großes Stück weit neu gestalten.<br />
Die Debatten über notwendige Fördermaßnahmen für e<strong>in</strong>e Reihe<br />
von belasteten Gruppen und/oder rechtliche Maßnahmen, die die<br />
Inklusion der Roma verb<strong>in</strong>dlich für alle Mitgliedsstaaten<br />
vorschreiben, s<strong>in</strong>d eröffnet. Es ist noch nicht klar, was letzten<br />
Endes dabei herauskommt. Klar ist jedoch, dass es abgesehen von<br />
der notwendigen Rechtsreform <strong>in</strong> allen Teilen Europas noch immer<br />
e<strong>in</strong>ige Gesellschaften gibt, <strong>in</strong> denen zentrale Debatten über die<br />
Rolle der Rasse und rassischer Ausgrenzung noch nicht<br />
stattgefunden haben. Während sicherlich viele zustimmen, dass<br />
sich Deutschland nach dem Holocaust vielen Themen der<br />
Vergangenheit gestellt hat, und dies noch immer tut, und dass<br />
e<strong>in</strong>ige andere europäische Gesellschaften, wie z. B.<br />
Großbritannien, sich regelmäßig mit den beunruhigenden<br />
Wirkungen des Rassismus auf die Gesellschaft ause<strong>in</strong>andersetzen,<br />
ist diese wichtige Schwelle <strong>in</strong> der großen Mehrzahl der<br />
europäischen Gesellschaften noch nicht überschritten worden. Die<br />
vorherrschende Me<strong>in</strong>ung im Kommunismus, dass Rassismus <strong>in</strong> den<br />
sozialistischen Ländern überwunden sei, hat dazu geführt, dass die<br />
postkommunistischen Länder praktisch vollkommen unvorbereitet<br />
mit dem erneuten Ausbruch von Rassismus im Europa der 1990er<br />
Jahre bis <strong>in</strong>s neue Jahrtausend h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> konfrontiert wurden. Welche<br />
Faktoren genau angesprochen werden sollten, um e<strong>in</strong>e fundierte<br />
Debatte über das Thema anzustoßen, lässt sich nicht nach e<strong>in</strong>em<br />
festen Plan regeln – jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg mit<br />
Hilfe ihrer Regierung, ihrer Eliten und ihrer Öffentlichkeit dorth<strong>in</strong><br />
f<strong>in</strong>den. Es ist jedoch klar, dass unter bestimmten Umständen das<br />
Gesetz, und vor allem umfassende Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze,<br />
e<strong>in</strong>e zentrale Rolle dabei spielen können und es e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />
ermöglichen, das Problem des Rassismus anzugehen.<br />
192
ROMA IN EUROPA<br />
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA:<br />
Das ungarische Partizipationsmodell und se<strong>in</strong>e<br />
Umsetzung bei den Roma<br />
I. M<strong>in</strong>derheitenrechte und -selbstverwaltung<br />
1. Allgeme<strong>in</strong>e Grundlagen<br />
Auf dem Territorium des Staates Ungarn lebte traditionell e<strong>in</strong>e<br />
gemischte Bevölkerung. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Anteil<br />
der ungarischsprachigen Bevölkerung weniger als 50 %. Heute gibt<br />
es <strong>in</strong> Ungarn offiziell 13 anerkannte M<strong>in</strong>derheiten. 1 Die mit Abstand<br />
Größte davon ist die der Roma. Die genaue Zahl der Roma ist<br />
schwer zu bestimmen. Laut letzter Volkszählung leben ca. 200 000<br />
Roma <strong>in</strong> Ungarn, aber nach zuverlässigen soziologischen Studien<br />
liegt die genauere Zahl bei 550 000.<br />
Die M<strong>in</strong>derheiten Ungarns, so auch die Roma, leben zerstreut auf<br />
dem Staatsgebiet. Die Landkarte auf der folgenden Seite zeigt die<br />
territoriale Verteilung der Roma <strong>in</strong> Ungarn.<br />
Die rechtliche Lage der M<strong>in</strong>derheiten, die vorher praktisch nicht<br />
geregelt war, hat sich im Laufe des politischen Umbruchs, Anfang<br />
der 90-er Jahre grundlegend geändert. 2<br />
2. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechts<br />
Es muss nicht unbed<strong>in</strong>gt ausschlaggebend se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> welcher Form<br />
die Verfassung den Staat als solchen def<strong>in</strong>iert. Gleiche oder sehr<br />
ähnliche Formulierungen können im Kontext mit anderen Elementen<br />
der Verfassung grundlegend verschiedene Bedeutungen haben.<br />
Vergleicht man z. B. die Verfassung Spaniens mit der von<br />
Rumänien f<strong>in</strong>det man ähnliche Aussagen über die E<strong>in</strong>heitlichkeit<br />
1 Dies s<strong>in</strong>d: Roma, Deutsche, Kroaten, Slowaken, Rumänen, Ukra<strong>in</strong>er, Slowenen,<br />
Polen, Serben, Griechen, Bulgaren, Armenier und Ruthenen.<br />
2 Vor der Wende wurde die Roma-Gruppe nicht als e<strong>in</strong>e Volksgruppe (mit eigener<br />
Sprache, Kultur und Tradition) betrachtet, sondern als e<strong>in</strong>e Randgruppe und somit als<br />
e<strong>in</strong> soziales Problem.<br />
193
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
und Unteilbarkeit des Staates der rumänischen bzw. der spanischen<br />
Nation. 3 Und doch s<strong>in</strong>d diese beiden Länder geradezu<br />
Musterbeispiele für den gegensätzlichen Umgang mit der<br />
Multiethnizität der Staatsbürger. 4<br />
Landkarte: Die Romabevölkerung <strong>in</strong> Ungarn<br />
Die <strong>in</strong> 1989 grundlegend novellierte Verfassung der Republik<br />
Ungarn be<strong>in</strong>haltet ke<strong>in</strong>e diesbezüglichen Passagen. Anstatt des<br />
Begriffs "Nation" wird aber das Wort "Volk" benutzt, das die ganze<br />
Bevölkerung des Landes umfassen soll, unabhängig von der<br />
Herkunft, was durchaus als erster Schritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
m<strong>in</strong>derheitenfreundliche Richtung bewertet werden kann. Im ersten<br />
Kapitel der Verfassung, bei den allgeme<strong>in</strong>en Bestimmungen,<br />
werden zwar ke<strong>in</strong>e weiteren Aussagen über die Rolle der<br />
3 Siehe: Artikel 2 der Verfassung Spaniens ("Die Verfassung, die auf der spanischen<br />
Nation, auf der unauflösbaren E<strong>in</strong>heit des geme<strong>in</strong>samen und unteilbaren Vaterlandes<br />
aller Spanier basiert ..." (<strong>in</strong>offizielle Übersetzung) und Art.1 Abs. 1 der Verfassung<br />
Rumäniens („Rumänien ist e<strong>in</strong> souveräner und unabhängiger, e<strong>in</strong>heitlicher und<br />
unteilbarer Nationalstaat.“)<br />
4 Während es <strong>in</strong> Spanien autonome Regionen der Volksgruppen (z. B. Katalonien,<br />
Baskenland) gibt, wird zur Zeit die territoriale Autonomie e<strong>in</strong>er Volksgruppe<br />
kategorisch abgelehnt.<br />
194
ROMA IN EUROPA<br />
M<strong>in</strong>derheiten gemacht, aber im Kapitel IX., wo die Grundrechte des<br />
Bürgers aufgelistet s<strong>in</strong>d, bef<strong>in</strong>den sich e<strong>in</strong>ige Artikel zum Thema.<br />
Es gibt selbstverständlich den allgeme<strong>in</strong>en Gleichheitssatz (Artikel<br />
70/A), der jegliche Unterscheidung nach Rasse, Hautfarbe,<br />
Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger<br />
Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt,<br />
oder sonstigem Status untersagt. Das eigentliche Novum ist hier<br />
aber die E<strong>in</strong>führung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die diese<br />
bisher nur auf dem Papier stehende Regelung mit Leben erfüllte.<br />
Man f<strong>in</strong>det aber auch Paragrafen, deren Inhalt sich unmittelbar auf<br />
die M<strong>in</strong>derheiten bezieht. Artikel 68 Absatz 1 bezeichnet die<br />
M<strong>in</strong>derheiten als "staatsbildende Faktoren", die Teilhaber an der<br />
Macht des Volkes s<strong>in</strong>d. Die Interpretation dieser Regelung ist sehr<br />
kontrovers, und reicht von der Bewertung, dass es sich hier um e<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>fache Deklaration handelt, woraus ke<strong>in</strong>e "e<strong>in</strong>klagbaren Rechte"<br />
abgeleitet werden können, bis zur Annahme, dass sie e<strong>in</strong>e klare<br />
Absage an den Nationalstaat be<strong>in</strong>haltet, die öffentlich-rechtliche<br />
Konsequenzen haben muss.<br />
Aus den darauf folgenden Passagen kann man eher auf Letzteres<br />
schließen: Absatz 2 verpflichtet den Staat zum aktiven<br />
M<strong>in</strong>derheitenschutz <strong>in</strong> den Bereichen der Kulturpflege, des<br />
Gebrauchs der Muttersprache, des muttersprachlichen Unterrichts<br />
und der Namensführung <strong>in</strong> der eigenen Sprache sowie der<br />
kollektiven Beteiligung am öffentlichen Leben. - Absatz 3 garantiert<br />
die Vertretung der M<strong>in</strong>derheiten, während Absatz 4 das Recht zur<br />
Gründung von Autonomiekörperschaften (Selbstverwaltungen)<br />
sowohl auf örtlicher als auch auf nationaler Ebene gewährleistet. -<br />
Absatz 5 sieht die Verabschiedung e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>derheitengesetzes vor,<br />
das die oben genannten Bestimmungen detailliert regeln soll.<br />
Im Artikel 32/B wird e<strong>in</strong> Parlamentsbeauftragter (Ombudsmann) für<br />
die Rechte der nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten etabliert,<br />
der die Umsetzung der <strong>in</strong> der Verfassung und <strong>in</strong> dem<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetz festgeschriebenen Rechte kontrolliert,<br />
Missstände aufdecken und allgeme<strong>in</strong>e sowie e<strong>in</strong>zelne Maßnahmen<br />
zur Aufhebung solcher Missstände beantragen soll.<br />
195
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
3. Gesetzliche Bestimmungen<br />
3.1 Das M<strong>in</strong>derheitengesetz und andere m<strong>in</strong>derheitenrelevante<br />
Rechtsnormen 5<br />
Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten zur Regelung der<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechte. Sie können <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Gesetzen, die die<br />
verschiedenen Bereiche des öffentlichen Lebens regulieren,<br />
verankert werden, oder man kann e<strong>in</strong>e Art M<strong>in</strong>derheitenkodex<br />
schaffen, <strong>in</strong> dem zum<strong>in</strong>dest die wichtigsten Rechtsvorschriften<br />
systematisch kodifiziert s<strong>in</strong>d. Interessanterweise wird diese zweite<br />
Variante ausschließlich <strong>in</strong> Ost<strong>europa</strong> praktiziert. In Ungarn hat diese<br />
Art von Regulierung noch dazu e<strong>in</strong>e lange Tradition. 6 Das gültige<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetz, das nach fast zweijährigen Verhandlungen<br />
zwischen Vertretern der Regierung und des sog.<br />
"M<strong>in</strong>derheitenrundtisches" <strong>in</strong> 1993 vom Parlament verabschiedet<br />
wurde (Gesetz Nr. LXXVII/1993), versucht, die Rechte der<br />
M<strong>in</strong>derheiten systematisch zu erfassen und e<strong>in</strong>e Art "Grundgesetz"<br />
zu se<strong>in</strong>. Es handelt sich hier um e<strong>in</strong> sog. "Zweidrittelgesetz", es<br />
gehört also - laut Verfassung - zu den Gesetzen, die die<br />
verfassungsrechtlich wichtigsten Institutionen regeln, deren<br />
Verabschiedung e<strong>in</strong>e qualifizierte Mehrheit benötigt. Die wichtigsten<br />
Regelungsbereiche s<strong>in</strong>d Folgende:<br />
3.1.1 Grundbestimmungen.<br />
In diesem Kapitel wird der M<strong>in</strong>derheitenbegriff def<strong>in</strong>iert. Subjekte<br />
der Rechte s<strong>in</strong>d alle Staatsbürger der Republik Ungarn, die sich zu<br />
e<strong>in</strong>er nationalen oder ethnischen M<strong>in</strong>derheit bekennen sowie die<br />
Geme<strong>in</strong>schaften dieser Personen. Als M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften<br />
werden die seit e<strong>in</strong>em Jahrhundert <strong>in</strong> Ungarn beheimateten<br />
Volksgruppen anerkannt, die sich von der Mehrheitsbevölkerung<br />
durch ihre eigene Sprache, Kultur, und Traditionen unterscheiden,<br />
5<br />
Zur Erklärung von m<strong>in</strong>derheitenrelevanten Gesetzen siehe Kaltenbach Jenõ, Bodáné<br />
Pálok Judit, Vánkosné Tímár Éva: A nemzeti és etnikai kisebbségek jogai és az<br />
önkornányzati választások (Die Rechte der nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />
und Selbstverwaltungswahlen) In: Bullet<strong>in</strong> für die nationalen und ethnischen<br />
M<strong>in</strong>derheiten Ungarns, Nr. 3, Budapest 1994.<br />
6<br />
Es gab bereits zwei M<strong>in</strong>derheitengesetze <strong>in</strong> Ungarn und zwar im Jahre 1849 und<br />
1868.<br />
196
ROMA IN EUROPA<br />
die gleichzeitig von e<strong>in</strong>em Bewußtse<strong>in</strong> der Zusammengehörigkeit<br />
Zeugnis ablegen. 7 Die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er nationalen oder<br />
ethnischen M<strong>in</strong>derheit wird nicht nach objektiven, sondern nach<br />
subjektiven Kriterien entschieden. Das heißt, dass es ke<strong>in</strong>e<br />
staatliche Registrierung der M<strong>in</strong>derheiten gibt, ja e<strong>in</strong>e<br />
Fremdbestimmung der Zugehörigkeit sogar verboten ist. Das<br />
Gesetz basiert auf der freien Selbstbestimmung der Identität und<br />
macht auch e<strong>in</strong> Bekenntnis zur "Doppelidentität" möglich. Re<strong>in</strong><br />
juristisch gesehen ist dies natürlich nicht unproblematisch, aber<br />
entspricht dem Willen der Betroffenen und verursachte <strong>in</strong> der<br />
bisherigen Praxis nur beim Gebrauch des Rechts zur<br />
Selbstorganisierung bzw. bei der politischen Mitwirkung<br />
Schwierigkeiten.(Dazu näheres später.)<br />
Wichtige Aussagen s<strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong>:<br />
- die Verpflichtung des Staates zum aktiven M<strong>in</strong>derheitenschutz,<br />
- das Verbot jedweder Politik, die zur Assimilierung der<br />
M<strong>in</strong>derheiten führt, die auf die ethnische Veränderung des<br />
Siedlungsgebietes der M<strong>in</strong>derheiten gerichtet ist, oder e<strong>in</strong>e<br />
Aus- bzw. Umsiedlung der Betroffenen zum Ziel hat,<br />
- e<strong>in</strong>e Politik, die die Lebensbed<strong>in</strong>gungen für die M<strong>in</strong>derheiten<br />
erschwert, sie bei der Ausübung ihrer Rechte h<strong>in</strong>dert, oder sie<br />
verfolgt, ist ebenfalls untersagt.<br />
3.1.2 Individuelle und kollektive (Grund)Rechte 8<br />
Im Zentrum der <strong>in</strong>dividuellen Rechte steht das Recht zur Wahrung<br />
der nationalen (ethnischen) Identität. Alle weiteren Bestimmungen<br />
<strong>in</strong> diesem Bereich dienen dazu, dies zu gewährleisten. Und gerade<br />
das macht die M<strong>in</strong>derheitenrechte so andersartig im Vergleich zu<br />
den Grundrechten im allgeme<strong>in</strong>en, nämlich dass sie Rechte s<strong>in</strong>d,<br />
die für die Mehrheit e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit darstellen. Diese<br />
Rechte s<strong>in</strong>d der Namensgebrauch nach den Regeln der<br />
Muttersprache, das Erlernen, die Pflege und Weitergabe der<br />
Muttersprache sowie die Teilnahme am Unterricht <strong>in</strong> der<br />
Muttersprache und der Gebrauch der Muttersprache. Es ist<br />
durchaus richtig festzustellen, dass es sich hier eigentlich meistens<br />
7<br />
Weiteres dazu siehe: Bullet<strong>in</strong> für die nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />
Ungarns Nr. 1. Budapest 1993.<br />
8<br />
Es gibt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Term<strong>in</strong>ologie bezüglich der "kollektiven Rechte". Man<br />
benutzt auch die Term<strong>in</strong>i Gruppenrechte, Geme<strong>in</strong>schaftsrechte als synonyme<br />
Begriffe.<br />
197
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
"um objektiv-rechtliche Gewährleistungen handelt, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />
staatliche Verpflichtungen begründen ..." 9<br />
Die Rechte zur Selbstorganisierung (die Gründung von Parteien,<br />
Vere<strong>in</strong>en, usw.) haben schon kollektiven Charakter und führen zu<br />
e<strong>in</strong>em der meistdiskutierten Probleme. Kollektiven<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechten gegenüber gibt es <strong>in</strong> vielen Staaten Europas<br />
erhebliche Bedenken. Die Akzeptanz dieser Rechte führt nämlich<br />
zum Anerkennen des Autonomierechts. Solche (territorialen)<br />
Autonomieregelungen gibt es zurzeit nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
westeuropäischen Staaten; sie kommen aber sehr selten <strong>in</strong><br />
Ost<strong>europa</strong> vor. Die zwei Ausnahmen s<strong>in</strong>d Moldawien und Ungarn.<br />
Die Gagauzen <strong>in</strong> Moldawien haben sogar e<strong>in</strong>e territoriale<br />
Autonomie. (Die Autonomie der Krim-Region <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e ist stark<br />
umstritten und die Russische Föderation entspricht kaum dem<br />
westlichen Standard. 10 )<br />
Über das Problem der Kollektiv- oder Gruppenrechte konnte man<br />
auch im Völkerrecht ke<strong>in</strong>en Konsens erreichen. 11 Es ist daher umso<br />
wichtiger, dass sich der ungarische Gesetzgeber um e<strong>in</strong>e Lösung<br />
zum<strong>in</strong>dest bemüht hat.<br />
Bei e<strong>in</strong>igen der im Gesetz taxierten Gruppenrechte handelt es sich<br />
um "Spiegelbilder" von <strong>in</strong>dividuellen Rechten 12 . Dies gilt z. B. für die<br />
Pflege der Sprache, die Beteiligung am öffentlichen Leben, die<br />
Wahrung der Kultur und der historischen Traditionen. "Richtige"<br />
kollektive Rechte s<strong>in</strong>d eigentlich diejenigen, die e<strong>in</strong> "<strong>in</strong>neres<br />
Selbstbestimmungsrecht" gewährleisten sollen.<br />
Als e<strong>in</strong> besonderes Geme<strong>in</strong>schaftsrecht kann das Recht auf den<br />
M<strong>in</strong>derheitenombudsmann betrachtet werden. Er (oder sie) wird auf<br />
Vorschlag des Staatspräsidenten mit e<strong>in</strong>er Zweidrittelmehrheit vom<br />
Parlament gewählt. Der Staatspräsident ist aber verpflichtet, die<br />
Me<strong>in</strong>ung der Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten zur von<br />
ihm vorgeschlagenen Person e<strong>in</strong>zuholen.<br />
9<br />
G. Brunner-H. Tontsch (Anm. 1.) S 34.<br />
10<br />
Vgl. dazu M. Hoskova: Die rechtliche Stellung des M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e <strong>in</strong> J.<br />
Frowe<strong>in</strong>, R. Hoffmann, S. Oeter: Das M<strong>in</strong>derheitenrecht europäischer Staaten, Teil 2,<br />
Berl<strong>in</strong>-Heidelberg-New York, 1994, S. 359.<br />
11<br />
Zum Recht auf Selbstbestimmung der M<strong>in</strong>derheiten siehe u. a. Manfred Nowak:<br />
The Right of Self-Determ<strong>in</strong>ation and Protection of M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Central and Eastern<br />
Europe <strong>in</strong> light of the case-law of the Human Rights Committee. In: International<br />
Journal on Group Rights, Volume 1, S. 7-16.<br />
12<br />
Siehe Kukorelli István: Alkotmánytan (István Kukorelli: Verfassunglehre) Budapest<br />
1994 S. 95.<br />
198
ROMA IN EUROPA<br />
Die Geme<strong>in</strong>schaftsrechte, die im M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />
festgeschrieben s<strong>in</strong>d, bilden - geme<strong>in</strong>sam mit den bereits erwähnten<br />
Verfassungsbestimmungen - die Grundlagen für das<br />
Autonomiesystem. Sie bestimmen die Organisationsform und die<br />
Bereiche der Aktivitäten (Bildung, Kultur, Medien, Traditionspflege,<br />
Interessenvertretung, <strong>in</strong>ternationale Kontakte).<br />
3.2 Die Selbstverwaltung der M<strong>in</strong>derheiten<br />
Ohne Organisation ist Demokratie nicht denkbar. 13 Das bedeutet,<br />
dass gewisse gesellschaftliche Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Demokratie nur<br />
vertretbar s<strong>in</strong>d, falls sie sich organisieren können. In all diesen<br />
Fällen müssen zwei D<strong>in</strong>ge gewährleistet werden:<br />
...- e<strong>in</strong>erseits die Abgrenzung des Interessenbereichs von allen<br />
anderen bzw. die Legitimierung dieser autonomen<br />
Interessen, und zwar auf den Ebenen der Organisation, der<br />
Funktion und der F<strong>in</strong>anzen, und<br />
- andererseits die (Re) Integration dieses Interessenkomplexes <strong>in</strong><br />
das Gesamtgefüge des gesellschaftlichen Lebens.<br />
Auch bei der Vorbereitung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes ist das größte<br />
Problem die Abgrenzung der M<strong>in</strong>derheitenautonomie sowohl<br />
organisatorisch als auch funktional und f<strong>in</strong>anziell gewesen.<br />
Letztendlich entschied man sich für e<strong>in</strong>e ziemlich komplizierte<br />
Variante, womit man den - zu jener Zeit nicht völlig klaren -<br />
Realitäten Rechnung tragen wollte. Das Modell ist<br />
zugegebenerweise e<strong>in</strong> Experiment und ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> ausgereiftes<br />
System. Man hat mehrmals betont, es sei nur die erste Phase der<br />
Entwicklung, die - gemäß der im Laufe der Zeit gesammelten<br />
Erfahrungen - weiterentwickelt werden soll.<br />
3.2.1 Die Organisationsstruktur<br />
a. Die örtliche M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung<br />
Da die M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Ungarn zerstreut auf dem ganzen Gebiet<br />
des Landes leben, kommt e<strong>in</strong>e territoriale Autonomie nicht <strong>in</strong> Frage.<br />
Es gibt aber mehrere Ortschaften, wo sie die lokale Mehrheit bilden,<br />
13 J. H. Kaiser zitiert mit diesem Satz Robert Michels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch "Die<br />
Repräsentation organisierter Interessen". Berl<strong>in</strong> 1978. S 11.<br />
199
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
und <strong>in</strong> vielen Geme<strong>in</strong>den und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Städten gehört e<strong>in</strong><br />
bedeutender Teil der E<strong>in</strong>wohnerschaft zu e<strong>in</strong>er oder zu mehreren<br />
M<strong>in</strong>derheiten. Um den lokalen Gegebenheiten zu entsprechen,<br />
bietet das Gesetz drei Möglichkeiten zur Wahl der m<strong>in</strong>oritären<br />
Selbstverwaltung.<br />
Das kommunale Wahlgesetz (Gesetz Nr.LXIV/1990) wurde mit den<br />
Regeln über die lokalen M<strong>in</strong>derheitenwahlen ergänzt. Danach<br />
konnten sich die örtlichen M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften - nach der<br />
lokalen Stärke ihrer Gruppe - entscheiden, ob sie sich an den<br />
allgeme<strong>in</strong>en Kommunalwahlen durch Aufstellung eigener<br />
Kandidaten beteiligen oder e<strong>in</strong>e sog. unmittelbare<br />
M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung gründen.<br />
Im Falle der ersten Variante gibt es wiederum zwei Möglichkeiten.<br />
Falls die M<strong>in</strong>derheitenkandidaten die Mehrheit der Mandate<br />
gew<strong>in</strong>nen, kann sich der neugewählte Geme<strong>in</strong>derat (nach der<br />
ungarischen Term<strong>in</strong>ologie Vertretungskörperschaft) zur<br />
"kommunalen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung" erklären. Das kann<br />
praktisch bedeuten, dass dadurch e<strong>in</strong>e Art lokal-territorialer<br />
Autonomie entsteht, da der Geme<strong>in</strong>derat natürlich alle<br />
Kompetenzen und Befugnisse e<strong>in</strong>es "normalen" Rates hat, ergänzt<br />
mit den m<strong>in</strong>derheitenspezifischen Entscheidungsbereichen. (Dazu<br />
näheres später). - Erreichen die M<strong>in</strong>derheitenkandidaten 30 % der<br />
Mandate, haben sie das Recht, e<strong>in</strong>e sog. "mittelbare<br />
M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung" zu konstituieren, die als e<strong>in</strong>e<br />
Fraktion fungiert, aber als juristische Person auch eigene<br />
Befugnisse ausüben kann. - In den Ortschaften, <strong>in</strong> denen – wie vor<br />
allem <strong>in</strong> den größeren Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> den Städten und <strong>in</strong> den<br />
Hauptstadtbezirken - der prozentuale Anteil der<br />
M<strong>in</strong>derheitenbevölkerung ger<strong>in</strong>g ist, können parallel mit den<br />
Kommunalwahlen - auf Initiative der M<strong>in</strong>derheitengruppe -<br />
besondere M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungswahlen veranstaltet<br />
werden und, falls die im Gesetz vorgeschriebenen Stimmenzahlen<br />
(m<strong>in</strong>destens 50 bis 100 je nach Siedlungsgröße) abgegeben<br />
wurden, kann die sog. "unmittelbare M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung“<br />
konstituiert werden.<br />
Wahlberechtigt s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> jedem genannten Modus alle Wahlbürger,<br />
d. h., es wird bei der Stimmabgabe ke<strong>in</strong> formelles ethnisches<br />
Bekenntnis gefordert. Diese Art von "Integration" ist natürlich nicht<br />
unproblematisch. Sie ist <strong>in</strong> diesem Bereich auch die Achillesferse<br />
des ganzen Systems, die sich auch bei den anderen Elementen<br />
(besonders stark bei der Def<strong>in</strong>ierung von Funktion und f<strong>in</strong>anzieller<br />
Ausstattung) des Autonomiegebäudes bemerkbar macht.<br />
200
ROMA IN EUROPA<br />
Die <strong>in</strong>nere Organisation und die Geschäftsordnung, der M<strong>in</strong>oritäten-<br />
Selbstverwaltung ist durch das M<strong>in</strong>derheitengesetz und zum<br />
größten Teil durch das Kommunalgesetz geregelt, wobei die nur<br />
begrenzte Anwendungsmöglichkeit e<strong>in</strong>zelner Bestimmungen des<br />
Kommunalgesetzes viele Schwierigkeiten verursacht.<br />
b. Die Landesselbstverwaltung<br />
Die örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen können sich zu e<strong>in</strong>er<br />
Landesselbstverwaltung zusammenschließen. Besser gesagt, die<br />
Vollversammlung der Landesebene kann von der<br />
Elektorenversammlung gewählt werden. Elektoren s<strong>in</strong>d alle<br />
Mitglieder der örtlichen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen, die den<br />
größten Teil der Elektorenversammlung ausmachen. Der Rest<br />
kommt durch folgendes Verfahren zustande: In den Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong><br />
denen ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung gewählt wurde, kann der<br />
M<strong>in</strong>derheitenkandidat, der die meisten Stimmen bei den<br />
Kommunalwahlen bekommen hat, als "örtlicher<br />
M<strong>in</strong>derheitensprecher" auch als Elektor agieren. Wo es diesen auch<br />
nicht gibt, kann auf Wunsch von drei Bürgern der Kommune durch<br />
Elektorenwahl e<strong>in</strong> Elektor gewählt werden.<br />
Die <strong>in</strong>nere Organisation der Landesselbstverwaltung ist anders als<br />
die der örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung im Gesetz kaum<br />
geregelt. Es besteht also e<strong>in</strong>e sehr weitgehende<br />
Organisationsfreiheit, e<strong>in</strong> fast rechtsfreier Raum, der aber, da es<br />
sich hier um e<strong>in</strong>e juristische Person des öffentlichen Rechts<br />
handelt, mit den rechtsstaatlichen Pr<strong>in</strong>zipien kaum zu vere<strong>in</strong>baren<br />
ist. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Regelung zu schaffen, ist - mit Rücksicht auf<br />
die Vielfalt der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften 14 - ke<strong>in</strong>e leichte<br />
Aufgabe; die allgeme<strong>in</strong> gültigen Spielregeln der rechtsstaatlichen<br />
Demokratie müssen aber auch hier garantiert werden.<br />
Das Verhältnis der örtlichen Ebene zur Landesselbstverwaltung ist<br />
überhaupt nicht geregelt. Weder e<strong>in</strong>e Hierarchie von oben, noch<br />
Subsidiarität von unten bestimmen das Bild. E<strong>in</strong>e mittlere Stufe,<br />
etwa auf Komitatsebene, wurde bei der Vorbereitung des Gesetzes<br />
- trotz dem Wunsch der M<strong>in</strong>derheitenseite - mit Ausnahme der<br />
14 Zur Zeit gibt es <strong>in</strong> Ungarn 13 vom Gesetz anerkannte M<strong>in</strong>derheiten, die mehr als<br />
800 örtliche Selbstverwaltungen und 11 Landesselbstverwaltungen haben. Die<br />
geschätzte Größe der e<strong>in</strong>zelnen Volksgruppen bewegt sich zwischen 800.000 und<br />
e<strong>in</strong>igen 1.000 Angehörigen.<br />
201
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
Hauptstadt - nicht etabliert. Es ist aber möglich und wird auch<br />
praktiziert, dass die örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen <strong>in</strong><br />
den e<strong>in</strong>zelnen Komitaten Komitatsverbände gründen, um dadurch<br />
e<strong>in</strong>e bessere regionale Koord<strong>in</strong>ierung zu erreichen. Die<br />
Rechtsstellung dieser Verbände ist aber unklar.<br />
Abschließend kann festgestellt werden, dass das ungarische Modell<br />
organisatorisch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Komb<strong>in</strong>ation von Lokal- und<br />
Personalautonomie ist, während es funktional als e<strong>in</strong>e<br />
Kulturautonomie zu betrachten ist, deren Qualität davon abhängt,<br />
wie der Organisationsrahmen <strong>in</strong>haltlich und auch f<strong>in</strong>anziell<br />
ausgestattet ist. Dieser Frage wird <strong>in</strong> den folgenden Punkten<br />
nachgegangen.<br />
3.2.2 Die Funktionen<br />
Anders als nur vor e<strong>in</strong>igen Jahren s<strong>in</strong>d Maßstäbe, woran die Qualität<br />
e<strong>in</strong>er kulturellen Autonomie zu messen ist, heutzutage ke<strong>in</strong>e<br />
Mangelware mehr. 15 In den meisten dieser Dokumente werden für<br />
die lokal-regionale Autonomie folgende Funtionsbereiche erwähnt:<br />
- das Recht, eigene Symbole zu haben und zu zeigen,<br />
- e<strong>in</strong> Unterrichtswesen, welches die Werte und Bedürfnisse der<br />
Gruppe berücksichtigt,<br />
- kulturelle Institutionen und Programme,<br />
- Rundfunk und Fernsehen. 16<br />
Die ungarische Gesetzgebung erfüllt die oben genannten Kriterien.<br />
Das M<strong>in</strong>derheitengesetz erwies sich <strong>in</strong> der Zwischenzeit als e<strong>in</strong><br />
wahrer Kodex, da es die spätere Gesetzgebung bestimmt hat: Die<br />
Modifizierung des Unterrichtsgesetzes (Gesetz Nr. LXXIX/1993) <strong>in</strong><br />
1996 sowie das neue Mediengesetz (Gesetz Nr. I/1996) vom<br />
gleichen Jahr be<strong>in</strong>halten wichtige m<strong>in</strong>derheitenrelevante<br />
Bestimmungen.<br />
In allen Aufgabenbereichen der kulturellen Autonomie (Bildung und<br />
Kultur, Medien, Sprachgebrauch) f<strong>in</strong>det man Rechte und<br />
Befugnisse, die teils "richtige" Autonomierechte<br />
(Entscheidungsmöglichkeiten <strong>in</strong> eigener Sache), teils<br />
Mitbestimmungsrechte (Integrationsrechte) s<strong>in</strong>d. Die Qualität der<br />
15 E<strong>in</strong>e sehr gute Zusammenfassung von e<strong>in</strong>schlägigen Zitaten aus völkerrechtlichen<br />
Dokumenten siehe F. Ermacora, Ch. Pan: Volksgruppenschutz <strong>in</strong> Europa, Wien 1995.<br />
16 Wie z. B. im Jugoslawien-Vorschlag der Haager Friedenskonferenz. Siehe: F.<br />
Ermacora-Ch. Pan, a.a.O., S. 41-42.<br />
202
ROMA IN EUROPA<br />
Autonomie kann durch das Verhältnis beider zu e<strong>in</strong>ander gemessen<br />
werden.<br />
a. Bildung und Kultur<br />
Außer den schon erörterten Bestimmungen des<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetzes besagt das Unterrichtsgesetz, dass die<br />
Unterrichtssprachen <strong>in</strong> Ungarn ungarisch und die Sprachen der<br />
M<strong>in</strong>derheiten s<strong>in</strong>d. Das Schulsystem besteht zum größten Teil aus<br />
staatlichen (von den Kommunen bzw.den Komitaten betriebenen)<br />
Schulen. Es gibt aber auch e<strong>in</strong>ige kirchliche und private Schulen.<br />
Die Rechte und Ansprüche der M<strong>in</strong>derheiten werden also nicht<br />
durch e<strong>in</strong> eigenes Schulnetz, sondern vom Staat selbst<br />
gewährleistet bzw. befriedigt. Wenn es m<strong>in</strong>destens acht Familien<br />
beantragen, ist der Schulherr verpflichtet, Unterricht auch <strong>in</strong> den<br />
M<strong>in</strong>derheitensprachen anzubieten.<br />
Das M<strong>in</strong>derheitengesetz erlaubt zwar den m<strong>in</strong>oritären<br />
Selbstverwaltungen, eigene Schulen zu gründen, damit s<strong>in</strong>d sie<br />
aber nur mit allen anderen Rechtssubjekten gleichgestellt. Es<br />
bedeutet eigentlich nichts mehr, als dass die Gründung von<br />
M<strong>in</strong>derheitenschulen nicht rechtswidrig ist. Laut Gesetz besteht<br />
auch die Möglichkeit für die M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung e<strong>in</strong>e<br />
staatliche Schule von der Kommune durch Vere<strong>in</strong>barung zu<br />
übernehmen, falls erstere dazu bereit ist.<br />
Die Autonomierechte s<strong>in</strong>d also <strong>in</strong> Form von Mitsprache- bzw.<br />
Mitbestimmungsrechten gestaltet. So muss die<br />
Landesselbstverwaltung <strong>in</strong> das Gesetzgebungsverfahren<br />
e<strong>in</strong>gebunden werden, falls es um m<strong>in</strong>derheitenrelevante Gesetze<br />
geht. Gleiches gilt für die örtliche Selbstverwaltung bei<br />
Satzungsentscheidungen. Als e<strong>in</strong>e andere Form der Beteiligung<br />
wurde vom Bildungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitenkommission aus<br />
Vertretern der Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten<br />
gegründet, die e<strong>in</strong>e Beratungsfunktion ausübt. Stärkste "Waffe" der<br />
örtlichen m<strong>in</strong>oritären Selbstverwaltung ist das Vetorecht bei der<br />
Ernennung des Direktors e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheitenschule und bei weiteren<br />
m<strong>in</strong>derheitenrelevanten Beschlüssen des Geme<strong>in</strong>de- bzw.<br />
Stadtrates.<br />
b. Medien<br />
Die M<strong>in</strong>derheitenverbände s<strong>in</strong>d natürlich auch Subjekte des Rechts<br />
auf Pressefreiheit. Die Herausgabe von Zeitungen ist nicht nur<br />
203
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
erlaubt, sie wird auch vom Staat subventioniert. Wichtige<br />
Regulierung des Mediengesetzes (eigentlich das Gesetz über die<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten) ist, dass die<br />
Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>en<br />
Vertreter <strong>in</strong> die Kuratorien, die diese Institutionen beaufsichtigen,<br />
entsenden können.<br />
Es gibt auch e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destgarantie für die Sendezeiten, die <strong>in</strong> der<br />
Zukunft nicht kürzer werden dürfen als sie beim Inkrafttreten des<br />
Mediengesetzes, am 1. Februar 1996, gewesen s<strong>in</strong>d. Da das sog.<br />
duale System von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern<br />
gerade e<strong>in</strong>geführt wird, ist es auch von großer Bedeutung, dass das<br />
Mediengesetz bestimmt, dass bei der Vergabe von Frequenzen<br />
Bewerber bevorzugt werden sollen, die auch<br />
M<strong>in</strong>derheitensendungen (das heißt Sendungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
M<strong>in</strong>derheitensprache und über M<strong>in</strong>derheiten) anbieten wollen.<br />
c. Gebrauch der Muttersprache<br />
De iure ist der Gebrauch der M<strong>in</strong>derheitensprachen <strong>in</strong> allen<br />
Bereichen des öffentlichen Lebens durch das M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />
und durch die Gesetze über das Zivil-, Straf- und<br />
Verwaltungsverfahren garantiert. Geme<strong>in</strong>de- bzw. Stadträte müssen<br />
auf Wunsch der M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen dafür sorgen,<br />
dass Veröffentlichungen sowie Formulare auch <strong>in</strong> den Sprachen der<br />
M<strong>in</strong>derheiten zur Verfügung stehen. Das gilt auch für die Orts- und<br />
Straßenschilder.<br />
In den Ortschaften mit M<strong>in</strong>derheitenbevölkerung müssen bei der<br />
Bewerbung für Verwaltungsstellen Bewerber bevorzugt werden, die<br />
auch die M<strong>in</strong>derheitensprache sprechen.<br />
Diese sehr großzügigen Regelungen haben zurzeit kaum praktische<br />
Bedeutung. Sie können aber große Bedeutung erhalten, falls das<br />
erklärte Ziel des M<strong>in</strong>derheitengesetzes, nämlich die Revitalisierung<br />
der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften, ernsthaft angestrebt wird.<br />
204
3.3.3 Die f<strong>in</strong>anzielle Autonomie<br />
ROMA IN EUROPA<br />
"It is impossible to conclude a study of autonomy... without<br />
discuss<strong>in</strong>g the f<strong>in</strong>anc<strong>in</strong>g of that autonomy" schreibt zutreffend Prof.<br />
Philippe de Bruycker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie für den Europarat <strong>in</strong> 1993. 17<br />
Wie steht es mit den F<strong>in</strong>anzen des ungarischen<br />
Selbstverwaltungssystems? Da es sich bei den<br />
M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen um Subjekte des öffentlichen<br />
Rechts handelt, ist die Bestimmung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes, die<br />
die F<strong>in</strong>anzierung durch den Staat garantiert, e<strong>in</strong>e<br />
Selbstverständlichkeit. Es gibt aber weder eigene E<strong>in</strong>nahmen noch<br />
e<strong>in</strong>e normativ festgelegte Beteiligung an den Haushaltse<strong>in</strong>nahmen<br />
(Steuergelder oder sonstige Abgaben), die normalerweise<br />
Bestandteile e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Autonomie s<strong>in</strong>d. Es werden vielmehr<br />
<strong>in</strong> den Jahreshaushalten öffentliche Mittel für M<strong>in</strong>derheitenzwecke,<br />
wie z. B. Sonderleistungen für den M<strong>in</strong>derheitenunterricht<br />
bereitgestellt. Bei der Anwendung dieser Gelder haben die<br />
m<strong>in</strong>oritären Selbstverwaltungen wiederum e<strong>in</strong> Mitsprache- aber ke<strong>in</strong><br />
Mitbestimmungsrecht.<br />
E<strong>in</strong>e andere Form der zweckbestimmten, also nicht normativen<br />
F<strong>in</strong>anzierung, die eigentlich e<strong>in</strong>e Projektf<strong>in</strong>anzierung ist, ist die<br />
Verteilung von Haushaltsmitteln durch e<strong>in</strong>e öffentliche Stiftung, bei<br />
der sich die M<strong>in</strong>derheitenorganisationen mit Projekten bewerben<br />
können. Im Kuratorium dieser Stiftung s<strong>in</strong>d die<br />
M<strong>in</strong>derheitenvertreter dom<strong>in</strong>ant repräsentiert.<br />
Außerdem bekommen die örtlichen und die Landes-<br />
Selbstverwaltungen jährlich e<strong>in</strong>e gewisse Summe zur Deckung<br />
laufender Kosten, deren Höhe vom Menschenrechtsausschuß des<br />
Parlaments - nach verschiedenen Kriterien - bestimmt wird.<br />
E<strong>in</strong>e sehr unkalkulierbare Quelle für die örtlichen<br />
Selbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten s<strong>in</strong>d die Kommunen. Die<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetzgebung verpflichtet sie nur mit sehr ungenauen<br />
Regeln zur Mitf<strong>in</strong>anzierung. Es liegt praktisch im freien Ermessen<br />
der Kommune, <strong>in</strong> welchem Maße sie dieser Pflicht nachkommt.<br />
Außer auf regelmäßige Zuweisungen kann sich e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle<br />
Autonomie auch auf Gew<strong>in</strong>ne aus Vermögen stützen. Abgesehen<br />
17 Philippe de Bruycker: The political and <strong>in</strong>stitutional role of regions <strong>in</strong> federal and<br />
"regional" states: evaluation and perspectives. In: Regionalisation <strong>in</strong> Europe:<br />
evaluation and perspectives Strasbourg 1994 (Studies and texts, No. 35) S 36.<br />
205
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
von e<strong>in</strong>em ziemlich kle<strong>in</strong>en Startkapital 18 für die<br />
Landesselbstverwaltungen wurden allerd<strong>in</strong>gs weder den örtlichen<br />
noch den Landes-Selbstverwaltungen Eigentumsgegenstände<br />
(Immobilien oder Aktien) übertragen.<br />
4. Erfahrungen und Bewertung<br />
a. Die M<strong>in</strong>derheitenwahlen<br />
Seit dem Inkrafttreten des M<strong>in</strong>derheitengesetzes (22. Oktober<br />
1993) s<strong>in</strong>d drei Wahlperioden vergangen. In dieser Zeit haben die<br />
Angehörigen der M<strong>in</strong>derheiten von ihrem Wahlrecht weitgehend<br />
Gebrauch gemacht. Es wurden <strong>in</strong> 1994-95 landesweit be<strong>in</strong>ahe 800<br />
lokale Selbstverwaltungen gewählt (die Gesamtzahl der Kommunen<br />
<strong>in</strong> Ungarn liegt bei 3200), die sich <strong>in</strong> 11 Landesselbstverwaltungen<br />
zusammengeschlossen haben. 19 Für die M<strong>in</strong>derheitenlisten bei den<br />
Kommunalwahlen wurden mehr als e<strong>in</strong>e halbe Million Stimmen<br />
abgegeben. Nach allgeme<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung haben - besonders <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Ortschaften - auch sehr viele "Ungarn" für diese Listen<br />
gestimmt, was – wie oben schon erwähnt wurde – nach dem<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetz durchaus möglich ist. Die Vertreter der<br />
M<strong>in</strong>derheiten bewerten dies meistens als e<strong>in</strong>e<br />
Sympathiebekundung der Mehrheitsbevölkerung. H<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er<br />
möglichen Majorisierung durch die Wählerschaft der Mehrheit<br />
wurden e<strong>in</strong>stweilen ke<strong>in</strong>e ernsthaften Befürchtungen geäußert. Die<br />
Gefahr für die Zukunft ist aber auch damals unübersehbar<br />
gewesen. Diese Befürchtungen haben sich leider <strong>in</strong> der zweiten und<br />
besonders <strong>in</strong> den dritten Wahlperiode weitgehend bestätigt. Es gab<br />
skandalöse Missbräuche. Nach Schätzungen der e<strong>in</strong>zelnen<br />
Landesselbstverwaltungen gehören zahlreiche Mitglieder der<br />
M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen nicht zur Geme<strong>in</strong>schaft und s<strong>in</strong>d<br />
nur an e<strong>in</strong>em gewissen „ethnobus<strong>in</strong>ess“ <strong>in</strong>teressiert.<br />
Die Diskussion über e<strong>in</strong>e eventuelle Registrierung <strong>in</strong> besonderen<br />
Wählerlisten für die M<strong>in</strong>derheiten ist nach dieser Ereignissen wieder<br />
entflammt. Da es <strong>in</strong> Ungarn nicht nur e<strong>in</strong> Datenschutzgesetz<br />
(Gesetz Nr. LXIII/1992), sondern auch e<strong>in</strong>en Ombudsmann für<br />
18<br />
Laut M<strong>in</strong>derheitengesetz bekamen die Landesselbstverwaltungen Aktien <strong>in</strong> Wert<br />
von 15 bis 60 Millionen For<strong>in</strong>t.<br />
19<br />
Die genauen Zahlen s<strong>in</strong>d folgende: Roma 421, deutsch 162, kroatisch 56,<br />
slowakisch 49, serbisch 19, armenisch 16, rumänisch 12, polnisch 7, griechisch 6,<br />
slowenisch 6, bulgarisch 4, ruthenisch 1. Bei den zweiten und bei den dritten Wahlen<br />
haben sich diese Zahlen jeweils fast verdoppelt.<br />
206
ROMA IN EUROPA<br />
Datenschutz und Informationsfreiheit gibt, halten die Autoren die<br />
Bedenken der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften bezüglich e<strong>in</strong>er solchen<br />
Registrierung für unbegründet. Aber die Angst und der<br />
Vertrauensverlust haben ihre historischen Gründe und sitzen<br />
ansche<strong>in</strong>end tiefer als angenommen.<br />
II. Besondere Probleme der Roma bei der Umsetzung des<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetzes<br />
E<strong>in</strong>führende Gedanken<br />
Die Besonderheit der Roma-Selbstverwaltungen besteht vor allem<br />
dar<strong>in</strong>, dass sie ohne die erforderlichen Mittel und Kompetenzen, im<br />
Rahmen der ihnen zugesicherten Aufgabenbereichen nicht <strong>in</strong> der<br />
Lage s<strong>in</strong>d, die Interessen der Geme<strong>in</strong>schaft effizient zu vertreten<br />
und ihre Probleme zu lösen. Der Romabevölkerung geht es nämlich<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht darum, ihre M<strong>in</strong>derheitenidentität (Sprache,<br />
Traditionen, Kultur) zu bewahren. Vermutlich geht es noch nicht<br />
e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> zweiter L<strong>in</strong>ie um diese Fragen, sondern es geht vor allem<br />
um die Behebung der täglichen materiellen und sozialen<br />
Schwierigkeiten.<br />
Für die Romageme<strong>in</strong>schaften ist die im M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />
verankerte Autonomie fast belanglos, weil e<strong>in</strong>e auf Kultur und<br />
Muttersprache fokussierte Rechts<strong>in</strong>stitution nicht geeignet ist,<br />
soziale Probleme zu lösen.<br />
Die Sprache der Roma und ihre Volksmusik – die ohneh<strong>in</strong> schon<br />
fast vollständig von der Weltmusik e<strong>in</strong>verleibt wurde – s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
Ungarn vom Aussterben bedroht. Auch die nur noch <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en<br />
Gruppen aufrecht erhaltenen traditionellen Kulturwerte der Roma<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> großer Gefahr. Aber das Recht auf M<strong>in</strong>derheitenkultur und<br />
das Bedürfnis, solche Rechte geltend zu machen, wird zur<br />
zweitrangigen oder gar drittrangigen Frage angesichts der sozialen<br />
Probleme.<br />
1. Bestandsaufnahme<br />
Die außerhalb der Grenzen lebenden 2,75 Millionen Ungarn und die<br />
mitteleuropäischen Roma – deren Zahl auf 4,5 - 6 Millionen<br />
geschätzt wird – gehören zu den größten M<strong>in</strong>derheiten<br />
207
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
Mittel<strong>europa</strong>s. 20 Die Romabevölkerung ist gleichzeitig die größte<br />
M<strong>in</strong>derheit Europas und Ungarns.<br />
Charakteristisch für die <strong>in</strong> Ungarn lebende Romabevölkerung ist 21<br />
e<strong>in</strong> niedriges Durchschnittsalter, bzw. e<strong>in</strong> hoher Anteil junger<br />
Menschen, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>deranteil von 40 % und e<strong>in</strong>e viel kürzere<br />
Lebenserwartung als der ungarische Durchschnitt. Die Fertilität der<br />
Romabevölkerung ist hoch, die durchschnittliche Pro-Kopf-Zahl der<br />
von e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>kommen unterhaltenen Personen beträgt das<br />
Zweifache des ungarischen Durchschnitts.<br />
Bis zum Jahre 2050 wird die Zahl der Roma auf m<strong>in</strong>destens<br />
824.000 und höchstens auf 1,6 Millionen prognostiziert. Wenn man<br />
<strong>in</strong> Betracht zieht, dass die Zahl der alternden ungarischen<br />
Gesamtbevölkerung voraussichtlich auf 8 Millionen zurückgeht,<br />
kann der Anteil der Roma <strong>in</strong>sgesamt 15 % erreichen.<br />
Zweidrittel der Romabevölkerung lebt <strong>in</strong> schlecht ausgestatteten<br />
Wohnungen. Die Arbeitslosigkeit der Roma ist sehr hoch und<br />
erreicht <strong>in</strong> den von Roma bewohnten Regionen (d. h. <strong>in</strong> den<br />
ärmsten Landesteilen, vor allem <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>stdörfern) erschreckende<br />
Werte. Aber selbst <strong>in</strong> diesen Regionen liegt die Beschäftigungsrate<br />
der Roma wesentlich unter dem Durchschnitt der dort lebenden<br />
Bevölkerung.<br />
Und wie steht es mit den Grundschulen? E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> 573 Grundschulen<br />
durchgeführte Untersuchung zeigt 22 , dass <strong>in</strong> Klassen mit normalem<br />
Curriculum der Anteil der Romaschüler bereits jetzt 37 % beträgt. In<br />
spezialisierten Klassen liegt ihr Anteil mit 17 % bei weniger als der<br />
Hälfte. Romak<strong>in</strong>der kommen also kaum <strong>in</strong> spezialisierte Klassen,<br />
<strong>in</strong> denen Englisch, Deutsch, Gymnastik oder Musik Hauptfächer<br />
s<strong>in</strong>d. In Schülergruppen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen<br />
liegt der Anteil von Romak<strong>in</strong>dern andererseits bei 73%. Und fast<br />
20 László Szarka: Wie die mitteleuropäischen M<strong>in</strong>derheiten typologisch kategorisiert<br />
werden können. In: M<strong>in</strong>derheitenforschung, 2/1999. (A Közép-európai kisebbségek<br />
tipológiai besorolhatósága. Kisebbségkutatás, 1999.)<br />
21 Demographische Szenarien 1997–2050. (Demográfiai forgatókönyvek 1997-2050.)<br />
Bevölkerungswissenschaftliches Forschungs<strong>in</strong>stitut, Statistisches Zentralamt,<br />
Budapest, 1998.<br />
22 Im Frühl<strong>in</strong>g 2004 haben – dem Auftrag der für die Integration benachteiligter<br />
Romak<strong>in</strong>der zuständigen M<strong>in</strong>isterialbeauftragten des Unterrichtsm<strong>in</strong>isteriums folgend<br />
– Experten des Forschungs<strong>in</strong>stituts für Hochschuldbildung <strong>in</strong> 573 Grundschulen die<br />
Auswirkungen der durch die Regierung e<strong>in</strong>geführten Desegregationsmaßnahmen<br />
untersucht.<br />
208
ROMA IN EUROPA<br />
genauso viele gehen <strong>in</strong> sogenannte Kle<strong>in</strong>gruppen, um zum<br />
Durchschnittsniveau aufzuschließen.<br />
Über die Unterrichtsqualität sagt viel aus, dass <strong>in</strong> Grundschulen <strong>in</strong><br />
den nur von Roma besuchten „homogenen Klassen” mit<br />
Normalcurriculum mit e<strong>in</strong>em um 60% verr<strong>in</strong>gerten Lehrmaterial<br />
unterrichtet wird.<br />
Diese Romak<strong>in</strong>der setzen ihr Laufbahn meistens <strong>in</strong> Fachschulen<br />
fort, wo nur e<strong>in</strong>e sehr beschränkt marktfähige Bildung zu erwerben<br />
ist. Diese Schüler können später den Erforderungen des<br />
Arbeitsmarktes sehr oft nicht gerecht werden.<br />
Romaschüler werden mit e<strong>in</strong>er 8-mal so großen Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
vom täglichen Schulbesuch befreit – d. h. als Privatschüler<br />
e<strong>in</strong>gestuft – als Nicht<strong>roma</strong>-Schüler, wobei dieser Schülerstatus<br />
e<strong>in</strong>deutig zum drastischen Rückgang der Lernergebnisse und zur<br />
Verr<strong>in</strong>gerung der Chancen für e<strong>in</strong>e weitere Ausbildung führt.<br />
Die Zahl der Schulen, <strong>in</strong> denen der Anteil der Roma mehr als 80 %<br />
beträgt, wird immer größer. E<strong>in</strong> Viertel dieser Schulen ist <strong>in</strong> Städten<br />
zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e derartige Segregation e<strong>in</strong>deutig durch den<br />
kommunalen Schulbetreiber zu verantworten ist. Aber selbst <strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>eren Siedlungen lässt sich der hohe Anteil stark benachteiligter<br />
Schüler nicht von der Zusammensetzung der Bevölkerung ableiten.<br />
Auch hier steht sehr oft e<strong>in</strong>e Entscheidung der Kommune im<br />
H<strong>in</strong>tergrund.<br />
Schulen, an denen stark benachteiligte K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d, haben e<strong>in</strong> nur<br />
sehr ger<strong>in</strong>ges Ansehen. In Bezug auf Personal und Ausrüstung s<strong>in</strong>d<br />
sie am schlechtesten ausgestattet. (Die oben angeführten Daten<br />
zeigen seit dem Jahr 2000 – dank der Desegregationsmaßnahmen<br />
der Regierung – e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung der Segregation <strong>in</strong> den<br />
Schulen!)<br />
Sprachlich hat sich die Romabevölkerung <strong>in</strong> Ungarn stark<br />
assimiliert. In den 700er Jahren beherrschten noch 20 % der<br />
Romabevölkerung die Romani-Sprache. Inzwischen g<strong>in</strong>g dieser<br />
Anteil aber auf 5 % zurück. E<strong>in</strong> großer Teil hat also aufgehört, diese<br />
Sprache zu benutzen. 23 - Die Sprache der Roma ist mit allen<br />
anderen M<strong>in</strong>derheitensprachen gleichgestellt, und die Regierung<br />
23 E<strong>in</strong>schliesslich der sog. „Beas”-Sprache, e<strong>in</strong>e altrumänische Sprache, die für 10%<br />
der als Roma geltenden Menschen die Muttersprache ist.<br />
209
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
hält es für wünschenswert, diese Sprache <strong>in</strong> Schulen zu<br />
unterrichten, Fakultäten für Romologie zu gründen, die Sprache zu<br />
erforschen und zu lehren. Trotzdem stellt sich ernsthaft die Frage,<br />
ob die Romani-Sprache <strong>in</strong> Ungarn überhaupt e<strong>in</strong>e Chance zu<br />
überleben hat? 24<br />
Diese Frage ist auch deshalb sehr wichtig, weil entsprechend dem<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetz die geme<strong>in</strong>schaftliche Benutzung der<br />
Muttersprache, die diese Menschen von anderen Teilen der<br />
Bevölkerung unterscheidet, als e<strong>in</strong>es der immanenten Kriterien des<br />
M<strong>in</strong>derheitenbegriffes gilt: Ohne Muttersprache gibt es dem Gesetz<br />
nach ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften.<br />
Da die eigene Muttersprache als wichtigstes Element der<br />
ethnischen Identität gilt, aber auch wegen der <strong>in</strong> allen Bereichen<br />
des gesellschaftlichen Lebens beweisbar vorhandenen<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung, haben die ungarischen Roma auch mit e<strong>in</strong>er<br />
Identitätskrise zu kämpfen.<br />
Die mit <strong>in</strong>neren Konflikten, seelischen Verletzungen und<br />
M<strong>in</strong>derwertigkeitskomplexen e<strong>in</strong>hergehende Selbstverleugnung<br />
kann bereits im K<strong>in</strong>desalter erkannt werden. Das „Schicksal“ von<br />
Jugendlichen gestaltet sich <strong>in</strong> den Mehrheitsgeme<strong>in</strong>schaften anders<br />
als <strong>in</strong> dieser M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaft. Der zur Mehrheit der<br />
Gesellschaft gehörende Jugendliche kann se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Krise <strong>in</strong> der<br />
Regel mit der Zeit meistern und se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />
f<strong>in</strong>den, sich <strong>in</strong>tegrieren. Der zur M<strong>in</strong>derheit gehörende Jugendliche<br />
kämpft weiterh<strong>in</strong> mit der eigenen Identität: Wer b<strong>in</strong> ich? Warum b<strong>in</strong><br />
ich gerade so, wie ich b<strong>in</strong>? Wo komme ich her? Warum werde ich<br />
von der mehrheitlichen Gesellschaft nicht angenommen? 25<br />
Wie aus Forschungen hervorgeht, würde <strong>in</strong> Ungarn m<strong>in</strong>destens die<br />
Hälfte der Roma die eigene Herkunft verleugnen, wenn dies wegen<br />
der äußeren Merkmale nicht unmöglich wäre. Vergessen wir nicht:<br />
E<strong>in</strong>e Roma-Herkunft zu beweisen, ist nur <strong>in</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht<br />
wegen der Datenschutzregelungen schwierig. In der Praxis läuft die<br />
Sache recht „problemlos“. In der langsam wachsenden Gruppe der<br />
Roma-Intelligenz wird häufig die – menschlich verständliche –<br />
„Bleichungsstrategie“ verfolgt, die auch dadurch erleichtert wird,<br />
dass die ungarische Gesellschaft – zum<strong>in</strong>dest meistens - Roma mit<br />
24 János Báthory: Identität ohne Sprache?,<br />
www.ctmt.fw.hu/news/200404/b%E1tori.htm<br />
25 Szabóné Judit Kármán: Abweichende Züge der Sozialisation <strong>in</strong> Schule und Familie<br />
im Leben der Romak<strong>in</strong>der, http://www.mave.hu/news.php?cat=1124_2<br />
210
ROMA IN EUROPA<br />
Universitätsabschluss zwar gerne akzeptiert, diese aber nur als<br />
„Ausnahme“ ansieht. Nicht <strong>in</strong> diese Gruppe fallen allerd<strong>in</strong>gs die<br />
Romapolitiker und die im Staatswesen tätigen und für Romafragen<br />
zuständigen Beauftragten, die praktisch als „professionelle Roma“<br />
angesehen werden,<br />
Wie e<strong>in</strong>e im Januar 2005 durchgeführte Forschung zeigte 26 , gibt es<br />
nur e<strong>in</strong>e Gruppe <strong>in</strong> der untersuchten ungarischen Gesellschaft, die<br />
mehr als der Durchschnitt auf ihrem Europäischse<strong>in</strong> besteht. Das<br />
s<strong>in</strong>d die Roma, die aber gleichzeitig ihre ungarische Identität<br />
ebenfalls für wichtig halten. Ihr europäischer Stolz geht also<br />
e<strong>in</strong>erseits nicht zulasten der ungarischen Identität, andererseits<br />
brauchen sie unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Beziehungspunkt außerhalb des<br />
Mutterlandes, der Sicherheit, genauer gesagt den Ansche<strong>in</strong> der<br />
Sicherheit, gibt und gewissermaßen das Mutterland ersetzt.<br />
Arbeitslosigkeit, tiefe Armut, Wohnungsprobleme, Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong><br />
sämtlichen Lebensbereichen und Unsicherheit – mit diesen Worten<br />
lässt sich kurz die Situation der ungarischen Roma-Gesellschaft<br />
beschreiben.<br />
2. Das subjektive Verhältnis zur kulturellen Autonomie<br />
Zahl und Anteil der Roma-Selbstverwaltungen wachsen ständig 27 .<br />
Dies ist e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Anzeichen dafür, dass die Existenz der<br />
durch die Verfassung und das M<strong>in</strong>derheitengesetz konstruierten<br />
Rechts<strong>in</strong>stitution der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung für die<br />
ungarische Roma-Gesellschaft sehr wichtig ist.<br />
Die Frage ist, ob dieses zahlen- und anteilmäßige Wachstum der<br />
M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen e<strong>in</strong> positives Verhältnis der Roma<br />
zur kulturellen Autonomie darstellt. Oder bedeutet es nur, dass es<br />
ke<strong>in</strong> anderes staatlich unterstütztes Interessenvertretungsforum für<br />
die ungarische Roma-Gesellschaft gibt? Oder bedeutet es noch<br />
weniger? Bedeutet es vielleicht nur e<strong>in</strong> niedriges Mandatshonorar<br />
bzw. e<strong>in</strong>e Möglichkeit zum Lobby<strong>in</strong>g von zweifelhaftem Wert für<br />
etwa 3000 Privatpersonen? Oder nicht e<strong>in</strong>mal soviel?<br />
26 Die Forschung wurde im Auftrag der Stiftung Demokratieforschungen vom Institut<br />
Tárki durchgeführt, Népszabadság, 11. März 2005.<br />
27 Im Jahre 1998 waren von 1309 M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen 753 Roma-<br />
Selbstverwaltungen; im Jahre 2002 waren von 1473 M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen<br />
1002 Zigeuner-M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen.<br />
211
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
3. Braucht man überhaupt Roma-Selbstverwaltungen?<br />
Laut e<strong>in</strong>er im Herbst 2001 und im Frühl<strong>in</strong>g 2002 durchgeführten<br />
Untersuchung 28 beantwortete e<strong>in</strong>e Mehrheit von 70 % der<br />
Vorsitzenden der Roma-Selbstverwaltungen diese Frage mit ja. Sie<br />
erwähnten dabei, wie wichtig es sei, die Integration der Roma<br />
voranzutreiben, ihre Interessen zu vertreten und die Me<strong>in</strong>ung der<br />
Roma-Bevölkerung zu artikulieren. Sie erklärten auch, dass die<br />
Roma-Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Richtung der Romabevölkerung als<br />
Kommunikationskanal funktionieren können. Fast niemand hat<br />
dabei an die kulturelle Autonomie und die Aufgabe der<br />
Traditionserhaltung gedacht, obwohl dies entsprechend dem<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetz das Hauptprofil der M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltungen ist.<br />
90 % der Leiter der Roma-Selbstverwaltungen hielten es für wichtig,<br />
dass die Roma-Selbstverwaltungen existieren. Es gab jedoch<br />
ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen (!) Abgeordneten, der Autonomie und<br />
Traditionserhaltung als etwas Notwendiges erwähnt hätte.<br />
Die Antwort auf die Frage ist daher: Ja – aber nicht um kulturelle<br />
Autonomie zu sichern.<br />
4. Wozu s<strong>in</strong>d also Roma-Selbstverwaltungen gut?<br />
Die Mehrheit der Romaabgeordneten me<strong>in</strong>en, dass das „Roma-<br />
Problem behandelt wird“ 29 Die Abgeordneten glauben sogar <strong>in</strong><br />
vielen Bereichen seriöse Kompetenzen zu besitzen, die ihnen laut<br />
Gesetz überhaupt nicht zustehen. Dazu gehört unter anderem die<br />
soziale Arbeit. 30<br />
8 Ernő Kállai: Erfahrungen und wünschenswerte Änderungen bei den lokalen<br />
Zigeuner-M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen, <strong>in</strong>. Tér és terep, Ed.: Nóra Kovács, Anna<br />
Osvát und László Szarka, Akademischer Verlag, Budapest, 2004.<br />
9 Siehe: Kállai<br />
10 Siehe: 102/C. § (1), Gesetz Nr. LXV. von 1990 über die lokalen<br />
Selbstverwaltungen. Die lokalen M<strong>in</strong>derheitenaufgaben und die diesbezüglichen<br />
Kompetenzen stehen dem lokalen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung zu. Das Gremium<br />
kann se<strong>in</strong>e Kompetenz auf den Vorsitzenden und den Ausschuss übertragen.<br />
(2) Die Abgeordneten der kommunalen Selbstverwaltung können ihre Aufgaben und<br />
Kompetenzen – mit Ausnahme von Aufgaben und Kompetenzen, die mit behördlichen<br />
Tätigkeiten und Kommunale Versorgung zusammenhängen – auf das Gremium der<br />
lokalen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung übertragen<br />
212
ROMA IN EUROPA<br />
Aus den Antworten von kommunalen Führungskräften geht es<br />
hervor, dass den Roma-Selbstverwaltungen besondere<br />
Kompetenzen im Bereich der Abwicklung von sozialen<br />
Angelegenheiten zugemutet werden. Das heißt, dass nicht nur<br />
Roma-Führungskräfte selbst bei sich das Recht, <strong>in</strong> sozialen<br />
Angelegenheiten aktiv zu werden, vermuten, sondern dass sie auch<br />
<strong>in</strong> dieser Rolle von anderen kommunalen Führungskräften bestätigt<br />
werden. In vielen Fällen werden sie sogar mit diesen<br />
Angelegenheiten beauftragt, woran die Romabevölkerung ihrerseits<br />
meistens auch tatsächlich <strong>in</strong>teressiert ist. Dadurch werden<br />
gleichzeitig die Verantwortung und die mit sozialen Aufgaben<br />
e<strong>in</strong>hergehenden Konfrontationslasten an die Roma-<br />
Selbstverwaltungen delegiert.<br />
Ungefähr Zweidrittel jener, die sich mit Beschwerden an den<br />
M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten (Ombudsman) wenden, s<strong>in</strong>d Roma, und<br />
bei fast Zweidrittel davon geht es um Sozialhilfe, Sozialarbeit,<br />
Wohnung und um andere soziale Fragen. Wenn der<br />
M<strong>in</strong>derheitenbeauftragte auf nationaler Ebene <strong>in</strong> sozialen<br />
Angelegenheiten <strong>in</strong> dem Maße um Hilfe gebeten wird, dann ist es<br />
durchaus vorstellbar, dass <strong>in</strong> Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit<br />
die Roma-Selbstverwaltungen – die sich selbst soziale<br />
Kompetenzen zumuten – fast ausschließlich mit sozialen<br />
Problemen aufgesucht werden.<br />
Laut e<strong>in</strong>er Untersuchung von 1999 31 halten 46,4 % der Roma die<br />
Arbeit der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen für nicht ausreichend<br />
und 40 % glauben nicht daran, dass die M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltung ihren Erwartungen gerecht wird. Im Allgeme<strong>in</strong>en<br />
s<strong>in</strong>d sie der Me<strong>in</strong>ung, dass die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung bei<br />
der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben ke<strong>in</strong>e guten Ergebnisse<br />
aufweist.<br />
Statt Unterricht von Kultur, Geschichte oder Sprache der Roma<br />
halten es die Roma selbst für viel wichtiger, dass die Roma-<br />
Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Sachen Ausbildung von Arbeitskräften,<br />
Sozialhilfe, Wohnungswesen aktiv werden, bzw. Fälle von<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung aufdecken. Statt der Durchsetzung von<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechten wird die Durchsetzung von sozialen Rechten<br />
11 Robert E. Koulish: Was wollen die Roma? E<strong>in</strong>e Untersuchung über die Attitüden im<br />
öffentlichen Leben der Roma <strong>in</strong> Ungarn, www.<strong>roma</strong>centrum.hu/aktualis/tud.kut<br />
213
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
der Roma als e<strong>in</strong>e viel wichtigere Aufgabe der M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltungen erachtet.<br />
Die anderen nationalen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen<br />
veranstalten generell viele Kulturprogramme (Bälle, gastronomische<br />
Abende, Auftritt von Tanzgruppen und Volkschören, volkstümliche<br />
Aufführungen, Studentenlager, Gesangslager etc.). Die Tätigkeit<br />
der Roma-Verwaltungen besteht dagegen grundsätzlich aus<br />
Lobby<strong>in</strong>g. Die Roma-Bevölkerung bittet ihre M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltungen vorwiegend <strong>in</strong> solchen Angelegenheiten um<br />
Hilfe, <strong>in</strong> denen die Selbstverwaltung überhaupt ke<strong>in</strong>e Kompetenzen<br />
hat, wie bei Wohnungsproblemen, Arbeitsplatzsuche, Schulden den<br />
Stadtwerken gegenüber, Geldhilfe. In solchen Angelegenheiten<br />
kann sich die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung höchstens vermittelnd<br />
e<strong>in</strong>setzen, sie kann auf e<strong>in</strong>e Lösung h<strong>in</strong>wirken und gute Worte<br />
e<strong>in</strong>legen. Typischerweise werden auch kommunale und<br />
geme<strong>in</strong>nützige Arbeiten organisiert und abgewickelt. Dabei werden<br />
die Arbeitskräfte durch die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung<br />
ausgewählt. Sie ist auch für die Überwachung und Kontrolle der<br />
Arbeiten zuständig, wodurch sie auch die daraus entstehenden<br />
Konflikte austragen muss.<br />
Dabei geht es nicht nur um e<strong>in</strong>e „freiwillige“ Aufgabenübernahme<br />
seitens der Roma-Selbstverwaltungen. Vielmehr erwartet dies die<br />
Regierung auch, und zwar mit dem Ziel, den Roma-Arbeitslosen zu<br />
Vorteilen zu verhelfen und ihnen Vergünstigungen 32 zu sichern. Das<br />
Arbeitsm<strong>in</strong>isterium kann nämlich die zur Vergünstigung nicht<br />
berechtigten Personen nur durch „Mitwirkung“ der Roma-<br />
Selbstverwaltung herausfiltern.<br />
32 Die relevanten Regelungen s<strong>in</strong>d Teil der Verordnung Nr. 6/1996. (16.VII.) des<br />
Arbeitsm<strong>in</strong>isteriums über beschäftigungsfördernde Unterstützungen. Die<br />
Vergünstigungen können grundsätzlich <strong>in</strong> zwei Kategorien e<strong>in</strong>gestuft werden.<br />
Abweichend von den allgeme<strong>in</strong>en Regeln, kann zum Erwerb e<strong>in</strong>es<br />
Grundschulabschlusses, e<strong>in</strong>er Fachausbildung, e<strong>in</strong>er für die Hochschule oder<br />
Universität vorbereitenden Bildung Unterstützung gewährt werden, wenn <strong>in</strong> der<br />
Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmer auch die Roma-Selbstverwaltung, e<strong>in</strong><br />
Zusammenschluss von mehreren Roma-Selbstverwaltungen oder aber e<strong>in</strong>e<br />
gerichtlich e<strong>in</strong>getragene Roma-Interessenvertretungs-Organisation mitwirkt. Laut<br />
rechtlicher Bestimmung wird die Vergünstigung auch dann vorteilhafter, wenn die<br />
Teilnahme von Roma an geme<strong>in</strong>nützigen Arbeiten von e<strong>in</strong>er Roma-Selbstverwaltung,<br />
von e<strong>in</strong>em Zusammenschluss von mehreren Roma-Selbstverwaltungen oder aber<br />
durch e<strong>in</strong>e gerichtlich e<strong>in</strong>getragene Roma-Interessenvertretungs-Organisation<br />
organisiert wird oder wenn diese wenigstens an der Organisationsarbeit teilnehmen.<br />
In diesem Fall kann die Unterstützung bis zu 90 % der direkten Kosten der<br />
Beschäftigung betragen und anstatt während e<strong>in</strong>es Jahres zwei Jahre lang<br />
ausgezahlt werden.<br />
214
ROMA IN EUROPA<br />
Hier haben wir offenbar e<strong>in</strong>en Widerspruch: Obwohl das<br />
Selbstverwaltungsgesetz den M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen<br />
ke<strong>in</strong>e behördlichen Aufgaben zuteilt, wird durch e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>isterielle<br />
Verordnung bei e<strong>in</strong>er adm<strong>in</strong>istrativen Beschäftigungsaufgabe e<strong>in</strong>e<br />
„Mitwirkung“ der Roma-Selbstverwaltungen erwartet, allerd<strong>in</strong>gs<br />
ohne Zusicherung von behördlichen Kompetenzen.<br />
5. Wie funktioniert die Roma-Selbstverwaltung?<br />
Die wichtigste Tätigkeit, das Lobby<strong>in</strong>g, wird von persönlichen<br />
Kontakten bestimmt: Wenn führende Persönlichkeiten der Roma-<br />
M<strong>in</strong>derheit Erfolg bei der Erledigung e<strong>in</strong>er Sache haben wollen,<br />
dann besuchen sie meistens den Bürgermeister. Sie wenden sich<br />
ebenfalls sehr oft an den kommunalen Verwaltungschef 33<br />
Es lässt sich daher feststellen, dass die Funktionsfähigkeit <strong>in</strong> erster<br />
L<strong>in</strong>ie davon abhängt, wie die zwei Selbstverwaltungen, die<br />
kommunale und die der M<strong>in</strong>derheit, subjektiv zusammenarbeiten<br />
können und wollen. Der Schutz der M<strong>in</strong>derheitenrechte sollte aber<br />
nicht von subjektiven Überzeugungen abhängen, sondern auf<br />
e<strong>in</strong>deutige Regelungen basieren.<br />
In den vom Ombudsman für M<strong>in</strong>derheiten 2002 und 2003<br />
durchgeführten umfassenden Untersuchungen („Wie<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechte <strong>in</strong> der Praxis zur Geltung kommen“) gehörte es<br />
ebenfalls zu den wichtigsten Feststellungen, dass der Erfolg der<br />
Zusammenarbeit von kommunalen und M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltungen grundsätzlich vom Beziehungskapital bestimmt<br />
wird, also stark von guten persönlichen Beziehungen und<br />
politischen Sympathien abhängt.<br />
Untersuchungen zeigen, dass das Durchsetzungsvermögen e<strong>in</strong>er<br />
M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung gestärkt wird, wenn der<br />
Bürgermeister der fraglichen Geme<strong>in</strong>de zu e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit gehört<br />
und/oder der Vorsitzende der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung auch<br />
Mitglied des Geme<strong>in</strong>de(Stadt)rates ist. 34<br />
33 Siehe: Kállai<br />
34 Es soll dabei bemerkt werden, dass bei den Wahlen von 2002 die Bürger der<br />
<strong>in</strong>sgesamt 3167 ungarischen Siedlungen 4 Personen der Roma-M<strong>in</strong>derheit zu<br />
Bürgermeistern (dies entspricht 0,12 %) und 545 zu lokalen Abgeordneten, d. h. zu<br />
Mitgliedern ders kommunalen Vertretungskörperschaften, gewählt haben. Aber auch<br />
die letzte Zahl entspricht nicht dem Anteil der Roma-Bevölkerung an der<br />
215
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
Aus diesem Grund s<strong>in</strong>d die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen der<br />
Roma von e<strong>in</strong>em Zwang zur Zusammenarbeit und<br />
Konfliktvermeidung durchdrungen: Für sie ist wichtiger als alles<br />
andere, gute Beziehungen mit dem Bürgermeisteramt, dem<br />
Bürgermeister und dem Notar aufzubauen und zu pflegen.<br />
6. Die objektiven Bed<strong>in</strong>gungen der „kulturellen Autonomie“ der<br />
Roma<br />
6.1. Die besondere f<strong>in</strong>anzielle Situation der Roma-<br />
Selbstverwaltungen<br />
Um gesetzesmäßig zu funktionieren, reicht es für e<strong>in</strong>e<br />
M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung aus, der formalen Anforderung<br />
nachzukommen und jährlich sechs Sitzungen abzuhalten. Daher<br />
besteht durchaus die Möglichkeit, die zur Verfügung stehenden<br />
spärlichen staatlichen Zuschüsse ausschließlich für<br />
Abgeordnetenhonorare, bzw. Spesen und Kostenerstattungen, zu<br />
verwenden. Deswegen ist es nicht nur vorstellbar, sondern es<br />
kommt oft auch <strong>in</strong> der Praxis vor, dass Roma-Selbstverwaltungen<br />
ke<strong>in</strong>e tatsächlichen Tätigkeiten ausüben, und wegen des<br />
Geldmangels auch nicht ausüben können.<br />
Entscheidet sich e<strong>in</strong>e Roma-Selbstverwaltung für Honorar und/oder<br />
Kostenerstattung, so kann sie kulturelle Veranstaltungen erst dann<br />
organisieren, wenn die kommunale Selbstverwaltung, die eigentlich<br />
hierzu nicht verpflichtet ist, Ressourcen zur Verfügung stellt. Auf<br />
persönliche Beziehungen und politischem Vertrauen basierende<br />
Unterstützungen gehen aber immer Hand <strong>in</strong> Hand mit Unterordnung<br />
und Verb<strong>in</strong>dlichkeit.<br />
Und dabei kann man nicht leugnen, dass viele Abgeordneten der<br />
Roma arm s<strong>in</strong>d. Für sie kann selbst e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Summe sehr viel<br />
bedeuten, und zwar so viel, dass sie, wenn sie die kommunale<br />
Gesamtbevölkerung: Die Zahl der Roma-Abgeordneten <strong>in</strong> den lokalen<br />
Vertretungskörpern beträgt weniger als 2 %, während der Anteil der Roma an der<br />
ungarischen Gesamtbevölkerung wahrsche<strong>in</strong>lich über 5 % liegt. Das Bild ist noch<br />
trauriger, wenn wir berücksichtigen, dass die überwiegende Mehrheit der Roma-<br />
Kandidaten nicht aus eigenem Recht, sondern nur durch die den<br />
M<strong>in</strong>derheitenkandidaten zustehenden besonderen Vergünstigungen Bürgermeister<br />
bzw. Abgeordnete wurden. (Übrigens haben e<strong>in</strong>ige nicht zur M<strong>in</strong>derheit gehörenden<br />
Personen, gerade wegen dieser Vergünstigungen den M<strong>in</strong>derheiten-Kandidaten-<br />
Status missbraucht.)<br />
216
ROMA IN EUROPA<br />
Selbstverwaltung zum Mitspielen bewegen können, auch die<br />
Honorare unter dem Titel „Kostenerstattung“ annehmen (wobei<br />
natürlich ke<strong>in</strong>e tatsächlichen Aufwendungen erfolgten), weil eben<br />
dies steuerfrei ist. Und jene Politiker, die praktisch nur für ihren<br />
Lebensunterhalt Politik machen (sog. „Erwerbspolitiker“), können<br />
nicht e<strong>in</strong>mal jene Sachen durchsetzen, zu denen sie vom Gesetz<br />
her berechtigt wären: Sie s<strong>in</strong>d käuflich, und dazu reicht manchmal<br />
die Möglichkeit, e<strong>in</strong> Mobiltelefon gratis benutzen zu dürfen.<br />
Mit Sicherheit können die Roma-Selbstverwaltungen nur mit der<br />
staatlichen Unterstützung rechnen. Von außerhalb kommt ke<strong>in</strong><br />
Geld, da es für sie ke<strong>in</strong>en Mutterstaat gibt. An Ausschreibungen<br />
können sie nur sehr selten teilnehmen. Dazu muss man die<br />
Ausschreibungen verfolgen und die Bewerbungen schreiben<br />
können, wofür sie Hilfe von der kommunalen Selbstverwaltung<br />
brauchen würden.<br />
Es ist bloß e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfall, trotzdem ist er typisch: Bei der oben<br />
angesprochenen Untersuchung der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten<br />
stellte sich heraus, dass an e<strong>in</strong>em Ort <strong>in</strong> Ungarn der Vorsitzende<br />
der deutschen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung die Hälfte se<strong>in</strong>es<br />
Honorars regelmäßig an die Roma-Selbstverwaltung überwies, weil<br />
dort außer den staatlichen Zuschüssen überhaupt ke<strong>in</strong>e anderen<br />
Gelder ankamen.<br />
6.2. Die „parteiische“ kulturelle Autonomie<br />
Da die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen laut Gesetz nur Rechte,<br />
und ke<strong>in</strong>e Pflichtaufgaben und Verpflichtungen haben, kann es<br />
auch - ad absurdum - vorkommen, dass e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>derheitenvere<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
der Organisierung von Dienstleistungen für M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>e<br />
aktivere Rolle spielt als die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung selbst.<br />
Das Parteiischwerden der Roma-Selbstverwaltungen führt (vor<br />
allem <strong>in</strong> den Städten) dazu, dass die politischen Kräfte der<br />
fraglichen Stadt ihre Unterstützung für die M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Selbstverwaltung oder für e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>derheitenvere<strong>in</strong> (auch bei der<br />
Gründung von Vere<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d oft verschiedene politische Kräfte im<br />
Spiel) davon abhängig machen, auf welcher Seite sie <strong>in</strong> der „großen<br />
Politik“ stehen. Unterstützungen, die auf e<strong>in</strong>er vertraulichen<br />
Beziehung basieren, werden aber immer mit Unterwürfigkeit,<br />
Servilismus und Opportunismus e<strong>in</strong>hergehen.<br />
217
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
6.3. Die „Unwissenheit”<br />
Das, was die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen von den zivilen<br />
Organisationen (Vere<strong>in</strong>e) unterscheidet, s<strong>in</strong>d eben die Mehrrechte,<br />
d. h. das bereits erwähnte E<strong>in</strong>verständnisrecht (oder Vetorecht) bei<br />
gewissen Entscheidungen des Geme<strong>in</strong>derates. Doch br<strong>in</strong>gt es, im<br />
Alltagsleben nicht viel für die M<strong>in</strong>derheit, wenn ihre Repräsentanten<br />
entweder der Mehrheitselite persönlich ausgeliefert s<strong>in</strong>d, oder ihre<br />
Rechte überhaupt nicht kennen. Es ist wohl überflüssig zu<br />
erwähnen, dass die mangelhaften rechtlichen Kenntnisse<br />
besonders <strong>in</strong> den Roma-Selbstverwaltungen weit verbreitet s<strong>in</strong>d,<br />
auch wenn Verwaltungsämter auf Ebene der Komitate von Zeit zu<br />
Zeit Schulungen für lokale Abgeordneten veranstalten, und<br />
manchmal auch Mitarbeiter der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten mit<br />
e<strong>in</strong>beziehen. Diese Schulungen s<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong>er Art, und im Laufe<br />
der Rechtsanwendung s<strong>in</strong>d sie nicht besonders effizient.<br />
6.4. Fragen der Legitimation<br />
Laut geltender Regelungen dürfen alle lokalen Wahlberechtigten<br />
ihre Stimmen bei der Wahl der M<strong>in</strong>derheitenvertretungen abgeben.<br />
Deswegen können die „Sympathiestimmen“ aus der Mehrheit oder<br />
von anderen M<strong>in</strong>derheiten gegebenenfalls bedeuten, dass die<br />
Selbstverwaltung e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit mehrheitlich von Bürgern<br />
gewählt wird, die nicht zu dieser M<strong>in</strong>derheit gehören. Nach e<strong>in</strong>em<br />
verbitterten ethnischen Konflikt ist es bereits vorgekommen, dass<br />
die zur Mehrheit gehörenden Bewohner e<strong>in</strong>er Siedlung e<strong>in</strong>e aus<br />
Nicht-Roma bestehende Roma-Selbstverwaltung gewählt haben. 35<br />
Daher ist es höchst überraschend, dass fast die Hälfte der<br />
Führungskräfte der Roma-Selbstverwaltungen und der kommunalen<br />
Selbstverwaltungen mit dem jetzigen Wahlsystem zufrieden s<strong>in</strong>d.<br />
35 Die Selbstverwaltung – vor allem der Bürgermeister – hat die Segregation von<br />
Roma und Nicht<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der dadurch legalisiert, dass er die Gründung e<strong>in</strong>er Stiftung<br />
gefördert und unterstützt hat, um e<strong>in</strong>e weitere Schule zu eröffnen. Da das<br />
Verwaltungsamt auf Komitatsebene das Gesetz fehlerhaft ausgelegt hat, konnte die<br />
lokale M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung se<strong>in</strong>e im Gesetz verankerte Rechte nicht<br />
geltend machen und hat vergebens e<strong>in</strong> Veto gegen die Entscheidung der<br />
kommunalen Selbstverwaltung e<strong>in</strong>gelegt. Man hat alle weiteren Gegenmaßnahmen<br />
der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung <strong>in</strong> der Weise verh<strong>in</strong>dert, dass man bei den Wahlen<br />
zur M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung planmäßig und bewusst solche Personen als<br />
Kandidaten antraten und Mandate erwarben, die e<strong>in</strong>deutig und <strong>in</strong> deklarierter Weise<br />
nicht zur Roma-M<strong>in</strong>derheit gehörten. Mit ihnen wurden alle Entscheidungen, die sich<br />
gegen die Interessen der Roma-M<strong>in</strong>derheit richteten, möglich.<br />
218
ROMA IN EUROPA<br />
Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass man fast sicher se<strong>in</strong><br />
kann, nicht zum Mitglied der M<strong>in</strong>derheitenvertretung gewählt zu<br />
werden, wenn man nur mit den Stimmen von Menschen rechnen<br />
muss, deren Erwartungen man nicht erfüllen konnte, weil mangels<br />
gesetzlicher Kompetenzen dazu von vornehere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />
bestand. Bei der Bestimmung der Kriterien e<strong>in</strong>er Kandidatur<br />
betrachten die lokalen kommunalen Selbstverwaltungen die<br />
M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen als Organ der gegebenen<br />
M<strong>in</strong>derheit und erwarten von ihr, dass nur sie an der Erledigung der<br />
eigenen Angelegenheiten teilnehmen. Bei der Wahl der<br />
Vertretungskörper geht jedoch die Mehrheit mit Recht davon aus,<br />
dass sie, obwohl sie nicht zur M<strong>in</strong>derheit gehört, e<strong>in</strong> Recht darauf<br />
hat, bei der Wahl die Entscheidung zu bee<strong>in</strong>flussen. Damit werden<br />
die Kräfteverhältnisse <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheitenvertretung stark<br />
verändert. 36<br />
Auch die politischen Parteien haben den Wahlen für die<br />
M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e besondere<br />
Bedeutung beigemessen. In vielen Fällen haben sie versucht, <strong>in</strong><br />
früher nicht da gewesenen Maßen die Ergebnisse zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragte wies darauf h<strong>in</strong>: Wenn politische<br />
Kräfte versuchen die Ergebnisse zu bee<strong>in</strong>flussen, kann das das<br />
Selbstverwaltungsrecht als solches gefährden. Da aber die<br />
politischen Parteien bei der Artikulierung der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung<br />
e<strong>in</strong>e sehr wichtige Rolle spielen, es ist unmöglich, ihnen die<br />
E<strong>in</strong>mischung zu verbieten. Sie haben das Recht, ihre Standpunkte<br />
zu formulieren und an Kampagnen von M<strong>in</strong>derheiten-<br />
Organisationen teilzunehmen.<br />
Da die e<strong>in</strong>zelnen M<strong>in</strong>derheiten-Organisationen s<strong>in</strong>d immer auf der<br />
Suche nach politischen Verbündeten <strong>in</strong> den verschiedenen<br />
Parteien. Dies gilt auch umgekehrt. Die Grundsatzfrage bei den<br />
Wahlen lautet daher nicht mehr, welche Organisation am besten die<br />
Interessen der fraglichen M<strong>in</strong>derheit vertritt. Die Selbstverwaltungen<br />
der M<strong>in</strong>derheiten, hier der Roma, bilden sich vielmehr <strong>in</strong> Anlehnung<br />
an die „rechten“ und „l<strong>in</strong>ken“ politischen Kräften.<br />
36 Die Öffentliche Stiftung für Europäische M<strong>in</strong>derheiten-Vergleichsforschungen<br />
untersuchte Ende 2000 <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit der Median Kft. die mit den <strong>in</strong> Ungarn<br />
lebenden M<strong>in</strong>derheiten zusammenhängenden Kenntnisse. Die Forschungsergebnisse<br />
wurden unter dem Titel M<strong>in</strong>derheiten, Wahlen und Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Ungarn<br />
publiziert. Budapest, EOKIK 2002.<br />
219
DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />
6.5. Schlussfolgerungen<br />
Es gibt Witze über die Roma, die besagen, dass „die Zigeuner, die<br />
ja so hohe K<strong>in</strong>derzahlen haben, bald Ungarn regieren“ und sich im<br />
Parlament sitzend den Kopf über die „Ungarnfrage“ zerbrechen<br />
werden. Aber es ist falsch, so etwas anzunehmen. Wahr ist, dass<br />
die Roma-M<strong>in</strong>derheit anteilmäßig immer größer wird. Die Statistiken<br />
zeigen sogar, dass sich ihr Anteil gerade <strong>in</strong> der Altersgruppe der<br />
Arbeitsfähigen besonders drastisch verändern wird. Trotzdem dürfte<br />
die Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Ungarn – gemessen an ihrem E<strong>in</strong>fluss und<br />
ihrer Macht – e<strong>in</strong>e „ewige M<strong>in</strong>derheit“ bleiben.<br />
Warum? Nur e<strong>in</strong>e wirklich gute politische Interessenvertretung und<br />
e<strong>in</strong>e engagierte <strong>in</strong>tellektuelle Elite könnte die <strong>in</strong>nere Kohäsion der<br />
Gruppe gewährleisten (zurzeit gibt es weder das e<strong>in</strong>e noch das<br />
andere). Da die Geme<strong>in</strong>schaft der Roma nach dem<br />
Systemwechsel, d. h. <strong>in</strong> den letzten 15 Jahren, ke<strong>in</strong>e Kraft und<br />
ke<strong>in</strong>en Willen entwickelt hat, die Verantwortung für die<br />
gesellschaftliche Mobilisierung der Roma und zur Überw<strong>in</strong>dung<br />
ihres stagnierenden Zustandes zu übernehmen, wird diese<br />
Verantwortung ausschließlich von der politischen Elite der Mehrheit<br />
getragen.<br />
Was bedeutet und welches Gewicht hat die „Zigeunerfrage“, wenn<br />
wir sie vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Zukunft, der Wettbewerbsfähigkeit<br />
und der moralischen Haltung der ungarischen Gesellschaft<br />
betrachten? Ist es e<strong>in</strong>e Frage von Romani-Sprachunterricht,<br />
Zigeuner-Tanzhaus, Jugendcamp für Traditionspflege, und ist es<br />
überhaupt e<strong>in</strong>e Frage der gefährdeten Kultur, die ansonsten sehr<br />
wichtig ist, und für den Bestand der M<strong>in</strong>derheit sorgen kann? Oder<br />
ist es e<strong>in</strong>e deprimierende Flut von Problemen, die bereits <strong>in</strong> naher<br />
Zukunft schwere Auswirkungen für das Gleichgewicht der gesamten<br />
Gesellschaft haben werden, und deshalb nicht nur im Bereich der<br />
M<strong>in</strong>derheitenpolitik zu behandeln s<strong>in</strong>d?<br />
Diese Frage zu entscheiden und dementsprechend zu handeln ist<br />
ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach und bisher auch niemandem gelungen: Um<br />
radikale, mehrere Regierungen überspannende Änderungen zu<br />
bewirken, müsste die politische Elite ihre jetzige Denkweise, die<br />
ausschließlich auf kurzfristigen Machtgew<strong>in</strong>n und –erhalt<br />
ausgerichtet ist, aufgeben und e<strong>in</strong>sehen, dass die Roma-Politik<br />
nicht auf die Stimmen ausgerichtet se<strong>in</strong> sollte, die man mit ihr<br />
verlieren oder gew<strong>in</strong>nen kann, sondern e<strong>in</strong> moralisches, bzw.<br />
menschenrechtliches Fundament haben sollte, das auch mit den<br />
220
ROMA IN EUROPA<br />
langfristigen wirtschaftlichen Interessen des Landes <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang<br />
steht.<br />
221
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
Die Selbstverwaltung der Roma <strong>in</strong> Suto Orizari<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Es ist e<strong>in</strong>e große Ehre, e<strong>in</strong> Mitglied der Roma-Geme<strong>in</strong>schaft zu<br />
se<strong>in</strong>, und es ist e<strong>in</strong>e noch größere Ehre <strong>in</strong> Suto Orizari leben zu<br />
können – der ersten Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> der Welt, <strong>in</strong> der über 80 Prozent<br />
der E<strong>in</strong>wohner Roma s<strong>in</strong>d. Als Romani Journalist<strong>in</strong> hatte ich das<br />
Glück, an der E<strong>in</strong>weihung von Suto Orizari teilnehmen zu können.<br />
In den 11 Jahren me<strong>in</strong>er Karriere als Journalist<strong>in</strong> für die<br />
Nachrichtenabteilung der Roma im makedonischen Fernsehen ist<br />
so viel passiert, dass ich niemals Gefahr lief, dass me<strong>in</strong>e Arbeit nur<br />
Rout<strong>in</strong>e wurde. Me<strong>in</strong>e Berichte über Ereignisse waren immer<br />
faktenreich und sachlich, aber me<strong>in</strong>e Stimme rührte aus der Seele<br />
me<strong>in</strong>es Herzens und me<strong>in</strong>em Stolz, e<strong>in</strong>e gewöhnliche Roma-Frau<br />
zu se<strong>in</strong>. Ich hoffe sehr, dass me<strong>in</strong>e Ausführungen e<strong>in</strong> exaktes Bild<br />
jenes Volkes und se<strong>in</strong>er freundlichen Nachbarn (Makedoniern,<br />
Albanern, Türken) wiedergeben, die an dem Ort, der Suto Orizari<br />
genannt wird, aufe<strong>in</strong>ander treffen.<br />
Roma und Politik<br />
Der 12. September 1996 ist <strong>in</strong> die goldenen Annalen der<br />
Geschichte der Roma e<strong>in</strong>gegangen. Entsprechend dem<br />
makedonischen Abkommen zur territorialen Gebietsunterteilung<br />
und Def<strong>in</strong>ition der Gebiete lokaler Selbstverwaltung nahm die<br />
Stadtverwaltung von Suto Orizari (e<strong>in</strong>e Zusammenlegung des Ortes<br />
Suto Orizari mit den Dörfern Gorno und Dolno Orizari) zu diesem<br />
Term<strong>in</strong> ihre Arbeit auf. Dies ist nicht nur für die Roma <strong>in</strong><br />
Makedonien e<strong>in</strong> historisches Ereignis, sondern auch für die Roma<br />
<strong>in</strong> der ganzen Welt. Zum ersten Mal wurde e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de<br />
gegründet, <strong>in</strong> der die Zahl der Roma die Mehrheit der E<strong>in</strong>wohner<br />
bildete.<br />
Die Zusammensetzung der lokalen Verwaltung von Suto Orizari<br />
wurde durch Kommunalwahlen im November und Dezember 1996<br />
bestimmt. Die entsprechenden Organe begannen ihre Arbeit im<br />
Januar 1997 unter schwierigen technischen und f<strong>in</strong>anziellen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen, denn der Haushalt der Geme<strong>in</strong>de war auf 4.9<br />
Millionen Makedonische Denar, dies entspricht 76.000 €, begrenzt.<br />
223
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
Als Konsequenz des niedrigen Budgets wurden die Behörden der<br />
Geme<strong>in</strong>de mit lediglich 8 Mitarbeitern <strong>in</strong>sgesamt besetzt. 1<br />
Nezdet Mustafa wurde als Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de Suto<br />
Orizari mit 9.000 Stimmen von 12.330 Stimmen der<br />
Wahlberechtigten <strong>in</strong>sgesamt gewählt. Er war bis zu se<strong>in</strong>er Wahl<br />
zum Abgeordneten im Rahmen der Parlamentswahlen von 1999<br />
Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de.<br />
Erduan Iseni, Mitglied der Partei von Mustafa wurde als<br />
vorübergehender Oberbürgermeister der Geme<strong>in</strong>de ernannt. Iseni<br />
wurde während der wenige Monate später erfolgten<br />
außerordentlichen Kommunalwahlen zum Bürgermeister von Suto<br />
Orizari gewählt und war bis zu den letzten Kommunalwahlen im<br />
Jahr 2005 Bürgermeister. Er war Kandidat der OPE (Vere<strong>in</strong>igte<br />
Partei für Emanzipation), die Partner der amtierenden Parteien-<br />
Koalition «Für Makedonien» (za Makedonija), bestehend aus<br />
SDSM, DUI und LDP, war.<br />
2005 fanden <strong>in</strong> Makedonien wieder Wahlen für die Bürgermeister<br />
der Kommunen statt. Im Frühjahr 2005 gab es fünf Kandidaten für<br />
den Bürgermeister von Suto Orizari. Erduan Iseni (Koalition für<br />
Makedonien), Amdi Bajram (Allianz der Roma <strong>in</strong> Makedonien),<br />
Kemal Sadik (Partei für demokratische Stärke der Roma <strong>in</strong><br />
Makedonien), Severdzan Iljaz (Demokratische Union der Roma)<br />
und Kadri Sefo (unabhängiger Kandidat). In der zweiten Runde gab<br />
es zwei Kandidaten im Wettbewerb um die Position des<br />
Bürgermeisters: Erduan Iseni und Amdi Bajram. Während der<br />
Kommunalwahlen wurde Amdi Bajram vom Gerichtshof <strong>in</strong> Stip für<br />
Delikte, die im Zusammenhang mit der Textilfabrik Makedonka <strong>in</strong><br />
Stip und deren Vorsitzenden standen, zu vieren Jahren Haft<br />
verurteilt. Es war lediglich e<strong>in</strong>e Frage der Zeit, bis das Gericht e<strong>in</strong>en<br />
Haftbefehl erlassen würde. Bajram hatte jedoch offiziell die<br />
Kommunalwahlen <strong>in</strong> Suto Orizari gewonnen und das nationale<br />
Wahlkomitee bestätigte die Ergebnisse. Amdi Bajrams Freude sollte<br />
jedoch nur wenige Tage währen, denn mittlerweile sitzt er <strong>in</strong> Suto<br />
Orizari im Gefängnis.<br />
Aufgrund der Kommunalwahlen <strong>in</strong> Suto Orizari hat sich e<strong>in</strong>e neue<br />
Verteilung der Sitze im Stadtrat ergeben. Die Roma-Parteien haben<br />
zehn Mitglieder im Stadtrat: Die Partei von Amdi Bajram hat sechs<br />
Sitze gewonnen, die Vere<strong>in</strong>igte Partei für Emanzipation vier Sitze.<br />
E<strong>in</strong> Sitz ist für die VMRO-narodna (die national-konservative<br />
1 Mustafa, N., The first years, 2000<br />
224
ROMA IN EUROPA<br />
makedonische Partei) vorgesehen und die restlichen Sitze gehen<br />
an die beiden albanischen Parteien DPA und DUI (Demokratische<br />
Partei der Albaner und Demokratische Union für Integration). Sami<br />
Srebezovski, Mitglied der Allianz für die Roma <strong>in</strong> Makedonien,<br />
wurde zum Vorsitzenden des Stadtrates gewählt. 2<br />
Am 21. August wurden <strong>in</strong> Suto Orizari außerordentliche Wahlen<br />
abgehalten. Es traten drei Kandidaten für den Posten des<br />
Bürgermeisters von Sutka an: Erduan Iseni (OPE), Enver Ibraim als<br />
unabhängiger Kandidat Saban Saliu (der e<strong>in</strong>zige Roma<br />
Rechtsanwalt <strong>in</strong> Makedonien) für die Allianz der Roma <strong>in</strong><br />
Makedonien. 3 Die zweite Wahlrunde fand zwei Wochen später statt<br />
und die E<strong>in</strong>wohner von Suto Orizari mussten sich zwischen Erduan<br />
Iseni und Saban Saliu entscheiden. Der Bürgermeister von Suto<br />
Orizari ist wieder Erduan Iseni von der Vere<strong>in</strong>igten Partei für<br />
Emanzipation (OPE) geworden.<br />
Suto Orizari wird Realität<br />
Suto Orizari wurde nach dem katastrophalen Erdbeben <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> im<br />
Jahre 1963 gebaut, um die schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen der<br />
Roma-Familien, deren Häuser zerstört worden waren, zu<br />
verbessern. Die m<strong>in</strong>derwertigen Unterkünfte, <strong>in</strong> denen sie lebten,<br />
waren völlig unzumutbar. Die neue Selbstverwaltung der Roma gab<br />
Anlass zur Hoffnung, dass die Probleme bald gel<strong>in</strong>dert werden<br />
könnten und dass man auf die entsprechenden Fragen die richtigen<br />
Antworten f<strong>in</strong>den würde.<br />
Die Bevölkerung der Roma <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de hatte größere<br />
Erwartungen an ‘ihre’ Verwaltung. Tatsächlich führten die<br />
schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen dazu, dass neue Maßnahmen<br />
ergriffen wurden. Die selbst verwaltete Geme<strong>in</strong>de von Suto Orizari<br />
beflügelte das Selbstwertgefühl und die Würde der Roma, da sie<br />
die erste offizielle Zeitung auf Romanes und Makedonisch<br />
herausgab, <strong>in</strong> der zum ersten Mal offizielle Dokumente auf<br />
Romanes veröffentlicht wurden. Das Siegel und die Fahne der<br />
Geme<strong>in</strong>de wurden e<strong>in</strong>geführt, was das Identitätsgefühl der ersten<br />
europäischen Geme<strong>in</strong>de mit e<strong>in</strong>er Mehrheit der Roma <strong>in</strong> der<br />
Bevölkerung stärkte.<br />
2 Ergebnisse der Kommunalwahlen im Frühjahr 2005 vom staatlichen Wahlkomitee<br />
3 Quellen: Wahlkomitee der Geme<strong>in</strong>de<br />
225
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
E<strong>in</strong>er der ersten Schritte zur Verbesserung der Infrastruktur <strong>in</strong> der<br />
Geme<strong>in</strong>de war die Rekonstruktion der Hauptstraße <strong>in</strong> Suto Orizari<br />
sowie e<strong>in</strong>er Straße <strong>in</strong> der Nachbarschaft von Suto Orizari durch die<br />
Siedlung Vizbegovo <strong>in</strong> der Nähe der Geme<strong>in</strong>de von Cair. Zudem<br />
wurde das auf dem Platz <strong>in</strong> Suto Orizari stehende Gebäude<br />
renoviert. Die Mittel für die Bauarbeiten wurden von der Stadt<br />
<strong>Skopje</strong> und der Geme<strong>in</strong>de von Suto Orizari bereitgestellt. Zwei<br />
Jahre später stellten diese beiden Verwaltungen 84.000 Euro für die<br />
Rekonstruktion der Vietnamska und Nov Zivot Straße bereit und<br />
38.000 für die Garcia Lorka Straße. Die Erhaltung der<br />
Stromversorgung für die Geme<strong>in</strong>de kostet 33.000 € pro Jahr. Diese<br />
Projekte s<strong>in</strong>d jedoch nur e<strong>in</strong> Tropfen auf den heißen Ste<strong>in</strong>. Die<br />
Geme<strong>in</strong>deverwaltung besitzt nicht genügend Kapazitäten, um die<br />
Probleme, wie Straßenbeleuchtung, Grünanlagen, systematische<br />
Wasserversorgung usw., zu lösen. 4<br />
Gemäß des Abschnitts 22 der gesetzlichen Bestimmungen zur<br />
Selbstverwaltung soll die Geme<strong>in</strong>deverwaltung folgende<br />
Zuständigkeitsbereiche abdecken: städtische und ländliche<br />
Planung, Umwelt- und Naturschutz, lokale wirtschaftliche<br />
Entwicklung, Geme<strong>in</strong>deaktivitäten, Kultur, Sport und Erholung,<br />
sozialer Schutz und Schutz von K<strong>in</strong>dern, Bildung,<br />
Gesundheitsfürsorge usw.<br />
Das lokale Abkommen zur Selbstverwaltung bewirkte e<strong>in</strong>e<br />
Dezentralisierung der Macht und <strong>in</strong> der Folge haben die Geme<strong>in</strong>den<br />
verschiedene Regierungskompetenzen übernommen. Die von der<br />
lokalen Geme<strong>in</strong>deverwaltung übernommene Amtsgewalt ist <strong>in</strong> viele<br />
Zuständigkeits- und Wirkungsbereiche aufgeteilt wie z. B. Bildung,<br />
Wissenschaft, Kultur, Gesundheitsfürsorge etc. Gemäß dem neuen<br />
Abkommen zur Dezentralisierung (territorialen Organisation),<br />
welches dieses Jahr <strong>in</strong> Kraft trat, sollen e<strong>in</strong>zelne<br />
Selbstverwaltungen nicht länger vom Staat abhängig se<strong>in</strong>. Die<br />
Geme<strong>in</strong>deverwaltungen sollen eigenständig bessere Bed<strong>in</strong>gungen<br />
schaffen und die Amtsgewalt liegt <strong>in</strong> den Händen ihrer<br />
Verwaltungsorgane. Dieses Gesetz bekräftigt das Bemühen der<br />
Regierung, den euro-atlantischen Strukturen durch die vollständige<br />
Implementierung des Abkommens von Ohrid e<strong>in</strong> Stück näher zu<br />
rücken. Damit wurde dem Versprechen Rechnung getragen, dass<br />
die territoriale Integrität sowie der die verschiedenen Ethnien<br />
e<strong>in</strong>schließende Charakter des Landes aufrechterhalten werden.<br />
4 Mustafa, N., The first years, 2000<br />
226
a) Sutka – Kle<strong>in</strong>-Paris<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Im Bezirk von Suto Orizari gibt es viele glückliche Menschen. Man<br />
sieht trotz Armut und sozialer Isolation fröhliche Gesichter. Im<br />
Zentrum des Stadtviertels trifft man auf e<strong>in</strong> lebendiges, fast schon<br />
tumultartiges Gewusel von Menschen. Vor allem an den<br />
Wochenenden herrscht e<strong>in</strong>e besondere Atmosphäre. An jeder Ecke<br />
f<strong>in</strong>det man improvisierte Stände, an denen Kleider, Schmuck,<br />
Schuhe <strong>in</strong> allen Farben und Formen angeboten werden.<br />
Der Sutka-Basar ist gegenwärtig der beliebteste Markt <strong>in</strong><br />
Makedonien, auf dem man sehr preiswert e<strong>in</strong>kaufen kann.<br />
E<strong>in</strong>kaufen macht sehr viel Spaß, vor allem wenn die neueste Roma-<br />
Musik aus den Lautsprechern der nächstgelegenen CD-Shops<br />
dröhnt. Schätzungsweise 90 Prozent der E<strong>in</strong>wohner des<br />
Stadtviertels s<strong>in</strong>d Händler. Aufgrund des niedrigen<br />
Beschäftigungsanteils <strong>in</strong> der Bevölkerung von Suto Orizari haben<br />
sich viele E<strong>in</strong>wohner auf den Handel verlegt. Aufgrund des Defizits<br />
an Produktionskapazitäten <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de r<strong>in</strong>gen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
ewigen Auf und Ab um die Sicherung ihrer Existenz. In Suto Orizari<br />
gibt es lediglich zwei Schulen, e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten, das<br />
Geme<strong>in</strong>dezentrum Rosh, e<strong>in</strong>e Polikl<strong>in</strong>ik, e<strong>in</strong>e Post und e<strong>in</strong>ige<br />
wenige Zentren der Roma-Nichtregierungsorganisationen (NGOs).<br />
Das größte Problem ist die hohe Anzahl der Arbeitslosen. Der<br />
detaillierte Plan der Stadt sieht neben <strong>in</strong>dividuellen<br />
Wohnmöglichkeiten die Schaffung sozialer und öffentlicher<br />
E<strong>in</strong>richtungen, wie Schulen, Marktplätze, Krankenhäuser,<br />
Kulturzentren etc., vor. Leider s<strong>in</strong>d bislang erst 30 Prozent der<br />
Vorhaben umgesetzt worden. E<strong>in</strong>es der jüngsten Projekte ist die<br />
zentrale Kläranlage, die mit der f<strong>in</strong>anziellen Unterstützung der<br />
österreichischen Regierung gebaut wurde. Die Kosten des Projekts<br />
beliefen sich auf 26.250.000 Makedonische Denar (430.300 Euro). 5<br />
b) Kle<strong>in</strong>e und schmale Häuser stehen Seite an Seite<br />
Die Häuser <strong>in</strong> Suto Orizari s<strong>in</strong>d wie Pilze aus dem Boden<br />
geschossen. Größere und kle<strong>in</strong>e Häuser stehen Seite an Seite.<br />
E<strong>in</strong>ige von ihnen besitzen moderne Fassaden, wiederum andere<br />
s<strong>in</strong>d so alt wie das Stadtviertel selbst. Die Farbgebung der Häuser<br />
5 Mustafa, N., The first years, 2000 - Rougheri, Chr., Center for Documentation and<br />
Information on M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Europe - Southeast Europe (CEDIME-SE), M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong><br />
Southeast Europe, Roma <strong>in</strong> Macedonia<br />
227
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
ist <strong>in</strong>teressant: Hellblau, Hellorange, Zitronengelb, Weiß dom<strong>in</strong>ieren<br />
jedoch. Die neuen Häuser bieten mit 10 qm pro Familie e<strong>in</strong>en<br />
hohen Standard, aber sie stellen lediglich 20 Prozent der gesamten<br />
Wohnsubstanz da. 6<br />
Es gibt e<strong>in</strong>heitlich gestaltete Hütten, die sich aufgrund mangelnder<br />
Instandhaltungsmaßnahmen größtenteils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em äußerst<br />
schlechten Zustand bef<strong>in</strong>den. Die “ hangarni baraki” genannten<br />
Wellblechhütten s<strong>in</strong>d nach und nach entstanden, die<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen bef<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d jedoch auf unterstem Niveau<br />
und s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Form nicht zu akzeptieren. Dennoch wird man die<br />
fröhlichen Farben der Häuser <strong>in</strong> Sutka <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung behalten.<br />
c) Sozio-ökonomische Situation der Roma <strong>in</strong> Suto Orizari<br />
Die anhaltende ungünstige wirtschaftliche Entwicklung <strong>in</strong> der<br />
Republik Makedoniens zieht die gesamte Bevölkerung <strong>in</strong><br />
Mitleidenschaft und wirkt sich negativ auf die Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
e<strong>in</strong>er großen Anzahl von Bürgern aus. E<strong>in</strong>es der größten Probleme,<br />
das aus diesem Trend resultiert, ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die<br />
Beschäftigungsquote der Roma könnte sich lediglich verbessern,<br />
wenn die Regierung weitere positive makroökonomische<br />
Bed<strong>in</strong>gungen schaffen würde. Der größte Anteil Arbeit suchender<br />
Roma hat allerd<strong>in</strong>gs nicht das nötige Bildungsniveau, um auf dem<br />
Arbeitsmarkt bestehen zu können. Öffentlichen Erhebungen zufolge<br />
waren 2003 von der Gesamtzahl an Arbeitslosen, die im Arbeitsamt<br />
der Republik Makedoniens registriert waren, 4,3 % Roma. Die<br />
Hälfte von ihnen hat noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e abgeschlossene<br />
Grundschulausbildung. Laut des letzten Berichts des Arbeitsamtes<br />
im Mai 2005 s<strong>in</strong>d 17.177 Roma arbeitslos. Die Bevölkerung von<br />
Suto Orizari hat die höchste Quote sozial benachteiligter Familien.<br />
Gemäß den Erhebungen des Zentrums für Sozialarbeit s<strong>in</strong>d 1.700<br />
Familien als besonders benachteiligte Familien registriert, die über<br />
ke<strong>in</strong> regelmäßiges E<strong>in</strong>kommen verfügen. Angesichts der<br />
tagtäglichen Schließung staatlicher und privater Unternehmen<br />
verwundert es nicht, dass die Zahl der Sozialfälle zunimmt.<br />
Das Kernproblem <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de, die Arbeitslosigkeit, ist die<br />
Hauptursache für die soziale Benachteiligung der Roma-Familien.<br />
Die Geme<strong>in</strong>de verfügt über ke<strong>in</strong>e Produktionskapazitäten und<br />
aufgrund der bekannten wirtschaftlichen Problematik gibt es auch <strong>in</strong><br />
den anderen Geme<strong>in</strong>den ke<strong>in</strong>e Beschäftigungsmöglichkeiten, die<br />
6 Iseni, E., Suto Orizari, 2005<br />
228
ROMA IN EUROPA<br />
genutzt werden könnten. Zudem stehen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ke<strong>in</strong>e<br />
natürlichen Ressourcen zur Verfügung, die z. B. e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />
der Agrarkultur erlauben würden. Die Roma <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de leben<br />
„von e<strong>in</strong>em Tag zum nächsten“ und warten immer noch auf bessere<br />
Zeiten. In der Zwischenzeit leben die meisten Familien vom Handel<br />
und vom Geld, das sie <strong>in</strong> Form von Sozialhilfe beziehen. 7<br />
d) Bürger ohne Staatsbürgerschaft<br />
E<strong>in</strong> sehr problematischer Punkt ist das ‚Abkommen zur<br />
Staatsbürgerschaft’ von 1992, da ab November 1993 alle Roma<br />
und andere Bewohner der ehemaligen Republiken von Jugoslawien<br />
ke<strong>in</strong> Anrecht mehr auf die makedonische Staatsbürgerschaft hatten.<br />
Aus den Bed<strong>in</strong>gungen, die das Gesetz für die Regelung der<br />
Wohnsitzfrage <strong>in</strong> Makedonien vorsieht, ergeben sich hierbei die<br />
maßgeblichen H<strong>in</strong>dernisse. Vor e<strong>in</strong>em entsprechenden Antrag<br />
muss der Antragsteller 15 Jahre lang se<strong>in</strong>en Wohnsitz <strong>in</strong><br />
Makedonien gehabt haben und über e<strong>in</strong> regelmäßiges E<strong>in</strong>kommen<br />
verfügen. Die Antragsgebühr variiert von 50.500.250 Denar bis 80<br />
USD (letztes Jahr) und viele Roma konnten das Geld für den Antrag<br />
nicht aufbr<strong>in</strong>gen. 8 In Suto Orizari konnte dieses Problem dank der<br />
Initiative von drei NGOs (ROZPR, CDRIM und Avutnipe) gelöst<br />
werden, die sich mit dem Schutz von Menschenrechten befassen.<br />
Die Organisationen halten die erforderlichen Dokumente für die<br />
E<strong>in</strong>bürgerung bereit und die Antragsgebühr wird von der UNHCR<br />
gezahlt (genau genommen zahlen die Antragsteller selbst für die<br />
E<strong>in</strong>bürgerung und das Geld wird dann später von der UNHCR<br />
zurückerstattet). Dieses Jahr hat es seitens der NGOs, die sich für<br />
Menschenrechte e<strong>in</strong>setzen, und von der makedonischen Regierung<br />
e<strong>in</strong>e verstärkte Kampagne für die makedonische Staatsbürgerschaft<br />
gegeben. So wurde e<strong>in</strong> Fernsehspot auf Romanes und<br />
Makedonisch gesendet, <strong>in</strong> dem Bürger für die makedonische<br />
Staatsbürgerschaft plädieren. Zudem wurden Broschüren<br />
veröffentlicht, <strong>in</strong> denen die Bed<strong>in</strong>gungen für die makedonische<br />
Staatsbürgerschaft sowie die Frist, nämlich März 2006, für e<strong>in</strong>en<br />
solchen Antrag erläutert werden. 9<br />
7<br />
Iseni, E., Shuto Orizari, 2005 – Mustafa, N., The first years, 2000<br />
8<br />
Rougheri, Chr., 1998.<br />
9<br />
E<strong>in</strong>e dieser Broschüren wurde von CDRIM erarbeitet<br />
229
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
e) Spiegle<strong>in</strong>, Spiegle<strong>in</strong> an der Wand, welche Schule ist die<br />
beste für mich?<br />
In Suto Orizari gibt es zwei Grundschulen mit <strong>in</strong>sgesamt 3.800<br />
Schülern. E<strong>in</strong>e heißt OU “26 Juli” und die andere wird OU “Braka<br />
Ramiz Hamid“ genannt. Die Unterrichts<strong>in</strong>halte werden durch das<br />
makedonische Bildungsm<strong>in</strong>isterium bestimmt, das die Zuständigkeit<br />
für die Gestaltung des Unterrichts hat. In diesen Schulen gibt es<br />
viele Probleme. Jedes Jahr, wenn die K<strong>in</strong>der für die erste Klasse<br />
der Grundschule registriert werden sollen, passiert es, dass die<br />
Eltern mit ihren K<strong>in</strong>dern die Schule erst gar nicht aufsuchen, weil<br />
sie entweder zu beschäftigt s<strong>in</strong>d oder die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es<br />
Schulbesuchs nicht erkennen. Tatsächlich warten sie mit der<br />
Registrierung oft bis zur letzten M<strong>in</strong>ute im September. Traurig, aber<br />
wahr. Und dies ist nur e<strong>in</strong>es der Probleme. Der Anteil an Schülern,<br />
die die weiterführende Schule besuchen ist ebenfalls viel zu ger<strong>in</strong>g.<br />
Die ‚Ghetto’-Problematik hat für die Roma-K<strong>in</strong>der viele negative<br />
Auswirkungen, wie die mangelnde Kenntnis der makedonischen<br />
Sprache (sie ist die offizielle und Verwaltungssprache <strong>in</strong> den beiden<br />
Schulen). Dies führt natürlich zu schlechteren Schulleistungen und<br />
untergräbt schließlich die Motivation der Schüler, bessere Resultate<br />
zu erzielen. 10<br />
In den letzten Jahren ist jedoch e<strong>in</strong> deutlicher Fortschritt zu<br />
verzeichnen. Dank der Roma NGOs und ihrer Aktivitäten hat sich<br />
die Situation verbessert. Die letzten Erhebungen zeigen, dass 15 %<br />
der Bevölkerung über 15 Jahren die weiterführende Schule<br />
abgeschlossen haben. Der Anteil derjenigen jedoch, die die<br />
Hochschulreife erlangen, ist nach wie vor mit lediglich 0,48 %<br />
verhältnismäßig niedrig geblieben. Ermutigend ist, dass sich die<br />
bislang wenigen Akademiker <strong>in</strong> Suto Orizari nun <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de<br />
für die höhere schulische Bildung e<strong>in</strong>setzen. So gab es im letzten<br />
Jahr zum Beispiel e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong> an der Theaterfakultät und auch<br />
dieses Jahr gibt es zwei Roma-Mädchen, die e<strong>in</strong>en Besuch der<br />
gleichen Fakultät anstreben. Vor sieben Jahren gab es lediglich<br />
e<strong>in</strong>en Roma-Schüler, der die weiterführende Kunsthochschule<br />
besuchte (er wurde der erste Hochschulabsolvent im Bereich<br />
Bildhauerei <strong>in</strong> Makedonien) und nach ihm gab es zwei Studenten,<br />
die <strong>in</strong> dieser Sparte erfolgreich ihren Abschluss machten. Mit der<br />
Hilfe ausländischer Förderer haben die Roma-NGOs mit Roma-<br />
K<strong>in</strong>dern im Alter zwischen 5 und 7 Jahren gearbeitet, um ihre<br />
10<br />
Saip, I. Rektor der Grundschule ”Braka Ramiz Hamid”, Suto Orizari (persönliches<br />
Gespräch, 2005)<br />
230
ROMA IN EUROPA<br />
Kenntnisse der makedonischen Sprache zu verbessern. Der<br />
Schlüssel zu e<strong>in</strong>em erfolgreichen Bildungsweg liegt auch <strong>in</strong> der<br />
Arbeit der NGOs mit den Eltern der K<strong>in</strong>der, wenn es darum geht,<br />
diese von der Bedeutung e<strong>in</strong>er Schulausbildung zu überzeugen.<br />
E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong>der besuchen den K<strong>in</strong>dergarten der Geme<strong>in</strong>de, der e<strong>in</strong>e<br />
Betreuungskapazität für 150 K<strong>in</strong>der hat.<br />
Zurück zum Thema Grundschule: Die niederländische Botschaft hat<br />
zusammen mit der NGO Mosaic <strong>in</strong> der Zeit von 1998 - 99 mit<br />
416.000 Denar (ca. 6.800 €) e<strong>in</strong>e Unterstützung für Schulen<br />
gewährt. Im gleichen Jahr hat die Weltbank Unterstützungen für die<br />
Grundschulausbildung bereitgestellt und e<strong>in</strong> Jahr später hat die<br />
deutsche Botschaft <strong>in</strong>sgesamt 1.100.000 Denar bzw. 18.000 Euro<br />
für den gleichen Zweck gespendet. Die jüngste Unterstützung für<br />
die Grundschulen erfolgte durch die IOM ( Internationale<br />
Organisation für Migration) und beläuft sich auf 120.000 Euro. 11 In<br />
den letzten zwei Jahren hat die deutsche Caritas Mahlzeiten und<br />
Milch für Schüler <strong>in</strong> Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt. 12<br />
f) Romanes <strong>in</strong> der Grundschule<br />
An den zwei Grundschulen der Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari hat man<br />
begonnen, Wahlunterricht <strong>in</strong> Romanes anzubieten. Der Anfang war<br />
aufgrund der fehlenden Lehrbücher <strong>in</strong> der Sprache der Roma<br />
schwer, doch wurde die Situation nach und nach verbessert.<br />
Professor Saip Jusuf hat zusammen mit dem bekannten<br />
makedonischen Autor Krume Kepeski die erste Sprachlehre <strong>in</strong><br />
Romanes veröffentlicht. Überdies hat Jusuf e<strong>in</strong> Buch zur Romanes<br />
Rechtschreibung vorgelegt. Die Romanes Lehrer benutzen zudem<br />
Romanes-Literatur aus anderen europäischen Ländern. 13<br />
g) Medien und Kultur: Die Seele des Volkes<br />
Neben der Verwendung der Romani Sprache <strong>in</strong> der Grundschule <strong>in</strong><br />
Suto Orizari kann man auch die Nachrichten auf Romanes hören.<br />
Seit zehn Jahren gibt es e<strong>in</strong>e lokale Fernsehstation namens „TV<br />
Sutel“ <strong>in</strong> Suto Orizari. Das Grüßen von Freunden ist e<strong>in</strong>es der<br />
<strong>in</strong>teressantesten Programmmerkmale der Fernsehstation. Wenn<br />
11<br />
Mustafa, N., The first years, 2000<br />
12<br />
Mishel-Ilieva, K., Vertreter des Caritas-Büros (Essen, Deutschland) <strong>in</strong> Suto Orizari<br />
(persönliches Gespräch, 2005)<br />
13<br />
Iseni, Saip, Rektor der Grundschule ”Braka Ramiz Hamid”, Suto Orizari<br />
(persönliches Gespräch, 2005)<br />
231
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
man bedenkt, dass die Roma Musik lieben, ist dies nichts<br />
Ungewöhnliches für die E<strong>in</strong>wohner. Das Feiern von Hochzeiten,<br />
Geburtstagen oder akademischen Abschlüssen s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige der<br />
vielen Gelegenheiten zu denen die E<strong>in</strong>wohner von Suto Orizari<br />
Grüße mit Video-Material verfassen oder ihre eigenen Fotos<br />
schicken! All dies kann man auf TV Sutel mitverfolgen. Für die<br />
Fernsehstation arbeiten Roma-Journalisten. Zudem wird e<strong>in</strong>e<br />
tägliche Nachrichtensendung ausgestrahlt.<br />
Das Programm ist nicht auf Themen, die die Geme<strong>in</strong>de betreffen,<br />
begrenzt. Es gibt e<strong>in</strong>e Vielzahl von Kultur- und<br />
Bildungsprogrammen und wenn man von Kultur spricht, muss man<br />
auch erwähnen, dass die Wurzeln der Roma-Kultur <strong>in</strong> der Republik<br />
Makedonien <strong>in</strong> das Viertel von Suto Orizari zurückreichen. In den<br />
fünfziger Jahren gründete e<strong>in</strong>e Gruppe junger enthusiastischer<br />
Leute die Roma-Vere<strong>in</strong>igung Phralipe, die später e<strong>in</strong>e<br />
Theatergruppe förderte, die <strong>in</strong> ganz Europa Auftritte hatte. Der<br />
Name Phralipe repräsentierte <strong>in</strong> den folgenden Jahrzehnten die<br />
Roma-Kultur, und zwar nicht nur <strong>in</strong> Makedonien, sondern auch im<br />
Ausland. Und alles begann <strong>in</strong> Suto Orizari. Nach drei Jahrzehnten<br />
erfolgreicher Arbeit <strong>in</strong> Suto Orizari g<strong>in</strong>g die Theatergruppe Phralipe<br />
nach Deutschland. In den achtziger Jahren gründeten e<strong>in</strong>ige<br />
ehemalige Mitglieder von Phralipe, die <strong>in</strong> Makedonien geblieben<br />
waren e<strong>in</strong> Studententheater, Mitte der neunziger Jahre gab es<br />
schließlich verschiedene Laien-Theatergruppen.<br />
Heute gibt es zwei Laien-Theatergruppen, nämlich Roma und<br />
Fadiljoni und e<strong>in</strong>e weitere Gruppe, die Teil der “Romano Ilo” NGO<br />
ist. Leider bef<strong>in</strong>det sich unter ihnen nur e<strong>in</strong> junges Mädchen, Sanela<br />
Em<strong>in</strong>, die kurz vor Beendigung ihrer Ausbildung an der<br />
Theaterfakultät <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> steht. Die anderen s<strong>in</strong>d lediglich<br />
begeisterte und talentierte junge Roma-Aktivisten mittleren Alters,<br />
die das Theater e<strong>in</strong>fach lieben. Ihre Stücke s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong> bis zwei<br />
Mal im Jahr zu sehen. Diese Theatergruppen bef<strong>in</strong>den sich alle <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Notlage. Das makedonische Kulturm<strong>in</strong>isterium<br />
gewährt dem Roma und Fadiljoni Theater nur e<strong>in</strong>mal im Jahr e<strong>in</strong>e<br />
f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung (e<strong>in</strong>e Summe von je 60,000 Denar bzw.<br />
1.000 Euro). In 2005 fanden zwei Premieren dieser Theater statt.<br />
Sie besitzen ke<strong>in</strong>e eigenen Räumlichkeiten für ihre Proben und es<br />
gibt ke<strong>in</strong> Theatergebäude <strong>in</strong> Suto Orizari. Es gibt noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />
e<strong>in</strong>e Halle, <strong>in</strong> der die Theater ihre Kunst und die Früchte ihrer Arbeit<br />
zeigen könnten. Aus diesem Grunde werden die Stücke <strong>in</strong> den<br />
Theatern im Zentrum von <strong>Skopje</strong> aufgeführt, z. B. im MNT-teatar<br />
Centar.<br />
232
ROMA IN EUROPA<br />
Die Situation <strong>in</strong> den anderen kulturellen Bereichen ist ähnlich. Die<br />
Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> Suto Orizari sehnt sich nach e<strong>in</strong>em<br />
kulturellen Leben, denn es gibt praktisch ke<strong>in</strong>e kulturellen<br />
Veranstaltungen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de. Nur e<strong>in</strong>mal im Jahr zum Welttag<br />
der Roma am 8. April f<strong>in</strong>den kulturelle Ereignisse vor Ort statt. Mit<br />
diesen wird der Tag gefeiert, an dem die Geme<strong>in</strong>de offiziell ihre<br />
Arbeit aufnahm. Und all dies kann nur dank der Roma-NGOs<br />
stattf<strong>in</strong>den. Sie organisieren Musik- und Lyrik-Abende, Konzerte mit<br />
Roma-Musik, Cocktails u. Ä.. Erwähnenswert ist auch die junge<br />
Generation, die sich mit neuer Musik der Roma beschäftigt. In den<br />
späten neunziger Jahren etablierte sich e<strong>in</strong>e neue Musikrichtung<br />
der Roma <strong>in</strong> Makedonien und der Mittelpunkt war wiederum Suto<br />
Orizari. Fünfzig Jahre lang wurden vom Phralipe Volksmusik-<br />
Ensemble, das gleichbedeutend war mit dem Musikleben der<br />
Roma, traditionelle Musik und Volkstanz nicht nur <strong>in</strong> Makedonien,<br />
sondern auch <strong>in</strong> anderen Teilen Europas aufgeführt.<br />
Pop, R’n’B und Rap waren im letzten Jahrzehnt die beliebtesten<br />
Musikrichtungen. Namen wie Shekil und Dzevat s<strong>in</strong>d sehr bekannt.<br />
Shekil stammt ebenfalls aus Suto Orizari und <strong>in</strong> 2003 hatte er<br />
zusammen mit Mustafa und dem berühmten mazedonischen<br />
Sänger Aleksandar Ristovski-Pr<strong>in</strong>c e<strong>in</strong>en Nr. 1 Hit <strong>in</strong> den<br />
makedonischen Charts (auf Makedonisch gesungen). Dzevat war<br />
e<strong>in</strong>er der 10 F<strong>in</strong>alisten und wurde Dritter im mazedonischen M2<br />
potraga po nova zvezda-Wettbewerb für neue Musiktalente und <strong>in</strong><br />
diesem Jahr ist er e<strong>in</strong>er der bekanntesten neuen Namen <strong>in</strong> der<br />
jungen makedonischen Popmusik-Szene. Die Rap-Sänger und<br />
Tänzer der neuen Musikszene s<strong>in</strong>d auf jedem großen<br />
makedonischen Musik-Event zu sehen.<br />
All dies zeigt, welch große Musikbegabung den Roma eigen ist.<br />
H<strong>in</strong>zu kommt, dass <strong>in</strong> den letzten Jahren die Anzahl der Roma-<br />
Schüler aus Suto Orizari, die ihre Ausbildung an der<br />
Musikakademie <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> fortsetzen, kont<strong>in</strong>uierlich zunimmt. Über<br />
mehrere Jahre <strong>in</strong> Folge ist das Mandol<strong>in</strong>en-Orchester der “Braka<br />
Ramiz Hamid” Grundschule, das von dem Lehrer Samir Mehmed<br />
(akademischer Musiker) geleitet wird, das erfolgreichste Orchester<br />
<strong>in</strong> nationalen Wettbewerben. 14<br />
14 Petrovski, Branko, 2004 – President of the Association for Roma folklore and<br />
culture ”Romano ilo” (persönliches Gespräch) - Abed<strong>in</strong>, Faat, 2005 – Schauspieler im<br />
Theater “Roma” (persönliches Gespräch) – Iseni, 2004<br />
233
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
h) Unterstützung durch Roma NGOs<br />
Die Roma-NGOs nahmen zu jener Zeit ihre Arbeit auf, als das Land<br />
se<strong>in</strong>e Unabhängigkeit erreichte. E<strong>in</strong>e der ersten NGOs <strong>in</strong><br />
Makedonien wurde <strong>in</strong> Suto Orizari gegründet. ”HOMOS” war e<strong>in</strong>e<br />
humanitäre Organisation, die für mehrere Jahre den E<strong>in</strong>wohnern<br />
von Suto Orizari Hilfe zukommen ließ. E<strong>in</strong>ige Jahre später wurden<br />
weitere NGOs gegründet, wie z. B. Esma, e<strong>in</strong>e Organisation für<br />
Frauen (der Name wurde zu Ehren der berühmtesten Roma-<br />
Sänger<strong>in</strong> Esma Redzepova Teodosievska gewählt). In Suto Orizari<br />
setzen sich gegenwärtig drei Organisationen für die<br />
Menschenrechte der Roma e<strong>in</strong>: ROZPR (Republical Organization<br />
for Roma Rights), CDRIM (Center for Democratic Development and<br />
Initiatives of Roma <strong>in</strong> Macedonia) und die Organisation für<br />
Menschenrechte Avutnipe.<br />
Ihre Hauptanliegen s<strong>in</strong>d:<br />
• Die Bevölkerung über ihre Rechte zu <strong>in</strong>formieren<br />
• Unterstützung beim Ausfüllen von Dokumenten<br />
(Bewerbungsschreiben, Antrag auf E<strong>in</strong>bürgerung etc.)<br />
• Bereitstellung der notwendigen Dokumente für das<br />
Erlangen der makedonischen Staatsbürgerschaft<br />
• Kampf gegen die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma<br />
• Unterstützung der Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrem Bemühen,<br />
e<strong>in</strong>en besseren Status <strong>in</strong> der Republik Makedonien zu<br />
erlangen, und Suche nach angemessenen Lösungen bei<br />
alltäglichen Problemen.<br />
Diese NGOs bieten zusammen mit dem Informationszentrum für<br />
Bürger, das zur Geme<strong>in</strong>deverwaltung von Suto Orizari gehört,<br />
schnelle Hilfe bei allen möglichen Problemen, die gelöst werden<br />
müssen.<br />
E<strong>in</strong>es der jüngsten Projekte für e<strong>in</strong>e direkte Hilfe für alle Roma der<br />
Geme<strong>in</strong>de ist das Programm der IOM (Internationale Organisation<br />
für Migration) für die Opfer des Holocaust.<br />
Der Holocaust der Roma <strong>in</strong> Makedonien (von den Roma Poraimos<br />
genannt) war <strong>in</strong> den bulgarischen Faschismus e<strong>in</strong>gebunden. 1944<br />
wurde <strong>in</strong> Deutschland die Waffen-Gebirgs-Division der SS<br />
Skanderbeg gebildet, die den Kosovo, Südserbien, Montenegro und<br />
das westliche Makedonien besetzte. Opfer des Genozids und der<br />
Vernichtung waren makedonische Orthodoxe, serbische Orthodoxe,<br />
Roma und die jüdische Bevölkerung Makedoniens. In der größeren<br />
234
ROMA IN EUROPA<br />
albanischen Region im Westen Makedoniens waren ebenso<br />
makedonische Orthodoxe, serbische Orthodoxe, Roma und die<br />
jüdische Bevölkerung Makedoniens Opfer der Ausrottung und<br />
Deportation. 15<br />
Das Programm <strong>in</strong> Suto Orizari wurde durch die Frauenorganisation<br />
Esma etabliert und schloss die Versorgung mit Lebensmittel- und<br />
Sanitätspaketen sowie Ausstattungen für den W<strong>in</strong>ter und Kleider<br />
e<strong>in</strong>. Zudem gibt es e<strong>in</strong>e kostenlose mediz<strong>in</strong>ische Versorgung für<br />
alle Roma-Opfer des Holocaust (die nicht später als am 8. Mai 1945<br />
geboren s<strong>in</strong>d) 16 Im letzten Jahr begann die Vere<strong>in</strong>igung für<br />
Jugendliche und Frauen Luludi mit Aktivitäten für die jüngere<br />
Bevölkerung und für die Frauen <strong>in</strong> Suto Orizari. So gibt es z. B. für<br />
K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>en täglichen Kreativ-Workshop. Junge ausgebildete<br />
Roma unterrichten Roma-K<strong>in</strong>der auf freiwilliger Basis im Rahmen<br />
dieses <strong>in</strong>offiziellen Unterrichtsangebots. 17<br />
Im Zusammenhang mit diesem <strong>in</strong>offiziellen Unterrichts kommt<br />
Rosh, dem <strong>in</strong> 2000 gegründeten Kulturzentrum der Geme<strong>in</strong>de – es<br />
wurde durch Spenden von Arc, UNHCR und Unicef ermöglicht –<br />
e<strong>in</strong>e große Bedeutung zu. Dieses Zentrum bietet viele<br />
außerplanmäßige Kurse nicht nur für E<strong>in</strong>heimische, sondern auch<br />
für Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge an. Es werden Nähkurse, Computerkurse,<br />
Englischkurse angeboten, zudem gibt es e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten, <strong>in</strong><br />
dem die Roma-K<strong>in</strong>der Makedonisch lernen, und weiteres. Das<br />
Kulturzentrum der Geme<strong>in</strong>de steht den E<strong>in</strong>heimischen, aber auch<br />
allen Roma-Flüchtl<strong>in</strong>gen aus dem Kosovo offen. Und über die<br />
Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge muss man e<strong>in</strong>e ganz eigene Geschichte<br />
erzählen.<br />
i) De<strong>in</strong> Zuhause ist, wo de<strong>in</strong> Herz ist<br />
Im Sommer 1999 befanden sich als Konsequenz der Intervention<br />
der NATO <strong>in</strong> Jugoslawien 2.500 Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Kosovo<br />
im Flüchtl<strong>in</strong>gslager Stenkovec <strong>in</strong> Makedonien. Im April 2000 wurde<br />
durch e<strong>in</strong>heimische und <strong>in</strong>ternationale Quellen bekannt gegeben,<br />
dass es seit 1999 mittlerweile 5.000 Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Kosovo<br />
seien.<br />
15<br />
Carl Savich, Greater Bulgaria, Roma and the Holocaust <strong>in</strong> Macedonia, Oktober<br />
2004<br />
16<br />
Memedova,Kevser, Vorsitzender von WA Esma, persönliches Gespräch, 2004<br />
17<br />
Kjmet,Amet,RAZM Luludi, persönliches Gespräch, 2004<br />
235
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
Anders als im Fall der albanischen Flüchtl<strong>in</strong>ge, die zum Teil <strong>in</strong><br />
Lagern, bei Freunden und Verwandten im Westen Makedoniens<br />
unterkamen, waren aufgrund ihrer Armut nur wenige makedonische<br />
Romafamilien bereit, die Kosovo-Roma aufzunehmen. Anfang<br />
2000 wurden die Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> vorläufige Sammelcamps<br />
umquartiert. Im gleichen Jahr entschied das M<strong>in</strong>isterium für Arbeit<br />
und Soziales, dass e<strong>in</strong> ständiges Lager für die Kosovo-Roma auf<br />
dem Siedlungsgebiet von Suto Orizari errichtet werden soll. In<br />
diesem Lager kamen 3.000 Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge unter und es<br />
unterstand bis 2003 der Aufsicht der UNHCR.<br />
Aufgrund der schlechten gesundheitlichen und hygienischen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen im Flüchtl<strong>in</strong>gscamp von Suto Orizari haben die<br />
Regierung und die UNHCR beschlossen, das Camp zu schließen.<br />
Die Flüchtl<strong>in</strong>ge lebten bis Mai 2003 weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem Camp, obwohl<br />
es offiziell am 31. März geschlossen worden war. Ihnen wurde<br />
seitens der makedonischen Regierung e<strong>in</strong> vorübergehender<br />
humanitärer Status zugesprochen. Der Status wurde alle sechs<br />
Monate von der Regierung überprüft. Die Flüchtl<strong>in</strong>ge durften ke<strong>in</strong>e<br />
Arbeit annehmen, was bedeutete, dass sie vollständig auf<br />
humanitäre Unterstützung angewiesen waren.<br />
Den Vorschlag der UNHCR, sie <strong>in</strong> privaten Familien<br />
unterzubr<strong>in</strong>gen, weil man befürchtete, dass die von der “Hohen<br />
Kommission” bereit gestellte f<strong>in</strong>anzielle Hilfe nicht ausreichen<br />
würde, um e<strong>in</strong>e angemessene und langfristige Wohnsituation zu<br />
gewährleisten, begrüßten die Flüchtl<strong>in</strong>ge nicht. E<strong>in</strong>e weitere<br />
Befürchtung war, dass die Flüchtl<strong>in</strong>ge, wenn sie auf private<br />
Familien verteilt würden, leichter wieder <strong>in</strong> den Kosovo<br />
abzuschieben wären. Nachdem das Camp geschlossen worden<br />
war, blieben die Flüchtl<strong>in</strong>ge dort, ohne e<strong>in</strong>en festen Wohnsitz zu<br />
haben und ihr Aufenthalt im Land war nach makedonischem Recht<br />
somit illegal. Dies war der Hauptgrund für die berühmte ‚Odyssee’<br />
der Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge von Suto Orizari zum Grenzübergang<br />
Medzitlija. Die makedonische Regierung empfahl den Roma, nach<br />
<strong>Skopje</strong> zurückzukehren und sich im H<strong>in</strong>blick auf das im Entwurf<br />
vorliegende Asylgesetz und die bereits angelaufene Bearbeitung<br />
von Anträgen auf Anerkennung ihres Flüchtl<strong>in</strong>gsstatus im Land<br />
registrieren zu lassen. Nach fast drei Monaten gaben die Roma-<br />
Flüchtl<strong>in</strong>ge ihren Widerstand auf, da sie nicht weiterh<strong>in</strong> unter<br />
derartig unhygienischen Bed<strong>in</strong>gungen leben konnten. Die meisten<br />
Roma-Familien wurden im Laufe des letzten Jahres <strong>in</strong> privaten<br />
Familien <strong>in</strong> Suto Orizari untergebracht, wobei die UNHCR für<br />
236
ROMA IN EUROPA<br />
diesen Zweck f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung sowohl an die<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gsfamilien als auch an die e<strong>in</strong>heimischen Familien zahlt. 18<br />
In Suto Orizari s<strong>in</strong>d diese Menschen nun Teil der Roma Geme<strong>in</strong>de<br />
und der heutigen Realität.<br />
Roma <strong>in</strong> der unabhängigen Republik Makedonien<br />
Die makedonische Verfassung von 1991 erkennt die Roma als e<strong>in</strong>e<br />
der Nationalitäten der Republik an: “Makedonien wurde als<br />
Nationalstaat für das makedonische Volk gegründet, <strong>in</strong> dem<br />
Albaniern, Türken, Walachen, Roma und andere Nationalitäten, die<br />
<strong>in</strong> der Republik Makedonien leben, als Bürgern völlige<br />
Gleichberechtigung und e<strong>in</strong>e dauerhafte Koexistenz mit dem<br />
makedonischen Volk zugestanden werden.“<br />
Die Partei für die völlige Gleichberechtigung der Roma (PCER) war<br />
die erste Roma-Partei <strong>in</strong> Makedonien und wurde von Faik Abdi<br />
1990 gegründet. Er hatte bis 1998 e<strong>in</strong>en Sitz im makedonischen<br />
Parlament für den Wahlbezirk von Suto Orizari. Vor der Gründung<br />
der zweiten Roma-Partei waren 38.000 Roma als Mitglieder der<br />
PCER registriert und die Partei war auf lokaler Ebene fast überall<br />
wo Roma lebten präsent. Zu dieser Zeit konnten die Roma 15 von<br />
1.510 Sitzen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>deversammlung für sich gew<strong>in</strong>nen. In<br />
der Geme<strong>in</strong>deversammlung von <strong>Skopje</strong> hatten die Roma zwei von<br />
70 Sitzen und zwei Abgeordnete <strong>in</strong> der aus 120 Mitgliedern<br />
bestehenden Nationalversammlung. In dieser Stärke war die PCER<br />
Teil der Koalitionsregierung. Während der Kommunalwahlen 1996<br />
verließ Amdi Bajram mit e<strong>in</strong>em weiteren Parlamentsabgeordnete<br />
der Roma die Partei, um e<strong>in</strong>e eigene Partei, die Allianz der Roma <strong>in</strong><br />
Makedonien (Sojuz na Romite vo Makedonija) zu gründen. Bis<br />
2003 hatte er zwei Mandate.<br />
Die Demokratisch Progressive Partei der Roma <strong>in</strong> Makedonien<br />
wurde 1991 von e<strong>in</strong>er Gruppe Intellektueller gegründet. Ende 1998<br />
wurde Nezdet Mustafa Vorsitzender der Partei: Zu dieser Zeit war<br />
er Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari. Die Partei änderte<br />
1998 ihren Namen <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>te Partei der Roma (Obed<strong>in</strong>eta partija<br />
na Romite). 2003 wurde e<strong>in</strong>e neue Partei mit dem Namen<br />
Vere<strong>in</strong>igte Partei für die Gleichberechtigung der Roma <strong>in</strong><br />
18<br />
2003 Human Rights Watch, Background: The Plight of the Kosovo Roma Refugees,<br />
2003<br />
237
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
Makedonien (partija za ednistvo na Romite vo Makedonija)<br />
gegründet, der sich die Partei der Roma und die Partei für die<br />
völlige Gleichberechtigung der Roma anschlossen. Nezdet Mustafa<br />
wurde zum ersten Vorsitzenden der Partei ernannt. 19<br />
Im gleichen Jahr bildete während der Parlamentswahlen die Partei<br />
von Nezdet Mustafa mit der Sozialdemokratischen Allianz <strong>in</strong><br />
Makedonien, die die Wahlen gewann, e<strong>in</strong>e Koalition. Mustafa war<br />
nun der e<strong>in</strong>zige Vertreter der Roma im makedonischen Parlament.<br />
Er war der erste Generalsekretär der Partei für die völlige<br />
Gleichberechtigung der Roma (PCER). Später wurde er zu e<strong>in</strong>em<br />
der Gründer der neuen Demokratisch Progressiven Partei der<br />
Roma <strong>in</strong> Makedonien und e<strong>in</strong>ige Jahre darauf, wurde er als ihr<br />
neuer Vorsitzender gewählt und die Partei wurde <strong>in</strong> Partei der<br />
Roma <strong>in</strong> Makedonien umbenannt. 20<br />
Erste Fortschritte für die Roma ergaben sich <strong>in</strong> den frühen<br />
neunziger Jahren <strong>in</strong> der unabhängigen Republik Makedonien. Die<br />
Partei für völlige Gleichberechtigung <strong>in</strong>itiierte e<strong>in</strong>e groß angelegte<br />
Kampagne zugunsten des Wahlfachs Romanes an Grundschulen,<br />
wo die meisten Schüler Roma-K<strong>in</strong>der waren. Zunächst bedurfte es<br />
der Ausbildung von entsprechenden Lehrern, als dies jedoch<br />
erreicht war, wurde der Traum wahr. Für die makedonischen Roma<br />
begann e<strong>in</strong>e neue Zeit. Die makedonische Verfassung gestand<br />
ihnen das erste Mal <strong>in</strong> ihrer Geschichte die gleichen Rechte zu wie<br />
den anderen Bürgern des Staates. Die politischen Parteien der<br />
Roma waren an der Veränderung der Zukunft für die Bevölkerung<br />
der Roma <strong>in</strong> Makedonien maßgeblich beteiligt. Sie verliehen dem<br />
Welttag der Roma am 8. April e<strong>in</strong>e große Bedeutung. Das Feiern<br />
dieses Tages mit vielen kulturellen Aktivitäten gab der jüngeren<br />
Generation die Gelegenheit, sich selbst aus der Anonymität zu<br />
befreien. Die Gründung der Roma-Nachrichtenredaktion für die<br />
makedonische Radio- und Fernsehstation war <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang äußerst wichtig und wirkte sich motivierend auf die<br />
Bevölkerung der Roma aus. Das Programm startete mit kle<strong>in</strong>en<br />
Beiträgen. Die beiden Redaktionen waren jedoch so etwas wie die<br />
Stimme der Roma <strong>in</strong> Makedonien. Bald schon kam die Literatur der<br />
Roma durch die Veröffentlichung der ersten Romani Sprachlehre zu<br />
Ehren. Von Tag zu Tag machte die Literatur der Roma von da an<br />
Fortschritte.<br />
19 M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Südost<strong>europa</strong>, Roma <strong>in</strong> Mazedonien<br />
20 Mustafa, N., The first years, 2000<br />
238
ROMA IN EUROPA<br />
Mehrmals im Jahr trafen sich die Dichter der Roma zu Musik-und<br />
Lyrikabenden. E<strong>in</strong>e der ersten Aktivitäten der politischen Parteien<br />
der Roma war das erste Volksmusikfestival der Roma, das Sutka<br />
Festival der Volksmusik, das berühmte Sänger der Roma aus ganz<br />
Europa zusammenbrachte. Schirmherr des Festivals war das<br />
Parlament der Republik Makedonien.<br />
Im Laufe der Jahre hat der politische E<strong>in</strong>fluss der Roma<br />
zugenommen. Aus den zweiten und dritten Parlamentswahlen <strong>in</strong><br />
der Republik Makedonien g<strong>in</strong>gen zwei Roma-Abgeordnete für das<br />
Parlament hervor. Zu dieser Zeit erzielte man e<strong>in</strong>ige Fortschritte.<br />
E<strong>in</strong>er war die E<strong>in</strong>schreibung von über 40 Roma, die die<br />
weiterführende Schule abgeschlossen hatten, an der<br />
Polizeiakademie für e<strong>in</strong>e Ausbildung zum Polizeibeamten. Zudem<br />
wurde an den Universitäten <strong>in</strong> Makedonien e<strong>in</strong>e Quote für die<br />
‚E<strong>in</strong>schreibung von M<strong>in</strong>derheiten’ e<strong>in</strong>geführt. Die Quote für Roma-<br />
Studenten war 2 Prozent entsprechend dem prozentualen Anteils<br />
der Roma <strong>in</strong> der ganzen Bevölkerung. Im letzten Jahr haben<br />
gemäß dem Ohrid-Abkommen über 20 Roma, die e<strong>in</strong>en<br />
Sekundarschulabschluss erlangt haben, e<strong>in</strong>en Lehrgang für die<br />
Beschäftigung <strong>in</strong> der staatlichen Verwaltung besucht. In diesem<br />
Jahr arbeiten sie <strong>in</strong> der Regierung und <strong>in</strong> Büros der M<strong>in</strong>isterien.<br />
E<strong>in</strong>e bessere Zukunft für Suto Orizari<br />
Angesichts der gegenwärtigen Situation ist e<strong>in</strong>e detaillierte<br />
Stadtplanung unumgänglich. Die Problematik im Zusammenhang<br />
mit dem Sutko-Basar muss gelöst werden. Suto Orizari hat ke<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>kaufszentrum. Die Tatsache, dass auf dem Sutko-Basar alle<br />
Waren unter freiem Himmel und an improvisierten Ständen verkauft<br />
werden, macht die Notwendigkeit für e<strong>in</strong> solches E<strong>in</strong>kaufszentrum<br />
nur allzu deutlich. Es ist allseits bekannt, dass der Sutka-Markt der<br />
beliebteste E<strong>in</strong>kaufsort im ganzen Land ist, vor allem an<br />
Sonntagen. Aus diesem Grunde bilden sich lange Autoschlangen<br />
von der Stadtgrenze bis zur Stadtmitte. Das hohe<br />
Verkehrsaufkommen und das unvermeidliche Chaos birgt nicht<br />
zuletzt auch e<strong>in</strong> hohes Gefährdungsrisiko für die Menschen. E<strong>in</strong><br />
großer Parkplatz h<strong>in</strong>ter dem Markt wäre sicherlich e<strong>in</strong>e Lösung<br />
dieses Problems.<br />
Das Informationszentrum für Bürger bietet nun bessere und<br />
schnellere Hilfe bei Fragen für die Bewohner der Geme<strong>in</strong>de,<br />
dennoch sollte für bestimmte Anfragen oder sozioökonomische<br />
Neuigkeiten <strong>in</strong> Kooperation mit dem M<strong>in</strong>isterium für Arbeit und<br />
Soziales e<strong>in</strong> Büro für soziale Fragen e<strong>in</strong>gerichtet werden.<br />
239
Sevdija Demirova-Abdulova<br />
Gegenwärtig fehlen <strong>in</strong> Suto Orizari die Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>dustrielle Produktion. Sollte als Teil e<strong>in</strong>es städtebaulichen<br />
Konzepts e<strong>in</strong> solches Industriegebiet entstehen, würde dies die<br />
Ausgangslage für e<strong>in</strong>e Entwicklung der Wirtschaft und der<br />
Beschäftigung vor Ort sicherlich entscheidend verbessern.<br />
Im Sommer gibt es <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de immer noch e<strong>in</strong> Problem mit<br />
der Wasserversorgung. Vor allem die Häuser, die etwas höher<br />
stehen, werden nur unzureichend mit Wasser versorgt. Diese<br />
Situation dauert oft Stunden an, deshalb muss das<br />
Wasserversorgungssystem dr<strong>in</strong>gend verbessert werden.<br />
Die lokalen NGOs der Roma benötigen für die Umsetzung wichtiger<br />
Projekte für die Bevölkerung von Suto Orizari die Unterstützung der<br />
Kommunalverwaltung. In den letzten Jahren hat sich die<br />
Menschenrechtssituation <strong>in</strong> Suto Orizari dank der Aktivitäten dieser<br />
lokalen NGOs verbessert. Die Zusammenarbeit zwischen der<br />
Geme<strong>in</strong>deverwaltung und den NGOs könnte den E<strong>in</strong>wohnern e<strong>in</strong>e<br />
bessere Zukunft bescheren. Aber was zählen ist die<br />
Ausbildungschancen der Bevölkerung, wenn viele Schüler der<br />
Grundschulen ihre Schullaufbahn nach Beendigung der<br />
Grundschule abbrechen. E<strong>in</strong>er der Gründe hierfür ist das Fehlen<br />
f<strong>in</strong>anzieller Mittel für Schulbücher, Busse und Verpflegung. Deshalb<br />
wäre es wichtig, e<strong>in</strong>e weiterführende Schule <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de zu<br />
haben. Derzeit wird diese Frage von führenden Politikern der Roma<br />
mit Vertretern des makedonischen M<strong>in</strong>isteriums für Bildung<br />
diskutiert und es könnte möglich se<strong>in</strong>, dass dieser Traum vieler<br />
junger Leute <strong>in</strong> Sutka <strong>in</strong> Erfüllung geht.<br />
Bislang wurden dafür 750.000 Euro von NGOs bereitgestellt und<br />
über zusätzliche Geldmittel wird mit dem Bildungsm<strong>in</strong>isterium<br />
verhandelt. Wenn es um die Jugend geht, muss e<strong>in</strong>e Lösung für<br />
deren Beschäftigungssituation gefunden werden. Für die<br />
kurzfristige Beschäftigung der jungen Leute muss e<strong>in</strong> strategisches<br />
Konzept erarbeitet werden, ähnlich wie <strong>in</strong> den sechziger Jahren, als<br />
es Agenturen für die Beschäftigung von Jugendlichen gab<br />
(mlad<strong>in</strong>ski zadrugi). Ziel dieser Agenturen war es, kurzfristig<br />
Arbeitsmöglichkeiten für junge Leute zu f<strong>in</strong>den.<br />
Für die junge Generation <strong>in</strong> Suto Orizari werden<br />
Jugendkulturzentren benötigt, die zugleich Treffpunkt s<strong>in</strong>d und<br />
Schutz vor den schlechten E<strong>in</strong>flüssen der Straße bieten. Angesichts<br />
der Tatsache, dass es e<strong>in</strong>e lange Theatertradition <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de<br />
gibt, ist es von hoher Bedeutung für die Geme<strong>in</strong>dekultur, dass e<strong>in</strong><br />
240
ROMA IN EUROPA<br />
Theatergebäude zur Verfügung steht. - Die E<strong>in</strong>heimischen s<strong>in</strong>d als<br />
gute Sportler bekannt. Es gibt e<strong>in</strong>en Fußballvere<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en<br />
Boxvere<strong>in</strong>, doch e<strong>in</strong>e der am erfolgreichsten betriebenen Sportarten<br />
<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ist Tischtennis. Die jungen Mitglieder des Teams<br />
haben sich für die erste makedonische Liga im Tischtennis<br />
qualifiziert. Sie tra<strong>in</strong>ieren <strong>in</strong> dieser Geme<strong>in</strong>de im K<strong>in</strong>der- und<br />
Jugendzentrum. Sportplätze und -hallen würden der Jugend<br />
vielleicht großen Auftrieb geben und sie zu Bestleistungen<br />
motivieren und offensichtlich könnten diese Aktivitäten auch e<strong>in</strong><br />
breiteres Interesse <strong>in</strong> der Bevölkerung bewirken.<br />
Samka Ibraimovski, der stellvertretende M<strong>in</strong>ister für Arbeit und<br />
Sozialpolitik ist der Me<strong>in</strong>ung, dass Suto Orizari e<strong>in</strong>en gut<br />
ausgebildeten und kompetenten Bürgermeister braucht, der für<br />
bessere Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Zukunft sorgen könnte. Bildung ist der<br />
Schlüssel dafür, denn der Bürgermeister muss an Projekten<br />
arbeiten, die Investitionen begünstigen, um die Gründung kle<strong>in</strong>er<br />
Fabriken <strong>in</strong> Suto Orizari anzuregen. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />
und e<strong>in</strong>e Reduzierung der Arbeitslosigkeit s<strong>in</strong>d abhängig von den<br />
Investitionen <strong>in</strong> die Produktions<strong>in</strong>dustrie. Die fachliche Kompetenz<br />
<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ist größer geworden und es ist lediglich e<strong>in</strong>e Frage<br />
der Zeit, bis die Abteilungen der makedonischen M<strong>in</strong>isterien vor Ort<br />
zu funktionieren beg<strong>in</strong>nen. Dies wird die Kommunikation zwischen<br />
der kommunalen und staatlichen Ebene verbessern. 21<br />
Dies s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige wenige Vorschläge, um die Zukunft der<br />
Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari zu verbessern. Leider arbeitet die<br />
Geme<strong>in</strong>deverwaltung mit äußerst ger<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>anziellen Mitteln. Der<br />
Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bessere Zukunft ist zwar ste<strong>in</strong>ig, manchmal<br />
erbarmungslos, voller H<strong>in</strong>dernisse, aber er ist es wert, ihn bis zum<br />
Ende zu gehen. Dem Bürgermeister und den E<strong>in</strong>wohnern ist auf<br />
diesem Weg Glück zu wünschen.<br />
21<br />
Interview mit Samka Ibraimovski, stellvertretender M<strong>in</strong>ister für Arbeit und<br />
Sozialpolitik, Juli 2005<br />
241
Osman Balic<br />
243<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Schwierigkeiten beim Aufbau e<strong>in</strong>er starken politischen<br />
Romapartei <strong>in</strong> Serbien und Montenegro<br />
1. Die Roma <strong>in</strong> Serbien<br />
Die E<strong>in</strong>wohnerzahl<br />
Entsprechend den Angaben der staatlichen Volkszählung von 2002<br />
leben <strong>in</strong> Serbien <strong>in</strong>sgesamt 108.193 Bürger, die Roma s<strong>in</strong>d. Man<br />
kann aber mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit behaupten, dass diese Zahl<br />
3,5 mal höher ist. Dies würde bedeuten, dass <strong>in</strong> Serbien ca. 380<br />
000 Roma leben, bzw. 1,45 % der Gesamte<strong>in</strong>wohnerzahl Serbiens.<br />
- Laut der Volkszählung von 1991 waren die Roma <strong>in</strong> Serbien die<br />
viertgrößte M<strong>in</strong>derheit nach den Albanern, den Ungarn und den<br />
Muslimen<br />
Hätten sich die Roma bei der "Volkszählung 2002" als das, was sie<br />
tatsächlich s<strong>in</strong>d, also als Roma, ausgewiesen, wäre das Ergebnis<br />
unzweifelhaft gewesen: Die Roma wären nach den Albanern die<br />
zweitgrößte ethnische M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Serbien. Da außerdem das<br />
Gebiet des Kosovo derzeit außerhalb der Zuständigkeit Serbiens<br />
ist, dürften die Roma die zahlenmäßig größte nationale M<strong>in</strong>derheit<br />
<strong>in</strong> Serbien se<strong>in</strong>.<br />
Die politischen Romaparteien<br />
Die bisherigen Bemühungen, e<strong>in</strong>e starke politische Romapartei zu<br />
gründen, führten noch zu ke<strong>in</strong>em Erfolg. Die ersten Romaparteien<br />
entstanden nach E<strong>in</strong>führung des Mehrparteisystems im ehemaligen<br />
Jugoslawien. Wir Roma brauchten 15 Jahre, um e<strong>in</strong>zusehen, dass<br />
wir <strong>in</strong> unseren Bemühungen, e<strong>in</strong> relevanter politischer Akteur zu<br />
werden, der Unterstützung bedürfen.<br />
Der Misserfolg hatte viele Gründe: die unentwicklte politische<br />
Kultur, das Fehlen von starken politischen Roma-Parteien und -<br />
Leadern, ihre teilnahmslos h<strong>in</strong>nehmende Lethargie und Indolenz,<br />
das niedrige Bildungsniveau der Roma und ihre Alltagssorgen.<br />
Gerade deswegen ist der Bedarf an der Gründung von e<strong>in</strong>er oder<br />
zwei starken politischen Roma-Parteien besonders groß. Ihre
Osman Balic<br />
Aufgabe wäre es, sich mit der politischen Kultur der Roma zu<br />
befassen, bzw. e<strong>in</strong>e politische Organisation zu schaffen und ihren<br />
Landsleuten glaubhaft zu zeigen, dass der politische Bereich der<br />
wichtigste Schauplatz ist, auf dem sowohl über das Schicksal des<br />
E<strong>in</strong>zelnen und se<strong>in</strong>er Familie, also über die Armut und die<br />
Gettoisierung, als auch über den M<strong>in</strong>derheitenstatus, die ethnische<br />
Gleichberechtigung und den Staat im allgeme<strong>in</strong>en entschieden<br />
wird.<br />
2. Die Beziehungen zwischen den Roma<br />
Bei den Roma mangelt es an Solidarität. Die traditionelle<br />
gegenseitige Unterstützung <strong>in</strong> der engeren Familie und <strong>in</strong> der<br />
Großfamilie, <strong>in</strong> der Nachbarschaft und den Straßenzügen, <strong>in</strong> der<br />
ethnischen Untergruppe und der ganzen Volksgruppe ist verloren<br />
gegangen. Es sche<strong>in</strong>t als sei der ethnologische Mythos über die<br />
E<strong>in</strong>igkeit der Roma entschwunden. Statt der Sorge um den<br />
Nächsten breiten sich immer mehr e<strong>in</strong> utilitaristischer<br />
Individualismus und e<strong>in</strong> verhängnissvoller Egoismus aus. "Ich b<strong>in</strong><br />
mir am wichtigsten, mich <strong>in</strong>teressiert nur der engste Kreis me<strong>in</strong>er<br />
Angehörigen". Auch die Beziehungen zwischen den<br />
Generationen s<strong>in</strong>d schlecht.<br />
3. Die politische Kultur der Roma<br />
Die politische Kultur der Roma ist katastrophal. Genauer gesagt:<br />
Es gibt sie gar nicht. Wir können festhalten, dass es sich um e<strong>in</strong>e<br />
politische Unkultur handelt.<br />
Folgende Bed<strong>in</strong>gungen bee<strong>in</strong>flussen die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />
politischen Kultur und e<strong>in</strong>es starken politischen Faktors.<br />
Obwohl ich der Ansicht b<strong>in</strong>, dass die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma im<br />
kulturellen Bereich am stärksten ist – auch wenn sie dort <strong>in</strong> "buntes<br />
Geschenkpapier" verpackt ist -, möchte ich die Bedeutung des<br />
rechtlichen und politischen Subsystems <strong>in</strong> der Gesellschaft nicht<br />
vernachlässigen. Als solches ist dieses Subsystem e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Determ<strong>in</strong>ante der Lage der großen Gruppen – hier der ethnischen –<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er konkreten Geme<strong>in</strong>schaft. Handelt es sich dabei noch um<br />
ethnische M<strong>in</strong>derheiten ohne Schutz durch ihren Heimatstaat <strong>in</strong> der<br />
unmittelbaren Nachbarschaft, wie es leider der Fall bei den Roma<br />
244
245<br />
ROMA IN EUROPA<br />
ist, sche<strong>in</strong>t der politische Bereich so e<strong>in</strong>e Schlüsselrollezu spielen,<br />
dass viele Sozialanalysten ihm absoluten Vorrang e<strong>in</strong>räumen.<br />
Die Roma spielen im politischen Bereich gar ke<strong>in</strong>e Rolle, sie haben<br />
ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss und dienen den Regierungskreisen für<br />
Manipulationen. E<strong>in</strong> Grund liegt laut Sonja Licht im "Fehlen e<strong>in</strong>er<br />
homogenen Kollektivität, e<strong>in</strong>er autonomen Selbstorganisation und<br />
e<strong>in</strong>es kollektiven nationalen Selbstbewusstse<strong>in</strong>s …"<br />
Die Elite der Roma<br />
Der Aufbau e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>telektuellen, <strong>in</strong>sbesondere politischen Elite steht<br />
den Roma erst bevor. Bis vor kurzem hatten sie nicht e<strong>in</strong>mal<br />
bedeutende Vertreter <strong>in</strong> den Institutionen des Staatssystems. Sogar<br />
als sie, wie z.B. <strong>in</strong> der letzten Regierungsperiode, e<strong>in</strong>ige<br />
Geme<strong>in</strong>deräte <strong>in</strong> den Kommunen und Städten, e<strong>in</strong>ige Abgeordnete<br />
im serbischen Parlament und e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>ister ohne Portefeuille <strong>in</strong> der<br />
Regierung der Republik Serbien hatten, hätten sie mit ihren<br />
politischen Repräsentanten und ihrem politischen E<strong>in</strong>fluss nicht<br />
zufrieden se<strong>in</strong> sollen - und sie waren es auch nicht. Die Mehrheit<br />
der Roma zweifelte sogar an ihren damaligen Vertretern <strong>in</strong> der<br />
Regierung: Weder hatten sie ihnen ihre Stimme gegeben, noch<br />
haben diese, wie wir uns überzeugen konnten, ihre authentischen<br />
Interessen vertreten.<br />
Es ist e<strong>in</strong> Wunsch und auch das legitime Recht der Roma,<br />
wenigstes dort, wo sie <strong>in</strong> der Mehrheit s<strong>in</strong>d, ihre eigenen Leute<br />
wählen.<br />
Zweifellos würden die Roma ihre Me<strong>in</strong>ung ändern und an politischer<br />
Reife gew<strong>in</strong>nen, wenn ihre sich herausbildende politische Elite<br />
verantwortlicher wäre und sich tatsächlich mit dem Wohl ihrer<br />
Landsleute befassen würde.<br />
Die politische Angst<br />
In starken Zivilgesellschaften würde man über das Bestehen e<strong>in</strong>es<br />
Zusammenhangs zwischen den Kategorien Angst und Politik<br />
staunen. Lebt man jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em totalitären System, wie es das<br />
serbische war, hat die Frage nach diesem Zusammenhangs e<strong>in</strong>e<br />
Rechtfertigung. Das gefallene Regime schuf absichtlich e<strong>in</strong><br />
allgeme<strong>in</strong>es Gefühl des Nichterlaubtse<strong>in</strong>s und jagte den Menschen,
Osman Balic<br />
wenn sie sich bei Wahlen "falsch" oder für die demokratische<br />
Opposition entschieden, Angst vor den schrecklichen Folgen e<strong>in</strong>.<br />
Insbesondere die Roma waren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er präkeren Lage. Immer und<br />
überall stigmatisiert und sowohl von der eigenen Elite als auch von<br />
der Mehrheitsbevölkerung politisch vernachlässigt waren sie immer<br />
auf der Hut und fürchten sich wahrsche<strong>in</strong>lich mehr als alle anderen.<br />
Ist diese politische Angst der Hauptgrund dafür, dass sie ihren<br />
authentischen politischen Willen nicht ausdrücken?<br />
Die Angst, e<strong>in</strong>e traurige Tatsache für unsere Geme<strong>in</strong>schaft, besteht<br />
bei den Roma und sie erschwert den Weg zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>terkulturellen<br />
Gesellschaft. Wie könnte man sonst die Ergebnisse e<strong>in</strong>iger<br />
Untersuchungen deuten, laut denen e<strong>in</strong> Drittel auf die e<strong>in</strong>e oder<br />
andere Art Angst hat, sich politisch zu äußern? ("Es ist besser, zu<br />
Hause zu bleiben und sich um die eigenen Angelegenheiten zu<br />
kümmern", "Bei uns kennt jeder jeden, und jeder hat Angst vor dem<br />
anderen", "Wenn ich nach eigenem Willen wähle, wird mir der Staat<br />
das Leben erschweren"). Zum Glück hat sich aber über e<strong>in</strong>e Hälfte<br />
der Roma von dieser Angst befreit. Den Ängstlichen, denen man<br />
es auf ke<strong>in</strong>en Fall übel nehmen sollte, da sie daran ke<strong>in</strong>e Schuld<br />
haben, sollte man geduldig erklären, dass man sich wegen der<br />
Beschäftigung mit der Politik und der freien politischen<br />
Entscheidung nicht strafbar macht. Im Gegenteil, es ist die e<strong>in</strong>zige<br />
Möglichkeit der Erreichung e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> der niemand Angst<br />
haben muss. Außerdem sollte man den Roma klarmachen, dass<br />
sich die Mehrheit ihrer Landsleute, Verwandten und Nachbarn von<br />
der Angst befreit hat, politisch reif ist und "gnadenlos" ihre<br />
politischen Forderungen stellt.<br />
Das politische Vertrauen<br />
E<strong>in</strong>ige neue Untersuchungen der Roma-Bevölkerung zeigen, dass<br />
die Roma zu e<strong>in</strong>em konservativen und autoritären Verhalten neigen<br />
und dem Staat, den Regierenden und den eigenen mit den<br />
Regierungskreisen kollaborierenden Vertretern ohne jegliche Kritik<br />
loyal s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e Begründung dafür f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> ihrer<br />
jahrhundertelangen Erfahrung und den Überlebensrategien <strong>in</strong><br />
Staaten der Mehrheitsbevölkerung. Sie sehen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
transnationalen Situation und gezwungen, sich ständig anzupassen<br />
um zu überleben. Ist die Situation aber tatsächlich so und muss es<br />
bei den Roma so bleiben?<br />
246
247<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Inzwischen hat sich vieles bei unseren Roma geändert. Auch sie<br />
haben politische Parteien gegründet, s<strong>in</strong>d Mitglieder <strong>in</strong> anderen<br />
Parteien, haben authentische politische Leader, ihre <strong>in</strong>telektuelle<br />
Elite wächst, sie gründen alternative Roma-Vere<strong>in</strong>e und<br />
Nichtregierungsorganisationen… Wem glauben die Roma am<br />
meisten? Oder schenken sie niemandem ihr politisches Vertrauen?<br />
Blanko glauben die Roma niemandem mehr und das ist auch gut so<br />
für sie. E<strong>in</strong> wenig mehr Vertrauen haben sie <strong>in</strong> den Staat. Das<br />
restliche Vertrauen ist auf verschiedene andere Subjekte verteilt:<br />
E<strong>in</strong>ige traditionelle Subjekte haben dieses Vertrauen verspielt (z.B.<br />
der Dachverband der Roma-Vere<strong>in</strong>e Serbiens bzw. Jugoslawiens)<br />
und die neuen haben dieses Vetrauen noch nicht gew<strong>in</strong>nen können<br />
(Alternative Roma-Vere<strong>in</strong>e und -NGOs).<br />
Die Prognose ist, dass drei gesellschaftlich-politische Akteure e<strong>in</strong>e<br />
günstige Situation langfristig und mit e<strong>in</strong>em geduldigen Angebot<br />
nutzen könnten: die alternativen Vere<strong>in</strong>e und<br />
Nichtregierungsorganisationen der Roma, die politischen Parteien<br />
der Roma und die demokratische Opposition. Derzeit hat der erste<br />
Akteur gewisse Chancen, der zweite hat nur ger<strong>in</strong>gen E<strong>in</strong>fluss, der<br />
dritte h<strong>in</strong>kt stark h<strong>in</strong>terher und sollte sich darüber ernsthafte<br />
Gedanken machen.<br />
Die politischen Parteien der Mehrheitsbevölkerung<br />
Das Problem ist, dass die wichtigeren politischen Parteien sich<br />
e<strong>in</strong>erseits sehnlichst e<strong>in</strong>en starken E<strong>in</strong>fluss auf die<br />
Romabevölkerung wünschen und andererseits ihren spezifischen<br />
Problemen und Forderungen nicht genügend Aufmerksamkeit<br />
widmen. Ihnen ist bewusst, dass der Roma-Anteil an der<br />
Wählermasse nicht zu unterschätzen ist. Er beträgt mehrere<br />
hunderttausend Wähler und stellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Gebieten, Dörfern und<br />
Städten, bzw. Wahlkreisen die Mehrheit.<br />
Obwohl sich die Roma dieser Zusammenhänge nicht bewusst s<strong>in</strong>d,<br />
spüren sie ihre Macht als Wähler und wissen, dass sie von den<br />
politischen Parteien vernachlässigt werden. Wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
wundern sie sich darüber, dasss sie sogar <strong>in</strong> den Programmen der<br />
Parteien der demokratischen Opposition marg<strong>in</strong>alisiert s<strong>in</strong>d.<br />
Deshalb haben die Roma diese Parteien dadurch bestraft, dass sie<br />
entweder überhaupt nicht wählen g<strong>in</strong>gen oder "unerwartet" für die
Osman Balic<br />
Kandidaten der Regierungsparteien votiert haben. 1 Die Roma s<strong>in</strong>d<br />
zunehmend kritisch orientiert und davon überzeugt, dass die<br />
modernen politischen Parteien <strong>in</strong> ihrem "Machtstreben" die<br />
Interessen des geme<strong>in</strong>en Volkes und der kle<strong>in</strong>en Leute<br />
vernachlässigt haben. Sie wissen auch, dass die politischen<br />
Parteien der Mehrheitsbevölkerung bei ihnen e<strong>in</strong>e besonders<br />
wichtige politische Rolle spielen können, wenn sie sich ehrlich für<br />
sie e<strong>in</strong>setzen. Die Roma müssen über ihre politische Elite stärker<br />
die politischen Parteien der Mehrheitsbevölkerung bedrängen, ihre<br />
Forderungen radikaler stellen und mit mehr Verantwortung am<br />
politischen Leben teilnehmen.<br />
Die Nichtregierungsorganisationen der Roma<br />
In Europa haben verschiedene und zahlreiche staatliche Behörden<br />
und Stiftungen das Roma-Problem rechtzeitig erkannt. Mit allen<br />
Kräften versuchen sie, diesem verzweifelten Volk zu helfen. Es gibt<br />
hunderte von sogenannten Programmen für die Roma und<br />
tausende Projekte werden f<strong>in</strong>anziert, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bandbreite<br />
von K<strong>in</strong>der- und Wohltätigkeitsprogrammen bis zu Bildungs- und<br />
Wissenschaftsprogrammen, die durch unzählige Freiwillige und<br />
Enthusiasten, Professionelle und den Roma zugeneigte Experten,<br />
solche, die ihre humanistische Tugend im dritten Sektor, <strong>in</strong> den<br />
geme<strong>in</strong>nützigen humanitären Nichtregierungsorganisationen, <strong>in</strong><br />
Taten umgesetzt werden. Im Gegensatz zu unserer Regierung hat<br />
man dort e<strong>in</strong>gesehen, dass die Zukunft dem dritten Sektor gehört.<br />
Der E<strong>in</strong>fluss der sogenannten Roma-<br />
Nichtregierungsorganisationen, deren Anzahl schon<br />
unübersichtlich geworden ist und der oft von den Serben zu<br />
hörenden Beschreibung entspricht: "Wo e<strong>in</strong> Roma ist, da ist auch<br />
se<strong>in</strong>e Nichtregierungsorganisation", wird immer größer. Man sollte<br />
dies den Roma auch gönnen. Weit nützlicher wäre es jedoch, wenn<br />
sich die E<strong>in</strong>-Mann-NGOs vernetzen und <strong>in</strong>tegrieren würden.<br />
Geme<strong>in</strong>sam könnten sie e<strong>in</strong>en starken Druck auf die Politik<br />
ausüben.<br />
Das politische Wesen der Roma ist - so wie es ist - weder im<br />
E<strong>in</strong>zelnen untersucht worden, noch haben ihm die politischen<br />
Parteien ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet. Die Roma<br />
1<br />
Die Serbische Radikale Partei hat e<strong>in</strong>en enormen E<strong>in</strong>fluss auf die Roma, was e<strong>in</strong><br />
unglaubliches Paradox ist.<br />
248
249<br />
ROMA IN EUROPA<br />
allgeme<strong>in</strong> verdienen e<strong>in</strong>e größere und verstärkte politische<br />
Aufmerksamkeit. Besonders viele Roma leben <strong>in</strong> den Städten. Ihre<br />
Anzahl ist wesentlich größer als die Anzahl der Roma auf dem<br />
Land. Im Gegensatz zur ruralen Zersteuung, gewährleistet die<br />
urbane Konzentration den Roma die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en<br />
bedeutenden Teil des Wahlkorpuses zu stellen. Deshalb kann man<br />
mit e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nvollen politischen Aktion zwei Ziele erreichen:<br />
E<strong>in</strong>erseits wird die <strong>in</strong>tensivere und komplexere Untersuchung des<br />
politischen Wesens der Roma angeregt, andererseits wird ihnen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em demokratischen Verfahren ermöglicht, ihren politischen<br />
Willen frei zu äußern.<br />
Die Bürger befassen sich aus den unterschiedlichsten Gründen mit<br />
der Politik. Die e<strong>in</strong>en tun dies aus ausschließlich persönlichen<br />
Interessen, die anderen sorgen sich um die besonderen<br />
Bedürfnisse e<strong>in</strong>er Schicht oder e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe und<br />
manche s<strong>in</strong>d um die höheren nationalen und staatlichen Interesse<br />
besorgt … Alle haben sie Motive, also auch die Roma, nur müssen<br />
sie per def<strong>in</strong>itione spezifische Gründe für ihre Teilnahme an der<br />
Politik haben.<br />
Im Gegensatz zu ihren Landsleuten <strong>in</strong> anderen Teilen Europas<br />
haben unsere Roma leider nicht das Glück, dass alle Sche<strong>in</strong>werfer<br />
auf sie gerichtet s<strong>in</strong>d. Der Staat hat immer etwas wichtigeres zu<br />
tun, und wenn er hilft, macht er das selektiv und behandelt die<br />
Roma wie e<strong>in</strong>e exotische Folkloregruppe. Den politischen Parteien,<br />
die ihren Analphabetismus und ihre Unorganisiertheit ausnutzen,<br />
dienen sie zum E<strong>in</strong>wegverbrauch – als erweiterter Wahlapparat.<br />
Deshalb müssen sich die Roma auf sich selbst verlassen und "ihr<br />
eigenes Potenzial nutzen", sich politisch organisieren und vere<strong>in</strong>en,<br />
ihre vergrößerte Macht nutzen und der eigenen Elite komplexere<br />
Forderungen stellen. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d sie verpflichtet, die<br />
Nichtregierungsorganisationen <strong>in</strong> ihrem Umfeld kennenzulernen, mit<br />
ihnen zusammenzuarbeiten, an geme<strong>in</strong>samen Programmen zu<br />
arbeiten und unerschöpflich ihre Potentiale zu nutzen. Sie müssen<br />
"Freunde" unter den Wissenschaftlern f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>sbesondere unter<br />
denen aus dem gesellschaftlich-humanistischen Bereich, und bei<br />
ihnen das Interesse für ihre "Frage" wecken. Erst <strong>in</strong> dieser Tr<strong>in</strong>ität<br />
wächst die Chance der Roma soweit, dass sie sichtbar wird und der<br />
Staat und unsere Regierung sie nicht leugnen können.
Osman Balic<br />
In me<strong>in</strong>em Integrationsmodell und auf se<strong>in</strong>en rechtlich-politischen<br />
Wegen gibt es ke<strong>in</strong>en Erfolg ohne e<strong>in</strong>e ausgeprägte politische<br />
Kultur und e<strong>in</strong>e starke politische Rolle. Die Macht bekommt man<br />
nicht geschenkt, man erwirbt sie, <strong>in</strong>dem man für sie kämpft und<br />
sie erkämpft. Die Roma s<strong>in</strong>d nun am Zug, da sie selber die<br />
Schuld tragen für den Mangel an politischer Kultur und an<br />
bedeutenderen politischen Rollen. Gerade dort ist ihre große<br />
Chance, manche glauben sogar die größte: "Die Politik ist der<br />
e<strong>in</strong>zige Bereich, <strong>in</strong> dem die Roma große Erfolge erzielen<br />
können."<br />
4. Die politischen Romaparteien und ihre E<strong>in</strong>stellungen zu den<br />
Problemem<br />
Die wichtigsten Parteien der Roma s<strong>in</strong>d z.Z. die folgenden:<br />
Nr. Name der Partei Vorsitzender<br />
1. Partei der E<strong>in</strong>heit der Roma Žika Mitrović<br />
2. Roma Sozialdemokratische Partei Dragan<br />
Jovanović<br />
3. Neue Demokratische Partei der Roma Serbiens Dragan Ristić<br />
4. Sozialdemokratische Partei Muharem Muja<br />
Alijević<br />
5. Demokratische Roma-Partei Nenad Vasić<br />
6. Demokratische Partei der Roma Sevded<strong>in</strong> Haliti<br />
7. Roma Sozialdemokratische Partei Serbiens Srđan Ša<strong>in</strong><br />
Auf Grund der Gespräche nach den letzten Kommunalwahlen <strong>in</strong><br />
Serbien, die im September 2004 stattfanden, können folgende<br />
kritische Schlussfolgerungen der Führer der Romaparteien genannt<br />
werden:<br />
- Alle Teilnehmer erkannten den Mangel an Experten, die am<br />
politischen Wettkampf mitwirken könnten.<br />
- Die bestehenden politischen Parteien haben ihre politische<br />
Idee, die klaren politischen Ziele, die Plattform und den<br />
Aktionsplan ihres Wahlkampfs nicht klar def<strong>in</strong>iert. Als Gründe<br />
dafür wurden das mangelnde Wissen bei der Erstellung solcher<br />
Pläne und der Mangel an F<strong>in</strong>anzen angeführt.<br />
250
251<br />
ROMA IN EUROPA<br />
- Als Problem wurde auch die Passivität der Parteien <strong>in</strong> der Zeit<br />
zwischen den Wahlen erkannt. Sie werden nur vor Beg<strong>in</strong>n der<br />
Wahlen aktiv.<br />
- Alle Teilnehmer führten auch das Problem der F<strong>in</strong>anzierung der<br />
politischen Parteien an. Auf dieses Problem wurde durch<br />
Beispiele von Eigen<strong>in</strong>vestitionen von Parteimitgliedern oder<br />
E<strong>in</strong>zelpersonen während des Wahlkampfs h<strong>in</strong>gewiesen. Die<br />
Wahlergebnisse s<strong>in</strong>d dann dementsprechend.<br />
- Die Roma-Kandidaten deuten das niedrige Niveau der<br />
Wahlbeteiligung der Roma-Geme<strong>in</strong>schaft als Folge des<br />
Misstrauens <strong>in</strong> die Roma-Parteien und der traditionellen<br />
apolitischen E<strong>in</strong>stellung der Roma.<br />
- Es wurden auch Fälle genannt, <strong>in</strong> denen sich die für die<br />
Anmeldung <strong>in</strong> den Wahllisten zuständigen Beamten<br />
diskrim<strong>in</strong>ierend gegenüber den Vertretern der Wahlausschüsse<br />
und -gremien verhalten haben.<br />
- Das Verhältnis der Nicht<strong>roma</strong>-Parteien zu den Roma-Parteien<br />
ist so, dass niemand e<strong>in</strong>e Koalition mit den Roma e<strong>in</strong>gehen<br />
möchte, da sie der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Pakt mit den<br />
Romaparteien könnte ihnen politisch schaden.<br />
- Die Medien haben e<strong>in</strong>e abwertende Haltung, da die<br />
Romaparteien (häufig wegen Mangel an F<strong>in</strong>anzen) ke<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit hatten, sich vorzustellen.<br />
- Als Bedarf wurde auch die Kommunikation zwischen den<br />
politischen Roma-Parteien genannt, um geme<strong>in</strong>sam über<br />
Möglichkeiten von geme<strong>in</strong>samen Zielen und Koalitionsauftritten<br />
zu diskutieren.<br />
Diese identifizierten Probleme s<strong>in</strong>d nicht neu. Sie verdeutlichen nur,<br />
dass die Probleme nicht gelöst worden s<strong>in</strong>d, sich nicht reduziert<br />
haben und dass die Anzahl der Roma, die am Wahlprozess<br />
teilnehmen möchten, steigt. E<strong>in</strong>e weitere wichtige Tatsache ist das<br />
Fehlen an Kommunikation zwischen den Parteien und an<br />
geme<strong>in</strong>samen Auftritte, <strong>in</strong> denen alle e<strong>in</strong>e Möglichkeit der<br />
Verbesserung der Beteiligung der Roma an den Wahlen sehen.<br />
Nach mehreren Jahren ist e<strong>in</strong> Weg zu erkennen, den man beim<br />
Strukturieren der politischen Interessen durch Koalitionen der<br />
Roma-Parteien begehen sollte. Der Erreichung des Ziels "soziale
Osman Balic<br />
Gerechtigkeit" oder der Schaffung e<strong>in</strong>er "starken politischen Partei,<br />
die wir nicht haben", mangelt immer noch die Konkretisierung, die<br />
Systematik und der langfristige Effekt der Teilhabe an der Macht<br />
und festgelegte Pläne und Ziele für die Zeit nach den Wahlen.<br />
5. Empfehlungen:<br />
Für die politischen Parteien:<br />
• Es ist erforderlich, dass so bald wie möglich e<strong>in</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g für<br />
die politischen Parteien veranstaltet wird, <strong>in</strong> dem sie <strong>in</strong> den<br />
Bereichen der Erarbeitung von politischen Programmen, des<br />
Wahlkampfes und des politischen Managements ausgebildet<br />
werden. Auf diese Weise würden die politischen Roma-Parteien<br />
befähigt werden, e<strong>in</strong> höheres Niveau an Vertrauen bei den Roma<br />
zu gew<strong>in</strong>nen. Dies würde zu e<strong>in</strong>er höheren Partizipation der<br />
Jugendlichen und Gebildeten führen.<br />
• Es ist erforderlich, die Kommunikation zwischen den<br />
politischen Roma-Parteien aufrechtzuerhalten. Die Grundlage<br />
dieser Kommunikation sollten die Mehrheit der Wähler und die<br />
politischen Plattformen stellen.<br />
• Es ist erforderlich, Mechanismen für die Kommunikation<br />
zwischen den Roma-Parteien und den Kandidaten auf den Listen<br />
der Nicht<strong>roma</strong>-Parteien zu f<strong>in</strong>den.<br />
Für die Roma-NGOs und die Roma-Medien<br />
• Die Roma-NGOs sollten die Rolle von Ausbildern der Roma-<br />
Geme<strong>in</strong>schaft übernehmen, ihnen die Bedeutung der Wahlen<br />
erklären und sie ermutigen, wählen zu gehen.<br />
• Die Aktivisten der Roma-NGOs sollten an Wahlbeobachtungen<br />
und <strong>in</strong> der Wahlorganisation teilnehmen.<br />
252
Autoren<br />
253<br />
ROMA IN EUROPA<br />
Osman Balic, Rom, geboren 1957 <strong>in</strong> Nis, Jugoslawien. Er<br />
beendete 1978 se<strong>in</strong>e Ausbildung an der Universität von Nis als<br />
Ingenieur für Arbeitssicherheit. Danach arbeitete, forschte und<br />
publizierte er im Bereich Informationssysteme. Im Jahre 2001<br />
wurde er Berater des Bundesm<strong>in</strong>isters für Nationale und Ethnische<br />
Geme<strong>in</strong>schaften. Von 2000 bis 2004 war er Stellvertretender<br />
Präsident des Verwaltungsrates der Geme<strong>in</strong>de Nis. Außerdem war<br />
er Mitglied des Rates für Beschäftigung der Stadt Nis und Leiter der<br />
Partnerschaftsgruppe der Stadt für das „Employment Promotion<br />
Project“ der Weltbank und des Arbeits- und Sozialm<strong>in</strong>isteriums. Seit<br />
2005 ist er Präsident des Rates für lokale wirtschaftliche<br />
Entwicklung der Geme<strong>in</strong>de Nis Mediana und Autor des Konzeptes<br />
für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Geme<strong>in</strong>de „Mediana for<br />
EU“. - Er war zwischen 1998 und 2005 Mitglied verschiedener<br />
Boards des Open Society Funds und ist Präsident des<br />
Verwaltungsrates der Roma-NGO „YUROM centar“ sowie<br />
Vorsitzender des Expertenausschusses für Arbeit, Sozialpolitik,<br />
K<strong>in</strong>der und primäre mediz<strong>in</strong>ische Versorgung der Demokratischen<br />
Partei von Nis und Vorstandsmitglied dieser Partei. Von 1999 bis<br />
2005 war Mitglied des Präsidiums der International Romani Union<br />
und zuständig für die Organisation und das Informationssystem.<br />
Wohnort: Nis, Serbien<br />
osman@sonis.org.yu oder yuromcentar@banker<strong>in</strong>ter.net<br />
Claude Cahn, besuchte das College <strong>in</strong> Oberl<strong>in</strong>, OH, USA, das er<br />
1990 als Bachelor of Arts verließ. 1995 beendete er mit dem<br />
Masters Degree die Central European University <strong>in</strong> Budapest. Seit<br />
1996 ist er im European Roma Rights Center (ERRC) <strong>in</strong> Budapest<br />
<strong>in</strong> verschiedenen Funktionen beschäftigt, zur Zeit als Act<strong>in</strong>g<br />
Executive Director. Für die vom ERRC herausgegebene<br />
Vierteljahreszeitschrift „Roma Rights“ zeichnet er als executive<br />
editor. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Herausgeber von<br />
Publikationen, die sich mit rassistisch motivierten<br />
Benachteiligungen von Roma und mit den Rechten der Roma<br />
beschäftigen.<br />
Wohnort: Budapest, Ungarn<br />
claudecahn@compuserve.com oder ccahn@errc.org
Peter Thelen<br />
Marcel Courthiade, Rrom, geboren 1953 <strong>in</strong> Lucy, Frankreich. Er ist<br />
als Doktor der Sprachwissenschaft Leiter der Sektion für die<br />
R<strong>roma</strong>ni Sprache an dem Institut National des Langues et<br />
Civilisations Orientales (INALCO) der Universität <strong>in</strong> Paris. Es gibt<br />
von ihm zahlreiche Veröffentlichungen zur Sprache und<br />
Sprachpolitik <strong>in</strong> vielen Ländern. In 2005 erschien u. a. Politique<br />
l<strong>in</strong>guistique d’ une m<strong>in</strong>orité nationale à implantation dispersée dans<br />
nombreux états: le cas de la langue r<strong>roma</strong>ni, <strong>in</strong>: Impérialismes<br />
l<strong>in</strong>guistiques hier et aujourd’hui, INALCO/Edisud, Aix-en-provence,<br />
und wird als Publikation des Europarates ersche<strong>in</strong>en The Rroms: a<br />
new Perspective. - In der International Romani Union (IRU) ist er<br />
Kommissar für Sprache und l<strong>in</strong>guistische Rechte.<br />
Wohnort: Der Autor betrachtet sich als Europäer und Weltbürger<br />
entitetaqo kodo2mc@yahoo.fr<br />
Sevdija Demirova-Abdulova, Romni, geboren 1975 <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>,<br />
Makedonia. Sie ist Journalist<strong>in</strong> und arbeitet seit 1994 <strong>in</strong> der<br />
Nachrichtenabteilung des Makedonischen Rundfunks und<br />
Fernsehens. Außerdem dichtet sie und arbeitet als Übersetzer<strong>in</strong><br />
und Dolmetscher<strong>in</strong> zwischen der <strong>roma</strong>ni, der makedonischen und<br />
der englischen Sprache. Sie engagiert sich als Erzieher<strong>in</strong> im<br />
UNICEF-Programm im Roma Educational Center <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>, als<br />
Vorsitzende des Zentrums für kulturelle, erzieherische und geistige<br />
Aufklärung der Roma <strong>in</strong> der makedonischen Republik und als<br />
Vorstandsmitglied im Zentrum für demokratische Entwicklung und<br />
Initiativen der Roma <strong>in</strong> Makedonien.<br />
Wohnort: <strong>Skopje</strong>, Republik Makedonien<br />
sevdijana@yahoo.com<br />
Rajko Djuric, Rom, geboren 1947 <strong>in</strong> Malo Orasje <strong>in</strong> der Nähe von<br />
Belgrad. Er studierte an der Universität <strong>in</strong> Belgrad, erhielt dort das<br />
Diplom für Philosophie und promovierte zum Doktor der Soziologie.<br />
Er ist Schriftsteller und Journalist und arbeitete bis 1991 als<br />
Chefredakteur der Kulturabteilung der jugoslawischen Zeitschrift<br />
Politika. Danach musste er nach Deutschland emigrieren und lebte<br />
bis 2004 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Seitdem ist er wieder <strong>in</strong> Belgrad und arbeitet als<br />
Stellvertretender Direktor von Tanjug. – Er war Präsident der<br />
International Romani Union (IRU) und ist Generalsekretär des<br />
Romani-Zentrums des Internationalen PEN-Clubs. Für se<strong>in</strong><br />
schriftstellerisches Engagement für die Geschichte, Sprache und<br />
Kultur der Roma wurde er 2002 von Schwedischen PEN-Club mit<br />
254
255<br />
ROMA IN EUROPA<br />
dem Tucholsky-Preis geehrt. Veröffentlichungen u. a.: Die Literatur<br />
der S<strong>in</strong>ti und Roma. - Roma und S<strong>in</strong>ti im Spiegel der deutschen<br />
Literatur. - Ohne Heim – Ohne Grab.<br />
Wohnort: Belgrad, Serbien und Montenegro<br />
László Fórika, Rom, geboren 1968 <strong>in</strong> Vásárosnamény, Ungarn. Er<br />
ist Rechtsexperte im Amt des Parlamentsbeauftragten<br />
(Ombudsman) für die Rechte der Nationalen und Ethnischen<br />
M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Ungarn. In der Roma-Versitas-Stiftung ist er<br />
Kurator.<br />
Wohnort: Budapest, Ungarn<br />
forika@obh.hu<br />
Günter Grass, Schriftsteller, Grafiker und Bildhauer, wurde 1927 <strong>in</strong><br />
Danzig geboren. Er war Mitglied der „Gruppe 47“, <strong>in</strong> der er 1955<br />
se<strong>in</strong>e erste Lesung hielt. Se<strong>in</strong> erster Roman, „Die Blechtrommel“<br />
erschien 1959. Dieses Werk, das die zeitgeschichtliche Darstellung<br />
des Nationalsozialismus durch dessen Entmystifizierung<br />
veränderte, machte ihn <strong>in</strong> Deutschland berühmt und brachte ihm<br />
große <strong>in</strong>ternationale Anerkennung. Se<strong>in</strong> umfangreiches<br />
schriftstellerisches Werk ist durch die Erfahrungen mit dem<br />
Nationalsozialismus geprägt und steht im Zusammenhang mit<br />
se<strong>in</strong>em politischen Engagement, <strong>in</strong>sbesondere für Willy Brandt und<br />
die von ihm repräsentierte Sozialdemokratische Partei<br />
Deutschlands. Nach vielen Preisen und Auszeichnungen im In- und<br />
Ausland wurde ihm 1999 der Nobelpreis für Literatur für se<strong>in</strong><br />
Lebenswerk verliehen. – Weil die Roma und S<strong>in</strong>ti wie ke<strong>in</strong> anderes<br />
Volk - außer dem jüdischen – Opfer der nationalsozialistischen<br />
Verfolgung waren und weil das Unrecht gegen sie andauert,<br />
gründete er 1997 mit se<strong>in</strong>er Frau die Stiftung zugunsten des<br />
Romavolkes, deren Zweck es ist, „das Verständnis für die<br />
Eigenarten des Romavolkes zu fördern und über se<strong>in</strong>e kulturelle<br />
und soziale Lage <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart aufzuklären“. Diese<br />
Stiftung vergibt den Otto-Pankok-Preis für Selbsthilfe<strong>in</strong>itiativen<br />
sowie für hervorragende kulturelle Leistungen und für<br />
journalistische oder wissenschaftliche Analysen, die die soziale und<br />
gesellschaftliche Lage des Volkes der Roma zum Thema haben.<br />
Wohnort: Lübeck, Deutschland
Peter Thelen<br />
Jenö Kaltenbach, geboren 1947 <strong>in</strong> Ófalu, Ungarn. Ab 1970<br />
Studium an der Juristischen Fakultät der József Attila Universität <strong>in</strong><br />
Szeged. Promotion (Dr. jur.) zum im Jahre 1975 und Habilitation<br />
(Ph D) zum Thema Kommunalaufsicht im Jahre 1989. Seit 1990 ist<br />
er Leiter des Lehrstuhls für Verwaltungs- und F<strong>in</strong>anzrecht der<br />
Universität <strong>in</strong> Szeged. Von 1990 bis 1993 war er am<br />
Verfassungsgericht der Ungarischen Republik, danach bis 1995<br />
Generaldirektor des Ungarischen Verwaltungs<strong>in</strong>stituts. Als Mitglied<br />
der deutschen M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Ungarn war er 1995<br />
Gründungspräsident der Landesselbstverwaltung der<br />
Ungarndeutschen und wurde noch im gleichen Jahr<br />
Parlamentsbeauftragter (Ombudsman) für die Rechte der<br />
Nationalen und Ethnischen M<strong>in</strong>derheiten der Republik Ungarn. In<br />
diese Funktion wurde er 2001 wiedergewählt. Als<br />
Gründungsmitglied des sog. „M<strong>in</strong>derheitenrundtischs“ und der<br />
Expertenkommission nahm er an der Vorbereitung des ungarischen<br />
M<strong>in</strong>derheitengesetzes teil. Er ist seit 1996 Ständiger Vertreter<br />
Ungarns <strong>in</strong> der Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des<br />
Europarates. Von 1998 bis 2003 war Vizepräsident dieser<br />
Kommission. Seit 1997 ist er Stellvertretendes Mitglied des<br />
Verwaltungsrates der Europäischen Beobachtungsstelle gegen<br />
Rassismus. Er ist Autor e<strong>in</strong>er Reihe von Büchern und<br />
wissenschaftlichen Artikeln zum Thema Menschen- und<br />
M<strong>in</strong>derheitenrechte.<br />
Wohnort: Érd, Ungarn<br />
kaltenbach@obh.hu<br />
Andrzej Mirga, Roma, Ethnologe. Erster Romani Student an der<br />
Jagiellonen Universität <strong>in</strong> Krakau und später Mitglied des<br />
Lehrkörpers an der Fakultät für Völkerkunde der Jagiellonen<br />
Universität (1981-1992). Mitbegründer der Vere<strong>in</strong>igung der Roma <strong>in</strong><br />
Polen und ihr erster Präsident (1991-1995). Berater der polnischen<br />
Regierung und vieler <strong>in</strong>ternationaler Organisationen. Mitglied des<br />
‚Project on Ethnic Relations’ (PER), Pr<strong>in</strong>ceton, der <strong>in</strong> den USA<br />
angesiedelten NGO, und Vorsitz im Beirat für Romafragen. Er<br />
berichtet 1994 mit drei weiteren Roma-Mitgliedern von PERRAC vor<br />
dem US-Kongress über die Situation der Roma <strong>in</strong> Mittel- und<br />
Ost<strong>europa</strong>. 1999 Vortrag vor dem US-Kongress über die Roma aus<br />
dem Kosovo und weitere Vorträge vor dem Kongress. Mitglied der<br />
Fachgruppe Roma, Zigeuner und fahrendes Volk im Rahmen des<br />
Europarats (1995 gegründet); zweiter Vorsitzender und seit 2003<br />
erster Vorsitzender. 1996 wohnte er der Untersuchungskommission<br />
des Europarats bei, die sich mit der Situation der Roma <strong>in</strong> Bosnien<br />
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ROMA IN EUROPA<br />
und Herzegow<strong>in</strong>a beschäftigte. Als Mitarbeiter der Organisation<br />
erstellte er mehrere Berichte. Se<strong>in</strong> Aufsatz über ‘Human Right<br />
Problems Faced by Roma/Gypsies <strong>in</strong> Europe' wurde Grundlage<br />
e<strong>in</strong>es Memorandums, das von der M<strong>in</strong>isterkonferenz angenommen<br />
wurde; e<strong>in</strong> weiterer Aufsatz mit dem Titel ‘Strategic Elements of<br />
Education Policy For Roma Children <strong>in</strong> Europe’ wurde ebenfalls als<br />
Memorandum von der M<strong>in</strong>isterkonferenz angenommen. Beide<br />
bildeten die Grundlage für Empfehlungen, die später vom<br />
Europaausschuss aufgegriffen wurden. Mitarbeit an der Kosciuszko<br />
Foundation der Rutges University, New Brunswick, USA (1999-<br />
2001). Derzeit Lehrstuhl an der Pädagogischen Akademie <strong>in</strong><br />
Krakau. Zu se<strong>in</strong>en Veröffentlichungen gehören Odmiennosc i<br />
nietolerancja. Przypadek Cyganow (Difference and Intolerance. The<br />
Case of Gypsies, mit L. Mroz, 1994), The Roma <strong>in</strong> Twenty-First<br />
Century: A Policy Paper (mit N. Gheorghe, 1997), Romowie -<br />
proces ksztaltowania sie podmiotowosci politycznej" (The Roma -<br />
formation of political subjectivity, hrsg. Piotr Madajczyk, 1998).<br />
Autor zahlreicher Artikel <strong>in</strong> polnischer und englischer Sprache und<br />
mehrerer PER-Berichte; Roma and the Law: Demythologiz<strong>in</strong>g the<br />
Gypsy Crim<strong>in</strong>ality Stereotype, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2000; Roma<br />
and the Statistics, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2000; Leadership,<br />
Representation and the Status of the Roma, PER Bericht,<br />
Pr<strong>in</strong>ceton, 2001; Roma and the Question of Self-Determ<strong>in</strong>ation:<br />
Fiction and Reality, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2002.<br />
Place of Residence: Cracow, Poland<br />
usmirga@cyf-kr.edu.pl<br />
Peter Thelen, geboren 1942 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. 1968 Abschluss des<br />
Studiums an der Universität zu Köln als Diplom-Volkswirt und<br />
Beg<strong>in</strong>n der Arbeit im Forschungs<strong>in</strong>stitut der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />
Ab 1973 <strong>in</strong> verschiedenen Funktionen <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen Arbeit<br />
der Stiftung <strong>in</strong> Bonn tätig sowie als Leiter der Büros <strong>in</strong> Brüssel<br />
(1973 - 78), <strong>in</strong> Budapest (1990 - 2003) und <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> (2003 - 05).<br />
1994 beg<strong>in</strong>nt er die Arbeit mit Roma im Rahmen e<strong>in</strong>es immer noch<br />
laufenden Ausbildungsprojektes für Mitglieder der lokalen Roma-<br />
Selbstverwaltungen im Komitat Tolna <strong>in</strong> Südungarn. E<strong>in</strong> ähnliches<br />
Programm, <strong>in</strong> dem die Inhalte der Ausbildung von den<br />
teilnehmenden Roma bestimmt werden, startet er 2004 für junge<br />
Roma <strong>in</strong> Makedonien.<br />
Wohnort: Bonn, Deutschland, und Budapest, Ungarn<br />
p.thelen@gmx.net