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roma in europa - FRIEDRICH EBERT STIFTUNG Office in Skopje

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ROMA IN EUROPA<br />

Vom Objekt der Ausgrenzung<br />

zum Subjekt politischen Handelns<br />

Herausgegeben von<br />

Peter Thelen<br />

Friedrich Ebert Stiftung<br />

<strong>Skopje</strong><br />

2005


Herausgeber<br />

Friedrich Ebert Stiftung, <strong>Skopje</strong><br />

Bul. Sveti Kliment Ohridski 21/1<br />

http://www.fes.org.mk<br />

Redaktion<br />

Peter Thelen<br />

Cover design und pre-press<br />

Promo DSGN, <strong>Skopje</strong><br />

Auflage<br />

500<br />

Das Copyright liegt bei der Friedrich Ebert Stiftung, sofern im<br />

E<strong>in</strong>zelbeitrag nichts anderes vermerkt ist<br />

CIP – Каталогизација во публикација<br />

Народна и универзитетска библиотека “Св. Климент Охридски“,<br />

Скопје<br />

304.4(=214.58:4)(035)<br />

316.722-027.542(=214.58)(4)(035)<br />

ROMA <strong>in</strong> Europa : Vom Objekt der Ausgrenzung zum Subjekt<br />

politischen Handelns / Herausgeber: Peter Thelen. – <strong>Skopje</strong> :<br />

Friedrich Ebert Stiftung, 2005. – 258 стр. : 22,4 cm<br />

ISBN 9989-109-24-9<br />

1. Thelen, Peter<br />

а) Роми во Европа – Општествено-политичка положба – Македонија –<br />

Прирачници б) Роми – Културен идентитет – Европа – Прирачници<br />

COBISS.MK – ID 62912778<br />

2


Inhalt<br />

Vorwort<br />

Peter Thelen Der lange Weg zur politischen<br />

Partizipation<br />

Günter Grass Ohne Stimme<br />

Rajko Djuric Die Standardsprache der R<strong>roma</strong> –<br />

Bed<strong>in</strong>gung und Grundlage der<br />

nationalen und kulturellen Identität<br />

der R<strong>roma</strong><br />

Marcel Courthiade Wer hat Angst vor der Sprache der<br />

R<strong>roma</strong><br />

Andrzej Mirga Roma und der Beitritt zur EU:<br />

Gewählte und ernannte<br />

Vertreter der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

erweiterten Europa<br />

Claude Cahn Die Rechte der Roma und die<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />

Jenö Kaltennbach,<br />

László Fórika<br />

Sevdija Demirova-<br />

Abdulova<br />

Das ungarische<br />

Partizipationsmodell und se<strong>in</strong>e<br />

Umsetzung bei den Roma<br />

Die Selbstverwaltung der Roma <strong>in</strong><br />

Shuto Orizari<br />

Osman Balic Schwierigkeiten beim Aufbau e<strong>in</strong>er<br />

starken politischen Romapartei <strong>in</strong><br />

Serbien und Montenegro<br />

5<br />

9<br />

81<br />

85<br />

99<br />

131<br />

171<br />

193<br />

223<br />

243<br />

Autoren 253<br />

3


Vorwort<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Dieses Buch beschäftigt sich mit e<strong>in</strong>er neuen Politik und wird mit<br />

der Absicht vorgelegt, mehr Verständnis für das Recht der Roma,<br />

an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen sowie an der<br />

Realisierung der auf diesen Entscheidungen beruhenden<br />

Programmen und deren Kontrolle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em stärkeren Maße als <strong>in</strong><br />

der Vergangenheit teilzunehmen. Es geht also darum, e<strong>in</strong>e Roma-<br />

Politik, worunter hier e<strong>in</strong>e Politik verstanden wird, die mit Roma, die<br />

von Roma legitimiert s<strong>in</strong>d, für Roma formuliert und durchgeführt<br />

wird, im Bewusstse<strong>in</strong> der politisch Handelnden und derer, die sie<br />

vertreten zu verankern. Es richtet sich sowohl an Nicht-Roma,<br />

deren Wissen über die Roma meistens sehr ger<strong>in</strong>g und durch<br />

Vorurteile getrübt ist, sowie an Roma, die trotz der harten<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen, die die meisten von ihnen zu bewältigen<br />

haben, die Kraft f<strong>in</strong>den, sich für die Interessen ihrer Gruppe auf<br />

lokaler, regionaler, staatlicher oder europäischer Ebene<br />

e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

Die Roma s<strong>in</strong>d seit Jahrhunderten, d.h. seit ihrer Ankunft <strong>in</strong> Europa,<br />

Gegenstand politischer Entscheidungen gewesen, die sich <strong>in</strong> der<br />

Regel gegen sie gerichtet haben. Die politischen<br />

Entscheidungsträger fanden sich bei ihrer „Zigeunerpolitik“ nicht im<br />

Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit, <strong>in</strong> der aus Vorurteilen<br />

gespeiste Ängste herrschten. Die überall und zu allen Zeiten <strong>in</strong><br />

unterschiedlicher Intensität auftretende Verfolgung der Roma fand<br />

mit dem nationalsozialistischen Völkermord, dem Hunderttausende<br />

S<strong>in</strong>ti und Roma zum Opfer fielen, ihren traurigen Höhepunkt.<br />

Trotz dieses geschichtlichen H<strong>in</strong>tergrundes verschwanden die<br />

Roma bei Fortdauer ihrer Benachteiligung für Jahrzehnte<br />

weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstse<strong>in</strong> und dem politischen<br />

Interesse. Erst mit dem Prozess der Überw<strong>in</strong>dung der Teilung<br />

Europas rückten die Roma mehr <strong>in</strong> das Blickfeld der politischen<br />

Aufmerksamkeit. Das Zusammenwachsen Europas und das<br />

gestiegene Interesse der europäischen Politik an den Roma bietet<br />

erstmals die Möglichkeit, den Circulus vitiosus aus Vorurteilen und<br />

sozialer Ausgrenzung zu überw<strong>in</strong>den. Viele Roma sehen <strong>in</strong> dieser<br />

Entwicklung die Chance, die Diskussion über die Roma zu<br />

politisieren und Partizipation e<strong>in</strong>zufordern. Im ersten Beitrag dieses<br />

Buches versucht der Herausgeber, diese Diskussion, ihre<br />

H<strong>in</strong>tergründe und die von ihr ausgehenden Impulse zu erfassen und<br />

dem <strong>in</strong>teressierten Publikum verständlich zu machen. – Der<br />

Literaturnobelpreisträger Günter Grass war wohl der erste<br />

5


Peter Thelen<br />

prom<strong>in</strong>ente Nicht-Roma, der sich öffentlich für die Partizipation der<br />

Roma auf europäischer Ebene e<strong>in</strong>setzte. Der entsprechende<br />

Auszug aus se<strong>in</strong>er Straßburger Rede wird hier dokumentiert.<br />

Zum H<strong>in</strong>tergrund der Diskussion über die politische Partizipation<br />

der Roma gehört auch die Erörterung der Frage, als was die Roma<br />

angesehen werden und wie sie sich selbst sehen. Dabei wird die<br />

Frage der Identität als geme<strong>in</strong>schaftsbildender Faktor berührt. Bei<br />

ethnischen M<strong>in</strong>derheiten oder Nationen ist die geme<strong>in</strong>same<br />

Sprache nicht nur e<strong>in</strong> Mittel der Kommunikation sondern auch der<br />

Identitätsf<strong>in</strong>dung. Die Sprache der Roma, die e<strong>in</strong> Jahrtausend der<br />

Migration überstanden hat, ist e<strong>in</strong> gefährdetes, aber<br />

schützenswertes kulturelles Erbe Europas. Mit den politischen und<br />

l<strong>in</strong>guistischen Aspekten des Gebrauchs der Roma-Sprache<br />

beschäftigen sich Rajko Djuric und Marcel Courthiade <strong>in</strong> ihren<br />

Beiträgen.<br />

Andrzej Mirga, der selbst e<strong>in</strong>er der Initiatoren der Diskussion um die<br />

politische Partizipation der Roma war und der bis heute den<br />

Entstehungsprozess e<strong>in</strong>er Roma-Politik im oben genannten S<strong>in</strong>ne<br />

aktiv begleitet und gestaltet, beschreibt e<strong>in</strong>e sehr <strong>in</strong>formative<br />

Diskussion zwischen Vertretern der Roma und Vertretern des<br />

Europäischen Parlamentes und der Europäischen Kommission.<br />

Damit macht er auch e<strong>in</strong>e Momentaufnahme der durch die EU-<br />

Politik notwendig gewordenen Partizipation der Roma <strong>in</strong><br />

verschiedenen EU-Beitrittsländern.<br />

Der wesentliche Grund für die unhaltbare Situation, <strong>in</strong> der sich die<br />

Mehrheit der Roma bef<strong>in</strong>det, ist der Antiziganismus, der immer<br />

wieder zur Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma führt. Claude Cahn,<br />

beschäftigt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag mit der aktuellen Lage und mit<br />

der gegen die Diskrim<strong>in</strong>ierung gerichteten Gesetzgebung.<br />

E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressantes – wenn auch <strong>in</strong> Teilen kritikwürdiges –<br />

Partizipationsmodell für M<strong>in</strong>derheiten hat Ungarn zu Anfang der<br />

90er Jahre e<strong>in</strong>geführt. Jenö Kaltenbach war an der Formulierung<br />

dieses Modells beteiligt und begleitet se<strong>in</strong>e Implementierung als<br />

Ombudsman bis heute. Mit László Fórika beschreibt er die Wirkung<br />

des ungarischen M<strong>in</strong>derheitengesetzes auf die Roma. E<strong>in</strong> weiteres<br />

Beispiel für die Übernahme politischer Verantwortung durch die<br />

Roma, das wohl das wichtigste auf kommunaler Ebene ist, ist die<br />

makedonische Geme<strong>in</strong>de Shuto Orizari, die von Sevdija Demirova-<br />

Abdulova beschrieben wird. Osman Balic geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag<br />

auf die Schwierigkeiten e<strong>in</strong>, die Partizipation der Roma durch<br />

Roma-Parteien <strong>in</strong> Serbien und Montenegro effektiver zu machen.<br />

6


ROMA IN EUROPA<br />

Der Autor hat sich bemüht, <strong>in</strong> diesem Band zwar nicht<br />

ausschließlich aber mehrheitlich Roma zu Wort kommen zu lassen.<br />

E<strong>in</strong>ige verwenden dabei wohlbegründet die Schreibweise Rrom.<br />

Andere bleiben bei Rom.<br />

Peter Thelen<br />

Budapest, Nov. 2005<br />

7


Peter Thelen<br />

Der lange Weg zur politischen Partizipation<br />

1. Roma <strong>in</strong> Europa<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Am 1. Mai 2004 vergrößerte sich die Europäische Union um 1o<br />

neue Mitglieder. Die Gesamte<strong>in</strong>wohnerzahl des "Europa der 25"<br />

stieg durch die größte Erweiterung um 74 Mill. auf <strong>in</strong>sgesamt 453<br />

Mill.. Weitere Länder streben <strong>in</strong> die EU und werden voraussichtlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em überschaubaren Zeitraum ebenfalls Mitglieder se<strong>in</strong>. Die<br />

vor fast 60 Jahren <strong>in</strong> Jalta beschlossene Teilung Europas ist damit<br />

überwunden.<br />

Die Ause<strong>in</strong>andersetzungen um e<strong>in</strong>e Verfassung für die erweiterte<br />

Union zeigten, dass es schwierig ist, funktionierende Mechanismen<br />

der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung für diese große Geme<strong>in</strong>schaft zu<br />

schaffen. Es geht schließlich um die Gewichtung der Macht der<br />

Mitglieder, und Mitglieder s<strong>in</strong>d Staaten.<br />

Die Größe oder Bedeutung e<strong>in</strong>es Staates kann anhand<br />

unterschiedlicher Maßstäbe (z. B. Fläche, BIP) gemessen werden.<br />

E<strong>in</strong> nahe liegendes Kriterium ist sicher die E<strong>in</strong>wohnerzahl, die auch<br />

<strong>in</strong> der Debatte um die Gewichtung der Stimmen <strong>in</strong> den<br />

Entscheidungsorganen der EU von zentraler Bedeutung ist. Die<br />

Größenunterschiede der Mitgliedsstaaten s<strong>in</strong>d danach beträchtlich.<br />

Während Deutschland 82 Mill. E<strong>in</strong>wohner hat, liegen drei Staaten<br />

unter 1 Mill. ( Zypern 0,8 Mill., Luxemburg und Malta je 0,4 Mill.).<br />

Weniger als 3 Mill. E<strong>in</strong>wohner haben Estland, Litauen und<br />

Slowenien. Die E<strong>in</strong>wohnerzahl von 11 der 25 Mitgliedsstaaten ist<br />

niedriger als 6 Mill..<br />

Mit der Vollendung des jüngsten Erweiterungsprozesses kam auch<br />

e<strong>in</strong> großer Teil e<strong>in</strong>es Volkes 1 <strong>in</strong> die EU, das ke<strong>in</strong>en eigenen Staat<br />

1 Hier und im Folgendem wird "Volk" <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unspezifizierten S<strong>in</strong>n gebraucht, um<br />

den Term<strong>in</strong>us "Geme<strong>in</strong>schaft" und die damit verbundene Diskussion um<br />

geme<strong>in</strong>schaftsbildende Faktoren, die es seit F. Tönnies – also seit dem Ende des 19.<br />

Jahrhunderts – <strong>in</strong> der deutschen Literatur gab, zu vermeiden. Dem hiesigen Gebrauch<br />

dürfte am ehesten das englische "people" entsprechen. Der Term<strong>in</strong>us "Volk" wird<br />

auch von Roma-Vertretern gebraucht. Vgl. u.a, Djuric, R., Ohne Heim – ohne Grab.<br />

Die Geschichte der Roma und S<strong>in</strong>ti, Berl<strong>in</strong> 2002, S. 17f<br />

9


Peter Thelen<br />

hat. Mit der jüngsten Erweiterung verdoppelte sich die Zahl der<br />

Roma <strong>in</strong> der Union auf m<strong>in</strong>destens 3 Mill. Bürger. Die<br />

Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Lage der<br />

Roma <strong>in</strong> der Europäischen Union vom 28 4. 2005 spricht von 7 bis<br />

9 Millionen Roma, die <strong>in</strong> der EU leben. In den Ländern, die sich mit<br />

Aussicht auf Erfolg um die EU-Mitgliedschaft bemühen, gibt es<br />

ebenfalls erhebliche Teile der Bevölkerung, die Roma s<strong>in</strong>d. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

Rumänien wird die Zahl auf 1,5 bis 3 Mill. geschätzt. Die nächste<br />

Erweiterungsrunde dürfte also nochmals e<strong>in</strong>e erhebliche<br />

Vergrößerung der Anzahl der Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> der EU br<strong>in</strong>gen.<br />

In den Ländern Südost<strong>europa</strong>s, für die die EU besondere<br />

Verantwortung übernommen hat und die ebenfalls <strong>in</strong> die EU<br />

streben, gibt es ebenfalls große Bevölkerungsteile, die Roma s<strong>in</strong>d.<br />

In den Staaten der Balkanhalb<strong>in</strong>sel wird deren Zahl auf ca.1 Million<br />

geschätzt.<br />

Die Anzahl der Roma <strong>in</strong> der erweiterten EU ist also schon jetzt<br />

größer als die E<strong>in</strong>wohnerzahl e<strong>in</strong>er Reihe von Mitgliedsstaaten.<br />

Geht man von der vorsichtigen Schätzung von 3 Millionen Roma <strong>in</strong><br />

der EU aus, trifft dies schon jetzt für 6 Staaten zu. Nach der<br />

nächsten Erweiterungsrunde gilt dies <strong>in</strong> jedem Fall für mehr als e<strong>in</strong><br />

Drittel der Staaten, die dann voraussichtlich EU-Mitglieder s<strong>in</strong>d.<br />

Dazu kommt e<strong>in</strong> bisher äußerst starkes Wachstum der Roma-<br />

Bevölkerung. Von e<strong>in</strong>igen Autoren wird geschätzt, dass die Zahl der<br />

Roma <strong>in</strong> Europa seit dem 2. Weltkrieg auf das Fünffache gestiegen<br />

ist. Hier muss allerd<strong>in</strong>gs auf die statistische Unsicherheit sowohl der<br />

Ausgangsdaten aus Volkszählungen als auch der aktuellen<br />

Schätzungen verwiesen werden. Trotzdem kann davon<br />

ausgegangen werden, dass die Geburtenrate der Roma erheblich<br />

höher ist als die der Mehrheitsbevölkerung. Untersuchungen <strong>in</strong><br />

Bulgarien, Tschechien, der Slowakei und <strong>in</strong> Ungarn haben gezeigt,<br />

dass die Zahl der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Roma-Familien zwei- bis dreimal höher<br />

ist als im Landesdurchschnitt. Dabei liegt die K<strong>in</strong>derzahl der Roma<br />

noch über der der armen Familien der Mehrheitsbevölkerung. Diese<br />

Daten weisen e<strong>in</strong>erseits auf die Korrelation von Geburtenraten mit<br />

der sozialen Lage und andererseits auf die besonders schlechte<br />

soziale Situation der Roma h<strong>in</strong>. Mit e<strong>in</strong>er Verbesserung der<br />

Situation der Roma dürfte sich auch die Geburtenrate der der<br />

Mehrheitsbevölkerung annähern.<br />

Der weitaus größte Teil der Roma-Bevölkerung ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

jeweiligen Heimatland besonders benachteiligt, leidet unter<br />

Vorurteilen und Diskrim<strong>in</strong>ierung und wird ausgegrenzt. Diese<br />

Benachteiligung existiert nicht nur <strong>in</strong> den neuen Mitgliedstaaten und<br />

10


ROMA IN EUROPA<br />

<strong>in</strong> den beitrittswilligen Staaten sondern auch <strong>in</strong> den alten EU-<br />

Ländern. Roma haben also im Gegensatz zu anderen nationalen<br />

M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>en doppelten M<strong>in</strong>derheitenstatus: Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

ethnische Gruppe und bilden gleichzeitig die am meisten<br />

benachteiligte Schicht <strong>in</strong> Europa.<br />

Alle<strong>in</strong> schon die Quantität und ihre Dynamik sowie die besonderen<br />

Probleme dieses europäischen Bevölkerungsteils führt zu der<br />

Frage, wie die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten auf die<br />

neue Situation reagieren und was die Roma wollen und selbst tun<br />

können. E<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft, die sich demokratisch def<strong>in</strong>iert, kann<br />

e<strong>in</strong>e Ausgrenzung e<strong>in</strong>es großen Teils ihrer Bürger auf Dauer nicht<br />

dulden. E<strong>in</strong>e große ausgegrenzte Bevölkerung wird ihrerseits auf<br />

Dauer nicht passiv bleiben und versuchen, wenn ke<strong>in</strong> anderer Weg<br />

gesehen wird, ihre Interessen auch außerhalb der etablierten<br />

politischen Prozesse durchzusetzen. "The social unrests <strong>in</strong> the<br />

Romani 'mahala' (neighbourhood) of Plovdiv, Bulgaria <strong>in</strong> 2002 and<br />

the riots <strong>in</strong> eastern Slovakia <strong>in</strong> February 2004 are warn<strong>in</strong>gs of the<br />

consequences of <strong>in</strong>decision and <strong>in</strong>action." 2<br />

Die Frage ist also, welche Rolle dieser Bevölkerungsteil, der für das<br />

europäische Verständnis von Demokratie und sozialem Ausgleich<br />

von hoher Relevanz ist, <strong>in</strong> der EU, <strong>in</strong> anderen europäischen<br />

Organisationen und <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten spielen soll und kann.<br />

Mit dem letzten Erweiterungsprozess der EU ist die Bedeutung der<br />

Roma für Europa <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der Politik gerückt. Ihre Lage <strong>in</strong><br />

den Beitrittsländern war e<strong>in</strong> Thema <strong>in</strong> den jährlichen<br />

länderbezogenen Fortschrittsberichten der Kommission. Dar<strong>in</strong><br />

wurde von den Regierungen der Beitrittsländer e<strong>in</strong>e aktive Politik<br />

zur Verbesserung der Lage dieser M<strong>in</strong>derheit gefordert. Seit dem<br />

Jahr 2000 hat die EU e<strong>in</strong> eigenes Programm zur Förderung der<br />

Roma aufgelegt. Bei diesen auf e<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage dieser<br />

M<strong>in</strong>derheit zielenden Maßnahmen s<strong>in</strong>d die Roma Objekt der Politik.<br />

Die Frage ist, ob e<strong>in</strong>e Romapolitik, die diesen Namen verdient, nicht<br />

e<strong>in</strong>schließt, dass die Roma an den sie betreffenden<br />

Entscheidungsprozessen aktiv beteiligt s<strong>in</strong>d, dass sie von Objekten<br />

zu Subjekten dieser Politik werden und wie dies geschehen kann.<br />

Daraus ergeben sich andere Fragen, vor allem die zentrale Frage,<br />

wer diejenigen Roma s<strong>in</strong>d oder se<strong>in</strong> sollen, die im Namen der<br />

Roma sprechen. Es geht dabei nicht zuletzt um die demokratische<br />

2 Plaks, L., Mirga, A., <strong>in</strong>: Project on Ethnic Relations, Roma and EU Accession:<br />

Elected and appo<strong>in</strong>ted Romani representatives <strong>in</strong> an enlarged Europe, Pr<strong>in</strong>ceton,<br />

New Jersey, 2004, S. 2<br />

11


Peter Thelen<br />

Legitimation. Um diese Frage zu beantworten, soll zuerst darauf<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden, was die Roma s<strong>in</strong>d, wie sie von anderen<br />

gesehen werden und als was sie sich selbst betrachten.<br />

2. Europäer seit 6 Jahrhunderten<br />

In allen europäischen Staaten leben Roma. Häufig werden sie mit<br />

anderen Namen bezeichnet oder nennen sich selbst anders. Zu den<br />

Autonymen, also den Namen, die sie sich selbst geben, gehören<br />

- S<strong>in</strong>ti, die vor allem <strong>in</strong> Deutschland, Österreich, Norditalien,<br />

Slowenien und Ostfrankreich leben,<br />

- Manusch, die <strong>in</strong> Frankreich s<strong>in</strong>d,<br />

- Kale aus Spanien und<br />

- Romanichals <strong>in</strong> Großbritannien.<br />

Daneben gibt es e<strong>in</strong>e große Zahl von Namen für Untergruppen, die<br />

sich häufig aus Bezeichnungen für Berufsgruppen oder Länder, <strong>in</strong><br />

denen sich die Gruppe früher wirklich oder verme<strong>in</strong>tlich aufgehalten<br />

hat, herleiten lassen. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d die Kalderas<br />

(Kesselmacher) und die Lovara (Pferdehändler), die wiederum zu<br />

den Vlach-Roma (Regionym, das auf die Herkunft aus der Walachei<br />

h<strong>in</strong>deutet) gerechnet werden können. 3<br />

Die bekanntesten Fremdbezeichnungen s<strong>in</strong>d Zigeuner, Tsigane,<br />

Z<strong>in</strong>gari, Cigany sowie Gypsy und Gitano, wobei die beiden letzten<br />

Bezeichnungen auf die fälschlicherweise vermutete Herkunft aus<br />

Ägypten h<strong>in</strong>weisen. Im Gegensatz zu diesen Exonymen ist Roma 4<br />

e<strong>in</strong> Autonym für e<strong>in</strong>e große Gruppe, die vor allem <strong>in</strong> Mittel<strong>europa</strong><br />

lebt. Dieser Name wird aber auch als Oberbegriff für alle<br />

Untergruppen gebraucht und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Wissenschaft und<br />

Politik sowie auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene verwendet. 5<br />

3<br />

An dieser Stelle werden nur e<strong>in</strong>ige Namen angeführt. Die Zahl der Eigen- und<br />

Fremdbezeichnungen ist erheblich größer. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu<br />

erheben, führt Hübschmannova <strong>in</strong> ihrem Glossar 51 Namen auf. Vgl.<br />

Hübschmannova, M., Rombase, <strong>in</strong>: www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />

4<br />

Roma ist der Plural von Rom (Mensch, Ehegatte). Die weibliche Form ist Romni.<br />

Romani ist das Adjektiv.<br />

5<br />

So wird auch hier verfahren, zumal die umfassenden Exonyme – vor allem der<br />

Name Zigeuner – von den meisten Roma als diskrim<strong>in</strong>ierend empfunden wird.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs werden hier die Term<strong>in</strong>i Zigeuner und Gypsies dann verwendet, wenn sie<br />

Bestandteil von Zitaten s<strong>in</strong>d, im Zusammenhang mit zitierter Literatur stehen, im<br />

historischen Zusammenhang zu sehen s<strong>in</strong>d oder damit auf antiziganistische Inhalte<br />

verwiesen werden soll (z. B. „Zigeunerpolitik“).<br />

12


ROMA IN EUROPA<br />

Der Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung <strong>in</strong> den Ländern der<br />

alten EU lag zwischen 0,1 und 2 %. In den meisten Ländern<br />

Mittel<strong>europa</strong>s, die am 1. Mai 2004 beigetreten s<strong>in</strong>d, und <strong>in</strong> den<br />

anderen, die - wie Rumänien, Bulgarien und die noch nicht<br />

beigetretenen Länder der Balkanhalb<strong>in</strong>sel - <strong>in</strong> der Zukunft mit dem<br />

Beitritt rechnen können, liegt der Anteil – wie oben ausgeführt -<br />

wesentlich höher.<br />

Überprüfbare Angaben zur Gesamtzahl der Roma oder zu ihrem<br />

Anteil an der Gesamtbevölkerung gibt es nicht. Die offiziellen<br />

Zahlen, häufig aus Volkszählungen oder –befragungen gewonnen,<br />

weichen stark von Schätzungen von Experten und Nicht-<br />

Regierungsorganisationen ab. Dafür gibt es Gründe: Die seit<br />

mehreren Jahrhunderten gemachten Erfahrungen der<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung und Verfolgung – auch und besonders durch die<br />

Staatsmacht – lässt es opportun ersche<strong>in</strong>en, sich <strong>in</strong> offiziellen<br />

Zählungen nicht zu dieser M<strong>in</strong>derheit zu bekennen. Die Ergebnisse<br />

von Volkszählungen hängen stark von negativen Vorurteilen der<br />

Mehrheitsgesellschaft gegenüber dieser M<strong>in</strong>derheit und von der<br />

daraus resultierenden Furcht der Befragten, Nachteile zu erleiden,<br />

ab. Die Ergebnisse von aufe<strong>in</strong>ander folgenden Zählungen können<br />

daher auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausmaß von e<strong>in</strong>ander abweichen, das durch<br />

die demografische Entwicklung nicht zu erklären ist.<br />

Besonders unrealistisch waren die offiziellen Angaben <strong>in</strong> der<br />

kommunistischen Zeit über die M<strong>in</strong>derheiten und hier <strong>in</strong>sbesondere<br />

über die Roma, deren Zahl heute auf das bis zu Zehnfache der<br />

damals angegebenen Zahlen geschätzt wird. Aber auch nach dem<br />

Systemwechsel geben die Volkszählungsergebnisse ke<strong>in</strong><br />

realistisches Bild. So gaben <strong>in</strong> der Slowakischen Republik im Jahre<br />

2001 nur 89.000 Bürger an, Roma zu se<strong>in</strong>. Die meisten<br />

Schätzungen gehen dagegen von 480.000 bis 520.000 Roma <strong>in</strong><br />

diesem Land aus. DieVolkszählung, die im gleichen Jahr <strong>in</strong> der<br />

Tschechischen Republik durchgeführt wurde, weist nur ca. 12.000<br />

Roma aus, während Schätzungen e<strong>in</strong>en Anteil von 2 bis 3 % an der<br />

Gesamtbevölkerung, also bis zu 300.000 Roma, angeben. Aber<br />

auch derartige Schätzungen können ke<strong>in</strong>en Anspruch auf<br />

Objektivität deklarieren, da die ethnische Zuordnung durch Dritte<br />

stets auch von deren Interessen und eigenen Vorurteilen<br />

bee<strong>in</strong>flusst wird. 6<br />

6 Zur Problematik der Bestimmung der Zahl der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Bevölkerungsgesamtheit siehe Ladanyi, J., Szelenyi, I., Die "gesellschaftliche<br />

Konstruktion" der Roma-Ethnizität <strong>in</strong> Bulgarien, Ungarn und Rumänien <strong>in</strong> der Periode<br />

des Übergangs zur Marktwirtschaft, <strong>in</strong>: Zeitgeschichte, 30. Jg., S. 64ff, bzw. Ladany,<br />

13


Peter Thelen<br />

Festzustellen bleibt, dass <strong>in</strong> den meisten Ländern die<br />

Expertenschätzungen und die Angaben von Roma-Organisationen<br />

für die Zahl der Roma erheblich über den Ergebnissen der<br />

Volkszählungen liegen und manchmal e<strong>in</strong> Vielfaches davon<br />

ausmachen. Andererseits bestehen zwischen den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Schätzungen selbst wieder deutliche Unterschiede. In jedem Fall<br />

liegen die Schätzungen aber deutlich über den Ergebnissen aus<br />

Selbstidentifikationen. Es kann daher die These aufgestellt werden,<br />

dass sich bei e<strong>in</strong>er Verm<strong>in</strong>derung der rechtlichen und faktischen<br />

Diskrim<strong>in</strong>ation der Roma die Ergebnisse von Volkszählungen <strong>in</strong> die<br />

Richtung der Schätzungen bewegen werden. Die gleiche Wirkung<br />

dürfte auf Dauer die im Folgenden beschriebenen Bemühungen zur<br />

Steigerung des Selbst- und Geme<strong>in</strong>schaftsbewusstse<strong>in</strong>s der Roma<br />

haben.<br />

In jedem e<strong>in</strong>zelnen Land s<strong>in</strong>d die Roma trotz ihrer großen Zahl e<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>derheit. Ihre Situation unterscheidet sich von den meisten der<br />

anderen nationalen M<strong>in</strong>derheiten vor allem durch drei Umstände:<br />

Sie gibt es <strong>in</strong> allen europäischen Staaten. Sie s<strong>in</strong>d überall die am<br />

meisten benachteiligte Gruppe und sie haben ke<strong>in</strong> eigenes<br />

Territorium oder e<strong>in</strong>en Heimatstaat, der ihre Interessen vertritt.<br />

Trotz der Größe dieses Volkes wissen die meisten Europäer nur<br />

sehr wenig über diese Mitbürger. Dies liegt sicher auch an der<br />

Außenseiterrolle, die die Roma <strong>in</strong> der Geschichte zu spielen hatten<br />

und die sie <strong>in</strong> der Gegenwart immer noch spielen. Die Situation, <strong>in</strong><br />

der sich die meisten Roma heute bef<strong>in</strong>den, ist ohne e<strong>in</strong>ige<br />

Kenntnisse der Geschichte kaum zu verstehen. Deshalb und wegen<br />

der weiteren Argumentation sollen hier e<strong>in</strong>ige historische Fakten<br />

und Theorien festgehalten werden.<br />

Da die Roma ke<strong>in</strong>e eigene schriftliche Überlieferung haben, lag ihre<br />

Geschichte und Herkunft lange im Dunkeln.<br />

Sprachwissenschaftliche Analysen lieferten gegen Ende des 18.<br />

Jahrhunderts den Beweis, dass das Romanes, die Sprache der<br />

Roma, mit dem Sanskrit, wie es im Nordwesten Indiens gesprochen<br />

wurde, verwandt ist. Die Zugehörigkeit der Roma zu den<br />

<strong>in</strong>doeuropäischen Völkern kann zwar nach der l<strong>in</strong>guistischen<br />

J., Szelenyi, I., The social construction of Roma ethnicity …, <strong>in</strong>: Review of Sociology,<br />

Vol. 7, 2001, S. 79ff - Babusik, F., Legitimacy, Statistics and Research Methodology<br />

– Who Is Romani <strong>in</strong> Hungary Today and What Are We (Not) Allowed to Know About<br />

Roma, <strong>in</strong>: Roma Rights, 2004, Nr. 2<br />

14


ROMA IN EUROPA<br />

Beweisführung als gesichert gelten, die Frage aber, wann und<br />

warum sie ihre Heimat verlassen haben, ist bis heute nicht mit<br />

Sicherheit zu beantworten. Es gibt dazu <strong>in</strong> der Literatur e<strong>in</strong>e große<br />

Variationsbreite. Sie reicht<br />

- vom 4. Jahrhundert v. Chr., als Alexander der Große mit<br />

se<strong>in</strong>er Armee bis Nord<strong>in</strong>dien kam,<br />

- über das 5. Jahrhundert n. Chr., als Bahram Gur, der<br />

damalige Schah von Persien, 12. 000 Musikanten, Tänzer<br />

und Akrobaten aus Indien anwarb,<br />

- über die Zeit der Eroberungszüge von Mahmud von Ghazni<br />

zu Beg<strong>in</strong>n des 11. Jahrhunderts<br />

- bis zu den Feldzügen Dsch<strong>in</strong>gis Kahns im 13. Jahrhundert.<br />

Die datierbaren Veränderungen des Sanskrit deuten aber darauf<br />

h<strong>in</strong>, dass sich das Romanes zwischen dem 9. und dem 14.<br />

Jahrhundert von ihm getrennt haben muss. In dieser Zeit dürften die<br />

Roma ihre Heimat verlassen haben. Vermutlich gab es mehrere<br />

Auswanderungswellen über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum, wobei die<br />

Gründe sowohl <strong>in</strong> militärischen Überfällen und Eroberungen,<br />

Anwerbungsaktionen für Handwerker, Händler und Künstler,<br />

Verschleppungen oder Rekrutierungen durch fremde Armeen oder<br />

Hungersnöte gewesen se<strong>in</strong> können. Die größte<br />

Auswanderungswelle dürfte auf die 17 Kriegszüge Mahmuds von<br />

Gazni zwischen 1000 und 1027 n. Chr. zurückzuführen se<strong>in</strong>. 7<br />

Auch h<strong>in</strong>sichtlich der Gesellschaftsschicht und der Berufsgruppen,<br />

denen die wandernden Roma angehörten, besteht bis heute ke<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>igkeit. Dass die Roma der untersten Schicht angehört hätten, ist<br />

möglicherweise e<strong>in</strong> unzulässiger Schluss, der aus der<br />

marg<strong>in</strong>alisierten Situation, <strong>in</strong> der sich die Mehrheit der Roma heute<br />

bef<strong>in</strong>det, gezogen wird. Die von Wissenschaftlern herangezogenen<br />

Dokumente und Theorien weisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Richtung. In ihrer<br />

Heimat herrschte das Kastenwesen. In dessen Gefüge „gehörte die<br />

Romani-Geme<strong>in</strong>schaft im Wesentlichen der dritten Kaste an...“ 8<br />

Diese Kaste bestand vor allem aus Kaufleuten und Handwerkern<br />

und war nicht Waffen tragend. Diese These wird aber nicht von<br />

allen, die sich mit der Frühgeschichte der Roma beschäftigen,<br />

geteilt. So versuchte der Inder W. R. Rishi nachzuweisen, dass zu<br />

7<br />

So Djuric, R., Zigeuner des Lexikons – Die Roma <strong>in</strong> Nachschlagewerken: E<strong>in</strong><br />

Vorschlag zur Korrektur, <strong>in</strong>:<br />

www.m<strong>in</strong>derheiten.org/<strong>roma</strong>/textarchiv/texte/djuric_lexikon.htm - S. auch Djuric, R.,<br />

Ohne Heim – ohne Grab, a.a.O, S. 57f – Hübschmannova, M., Herkunft der Roma, <strong>in</strong>:<br />

Romabase, www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />

8<br />

Djuric, R., Ohne Heim – ohne Grab, a.a.O., S. 35<br />

15


Peter Thelen<br />

den auswandernden Roma neben Handwerkern zum<strong>in</strong>dest auch<br />

Krieger gehörten. 9<br />

Auch zu den Wanderungswegen gibt es mehrere Theorien.<br />

Aufgrund sprachwissenschaftlicher Analysen kann aber als<br />

gesichert gelten, dass zum<strong>in</strong>dest der größte Teil der<br />

auswandernden Roma bzw. deren Nachkommen für e<strong>in</strong>e längere<br />

Zeit <strong>in</strong> Persien und später <strong>in</strong> Armenien lebten. Obwohl e<strong>in</strong>ige<br />

H<strong>in</strong>weise existieren, die Schlüsse auf die Existenz von Roma im<br />

Byzant<strong>in</strong>ischen Reich seit dem Jahre 1000 zulassen, datieren<br />

Belege für Roma <strong>in</strong> Europa auf die Zeit um 1300 (1290 – Berg<br />

Athos <strong>in</strong> Griechenland, 1322 – Kreta). Danach häufen sich die<br />

schriftlichen H<strong>in</strong>weise über die Roma <strong>in</strong> Europa (z. B. 1348 –<br />

Prizren <strong>in</strong> Serbien, 1362 Dubrovnik <strong>in</strong> Kroatien). Zum ersten Mal<br />

wird 1407 über Roma im deutschen Raum (Hildesheim) berichtet,<br />

danach <strong>in</strong> zahlreichen anderen Dokumenten <strong>in</strong> anderen Gegenden<br />

Deutschlands sowie im heutigen Rumänien, <strong>in</strong> Ungarn, Tschechien,<br />

der Schweiz, Belgien, <strong>in</strong> den Niederlanden sowie <strong>in</strong> Frankreich,<br />

Italien und Spanien. Ab Beg<strong>in</strong>n des 16. Jahrhunderts ist die<br />

Anwesenheit von Roma auf den britischen Inseln, <strong>in</strong> den<br />

skand<strong>in</strong>avischen und baltischen Ländern und <strong>in</strong> Russland<br />

dokumentiert. 10<br />

Auffällig ist, dass die Roma nicht wie andere wandernde Völker<br />

versuchten, sich mit Waffengewalt e<strong>in</strong> Land zu nehmen. Dies mag<br />

daran liegen, dass sie nicht gleichzeitig und als ganzes Volk<br />

auswanderten sondern <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Verbänden und über e<strong>in</strong>en langen<br />

Zeitraum verteilt. Es kann aber auch daran liegen, dass sie – wie<br />

Djuric me<strong>in</strong>t – e<strong>in</strong>er nicht Waffen tragenden Kaste angehörten und<br />

kriegerische Gewalt nicht zu ihrer ursprünglichen Kultur passte.<br />

Nachdem sie <strong>in</strong> Europa angekommen waren, wanderten sie<br />

weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Verbänden über weite Distanzen h<strong>in</strong>weg,<br />

vermutlich um Europa zu erkunden. Später wurde die Reichweite<br />

der Reisen merklich e<strong>in</strong>geschränkt. Schon im 15. Jahrhundert<br />

gaben e<strong>in</strong>zelne Gruppen das Reisen ganz auf, wurden sesshaft und<br />

arbeiteten als Landarbeiter, Händler oder Handwerker. Im<br />

osmanischen Reich zieht e<strong>in</strong> Teil der Roma als Dienstleister (z.B.<br />

Waffenschmiede) mit der Armee. E<strong>in</strong> großer Teil wird sesshaft,<br />

9 Vgl. Mart<strong>in</strong>s-Heuß, K., Zur mythischen Figur des Zigeuners <strong>in</strong> der deutschen<br />

Zigeunerforschung, Frankfurt a. M. 1983, S. 44f<br />

10 S. dazu Liégeois, J.-P., Roma, S<strong>in</strong>ti, Fahrende, Berl<strong>in</strong> 2002, S. 28ff – Mayerhofer,<br />

C., Der Donauraum, 40. Jg., 2001, a.a.O., S. 11<br />

16


ROMA IN EUROPA<br />

andere bleiben bei der nomadischen oder halbnomadischen<br />

Lebensweise.<br />

Der Wechsel vom permanenten Wandern zu zeitweiligem oder<br />

saisonalem Reisen oder zur vollständigen Sesshaftigkeit kann<br />

ebenso wie die Beibehaltung der nomadischen Lebensweise<br />

verschiedene Ursachen haben. E<strong>in</strong>mal kann es sich um<br />

Entscheidungen der Roma selbst handeln. Die Faktoren, die die<br />

Entscheidung bee<strong>in</strong>flussen, können bei der Beibehaltung des<br />

mobilen Lebens im Wunsch nach Unabhängigkeit, der nicht<br />

unbegründeten Angst vor Versklavung oder <strong>in</strong> der Freude am<br />

Ortswechsel liegen. Die Entscheidungen dürften <strong>in</strong> der Regel aber<br />

wirtschaftlich begründet se<strong>in</strong>. Ist z. B. der potenzielle Kundenkreis<br />

e<strong>in</strong>es Handwerkers bei dichter Besiedlung räumlich konzentriert,<br />

lohnt sich e<strong>in</strong>e Ansiedlung unter der weiteren Voraussetzung, dass<br />

die Obrigkeit und die Bevölkerung dies h<strong>in</strong>nimmt. Bei dünner<br />

Besiedlung im ländlichen Raum ist der Kundenkreis verstreut. In<br />

diesem Fall ist es s<strong>in</strong>nvoller, zu den Kunden zu reisen. Hier handelt<br />

es sich um den sog. Dienstleistungsnomadismus, der von der<br />

wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung <strong>in</strong> der<br />

Gesamtbevölkerung determ<strong>in</strong>iert wird und der daher e<strong>in</strong>em<br />

entsprechenden Wandel unterliegt. – Neben diesen "strukturellen"<br />

gibt es "umstandsbed<strong>in</strong>gte" Gründe, die auf Entscheidungen von<br />

Nicht-Roma (Gadje) beruhen. 11 In diesen Fällen handelt es sich um<br />

Vertreibung oder um ihr Gegenteil, die Zwangsansiedlung oder die<br />

Versklavung.<br />

In der Realität spielen sicher häufig mehrere Gründe für die<br />

Ansiedlung oder Nichtansiedlung e<strong>in</strong>e Rolle. Hier sollen aber die<br />

umstandsbed<strong>in</strong>gte Mobilität und die ebenfalls fremdbestimmte<br />

Sesshaftigkeit mit e<strong>in</strong>igen Beispielen hervorgehoben werden, da sie<br />

<strong>in</strong> der Geschichte der Roma e<strong>in</strong>e besonders große Rolle gespielt<br />

haben. Der Grad der Fremdbestimmtheit ist bei e<strong>in</strong>em Volk, das<br />

sich <strong>in</strong> viele kle<strong>in</strong>e Gruppen aufgeteilt hat und wahrsche<strong>in</strong>lich ohne<br />

Waffene<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> fremde Länder gezogen ist, höher als bei anderen<br />

Völkern.<br />

Im Osmanischen Reich wurden die Roma vergleichsweise tolerant<br />

behandelt und besaßen ähnliche Rechte wie Angehörige anderer<br />

Bevölkerungsteile. 12 Anfänglich wurden sie auch <strong>in</strong> West- und<br />

Mittel<strong>europa</strong> beschützt oder toleriert. Obwohl sie hier bei ihrer<br />

11 Liégeois, J.-P., a.a.O., S. 39<br />

12 Zur Geschichte der Roma im Osmanischen Reich: Marushiakova, E., Popov, V.,<br />

The Gypsies <strong>in</strong> the Osman Empire, Hatfield, 2001<br />

17


Peter Thelen<br />

Ankunft unter dem Schutz höchster weltlicher und kirchlicher<br />

Autoritäten standen und <strong>in</strong> der Bevölkerung mit Neugierde und<br />

tätiger Nächstenliebe aufgenommen wurden, änderte sich die<br />

Haltung der Bevölkerung und der Obrigkeit relativ schnell. Von der<br />

Kirche wurden sie der Zauberei geziehen und als unchristlich<br />

gebrandmarkt. Die weltlichen Autoritäten sahen <strong>in</strong> ihnen e<strong>in</strong><br />

H<strong>in</strong>dernis, e<strong>in</strong>e stärkere Kontrolle über die Untertanen zu erlangen.<br />

Für die ansässigen, <strong>in</strong> Zünften organisierten Handwerker stellten<br />

sie e<strong>in</strong>e zu bekämpfende Konkurrenz dar. Schon 42 Jahre,<br />

nachdem sie zum ersten Mal im deutschen Raum dokumentiert<br />

worden s<strong>in</strong>d, wurden sie "1449 gewaltsam aus Frankfurt am Ma<strong>in</strong><br />

vertrieben, und zum Ende des Jahrhunderts ist die Ablehnung<br />

generalisiert ..." 13 Auf dem Reichsgebiet werden sie ab 1501 nicht<br />

mehr geduldet und können straffrei ermordet werden. Der Verdacht,<br />

dass sie Spionagedienste für die Türken leisten, führte im 16.<br />

Jahrhundert zu e<strong>in</strong>er ersten systematischen Verfolgung der Roma<br />

auf deutschem Gebiet. Diese Politik erzeugte e<strong>in</strong>e europäische<br />

Wirkung, da die angrenzenden Länder vermeiden wollten, dass die<br />

Roma <strong>in</strong> ihre Gebiete flüchteten. „Schließlich gaben mit e<strong>in</strong>iger<br />

Verzögerung alle mittel- und westeuropäischen Länder e<strong>in</strong>e ‚Anti-<br />

Zigeuner-Gesetzgebung’ heraus“. 14 "Im 17. Jahrhundert werden<br />

S<strong>in</strong>ti und Roma entlang der Grenzen aufgehängt – als Illustration<br />

der Strafe, die diejenigen zu erwarten hatten, die beim<br />

Überschreiten der Grenzen aufgegriffen wurden." 15 Ihnen wird<br />

sowohl die Sesshaftigkeit als auch das Reisen verboten. Insofern<br />

kann man das Wandern der Roma auch als permanente Flucht<br />

aufgrund regional wechselnder Verfolgungs<strong>in</strong>tensität ansehen.<br />

Zu der fremdbestimmten Mobilität gehören auch die<br />

Migrationswellen, die durch die politischen Entscheidungen der<br />

jüngsten Geschichte ausgelöst wurden. So wurden im 2. Weltkrieg<br />

Roma aus Italien, Kroatien und Slowenien vertrieben. 16 Die letzte<br />

große Migrationswelle dieser Art geht auf das Ause<strong>in</strong>anderfallen<br />

Jugoslawiens zurück. Dort waren sie überall die Leidtragenden, da<br />

sie jeweils von allen Seiten der sich bekämpfenden Nationalisten<br />

angegriffen wurden.<br />

E<strong>in</strong>en neuen traurigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung<br />

1999 im Kosovo, und zwar unter den Augen der KFOR, die<br />

angetreten war, die "ethnischen Säuberungen" zu beenden. Die<br />

13<br />

Liégois, J.-P., a. a. O., S. 159<br />

14<br />

Samer, H., 16.-18. Jahrhundert, <strong>in</strong>: Rombase, www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at/rombase<br />

15<br />

Liégeois, J.-P., a.a.O., S. 159<br />

16<br />

Ebd., S. 36<br />

18


ROMA IN EUROPA<br />

kosovarischen Roma, die meist seit Generationen ansässig waren,<br />

wurden nach der Beendigung der Militäraktionen der NATO und<br />

nach dem Abzug der jugoslawischen Truppen ermordet,<br />

vergewaltigt und aus ihren Häusern vertrieben. 17 Die anwesenden<br />

Kfor-Soldaten waren und s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> der Lage, sie vor dem<br />

doppelten Hass der Albaner und der Serben zu schützen, "sei es,<br />

weil sie überfordert s<strong>in</strong>d, sei es, weil wieder e<strong>in</strong>mal den<br />

Angehörigen des Romavolkes Schutz verweigert wird". 18 Vier<br />

Fünftel der im Kosovo damals lebenden Roma – ca. 120.000<br />

Personen - flohen aus dem Kosovo oder wurden B<strong>in</strong>nenvertriebene<br />

<strong>in</strong>nerhalb des Kosovo. 19 Von den Flüchtl<strong>in</strong>gen lebt ungefähr die<br />

Hälfte <strong>in</strong> Serbien und Montenegro sowie <strong>in</strong> anderen Balkanländern.<br />

Die andere Hälfte ist <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>. Die wenigsten haben e<strong>in</strong>en<br />

dauerhaften Flüchtl<strong>in</strong>gsstatus. Den meisten droht permanent die<br />

Abschiebung <strong>in</strong> den Kosovo. Bisher wurde wenig getan, damit die<br />

Vertriebenen sicher <strong>in</strong> ihre Heimat zurückkehren können. Trotz<br />

jahrelanger UN-Verwaltung kommt es immer wieder zu<br />

Ausschreitungen und Gewalttaten gegen Roma im Kosovo.<br />

Heimkehrende Roma wurden ermordet, andere bedroht. Paul<br />

Polanski, der mit e<strong>in</strong>em Untersuchungsteam vom 1. März bis 30.<br />

September 2003 im Kosovo war, stellt fest, dass im<br />

Untersuchungszeitraum mehr Roma den Kosovo verlassen haben<br />

als zurückgekommen s<strong>in</strong>d. 20 Den Gewaltausbrüchen im März 2004<br />

fielen nicht nur Serben und orthodoxe Kirchen und Klöster zum<br />

Opfer sondern auch e<strong>in</strong>ige hundert Roma, Ashkali und Ägypter,<br />

deren Häuser von albanischen Kosovaren <strong>in</strong> Brand gesetzt wurden.<br />

Die Gewalt gegen die Roma fand allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> der öffentlichen<br />

Berichterstattung kaum Beachtung. Es ist zu befürchten, dass bei<br />

der zu erwartenden Unabhängigkeit des Kosovo die Gewalt gegen<br />

die Roma weiter eskaliert. Die bestehende und die erwartete<br />

Bedrohung führen dazu, dass viele Roma, geflohene wie<br />

verbliebene, ke<strong>in</strong>e Zukunft mehr <strong>in</strong> ihrer Heimat sehen.<br />

17 S. dazu European Roma Right Center, Roma <strong>in</strong> the Kosovo Conflict, Budapest<br />

1999 – Report der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kosovo – Unter den Augen der<br />

KFOR: Massenvertreibung der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter, 7.Aufl., 2001<br />

18 Grass, G., Ohne Stimme – Reden zugunsten des Volkes der Roma uns S<strong>in</strong>ti,<br />

Gött<strong>in</strong>gen, 2000, S. 37 – G. Grass sagt zu diesem Thema auch: "Zu Recht werden <strong>in</strong><br />

Holland serbische und kroatische Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt.<br />

Wo aber ist der Ort, wo die im Kosovo Verantwortung tragenden europäischen<br />

Regierungen wegen unterlassener Hilfe angeklagt werden und ihren Richter f<strong>in</strong>den?",<br />

ebd., S. 76f<br />

19 Zur Zahlenangabe s. Europäische Kommission (Hrsg.), Die Situation der Roma <strong>in</strong><br />

der erweiterten Europäischen Union, Luxemburg, 2004, S. 11<br />

20 Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Roma, Aschkali und "Ägypter" – Ohne<br />

Zukunft im Kosovo, Gött<strong>in</strong>gen 2003<br />

19


Peter Thelen<br />

Nicht nur die Migration sondern auch die Sesshaftigkeit kann<br />

sowohl die eigene Entscheidung der Roma se<strong>in</strong> als durch<br />

Zwangsmaßnahmen herbeigeführt werden. In beiden Fällen liegt <strong>in</strong><br />

der Regel e<strong>in</strong>e ökonomische Motivation zugrunde, und zwar<br />

entweder bei den Roma oder bei der Mehrheitsbevölkeurng bzw.<br />

der Regierung. So kann e<strong>in</strong>e Regierung zu der Erkenntnis kommen,<br />

dass es zu viel Kraft b<strong>in</strong>det, die Roma dauernd zu verfolgen und zu<br />

vertreiben, dass es e<strong>in</strong>fach zu teuer ist. Andererseits können die<br />

Roma als e<strong>in</strong> Reservoir billiger Arbeitskräfte angesehen werden,<br />

das es sich lohnt zu erschließen. So verfolgte Spanien über e<strong>in</strong>en<br />

langen Zeitraum „abwechselnd und mit größter Konsequenz sowohl<br />

die Vernichtung der Roma als auch ihre vollständige Assimilation“.<br />

Ab 1539 wurden die „Gitanos“ h<strong>in</strong>gerichtet oder auf königliche<br />

Galeeren gebracht. Philipp III befahl, sie des Landes zu vertreiben<br />

und drohte ihnen bei Rückkehr mit dem Tod. Sie durften aber<br />

bleiben, wenn sie sesshaft wurden und sich assimilierten. 1633<br />

untersagte Philipp den Roma, <strong>in</strong> Gruppen zusammenzuleben, ihre<br />

Sprache zu sprechen und sich anders zu kleiden als die Spanier.<br />

Se<strong>in</strong> Nachfolger führte diese Politik weiter. Zu Beg<strong>in</strong>n des 18.<br />

Jahrhunderts war die Sesshaftmachung der „Gitanos“ weitgehend<br />

gelungen. Das Ziel der Assimilierung war allerd<strong>in</strong>gs nicht erreicht.<br />

Am 20. Juli 1749 ordnete Philipp V. an, alle greifbaren Roma<br />

zusammenzutreiben und als staatliche Zwangsarbeiter e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

An diesem „Schwarzen Mittwoch“ wurden 9.000 bis 10.000 Roma<br />

ermordet. 21<br />

E<strong>in</strong> anderes historisches Beispiel für e<strong>in</strong>e zwangsweise<br />

Ansiedlungs- und Assimilierungspolitik war die Politik von Maria<br />

Theresia, Kaiser<strong>in</strong> von Österreich und Ungarn, und von ihrem<br />

Nachfolger ab 1758. Die Roma wurden als Knechte <strong>in</strong> der<br />

Landwirtschaft gebraucht und zwangsangesiedelt. Damit das<br />

Projekt auf Dauer gel<strong>in</strong>gt, sollte gleichzeitig ihre Kultur durch e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von Zwangsmaßnahmen zerstört werden: Ihre Anführer (ung.<br />

Vajda) wurden verboten, der Begriff Zigeuner (ung. Cigany) wurde<br />

durch Neubauer u. Ä. ersetzt, die Heirat von Roma untere<strong>in</strong>ander<br />

wurde untersagt und Mischehen mit staatlichen Zuschüssen<br />

gefördert, die K<strong>in</strong>der ihren Eltern fortgenommen. Der Gebrauch des<br />

Romanes wurde untersagt und bestraft. Die Politik der physischen<br />

Vertreibung und Vernichtung wurde durch e<strong>in</strong>e Politik der<br />

Elim<strong>in</strong>ierung der Kultur der Roma ersetzt. Trotz dieser<br />

jahrzehntelangen Unterdrückung gelang die dauerhafte<br />

Sessbarmachung lediglich im Gebiet des heutigen Burgenlandes<br />

21 Vgl. Samer, H., a.a.O.<br />

20


ROMA IN EUROPA<br />

und die Zerstörung der Romani Identität nur partiell. – E<strong>in</strong> weiterer<br />

Ansiedlungsdruck erfolgte später unter den kommunistischen<br />

Regimen. Auch hier dom<strong>in</strong>ierten ökonomische Motive, und zwar die<br />

Nutzung der Roma als billige und unausgebildete Reservearmee <strong>in</strong><br />

der arbeits<strong>in</strong>tensiven Industrie und Landwirtschaft.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel für erzwungene Sesshaftigkeit mit anschließender<br />

Migration ist die Geschichte der Roma im Gebiet des heutigen<br />

Rumäniens. Schon die ersten <strong>in</strong> diesem Raum dokumentierten<br />

Roma waren versklavt. Sie wurden 1382 an e<strong>in</strong> Kloster verkauft. 22<br />

Die endgültige Aufhebung der Sklaverei <strong>in</strong> der Walachei und der<br />

Moldau, die e<strong>in</strong>e erzwungene Sesshaftigkeit, bzw. Teilsesshaftigkeit<br />

be<strong>in</strong>haltete, im Jahre 1856 löste e<strong>in</strong>e große Migrationswelle aus.<br />

E<strong>in</strong> großer Teil der mehrere hunderttausend Vlach-Roma verließ<br />

das Gebiet des heutigen Rumänien und wanderte sowohl nach<br />

Ost<strong>europa</strong> als auch nach Österreich-Ungarn und nach Deutschland,<br />

aber auch nach Nord-und Südamerika sowie nach Australien aus.<br />

Diese Abfolge von umstandsbed<strong>in</strong>gter Ansiedlung und Migration<br />

besteht bis <strong>in</strong> die Gegenwart fort. So wurden <strong>in</strong> der<br />

kommunistischen Zeit 100.000 Roma aus dem slowakischen Teil<br />

der CSSR <strong>in</strong> den Braunkohlerevieren Böhmens angesiedelt. Nach<br />

der Teilung <strong>in</strong> die Tschechische und <strong>in</strong> die Slowakische Republik<br />

wurde diesen Roma die tschechische Staatsbürgerschaft verweigert<br />

und so – verstärkt durch die alltägliche Diskrim<strong>in</strong>ierung - e<strong>in</strong><br />

Auswanderungsdruck erzeugt.<br />

Trotz der unterschiedlichen Mobilität der verschiedenen<br />

Romagruppen, die von permanentem Nomadismus über saisonales<br />

oder regional begrenztes Reisen bis zur vollständigen<br />

Sesshaftigkeit reicht, herrscht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Teil der<br />

europäischen Bevölkerung immer noch das stereotype Bild der<br />

Zigeuner als ewige Nomaden. Es lässt sich heute nicht mehr mit<br />

Sicherheit feststellen, welches die ursprüngliche Lebensweise der<br />

Roma <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>dischen Heimat war, ob ihre Vorfahren nomadisch<br />

oder sesshaft waren. Es lässt sich aber feststellen, dass <strong>in</strong> den<br />

verschiedenen Dialekten der Romasprache Begriffe, die mit der<br />

sesshaften Lebensweise und der Landwirtschaft verbunden s<strong>in</strong>d,<br />

überwiegend <strong>in</strong>discher Herkunft s<strong>in</strong>d, während Begriffe aus der<br />

nomadischen Lebensweise vor allem aus europäischen Sprachen,<br />

hauptsächlich aus dem Rumänischen, entliehen s<strong>in</strong>d. 23 Dies kann<br />

22 Vgl. Erich, R. M., Roma, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 107<br />

23 S. dazu Marushiakova, E., Popov, V., Zigeuner – auf beiden Seiten der Grenze, <strong>in</strong>:<br />

Materialien des SFB "Differenzen und Integration". Berichte aus den Arbeitsgruppen:<br />

21


Peter Thelen<br />

als Indiz dafür angesehen werden, dass die Roma <strong>in</strong> ihrer alten<br />

Heimat sesshaft waren. - Welche Gründe auch immer zur<br />

Ansiedlung oder zur dauernden Mobilität geführt haben mögen,<br />

heute lässt sich feststellen, dass die weit überwiegende Mehrheit<br />

der europäischen Roma sesshaft ist. 24<br />

Die Geschichte der Roma <strong>in</strong> Europa ist e<strong>in</strong>e Geschichte der<br />

Ablehnung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung und<br />

durch andere M<strong>in</strong>derheiten. Sie ist e<strong>in</strong>e Geschichte der Verfolgung,<br />

Vertreibung und Vernichtung sowohl durch die Bevölkerung als<br />

auch durch die Staatsmacht. Andererseits gab es immer wieder<br />

Phasen <strong>in</strong> der "Zigeunerpolitik", die eher als Politik gegen die Roma<br />

zu bezeichnen ist, <strong>in</strong> denen die Ansiedlung mit dem Ziel der<br />

Assimilierung erzwungen wurde. Den H<strong>in</strong>tergrund dieser Politik<br />

bildete die Vorstellung, dass die "Zigeuner" aufgrund ihrer Kultur<br />

m<strong>in</strong>derwertig und für die Gesellschaft schädlich seien. Durch<br />

Sesshaftigkeit als Voraussetzung für Erziehung und Assimilierung<br />

sollten diese verme<strong>in</strong>tlichen Nachteile zum<strong>in</strong>dest partiell<br />

aufgehoben werden und die Arbeitskraft dieser sich schnell<br />

vermehrenden Bevölkerung genutzt werden. Auch <strong>in</strong> Deutschland<br />

wurde zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts dieses Ziel von vielen<br />

verfolgt. Gleichzeitig wurde aber auch - vor allem auf der lokalen<br />

Ebene - das Gegenteil, nämlich die "Zigeuner" loszuwerden,<br />

angestrebt. Die konsequente Auflösung dieses Widerspruches<br />

brachte die nationalsozialistische Politik. Die "M<strong>in</strong>derwertigkeit" der<br />

Roma, von der auch die Befürworter der Assimilation ausgehen,<br />

wurde durch die Rassenideologie als unveränderbar def<strong>in</strong>iert. Die<br />

"Zigeunerfrage" konnte nur durch physische Vernichtung gelöst<br />

werden. „Die nationalsozialistische Synthese war der Tod. Er war<br />

der e<strong>in</strong>zige Ort, an dem Vertriebense<strong>in</strong> und Sesshaftigkeit dauerhaft<br />

identisch wurden." 25<br />

Grenzen und Übergänge. Orientwissenschaftliches Zentrum, Universität Halle-<br />

Wittenberg, 2002<br />

24 Wie schon erwähnt wurde, ist die Quantifizierung der Roma-Bevölkerung schwierig<br />

und problematisch. Hemetek gibt den Anteil der sesshaften Roma <strong>in</strong> Europa mit 95 %<br />

an. Vgl. Hemetek, U., a.a.O., S. 21, Liegeois spricht von ca 20 % als Anteil der<br />

"Nomaden" und ebenso vielen "Halbnomaden" an den S<strong>in</strong>ti, Roma und Fahrenden <strong>in</strong><br />

Europa. Vgl. Liegeois, J.-P., a.a.O., S. 47. Dass dieser Anteil höher ist als der von<br />

Hemetek geschätzte Anteil mag daran liegen, dass die Travellers ethnisch nicht zu<br />

den Roma gehören und <strong>in</strong> größerem Maße reisen.<br />

25 M. Zimmermann auf der Konferenz der DFG "Zwischen Erziehung und Vernichtung.<br />

Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im Europa des 20. Jahrhunderts“, Bonn, 29. 9.<br />

-1. 10. 2004 (zit.nach Hilbrenner, A., Süddeutsche Zeitung vom 5. 10. 2004,<br />

Veröffentlichung ist für 2006 geplant)<br />

22


ROMA IN EUROPA<br />

Unter den Nationalsozialisten <strong>in</strong> Deutschland g<strong>in</strong>g die Verfolgung<br />

ihrem traurigen Höhepunkt, der nicht aus dem kollektiven und<br />

<strong>in</strong>dividuellen Gedächtnis der Roma gelöscht werden kann und darf,<br />

entgegen. Schon 1933, also im Jahr der so genannten<br />

Machtergreifung, wurde die Verfolgung der Roma <strong>in</strong>tensiviert und<br />

rassistisch begründet. Dem Boxer Trollmann wird der Titel e<strong>in</strong>es<br />

deutschen Meisters aus rassistischen Gründen aberkannt. Die<br />

Gesetze zur Legalisierung der Zwangssterilisation wurden auch auf<br />

die Roma angewandt. 1934 begannen die Transporte <strong>in</strong> die Lager,<br />

<strong>in</strong> denen Sterilisation und Kastrationen an Roma vorgenommen<br />

wurden. Die von Himmler 1938 angekündigte "endgültige Lösung"<br />

der "Zigeunerfrage" führte zur Ermordung von Roma aus<br />

Deutschland und den von deutschen Truppen besetzten Gebieten<br />

Europas.<br />

Zwar gab es noch bis <strong>in</strong> die 80er Jahre <strong>in</strong> Deutschland<br />

Wissenschaftler, die der Ermordung e<strong>in</strong>es großen Teils der<br />

europäischen Roma-Bevölkerung den Charakter e<strong>in</strong>es Genozids<br />

absprachen, 26 aber dennoch fand dieser Völkermord – wenn auch<br />

sehr spät, und zwar unter dem sozialdemokratischen<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahre 1982 – se<strong>in</strong>e offizielle<br />

Anerkennung. „Den S<strong>in</strong>ti und Roma ist durch die NS-Diktatur<br />

schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen<br />

Gründen verfolgt. Diese Verbrechen s<strong>in</strong>d als Völkermord<br />

anzusehen.“ 27 Diese politische Anerkennung kann als erster Erfolg<br />

der Roma-Bewegung <strong>in</strong> Deutschland, die zuvor auch mit Aktionen<br />

<strong>in</strong> den ehemaligen Konzentrationslagern Bergen-Belsen und<br />

Dachau öffentlich auf das Thema aufmerksam gemacht hatte,<br />

angesehen werden. Auch der dritte Weltkongress der International<br />

Romani Union (IRU), der 1981 <strong>in</strong> der deutschen Stadt Gött<strong>in</strong>gen<br />

stattgefunden hatte, behandelte schwerpunktmäßig den Völkermord<br />

26 So spricht Streck vom „so genannten zweiten Genozid“ (nach dem richtigen<br />

Genozid an den Juden), der auf ke<strong>in</strong>em „Antitziganismus“ aufbaut habe. S. Streck, B.,<br />

Die nationalsozialistische Methode zur „Lösung des Zigeunerproblems“, <strong>in</strong>: Tribüne,<br />

Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 20. Jg., 1981, H. 78, S 53ff – Zur Antwort<br />

auf diese Thesen s. Rose, R., Die neue Generation und die alte Ideologie, <strong>in</strong>: Tribüne,<br />

21. Jg., 1982, H. 81, S. 88ff - Inzwischen ist auch der Term<strong>in</strong>us „Holocaust“ weit<br />

gehend akzeptiert, wie se<strong>in</strong>e Verwendung <strong>in</strong> Dokumenten der EU zeigt. So z. B. <strong>in</strong><br />

der Entschließung des Europäischen Parlamentes zur Lage der Roma <strong>in</strong> der<br />

Europäischen Union vom 28. 4. 2005 oder im Bericht „Die Lage der Roma <strong>in</strong> der<br />

erweiterten Europäischen Union“, der 2004 von der Europäischen Kommission<br />

herausgegeben wurde.<br />

27 Helmut Schmidt zitiert nach Strauß, D., „da muss man wahrhaft alle Humanität<br />

ausschalten...“ – Zur Nachkriegsgeschichte der S<strong>in</strong>ti und Roma <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong>:<br />

www.m<strong>in</strong>derheiten.org/<strong>roma</strong>/textarchiv<br />

23


Peter Thelen<br />

an den Roma. Diesem Verbrechen fielen nach Angaben des<br />

Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma<br />

500.000 Roma zum Opfer. 28<br />

Weniger als anderen Völkern war es den Roma möglich, die<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen ihres Lebens selbst zu bestimmen. Wie sie<br />

und ob sie überhaupt leben sollten, wurde und wird <strong>in</strong> der Regel<br />

von e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Umwelt bestimmt. Selbst dann, wenn es<br />

darum geht, ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu verbessern, werden bis<br />

heute die Entscheidungen meistens durch kommunale, staatliche<br />

oder europäische Behörden, <strong>in</strong> denen die Roma ke<strong>in</strong><br />

Mitspracherecht haben, getroffen. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund setzen<br />

viele Roma große Hoffnungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes Europa, <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Europa, das ihnen erstmals <strong>in</strong> ihrer Geschichte die Möglichkeit<br />

eröffnen könnte, die sie betreffenden Entscheidungen zum<strong>in</strong>dest zu<br />

bee<strong>in</strong>flussen.<br />

3. Ausgrenzung als Folge des Antiziganismus<br />

Trotz vieler Unterschiede gibt es e<strong>in</strong>ige Parallelen im Schicksal von<br />

Juden und Roma. E<strong>in</strong>e Parallele ist die Dispersion. Sowohl die<br />

Juden als auch die Roma s<strong>in</strong>d seit Jahrhunderten Teil der<br />

europäischen Bevölkerung. Sie stellten <strong>in</strong> allen Ländern e<strong>in</strong>en<br />

merkbaren, wenn auch unterschiedlich großen Teil der<br />

Bevölkerung.<br />

Das zweite Phänomen, das sowohl mit Roma als auch mit Juden<br />

verbunden ist, s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> Teilen der Bevölkerung vorhandenen<br />

Vorurteile gegen sie. Die Motivation dieser Vorurteile hat sich im<br />

Laufe der Geschichte zwar geändert und ist ab der zweiten Hälfte<br />

des 18. Jahrhunderts rassistisch aufgeladen worden. 29 Die daraus<br />

resultierende fe<strong>in</strong>dliche Haltung besteht aber bis heute fort.<br />

Gegenüber den Juden wird sie <strong>in</strong>zwischen mehrheitlich verurteilt<br />

und hat nach dem 2. Weltkrieg abgenommen. Die ablehnende bis<br />

28 Vgl. u.a. Rose, R. (Hrsg.), Der nationalsozialistische Völkermord an den S<strong>in</strong>ti und<br />

Roma, Heidelberg 1995 sowie andere Veröffentlichungen des Dokumentations- und<br />

Kulturzentrums Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma. Aber auch hier gibt es unterschiedliche<br />

Zahlenangaben. E<strong>in</strong>ige Autoren gehen von „nur“ 250.000 Opfern unter den Roma<br />

aus. Das United States Holocaust Memorial Research Institute gibt e<strong>in</strong>e Spanne von<br />

e<strong>in</strong>er halben Million bis e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Millionen an.<br />

29 S. dazu: Wippermanns Ausführungen zu He<strong>in</strong>z Moritz Grellmann <strong>in</strong>:Wippermann,<br />

W., Wie die Zigeuner – Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berl<strong>in</strong> 1997,<br />

S. 97 ff<br />

24


ROMA IN EUROPA<br />

fe<strong>in</strong>dliche Haltung zu den Roma ist dagegen <strong>in</strong> der europäischen<br />

Mehrheit der Bevölkerung verankert und nimmt eher zu als ab.<br />

Die aus den Vorurteilen entstehenden fe<strong>in</strong>dlichen Haltungen zu<br />

Juden und Roma werden als Antisemitismus und als<br />

Antiziganismus bezeichnet. Für die dah<strong>in</strong>ter stehende Motivation<br />

können unterschiedliche Gründe (z. B. religiöse, im Aberglauben<br />

verankerte, wirtschaftliche) herangezogen werden. Die radikalsten<br />

Ausprägungen s<strong>in</strong>d der rassistisch begründete Antisemitismus und<br />

Antiziganismus. Die extremste Form erreichte diese Verfolgung mit<br />

den "Nürnberger Gesetzen" und den daraus folgenden<br />

Verordnungen, die sich ausdrücklich auf Juden und "Zigeuner"<br />

bezogen und die die Völkermordmasch<strong>in</strong>erie an beiden Teilen der<br />

europäischen Bevölkerung <strong>in</strong> Gang setzten. 30<br />

Obwohl sowohl der moderne Antisemitismus als auch der<br />

neuzeitliche Antiziganismus Ausprägungen rassistischer<br />

Denkschemata s<strong>in</strong>d und obwohl Juden und Roma beide Opfer der<br />

Vernichtungsmasch<strong>in</strong>erie im Holocaust waren, s<strong>in</strong>d Unterschiede<br />

zwischen beiden nicht unerheblich. 31 Während sich der Begriff des<br />

Antisemitismus, der 1879 von dem Antisemiten Wilhelm Marr<br />

geprägt wurde, früh <strong>in</strong> der wissenschaftlichen und politischen<br />

Term<strong>in</strong>ologie zur Bezeichnung rassistisch motivierter<br />

Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit etablierte, 32 wurde der Begriff Antiziganismus<br />

erst <strong>in</strong> den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. 33 Der<br />

Grund für diese vergleichsweise späte E<strong>in</strong>führung des Term<strong>in</strong>us<br />

Antiziganismus oder Antigypism 34 liegt dar<strong>in</strong>, dass die Vorurteile<br />

gegen die Roma vom überwiegenden Teil der Gesellschaft<br />

akzeptiert wurden und als normal galten, sodass das Fehlen e<strong>in</strong>es<br />

30 Der Völkermord an den S<strong>in</strong>ti und Roma, der <strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> den von<br />

Deutschen besetzten Gebieten stattfand, ist auf e<strong>in</strong>drucksvolle Weise im<br />

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma <strong>in</strong> Heidelberg<br />

dokumentiert.<br />

31 Zu den Unterschieden, auf die hier nicht e<strong>in</strong>gegangen wird, vgl. u.a. Zimmermann,<br />

M., Die nationalsozialistische Verfolgung der Zigeuner. E<strong>in</strong> Überblick, <strong>in</strong>: Matras, Y.,<br />

u.a., S<strong>in</strong>ti, Roma, Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart, Berl<strong>in</strong>, 2003, S. 142 ff<br />

32 Wippermann, W., a.a.O., S. 10, 86ff<br />

33 Der Begriff wurde erstmals <strong>in</strong> Frankreich verwendet und fand von dort E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong><br />

die deutsche Literatur. S. dazu Wippermann, W., a.a.O., S. 11, 17. - In Deutschland<br />

wird der Begriff auch von Repräsentanten der S<strong>in</strong>ti und Roma gebraucht, so von<br />

Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrates deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma. Rose,<br />

R.,a.a.O., S. 8<br />

34 Im englischsprachigen Bereich setzte sich der Term<strong>in</strong>us Antigypism durch, der<br />

ebenfalls auch von Repräsentanten der Roma gebraucht wird, so u.a. Hancock, I.,<br />

The Pariah Syndrome. An account of Gypsy slavery and persecution, Ann Arbor,<br />

Michigan, 1987, S. 115ff<br />

25


Peter Thelen<br />

Begriffs dafür nicht auffiel. 35 Während antisemitisches Gedankengut<br />

und Verhalten nach dem Holocaust politisch geächtet wurden,<br />

geschah dies mit dem Antiziganismus nicht. Er bleibt im Denken<br />

und Fühlen der Mehrheit der europäischen Bevölkerung verwurzelt.<br />

Erst <strong>in</strong> jüngster Zeit – vor allem durch die Bemühungen der Roma-<br />

Organisationen auf nationaler und <strong>in</strong>ternationaler Ebene – entsteht<br />

e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> für die Existenz des Antiziganismus.<br />

Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass die Vorurteile gegen<br />

"Zigeuner" <strong>in</strong> der letzten Zeit zugenommen haben. Für Deutschland<br />

konstatiert z. B. Wippermann e<strong>in</strong>en Anstieg von 51% im Jahre 1987<br />

auf 68 % im Jahr 1994. 36 E<strong>in</strong>e Ursache für diese Entwicklung mag<br />

dar<strong>in</strong> liegen, dass die politischen Veränderungen der letzten 15<br />

Jahre auch dazu geführt haben, dass viele Roma ihre Heimat<br />

verlassen haben. E<strong>in</strong> großer Teil von ihnen war bedroht, viele<br />

waren Opfer der ethnischen Ause<strong>in</strong>andersetzungen, <strong>in</strong> denen auch<br />

viele Roma ermordet und vertrieben wurden. In den<br />

Zufluchtsländern stießen sie kaum auf Verständnis sondern<br />

paradoxerweise vielmehr auf zunehmende Ablehnung. 37<br />

Auch <strong>in</strong> anderen Ländern, die <strong>in</strong> den 90er Jahren den<br />

Systemwechsel e<strong>in</strong>geleitet haben, ist e<strong>in</strong> Anstieg der negativen<br />

Vorurteile gegen Roma konstatiert worden. In der kommunistischen<br />

Zeit war das Thema Roma zum<strong>in</strong>dest teilweise tabuisiert. In den<br />

offiziellen Bevölkerungsstatistiken wurde nur e<strong>in</strong> Bruchteil der<br />

Roma-E<strong>in</strong>wohnerzahl angegeben. Nach 1989 verstärkte sich die<br />

Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppe durch die Mehrheit.<br />

Aber auch diese Wahrnehmung wurde zunehmend negativ belastet,<br />

nicht zuletzt aufgrund vorurteilsbehafteter Berichterstattung <strong>in</strong> den<br />

Medien. 38<br />

In vielen Ländern kam es <strong>in</strong> den letzten Jahren zu e<strong>in</strong>em<br />

sprunghaften Anstieg von Gewalt gegen Roma, die häufig von der<br />

35 Wippermann, W., a.a.O., S. 11<br />

36 Ebenda, S. 243. Diese Angaben dürften auf die Umfrageergebnisse von EMNID<br />

zurückgehen. S. dazu Bastian, T., S<strong>in</strong>ti und Roma im Dritten Reich, München, 2001,<br />

S. 87<br />

37 Mit der Virulenz antiziganistischer Stereotype <strong>in</strong> Deutschland beschäftigt sich auch<br />

Änneke W<strong>in</strong>ckel. S. W<strong>in</strong>ckel, Ä., Antiziganismus – Rassismus gegen Roma und S<strong>in</strong>ti<br />

im vere<strong>in</strong>igten Deutschland, Münster, 2002<br />

38 Für Rumänien zitiert Roth hierzu die Untersuchungen von Baican und Perva<strong>in</strong>, s.<br />

Roth, A., Die Roma <strong>in</strong> Rumänien: e<strong>in</strong>e marg<strong>in</strong>alisierte M<strong>in</strong>derheit, <strong>in</strong>: Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung (Hrsg.), Verdammt zur Marg<strong>in</strong>alität. Die Roma <strong>in</strong> Rumänien, Bukarest, o. J.,<br />

S. 57f<br />

26


ROMA IN EUROPA<br />

Polizei weder verh<strong>in</strong>dert noch verfolgt wurde. Insbesondere die<br />

Verlierer des Systemwechsels entluden häufig ihre Frustration<br />

durch Aggression gegen die Roma, die ebenfalls zu den Verlierern<br />

gehören. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Tschechien gab es zwischen 1989 und 2000 über<br />

30 Morde an Roma. 39<br />

In der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung wird die Situation, <strong>in</strong> der sich die<br />

Mehrheit der Roma bef<strong>in</strong>det, häufig auf e<strong>in</strong>en speziellen Charakter<br />

der Roma und auf die ihnen eigene "zigeunerische Lebensweise"<br />

zurückgeführt. Dieses Urteil ist nicht neu. Es wurde und wird auch<br />

von Wissenschaftlern, die sich mit den Roma beschäftigen,<br />

vertreten. Die These von den ethnisch bed<strong>in</strong>gten Besonderheiten,<br />

dem Andersse<strong>in</strong> der Roma, ist auch dann abzulehnen, wenn sie<br />

philoziganistisch geme<strong>in</strong>t ist. Sie kann bei positiver Interpretation<br />

entweder zu e<strong>in</strong>er weitgehenden Akzeptanz der Lage, da deren<br />

Veränderung die positiv empfundenen Besonderheiten dieses<br />

Bevölkerungsteils zerstören könnte, oder zu e<strong>in</strong>er segregativen<br />

Behandlung (z. B. im Schulsystem), die auf die angeblichen<br />

Besonderheiten Rücksicht nimmt, führen. 40 Bei negativer<br />

Interpretation führt die Argumentation mit der Andersartigkeit der<br />

Roma zu Diskrim<strong>in</strong>ierung und Verfolgung und im Extremfall zur<br />

physischen Vernichtung.<br />

Obwohl e<strong>in</strong> Teil der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern durchaus seit langer<br />

Zeit sesshaft war und sich mit Recht als Teil der Gesellschaft ihres<br />

jeweiligen Heimatlandes betrachtet, was sie allerd<strong>in</strong>gs nicht vor<br />

Verfolgung und Ermordung im Holocaust schützte, kann festgestellt<br />

werden, dass die weit überwiegende Mehrheit nicht oder nur<br />

mangelhaft <strong>in</strong> die Wirtschaften und Gesellschaften ihrer<br />

Heimatländer <strong>in</strong>tegriert ist. Die e<strong>in</strong>seitige Erklärung dieses<br />

Zustandes aus charakterlichen, kulturellen oder sonstigen<br />

Besonderheiten der Roma ist nicht schlüssig. Sie verh<strong>in</strong>dert zudem<br />

den Blick auf außerhalb der Roma liegende Ursachen, also auf das<br />

Verhalten der Mehrheitsbevölkerung und auf die Politik. Diese<br />

39 Thurner, E., E<strong>in</strong>e Zeitbombe tickt – EU-Osterweiterung zur Entschärfung des<br />

europäischen Roma-Problems, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 89<br />

40 Mit dieser Aussage soll nicht gegen besondere Fördermaßnahmen für Roma, die<br />

aufgrund ihrer Benachteiligung bis zu deren Behebung notwendig s<strong>in</strong>d, gesprochen<br />

werden. In der südungarischen Staat Pecs gibt es z. B. e<strong>in</strong> Gymnasium für Roma,<br />

durch das der äußerst niedrige Anteil der Roma an der Zahl der Studierenden an den<br />

allgeme<strong>in</strong>en Universitäten des Landes erhöht werden soll. Ca 80 % der Absolventen<br />

des Gandhi-Gymnasiums gehen an Hochschulen oder zur Universität. Diese guten<br />

Erfahrungen haben im Herbst 2004 zur Eröffnung e<strong>in</strong>es Gymnasiums für Roma <strong>in</strong><br />

Zvolen <strong>in</strong> der Slowakei beigetragen.<br />

27


Peter Thelen<br />

externen Faktoren verh<strong>in</strong>derten seit dem Mittelalter die Integration<br />

der Roma. Dass sich aus diesen Erfahrungen bei den Roma<br />

wiederum Schutz- und Abwehrmechanismen entwickeln konnten,<br />

ist nicht verwunderlich. Dieser Umstand weist eher darauf h<strong>in</strong>, dass<br />

sich Verhaltensweisen von Gruppen, die zum Bestand der Kultur<br />

gerechnet werden, durch das Verhalten anderer Gruppen<br />

verändern können, dass Kultur nicht statisch ist, sondern als<br />

Prozess zu sehen ist.<br />

In den häufig anzutreffenden Me<strong>in</strong>ungen über die Roma werden die<br />

Kausalitäten zum<strong>in</strong>dest nicht ausreichend analysiert. Ist z. B. e<strong>in</strong><br />

besonders ausgeprägtes Bedürfnis der Roma nach Freiheit und<br />

Unabhängigkeit der Grund dafür, dass viele Roma über<br />

Jahrhunderte e<strong>in</strong> nomadisches Leben führten, oder ist diese<br />

Lebensweise nicht auch darauf zurückzuführen, dass sie daran<br />

geh<strong>in</strong>dert wurden, sich anzusiedeln und dass sie die Ansiedlung<br />

nicht wie andere Völker mit Waffengewalt erzwungen haben? Ist<br />

e<strong>in</strong>e hohe Rate an Eigentumsdelikten auf e<strong>in</strong> nicht ausgeprägtes<br />

Verhältnis zur Institution des Eigentums <strong>in</strong> der kapitalistischen<br />

Gesellschaft zurückzuführen oder darauf, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er äußerst<br />

schlechten sozialen Situation s<strong>in</strong>d, sodass e<strong>in</strong> Vergleich mit<br />

anderen Bevölkerungsteilen <strong>in</strong> vergleichbaren Umständen, wie<br />

schlechter Ausbildung und extremer Arbeitslosigkeit, zu ähnlichen<br />

Ergebnissen führen würde? Welche Rolle spielen Vorurteile und<br />

welche die verfehlte Politik <strong>in</strong> Vergangenheit und Gegenwart sowie<br />

die Ablehnung durch die Mehrheitsbevölkerung bei der mangelnden<br />

Integration der Roma <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt?<br />

Auf die geistesgeschichtliche Tradition der Zuordnung bestimmter<br />

Eigenschaften aufgrund der Zugehörigkeit zu den Roma weist W.<br />

D. Hund h<strong>in</strong>: “Die Kategorie Zigeuner ist, als sie im Gefolge der<br />

Aufklärung e<strong>in</strong>er am Begriff der Rasse orientierten,<br />

wissenschaftlichen Ethnisierung unterworfen wird, stark sozial<br />

geprägt und signalisiert nicht zuletzt die Verweigerung von<br />

Untertänigkeit und Arbeitsamkeit, zweier Tugenden, auf die im<br />

Verlauf der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft und mit dem<br />

Siegeszug der protestantischen Ethik zusehends Wert gelegt wird.<br />

Die Bedeutungsgeschichte macht sich das Zigeunerstereotyp<br />

doppelt zunutze, <strong>in</strong>dem es den diagnostizierten Müßiggang der<br />

Zigeuner mit den Vorstellungen des Nomaden und der Freiheit<br />

verb<strong>in</strong>det.“ 41<br />

41 Hund, W. D., Romantischer Rassismus. Zur Funktion des Zigeunerstereotyps, <strong>in</strong>:<br />

Hund, W. D. (Hrsg.), Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie, Duisburg,<br />

2000, S. 15f<br />

28


ROMA IN EUROPA<br />

Das Grundproblem ist, dass bei der Verwendung von Stereotypen<br />

verme<strong>in</strong>tliche Gruppencharakteristika auf die Mitglieder der Gruppe<br />

übertragen werden und dass dabei weder die Veränderbarkeit von<br />

Verhaltensweisen noch die Individualität der Gruppenmitglieder<br />

berücksichtigt wird. Die Stereotypen werden daher der Realität nicht<br />

gerecht. Dabei ist es irrelevant, ob die zugeordneten Eigenschaften<br />

als positiv oder negativ empfunden werden. Romantisierung, die<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der Roma ebenfalls häufig vorkommt, und<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung s<strong>in</strong>d nur zwei Seiten derselben Medaille und<br />

entstammen beide dem Antiziganismus. 42<br />

Die Vernachlässigung der Individualität und der Zeitgebundenheit<br />

bei der Def<strong>in</strong>ition der Roma kann aus zwei Quellen kommen. Die<br />

e<strong>in</strong>e ist die biologistische Herangehensweise, die die Roma für e<strong>in</strong>e<br />

genetisch determ<strong>in</strong>ierte Menschengruppe hält. Die andere geht von<br />

den Lebensformen aus, die als abweichend von denen der<br />

Mehrheitsbevölkerung empfunden werden. "Sowohl die<br />

kulturalistische als auch die biologistische Konstruktion laufen<br />

Gefahr, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> rassistisches Zigeunerbild e<strong>in</strong>zumünden". 43 Die<br />

biologistische Konstruktion ist nach dem Stand der<br />

naturwissenschaftlichen Kenntnisse heute nicht mehr vermittelbar.<br />

Der kulturalistische Ansatz sche<strong>in</strong>t dagegen aktueller zu se<strong>in</strong>. Mit<br />

ihm werden die Kulturen "gegene<strong>in</strong>ander gesetzt, die kulturellen<br />

Differenzen für unüberbrückbar und die Kultur der Zigeuner für<br />

untragbar erklärt". 44 Diese Argumentation führt letztlich dazu, dass<br />

den Roma die Schuld an ihrer Diskrim<strong>in</strong>ierung und sozialen<br />

Benachteiligung selbst zugesprochen wird, da sie die Anpassung<br />

an die Mehrheitsbevölkerung verweigert hätten.<br />

Der kulturalistische Ansatz betont die kulturellen Unterschiede<br />

zwischen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung und den Roma und<br />

führt diese Unterschiede alle<strong>in</strong> auf die ethnische Zugehörigkeit<br />

zurück. Dabei werden die Interdependenzen zwischen dem Denken<br />

und Verhalten verschiedener Gruppen vernachlässigt. Die<br />

Wandelbarkeit von Kulturen bleibt unberücksichtigt. Zudem<br />

vernachlässigt diese Denkweise die große Heterogenität der<br />

verschiedenen Roma-Gruppe und die Individualität ihrer Mitglieder.<br />

42 S. a. W<strong>in</strong>ckel, Ä., a.a.O., S. 11<br />

43 Zimmermann, M., a.a.O., S. 117. Zur M<strong>in</strong>derwertigkeit aus Gründen, die im "Blut"<br />

liegen, muss hier nicht e<strong>in</strong>gegangen werden. Zudem gibt es – wenn auch spät –<br />

<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e umfangreiche Literatur, die auch auf den Irrs<strong>in</strong>n der<br />

"rassehygienischen Forschung" e<strong>in</strong>geht.<br />

44 Ebd., S. 117<br />

29


Peter Thelen<br />

Die Kritik an diesen Betrachtungsweisen ist auch dann berechtigt,<br />

wenn die den Roma zugeordneten Eigenschaften und<br />

Verhaltensweisen positiv gewertet werden. In diesen Fällen wird<br />

meistens – wie z. B. bei den so genannten Tsiganologen – die<br />

„Kultur der Freiheit“ als wesentlich für die „zigeunerische<br />

Lebensweise“ betrachtet. 45 Diese Lebensweise entziehe sich den<br />

Kontrollansprüchen sowohl der kapitalistischen als auch der<br />

sozialistischen Systeme. Die Zigeunerkultur sei „tendenziell als<br />

eigenständige Stammeskultur zu begreifen“, die sich <strong>in</strong> der<br />

Dichotomie zwischen Nationalorganisation und<br />

Stammesorganisation auf die „menschliche Seite“ stelle. 46 Diese<br />

Ansätze der „Tsiganologen“ wurden von anderen Wissenschaftlern<br />

und von den Betroffenen heftig kritisiert, so u. a. von Wippermann:<br />

"Ne<strong>in</strong>, die S<strong>in</strong>ti und Roma gehören zu e<strong>in</strong>em Volk und<br />

repräsentieren <strong>in</strong> der Bundesrepublik e<strong>in</strong>e ethnische M<strong>in</strong>derheit. Sie<br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e soziale Formation und können auch nicht samt und<br />

sonders zu den 'sozialen Randgruppen' gezählt werden ..." Die<br />

Ethnisierung von Verhaltensweisen sei auch dann abzulehnen,<br />

wenn sie als Zeichen e<strong>in</strong>er 'oppositionellen Lebensweise'<br />

verherrlicht werde. 47<br />

Auf das rassistische Element positiv bewerteter Vorurteile weist<br />

auch Hund <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Betrag über den <strong>roma</strong>ntischen Rassismus<br />

h<strong>in</strong>: „Die Ambivalenz des Zigeunerstereotyps erlaubt die Variation<br />

e<strong>in</strong>es <strong>roma</strong>ntischen Elements vom Zynismus bis zur Identifikation.<br />

Doch auch die <strong>roma</strong>ntische Identifikation ist im ideologischen<br />

Schwerefeld des Zigeunerstereotyps nur als Rassismus zu<br />

haben.“ 48<br />

Das Fortdauern des Antiziganismus führt zur Perpetuierung der<br />

Probleme, mit denen die Roma konfrontiert s<strong>in</strong>d. Die daraus<br />

resultierende Verhaltensweise der Mehrheitsgesellschaft sowie der<br />

45 S. Gronemeyer, R., Unaufgeräumte H<strong>in</strong>terzimmer. Ordnungsabsichten<br />

sozialistischer Zigeunerpolitik am Beispiel Ungarn, <strong>in</strong>: Münzel, M., Streck, B.(Hrsg.),<br />

Kumpania und Kontrolle. Moderne Beh<strong>in</strong>derungen zigeunerischen Lebens, Giessen<br />

1981, S. 196<br />

46 Vgl. Münzel, M., Zigeuner und Nation, Formen der Verweigerung e<strong>in</strong>er<br />

segmentären Gesellschaft, <strong>in</strong>: Münzel, M., Streck, B., a.a O., S. 21<br />

47 Wippermann, W., a.a.O., S. 201 – S. auch Rose, R., Die neue Generation und die<br />

alte Ideologie, a.a.O., - Hund, W.D., a.a.O., S. 17 – Teichmann spricht <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang von e<strong>in</strong>em kulturellen Rassismus, der den genetischen Rassismus <strong>in</strong><br />

den 70er und 80er Jahren zunehmend überlagerte. Vgl. Rassismus und<br />

Menschenrechte, <strong>in</strong>: www.<strong>roma</strong>ni.uni-graz.at.rombase<br />

48 Hund, W.D., a.a.O., S. 30<br />

30


ROMA IN EUROPA<br />

anderen M<strong>in</strong>derheiten erschwert den Integrationsprozess weiter.<br />

Dies gilt nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt. Selbst bei gleicher<br />

Qualifikation wird e<strong>in</strong> freier Arbeitsplatz eher dem Bewerber, der<br />

nicht Roma ist, angeboten als dem, den man schon äußerlich als<br />

Roma zu erkennen glaubt.<br />

Der Antiziganismus führt auch zu Diskrim<strong>in</strong>ierungen <strong>in</strong> anderen<br />

wichtigen Bereichen, die für die Situation und die<br />

Entwicklungschancen jeder Bevölkerung – und damit auch der<br />

Roma – entscheidend s<strong>in</strong>d. Als e<strong>in</strong> solcher Schlüsselbereich wird<br />

allgeme<strong>in</strong> die Bildung akzeptiert. Auch die Lissabon-Strategie hebt<br />

die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung für die Entwicklung<br />

Europas hervor. Gerade <strong>in</strong> diesem Bereich s<strong>in</strong>d aber wiederum die<br />

Roma besonders benachteiligt. Diese Benachteiligung verlängert<br />

ihre heutige Situation <strong>in</strong> die Zukunft. Obwohl Statistiken – soweit<br />

vorhanden – und wissenschaftliche Untersuchungen die<br />

Benachteiligung der Roma <strong>in</strong> den Bildungssystemen vieler Länder<br />

e<strong>in</strong>drücklich belegen und obwohl die Beschlüsse des Europäischen<br />

Rates von Lissabon den Bildungssystemen e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert<br />

zuschreiben, „besteht die reale Gefahr, dass die Art der EU-<br />

Prioritäten von Lissabon im Bereich der Bildung zusammen mit dem<br />

Fehler, bis heute nicht die rassistische Trennung und andere<br />

Formen der Ausgrenzung aufgrund der ethnischen Herkunft als<br />

e<strong>in</strong>e Bedrohung der Lissaboner Ziele erkannt zu haben, <strong>in</strong><br />

Aktivitäten gipfeln kann, die die Situation der Roma und anderer<br />

Randgruppen der Bildungssysteme <strong>in</strong> Europa verschlechtern. 49<br />

Voraussetzung für e<strong>in</strong>e Strategie zur Verbesserung der<br />

Bildungschancen von Roma ist auch hier die Erkenntnis der<br />

Ursachen. Und e<strong>in</strong>e Ursache ist die antiziganistische motivierte<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma.<br />

Als weiterer Lebensbereich, der für die Überw<strong>in</strong>dung der<br />

Ausgrenzung der Roma von wesentlicher Bedeutung ist, sei hier<br />

das Wohnen erwähnt. Dieser Bereich, der ganz offenkundig auch<br />

von antiziganistischen Verhaltensweisen determ<strong>in</strong>iert wird, ist für<br />

die Integration von großer Bedeutung. „Werden die<br />

Wohnverhältnisse bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad verbessert, kommt<br />

es regelmäßig zu e<strong>in</strong>em Punkt, an dem die Integration zu e<strong>in</strong>em<br />

unumkehrbaren Prozess wird.“ 50<br />

49<br />

Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 21<br />

50<br />

Ebd., S. 30<br />

31


Peter Thelen<br />

Die immer noch existierenden starken Vorurteile gegen Roma s<strong>in</strong>d<br />

auch e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis, politische Programme zur Verbesserung der<br />

Situation der Roma durchzusetzen. Wegen der Unpopularität<br />

derartiger Programme befürchten Politiker häufig, dass sich ihre<br />

Wahlchancen durch Stimmenverluste <strong>in</strong> der Mehrheitsbevölkerung<br />

verr<strong>in</strong>gern. Selbst dort, wo nationale Programme zur Verbesserung<br />

der Lage der Roma beschlossen wurden, bleiben sie häufig ohne<br />

den angestrebten Erfolg, weil ihre Implementierung durch lokale<br />

oder regionale Autoritäten, die entweder selbst Vorurteile gegen<br />

Roma haben oder aber die Reaktion der antiziganistischen<br />

Mehrheit fürchten, verh<strong>in</strong>dert wird.<br />

Die europäische Roma-Bevölkerung unterscheidet sich also von<br />

anderen nationalen oder ethnischen M<strong>in</strong>derheiten dadurch,<br />

- dass sie <strong>in</strong> allen Teilen Europas lebt, wenn auch <strong>in</strong><br />

unterschiedlicher Konzentration,<br />

- dass sie überall mit negativen Vorurteilen konfrontiert ist<br />

und<br />

- dass sie der am meisten benachteiligte Bevölkerungsteil,<br />

also der Teil der mehrheitlich am wenigsten <strong>in</strong> die<br />

Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ihrer Heimatländer<br />

<strong>in</strong>tegriert ist,<br />

ist. Roma haben im Gegensatz zu anderen M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>en<br />

doppelten M<strong>in</strong>derheitenstatus. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ethnische Gruppe und<br />

bilden aufgrund des weiterh<strong>in</strong> starken und wachsenden<br />

Antiziganismus die am meisten benachteiligte Gruppe.<br />

Da der Antiziganismus se<strong>in</strong>e Ursachen nicht bei den Roma hat,<br />

sondern e<strong>in</strong> Problem der Nicht-Roma ist, kann er nur durch e<strong>in</strong>e<br />

Politik bekämpft werden, die bei den Nicht-Roma ansetzt. Es muss<br />

e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> für die historischen Ursachen und die<br />

Auswirkungen des Antiziganismus geschaffen werden. Die<br />

wissenschaftliche Beschäftigung mit den die Roma betreffenden<br />

Themen und ihre schulische und universitäre Behandlung müssen<br />

ebenso gefördert werden wie die Sensibilität für antiziganistische<br />

Vorurteile <strong>in</strong> den Medien. Dazu gehört nicht zuletzt die<br />

Beschäftigung mit dem Völkermord an den Roma, der immer noch<br />

nicht <strong>in</strong> dem Maße Bestandteil des Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />

geworden ist wie der Holocaust an den Juden. Dass die<br />

Bekämpfung des Rassismus Erfolg haben kann, beweist der<br />

zum<strong>in</strong>dest partielle Rückgang des Antisemitismus nach 1945.<br />

32


ROMA IN EUROPA<br />

4. Roma als soziales Problem oder soziale Probleme der<br />

Roma?<br />

Es dürfte aufgrund vieler wissenschaftlicher Untersuchungen und<br />

Berichte <strong>in</strong>ternationaler Organisationen (z. B. der OSZE) und von<br />

NGOs, aber auch aufgrund e<strong>in</strong>facher Beobachtungen, die jeder<br />

machen kann, wenn er Roma-Siedlungen besucht, unbestritten<br />

se<strong>in</strong>, dass diese Bevölkerungsgruppe <strong>in</strong> ihrer überwiegenden<br />

Mehrheit besonders benachteiligt ist.<br />

Der größte Teil der europäischen Roma lebt <strong>in</strong> ehemals<br />

kommunistischen Ländern. Unabhängig davon, ob die Roma e<strong>in</strong>e<br />

nomadische Lebensweise hatten oder als Handwerker (z. B.<br />

Schmiede, Keramiker, Kunsthandwerker) sesshaft waren, waren <strong>in</strong><br />

diesen Ländern ihre traditionellen Tätigkeiten, die meistens<br />

unabhängig und <strong>in</strong>formell ausgeübt wurden, nicht mehr gefragt und<br />

galten als unerwünscht. Sie passten nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zentral gelenkte<br />

Planwirtschaft. Gleichzeitig entstand durch die extensive<br />

Industrialisierung e<strong>in</strong> hoher Bedarf an nicht ausgebildeten<br />

Arbeitskräften. Daher wurden viele Roma <strong>in</strong> den Industriegebieten<br />

angesiedelt und im der Industrie vorgelagerten Hoch- und Tiefbau<br />

sowie <strong>in</strong> der Produktion, und zwar vor allem im schwer<strong>in</strong>dustriellen<br />

Bereich, e<strong>in</strong>gesetzt. So entstanden ghettoartige Großsiedlungen <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>dustriellen Ballungsgebieten. Die Roma wurden also aus dem<br />

<strong>in</strong>formellen Sektor <strong>in</strong> die staatlich gelenkte Wirtschaft transferiert<br />

und proletarisiert. Damit wurden sie abhängig vom Besitz e<strong>in</strong>es<br />

Arbeitsplatzes bzw. von sozialer Unterstützung. - Dieser Prozess<br />

hatte noch e<strong>in</strong>en weiteren erwünschten Effekt. Mit ihm wurden<br />

häufig die großen Familienverbände, <strong>in</strong> denen die Sprache und die<br />

Kultur der Roma tradiert wurden und die ihren Mitgliedern e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Sicherheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Umwelt boten, dadurch<br />

zerschlagen, dass ihre Mitglieder räumlich getrennt angesiedelt<br />

wurden. E<strong>in</strong> Arbeitskollektiv war leichter zu kontrollieren als e<strong>in</strong><br />

Clan mit e<strong>in</strong>er fremden Sprache und e<strong>in</strong>em hohen<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl.<br />

Die wenig erfolgreiche Assimilierungspolitik der meisten<br />

kommunistischen Staaten g<strong>in</strong>g davon aus, dass Roma<br />

ausschließlich als soziale Problemgruppe zu betrachten s<strong>in</strong>d.<br />

Ethnisches Bewusstse<strong>in</strong> galt als falsches Bewusstse<strong>in</strong>, das die<br />

Klassengegensätze überdeckte. Die Klassenzuordnung der Roma<br />

„stand im krassen Gegensatz zur <strong>in</strong> West<strong>europa</strong> praktizierten<br />

kulturalistischen E<strong>in</strong>ordnung der Roma und S<strong>in</strong>ti als ausschließlich<br />

kulturelle M<strong>in</strong>derheit. Auf der e<strong>in</strong>en Seite wurden soziale Faktoren<br />

auf Kosten kultureller überbewertet, auf der anderen Seite kulturelle<br />

33


Peter Thelen<br />

auf Kosten sozialer. In beiden Fällen handelt es sich um<br />

rassistische Konstruktion“ 51<br />

Da gerade die schwer<strong>in</strong>dustriellen Bereiche, <strong>in</strong> denen die Roma<br />

hauptsächlich beschäftigt waren, mit der E<strong>in</strong>führung der<br />

Marktwirtschaft <strong>in</strong> die Krise kamen und da die fehlende<br />

Berufsausbildung der Roma ihre E<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong> die neue<br />

Arbeitswelt verh<strong>in</strong>derte, verschlechterte sich <strong>in</strong> den 90er Jahren die<br />

soziale Lage der Roma. Aufgrund der Ansiedlungspolitik der alten<br />

Regime traten die Probleme zudem <strong>in</strong> starker lokaler oder<br />

regionaler Konzentration auf.<br />

E<strong>in</strong> Teil der Roma lebte schon <strong>in</strong> der kommunistischen Zeit auf dem<br />

Lande, häufig <strong>in</strong> speziellen Siedlungen am Rande der Dörfer. Sie<br />

wurden meistens als Hilfskräfte <strong>in</strong> den Genossenschaften und<br />

Staatsbetrieben e<strong>in</strong>gesetzt oder als Saisonarbeiter zu<br />

Erntee<strong>in</strong>sätzen transportiert. Mit der Umstrukturierung der<br />

Agrarwirtschaft verloren die Roma nach dem Systemwechsel auch<br />

auf dem Lande ihre Beschäftigung. Auch sie hatten kaum<br />

überw<strong>in</strong>dbare Probleme, neue Arbeitsplätze zu f<strong>in</strong>den. Zudem<br />

konnten sie nicht wie andere bei der Auflösung der<br />

Genossenschaften und bei der Rückübereignung des<br />

landwirtschaftlich nutzbaren Bodens Ansprüche aus ehemaligem<br />

Besitz geltend machen, um als selbstständige Landwirte ihren<br />

Lebensunterhalt zu f<strong>in</strong>den.<br />

In e<strong>in</strong>igen Regionen trat e<strong>in</strong> zusätzliches Problem auf. Im Rahmen<br />

der früheren Ansiedlungspolitik wurden den Roma Siedlungen oder<br />

Land, auf dem sie Wohnungen errichten konnten, zugewiesen,<br />

allerd<strong>in</strong>gs ohne dass damit e<strong>in</strong> Eigentumstitel entstanden wäre.<br />

Nach der Rückübereignung an die ehemaligen Besitzer verloren sie<br />

das Recht auf die Wohnungen, deren gutgläubige Inhaber sie<br />

bisher waren. 52 Das Ergebnis - verstärkt durch Arbeitsplatz- und<br />

Wohnungsverlust <strong>in</strong> den Industriezentren - war, dass e<strong>in</strong>e große<br />

Zahl von obdachlosen oder illegal wohnenden Roma entstand.<br />

51 Teichmann, M., a.a.O.<br />

52 Dies ist ke<strong>in</strong>e Ausnahme und nicht auf kommunistische Regime beschränkt. "Wo<br />

immer Roma siedeln, achtet die Bürokratie penibel darauf, dass sich für sie ke<strong>in</strong>e<br />

Ansprüche, weder des Besitzes noch der Nutzung, ergeben. Als die wenigen<br />

burgenländischen Roma, die die Vernichtungslager der Nationalsozialisten<br />

überlebten, 1945 <strong>in</strong> ihre Dörfer zurückkehrten, fanden sie ihre Häuser zerstört oder<br />

von den Geme<strong>in</strong>den für kommunale Zwecke genutzt ... Ke<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen der<br />

österreichischen Roma gelang es, sich wieder <strong>in</strong> den Besitz dessen zu setzen, was<br />

ihm vorher gehört hatte ..." Gauß, K.-M., Die Hundeesser von Sv<strong>in</strong>a, Wien 2004, S.<br />

100f<br />

34


ROMA IN EUROPA<br />

Das Leben ohne e<strong>in</strong>en amtlich registrierten Wohnsitz führt<br />

se<strong>in</strong>erseits wiederum dazu, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt<br />

erschwert wird, dass auch ke<strong>in</strong>e Sozialleistungen beantragt werden<br />

können und dass den K<strong>in</strong>dern der Zugang zu den Schulen verwehrt<br />

wird. – Das Fehlen von Personaldokumenten ist häufig die Folge<br />

des Verhaltens der Behörden. Besonders eklatant war dies bei der<br />

Teilung der CSSR. E<strong>in</strong> Drittel der <strong>in</strong> der neuen Tschechischen<br />

Republik lebenden Roma war – wie oben schon erwähnt – <strong>in</strong> der<br />

kommunistischen Zeit aus dem slowakischen Teil der CSSR <strong>in</strong> den<br />

tschechischen Industriegebieten angesiedelt worden. Aufgrund des<br />

tschechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1993 wurden viele<br />

Roma staatenlos, da die Bürger, deren Eltern im slowakischen Teil<br />

des bisherigen Staates geboren waren, ke<strong>in</strong>en Anspruch auf die<br />

Staatsbürgerschaft erhielten. Diese Roma wurden zu Fremden <strong>in</strong><br />

ihrer Heimat und verloren damit wesentliche Rechte, wie den<br />

Zugang zum Bildungssystem für die K<strong>in</strong>der.<br />

Im kommunistischen System hatten zwar viele Roma Arbeit <strong>in</strong> der<br />

Industrie oder <strong>in</strong> der Landwirtschaft, aber auch hier besetzten sie<br />

meistens nur die niedrigsten Stufen der Hierarchie. Immerh<strong>in</strong> war<br />

e<strong>in</strong> erster Schritt zu sozialer Integration getan. 53 Dazu gehörte auch,<br />

dass trotz weitgehender Segregation und mangelnder<br />

Chancengleichheit im Bildungssystem mehr K<strong>in</strong>der die Schulen<br />

besuchten und e<strong>in</strong>e - wenn auch kle<strong>in</strong>e - Schicht von Intellektuellen<br />

der Roma entstand, worauf unten noch zurückzukommen se<strong>in</strong> wird.<br />

Mit dem Systemwechsel wurden aber auch diese bescheidenen<br />

Ansätze weit gehend zerstört.<br />

Die Roma waren also <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht die ersten und größten<br />

Verlierer des Systemwechsels. Die strukturellen Veränderungen,<br />

die der Systemwechsel verursachte, und die Benachteiligung der<br />

Roma auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ger<strong>in</strong>gerer Ausbildung sowie<br />

aufgrund bestehendem, bzw. wachsendem Antiziganismus führten<br />

zu extrem hohen Arbeitslosenzahlen unter den Roma. So betrug<br />

z. B. im Jahr 2003 die Arbeitslosenquote nach offiziellen Angaben<br />

<strong>in</strong> der Slowakei unter Roma 87,5 % gegenüber 14,2 % <strong>in</strong> der<br />

Gesamtbevölkerung. In anderen Ländern – auch <strong>in</strong> alten EU-<br />

Ländern – sieht es ähnlich aus. 54 In e<strong>in</strong>igen Roma-Siedlungen geht<br />

die Arbeitslosigkeit gegen 100 %.<br />

53 Für Rumänien s. dazu Roth, a.a.O., S. 35<br />

54 Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., 28<br />

35


Peter Thelen<br />

Die Entwicklung nach 1989 verstärkte also die soziale<br />

Marg<strong>in</strong>alisierung der Roma. Ihre Integration <strong>in</strong> das Wirtschaftsleben<br />

der Transitionsländer, die alle mit den Problemen des<br />

Strukturwandels zu kämpfen hatten und haben, war wegen<br />

objektiver Probleme, wie mangelnde schulische und berufliche<br />

Ausbildung, äußerst schwierig. Ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem<br />

engen Arbeitsmarkt litt zusätzlich unter den Vorurteilen der Anbieter<br />

der knappen Arbeitsplätze. Dazu kam, dass mit dem<br />

Systemwechsel auch die bisherigen Strukturen der sozialen<br />

Sicherheit obsolet wurden und neue noch nicht greifen konnten,<br />

bzw. Mechanismen geschaffen wurden, die den Roma den Zugang<br />

zum sozialen System und zur schulischen Bildung erschwerten<br />

oder versperrten. 55<br />

Ladany und Szelenyi beschreiben am Beispiel e<strong>in</strong>es<br />

nordungarischen Dorfes e<strong>in</strong>drucksvoll die Entwicklung der sozialen<br />

Position der Roma über e<strong>in</strong>en Zeitraum von 150 Jahren. 56 Sie<br />

stellen dabei zyklische Bewegungen fest, die zu e<strong>in</strong>em großen Teil<br />

von der Politik determ<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Für die ersten Jahrzehnte des<br />

kommunistischen Systems diagnostizieren sie, dass die Roma –<br />

zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> diesem Dorf – der lower class zugerechnet werden<br />

konnten. Die meisten Männer und viele Frauen hatten e<strong>in</strong>e<br />

dauerhafte Full-Time-Beschäftigung - meistens als ungelernte<br />

Arbeiter <strong>in</strong> der Schwer<strong>in</strong>dustrie – und daher auch soziale Kontakte<br />

zu Nicht-Roma. Seit Mitte der 80er Jahre verschlechterte sich die<br />

Situation. Die Arbeitsplätze g<strong>in</strong>gen verloren und die soziale<br />

Exklusion wurde total. Das Dorf, <strong>in</strong> dem früher auch Nicht-Roma<br />

lebten, entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en Roma-Ghetto, aus dem<br />

selbst die ambitionierteren Roma fortzogen. Aus der lower class<br />

entstand die underclass des Postkommunismus durch geografische<br />

Separation vom Ma<strong>in</strong>stream der Gesellschaft. Dieser Ma<strong>in</strong>stream<br />

sieht die Mitglieder der underclass im Gegensatz zu den Armen der<br />

Allgeme<strong>in</strong>heit als überflüssig, nicht zum Nutzen der Allgeme<strong>in</strong>heit<br />

beitragend und das soziale System nur belastend an. Diese neue<br />

underclass ist durch Hoffnungslosigkeit – auch für die nächste<br />

Generation – gekennzeichnet.<br />

Die katastrophale Lage, <strong>in</strong> der die Roma sich nach dem<br />

Systemwechsel wiederfanden, führte bei der Mehrheit der<br />

Bevölkerung nicht dazu, dass sie sich mit den Ursachen der<br />

55 S. dazu Mihok, B., Soziale Ausgrenzung und Bildungssegregation – Roma <strong>in</strong><br />

Rumänien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, <strong>in</strong>: Ost<strong>europa</strong>, 54. Jg., 2004, Nr. 1<br />

56 Ladany, J., Szelenyi, I., Historical variations <strong>in</strong> <strong>in</strong>ter-ethnic relations: Toward a<br />

social history of Roma <strong>in</strong> Csenyete, 1859 – 2000, <strong>in</strong>: Romani Studies, No. 1, 2003<br />

36


ROMA IN EUROPA<br />

Entwicklung vertraut machten, sondern bestärkte die<br />

antiziganistischen Vorurteile: e<strong>in</strong> circulus vitiosus, der schwer zu<br />

durchbrechen ist.<br />

Natürlich hat der Systemwechsel nicht nur die Roma negativ<br />

betroffen. Auch <strong>in</strong> der Mehrheitsbevölkerung gab es viele Verlierer.<br />

Gerade bei diesen Verlierern fanden <strong>in</strong> der Folge radikale Parolen<br />

Resonanz, was zu e<strong>in</strong>er Stärkung extremer Parteien, die <strong>in</strong> der<br />

Regel ausgesprochen antiziganistisch (und antisemitisch)<br />

e<strong>in</strong>gestellt s<strong>in</strong>d, führte. Es häuften sich rassistisch motivierte<br />

Gewalttaten gegen Roma, Attacken gegen die Wohnungen von<br />

Romani Familien durch die Nachbarn, die ke<strong>in</strong>e Roma <strong>in</strong> ihrer<br />

Wohngegend haben wollen, sowie Gewaltakte von Polizisten gegen<br />

Roma. Die früher herrschende Zuordnung der Roma zu e<strong>in</strong>er<br />

sozialen Randgruppe wurde nun zunehmend durch e<strong>in</strong>en teils<br />

kulturellen, teils biologistischen Rassismus überlagert. 57<br />

Die Komb<strong>in</strong>ation von schlechter sozialer Lage und ger<strong>in</strong>ger<br />

Aussicht auf den Arbeitsmärkten e<strong>in</strong>erseits und die Ablehnung<br />

durch e<strong>in</strong>en großen Teil der Mehrheitsbevölkerung, die bis zu<br />

lebensbedrohenden Angriffen reicht, andererseits hat die<br />

Migrationsbereitschaft der Roma erhöht. 58<br />

Da die Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> ihrer überwiegenden Mehrheit<br />

offensichtlich unter großen sozialen Problemen leidet, bzw. unter<br />

den Benachteiligten die am meisten benachteiligte Gruppe ist,<br />

vertreten e<strong>in</strong>ige Wissenschaftler und Politiker, aber auch e<strong>in</strong>ige<br />

Romavertreter, die Auffassung, dass die Romafrage e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />

soziale Frage ist. E<strong>in</strong>e spezielle Romapolitik ist bei e<strong>in</strong>em solchen<br />

Ansatz nicht notwendig. Die Probleme werden danach <strong>in</strong> dem Maße<br />

gelöst, wie es gel<strong>in</strong>gt, die soziale Lage der Bevölkerung <strong>in</strong>sgesamt<br />

zu verbessern.<br />

Richtig daran ist, dass Menschen, die <strong>in</strong> absoluter Armut leben, die<br />

ihre vitalen Grundbedürfnisse an Ernährung, Unterkunft oder<br />

sanitärer Versorgung nicht annähernd befriedigen können, kaum <strong>in</strong><br />

der Lage s<strong>in</strong>d, sich für die Verwirklichung anderer Grundrechte<br />

57 Vgl. Teichmann, M., a.a.O.,<br />

58 Auf die Reaktion der E<strong>in</strong>wanderungsländer soll hier nicht näher e<strong>in</strong>gegangen<br />

werden. Vgl. dazu Pluim, M ., Current Roma Migration from the EU Candidate States:<br />

The Scope and Features of Recent Roma Movements, the Effects on the EU<br />

Candidate States and the Reaction of the Host Countries, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O.,<br />

S. 60ff<br />

37


Peter Thelen<br />

e<strong>in</strong>zusetzen. E<strong>in</strong>e Mutter, die ihre K<strong>in</strong>der nicht ausreichend<br />

ernähren und mediz<strong>in</strong>isch versorgen kann, ist an deren Ausbildung<br />

allenfalls sekundär <strong>in</strong>teressiert. Von ihr kann auch kaum erwartet<br />

werden, dass sie sich auf der politischen Ebene am<br />

Willensbildungsprozess beteiligt.<br />

Trotzdem ist der Ansatz, die Situation der Roma ausschließlich als<br />

soziales Problem zu def<strong>in</strong>ieren, nicht ausreichend. Er<br />

vernachlässigt die besonderen Umstände, die die Lage der Roma<br />

zum<strong>in</strong>dest mitverursachen, nämlich die spezielle Diskrim<strong>in</strong>ation<br />

aufgrund antiziganistischer Vorurteile. Bei der sozialen Marg<strong>in</strong>alität<br />

der Roma "handelt es sich um e<strong>in</strong>e Marg<strong>in</strong>alität, als e<strong>in</strong>en<br />

objektiven, gegebenen Zustand, der auf e<strong>in</strong>e lange soziale<br />

Entwicklung <strong>in</strong> der Geschichte zurückgeht. Die soziale<br />

Marg<strong>in</strong>alisierung ist Absicht und hat ihren Ursprung <strong>in</strong><br />

nationalistischen (vorwiegend rassistischen) Vorurteilen". 59<br />

Die Diskussion über die E<strong>in</strong>ordnung e<strong>in</strong>er auf die Roma<br />

ausgerichteten Politik spiegelt die Diskussion um die oben erwähnte<br />

Def<strong>in</strong>ition dessen, was die Roma darstellen, wider. Der angesichts<br />

der sozialen Probleme naheliegende Schluss, dass Romapolitik Teil<br />

der allgeme<strong>in</strong>en Sozialpolitik ist, hat zum<strong>in</strong>dest den positiven Effekt,<br />

dass "l<strong>in</strong>ke" Wissenschaftler und Politiker, denen der soziale<br />

Ausgleich e<strong>in</strong>e Grundmotivation ist, angeregt werden, sich mit den<br />

Problemen der Roma zu beschäftigen. Dies geschieht auch.<br />

Die Def<strong>in</strong>ition der Romapolitik berührt aber noch e<strong>in</strong>e andere Ebene<br />

der Diskussion: Besonders liberal orientierte Theoretiker und<br />

Politiker scheuen sich davor, bestimmte Probleme als Probleme<br />

e<strong>in</strong>er Gruppe, vor allem wenn sie sich ethnisch oder national<br />

def<strong>in</strong>iert, zu akzeptieren, weil es <strong>in</strong> diesem Fall naheliegend ist,<br />

dieser Gruppe über die <strong>in</strong>dividuellen Rechte h<strong>in</strong>aus kollektive<br />

Rechte zuzubilligen. Danach s<strong>in</strong>d kollektive Rechte Sonderrechte,<br />

die nicht <strong>in</strong> das demokratische System passen. Sie weisen zudem<br />

auf die Gefahr h<strong>in</strong>, dass die Wahrnehmung solcher Rechte auch<br />

negative Effekte haben kann, da bestehende Aversionen gegen<br />

diese Gruppe auf gefährliche Weise verstärkt werden können.<br />

Diese Argumentation er<strong>in</strong>nert an bei Antisemiten bekannte<br />

Argumentationsmuster, die letztendlich darauf h<strong>in</strong>auslaufen, dass<br />

die Opfer die eigentlich Schuldigen s<strong>in</strong>d.<br />

59 Roth, A., a.a.O., S. 9<br />

38


ROMA IN EUROPA<br />

Wer die Probleme der Roma als re<strong>in</strong>e soziale Probleme sieht, der<br />

neigt auch dazu, die Roma als soziale (Rand-)Gruppe zu def<strong>in</strong>ieren.<br />

In der wissenschaftlichen Literatur wird zur Beschreibung der<br />

Position der Roma vor allem <strong>in</strong> der postkommunistischen<br />

Gesellschaft der Begriff underclass verwendet. Dieser von Gunnar<br />

Myrdal geprägte Begriff ist dann problematisch, wenn er zur<br />

Kennzeichnung e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe gebraucht wird. In diesem<br />

Fall kann er kritisiert werden „for blam<strong>in</strong>g the victims and be<strong>in</strong>g part<br />

oft the neo-conservative attack on the welfare state“. 60 – Stewart<br />

weist zudem auf die Unschärfe und die negativen Konnotationen<br />

des Term<strong>in</strong>us underclass, der auch im allgeme<strong>in</strong>en<br />

Sprachgebrauch verwendet wird, h<strong>in</strong>. Durch se<strong>in</strong>en Gebrauch<br />

würden die Unterschiede der diese Gruppe angehörenden<br />

Personen zur übrigen Bevölkerung überbetont und die<br />

Möglichkeiten von Veränderungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es<br />

gesellschaftlichen Systems vernachlässigt. Er macht auf die Gefahr<br />

des politischen Missbrauchs aufmerksam, wenn der Begriff<br />

underclass mit Wertungen, wie asozial, nicht anpassungsfähig,<br />

geme<strong>in</strong>schaftsfremd oder staatsschädigend verbunden wird. 61<br />

Wegen der Möglichkeit von Missverständnissen und politischen<br />

Missbrauch sollte der Begriff underclass zum<strong>in</strong>dest im politischen<br />

Sprachgebrauch zur Bezeichnung von Roma vermieden werden.<br />

Zur Bezeichnung der Position der Roma <strong>in</strong> der Gesellschaft eignet<br />

sich soziale Ausgrenzung besser, da damit leichter e<strong>in</strong> Prozess zu<br />

begreifen ist, der auch das Ergebnis von Verhaltensweisen der<br />

Nicht-Roma sowie des politischen Handelns ist. Viele Roma lehnen<br />

daher die E<strong>in</strong>ordnung der Roma als underclass aber auch als<br />

Randgruppe als diskrim<strong>in</strong>ierend ab. Deshalb lehnen die meisten<br />

<strong>in</strong>tellektuellen Sprecher der Roma diese Sichtweise<br />

diskrim<strong>in</strong>atorisch ab. Zudem befürchten sie, dass angesichts der<br />

Qualität und Quantität der Probleme e<strong>in</strong>erseits und der wegen der<br />

Strukturkrise besonders begrenzten f<strong>in</strong>anziellen Resourcen<br />

andererseits nur wenig zur Veränderung der Lage geschieht. 62<br />

60 Ladany, J., Szelenyi, I., Historical variations <strong>in</strong> <strong>in</strong>ter-ethnic relations, a.a.O., S.9 –<br />

Die beiden Autoren, die den Begriff für ihren historischen Vergleich heranziehen, trifft<br />

diese Kritik nicht. „Hence, we use the term ‚underclass’ not to label Gypsies as such.<br />

The notion of underclass describes the Roma condition under very specific historical<br />

conditions and it does not characterize all Roma, but captures only the experiences of<br />

Roma ghetto poor“. S. 12<br />

61 Stewart, M., ‚Underclass’ oder soziale Ausgrenzung? Der Fall der Roma, <strong>in</strong>: Hann,<br />

C. (Hrsg.), Postsozialismus – Transformationsprozesse <strong>in</strong> Europa und Asien aus<br />

ethnologischer Perspektive, Frankfurt, New York, 2002, S. 210f<br />

62 So Mirga, A., Gheorghe, N., The Roma <strong>in</strong> the twenty-first century: a policy, <strong>in</strong>:<br />

Project on Ethnic Relations, Pr<strong>in</strong>ceton, New Jersey, 1997, S. 12f<br />

39


Peter Thelen<br />

Diese Vertreter der Roma fordern e<strong>in</strong>en politischen Ansatz, der von<br />

e<strong>in</strong>em anerkannten Status der Roma ausgeht und der ihnen<br />

Partizipation <strong>in</strong> den Entscheidungsprozessen ermöglicht.<br />

5. Die Statusfrage<br />

Bis <strong>in</strong> die jüngste Vergangenheit blieben die Roma <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> fast<br />

allen Ländern – unabhängig vom politischen System – von der<br />

Anerkennung als ethnische M<strong>in</strong>derheit ausgeschlossen. Auch dort,<br />

wo sie e<strong>in</strong>e Anerkennung als ethnische Gruppe erlangten, waren<br />

sie gegenüber anderen M<strong>in</strong>derheiten benachteiligt. 63<br />

Die Quantität und Qualität der Probleme, mit denen sich die Roma<br />

konfrontiert sehen, trat erst mit dem Systemwechsel <strong>in</strong> den<br />

mitteleuropäischen Ländern und der sich daraus ergebenden<br />

Perspektive der Osterweiterung der EU <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der<br />

politischen Akteure <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>. Dabei mag die Furcht vor<br />

weiterer oder verstärkter Zuwanderung e<strong>in</strong> Grund, vielleicht der<br />

wichtigste Grund, gewesen se<strong>in</strong>. Gleichzeitig begann sich e<strong>in</strong>e<br />

neue Elite der Roma auf nationaler und europäischer Ebene zu<br />

artikulieren, um die bisherige Perzeption der Roma und der sie<br />

betreffenden Politik <strong>in</strong> die Richtung e<strong>in</strong>es anerkannten und<br />

verb<strong>in</strong>dlichen Status zu verändern.<br />

Der erste Ansatzpunkt zum Schutz der Interessen von M<strong>in</strong>derheiten<br />

ist die e<strong>in</strong>zelstaatliche Ebene. Hier ist noch e<strong>in</strong>mal auf die schon<br />

erwähnte Besonderheit der Roma zurückzukommen. Nationale<br />

M<strong>in</strong>derheiten entstanden häufig durch Grenzverschiebungen <strong>in</strong>folge<br />

von Kriegen. Dies ist der Grund, warum autochthone M<strong>in</strong>derheiten<br />

häufig konzentriert <strong>in</strong> Grenzregionen leben. E<strong>in</strong>e andere Ursache<br />

für das Entstehen von nationalen M<strong>in</strong>derheiten waren massive,<br />

meist wirtschaftlich motivierte Auswanderungsbewegungen, die<br />

z. B. typisch für das Entstehen der deutschen M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong><br />

Mittel- und Ost<strong>europa</strong> waren. Dazu können auch die<br />

Arbeitsmigrationen gezählt werden, die <strong>in</strong> der zweiten Hälfte des<br />

letzten Jahrhunderts <strong>in</strong> den westlichen Industrieländern zum<br />

Entstehen von neuen, als solche meist nicht anerkannten<br />

nationalen M<strong>in</strong>derheiten führten. Die Schaffung von Nationalstaaten<br />

auf dem Balkan nach dem Untergang des osmanischen Imperiums<br />

führte hier zum Entstehen von M<strong>in</strong>derheiten, von denen zum<strong>in</strong>dest<br />

63 S. dazu Thurner, E., a.a.O., S. 85ff<br />

40


ROMA IN EUROPA<br />

e<strong>in</strong> großer Teil sich dem Volk (und der Religion) e<strong>in</strong>es<br />

Nachbarstaates zugehörig fühlte.<br />

In den meisten Fällen gibt es also für die M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong><br />

"Mutterland", das sich für se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit mehr oder weniger<br />

verantwortlich fühlt. Dabei geht es nicht mehr wie häufig <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit, um den machtpolitischen Missbrauch dieser<br />

M<strong>in</strong>derheiten oder um die Verwirklichung irredentistischer Ziele.<br />

Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>nerhalb der EU, <strong>in</strong> der die Bedeutung von Grenzen<br />

sukzessive abnimmt, wird dies ke<strong>in</strong>er mehr ernsthaft unterstellen.<br />

Wenn man von der Situation auf dem Balkan sowie von extremen<br />

nationalistischen Kräften absieht, geht es vielmehr um die Pflege<br />

der Sprache und Kultur der M<strong>in</strong>derheiten. Aus diesem Grunde<br />

wurden vielfach bilaterale Verträge zwischen dem Mutterland und<br />

dem Wohnland abgeschlossen, <strong>in</strong> denen die sprachlichen und<br />

kulturellen Rechte garantiert sowie die Förderung der M<strong>in</strong>derheiten<br />

auf diesen Feldern durch das Mutterland ermöglicht wurden, wie<br />

z. B. im deutsch-ungarischen Kulturabkommen, das noch vor der<br />

politischen Wende abgeschlossen werden konnte.<br />

Für die M<strong>in</strong>derheit der Roma besteht diese Möglichkeit nicht. Ihr<br />

fehlt das Mutterland, das sich für sie mitverantwortlich fühlt, wenn<br />

man von e<strong>in</strong>igen Ansätzen Indiens unter Indira Gandhi absieht. Aus<br />

diesem Grund wird häufig – wie im ungarischen M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />

von 1993 – zwischen nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />

unterschieden, wobei <strong>in</strong> dieser Term<strong>in</strong>ologie nationale M<strong>in</strong>derheiten<br />

e<strong>in</strong>en Bezug zu e<strong>in</strong>em Mutterland, der den ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />

fehlt, haben. Diese Unterscheidung führt allerd<strong>in</strong>gs nicht zur<br />

Gewährung unterschiedlicher Rechte. So garantiert das erwähnte<br />

ungarische Gesetz den Roma die gleichen Rechte wie den anderen<br />

M<strong>in</strong>derheiten. De facto fehlt den Roma aber e<strong>in</strong> Staat als Anwalt,<br />

der bei Verletzungen ihrer Rechte ihre Interessen vertritt.<br />

Wegen des Fehlens e<strong>in</strong>es Staates, der sich bilateral für die<br />

Interessen der Roma e<strong>in</strong>setzt, ist für sie die europäische und<br />

<strong>in</strong>ternationale Ebene besonders wichtig. Es ist nicht verwunderlich,<br />

dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Bedeutung der<br />

Roma erst mit der Eröffnung der Perspektive der Osterweiterung<br />

der EU <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> der europäischen Politik gerückt ist. Die<br />

schwierige Situation, <strong>in</strong> der sich die große M<strong>in</strong>derheit der Roma <strong>in</strong><br />

den Transitionsländern befand, kam <strong>in</strong>s Bild. Sie wurde als Gefahr<br />

für die soziale Kohäsion dieser Länder erkannt. Der Import dieser<br />

Instabilität <strong>in</strong> die EU durch den Beitritt dieser Länder sollte<br />

verh<strong>in</strong>dert werden.<br />

41


Peter Thelen<br />

Die Vorstufe zu e<strong>in</strong>er europäischen Roma-Politik kann auf das Jahr<br />

1993 datiert werden. In diesem Jahr nahm die Parlamentarische<br />

Versammlung des Europarates die Empfehlung 1203 über die<br />

Roma <strong>in</strong> Europa, die auf dem Bericht von Joseph<strong>in</strong>e Verspaget<br />

basierte, an. In der Empfehlung wurden die Roma als "true<br />

European m<strong>in</strong>ority" anerkannt. Es wurde festgehalten, dass sie alle<br />

Rechte von M<strong>in</strong>derheiten beanspruchen können und dass sie<br />

darüber h<strong>in</strong>aus als "non-territorial m<strong>in</strong>ority <strong>in</strong> Europe Gypsies need<br />

special protection". - Nach e<strong>in</strong>em weiteren Verspaget-Report im<br />

Jahre 1995 richtete der Europarat e<strong>in</strong>e Arbeitsgruppe für Roma-<br />

Fragen (Specialist Group on Roma/Gypsies) e<strong>in</strong>. Diese Gruppe, die<br />

seit 2003 von dem polnischen Roma Andrzej Mirga geleitet wird<br />

und heute Group of Specialists on Roma, Gypsies and Travellers<br />

genannt wird, soll als Katalysator und Koord<strong>in</strong>ator <strong>in</strong> allen die Roma<br />

betreffenden Fragen dienen. Sie beschäftigt sich <strong>in</strong> Studien,<br />

Empfehlungen, Konferenzen und Sem<strong>in</strong>aren auch mit dem legalen<br />

Status der Roma und hat e<strong>in</strong>e Reihe von Empfehlungen des<br />

M<strong>in</strong>isterrates angeregt.<br />

Ebenfalls im Jahre 1993 legte der Hohe Kommissar für Nationale<br />

M<strong>in</strong>derheiten der OSZE, van der Stoel, se<strong>in</strong>en ersten Bericht über<br />

die Roma <strong>in</strong> den OSZE-Ländern vor, wobei er schwergewichtig die<br />

Situation <strong>in</strong> den Transitionsländern behandelte. Auch auf diesen<br />

Report folgten organisatorische Neuerungen. Im Rahmen des<br />

<strong>Office</strong> of Democratic Institutions and Human Rights wurde der<br />

Contact Po<strong>in</strong>t for Roma and S<strong>in</strong>ti Issues (ODIHR/CPRSI) <strong>in</strong><br />

Warschau e<strong>in</strong>gerichtet. Se<strong>in</strong>e Aufgabe ist es "to promote full<br />

<strong>in</strong>tegration of Roma and S<strong>in</strong>ti communities <strong>in</strong>to the societies they<br />

live <strong>in</strong>, while preserv<strong>in</strong>g their identity". 64 Die Leitung hat der aus<br />

Rumänien stammende Roma Nicolae Gheorghe.<br />

Die genannten Organisationen haben seit ihrem Bestehen durch<br />

Berichte, Beratung und Projektarbeit vieles leisten können. Im<br />

Bericht des Europarates zur rechtlichen Situation der Roma <strong>in</strong><br />

Europa hält Csaba Tabajdi im Jahre 2002 fest: " From a legal po<strong>in</strong>t<br />

of view, Roma were not treated as an ethnic or national m<strong>in</strong>ority <strong>in</strong><br />

most of the European countries <strong>in</strong> 1993. By now, this problem has<br />

been solved <strong>in</strong> many of the member states. Despite the positive<br />

trend, there are still hesitat<strong>in</strong>g countries which makes it necessary<br />

to underl<strong>in</strong>e aga<strong>in</strong> that the Roma must be recognized legally as an<br />

64 OSCE M<strong>in</strong>isterial Decision, Oslo, 1998 (s.ODIHR/CPRSI web site)<br />

42


ROMA IN EUROPA<br />

ethnic or national m<strong>in</strong>ority all over Europe." 65 Im Tabajdi-Report wird<br />

gefordert, dass die Situation der Roma weiter zu verbessern ist,<br />

<strong>in</strong>sbesondere durch ihre vollständige Anerkennung als ethnische<br />

oder nationale M<strong>in</strong>derheit und ihrer "<strong>in</strong>dividual and community<br />

rights". Auch drei Jahre später, also im Jahr 2005, gibt es noch EU-<br />

Mitgliedsstaaten und Beitrittsländer, die die Roma immer noch nicht<br />

als ethnische oder nationale M<strong>in</strong>derheit anerkennen.<br />

Durch e<strong>in</strong>e Anerkennung als nationale M<strong>in</strong>derheit fallen die Roma<br />

unter das Rahmenabkommen zum Schutz der nationalen<br />

M<strong>in</strong>derheiten, das 1995 vom Europarat verabschiedet wurde und<br />

das das erste rechtsverb<strong>in</strong>dliche Instrument zum<br />

M<strong>in</strong>derheitenschutz auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene ist. Diese<br />

Anerkennung war allerd<strong>in</strong>gs – u. a. wegen e<strong>in</strong>es fehlenden<br />

Mutterlandes - umstritten und blieb offen, zumal e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung über<br />

die Def<strong>in</strong>ition des Begriffs "nationale M<strong>in</strong>derheit" nicht gelungen<br />

war.<br />

Die fehlende Def<strong>in</strong>ition und die Erklärungen der Staaten, die das<br />

Rahmenabkommen ratifiziert haben, schließt allerd<strong>in</strong>gs die Roma<br />

von der Anwendung des Abkommens auf sie nicht aus. 66 So<br />

erkennt die Bundesrepublik Deutschland nur die autochthonen<br />

M<strong>in</strong>derheiten an. Nach ihrer Erklärung anlässlich der<br />

Verabschiedung des Abkommens vom 11.5.1995 f<strong>in</strong>det das<br />

Rahmenabkommen zum Schutz Nationaler M<strong>in</strong>derheiten nur<br />

Anwendung auf die nationalen M<strong>in</strong>derheiten der Dänen und der<br />

Sorben sowie auf die traditionell <strong>in</strong> Deutschland lebenden<br />

"ethnischen Gruppen" der Friesen und der S<strong>in</strong>ti und Roma, soweit<br />

sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Roma ohne diese<br />

Staatsangehörigkeit genießen daher nicht den M<strong>in</strong>derheitenschutz<br />

<strong>in</strong> Deutschland. Das Problem der Anerkennung als M<strong>in</strong>derheit ist für<br />

die Roma allerd<strong>in</strong>gs auch <strong>in</strong> anderen Ländern nicht gelöst. Dazu<br />

gehören Frankreich, das ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit auf se<strong>in</strong>em Territorium<br />

anerkennt, Griechenland, die Niederlande, die Slowakei und<br />

Irland. 67<br />

De facto werden die Roma aber auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene als<br />

M<strong>in</strong>derheit akzeptiert, was besonders durch die Existenz und die<br />

Aktivitäten des Europarates und se<strong>in</strong>er Group of Roma, Gypsies<br />

and Travellers und der OSZE mit ihrem Contact Po<strong>in</strong>t zum<br />

65<br />

Report: Legal situation of the Roma <strong>in</strong> Europe, Stand: 19.4.2002, Rapporteur:<br />

Csaba Tabajdi<br />

66<br />

Klopcic, V., The legal Status of the Roma, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.o., S. 73<br />

67<br />

Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 44<br />

43


Peter Thelen<br />

Ausdruck kommt. Damit f<strong>in</strong>den auch die kollektiven Rechte der<br />

Roma Anerkennung. Schon <strong>in</strong> der Empfehlung 1203 des<br />

Europarates wird auf den "respect for the rights of Gypsies,<br />

<strong>in</strong>dividual, fundamental and human rights and their rights as a<br />

m<strong>in</strong>ority" h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

6. M<strong>in</strong>derheit oder Nation<br />

Die Anerkennung der Roma als nationale M<strong>in</strong>derheit entsprechend<br />

dem Rahmenabkommen zum Schutz der nationalen M<strong>in</strong>derheiten<br />

hat vor allem auf nationalstaatlicher Ebene Bedeutung. Die<br />

Pr<strong>in</strong>zipien und Verpflichtungen des Rahmenabkommens sollen<br />

durch die nationalen Gesetzgebungen und die Politik der<br />

Regierungen implementiert werden.<br />

Die Diskussion über die Anerkennung der Roma bzw. über die<br />

Frage, was die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft ist und was daraus folgt, ist<br />

<strong>in</strong>zwischen zum<strong>in</strong>dest unter den Repräsentanten und Intellektuellen<br />

der Roma fortgeschritten. Die Suche nach der Selbstdef<strong>in</strong>ition der<br />

Roma kreuzte sich <strong>in</strong> den 90er Jahren mit den Bemühungen auf<br />

europäischer Ebene, den Schutz der M<strong>in</strong>derheiten zu garantieren.<br />

Damit ist geme<strong>in</strong>t, dass die Roma-<strong>in</strong>terne Diskussion nicht von<br />

außen <strong>in</strong>duziert wurde, dass sie vielmehr älter ist und sich <strong>in</strong>haltlich<br />

entwickelt hat, auch wenn dies ke<strong>in</strong> die Mehrheit der Roma-<br />

Bevölkerung e<strong>in</strong>schließender Prozess war.<br />

Das R<strong>in</strong>gen um die Selbstdef<strong>in</strong>ition der Roma ist häufig Anlass oder<br />

Ergebnis von Versuchen, die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft zu organisieren,<br />

gewesen. Die ersten Ansätze solcher Organisationen fanden zu<br />

Beg<strong>in</strong>n des vergangenen Jahrhunderts auf dem Balkan statt. Schon<br />

bei diesen frühen Versuchen g<strong>in</strong>g es um politische Rechte. Dass<br />

dies zuerst auf dem Balkan geschah, liegt wohl daran, dass die<br />

Roma im Osmanischen Reich e<strong>in</strong>ige Bürgerrechte besaßen, die<br />

ihnen <strong>in</strong> anderen Regionen verwehrt wurden. Im<br />

Entstehungsprozess der neuen Nationalstaaten auf dem Balkan<br />

wollten sie nicht ihre bisherige Stellung verlieren. Sie begannen,<br />

sich zu organisieren, und forderten ihre Rechte e<strong>in</strong>, wie z. B. auf<br />

dem Kongress <strong>in</strong> Sofia im Jahre 1905, dem Proteste gegen die<br />

Verweigerung des Wahlrechtes folgten. 68<br />

68 S. Marushiakova, E., Popov, V., The Roma – a Nation Without a State? Historical<br />

Backgrounds and Contemporary Tendencies, <strong>in</strong>: Mitteilungen des SFB „Differenz und<br />

Integration“, Orientwissenschaftliche Hefte, Nr. 14, 2004<br />

44


ROMA IN EUROPA<br />

In den 20er und 30er Jahren nahm die Organisationsdichte auf dem<br />

Balkan - <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bulgarien und Rumänien - deutlich zu.<br />

Auch <strong>in</strong> anderen Ländern, wie <strong>in</strong> Polen, gab es organisatorische<br />

Aktivitäten. Der 2. Weltkrieg und der nationalsozialistische<br />

Vernichtungsfeldzug gegen die Roma unterbrachen diese<br />

Entwicklung.<br />

Nach Ende des Krieges konnten die Bemühungen um die<br />

Organisation der Roma wieder aufgenommen werden. E<strong>in</strong> zentrales<br />

Ziel war dabei das Engagement gegen den Rassismus und für die<br />

Anerkennung und Entschädigung der durch die Nationalsozialisten<br />

verfolgten und ermordeten Roma. E<strong>in</strong>e wichtige Initiative g<strong>in</strong>g dabei<br />

<strong>in</strong> Deutschland von Mitgliedern der Familie Rose, die selbst viele<br />

Opfer zu beklagen hatte, aus. Oskar und V<strong>in</strong>zenz Rose gründeten<br />

1956 den Verband der Verfolgten nicht jüdischen Glaubens, aus<br />

dem später der Verband deutscher S<strong>in</strong>ti hervorg<strong>in</strong>g, der 1982 mit<br />

se<strong>in</strong>en regionalen Organisationen zum Zentralrat Deutscher S<strong>in</strong>ti<br />

und Roma umgebildet wurde. Nach dem Systemwechsel <strong>in</strong> den<br />

früheren kommunistischen Ländern nahm die Zahl der Roma-<br />

Organisationen noch e<strong>in</strong>mal erheblich zu. In e<strong>in</strong>igen Ländern (z. B.<br />

Makedonien) entstanden auch politische Parteien der Roma, denen<br />

es gelang, zum<strong>in</strong>dest mit e<strong>in</strong>em Abgeordneten <strong>in</strong>s Parlament zu<br />

kommen.<br />

Auch auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene brachten die Bemühungen, Roma-<br />

Organisationen zu bilden, Fortschritte. Die beiden wichtigsten<br />

Organisationen, die e<strong>in</strong>e Reihe <strong>in</strong>ternationaler Kongresse<br />

durchgeführt haben, s<strong>in</strong>d die International Romani Union (IRU), die<br />

seit Oktober 2004 von e<strong>in</strong>em Präsidenten aus Polen und e<strong>in</strong>em<br />

Generalsekretär aus Makedonien geführt wird, und der Roma<br />

National Congress (RNC) mit Sitz <strong>in</strong> Hamburg. 69<br />

Häufig werden Roma-Organisationen von außen deshalb nicht<br />

ernst genommen, weil ihre Zahl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern sehr groß ist,<br />

weil sie unterschiedliche Positionen und Interessen vertreten und<br />

weil sie untere<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konkurrenzverhältnis stehen. Dass<br />

dies so ist, ist nicht gerade verwunderlich. Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den von der<br />

69 Zur Entstehung der Roma-Organisationen auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene vgl. Liegeois,<br />

J.-P., a.a.O., S. 312ff, - Djuric, R., a.a.O., S. 25ff – Hancock, I., We are the Romani<br />

people, Hatfield, 2003, S. 120ff - Zur Geschichte der IRU s.a. Marushiakova, E.,<br />

Popov, V., The Roma – a Nation Without a State?, a.a.O., - Zur Struktur, politischen<br />

Orientierung und Aktivitäten der IRU auf UN-Ebene s. Klimova-Alexander, I., The<br />

Romani Voice <strong>in</strong> World Politics – The United Nations and Non-State Actors, Hants,<br />

Burl<strong>in</strong>gton, 2005<br />

45


Peter Thelen<br />

Tradition geprägten Roma-Geme<strong>in</strong>schaften gilt – wie <strong>in</strong> vielen<br />

anderen traditionellen Gesellschaften - die Hauptloyalität der (Groß-<br />

)Familie. Dies und die räumliche Dispersion der Roma mit der<br />

Bildung e<strong>in</strong>er großen Zahl von Untergruppen im Laufe der<br />

Geschichte haben lange das Entstehen von Interessen<br />

vertretenden Organisationen verh<strong>in</strong>dert und erschweren noch heute<br />

die Schaffung von großen Verbänden mit Willensbildung auf der<br />

Basis des Mehrheitspr<strong>in</strong>zips. Dazu kam zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den ehemals<br />

kommunistischen Ländern, <strong>in</strong> denen freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung und<br />

unabhängige Organisationen kaum möglich waren, e<strong>in</strong><br />

Nachholbedarf, die neuen Me<strong>in</strong>ungs- und Assoziationsfreiheiten zu<br />

gebrauchen. Dies war <strong>in</strong> den Mehrheitsgesellschaften dieser<br />

Länder nicht anders. So explodierten z. B. die Zahlen der Parteien<br />

nach Jahrzehnten der E<strong>in</strong>parteienherrschaft nach dem<br />

Systemwechsel <strong>in</strong> vielen Ländern. Ebenso wie hier im Laufe der<br />

Zeit e<strong>in</strong>e Reduktion e<strong>in</strong>trat, ist damit zu rechnen, dass auch die Zahl<br />

der Roma-Organisationen wieder abnimmt und die effektivsten<br />

übrig bleiben.<br />

Für viele Nicht-Roma wäre es e<strong>in</strong>facher, wenn es jeweils nur e<strong>in</strong>e<br />

Roma-Organisation gäbe, wenn die Roma also mit e<strong>in</strong>er Stimme<br />

sprechen würden. Diese Vorstellung ist allerd<strong>in</strong>gs sowohl<br />

wirklichkeitsfremd als auch beunruhigend. Auch <strong>in</strong> den<br />

Mehrheitsgesellschaften gibt es aufgrund unterschiedlicher<br />

Interessen und weltanschaulicher Prägungen verschiedene<br />

Verbände und Parteien. Gerade diese Vielfalt gehört zum Wesen<br />

der Demokratie.<br />

Zum<strong>in</strong>dest die wichtigsten der existierenden Roma-Organisationen<br />

haben e<strong>in</strong>s geme<strong>in</strong>sam, nämlich dass sie die Interessen der Roma<br />

gegenüber der Mehrheit, die ihren kulturellen H<strong>in</strong>tergrund, ihre<br />

Strukturen und ihre Probleme kaum kennt, vertreten wollen. Bei der<br />

Frage der Interessenvertretung tauchte im Prozess der<br />

Organisationsentwicklung und der Programmformulierung die Frage<br />

auf, was die Roma-Geme<strong>in</strong>schaft ist, deren Interessen vertreten<br />

werden sollen. Es gab und gibt e<strong>in</strong>e Reihe möglicher Antworten:<br />

Die Roma s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ethnische oder nationale M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> jedem<br />

Land, e<strong>in</strong>e transnationale M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa und/oder e<strong>in</strong>e<br />

Nation.<br />

Die Def<strong>in</strong>ition ist deshalb wichtig, weil aus ihr politische<br />

Folgerungen gezogen werden können. So hatte z. B. der Zentralrat<br />

Deutscher S<strong>in</strong>ti und Roma Vorbehalte gegenüber dem nationalen<br />

Ansatz und der Transnationalität. Solche Def<strong>in</strong>itionen könnten den<br />

<strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Staaten erreichten Status <strong>in</strong>frage stellen. Andere<br />

46


ROMA IN EUROPA<br />

befürchten, dass die Propagierung der Roma-Nation auf der e<strong>in</strong>en<br />

Seite zu e<strong>in</strong>em radikalen Nationalismus der Roma und auf der<br />

anderen Seite zur Verstärkung des Antiziganismus führen könnte,<br />

was zu dauerhaften gewaltsam ausgetragenen Konflikten beitragen<br />

könne. Auf diese Bedenken wird zurückzukommen se<strong>in</strong>. - Zudem<br />

gibt es gerade h<strong>in</strong>sichtlich der Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation noch<br />

e<strong>in</strong>ige Unklarheiten. Trotzdem führte die Diskussion bei der<br />

Mehrheit der <strong>in</strong>tellektuellen Vertreter der Roma zur Unterstützung<br />

der Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation.<br />

Es soll hier nicht über die Motive spekuliert werde, warum von der<br />

neuen Roma-Elite den Begriff der Nation <strong>in</strong> den vergangenen<br />

Jahren verstärkt propagiert wurde. Es ist aber hier schon erwähnt<br />

worden, dass sie die Def<strong>in</strong>ition der Roma als soziale (Rand-<br />

)Gruppe überw<strong>in</strong>den wollen und e<strong>in</strong>e Roma-Politik auf der<br />

Grundlage der politischen Partizipation anstreben. E<strong>in</strong>e<br />

naheliegende und legitime Absicht mag daher auch die Erhöhung<br />

der eigenen politischen Effektivität bei der Durchsetzung dieses<br />

Ziels gewesen se<strong>in</strong>. Unabhängig davon, ob man den Begriff Nation<br />

<strong>in</strong> diesem Kontext akzeptiert oder nicht, kann der Rückgriff auf ihn<br />

die politische Wirkung nach <strong>in</strong>nen und nach außen verstärken. Viele<br />

Politiker setzen das Nationalgefühl zur Erreichung ihrer Ziele e<strong>in</strong>.<br />

Dies geschieht auch <strong>in</strong> entwickelten Demokratien und unabhängig<br />

von der ideologischen Grundausrichtung, wenn auch <strong>in</strong><br />

unterschiedlicher Intensität. Es ist daher zu akzeptieren, dass der<br />

Rückgriff auf das Nationalgefühl legitim und wirkungsvoll ist. Man<br />

kann aber muss dabei nicht soweit gehen wie der liberale<br />

Theoretiker Isaiah Berl<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>er Aussage, dass "heute ke<strong>in</strong>e<br />

politische Bewegung Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie sich nicht mit<br />

dem Nationalgefühl verb<strong>in</strong>det". 70<br />

Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> dieser Frage s<strong>in</strong>d sich auch die beiden<br />

konkurrierenden <strong>in</strong>ternationalen Organisationen der Roma e<strong>in</strong>ig.<br />

Der Roma National Congress (RNC) drückt se<strong>in</strong> Bekenntnis zur<br />

Roma-Nation schon im Namen aus. Die International Romani Union<br />

(IRU) belebte die Debatte durch die im Jahre 2000 auf ihrem Prager<br />

Kongress verabschiedete Deklaration "We, the Roma Nation".<br />

Diese Erklärung wurde noch im gleichen Jahr Kofi Annan, dem<br />

Generalsekretär der UNO, bei der die IRU seit 1979 e<strong>in</strong>en Status<br />

("Roster") und seit 1993 den vollen konsultativen Status bei dem<br />

Economic and Social Council (ECOSOC) hat, übergeben.<br />

70 Berl<strong>in</strong>, I., Der Nationalismus, Frankfurt, 1990, S. 72<br />

47


Peter Thelen<br />

In der Erklärung heißt es: "We ask for be<strong>in</strong>g recognized as a<br />

Nation, for the sake of Roma and of non-Roma <strong>in</strong>dividuals, who<br />

share the need to deal with the nowadays new challenges." Die<br />

Frage ist, was damit geme<strong>in</strong>t ist, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e<br />

allgeme<strong>in</strong> akzeptierte Def<strong>in</strong>ition des Term<strong>in</strong>us Nation gibt es<br />

ebenso wenig wie des alternativen Begriffs nationale M<strong>in</strong>derheit.<br />

Der Begriff Nation hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er langen Geschichte oft se<strong>in</strong>e<br />

Bedeutung gewechselt, sodass heute e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologische<br />

Konfusion besteht. Im Mittelalter verstand man darunter vor allem<br />

die regionale Herkunft e<strong>in</strong>er Person, unabhängig von se<strong>in</strong>er<br />

Sprache oder von anderen Merkmalen. Heute ist dieser Begriff<br />

besonders im englischen und französischen Gebrauch häufig e<strong>in</strong><br />

Synonym für den Staat. So s<strong>in</strong>d die United Nations e<strong>in</strong>e<br />

Geme<strong>in</strong>schaft von Staaten und „<strong>in</strong>ternational relations“<br />

zwischenstaatliche Beziehungen.<br />

In der deutschen und <strong>in</strong> anderen Sprachen kann dagegen e<strong>in</strong> Staat<br />

Bürger verschiedener Nationen haben. Wenn, wie z. B. auf dem<br />

Balkan, die Loyalität der Bürger zu ihrer Nation größer ist als die zu<br />

dem Staat, <strong>in</strong> dem sie leben, besteht Instabilität, die zum Zerfall des<br />

Staates führen kann.<br />

E<strong>in</strong>e im wissenschaftlichen S<strong>in</strong>ne objektive Def<strong>in</strong>ition des Begriffs<br />

Nation gibt es nicht. Nation bestimmt sich vielmehr aus dem<br />

Selbstverständnis e<strong>in</strong>er großen Gruppe von Menschen. Dieses<br />

Selbstverständnis kann sich nach zwei unterschiedlichen Mustern<br />

bilden: 71 Nach dem seit der Französischen Revolution bestehenden<br />

Verständnis gehören zur Nation alle Menschen, die frei und<br />

selbstbestimmt an der Willensbildung e<strong>in</strong>es bestehenden oder noch<br />

zu schaffenden Staates teilhaben. Diese an den Staat gebundene<br />

Def<strong>in</strong>ition ist auf die Roma kaum anwendbar. Das andere<br />

Selbstverständnis von Nation kommt dagegen den Intentionen<br />

derjenigen, die die Roma als Nation sehen, näher. Dieses<br />

Selbstverständnis beruht auf dem politischen Bewusstse<strong>in</strong>, wegen<br />

bestimmter Geme<strong>in</strong>samkeiten e<strong>in</strong>e zusammengehörige Gruppe zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Entscheidend ist also das Selbstverständnis. Objektive Kriterien, die<br />

sich an bestimmten Merkmalen der Menschen orientieren, s<strong>in</strong>d<br />

nicht möglich. Demnach spielen beweisbare Faktoren, wie sie z. B.<br />

71 Zur Def<strong>in</strong>ition von Nation vgl. Drechsel, H., u. a. (Hrsg.), Gesellschaft und Staat.<br />

Lexikon der Politik, 10. Aufl., München 2003, S. 663<br />

48


ROMA IN EUROPA<br />

Anthropologen durch genetische Analysen liefern können, ke<strong>in</strong>e<br />

Rolle. Vielmehr werden häufig Begriffe wie Gefühl, Überzeugungen<br />

und Werte herangezogen, um den Begriff Nation zu erklären. Schon<br />

wenn man davon ausgeht, dass die Grundbed<strong>in</strong>gung für die<br />

Existenz e<strong>in</strong>er Nation das Nationalbewusstse<strong>in</strong>, bzw. der Wille, e<strong>in</strong>e<br />

Nation zu bilden, ist, impliziert das, dass es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht auf<br />

die Me<strong>in</strong>ung Dritter sondern auf die Selbstdef<strong>in</strong>ition ankommt. Auf<br />

dieser Grundlage können dann allerd<strong>in</strong>gs Ansprüche nach außen<br />

gestellt werden. Der wichtigste Anspruch ist die Anerkennung durch<br />

Staaten und durch <strong>in</strong>ternationale Organisationen. Es war daher<br />

konsequent, dass sich die IRU zuerst an den Generalsekretär der<br />

UNO gewandt hat.<br />

Die subjektive Basis des von den Roma gebrauchten Begriffs<br />

Nation ist diesen durchaus bewusst. "Nichts als das Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, macht e<strong>in</strong>e Nation aus – sagen wir!" 72 Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus hat der Gebrauch dieses Begriffs hier auch e<strong>in</strong>en<br />

voluntaristischen Gehalt. Das Bewusstse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, bei<br />

den zerstreut lebenden Roma herzustellen, bleibt e<strong>in</strong>e Aufgabe,<br />

nicht zuletzt e<strong>in</strong>e organisatorische Aufgabe. Es geht darum, e<strong>in</strong>e<br />

"Willensnation" zu erreichen, also um e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, "die selbst noch<br />

Ziel der Bewegung ist". 73<br />

Obwohl die Diskussion <strong>in</strong> den letzten zwanzig Jahren um die<br />

"Erf<strong>in</strong>dung der Nation" als Ablehnung der Vorstellung der Nation als<br />

e<strong>in</strong>es objektiv gegebenen Faktums meistens <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem<br />

Nationalstaat geführt wurde, lässt sich der Begriff Nation als<br />

"imag<strong>in</strong>ed community" auch auf den Gebrauch für die Roma<br />

anwenden. Die Nation kann demnach als e<strong>in</strong> gesellschaftliches<br />

Konstrukt angesehen werden: "Nation ist, was sich als Nation<br />

versteht: So lässt sich die Radikaldef<strong>in</strong>ition von Nation als e<strong>in</strong>er<br />

Selbstschöpfung, als Erf<strong>in</strong>dung ihrer selbst, scharf po<strong>in</strong>tiert<br />

umschreiben" 74<br />

Zusammenfassend soll hier e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und auf die Roma<br />

anwendbare Def<strong>in</strong>ition verwendet werden: Nation ist e<strong>in</strong>e große<br />

Gruppe von Menschen, die aufgrund ihres Bewusstse<strong>in</strong>s, das aus<br />

geme<strong>in</strong>samer Sprache, Kultur, Religion oder Geschichte<br />

72 Djuric, R., Me<strong>in</strong> Volk, Roma & S<strong>in</strong>ti, wir brauchen die Solidarität, Interview mit R.<br />

Jaroschek, <strong>in</strong>: Der Donauraum, a.a.O., S. 96<br />

73 Ebd., S. 96<br />

74 Langewiesche, D., Was heißt "Erf<strong>in</strong>dung der Nation"?, <strong>in</strong>: Beer, M. (Hrsg.), Auf dem<br />

Weg zum ethnisch re<strong>in</strong>en Nationalstaat?, Tüb<strong>in</strong>gen, 2004, S. 21<br />

49


Peter Thelen<br />

entstanden ist, e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft ist und e<strong>in</strong>e Nation se<strong>in</strong> will, um<br />

ihrem politischen Willen Geltung zu verschaffen. Der häufig, aber<br />

nicht immer, hergestellte Bezug zu e<strong>in</strong>em Territorium ist nicht<br />

conditio s<strong>in</strong>e qua non.<br />

Dass die Roma e<strong>in</strong>e große Gruppe von Menschen s<strong>in</strong>d und dass es<br />

<strong>in</strong> Europa mehr Roma gibt, als e<strong>in</strong>e Reihe von Staaten an<br />

E<strong>in</strong>wohnern haben, wurde schon an anderer Stelle erwähnt. - Wie<br />

oben auch erläutert wurde, leben die Roma seit vielen<br />

Jahrhunderten <strong>in</strong> Europa. Trotzdem identifizieren sie sich <strong>in</strong> weit<br />

überwiegender Mehrheit noch heute selbst als Roma, bzw. werden<br />

von außen der Gruppe der Roma zugerechnet. Zu dieser Selbst-<br />

und Fremdidentifikation als Gruppe hat sicher auch die fehlende<br />

Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaften mit ihrem tief verwurzelten<br />

Antiziganismus beigetragen. Entscheidend ist im Zusammenhang<br />

mit der Nation allerd<strong>in</strong>gs nur die Selbstidentifikation.<br />

Die Faktoren, auf die sich das Selbstverständnis, e<strong>in</strong>e Nation zu<br />

se<strong>in</strong>, stützt, werden häufig als objektive Kriterien angesehen. Auch<br />

wenn man dieser Ansicht folgt, bleibt das Bewusstse<strong>in</strong> das<br />

konstitutive Element der Nation. Sprache, Kultur, Religion und<br />

Geschichte können dieses Selbstverständnis nur stützen.<br />

Von diesen stützenden Elementen dürfte bei den Roma die Religion<br />

kaum noch e<strong>in</strong>e Rolle spielen, da sie ihre ursprüngliche, aus der<br />

nord<strong>in</strong>dischen Heimat mitgebrachte Religion weit gehend verloren<br />

und meistens die Religion der Mehrheitsbevölkerung ihrer<br />

Umgebung angenommen haben. In von der Tradition noch stark<br />

geprägten Geme<strong>in</strong>schaften mag auch die erhaltene Kultur e<strong>in</strong>e<br />

Rolle spielen. Wichtiger sche<strong>in</strong>t aber im Falle der Roma die<br />

Sprache und die Geschichte zu se<strong>in</strong>.<br />

Zwar haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern, wie z. B. <strong>in</strong> Ungarn, viele Roma<br />

ihre Sprache verloren. Außerdem hat sich die Romani Sprache<br />

durch die räumliche Trennung und den E<strong>in</strong>fluss der Sprachen der<br />

Mehrheitsbevölkerung der Länder, <strong>in</strong> denen sie lange leben oder<br />

lebten, differenziert. Dennoch können die meisten Roma überall auf<br />

der Welt <strong>in</strong> ihrer Sprache untere<strong>in</strong>ander kommunizieren. 75<br />

Die geme<strong>in</strong>same Geschichte spielt bei den Roma ebenfalls e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Identität stiftende Rolle. Es ist das Wissen um e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Herkunft aber auch die Erfahrung des Antiziganismus,<br />

75 S. dazu den Beitrag von Marcel Courthiade <strong>in</strong> diesem Band.<br />

50


ROMA IN EUROPA<br />

der zu Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und nicht zuletzt zum<br />

Holocaust durch Deutsche und deren Verbündete <strong>in</strong> großen Teilen<br />

Europas führte. Verfolgung stärkt das Bewusstse<strong>in</strong> der eigenen<br />

Identität, auch durch die Schaffung von Abwehrmechanismen<br />

gegen die Kultur der Verfolger. "Be<strong>in</strong>g a m<strong>in</strong>ority everywhere, they<br />

share a similarly imposed identity characterized by political and<br />

social marg<strong>in</strong>alization and stigmatization." 76<br />

Entscheidend bei der Def<strong>in</strong>ition der Nation ist also das <strong>in</strong> der<br />

Gruppe vorhandene Bewusstse<strong>in</strong> und der Wille, e<strong>in</strong>e Nation zu<br />

bilden. Schon bei Max Weber ist die Nation nicht identisch mit dem<br />

Staatsvolk. Nach ihm basiert der Begriff auf dem Bewusstse<strong>in</strong> für<br />

e<strong>in</strong>e kulturelle Mission aufgrund e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>samen Erbes. Es s<strong>in</strong>d<br />

dabei die Intellektuellen, die am ehesten Zugang zu diesen<br />

kulturellen Werten haben und die daher als prädest<strong>in</strong>iert<br />

ersche<strong>in</strong>en, die nationale Idee zu propagieren. Diese Beschreibung<br />

hat sich auch heute noch als aktuell erwiesen. Nach dem<br />

Systemwechsel waren es <strong>in</strong> vielen Staaten die Intellektuellen, die<br />

zuerst die nationalen Werte oder <strong>in</strong> überzogener Form die nationale<br />

Überlegenheit ihrer Nation auf die Tagesordnung setzten.<br />

Unglücklicherweise wurden auf dem Balkan und anderswo die<br />

territorialen Bezüge hergestellt und Ansprüche auf e<strong>in</strong>en eigenen<br />

Nationalstaat gestellt. Die daraus entstandenen Spannungen, die<br />

teilweise zu Gewaltakten und Kriegen führten, dauern bis heute an.<br />

Aus der hier zugrunde gelegten Def<strong>in</strong>ition geht auch die politische<br />

Qualität des Begriffs Nation hervor. In der Regel mündet das<br />

nationale Selbstverständnis <strong>in</strong> dem Ziel, e<strong>in</strong>en eigenen<br />

Nationalstaat zu haben. Dieses Ziel ist die Basis des Nationalismus.<br />

Die Roma wollen zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihrer Mehrheit und heute diesen<br />

Weg nicht gehen. Die IRU-Deklaration spricht ausdrücklich von den<br />

Roma als Nation, „which does not want to become a State". –<br />

Während im Prozess der Globalisierung die Macht der Staaten<br />

auch gegen den Willen der Regierenden abnimmt und im Prozess<br />

der europäischen Integration e<strong>in</strong>zelstaatliche Kompetenzen<br />

willentlich auf die europäische Ebene verlagert werden, die<br />

Bedeutung von Staaten und Grenzen also abnimmt, haben die<br />

Roma zum<strong>in</strong>dest mit dem Konzept der Nation ohne Staat schon<br />

e<strong>in</strong>e höhere Ebene erreicht. Insofern können sie als das<br />

europäischste Volk betrachtet werden. Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der IRU-<br />

Deklaration wird dies so gesehen: "We have never looked for<br />

76 Mirga, A., Gheorghe, N., a.a.O., S. 6<br />

51


Peter Thelen<br />

creat<strong>in</strong>g a Roma State. And we do not want a State today, when the<br />

new society and the new economy are concretely and progressively<br />

cross<strong>in</strong>g-over the importance and the adequacy of the State as the<br />

way how <strong>in</strong>dividuals organize themselves." – Die Roma wollen also<br />

als Nation anerkannt werden, wobei das politische Element nicht <strong>in</strong><br />

der Gründung e<strong>in</strong>es Roma-Staates sondern dar<strong>in</strong> besteht, mehr<br />

E<strong>in</strong>fluss auf die Lösung der eigenen Probleme zu haben. Es geht<br />

also um politische Partizipation.<br />

Die üblicherweise hergestellte Verb<strong>in</strong>dung der Nation mit dem<br />

Willen, die Macht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em souveränen Nationalstaat auszuüben, ist<br />

<strong>in</strong> der europäischen Geschichte bis <strong>in</strong> die heutige Zeit häufig die<br />

Ursache von Kriegen und anderen gewaltsamen<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen gewesen. Um diese Gefahr zu verr<strong>in</strong>gern,<br />

gab es schon früher Vorschläge zur Entkoppelung der Nation vom<br />

Territorium. Die beiden großen Theoretiker der österreichischen<br />

Sozialdemokratie, Otto Bauer und Karl Renner, beschäftigten sich<br />

damit. Schon 1918 schlug Renner vor, „die Nationen als<br />

Personalverbände statt als Gebietsherrschaft zu erfassen.“ 77 Das<br />

Nationalgefühl sollte so vom Besitz e<strong>in</strong>es Territoriums getrennt<br />

werden. Über die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er Nation konnte dabei nur<br />

der E<strong>in</strong>zelne entscheiden. Die nationalen Interessen der Individuen<br />

sollten von autonomen Organisationen vertreten werden. 78 In der<br />

Debatte um die Roma als Nation ohne Staat wurden auch die<br />

Konzepte von Bauer und Renner wieder aufgenommen. 79<br />

Die Def<strong>in</strong>ition der Roma als Nation ohne Staat knüpft aber - wie aus<br />

dem obigen Zitat aus der IRU-Deklaration hervorgeht – auch an die<br />

von der Globalisierung ausgelösten Entwicklungen an. Da viele<br />

Probleme nicht mehr im Rahmen gegebener Grenzen gelöst<br />

werden können, nimmt die Macht der Regierungen von<br />

E<strong>in</strong>zelstaaten ab. Neue Akteure betreten die politische Bühne. Dazu<br />

gehören supranationale Regierungsorganisationen und immer mehr<br />

grenzüberschreitend organisierte und weltweit agierende Nicht-<br />

Regierungsorganisationen (NGOs). „Es ereignet sich gegenwärtig<br />

77<br />

Renner, K., Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1.Teil: Nation und Staat,<br />

Leipzig, Wien, 1918, S. 75<br />

78<br />

Vgl. Renner, K., a.a.O., S. 111 – Die Ideen Renners s<strong>in</strong>d vor dem H<strong>in</strong>tergrund der<br />

Habsburger Vielvölkermonarchie zu sehen. Se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionellen Vorschläge<br />

beziehen sich daher <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nerstaatliche Ordnung, lassen sich aber<br />

partiell auch auf die europäische Ebene übertragen. Zum „Personalitätspr<strong>in</strong>zip“ bei<br />

Rennner s. a. Hanf, T., Konfliktm<strong>in</strong>derung durch Kulturautonomie. Karl Renners<br />

Beitrag zur Frage der Konfliktregelung <strong>in</strong> multi-ethnischen Staaten, <strong>in</strong>: Fröschl, E.,<br />

u. a. (Hrsg.), Staat und Nation <strong>in</strong> multi-ethnischen Gesellschaften, Wien, 1991, 64ff<br />

79<br />

S. dazu Klimanova-Alexander, I., a.a.O., S. 24<br />

52


ROMA IN EUROPA<br />

e<strong>in</strong>e schöpferische Selbstzerstörung der von Nationalstaaten<br />

dom<strong>in</strong>ierten ‚legitimen’ Weltordnung.“ 80 Die Grundlage dieser<br />

Ordnung war bisher e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Legitimität, die aus der<br />

nationalstaatlichen Legitimität abgeleitet ist. „Dieser<br />

methodologische Nationalismus setzt den Nationalstaat als<br />

Legitimationsquelle supranationaler Normen und Organisationen als<br />

konstant und absolut voraus. 81 Dagegen wird von vielen e<strong>in</strong><br />

Paradigmenwechsel der Legitimität gefordert: Die Ausübung von<br />

Macht soll - auch gegen e<strong>in</strong>zelne Staaten – durch die universellen<br />

Menschenrechte begründet werden.<br />

Da sowohl die reale Macht von E<strong>in</strong>zelstaaten durch die<br />

Entgrenzung der zu lösenden Probleme abgenommen hat als auch<br />

die alle<strong>in</strong>ige Legitimität e<strong>in</strong>zelstaatlichen Handelns <strong>in</strong>frage gestellt<br />

werden kann, liegt die mögliche Lösung <strong>in</strong> der Entgrenzung der<br />

Politik. Die Staaten verzichten im eigenen Interesse auf Autonomie,<br />

um auf e<strong>in</strong>er anderen Ebene die Souveränität zur Lösung ihrer<br />

Probleme zurückzugew<strong>in</strong>nen. Dies bedeutet sowohl<br />

Machtverlagerung auf <strong>in</strong>tergouvernementale Ebenen als auch die<br />

E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung transnationaler Netzwerke, zu denen auch die großen<br />

NGOs gehören.<br />

Diejenigen, die das Konzept der Roma als Nation ohne Staat<br />

vertreten, können sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit der Entgrenzung der Politik und<br />

der Kosmopolitisierung von Staaten 82 durchaus als im Trend<br />

liegend ansehen. Außerdem ist der kosmopolitische Staat „auf dem<br />

Pr<strong>in</strong>zip der nationalen Indifferenz gegründet“. Er garantiert durch<br />

die Trennung von Staat und Nation das „Nebene<strong>in</strong>ander der<br />

nationalen Identitäten durch das Pr<strong>in</strong>zip der konstitutionellen<br />

Toleranz“. 83 Der Staat, der den Herausforderungen aus der<br />

Globalisierung gewachsen ist, könnte auch als Staat ohne Nation,<br />

d. h. ohne e<strong>in</strong>e bestimmte, se<strong>in</strong>e Legitimität begründende Nation,<br />

angesehen werden. Dies wäre dann die Kehrseite der Nation ohne<br />

Staat. Aus beiden Konzepten kann auf die Eigenverantwortung,<br />

zum<strong>in</strong>dest aber auf die Notwendigkeit der Partizipation der Nation<br />

für ihre eigenen Angelegenheiten geschlossen werden, e<strong>in</strong><br />

Anliegen, das sicher e<strong>in</strong> starker Impuls derjenigen war und ist, die<br />

das Konzept der Roma als Nation vertreten.<br />

80<br />

Beck, U., Gegenmacht im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M., 2002, S. 14<br />

81<br />

Ebd., S. 41<br />

82<br />

Ebd., S. 322<br />

83<br />

Ebd., 152f – Nach I. Klimova-Alexander bezieht sich e<strong>in</strong>er der Autoren der IRU-<br />

Deklaration, Paolo Pietrosanti, ausdrücklich auf U. Beck. Vgl. Klimova-Alexanser, I.,<br />

a.a.O., S. 26<br />

53


Peter Thelen<br />

Nach der oben verwendeten Def<strong>in</strong>ition des Begriffs Nation haben<br />

die Roma durchaus das Recht, sich als Nation zu bezeichnen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs muss die Inanspruchnahme dieses Rechtes als e<strong>in</strong><br />

Prozess gesehen werden. Schon Renan hat vor 120 Jahren von<br />

e<strong>in</strong>er dynamischen Def<strong>in</strong>ition der Nation gesprochen, von der<br />

Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft.<br />

Die Nation ist danach ke<strong>in</strong> gegebener Zustand sondern das<br />

Ergebnis e<strong>in</strong>es Prozesses von Solidaritätsbildung. "L'existence<br />

d'une nation est un plébiscite de tous les jours." Jede Nation lebe<br />

aus dem "geme<strong>in</strong>samen Besitz e<strong>in</strong>es reichen Erbes an<br />

Er<strong>in</strong>nerungen" und aus dem Wunsch, dieses Erbe anzunehmen. 84<br />

Diesen e<strong>in</strong>geleiteten Prozess zu vollenden, ist Aufgabe der neuen<br />

Roma-Politiker. Dabei kommt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em demokratischen Europa<br />

<strong>in</strong>sbesondere auf die demokratische Legitimation derer an, die für<br />

die Roma sprechen. Es ist damit zu rechnen, dass gerade die<br />

Diskussion um Roma als Nation sowie die daraus folgende<br />

Repräsentanz der Roma <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Institutionen den<br />

Prozess zur Entwicklung demokratisch strukturierter Organisationen<br />

e<strong>in</strong>leitet bzw. beschleunigt.<br />

Wie schon oben erwähnt wurde, ist die <strong>in</strong>ternationale und nicht<br />

zuletzt die europäische Ebene für die Roma von besonderer<br />

Bedeutung, da die Roma ke<strong>in</strong> Mutterland haben, das sich für ihre<br />

Interessen e<strong>in</strong>setzt. Der Anspruch, e<strong>in</strong>e Nation zu se<strong>in</strong>, zielt daher<br />

vor allem auf die Anerkennung und die damit verbundene<br />

Repräsentanz <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen und europäischen Institutionen.<br />

Dazu zählt e<strong>in</strong> Sitz <strong>in</strong> der UNO, gewählte Mitglieder im<br />

Europäischen Parlament und <strong>in</strong> der Parlamentarischen<br />

Versammlung des Europarates. Dadurch können die Roma<br />

erreichen, dass sie vom Objekt zum Subjekt der Politik werden.<br />

Diese Vorgehensweise wird von e<strong>in</strong>igen Seiten kritisiert. Es wird<br />

darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die Internationalisierung, vor allem aber<br />

die Europäisierung der Roma-Politik, die Gefahr oder bei e<strong>in</strong>igen<br />

auch die Absicht <strong>in</strong> sich birgt, dass die nationale Verantwortung für<br />

die Verbesserung der Situation der Roma von den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Regierungen auf die höhere Ebene abgeschoben wird. 85 Diese<br />

84<br />

Renans Rede "Qu' est-ce qu' une Nation?" erschienen 1882 <strong>in</strong> Paris. Zit. nach<br />

Langewiesche, D., a.a.O., S. 27<br />

85<br />

Dieser Verdacht tauchte konkret gegen die tschechische Regierung auf, die die<br />

Internationalisierung der Roma-Frage unterstützte und gleichzeitig e<strong>in</strong><br />

Staatsbürgerschaftsrecht e<strong>in</strong>führte, durch das Tausende von Roma staatenlos<br />

54


ROMA IN EUROPA<br />

Motivation mag durchaus bei e<strong>in</strong>igen Nicht-Roma vorhanden se<strong>in</strong>.<br />

Sie ist auch nachvollziehbar angesichts der Diskrepanz zwischen<br />

zu lösenden Problemen und vorhandenen F<strong>in</strong>anzmitteln der<br />

Länder, die noch mit den Nachwirkungen des Systemwechsels zu<br />

kämpfen haben. Die Gefahr, dass die Flucht aus der Verantwortung<br />

gel<strong>in</strong>gt, dürfte allerd<strong>in</strong>gs ger<strong>in</strong>g se<strong>in</strong>. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft der Staaten, <strong>in</strong> denen die meisten<br />

Roma leben, <strong>in</strong> der EU. Die Beitrittsbed<strong>in</strong>gungen, die die EU 1993<br />

<strong>in</strong> den "Kopenhagener Kriterien" festgelegt hat, halten die<br />

e<strong>in</strong>zelstaatlichen Verpflichtungen gegenüber den M<strong>in</strong>derheiten<br />

ausdrücklich fest. Auf der Grundlage dieser Kriterien wurde für die<br />

Beitrittsländer jährlich e<strong>in</strong> Bericht von der EU-Kommission erstellt,<br />

der auch auf die Situation der Roma und die Bemühungen der<br />

Regierungen zur Verbesserung dieser Situation e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g. - Das<br />

Argument, dass die Europäisierung der Roma-Politik die<br />

E<strong>in</strong>zelstaaten aus der Verantwortung entlässt, kann <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

Gegenteil verkehrt werden: Gerade e<strong>in</strong>e effektive Präsenz der<br />

Roma auf europäischer und <strong>in</strong>ternationaler Ebene würde den Roma<br />

die Möglichkeit eröffnen, vernehmlicher auf nationale Versäumnisse<br />

h<strong>in</strong>zuweisen und ggf. Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.<br />

Die Frage, auf welcher Ebene die Verantwortung für die E<strong>in</strong>lösung<br />

der Rechte der Roma liegt, muss nicht mit e<strong>in</strong>em Entweder-Oder<br />

beantwortet werden. Die Antwortung kann auch se<strong>in</strong>, dass diese<br />

Verantwortung sowohl auf der staatlichen (und lokalen) als auch auf<br />

der europäischen (und <strong>in</strong>ternationalen) Ebene liegt.<br />

E<strong>in</strong>e weitere, oben schon erwähnte Kritik an dem Konzept weist auf<br />

die Gefahr des Entstehens e<strong>in</strong>es radikalen Nationalismus h<strong>in</strong>. Diese<br />

Kritik wird auch von e<strong>in</strong>igen Roma geteilt. Sie po<strong>in</strong>tierte der<br />

ungarische Roma Aladar Horvath <strong>in</strong> der Diskussion um die<br />

Halonen-Initiative, auf die noch e<strong>in</strong>gegangen wird: „Indem der<br />

Europarat die europäischen Zigeuner auf Rassenbasis def<strong>in</strong>iert,<br />

schafft er e<strong>in</strong>deutig Nationalismus. Die Benachteiligungen s<strong>in</strong>d aber<br />

nicht im Mangel an Nationalismus zu suchen, sondern <strong>in</strong> der nicht<br />

erfolgten Verwirklichung der Chancengleichheit und dar<strong>in</strong>, dass<br />

auch die Roma geme<strong>in</strong>sam mit ihren vielen Millionen Menschen<br />

ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf die mächtigen politischen und wirtschaftlichen<br />

Interessen haben, mit denen sie um soziale und materielle Güter<br />

konkurrieren. Diese Nationalismus-Schaffung verh<strong>in</strong>dert bestenfalls<br />

die Solidarität mit Nicht-Zigeunern, kann aber auch zu ernster<br />

wurden. S. dazu Project on Ethnic Relations, Leadership, Representation and Status<br />

of the Roma, Pr<strong>in</strong>ceton, New Jersey, 2001, S. 36<br />

55


Peter Thelen<br />

sozialer Isolation und Instabilität sowie zu aggressiven politischen<br />

Konflikten führen." 86<br />

Es ist schon erwähnt worden, dass die Nation auf der Grundlage<br />

e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls, das als Nationalbewusstse<strong>in</strong><br />

bezeichnet werden kann, entsteht. Dieses Gefühl ist bei den Roma<br />

teilweise vorhanden, teilweise wollen die Vertreter dieses<br />

Konzeptes dieses Gefühl für die politische Bedeutung der Roma bei<br />

den Roma erst schaffen. Es ist also e<strong>in</strong> Prozess <strong>in</strong> Gang gesetzt<br />

worden, der <strong>in</strong> anderen Nationen im 19. Jahrhundert begonnen<br />

hatte. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das Gefühl, e<strong>in</strong>er Nation<br />

anzugehören, leicht <strong>in</strong> das Gefühl umschlagen kann, dass diese<br />

Nation wertvoller ist als andere und dass ihre Interessen mit allen<br />

Mitteln, auch gewaltsamen, zu vertreten s<strong>in</strong>d.<br />

Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ist e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Quelle des radikalen Nationalismus. Dies verdeutlicht nicht zuletzt<br />

die Entwicklung der Paläst<strong>in</strong>enser und die Intifada. Auch die<br />

deutsche Geschichte <strong>in</strong> der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts<br />

kann als Beispiel dazu herangezogen werden. Dieser<br />

Nationalismus ist deshalb so gefährlich, weil er als Instrument der<br />

Mobilisierung und Radikalisierung der Massen e<strong>in</strong>gesetzt werden<br />

kann. Nach Isaiah Berl<strong>in</strong> ist er das Produkt e<strong>in</strong>er Wunde, die dem<br />

Stolz e<strong>in</strong>er Nation zugefügt wird. Führt die Propagierung der Roma-<br />

Nation also ebenfalls zu e<strong>in</strong>em gefährlichen Nationalismus?<br />

Kann man bei der Def<strong>in</strong>ition des Begriffs Nation noch ohne den<br />

Bezug zu e<strong>in</strong>em Territorium auskommen, geht dies kaum noch bei<br />

dem Begriff Nationalismus. "Jeder Nationalismus erstrebt e<strong>in</strong>en<br />

Nationalstaat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Territorium. Konkurrierende<br />

Ansprüche auf e<strong>in</strong> Gebiet s<strong>in</strong>d bislang selten friedlich gelöst<br />

worden." 87 Natürlich gibt es auch bei den Roma Stimmen, die e<strong>in</strong>en<br />

eigenen Nationalstaat (Romanestan 88 ) fordern. Besonders <strong>in</strong> den<br />

20-er und 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts und wiederbelebt<br />

<strong>in</strong> den 60-er Jahren <strong>in</strong> Frankreich hat dies – bee<strong>in</strong>flusst durch das<br />

Beispiel des Zionismus e<strong>in</strong>e Rolle gespielt. Die Anhänger e<strong>in</strong>es<br />

Staates der Roma s<strong>in</strong>d aber heute nur e<strong>in</strong>e sehr kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit<br />

86 Vgl. Thelen, P., Schritte zu e<strong>in</strong>er europäischen Roma-Politik,<br />

www.fes.de/<strong>in</strong>dex<strong>in</strong>foonl<strong>in</strong>e.html<br />

87 Langewiesche, D., Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen<br />

Partizipation und Aggression, S. 16 (Electr. ed.: Bonn: FES Library, 1999)<br />

88 S. dazu die Vorschläge und Initiativen aus der Familie Kwiek, u. a. bei Hancock, I.,<br />

a.a.O., S. 116ff -Marushiakova, E., Popov, V., The Roma – a Nation Without a<br />

State?, a.a.O.<br />

56


ROMA IN EUROPA<br />

und werden es bleiben, wenn die hier beschriebene Entwicklung zu<br />

Erfolgen führt.<br />

Initiatoren nationalistischer Ideologien waren – auch zuletzt auf dem<br />

Balkan – Intellektuelle. Bisher gibt es bei den Roma nur wenige<br />

Intellektuelle. Da es aber weitgehender Konsens ist, dass die<br />

Benachteiligung der Roma nur überwunden werden kann, wenn die<br />

Chancengleichheit der Roma <strong>in</strong> der Ausbildung auf allen Ebenen –<br />

also vom K<strong>in</strong>dergarten bis zur Universität – erreicht wird, muss e<strong>in</strong>e<br />

konsequente Bildungspolitik für die Roma realisiert werden. Wenn<br />

diese Politik den gewünschten Erfolg haben sollte, wird die Zahl der<br />

Intellektuellen auch bei den Roma merklich erhöht werden. Bei<br />

gleichzeitigem Fortbestehen der Marg<strong>in</strong>alisierung der Mehrheit der<br />

Roma besteht dann die Gefahr, dass diese Intellektuellen sich<br />

radikalisieren und e<strong>in</strong>e Basis <strong>in</strong> der extrem benachteiligten Roma-<br />

Bevölkerung f<strong>in</strong>den.<br />

Dieser Prozess kann durch die Propagierung der Roma-Nation<br />

verstärkt werden. Die Anerkennung der Roma als Nation <strong>in</strong> Europa<br />

und die daraus folgende Repräsentation der Roma auf den<br />

politischen Entscheidungsebenen sowie die Schaffung e<strong>in</strong>er<br />

demokratischen Legitimation der Repräsentanten kann aber auch<br />

die Voraussetzung dafür se<strong>in</strong>, dass die Entwicklung zu e<strong>in</strong>em<br />

radikalen Nationalismus nicht e<strong>in</strong>setzt. Neben den schlechten<br />

Lebensverhältnissen der Mehrheit der Roma ist gerade das Gefühl<br />

der nicht ausreichenden Anerkennung e<strong>in</strong> Faktor, der den<br />

Nationalismus hervorbr<strong>in</strong>gen und verstärken kann. Die Gefahr e<strong>in</strong>es<br />

Abrutschens <strong>in</strong> den Nationalismus kann demnach verr<strong>in</strong>gert<br />

werden, wenn die Situation der Roma verbessert wird und wenn<br />

ihnen das Gefühl gegeben wird, dass sie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Europa akzeptierte<br />

Gruppe s<strong>in</strong>d. Bed<strong>in</strong>gung für e<strong>in</strong>e positive Entwicklung ist dann<br />

aber auch, dass die Mitentscheidung der Roma merkbar ist und<br />

dass Fortschritte für die Mehrheit der Roma spürbar werden.<br />

Insofern erzw<strong>in</strong>gt der <strong>in</strong> Gang gesetzte Prozess die Anerkennung<br />

der Roma als Nation, zum<strong>in</strong>dest aber die effektive und legitimierte<br />

Partizipation der Roma an den sie betreffenden<br />

Entscheidungsprozessen.<br />

Ähnlich wie oben bei der Frage nach der e<strong>in</strong>zelstaatlichen oder<br />

<strong>in</strong>ternationalen Verantwortung für die Roma-Politik kann bei der<br />

Beantwortung der Frage, was die Roma s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit oder<br />

e<strong>in</strong>e Nation, vorgegangen werden. Auch hier sollte man nicht von<br />

sich ausschließenden Antworten ausgehen. Die Roma können<br />

57


Peter Thelen<br />

58<br />

- auf der e<strong>in</strong>zelstaatlichen Ebene durchaus als nationale<br />

oder ethnische M<strong>in</strong>derheit def<strong>in</strong>iert werden, auch wenn sie<br />

- auf der europäischen und der <strong>in</strong>ternationalen Ebene als<br />

Nation anerkannt werden.<br />

Sie verlieren dadurch ke<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>zelstaatlicher Ebene erworbenen<br />

Rechte. Auch Nationen mit e<strong>in</strong>em Nationalstaat können gleichzeitig<br />

M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> verschiedenen Staaten haben. Bei den Roma ist<br />

der nach Ebenen unterschiedliche Status per se unproblematisch,<br />

da irredentistische Folgerungen, die schon bei e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen<br />

Unterscheidung der Begriffe Nation und Staat ke<strong>in</strong>e Basis haben,<br />

wegen des Fehlens des Mutterlandes unmöglich s<strong>in</strong>d.<br />

Solche nach Ebenen unterschiedlichen Def<strong>in</strong>itionen s<strong>in</strong>d<br />

ke<strong>in</strong>eswegs ungewöhnlich. Sie passen vielmehr zu den multiplen<br />

Identitäten der Gegenwart. Die Identitätskonstruktion, die ohne e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Abgrenzung des Eigenen zum Anderen nicht denkbar ist,<br />

richtet sich am jeweils <strong>in</strong>frage stehenden Betrachtungsfeld aus. So<br />

kann z. B. der Angehörige e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit sich<br />

sprachlich und kulturell mit der Mutternation identifizieren und<br />

trotzdem gleichzeitig e<strong>in</strong> Patriot <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Heimatland se<strong>in</strong>. Er hat<br />

<strong>in</strong> horizontaler H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e doppelte Identität. E<strong>in</strong> Bürger kann sich<br />

unter verschiedenen Aspekten auch vertikal unterschiedlich<br />

def<strong>in</strong>ieren. Er kann gleichzeitig Lokal- oder Regionalpatriot se<strong>in</strong>,<br />

sich se<strong>in</strong>er Nation verbunden fühlen und überzeugter Europäer und<br />

Weltbürger se<strong>in</strong>. Die jeweilige Def<strong>in</strong>ition richtet sich nach den<br />

Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Diese können je<br />

nach Anliegen auf der lokalen, regionalen, e<strong>in</strong>zelstaatlichen,<br />

europäischen und der globalen Ebene liegen. Die politische Welt<br />

entwickelt sich <strong>in</strong> zunehmendem Maße zu e<strong>in</strong>em "Mehrebenen-<br />

Geme<strong>in</strong>wesen", <strong>in</strong> dem "die Differenzierung der politischen Identität<br />

zunimmt". 89<br />

Häufig wird gesagt, dass die Roma die ersten wirklichen Europäer<br />

seien. Sie leben - wenn auch <strong>in</strong> unterschiedlicher Stärke - <strong>in</strong> allen<br />

europäischen Ländern und sie verständigen sich - von Ausnahmen<br />

abgesehen - <strong>in</strong> ihrer Sprache. Daraus entwickelten Vertreter der<br />

Roma den Vorschlag, im Rahmen der fortschreitenden<br />

europäischen Integration e<strong>in</strong>e unmittelbare europäische (Staats-<br />

)Bürgerschaft zu schaffen, die auch auf die Roma angewendet<br />

werden könnte: "While a French <strong>in</strong>dividual is French by nationality<br />

and citizenship, a Romani <strong>in</strong>dividual liv<strong>in</strong>g anywhere <strong>in</strong> Europe is<br />

89 S. dazu Meyer, T., Die Identität Europas, Frankfurt, 2004, S. 72


ROMA IN EUROPA<br />

Romani by nationality and Spanish, Hungarian, Italian or whatever<br />

else, by citizenship. The citizenship that would better fit a Roma is<br />

the European one." 90 E<strong>in</strong>e Unionsbürgerschaft gibt es auch im<br />

aktuellen Entwurf e<strong>in</strong>er Verfassung für Europa. "Unionsbürger<strong>in</strong><br />

oder Bürger ist, wer die Staatsangehörigkeit e<strong>in</strong>es Mitgliedstaates<br />

besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen<br />

Staatsbürgerschaft h<strong>in</strong>zu, ohne diese zu ersetzen." Der hier zitierte<br />

Vorschlag von Pietrosanti und Scuka geht allerd<strong>in</strong>gs über den<br />

Verfassungsentwurf h<strong>in</strong>aus. Geme<strong>in</strong>t ist e<strong>in</strong>e unmittelbare<br />

europäische Bürgerschaft.<br />

7. Politische Partizipation<br />

Aus den oben gemachten Ausführungen zur Geschichte der Roma<br />

geht hervor, dass die Roma <strong>in</strong> Europa weniger als andere Völker<br />

die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen ihres Lebens selbst bestimmen konnten.<br />

Sie waren Objekte der Politik, und zwar Objekte, die es <strong>in</strong> der Regel<br />

zu entfernen galt. Die Entfernung konnte physisch erzielt werden,<br />

<strong>in</strong>dem zu den Instrumenten der Vertreibung, der Sterilisierung oder<br />

der Ermordung gegriffen wurde. Aber auch die Assimilierungspolitik<br />

hatte zum Ziel, die Roma als Gruppe dauerhaft zu elim<strong>in</strong>ieren.<br />

Roma s<strong>in</strong>d bis <strong>in</strong> die Gegenwart Objekte derartiger<br />

Handlungsweisen gewesen, sei es im Rahmen aktiven Handelns<br />

oder sei es durch Passivität oder unzureichende<br />

Gegenmaßnahmen der politisch Verantwortlichen. Die Politiker<br />

konnten sich bei diesen Handlungen oder Unterlassungen der<br />

Zustimmung der Mehrheit ihrer Untertanen bzw. später ihrer Wähler<br />

bewusst se<strong>in</strong>. Sie konnten sich dabei auch auf die Zuarbeit von<br />

Wissenschaftlern und sog. Experten stützen. So arbeitete im<br />

nationalsozialistischen Deutschland die „rassehygienische und<br />

krim<strong>in</strong>albiologische Forschungsstelle“ mit Himmlers „Reichszentrale<br />

zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zusammen und lieferte<br />

die ideologische Grundlage für den Völkermord an den<br />

europäischen Roma. Aber auch später konnte sich die Politik gegen<br />

Roma auf wissenschaftliche Zuarbeit stützen. Gronemeyer stellt<br />

z. B. fest, dass <strong>in</strong> der Nachkriegsliteratur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

kommunistischen Ländern manche Beiträge „Er<strong>in</strong>nerungen an<br />

rassenbiologische Zigeunerforschung wach werden lassen“. Der<br />

Gesamte<strong>in</strong>druck sei: „E<strong>in</strong>mütig – von wenigen Ausnahmen<br />

90<br />

Pietrosanti, P., The Romani Nation or: "Ich B<strong>in</strong> E<strong>in</strong> Zigeuner", <strong>in</strong>: Roma Rights,<br />

2003, Nr. 4, S. 51<br />

59


Peter Thelen<br />

abgesehen – werden die Zigeuner als Adressaten e<strong>in</strong>er<br />

assimilativen Politik verstanden.“ 91<br />

In Deutschland wollten seit dem Ende der 70er Jahre e<strong>in</strong>ige<br />

Wissenschaftler die noch nachwirkenden Ansätze der<br />

Zigeunerwissenschaft, die mit ihrer krim<strong>in</strong>albiologischen und<br />

rassehygienischen Argumentation dem nationalsozialistischen<br />

Völkermord an den Roma zugearbeitet hatte, überw<strong>in</strong>den. 92 Die<br />

„zigeunerische Lebensweise“, die früher Begründung für<br />

Verfolgung, Vertreibung und Ermordung war, wurde nun von ihnen<br />

positiv umgedeutet als e<strong>in</strong>e Kultur der Freiheit, die sich den<br />

Zwängen der Industriegesellschaft entzieht. „Folgen von<br />

Ausgrenzung werden tsiganologisch zu ethnischen Eigenschaften<br />

naturalisiert und durch diese Operation ihres gesellschaftlichen<br />

Gehaltes beraubt. Was früher als Nichtarbeit gekennzeichnet<br />

wurde, erhält die Pat<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>er Alternative zu der herrschenden<br />

Wirtschaftsweise.“ 93 Aus dem alternativen und emanzipatorischen<br />

Potenzial, das die „Tsiganologen“ der Lebensweise der Zigeuner<br />

zuordnen, kann gefolgert werden, dass die Politik diese<br />

Lebensweise, zu der extreme Arbeitslosigkeit und Armut, schlechte<br />

gesundheitliche Versorgung sowie gesellschaftliche Ausgrenzung<br />

gehören, weder verändern soll noch kann.<br />

Die Zuordnung positiv bewerteter Eigenschaften aufgrund der<br />

Zugehörigkeit zu den Roma kann auch zu e<strong>in</strong>er Politik gegen das<br />

Interesse der Roma, ihre Benachteiligung zu überw<strong>in</strong>den, führen.<br />

Wenn z. B. selbst „Analphabetismus als typisches Merkmal ihrer<br />

Sonderkultur“ und der „Verzicht auf das Schriftliche e<strong>in</strong> Teil der<br />

ethnischen Identität“ angesehen wird, 94 und wenn das staatliche<br />

Ausbildungssystem als Instrument der „zwangsweisen Vermittlung<br />

von Kulturtechniken der Nichtzigeuner“ 95 def<strong>in</strong>iert wird, kann noch<br />

der Analphabetismus als erhaltenswert betrachtet werden. Der<br />

91<br />

Gronemeyer, R., Zigeuner <strong>in</strong> Ost<strong>europa</strong>. E<strong>in</strong>e Bibliographie zu den Ländern Polen,<br />

Tschechoslowakei und Ungarn, München 1983, S. 7<br />

92<br />

Auf die Kritik an die Ansätze der “Tsiganologen“ wurde oben schon h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

93<br />

Niemann, S., E<strong>in</strong>e nomadische Kultur der Freiheit. Vom Traum der Tsiganologen,<br />

<strong>in</strong>: Hund, W. D., a.a.O., S.42<br />

94<br />

Vgl. Rakelmann, G. A., Zigeuner <strong>in</strong> der Schule – Regulierung durch Pädagogik, <strong>in</strong>:<br />

Münzel, M., Streck, B., a.a.O., 173 – Rakelmann konzediert zwar, dass es auch<br />

Zigeuner gibt, die lesen und schreiben können. Diesen würde aber von anderen<br />

Zigeunern ihr Zigeuner-Se<strong>in</strong> abgesprochen. Rose nennt diesen Ansatz,<br />

„Analphabetismus mit all se<strong>in</strong>en negativen Auswirkungen für uns als positiv<br />

darzustellen“ blanken Hohn und verweist darauf, dass die Nationalsozialisten se<strong>in</strong>em<br />

Volk verboten haben, Schulen zu besuchen und Lesen und Schreiben zu erlernen.<br />

Vgl. Rose, R., Vorwort, <strong>in</strong>: Mart<strong>in</strong>s-Heuß, K.,a.a.O., S. 9<br />

95<br />

Münzel, M., Streck, B., a.a.O., S. 9<br />

60


ROMA IN EUROPA<br />

Staat wäre damit aus der Pflicht, se<strong>in</strong>e Bürger gleich zu behandeln,<br />

entlassen.<br />

Aber auch die Vertretung der eigenen Interessen durch die Roma<br />

wird <strong>in</strong> diesem Ansatz zum<strong>in</strong>dest problematisiert. Die Bildung von<br />

Organisationen gehöre nicht zur segmentären und flexiblen<br />

Gesellschaft der Zigeuner. Sie sei vielmehr „die Anpassung der<br />

Zigeuner an die nicht-zigeunerische Welt der Interessenverbände,<br />

Gremien, Konferenzen und Auszeichnungen.“ 96 Die Zuordnung von<br />

kaum veränderbaren Eigenschaften aufgrund der Zugehörigkeit zu<br />

den Roma und ihre positive Bewertung führt also <strong>in</strong> letzter<br />

Konsequenz zu e<strong>in</strong>em Verzicht auf Politik für die Roma und zur<br />

Verh<strong>in</strong>derung der Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Demokratie.<br />

Es ist verständlich, dass diese Denkweise zum<strong>in</strong>dest bei den neuen<br />

Roma-Vertretern auf heftige Kritik gestoßen ist und ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss<br />

auf die Diskussion <strong>in</strong>nerhalb der Roma sowie auf ihre Bemühungen<br />

um politischen E<strong>in</strong>fluss zur Verbesserung der Lage ihres Volkes<br />

hatte.<br />

Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Politik nach 1990<br />

zwar vor allem darauf gerichtet war, die ökonomische und soziale<br />

Situation der Roma zu verbessern, dass die Roma aber dennoch<br />

e<strong>in</strong>stweilen weiterh<strong>in</strong> Objekte der Politik bleiben. Die meisten<br />

bisherigen Ansätze, die Situation der Roma zu verbessern, können<br />

am ehesten mit der traditionellen Entwicklungspolitik, also der<br />

Politik der Industriestaaten gegenüber den Entwicklungsländern,<br />

verglichen werden. Ebenso wie die Probleme der<br />

Entwicklungsländer zum<strong>in</strong>dest zum Teil durch die frühere<br />

Kolonialpolitik, aber auch durch die gegenwärtigen Macht- und<br />

Wirtschaftsstrukturen verursacht wurden, war die "Zigeunerpolitik"<br />

der Vergangenheit und ist die Politik bis <strong>in</strong> die Gegenwart<br />

mitverantwortlich für die Situation der Roma. So wie mit den Mitteln<br />

der Entwicklungspolitik seit den 70er Jahren versucht wird, zur<br />

Verbesserung der Lage der Menschen <strong>in</strong> Asien, Afrika und<br />

Late<strong>in</strong>amerika beizutragen, entstanden nicht zuletzt durch den<br />

Druck der EU <strong>in</strong> den Staaten, die Mitglied der EU geworden s<strong>in</strong>d<br />

oder die Mitglied werden wollen, Programme, die auf die<br />

Verbesserung der Situation der Roma gerichtet s<strong>in</strong>d.<br />

Ohne hier auf die Ursachen e<strong>in</strong>gehen zu wollen, kann konstatiert<br />

werden, dass die Bilanz der 30-jährigen Entwicklungspolitik ke<strong>in</strong><br />

96 Münzel, M., Streck, B., S. 8<br />

61


Peter Thelen<br />

Anlass ist, mit ihren Erfolgen besonders zufrieden zu se<strong>in</strong>.<br />

Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob dieser Ansatz für e<strong>in</strong>e<br />

Roma-Politik adäquat ist. Diese Frage wird auch von der neuen<br />

Roma-Elite gestellt: "Should the elite <strong>in</strong>sist on implement<strong>in</strong>g Third<br />

World development strategies for their communities, despite the fact<br />

that most of the Romani people live among some of the most<br />

advanced and developed societies <strong>in</strong> the world?" 97<br />

Auch wenn heute eher von Entwicklungszusammenarbeit<br />

gesprochen wird, liegen die Entscheidungen über die Höhe der im<br />

Rahmen dieser Politik von den e<strong>in</strong>zelnen Staaten zur Verfügung<br />

gestellten F<strong>in</strong>anzmittel letztlich trotz <strong>in</strong>ternational e<strong>in</strong>gegangener<br />

Verpflichtungen ebenso bei den Regierungen der Geberländer wie<br />

die Formulierung der Programme. Entwicklungspolitik ist Teil der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Kooperation, <strong>in</strong> der die Interessen der Geberländer<br />

e<strong>in</strong>e nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Dieser Weg ist bei<br />

der Roma-Politik zwar gangbar. Er entspricht aber kaum den<br />

europäischen Vorstellungen von Demokratie. Roma leben zwar<br />

auch außerhalb von Europa, sie s<strong>in</strong>d aber <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie seit<br />

Jahrhunderten Teil der europäischen Bevölkerung.<br />

Trotzdem wurden sie bisher meistens nur als Objekt der Politik<br />

wahrgenommen. "Sie s<strong>in</strong>d ohne Stimme. Das heißt: Sie s<strong>in</strong>d da,<br />

doch dort, wo gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen<br />

werden, werden sie nicht wahrgenommen.... Man tut e<strong>in</strong>erseits so,<br />

als bestehe das Volk der Roma aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber<br />

andererseits nicht bereit, über Proklamationen h<strong>in</strong>aus dieser so<br />

zahlreichen M<strong>in</strong>derheit zu e<strong>in</strong>em demokratischen Mitspracherecht<br />

zu verhelfen." 98<br />

Roma überwiegend nur als Objekt der Politik zu betrachten,<br />

widerspricht nicht nur demokratischen Pr<strong>in</strong>zipien, sondern trägt<br />

auch zur häufig beklagten ger<strong>in</strong>gen Effektivität vieler Programme,<br />

mit denen die Situation der Roma verbessert soll, bei. Auf diesen<br />

Aspekt wird meistens von Vertretern der Roma h<strong>in</strong>gewiesen. Aber<br />

die Europäische Kommission hatte wohl auch diesen E<strong>in</strong>druck. Sie<br />

vergab e<strong>in</strong>e Studie, „weil mit den bestehenden politischen<br />

Maßnahmen sowohl <strong>in</strong>nerhalb der EU der 15 (der „alten“<br />

Mitgliedstaaten) als auch <strong>in</strong> den neuen Mitgliedstaaten die<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung dieser Geme<strong>in</strong>schaft nicht angemessen bekämpft<br />

und deren Integration <strong>in</strong> die Gesellschaft nicht genügend gefördert<br />

97 Mirga, A., Gheorghe, N., a.a.O., S. 41<br />

98 Grass, G., a.a.O., S. 35<br />

62


ROMA IN EUROPA<br />

wird.“ 99 Die im Jahre 2004 veröffentlichte Studie bedauert die<br />

„generell bedeutenden Defizite <strong>in</strong> Bezug auf die Ziele“, die e<strong>in</strong>e<br />

Evaluierung der Maßnahmen zum<strong>in</strong>dest sehr erschweren, und hält<br />

fest: „Die Roma werden bei der Gestaltung und der Durchführung<br />

politischer Maßnahmen, von denen sie profitieren sollen,<br />

gegenwärtig gar nicht oder nur sehr selten und im Allgeme<strong>in</strong>en nur<br />

zögerlich konsultiert und mit e<strong>in</strong>gebunden. Dies steht <strong>in</strong> starkem<br />

Kontrast zu den gut etablierten Standardverfahren <strong>in</strong> Bezug auf<br />

andere kulturelle und ethnische M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Mitgliedstaaten der Europäischen Union.“ 100 Der Bericht empfiehlt<br />

daher, „die Beteiligung der Roma bei der Ausarbeitung, Umsetzung<br />

und Bewertung von politischen Maßnahmen aktiv zu fördern“. 101<br />

Diese Partizipation sei „zu jeder Zeit der Schlüssel für den<br />

tatsächlichen Erfolg und die Nachhaltigkeit von Initiativen“. 102<br />

Die Partizipation der Roma ist <strong>in</strong> der jüngsten Zeit auch<br />

Diskussionsgegenstand bei e<strong>in</strong>er wichtigen Initiative, die die<br />

Situation der Roma <strong>in</strong> Europa verbessern soll. An der von der<br />

Weltbank und dem Open Society Institute <strong>in</strong>itiierten Konferenz<br />

„Roma <strong>in</strong> an Expend<strong>in</strong>g Europe“ nahmen im Juni 2003 <strong>in</strong> Budapest<br />

Regierungschefs und andere hochrangige Vertreter der<br />

Regierungen aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Bulgariens,<br />

Rumäniens, Makedoniens, Kroatiens und aus Serbien und<br />

Montenegro sowie Vertreter der Europäischen Kommission, des<br />

Europarates, des UNDP und der OSZE teil. Sie kündigten für die<br />

Zeit von 2005 bis 2015 die Decade of Roma Inclusion an. Durch die<br />

Roma-Dekade, auf die sich seit dem viel Hoffnung richtet, soll die<br />

soziale Inklusion und die Verbesserung der wirtschaftlichen und<br />

sozialen Lage der Roma beschleunigt werden. Jedes teilnehmende<br />

Land soll e<strong>in</strong>en Aktionsplan entwickeln, um die Ausbildung, die<br />

Beschäftigung, die Gesundheitsversorgung und die Wohnsituation<br />

der Roma zu verbessern. Dabei soll die Partizipation der Roma e<strong>in</strong>e<br />

Schlüsselrolle spielen. Sie sollen an der Erarbeitung der nationalen<br />

Aktionspläne ebenso beteiligt se<strong>in</strong> wie am Monitor<strong>in</strong>g der<br />

Implementierung. „Full Roma participation is envisaged <strong>in</strong> the<br />

planned course of action.“ 103<br />

99<br />

Europäische Kommission (Hrsg.), a.a.O., S. 1<br />

100<br />

Ebd., S. 48<br />

101<br />

Ebd., S. 54<br />

102<br />

Ebd., S. 55<br />

103<br />

Weltbank, Decade of Roma Inclusion, <strong>in</strong>: www.worldbank.org/<strong>roma</strong> - s. a. M<strong>in</strong>ority<br />

Rights Center, Decade of Roma, Belgrad, 2005, S. 7<br />

63


Peter Thelen<br />

Dies ist e<strong>in</strong> guter und Erfolg versprechender Ansatz. Trotzdem gab<br />

es von Beg<strong>in</strong>n an auch Kritik an der Vorgehensweise. So wurde<br />

schon die wenig repräsentative Beteiligung der Roma an der<br />

Initialkonferenz von Budapest bedauert: „ The organisers <strong>in</strong>vited 70<br />

so-called ‚young Roma leaders’ as Roma representatives, but the<br />

selection process had <strong>in</strong> a number of cases been controversial. A<br />

number of important older traditional leaders were excluded...“ 104<br />

Dieses Verfahren erwies sich als nicht sehr hilfreich für die<br />

deklarierte Partizipation der Roma. Es entstand bei e<strong>in</strong>er Reihe<br />

wichtiger Sprecher der Roma der E<strong>in</strong>druck, dass von außen<br />

bestimmt werden soll, wer die Roma vertritt. „Because of the<br />

controversial choice of Roma representatives at the conference,<br />

there was little mediation to prevent them from escalat<strong>in</strong>g, which<br />

complicated the entire partnership process envisioned by the<br />

decade.“ 105<br />

Die durch die Initialkonferenz von Budapest entstandene Situation<br />

wurde auch durch die zweite Konferenz, auf der im Februar 2005 <strong>in</strong><br />

Sofia die Declaration of Roma Inclusion signiert wurde, nicht<br />

verbessert. Wiederum g<strong>in</strong>g es um die repräsentative Vertretung der<br />

Roma. Dieses Mal wurde von den Organisatoren e<strong>in</strong>e junge<br />

unbekannte Romni aus der Slowakei auf das Podium neben die<br />

Regierungschefs, den Weltbankpräsidenten und George Soros<br />

gesetzt, während dem Gründungspräsidenten des European Roma<br />

and Travellers Forum (ERTF), Rudko Kawczynski, und anderen<br />

Vertretern wichtiger Roma-Organisationen nur e<strong>in</strong>e Zuhörerfunktion<br />

zugebilligt wurde. Wieder konnte der E<strong>in</strong>druck entstehen, dass die<br />

Vertretung der Roma von Nicht-Roma bestimmt wurde.<br />

Die unzureichende und wenig repräsentative Rolle der Roma bei<br />

den beiden Konferenzen, die das Fundament der Roma-Dekade<br />

legten, hat möglicherweise dazu beigetragen, dass auch die<br />

Beteiligung der Roma auf der nationalen Ebene bei der Erstellung<br />

der Decade Action Plans als nicht angemessen zu kritisieren war.<br />

Diese Kritik wurde u. a. auf Konferenzen, <strong>in</strong> denen auf nationaler<br />

Ebene die Aktionspläne und ihr Entstehen diskutiert wurden,<br />

deutlich. 106 Der IRU-Generalsekretär formulierte se<strong>in</strong>e Kritik <strong>in</strong><br />

104 Nicolae, V., The decade of Roma Inclusion – Between Hopes, Glitches and<br />

Failures, <strong>in</strong>: www.eumap.org – Valeriu Nicolae ist Deputy Director of the European<br />

Roma Information <strong>Office</strong> (ERIO) <strong>in</strong> Brüssel. Die Kritik wurde aber auch von anderen<br />

geteilt, wie z. B. Zoran Dimov, dem Generalsekretär der International Romani Union<br />

(IRU), <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offenen Brief.<br />

105 Nicolae, V., a.a.O.<br />

106 Der Autor nahm an e<strong>in</strong>er solchen von PER <strong>in</strong>itiierten Konferenz gegen Ende 2004<br />

<strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> teil. Aus der Diskussion g<strong>in</strong>g hervor, die sich die Kritik, die an der<br />

64


ROMA IN EUROPA<br />

e<strong>in</strong>em im Internet veröffentlichten Text: „"As for the preparations of<br />

these draft action plans, very few of the benefiteurs of these action<br />

plans were <strong>in</strong>cluded <strong>in</strong> the mak<strong>in</strong>g, the ones who would have the<br />

ma<strong>in</strong> role <strong>in</strong> the Roma Decade, i.e. the Roma”<br />

“To conclude, the most important issue here revolves around the<br />

fact that the Decade has been advertised as a real partnership<br />

between national governments and Roma communities. The lack of<br />

such partnership until now has arguable been the ma<strong>in</strong> cause of its<br />

failure to establish noticeable improvement <strong>in</strong> the situation of the<br />

Roma so far. It has also made it more difficult to attract substantial<br />

new European fund<strong>in</strong>g for Roma communities” 107 Es bleibt zu<br />

hoffen, dass die Strukturfehler der Startphase durch e<strong>in</strong>e<br />

angemessenere Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Zukunft wenigstens<br />

teilweise überwunden werden können, um mehr von dem<br />

bedeutenden Entwicklungspotenzial der Dekade ausschöpfen zu<br />

können.<br />

Auch die Diskussion um die Roma als europäische M<strong>in</strong>derheit und<br />

als Nation hat <strong>in</strong> der neuen Elite der Roma die Ansprüche auf<br />

politische Partizipation verstärkt. Diese Ansprüche beziehen sich<br />

auf alle Ebenen der politischen Willensbildung, auf die kommunale,<br />

die regionale, die e<strong>in</strong>zelstaatliche sowie die <strong>in</strong>ternationale und<br />

<strong>in</strong>sbesondere die europäische Ebene.<br />

Auf der nationalen Ebene gibt es die Möglichkeit, Interessen<br />

<strong>in</strong>dividuell oder kollektiv wahrzunehmen. In Ungarn werden z. B.<br />

beide Wege beschritten. Im nationalen Parlament waren und s<strong>in</strong>d<br />

seit dem Systemwechsel immer Roma Mitglieder gewesen, die über<br />

die Listen der sozialistischen, der liberalen oder der konservativen<br />

Parteien (MSZP, SZDSZ, FIDESZ) gewählt wurden. Im Rahmen<br />

des M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungssystems haben alle anerkannten<br />

nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten das Recht, sowohl auf<br />

lokaler als auch auf nationaler Ebene Selbstverwaltungen zu<br />

bilden. 108 Seit 2002 gibt es <strong>in</strong> Ungarn e<strong>in</strong>en Staatssekretär, der für<br />

Angelegenheiten der Roma zuständig ist. Auch <strong>in</strong> der Regierung<br />

Partizipation der Roma <strong>in</strong> Makedonien geäußert wurde, auch auf andere Länder<br />

übertragen lässt.<br />

107 Nicolae, V., a.a.O.<br />

108 Obwohl es berechtigte Kritik an diesem System, z. B. h<strong>in</strong>sichtlich des<br />

Wahlsystems, der ger<strong>in</strong>gen F<strong>in</strong>anzausstattung und der Fähigkeit, die sozialen<br />

Probleme der Roma zu lösen, gibt, sche<strong>in</strong>t es doch e<strong>in</strong> Schritt <strong>in</strong> die richtige Richtung<br />

zu se<strong>in</strong>. Mehr dazu im Beitrag von J. Kaltenbach und L. Fórika <strong>in</strong> diesem Band. –<br />

Inzwischen gibt es e<strong>in</strong>e Initiative zur Novellierung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes <strong>in</strong><br />

Ungarn.<br />

65


Peter Thelen<br />

der Republik Serbien ist e<strong>in</strong> Roma als M<strong>in</strong>ister ohne Portefeuille<br />

vertreten. Natürlich werden diese Positionen durch den jeweiligen<br />

Regierungschef besetzt. Die Ernennung e<strong>in</strong>es Roma zum M<strong>in</strong>ister<br />

oder Staatssekretärs kann daher nicht als unmittelbare Partizipation<br />

der Roma gewertet werden. Aber immerh<strong>in</strong> handelt es sich <strong>in</strong><br />

diesen Fällen um Politiker, die selbst Roma s<strong>in</strong>d und die daher die<br />

Probleme der Roma besser verstehen dürften als ihre Kollegen, die<br />

nicht diesen H<strong>in</strong>tergrund haben.<br />

In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens sowie <strong>in</strong> Rumänien<br />

und Bulgarien, also <strong>in</strong> Ländern mit e<strong>in</strong>er großen Zahl von Roma,<br />

s<strong>in</strong>d Roma schon relativ früh politisch aktiv geworden. E<strong>in</strong> Teil von<br />

ihnen ist <strong>in</strong> die existierenden Nicht<strong>roma</strong>-Parteien e<strong>in</strong>getreten. 109<br />

Daneben s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Ländern, vor allem auf dem<br />

Balkan, Roma-Parteien entstanden. Auch hier ist das oben<br />

erwähnte Phänomen der Zersplitterung zu konstatieren. So gibt es<br />

<strong>in</strong> Serbien nach der Gründung der ersten Roma-Partei, der<br />

Sozialdemokratischen Partei der Roma, im Jahre 1990 durch Sait<br />

Balic und Rajko Djuric zurzeit 12 Roma-Parteien, von denen sich<br />

alle<strong>in</strong> 4 als sozialdemokratisch bezeichnen. In anderen Ländern<br />

sieht es ähnlich aus. Trotz dieser Fragmentierung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige<br />

Roma-Parteien <strong>in</strong> den nationalen Parlamenten, z.B. <strong>in</strong> Makedonien,<br />

Rumänien und Bulgarien, vertreten. In der Regel unterstützen sie <strong>in</strong><br />

der parlamentarischen Arbeit die sozialdemokratischen Kräfte. 110 –<br />

In e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den mit überwiegender Roma-Bevölkerung , wie<br />

z. B. Shuto Orizari, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Stadtteil der makedonischen Hauptstadt<br />

<strong>Skopje</strong>, gibt es Bürgermeister, die Roma s<strong>in</strong>d, und überwiegend<br />

aus Roma bestehende Geme<strong>in</strong>deräte. 111<br />

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Roma <strong>in</strong> den Parlamenten<br />

(und <strong>in</strong> den Regierungen) – gemessen an ihrem Anteil an der<br />

Bevölkerung – weit unterrepräsentiert s<strong>in</strong>d. „Because many<br />

parliaments conta<strong>in</strong> none or, at most, a few Romani Members of<br />

Parliament, they fail to reflect the diversity oft he population at<br />

large.“ Damit wird auch e<strong>in</strong>e wesentliche Funktion demokratischer<br />

109 In Serbien s<strong>in</strong>d z. B. Roma <strong>in</strong> allen relevanten Parteien vertreten. Pikanterweise<br />

hat die nationalistische Serbische Radikale Partei die größte Zahl von Roma <strong>in</strong> ihren<br />

Reihen. So Osman Balic, Roma und Bürgermeister von Nis, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag auf der<br />

Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung über "Politische Partizipation der Roma" im<br />

Nov. 2004 <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>.<br />

110 Zu dieser Regel gibt es Ausnahmen, wie z. B. <strong>in</strong> Makedonien von 1998 bis 2002.<br />

111 S. dazu den Beitrag von Sevdija Demirova-Abdulova <strong>in</strong> diesem Band.<br />

66


ROMA IN EUROPA<br />

Parlamente verfehlt, nämlich „to represent the entire electorate of a<br />

country, without exclud<strong>in</strong>g certa<strong>in</strong> demographic groups“ 112<br />

Auch wenn der Anteil der Roma an der wahlberechtigten<br />

Bevölkerung ger<strong>in</strong>ger ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung<br />

(z. B. wegen fehlender Personaldokumente oder wegen des sehr<br />

hohen Anteils junger, noch nicht wahlberechtigter Roma) stellen sie<br />

doch <strong>in</strong> vielen Ländern e<strong>in</strong> für die Parteien <strong>in</strong>teressantes<br />

Stimmenpotenzial. Stimmen von Roma könnten von den Parteien<br />

durch E<strong>in</strong>gehen auf die Bedürfnisse der Roma <strong>in</strong> Wahlprogrammen<br />

und im Wahlkampf gewonnen werden. Dass dies häufig nicht oder<br />

nicht ausreichend getan wird, liegt an dem verbreiteten<br />

Antiziganismus, der bewirkt, dass e<strong>in</strong> Zugew<strong>in</strong>n an Roma-Stimmen<br />

zu e<strong>in</strong>em größeren Verlust von Stimmen aus der<br />

Mehrheitsbevölkerung und von anderen M<strong>in</strong>derheiten führen kann.<br />

E<strong>in</strong> starkes Engagement für die Anliegen der Roma wird daher –<br />

wie der Autor aus persönlichen Begegnungen weiß - manchmal<br />

auch von Politikern vermieden, deren programmatischer und<br />

kultureller H<strong>in</strong>tergrund antiziganistische Motive ausschließt.<br />

„Therefore, <strong>in</strong>creased Romani participation can only be achieved if<br />

ma<strong>in</strong>stream political discourse produces more nuanced,<br />

differentiated and positive perceptions of Roma.“ 113<br />

Aber auch die auf ethnischer Basis agierenden Parteien haben es<br />

schwer, genügend Stimmen zu erhalten, um e<strong>in</strong>e die Roma<br />

quantitativ repräsentierende Kraft im Parlament zu werden. Diese<br />

Schwäche führt ihrerseits wiederum dazu, dass die wenigen<br />

gewählten Roma nur wenig bewegen können, zu wenig, um das<br />

Vertrauen ihrer Wählerschaft <strong>in</strong> sie dauerhaft zu stärken. 114 –<br />

Nicolae Gheorghe macht zudem auf die Konkurrenz, die der stark<br />

angewachsene NGO-Sektor für die Parteien darstellt, aufmerksam.<br />

Viele jüngere und talentierte Roma engagieren sich <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anziell gut<br />

ausgestatteten NGOs. 115 Damit wird den Parteien der Elan der<br />

engagierten Roma-Jugend entzogen.<br />

Auf der europäischen Ebene erhielt die Diskussion über die<br />

politische Partizipation der Roma e<strong>in</strong>en neuen Impuls durch e<strong>in</strong>e<br />

112<br />

Vermeersch, P., Roma <strong>in</strong> domestic and <strong>in</strong>ternational politics: an emerg<strong>in</strong>g voice?,<br />

<strong>in</strong>: Roma Rights, 2001, No. 4, S. 5<br />

113<br />

Vermeersch, P., a.a.O., S. 6<br />

114<br />

Zu den Problemen der Bildung erfolgreicher Roma-Parteien <strong>in</strong> Jugoslawien, also <strong>in</strong><br />

dem Land, <strong>in</strong> dem relativ früh und <strong>in</strong>tensiv mit der Organisation von Roma-Parteien<br />

begonnen wurde, s. den Beitrag von Osman Balic <strong>in</strong> diesem Band.<br />

115<br />

In search of a new deal for Roma, Interview mit Nicolae Gheorghe, <strong>in</strong>: Roma<br />

Rights, 2001, No. 4, S. 14<br />

67


Peter Thelen<br />

sozialdemokratische Politiker<strong>in</strong>. Während der f<strong>in</strong>nischen EU-<br />

Präsidentschaft machte die Staatspräsident<strong>in</strong> F<strong>in</strong>nlands, Tarja<br />

Halonen, im Januar 2001 den Vorschlag, e<strong>in</strong> "European Roma<br />

Consultative Forum" (ERF) mit beratender Funktion bei dem<br />

Europarat mit Ausstrahlung auf andere europäische Institutionen,<br />

wie die EU, zu schaffen, um, wie sie <strong>in</strong> ihrer Rede vor der<br />

Parlamentarischen Versammlung des Europarates sagte, "give a<br />

voice to the Roma". 116<br />

Dieser Vorschlag stieß auf großes Interesse. So wurde er von den<br />

auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene aktiven Roma auf e<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar im<br />

Oktober 2001 <strong>in</strong> Hels<strong>in</strong>ki begrüßt. Auch die Specialist Group on<br />

Roma/Gypsies des Europarates unterstützte im gleichen Monat den<br />

Vorschlag. Die aufgrund des oben erwähnten Tabajdi-Reports<br />

durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates<br />

verabschiedete Recommondation 1557 befürwortete ebenfalls die<br />

Schaffung e<strong>in</strong>es europäischen Roma-Forums. Der M<strong>in</strong>isterrat des<br />

Europarates begrüßte im November 2002 den Vorschlag und<br />

entschied, ihn weiter auf der Tagesordnung zu halten.<br />

Diese pr<strong>in</strong>zipiell positive, aber vage Stellungnahme des<br />

M<strong>in</strong>isterrates deutete aber auch darauf h<strong>in</strong>, dass es Bedenken<br />

gegen die Realisierung des Vorschlages gab. Es bestand bei den<br />

Regierungen e<strong>in</strong>iger Staaten die Befürchtung, dass für die Roma<br />

e<strong>in</strong> Status mit besonderen Rechten geschaffen würde. Damit sei<br />

der verfassungsmäßig verankerte Gleichheitsgrundsatz e<strong>in</strong>iger<br />

Länder und das <strong>in</strong> Artikel 14 der Europäischen Konvention für<br />

Menschenrechte festgelegte Pr<strong>in</strong>zip der Nicht-Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

tangiert. E<strong>in</strong>e Lösung des Problems zeichnete sich im Juni 2003 <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Vorschlag der f<strong>in</strong>nischen Präsident<strong>in</strong> und des<br />

französischen Präsidenten ab. 117 Um das Ziel der Integration der<br />

Roma <strong>in</strong> die europäische Gesellschaft ohne Verletzung des<br />

Gleichheitsgrundsatzes zu erreichen, wurde vorgeschlagen, e<strong>in</strong>e<br />

Vere<strong>in</strong>igung im S<strong>in</strong>ne des französischen Rechtes zu schaffen.<br />

Diese unabhängige NGO, die jetzt European Roma and Travellers<br />

Forum (ERTF) genannt wurde, soll das vertraglich abgesicherte<br />

Recht haben, Vertreter <strong>in</strong> die Organe des Europarates, die sich mit<br />

116 Schon se<strong>in</strong>er Rede vor dem Europarat am 11. Okt. 2000 hatte der<br />

Literaturnobelpreisträger Günter Grass den Titel "Ohne Stimme" gegeben und e<strong>in</strong>e<br />

Änderung dieses Zustandes angemahnt. S. Grass, G., a.a.O., S. 25ff – S. auch den<br />

Auszug <strong>in</strong> diesem Band.<br />

117 S. dazu Vuolasranta, M., European Forum for Roma and Travellers: From the<br />

F<strong>in</strong>nish <strong>in</strong>itiative to the Franco-F<strong>in</strong>nish proposal, <strong>in</strong>: Roma Rights, 2003, Nr. 4, S. 46ff<br />

68


ROMA IN EUROPA<br />

Roma betreffenden Fragen beschäftigen, zu entsenden. Durch<br />

diese Konstruktion soll der Konflikt mit den M<strong>in</strong>derheitenrechten<br />

vermieden werden.<br />

Diese Lösung erregte bei e<strong>in</strong>igen Vertretern der Roma Kritik:<br />

"Regardless the fact that this NGO will probably have Consultative<br />

Status at the Council of Europe, I strongly believe that such an<br />

NGO is by no means a substitute for the representative Roma<br />

assembly that I and so many other Roma leaders had supported,<br />

and for which so many are now still hop<strong>in</strong>g" 118 E<strong>in</strong>e weitere Kritik<br />

bezog sich darauf, daß das ERTF auch die Travellers vertreten soll.<br />

Damit sei dem Anliegen, e<strong>in</strong> Vertretungsorgan für das Volk der<br />

Roma zu schaffen, nicht Genüge getan. Diese Kritik ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

nur verständlich, wenn den ethnischen oder nationalen Interessen<br />

e<strong>in</strong>e höhere Priorität zugemessen wird als der Interessengleichheit<br />

bei unterschiedlicher Ethnizität. Außerdem wird davon<br />

ausgegangen, dass der Begriff „Fahrende“ (auch) für Nicht-Roma<br />

verwendet wird. 119<br />

Trotz dieser Kritikpunkte war die Mehrheit der Roma-Vertreter der<br />

Auffassung, dass die Schaffung des Forums für die Roma<br />

notwendig ist und dass se<strong>in</strong>e Anb<strong>in</strong>dung an den Europarat zur<br />

Erhöhung se<strong>in</strong>er Wirkung führt. Daher brachte der französischf<strong>in</strong>nische<br />

Vorschlag wieder Bewegung <strong>in</strong> die festgefahrene<br />

Situation. Im Juli 2004 wurde von an der Diskussion beteiligten<br />

Roma beim Gericht <strong>in</strong> Straßburg die Registrierung der<br />

<strong>in</strong>ternationalen Assoziation European Roma and Travellers Forum<br />

(ERTF) beantragt. Im November stimmte der M<strong>in</strong>isterrat des<br />

Europarates der engen und privilegierten Zusammenarbeit mit dem<br />

ERTF zu. Am 15. Dezember 2004 wurde <strong>in</strong> Anwesenheit der<br />

Initiator<strong>in</strong>, Tarja Halonen, der Vertrag zwischen dem ERTF und dem<br />

Europarat unterzeichnet.<br />

Von der Unterbreitung des Vorschlages bis zur<br />

Vertragsunterzeichnung fand e<strong>in</strong> vierjähriger, nicht immer leichter<br />

118 Ivan Vesely, Chairman of Dzeno Association, www. dzeno.cz - Auf die Kritik von<br />

Aladar Hovath wurde schon im Abschnitt 6 h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

119 Die Bezeichnung "Fahrende" wird für Gruppen verwendet, die vom ethnischen<br />

Kriterium her nicht zu den Roma, aber durch ihre Lebensweise eng mit Roma-<br />

Gruppen verbunden s<strong>in</strong>d. Vgl. Machiels, T., Distanz wahren oder Teilnahme wagen –<br />

Roma und Fahrende <strong>in</strong> West<strong>europa</strong>, Brüssel, 2002, S. 4, und Liegeois, J.-P., a.a.O.,<br />

S. 51 – In Irland und im Großbritannien wird der Begriff „travellers“ verschiedenen<br />

Roma-Gruppen zugeordnet, und zwar unabhängig davon, ob nomadisch leben oder<br />

sesshaft s<strong>in</strong>d.<br />

69


Peter Thelen<br />

Diskussionsprozess statt. Auf e<strong>in</strong>ige Aspekte der Diskussion wurde<br />

schon h<strong>in</strong>gewiesen. Der schwierigste Punkt war und ist die<br />

Repräsentativität bzw. die Legitimation des neuen Forums. Schon<br />

die erste aufgrund des Halonen-Vorschlages im Jahre 2002<br />

gebildete Arbeitsgruppe, <strong>in</strong> der neben Repräsentanten der OSZE,<br />

der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes und<br />

des Europarates erstmals auch Vertreter der beiden <strong>in</strong>ternationalen<br />

Roma-Organisationen, Roma National Congress (RNC) und<br />

International Romani Union (IRU) vertreten waren, legte im Oktober<br />

2001 e<strong>in</strong>en Entwurf zur Bildung e<strong>in</strong>es European Roma Forums<br />

(ERF) vor, um den Roma erstmals <strong>in</strong> ihrer 600-jährigen<br />

europäischen Geschichte e<strong>in</strong>e hörbare Stimme zu geben. Danach<br />

sollte das ERF unter dem Dach des Europarates gegründet werden.<br />

Es sollte aber gleichzeitig mit der EU und der OSZE kooperieren<br />

und zusammengesetzt se<strong>in</strong> aus Roma, die von Roma gewählt<br />

werden, um für Roma zu wirken. Das Ziel war dabei "to participate<br />

and <strong>in</strong>fluence governance <strong>in</strong> Europe at all level – european,<br />

national, regional and local".<br />

Es wurde <strong>in</strong> der Diskussion deutlich, dass die Realisierung des<br />

Halonen-Vorschlages den ersten Schritt zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Partizipation der Roma darstellen könnte. Obwohl die Initiative auf<br />

politischer Ebene begrüßt wurde, wurde auch Kritik geäußert. 120 E<strong>in</strong><br />

wesentliches Problem war schon <strong>in</strong> dieser frühen Phase der<br />

Diskussion der befürchtete Mangel an demokratischer Legitimation<br />

der Mitglieder <strong>in</strong> der zu schaffenden Institution. Dieses Problem war<br />

der Arbeitsgruppe, die den ersten Vorschlag erarbeitete, wohl<br />

bewusst. In ihrem Bericht hält sie fest: "Certa<strong>in</strong> members of the<br />

group stressed that while representation <strong>in</strong> Europe for the Roma<br />

through elections by <strong>in</strong>dividual ballot<strong>in</strong>g was not a realistic option at<br />

this stage, it would <strong>in</strong> their own view be desirable to promote such<br />

an aim at a later stage. The group's recommendation entail the<br />

establishment of the European Roma Forum accord<strong>in</strong>g to<br />

democratic pr<strong>in</strong>ciples based on a composition as representative as<br />

possible."<br />

Die schärfste Kritik an dieser Vorgehensweise bei der Gründung<br />

des ERTF <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er jetzigen Form wurde vom damaligen<br />

Commissioner for Foreign Affairs der IRU formuliert. Se<strong>in</strong>e Position<br />

ist, dass Legitimität sowohl von Roma- als auch von Nicht<strong>roma</strong>-<br />

Organen nur durch e<strong>in</strong> unzweifelhaftes demokratisches Verfahren<br />

entstehen kann. E<strong>in</strong> solches Verfahren könne für e<strong>in</strong> Forum, das<br />

120 Auf die Kritik von Aladar Hovath wurde schon im Abschnitt 6 h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

70


ROMA IN EUROPA<br />

legitimiert ist, für die Roma Europas zu sprechen, nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

echten <strong>europa</strong>weiten Wahl bestehen. Auch er sieht die<br />

Schwierigkeiten, diesen Weg zu gehen, hält sie aber für<br />

überw<strong>in</strong>dbar. 121 Die meisten an der Diskussion beteiligten Experten<br />

waren h<strong>in</strong>sichtlich der Überw<strong>in</strong>dbarkeit der Schwierigkeiten<br />

skeptischer. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe basierte also auf dem<br />

pragmatischen Gedanken, dass, wenn der Idealzustand zurzeit<br />

nicht zu erreichen ist, doch etwas geschaffen werden kann, das<br />

besser ist als der augenblickliche Zustand. Dadurch sollte Druck<br />

aufgebaut werden, die Mängel <strong>in</strong> der Zukunft zu beseitigen, das<br />

heißt, die demokratische Legitimation zu verbessern. In Anlehnung<br />

an die für den Kosovo formulierte Politik kann dieser Ansatz so<br />

zusammengefasst werden: Institution vor Standard, Standard durch<br />

Institution.<br />

Der Prozess der Nom<strong>in</strong>ierung der Delegierten zum ERTF 122 birgt<br />

Chancen und Gefahren. Neben den <strong>in</strong>ternationalen Roma-<br />

Organisationen können aus Ländern, <strong>in</strong> denen Dachorganisationen<br />

der Roma, die mehr als 75 % der die Roma repräsentierenden<br />

Strukturen <strong>in</strong> ihrem Land vertreten, Delegierte <strong>in</strong> die<br />

Vollversammlung und das Exekutivkomitee des ERTF entsandt<br />

werden. Die Zahl der stimmberechtigten Delegierten hängt dabei<br />

von der Zahl der Roma im jeweiligen Land ab. Sie liegt zwischen 1<br />

und 4, wobei sicher gestellt muss, dass beide Geschlechter sowie<br />

die Jugend vertreten s<strong>in</strong>d. - Die Voraussetzung der Existenz e<strong>in</strong>er<br />

repräsentativen Dachorganisation ist <strong>in</strong> vielen Ländern zurzeit nicht<br />

gegeben. In diesen Fällen müssen die landesweit tätigen Roma-<br />

NGOs, die im Parlament vertretenen Roma-Parteien und die<br />

Beratungs- und Selbstverwaltungskörperschaften der Roma ihre<br />

Landesdelegation wählen. 123 Dies schafft e<strong>in</strong>en Druck zur<br />

Kommunikation zwischen den Roma-Organisationen und zur<br />

geme<strong>in</strong>samen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung auf Landesebenen. Dieser<br />

Prozess kann sowohl dazu führen, dass die<br />

Kooperationsbereitschaft der beteiligten Organisationen gestärkt<br />

wird, als auch dazu, dass die Spannungen wachsen und die<br />

Legitimation von Landesdelegationen bestritten wird.<br />

Das Verfahren der Delegiertenauswahl beim Fehlen e<strong>in</strong>er<br />

repräsentativen Dachorganisation ist nur <strong>in</strong> der ersten, vier Jahre<br />

dauernden Periode zugelassen. Dadurch soll die Motivation,<br />

derartige Dachorganisationen zu bilden, erhöht werden. Zudem wird<br />

121 Vgl. Pietrosanti, P., a.a.O., S. 52ff<br />

122 Statut des ERTF, Art. 5 und 6<br />

123 Statut des ERTF, Transitional clauses, Nr. 2<br />

71


Peter Thelen<br />

von den Dachorganisationen gefordert, dass die gewählten<br />

Delegierten "should be representative of their community, and enjoy<br />

the confidence and trust of the population they represent" 124 Diese<br />

Lösung spiegelt die oben erwähnte Diskussion um den<br />

demokratischen Standard e<strong>in</strong>es Roma-Forums wider. Über die<br />

Institutionalisierung des ERTF soll die demokratische Legitimation<br />

verbessert werden. Dieser Prozess hat beabsichtigte<br />

Rückwirkungen auf die Roma-Organisationen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Ländern. Wenn er gel<strong>in</strong>gt, wird diese Stimme nicht mehr zu<br />

überhören se<strong>in</strong> und der E<strong>in</strong>fluss der Roma sowohl auf europäischer<br />

als auch auf e<strong>in</strong>zelstaatlicher Ebene gestärkt.<br />

Der Halonen-Vorschlag hatte schon vor se<strong>in</strong>er Realisierung e<strong>in</strong>ige<br />

positive Effekte. Er führte zu e<strong>in</strong>er mehrjährigen Diskussion, an der<br />

sowohl die Roma-Elite als auch Nicht-Roma, vor allem aus<br />

europäischen Institutionen und aus <strong>in</strong>ternationalen Organisationen,<br />

beteiligt waren. Dadurch entstand e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> besserer<br />

Informationsstand der beteiligten Gadje über die Anliegen der<br />

Roma. Andererseits erhöhte der geme<strong>in</strong>same Wille, e<strong>in</strong>e<br />

vernehmbare Stimme der Roma auf europäischer Ebene zu<br />

schaffen, bei den rivalisierenden <strong>in</strong>ternationalen Roma-<br />

Organisationen, vor allem beim RNC und der IRU, die Bereitschaft<br />

zu kooperieren. So e<strong>in</strong>igten sich diese Organisationen im<br />

Entstehungsprozess des ERTF auf e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Sprecher,<br />

das Mitglied des makedonischen Parlamentes, Nezdet Mustafa. E<strong>in</strong><br />

Zeichen für die Verbesserung des Klimas zwischen den<br />

Organisationen war die E<strong>in</strong>ladung der IRU an Rudko Kawczynski<br />

vom RNC zu ihrem 6. Weltkongress im Oktober 2004 <strong>in</strong> Lanciano,<br />

Italien. Kawczynski, der <strong>in</strong>zwischen die Funktion des<br />

Gründungspräsidenten des ERTF übernommen hatte, nutzte die<br />

Gelegenheit, um zu und mit den Vertretern der<br />

Konkurrenzorganisation zu sprechen.<br />

Die Schaffung des ERTF ist deshalb von so großer Bedeutung, weil<br />

damit zum ersten Mal e<strong>in</strong>e repräsentative Organisation entstehen<br />

kann, die über Ländergrenzen und konkurrierende Organisationen<br />

h<strong>in</strong>aus die Interessen der Roma formulieren und für sie Gehör<br />

f<strong>in</strong>den kann. Formal wird das Forum zwar im Rahmen des<br />

Europarates tätig. Es hat aber darüber h<strong>in</strong>aus die Möglichkeit, mit<br />

anderen <strong>in</strong>ternationalen und <strong>in</strong>sbesondere europäischen<br />

Institutionen, wie der EU, <strong>in</strong> Kontakt zu treten und auch dort se<strong>in</strong>e<br />

124 Council of Europe, The European Roma and Travellers Forum (ERTF),<br />

www.coe.<strong>in</strong>t/T/E/social_cohesion/Roma_Travellers/ERTF<br />

72


ROMA IN EUROPA<br />

Stimme zu Gehör zu br<strong>in</strong>gen. "To encourage the development and<br />

implementation of policies, programmes and activities … it shall<br />

deliver op<strong>in</strong>ions and make proposals to decision-mak<strong>in</strong>g bodies <strong>in</strong><br />

Europe at the European, <strong>in</strong>ternational and national level and, where<br />

appropriate, at the regional or local level <strong>in</strong> order to <strong>in</strong>fluence<br />

decision-mak<strong>in</strong>g processes likely to affect, directly or <strong>in</strong>directly, the<br />

populations (of Roma, S<strong>in</strong>ti, Kalé, Travellers and related groups <strong>in</strong><br />

Europe)…" 125 Dies ist e<strong>in</strong> Schritt, den von Günter Grass<br />

beschriebenen Zustand der Stimmlosigkeit der Roma zu<br />

überw<strong>in</strong>den.<br />

Schon kurz nach dem Vertragsschluss des ERTF mit dem<br />

Europarat wurde das Forum auch <strong>in</strong> Richtung anderer europäischer<br />

Institutionen aktiv und fand bei ihnen Beachtung. So überreichte<br />

e<strong>in</strong>e Delegation des ERTF am 7. 4. 2005 – also am Vorabend des<br />

jährlich gefeierten <strong>in</strong>ternationalen Roma-Tages 126 – dem<br />

Präsidenten des Europäischen Parlamentes, J. Borrell, die Flagge<br />

der Roma und bat das Parlament um Kooperation. „This is the<br />

beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g of speak<strong>in</strong>g with – and not just about – Roma“, so der<br />

Gründungspräsident des Forums, R. Kawczynski.<br />

Am 28. 4. 2005 verabschiedete das Europäische Parlament e<strong>in</strong>e<br />

Entschließung zu der Lage der Roma <strong>in</strong> der Europäischen Union.<br />

Dieser Entschließung ist deutlich anzumerken, dass die Diskussion<br />

um die Gründung e<strong>in</strong>es europäischen Forums für die Roma und die<br />

darauf aufbauende Etablierung des ERTF die Akzeptanz der<br />

politischen Partizipation der Roma gefördert hat. Es wird mit<br />

Bedauern festgestellt, dass die Roma immer noch <strong>in</strong> den<br />

Regierungsstrukturen und Behörden der Länder, <strong>in</strong> denen sie e<strong>in</strong>en<br />

erheblichen Anteil an der Bevölkerung stellen, unterrepräsentiert<br />

s<strong>in</strong>d und dass e<strong>in</strong>e wirksame Beteiligung der Roma am politischen<br />

Leben sicherzustellen ist, und zwar <strong>in</strong>sbesondere dort, wo von den<br />

Entscheidungen ihre Geme<strong>in</strong>schaft betroffen ist. Die Entschließung<br />

begrüßt ausdrücklich die Bildung des ERTF und anerkennt die<br />

Bedeutung der Zusammenarbeit mit diesem Forum.<br />

Bisher s<strong>in</strong>d die Roma <strong>in</strong> der Regel Objekte der Programme auf<br />

europäischer, e<strong>in</strong>zelstaatlicher und lokaler Ebene. Durch das Forum<br />

soll diese von den Roma kritisierte Vorgehensweise überwunden<br />

werden. "It is only natural that the Roma themselves, as the best<br />

125 Statut des ERTF, Art. 3.1<br />

126 Sowohl der <strong>in</strong>ternationale Roma-Tag als auch die Flagge und die Hymne der<br />

Roma wurden 1971 vom Londoner Weltkongress der Roma e<strong>in</strong>geführt.<br />

73


Peter Thelen<br />

experts, should take part <strong>in</strong> plann<strong>in</strong>g and monitor<strong>in</strong>g activities. Up to<br />

now the Roma have been ma<strong>in</strong>ly the focus of activities, but from<br />

now on they will have their own opportunity to participate. The<br />

forum offers a way to convey the Roma's views and expertise to<br />

decision-makers. This is beneficial for the Roma as well as<br />

governments and <strong>in</strong>ternational organizations." 127<br />

Die Gründung der ERTF kann dazu beitragen, dass die Roma aus<br />

ihrer Rolle als Objekte der Politik zu teilnehmenden Subjekten<br />

werden. Diese Chance besteht trotz aller Probleme <strong>in</strong> der Praxis.<br />

Längerfristig wird der Erfolg allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>er weiteren<br />

Verbesserung der demokratischen Legitimation des Gremiums<br />

abhängen. Vielleicht kann die Arbeit des Forums dazu beitragen,<br />

dass die organisatorischen Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e<br />

unzweifelhafte Repräsentativität der Roma geschaffen werden. Dies<br />

wäre auf längere Sicht der Übergang von e<strong>in</strong>em Forum zu e<strong>in</strong>em<br />

Parlament der Roma.<br />

127<br />

Tarja Halonen <strong>in</strong> ihrer Rede zur Eröffnung des ERTF <strong>in</strong> Straßburg am 15. Dez.<br />

2004<br />

74


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80


Günter Grass<br />

Ohne Stimme 1<br />

ROMA IN EUROPA<br />

... Dennoch ist <strong>in</strong>sgesamt zu sagen, daß sich die Europäische<br />

Union, <strong>in</strong>klusive zukünftiger Beitrittsländer, mehr und mehr als<br />

Festung begreift. Europa will sich dicht machen, um dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen<br />

der Elenden, die aus Afrika, Asien und Rußland kommen,<br />

kommen wollen oder bereits unterwegs s<strong>in</strong>d, widerstehen zu<br />

können. Das ist nicht e<strong>in</strong>fach. Die langen Meeresküsten Spaniens<br />

und Italiens, die rigorosen Schleuserbanden, die Durchlässigkeit der<br />

osteuropäischen Grenzen, all das spricht gegen den Erfolg der<br />

Festungsbauer. Noch behilft man sich mit der Abschiebepraxis. Noch<br />

glaubt man mit - wenn auch zögerlichem und unzureichendem -<br />

Schuldenerlaß den armen Ländern genügend Hilfe zu gewähren.<br />

Doch <strong>in</strong>nerhalb der Festung Europa macht sich Festungsmentalität<br />

breit. Immer neue Gesetze werden erlassen, die die demokratischen<br />

Spielräume verengen. Dem Rechtsradikalismus, der oft genug die<br />

regierungsamtliche Politik auf die brutalstmögliche Weise <strong>in</strong> die Tat<br />

umsetzt, will man, wie anfangs gesagt, mit e<strong>in</strong>em Parteiverbot der<br />

NPD 2 beikommen. Das Denken verengt sich. Ängste gehen um,<br />

die sich aus latenter und oft genug mit politischem Kalkül ermunterter<br />

Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit speisen. Da es aber nicht gel<strong>in</strong>gt,<br />

Europas Grenzen nach außen total abzusichern, richtet sich der<br />

e<strong>in</strong>mal entfesselte Sicherheitswahn gesamteuropäisch auch gegen<br />

M<strong>in</strong>derheiten, die seit Jahrhunderten Mitbewohner unseres<br />

Kont<strong>in</strong>ents s<strong>in</strong>d.<br />

Von ihnen soll hier die Rede se<strong>in</strong>. Sie stehen ständig unter<br />

Verdacht. Sie s<strong>in</strong>d allerorts nur geduldet. Ihre Existenz ist von<br />

gleichbleibend starren Vorurteilen beschwert. Man hat sie<br />

diskrim<strong>in</strong>iert, verfolgt und während zwölf Jahren, als nach<br />

deutschen Rassegesetzen Recht gesprochen wurde, deportiert und <strong>in</strong><br />

Konzentrationslagern ermordet. Sie werden, wenn Schuld<br />

e<strong>in</strong>gestanden wird, vergessen oder allenfalls beiläufig genannt. Ich<br />

spreche von S<strong>in</strong>ti und Roma. Die grob geschätzt zwanzig Millionen<br />

Angehörigen dieses Volkes bilden die größte und dennoch nicht<br />

ausreichend anerkannte M<strong>in</strong>derheit Europas. Sie s<strong>in</strong>d wie ohne<br />

Stimme. Das heißt: Sie s<strong>in</strong>d da, doch dort, wo<br />

1 Auszug aus der Rede vor dem Europarat <strong>in</strong> Straßburg am 11. Oktober 2000. Günter<br />

Grass: Ohne Stimme, © Steidl Verlag, Gött<strong>in</strong>gen 2000. Der Abdruck erfolgt mit<br />

freundlicher Genehmigung des Steidl Verlags.<br />

2 Abk. für e<strong>in</strong>e nicht im Bundestag vertretene rechtsradikale Partei (Anm. des Hrsg.)<br />

81


Günter Grass<br />

gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, werden sie<br />

nicht wahrgenommen. Wenn von ihrer Kultur die Rede ist, fehlt es<br />

nicht an schwärmerischen H<strong>in</strong>weisen auf die Zigeunermusik und<br />

deren E<strong>in</strong>flüsse auf spanische, ungarische und deutsche<br />

Komponisten. Man tut e<strong>in</strong>erseits so, als bestehe das Volk der Roma<br />

aus lauter Geigenvirtuosen, ist aber andererseits nicht bereit, über<br />

Proklamationen h<strong>in</strong>aus dieser so zahlreichen M<strong>in</strong>derheit zu e<strong>in</strong>em<br />

demokratischen Mitspracherecht zu verhelfen.<br />

Ich muß mich korrigieren: In Ansätzen gibt es diese Mitsprache.<br />

In der jungen und bisher von den blutigen Wirren des Balkans<br />

verschonten Republik Makedonien s<strong>in</strong>d Abgeordnete aus vier<br />

Roma-Parteien im Parlament vertreten. In e<strong>in</strong>igen Stadtbezirken<br />

der Hauptstadt ist sogar Romanes, die Sprache der Roma,<br />

Amtssprache. Doch <strong>in</strong> Tschechien, wo selbst unter kommunistischer<br />

Herrschaft dem Parlament elf Abgeordnete der Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheit angehörten, ist es seit der politischen Wende mit dieser<br />

Mitsprache vorbei. Als kürzlich <strong>in</strong> Prag e<strong>in</strong> Kongreß der<br />

Internationalen Romani Union stattfand und sich vierhundert Vertreter<br />

der weit zerstreuten M<strong>in</strong>derheit versammelt hatten, wurden <strong>in</strong> der<br />

ihnen geme<strong>in</strong>samen Sprache all die <strong>europa</strong>weit zu belegenden<br />

Ungerechtigkeiten laut, die seit Jahrhunderten dem Volk der Roma<br />

zugefügt werden: Diskrim<strong>in</strong>ierung, Ausgrenzung, Vertreibung,<br />

Verfolgung, Totschlag. So s<strong>in</strong>d zur Zeit von den<br />

hundertfünfzigtausend Roma-Angehörigen im Kosovo nur noch<br />

fünfzehn- bis zwanzigtausend geblieben, die, <strong>in</strong> Ghettos gepfercht, zu<br />

überleben versuchen; der Großteil hat, verfolgt vom Haß und den<br />

Gewalttätigkeiten der Serben und Albaner, die Flucht ergreifen<br />

müssen. Die gegenwärtig anwesenden Kfor-Soldaten waren und<br />

s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> der Lage, sie vor dem doppelten Haß zu schützen, sei<br />

es, weil sie überfordert s<strong>in</strong>d, sei es, weil wieder e<strong>in</strong>mal den<br />

Angehörigen des Romavolkes Schutz verweigert wird. Und dennoch<br />

wurde auf dem Kongreß <strong>in</strong> Prag kühn und aus verletztem<br />

Selbstbewußtse<strong>in</strong> von der Nation der Roma gesprochen. E<strong>in</strong><br />

Beschluß wurde gefaßt, nach dem demnächst <strong>in</strong> Brüssel e<strong>in</strong> Büro<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Organisation e<strong>in</strong>gerichtet werden soll. Denn<br />

auch dort, wo alle Interessengruppen aus Wirtschaft und Industrie<br />

kraft ihrer jeweiligen Lobby mitsprechen und Entscheidungen<br />

bee<strong>in</strong>flussen, s<strong>in</strong>d die Roma ohne Stimme.<br />

Doch das ist und kann nicht genug se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e so große M<strong>in</strong>derheit,<br />

die bei uns <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerer Zahl, doch <strong>in</strong> Spanien und Portugal, <strong>in</strong><br />

Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien<br />

überaus zahlreich ist, verlangt aus e<strong>in</strong>sichtigen Gründen nach<br />

e<strong>in</strong>em demokratischen Mitspracherecht. Wo anders sollte e<strong>in</strong><br />

solches Recht verwurzelt se<strong>in</strong> als hier <strong>in</strong> Straßburg, im Europäischen<br />

Parlament. Es ist nicht damit getan, daß dann und wann so<br />

82


ROMA IN EUROPA<br />

feierliche wie gutwillige Resolutionen verabschiedet werden, die<br />

dem Volk der Roma ihre ohneh<strong>in</strong> unübersehbare Existenz<br />

bestätigen. Vielmehr ist es an der Zeit, den hochgesteckten Ansprüchen<br />

der immer größer werdenden Europäischen Union<br />

gerecht zu werden. Europa muß mehr se<strong>in</strong> als nur e<strong>in</strong> erweiterter<br />

Markt und e<strong>in</strong>e auf Wirtschafts<strong>in</strong>teressen ausgerichtete Bürokratie.<br />

Europa hat e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same, wenn auch widerspruchsvolle und allzu<br />

oft <strong>in</strong> Krieg und Gewalt umschlagende Geschichte; seit dem fünfzehnten<br />

Jahrhundert s<strong>in</strong>d die Gitanes, Gypsies, Zigeuner dieser<br />

Geschichte zugehörig, oft genug als Leidtragende und Verfolgte. Europa<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Vielgestalt hat e<strong>in</strong>e sich wechselseitig <strong>in</strong>spirierende<br />

Kultur; wer wollte leugnen, daß <strong>in</strong>sbesondere die Musik von der<br />

Musikalität der Roma bee<strong>in</strong>flußt worden ist. Und Europa hat e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Verantwortung. Nach e<strong>in</strong>em Jahrhundert, <strong>in</strong> dem<br />

totalitäre Ideologien und Rassenwahn, Weltkriege und Völkermorde,<br />

bl<strong>in</strong>dwütige Zerstörung und Massenvertreibungen unseren<br />

Kont<strong>in</strong>ent wiederholt an den Abgrund gebracht haben, sich aber<br />

schließlich doch e<strong>in</strong> demokratisches Selbstverständnis erprobt und<br />

endlich auch e<strong>in</strong>gebürgert hat, sollte es möglich se<strong>in</strong>, der größten<br />

M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa, dem Volk und der Nation der Roma, im<br />

Straßburger Parlament Sitz und Stimme zu geben.<br />

Schon bei der nächsten Europawahl könnten die Vertreter dieser<br />

Nation mit e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Liste Mandate anstreben. Ich weiß,<br />

der Weg bis zu e<strong>in</strong>em demokratischen Wahlgang ist mit<br />

Schwierigkeiten besonderer Art gepflastert. Nicht nur die<br />

e<strong>in</strong>gefleischten Vorurteile gegenüber Zigeunern werden gegen e<strong>in</strong>en<br />

solchen Entschluß wirksam werden, auch wird es nicht leicht se<strong>in</strong>,<br />

die Angehörigen des Romavolkes, unter ihnen viele Staatenlose,<br />

dazu zu bewegen, sich für e<strong>in</strong>e anstehende Wahl registrieren zu<br />

lassen. Alle<strong>in</strong> dieses Wort ruft bei ihnen Er<strong>in</strong>nerungen wach an<br />

Hunderttausende Familienangehörige, die registriert, das heißt<br />

schriftlich erfaßt und mit Hilfe genau geführter Listen verhaftet, deportiert,<br />

<strong>in</strong> deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Also<br />

ist die Scheu vor e<strong>in</strong>er Registrierung selbst dann, wenn sie für e<strong>in</strong>e<br />

demokratische Wahl Voraussetzung ist, verständlich und muß doch<br />

überwunden werden. H<strong>in</strong>zu kommt, daß Romanes, die Sprache<br />

des Romavolkes, nur <strong>in</strong> Ansätzen verschriftlicht ist. Zwar wird sie <strong>in</strong><br />

allen europäischen Ländern neben der Landessprache von den<br />

Roma und S<strong>in</strong>ti <strong>in</strong> jeweiligem Dialekt gesprochen, aber diese<br />

<strong>in</strong>nere Verständigung dr<strong>in</strong>gt nicht nach außen. Sie kapselt ab. Sie bot<br />

und bietet Schutz. Sie ist die Geheimsprache der Diskrim<strong>in</strong>ierten<br />

und Verfolgten. Doch auch diese Widerstände müssen nach und<br />

nach überwunden werden. Auf der Prager Tagung der Internationalen<br />

Romani Union wurden solche Forderungen laut. Es könnte,<br />

83


Günter Grass<br />

zum Beispiel, Aufgabe der europäischen Behörden und der<br />

Europäischen Investitionsbank se<strong>in</strong>, mit e<strong>in</strong>em langfristigen<br />

Programm die Sprachentwicklung des Romanes zur<br />

Unterrichtssprache zu fördern. Nur so wird sich den K<strong>in</strong>dern der<br />

Roma und S<strong>in</strong>ti der Weg zu weiterführenden Schulen und <strong>in</strong> die<br />

Universitäten öffnen lassen, nur so können sie <strong>in</strong> ausreichender<br />

Zahl zu Sprechern ihres Volkes werden, nicht zuletzt und wie hier<br />

gefordert im Europaparlament zu Straßburg.<br />

... Doch das hier <strong>in</strong> Straßburg gesetzte Thema ist von<br />

grenzüberschreitender Bedeutung. Und weil es nicht damit getan<br />

ist, <strong>in</strong> wohlformulierten Erklärungen gegen den Rassismus zu<br />

protestieren, es vielmehr darauf ankommt, mutig politische<br />

Zeichen zu setzen, das heißt, tätig den Rassismus zu überw<strong>in</strong>den,<br />

wiederhole ich me<strong>in</strong>en Vorschlag als Forderung. Für das Europäische<br />

Parlament <strong>in</strong> Straßburg wäre es e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n, wenn <strong>in</strong> ihm die frei<br />

gewählten Abgeordneten des Romavolkes Sitz und Stimme hätten.<br />

Sie s<strong>in</strong>d Europas beweglichste Bürger. Sie überw<strong>in</strong>den Grenzen. Sie<br />

s<strong>in</strong>d mehr als alle anderen bewährte, weil leidgeprüfte Europäer.<br />

84


Rajko Djuric<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Die Standardsprache der R<strong>roma</strong> - Bed<strong>in</strong>gung und<br />

Grundlage der nationalen und kulturellen Identität der<br />

R<strong>roma</strong> 1<br />

Jahrhunderte h<strong>in</strong>durch waren Geschichte, Kultur und Sprache der<br />

R<strong>roma</strong> Gegenstand zahlreicher Untersuchungen der Nicht-R<strong>roma</strong>.<br />

Sie behaupteten, die R<strong>roma</strong> seien fahrendes Volk, Analphabeten<br />

und Menschen ohne Schulbildung und verwehrten mit derartigen<br />

Argumenten den R<strong>roma</strong> den Zugang zu ihrer geschichtlichen und<br />

kulturellen Vergangenheit und deren Erforschung. Ende der 60iger<br />

Jahre des letzten Jahrhunderts traten erstmals <strong>in</strong>tellektuelle R<strong>roma</strong><br />

öffentlich <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung, es entstanden erste Anfänge e<strong>in</strong>er<br />

nationalen und kulturellen Bewegung der R<strong>roma</strong>. Das R<strong>roma</strong>nes,<br />

die vorher lediglich als Untersuchungsgegenstand betrachtete<br />

Sprache der R<strong>roma</strong>, wurde nun als e<strong>in</strong>e wichtigen Sache. Man<br />

begann, sie als e<strong>in</strong> wesentliches Merkmal der nationalen und<br />

kulturellen Identität zu behandeln. Seither wird sie nicht mehr nur<br />

als bloße l<strong>in</strong>guistische und kulturelle Tatsache angesehen, sondern<br />

hat auch erheblich an politischer Bedeutung gewonnen. Als<br />

wesentlicher Bestandteil des lebendigen Gedankens wurde die<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache zum Ort der Erfahrung und der Begegnung mit<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der R<strong>roma</strong>. Mit anderen<br />

Worten, das R<strong>roma</strong>nes wurde nicht mehr nur aus etymologischer<br />

Sicht, aus der Sicht e<strong>in</strong>er vergleichenden und dialektologischen<br />

Philologie (wie das bis dah<strong>in</strong> meist der Fall gewesen war)<br />

betrachtet, sondern wir begannen, <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache das Herz<br />

der Geschlechter, Familien, Clans und Gruppen zu sehen,<br />

<strong>in</strong>sbesondere derer, die <strong>in</strong> Europa leben. Ab diesem Zeitpunkt<br />

wurde zwischen den R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale – die bis dah<strong>in</strong> ohne<br />

kont<strong>in</strong>uierlichen Kontakt und unter unterschiedlichsten<br />

wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bed<strong>in</strong>gungen 800 Jahre<br />

lang vone<strong>in</strong>ander getrennt gelebt hatten - e<strong>in</strong> höherer Grad an<br />

kultureller, nationaler und sozialer Integration erreicht.<br />

Das Bewusstse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Sprache zu haben, und der Wille, sich zu<br />

dieser Sprache zu bekennen, manifestierten sich 1971 beim Ersten<br />

Weltkongress der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> London, als die Kommission für r<strong>roma</strong>ni<br />

1<br />

Die französische Fassung dieses Beitrags erschien im August 2005 <strong>in</strong> Etudes<br />

Tsiganes<br />

85


Rajko Djuric<br />

Sprache und Bildung gegründet wurde. Bis jedoch diese<br />

Kommission e<strong>in</strong>gerichtet werden konnte, mussten viele<br />

Voraussetzungen geschaffen und viele – sowohl subjektiv wie<br />

objektiv – falsche Wege wieder verlassen werden, wie wir gesehen<br />

haben. E<strong>in</strong>e der wichtigsten Voraussetzungen ist der politische und<br />

rechtliche Status der R<strong>roma</strong>. Die R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale besaßen<br />

damals gar ke<strong>in</strong>en Status, sie galten weder als ethnische Gruppe<br />

noch als nationale M<strong>in</strong>derheit. Ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Land erkannte sie als<br />

Geme<strong>in</strong>wesen, als Geme<strong>in</strong>schaft an.<br />

Als erstes Land der Welt nahm Ex-Jugoslawien den Status der<br />

R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Verfassung auf (Ustav). Die jugoslawische<br />

Verfassung gab den R<strong>roma</strong> als ethnische Gruppe die Möglichkeit,<br />

eigene Organisationen und Kulturklubs zu gründen, die eigene<br />

Sprache zu sprechen, die Alphabetisierung und die Kultur zu<br />

fördern, das R<strong>roma</strong>nes <strong>in</strong> der Schule zu lernen und Medien auf<br />

R<strong>roma</strong>nes zu gründen. In den Gebieten mit der größten R<strong>roma</strong>-<br />

Konzentration, wie z. B. <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>, Prisht<strong>in</strong>a, Nis, Belgrad und<br />

anderen Orten, errichtete man für K<strong>in</strong>der ab dem 5. und 6.<br />

Lebensjahr Schulen, an denen sie von r<strong>roma</strong>ni Lehrern auf<br />

R<strong>roma</strong>nes und Serbisch unterrichtet wurden. Bei r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>dern,<br />

welche die Grundschule des Stadtviertels besuchten, sah der<br />

Lehrplan auch e<strong>in</strong>ige Stunden Unterricht <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

und der r<strong>roma</strong>ni Geschichte vor. Es musste jedoch erst noch e<strong>in</strong>e<br />

Pädagogische Hochschule für die Ausbildung der Lehrkräfte<br />

errichtet werden, welche die R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Sprache, Geschichte und<br />

Kultur unterrichten wollten.<br />

In <strong>Skopje</strong> entstand das PRALIPE-Theater, an dem 4 oder 5<br />

Theaterstücke <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Sprache aufgeführt wurden. 2 Gleichzeitig<br />

dazu entstehen <strong>in</strong> mehreren Städten Jugoslawiens (<strong>Skopje</strong>, Tetovo,<br />

Prisht<strong>in</strong>a, Mitrovica, Belgrad, Novi Sad, Sarajevo, Maribor, Murska<br />

Sobota) Radio- und Fernsehsendungen auf R<strong>roma</strong>nes, es<br />

ersche<strong>in</strong>en Zeitungen auf R<strong>roma</strong>nes. Nach dem Zusammenbruch<br />

der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien g<strong>in</strong>gen viele<br />

dieser Errungenschaften verloren. Von den neuen, gerade<br />

entstandenen Staaten gestanden Makedonien und Slowenien den<br />

R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> ihrer Verfassung den Status e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit<br />

(selorri) zu, ohne jedoch den Begriff ‚nationale M<strong>in</strong>derheit’ näher zu<br />

def<strong>in</strong>ieren. In <strong>Skopje</strong>, der Hauptstadt Makedoniens, senden Radio-<br />

und Fernsehstationen Programme auf Romanes und es gibt e<strong>in</strong>e<br />

2 Dieses Theater erlangte <strong>in</strong>ternationale Anerkennung und arbeitet jetzt <strong>in</strong><br />

Deutschland am Theater von Mühlheim an der Ruhr.<br />

86


ROMA IN EUROPA<br />

Zeitung <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache. In Serbien werden <strong>in</strong> den Städten<br />

Nis und Novi Sad ebenfalls Sendungen auf R<strong>roma</strong>nes gebracht.<br />

Diese kurze Erfahrung <strong>in</strong> Ex-Jugoslawien bildete die Grundlage des<br />

Gedankens an e<strong>in</strong>e allen R<strong>roma</strong> geme<strong>in</strong>same Sprache.<br />

Den Lehrern der kle<strong>in</strong>en 5 bis 6jährigen R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der war<br />

aufgefallen, dass diese viel schneller und auch besser sowohl<br />

R<strong>roma</strong>nes wie auch Serbisch lernten, wenn der Unterricht <strong>in</strong> zwei<br />

Sprachen abgehalten wurde: e<strong>in</strong>e Stunde auf R<strong>roma</strong>nes, e<strong>in</strong>e<br />

Stunde auf Serbisch. So hatten diese K<strong>in</strong>der erstmals die<br />

Möglichkeit, <strong>in</strong> der Schule unter vergleichbaren Voraussetzungen<br />

mit den anderen K<strong>in</strong>dern zu lernen und waren nicht mehr, wie<br />

vorher die ganze Zeit, schon bei Schule<strong>in</strong>tritt benachteiligt. Anders<br />

gesagt, die r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>der hatten bis dah<strong>in</strong> nicht genug Kenntnisse<br />

der serbischen Sprache, sie hatten <strong>in</strong> Bezug auf Verständnis und<br />

Aneignung des Schulstoffs nicht die gleichen Chancen wie die<br />

K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> aus besser gestellten Familien.<br />

Aber auch K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> aus dem gleichen Milieu, aus<br />

armen Familien, sprechen nicht gut Serbisch. Ihr Wortschatz ist<br />

ger<strong>in</strong>g und die Grammatik fehlerhaft, aber die Lehrer behaupten,<br />

r<strong>roma</strong>ni K<strong>in</strong>der würden deswegen nicht gut Serbisch sprechen, weil<br />

sie R<strong>roma</strong> seien, die zuhause e<strong>in</strong>e andere Sprache sprechen. Sie<br />

unterscheiden zwischen den sozial benachteiligten K<strong>in</strong>dern aus<br />

Nicht-R<strong>roma</strong> Familien und den R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>dern: Bei den R<strong>roma</strong><br />

führen sie alle Schwierigkeiten auf die Nation, die Sprache, die<br />

Familie etc. zurück. Das heißt, dass unsere K<strong>in</strong>der im Vergleich zu<br />

K<strong>in</strong>dern aus Nicht-R<strong>roma</strong> Familien deutlich benachteiligt s<strong>in</strong>d, da<br />

letztere <strong>in</strong> der Schule <strong>in</strong> ihrer Muttersprache lernen.<br />

Andererseits hielt man die K<strong>in</strong>der der R<strong>roma</strong> jedoch auch für<br />

‚weniger <strong>in</strong>telligent’ als die K<strong>in</strong>der von Nicht-R<strong>roma</strong> und schickte sie<br />

daher <strong>in</strong> Sonderschulen, ja sogar <strong>in</strong> Schulen für geistig Beh<strong>in</strong>derte,<br />

so genannte ‚Irrenschulen’. Als Psychologen und Pädagogen aus<br />

Belgrad, Novi Sad und Maribor mit <strong>in</strong> Sonderschulen e<strong>in</strong>geschulten<br />

R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>dern Tests durchführten, erwies sich jedoch, dass diese<br />

durchaus <strong>in</strong>telligenter waren als Nicht-R<strong>roma</strong> K<strong>in</strong>der. Diese Tests<br />

beruhten jedoch nicht auf Fähigkeiten zur verbalen Kommunikation,<br />

sondern auf mathematischen und logischen Pr<strong>in</strong>zipien und hier<br />

zeigte sich die Überlegenheit der R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der.<br />

Aus den bisher gemachten Erfahrungen lässt sich schließen, dass<br />

R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der, wenn sie mit R<strong>roma</strong>-Lehrern auf R<strong>roma</strong>nes lernen<br />

können, größeres Selbstvertrauen entwickeln und <strong>in</strong> ihren<br />

87


Rajko Djuric<br />

Wünschen und Ambitionen anspruchsvoller werden, e<strong>in</strong> Phänomen,<br />

das überall dort zu beobachten war, wo R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Schule<br />

Sprache, Geschichte und Kultur der R<strong>roma</strong> lernen konnten. Vorher<br />

galt die Schulpflicht für R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der bis zur vierten Klasse,<br />

danach g<strong>in</strong>gen viele nicht weiter zur Schule. Als sie anf<strong>in</strong>gen, ihre<br />

Muttersprache und ihre Geschichte zu lernen, schlossen viele nicht<br />

nur die achte Klasse der Grund- und Hauptschule ab sondern<br />

besuchten weiterführende Schulen, e<strong>in</strong>ige schafften es sogar bis an<br />

die Universität. Das R<strong>roma</strong>nes erwies sich als wichtiger Faktor zur<br />

Entwicklung von Persönlichkeit und Intelligenz der jungen<br />

Menschen, e<strong>in</strong>e Tatsache, die auch L<strong>in</strong>guistiker und<br />

Psychol<strong>in</strong>guistiker anerkennen. Sprache ist nicht nur e<strong>in</strong> Mittel zur<br />

Kommunikation und zur Verständigung, sie ist vielmehr - wie<br />

allgeme<strong>in</strong> anerkannt wird - untrennbar mit Bewusstse<strong>in</strong>, Verstehen,<br />

Werten und Emotionen verbunden. Sie steht schlicht im Zentrum<br />

des Prozesses, der für die F<strong>in</strong>dung und Verwirklichung der<br />

Persönlichkeit notwendig ist.<br />

Diese Erfahrung machte man auch an der Sommerschule der<br />

R<strong>roma</strong>, die von 1989 bis 1993 <strong>in</strong> Belgrad, Wien, Karia, Rom und<br />

Montpellier abgehalten wurde. Die jungen Menschen empfanden<br />

die Begegnung mit der r<strong>roma</strong>ni Sprache wie e<strong>in</strong>e Begegnung mit<br />

sich selbst. Durch Etymologie, Wortschatz, Grammatik und Syntax<br />

der r<strong>roma</strong>ni Sprache fanden sie e<strong>in</strong>en Weg, der ihnen ihre nationale<br />

und kulturelle Identität wies, der sie letztlich zu sich selber führte,<br />

tief <strong>in</strong> ihre Herzen und Seelen. Viele von ihnen haben hier zum<br />

ersten Mal erlebt, dass R<strong>roma</strong>, die weit vone<strong>in</strong>ander entfernt <strong>in</strong><br />

verschiedenen Ländern leben, sich <strong>in</strong> der Sprache ganz nah s<strong>in</strong>d –<br />

e<strong>in</strong>e starke Motivation, die Sprache der R<strong>roma</strong> so gut wie möglich<br />

zu erlernen, da sie als Königsweg zur E<strong>in</strong>heit der R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und<br />

Kale begriffen wird.<br />

Die Idee e<strong>in</strong>er Standard r<strong>roma</strong>ni Sprache war Thema mehrerer<br />

Konferenzen, an denen <strong>in</strong>tellektuell gebildete R<strong>roma</strong> teilnahmen.<br />

1976 fand an der Akademie der Wissenschaft und Künste von<br />

Belgrad das Symposium ‚Das Leben und die R<strong>roma</strong> (R<strong>roma</strong>nipen)’<br />

statt. Mehrere Beiträge dieses Symposiums waren dem Thema<br />

Sprache gewidmet. Im Jahr 1983 fand im Rahmen des ersten<br />

Internationalen Kulturfestivals <strong>in</strong> Chandigarh <strong>in</strong> Indien e<strong>in</strong><br />

Symposium zu diesem Thema statt, dann 1986 das große<br />

Symposium für Tsiganistische Studien <strong>in</strong> Beaubourg (Paris).<br />

Das wichtigste Symposium mit dem Titel ‚Sprache und Kultur der<br />

R<strong>roma</strong>’ fand ebenfalls 1986 <strong>in</strong> Sarajevo statt. Danach folgte 1990<br />

e<strong>in</strong>e Konferenz <strong>in</strong> Warschau, zwei Tage später eröffnete man den<br />

88


ROMA IN EUROPA<br />

4. Internationalen Kongress der R<strong>roma</strong>. An diesem Kongress<br />

nahmen unter anderem auch 30 – 35 begeisterte und engagierte<br />

Sprachwissenschaftler teil. Die Ergebnisse ihrer Diskussionen<br />

bildeten die Grundlagen für die Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache; zum ersten Mal manifestierte sich hier das Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

dass die Sprache <strong>in</strong> der nationalen r<strong>roma</strong>ni Identität e<strong>in</strong>e große<br />

politische Rolle spielt. Wie damals schon betont wurde, ist die<br />

Standardisierung der Sprache e<strong>in</strong> komplexer Prozess, e<strong>in</strong>e<br />

schwierige, geme<strong>in</strong>same Aufgabe, für deren Umsetzung zahlreiche<br />

Voraussetzungen erfüllt se<strong>in</strong> müssen – angefangen beim<br />

Fachwissen bis h<strong>in</strong> zu Schulen, Universitäten, Medien etc…<br />

Theoretisch verläuft die Standardisierung <strong>in</strong> zehn verschiedenen<br />

Etappen: (1) die Auswahl e<strong>in</strong>er Norm, mit anderen Worten, die<br />

Entscheidung, welche organischen Idiome die Grundlage der<br />

Standardsprache bilden sollen, (2) die Analyse der <strong>in</strong>ternen<br />

Gliederung dieser Grundlage, (3) die Wahl des Standardmodells<br />

(monolektal oder polylektal) mit e<strong>in</strong>em gewissen Toleranzgrad, (4)<br />

die Kodifizierung der Schrift, (5) die Standardisierung der<br />

Verständnisprobleme, (6) die Ausarbeitung von Term<strong>in</strong>ologien, (7)<br />

die Versuchsphase, (8) die Akzeptanzphase, (9) die<br />

Normenbeschreibung, e<strong>in</strong>e Arbeit, die von Wissenschaftlern<br />

durchzuführen ist, (10) die Entwicklung durch Literatur, populäre<br />

Schriften und journalistische Arbeiten.<br />

Bis heute ist die Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache noch nicht<br />

über die Phasen 5, 6 und 7 h<strong>in</strong>aus gelangt, weil die wichtigsten<br />

Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e weitere, weltweite Erprobung dieses<br />

Experiments noch nicht geschaffen werden konnten.<br />

Marcel Courthiade arbeitet mit anderen R<strong>roma</strong>-Mitgliedern der<br />

Sprachkommission weiter an dieser großen und schwierigen<br />

Aufgabe. Die Kommission wurde während des Vierten Kongresses<br />

gewählt, 3 als ihr Koord<strong>in</strong>ator konnte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Arbeiten<br />

signifikante Ergebnisse vorweisen, die zusammen mit den Arbeiten<br />

der Kommission viel Beachtung fanden. Se<strong>in</strong>e Arbeiten und se<strong>in</strong><br />

Name werden <strong>in</strong> die Geschichte der R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>gehen – dafür<br />

müssen allerd<strong>in</strong>gs diejenigen Sorge tragen, die später e<strong>in</strong>mal die<br />

Geschichte unserer Sprache und unserer Kultur aufschreiben<br />

werden.<br />

3 Anlässlich des 4. Weltkongresses <strong>in</strong> Prag im Jahr 2000 wurde daraus das<br />

„Kommissariat für Sprache und l<strong>in</strong>guistische Rechte“. Der Kongress von<br />

Pietraferrazzara bestätigte 2004 die Fortführung des Kommissariats.<br />

89


Rajko Djuric<br />

Die Arbeiten zur Standardisierung des R<strong>roma</strong>nes erfordern die<br />

Untersuchung von Dialekten <strong>in</strong> vielen Ländern. Milena<br />

Hübschmanová, Indolog<strong>in</strong> an der Prager Universität, hat zum<br />

Beispiel e<strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni-tschechisches Lexikon herausgebracht;<br />

Gheorghe Sarqu aus Budapest e<strong>in</strong> ‚Kle<strong>in</strong>es Lexikon der r<strong>roma</strong>nirumänischen<br />

Sprache’; Ian Hancock, Professor <strong>in</strong> Aust<strong>in</strong> (Texas)<br />

veröffentlichte se<strong>in</strong>e ‚Bemerkungen zur r<strong>roma</strong>ni Grammatik’; <strong>in</strong><br />

Moskau erschien das ‚Lexikon Russisch – Zigan/ Zigan – Russisch;<br />

Dr. René Gsell, e<strong>in</strong> bekannter L<strong>in</strong>guist und Phonetiker aus Paris,<br />

legte e<strong>in</strong>e weitere wichtige Veröffentlichung vor und zu erwähnen<br />

wären auch noch Kenrick, Bakker, Pobozniak und andere….<br />

Parallel zu diesen Arbeiten werden <strong>in</strong> zahlreichen europäischen<br />

Ländern <strong>in</strong> Literatur und Wissenschaft neue Bücher sowie<br />

Übersetzungen aus anderen Sprachen <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

herausgebracht. So übersetzte Trifun Dimic (Jugoslawien)<br />

Bibelpassagen <strong>in</strong>s R<strong>roma</strong>nes, ebenso Joszef Daroczi Choli aus<br />

Budapest und e<strong>in</strong>ige andere. Es ersche<strong>in</strong>en viele Tageszeitungen<br />

auf R<strong>roma</strong>nes, auch Radio- und Fernsehsendungen werden <strong>in</strong><br />

dieser Sprache ausgestrahlt, z. B. <strong>in</strong> Jugoslawien, Ungarn, der<br />

Tschechischen Republik etc…<br />

Schließlich wird an der Universität von Paris e<strong>in</strong> Lehrstuhl für<br />

Rromologie e<strong>in</strong>gerichtet, e<strong>in</strong> für uns historisches Ereignis. Hier<br />

können junge Menschen nicht nur die r<strong>roma</strong>ni Sprache studieren,<br />

sondern auch Geschichte, Ethnologie, Tradition und Soziol<strong>in</strong>guistik,<br />

die Literatur der R<strong>roma</strong> sowie die Geschichte und Ethnologie<br />

Indiens, wobei hier unter sechs oder sieben <strong>in</strong>dischen Sprachen<br />

gewählt werden kann. Alle<strong>in</strong> das alles zu beschreiben, wäre schon<br />

Stoff für e<strong>in</strong>en langen Artikel.<br />

Es hat verschiedene Reaktionen auf die Arbeiten der Kommission<br />

gegeben, die an der Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache arbeitet.<br />

Ich möchte sie an dieser Stelle kurz beschreiben und analysieren.<br />

Diese Reaktionen gehen <strong>in</strong> zwei Richtungen: Die e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d<br />

überzeugt, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache wegen ihrer großen „Armut“<br />

nicht standardisiert werden kann - wie sie behaupten. Diese<br />

Behauptung wird nicht offen gemacht, eher versteckt, <strong>in</strong> Form von<br />

Anspielungen. Die anderen sagen, dass e<strong>in</strong>e Standardisierung der<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache gar nicht s<strong>in</strong>nvoll sei, weil sich die Dialekte dann<br />

‚vone<strong>in</strong>ander entfernen’ würden.<br />

Diese Thesen beruhen im Allgeme<strong>in</strong>en auf Vorurteilen gegenüber<br />

den R<strong>roma</strong>. Auch Ethnologen hatten ja behauptet, dass die R<strong>roma</strong><br />

90


ROMA IN EUROPA<br />

ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Nation, sondern e<strong>in</strong>e „Randgruppen“ seien,<br />

gemischt mit allen möglichen anderen „Staubpartikeln“(!). Ebenso<br />

verbreiten auch L<strong>in</strong>guisten und Philologen – ob bewusst oder nicht -<br />

derartige rassistische Thesen über die R<strong>roma</strong>. Vielleicht genügt zur<br />

Veranschaulichung dieses Themas e<strong>in</strong> Zitat von Rade Uhlik <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en „Bemerkungen zur Verwendung der Laute <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache“: „E<strong>in</strong>e nachlässige Betonung und krim<strong>in</strong>elle<br />

Vernachlässigung der Konsonanten - das s<strong>in</strong>d die Ursachen aller<br />

sprachlichen Deformationen und formaler Entgleisungen im<br />

Vokabular dieser primitiven Welt. Die Degeneration des<br />

l<strong>in</strong>guistischen Werkzeugs zeigt sich, neben zahlreichen anderen<br />

negativen Symptomen, <strong>in</strong> der rückläufigen Entwicklung der<br />

Dentallaute. So wie zum Beispiel e<strong>in</strong>ige ethnische Gruppierungen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e zwar zahlreiche, aber qualitätsschwache Nachkommenschaft<br />

degenerieren, zeichnet sich auch der Wortschatz e<strong>in</strong>iger R<strong>roma</strong>-<br />

Gruppen durch unverhältnismäßig zahlreiche Parallelwendungen<br />

und Nuancen aus, die, trotz dieser Vielfalt, oft krankhaft und<br />

geschmacklos s<strong>in</strong>d.“<br />

Rade Uhlik kannte zahllose r<strong>roma</strong>ni Idiome - ke<strong>in</strong>e Monographie<br />

gibt es, ke<strong>in</strong> Buch, das ihn nicht als ‚größten L<strong>in</strong>guisten und<br />

Philologen’ erwähnen würde. Tatsächlich verfügte er über<br />

ausgezeichnete Sprachkenntnisse und war e<strong>in</strong> gelehrter Philologe,<br />

was er jedoch darüber schrieb, ist ganz gewöhnlicher Rassismus,<br />

der bisher noch niemandem aufgefallen ist. Was er zum<br />

Phonem<strong>in</strong>ventar der r<strong>roma</strong>ni Sprache anmerkt, ist geradezu e<strong>in</strong><br />

Paradebeispiel dafür, dass selbst bei denen, die wie Uhlik ihr<br />

ganzes Leben über die R<strong>roma</strong> und die r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

geschrieben haben, immer noch große Vorurteile gegen die R<strong>roma</strong><br />

bestehen und dass rassistische Thesen vertreten werden. Auch er<br />

hat erklärt, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht ‚auf die Ebene e<strong>in</strong>er<br />

Norm’ gehoben werden könne und dass sie unfähig zur Entwicklung<br />

sei. Aber auch junge Menschen haben, ohne die Sprache<br />

überhaupt sprechen zu können, mit viel Getöse von der „Armut“ der<br />

R<strong>roma</strong>-Sprache berichtet und davon, dass ihr Reiz <strong>in</strong> eben dieser<br />

Armut liege. E<strong>in</strong>e Amerikaner<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e gewisse Dame namens<br />

Fonceka, bat e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en schlecht R<strong>roma</strong>nes sprechenden Nicht-<br />

R<strong>roma</strong>, e<strong>in</strong>e Passage aus e<strong>in</strong>em Werk von Shakespeare <strong>in</strong> die<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache zu übertragen, danach wandte sie sich an e<strong>in</strong>en<br />

anderen, der den Text wieder <strong>in</strong>s Englische übersetzte. Sie musste<br />

feststellen, dass die beiden Texte nicht identisch waren und zog<br />

daraus die Schlussfolgerung, dass das R<strong>roma</strong>ni e<strong>in</strong>e sehr arme<br />

Sprache sei, ke<strong>in</strong>en Wortschatz habe und deshalb so „drastisch“<br />

sei, wie die primitive Sprache von Wilden. Sie hat diese<br />

Diffamierung sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Buch veröffentlicht.<br />

91


Rajko Djuric<br />

Andere, mit besseren Kenntnissen <strong>in</strong> Sozialwissenschaften und<br />

allgeme<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>guistik, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihren Aussagen zur r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

weniger explizit als Uhlik oder die Amerikaner<strong>in</strong>. Sie verbergen<br />

ihren Rassismus auf andere Weise, sie sagen zum Beispiel: „man<br />

sollte die r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht standardisieren, das würde zur<br />

Verarmung der Sprache führen“(!), andere wieder stellen fest, dass<br />

es „zahlreiche Dialekte gibt und es daher unmöglich sei, e<strong>in</strong>en<br />

Standard e<strong>in</strong>zuführen“.<br />

In der Tat gibt es <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache viele Dialekte. Es ist<br />

jedoch bekannt, dass e<strong>in</strong>e lebendige Sprache Dialekte braucht.<br />

Warum wird denn e<strong>in</strong>e so offenkundige Tatsache übergangen,<br />

warum werden nirgendwo die Urheber e<strong>in</strong>er Sprachreform erwähnt,<br />

die es <strong>in</strong> jedem Land gegeben hat? Heute ist doch <strong>in</strong> zahlreichen<br />

Ländern Asiens, <strong>in</strong> Afrika und auch bei uns <strong>in</strong> Europa die<br />

Standardisierung der Sprache allgeme<strong>in</strong> vollzogen. Wenn also die<br />

Sprache der R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>e Sprache ist und wenn die R<strong>roma</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Nation s<strong>in</strong>d wie alle anderen <strong>in</strong> Europa, Asien und Afrika, warum, so<br />

muss man sich fragen, wird dann die Standardisierung des<br />

R<strong>roma</strong>nes a priori so schief angesehen, als ob hier etwas<br />

‚Schlechtes’ vorg<strong>in</strong>ge?<br />

Es geht hier jedoch gar nicht um die r<strong>roma</strong>ni Sprache und ihre<br />

Unterarten und Dialekte, sondern um etwas anderes, das aus e<strong>in</strong>er<br />

ganz anderen Richtung kommt: Es geht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um<br />

Vorurteile, auch wenn diese heutzutage nicht offen und offiziell<br />

gegen die R<strong>roma</strong> gerichtet s<strong>in</strong>d, sondern sich auf ‚neutraleres<br />

Gebiet’ zurückziehen müssen, wie dem der Sprache und ihrer<br />

Dialekte.<br />

E<strong>in</strong>ige Philologen und ‚padre padroni’ der R<strong>roma</strong> führen die<br />

vielfältigen r<strong>roma</strong>ni Gruppen als Beweis für ihre Behauptungen an.<br />

Sie argumentieren, dass ‚diese Gruppen da’ ihre Sprache für die<br />

beste hielten. Dieses ‚Argument’ ist ke<strong>in</strong>eswegs neu, wie viele<br />

Anthropologen <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten und <strong>in</strong> anderen Ländern<br />

bezeugen. Jede menschliche Gruppierung <strong>in</strong> Afrika, Late<strong>in</strong>amerika<br />

etc. me<strong>in</strong>t, dass ihre Sprache die beste, die reichste sei. Warum?<br />

Weil, sagen die Anthropologen, die Frage: Wer hat die ‚beste<br />

Sprache’ immer ethnisch und nicht philologisch oder l<strong>in</strong>guistisch<br />

def<strong>in</strong>iert wird. Menschen ohne Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik oder<br />

Philologie empf<strong>in</strong>den ihren Dialekt als Wert, als Tradition,<br />

manchmal sogar als ihren Besitz, ihren Vorteil, als ihr eigen Fleisch<br />

und Blut. Sie denken: „ Me<strong>in</strong> Dialekt ist der beste, weil me<strong>in</strong>e<br />

Gruppe die beste ist.“ Auch heute noch zeigen solche unter den<br />

R<strong>roma</strong> durchgeführten Untersuchungen eigentlich nur das Wissen<br />

92


ROMA IN EUROPA<br />

(oder die Unwissenheit) derer, die derartige Befragungen bei den<br />

R<strong>roma</strong> durchführen; ohne ger<strong>in</strong>gste Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik und<br />

Anthropologie schw<strong>in</strong>gen sie sich zu obersten Richtern auf. Ihre<br />

Argumente s<strong>in</strong>d deshalb irreführend und gehören nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

seriöse Debatte zur Standardisierung der Sprache.<br />

Das Zigan muss als e<strong>in</strong>zig, e<strong>in</strong>heitlich und gleichberechtigt mit<br />

den anderen Sprachen der gleichen Familie angesehen<br />

werden. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, diese Sprache <strong>in</strong> der<br />

ihr eigenen Form zu kennen und aus allen Dialekten den<br />

geme<strong>in</strong>samen Zigan-Kern zu extrahieren. Wie e<strong>in</strong> Metall muss<br />

dieser Kern von allen Unre<strong>in</strong>heiten befreit werden, die sich<br />

aufgrund verschiedenster Umstände im Verlauf der Zeit auf<br />

ihm festgesetzt haben.<br />

Anto<strong>in</strong>e Kal<strong>in</strong>a „Die Sprache der slowakischen Zigeuner“.<br />

Leider gibt es auch andere, die all das sehr wohl wissen und<br />

trotzdem derartige Untersuchungen durchführen, weil sie den<br />

R<strong>roma</strong> gegenüber destruktive Absichten hegen. Das ist versteckter<br />

Rassismus.<br />

Völlig vergessen wird hier die ‚dritte Dimension’ der Sprache, die<br />

<strong>in</strong>nig mit der Zukunft und dem Wohlergehen der R<strong>roma</strong> verbunden<br />

ist. Letztere können ihre politische und soziale Stellung nämlich nur<br />

dann ändern, wenn sie als nationale M<strong>in</strong>derheit und politisches<br />

Subjekt anerkannt werden. Umgekehrt können sie ohne diese<br />

Anerkennung nicht ihre Kultur emanzipieren und ihre Sprache<br />

entwickeln. E<strong>in</strong>e neue Politik der R<strong>roma</strong> kann nicht ohne Politik und<br />

ohne l<strong>in</strong>guistische Planung stattf<strong>in</strong>den. So war es auch <strong>in</strong> der<br />

Geschichte anderer Nationen: Alle Sprachreformen mussten nicht<br />

nur l<strong>in</strong>guistische, zur Sprache und zum Wissen gehörende Faktoren<br />

berücksichtigen, sondern auch die reale Situation der Nation und<br />

ihrer politischen und kulturellen Strömungen.<br />

Ohne r<strong>roma</strong>ni Standardsprache können R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale<br />

weder ihre nationale und kulturelle Identifikation noch ihre soziale<br />

Integration voranbr<strong>in</strong>gen. Häufig s<strong>in</strong>d sie noch nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der<br />

Lage, ihre Menschenrechte wahrzunehmen, die ihnen doch <strong>in</strong><br />

zahlreichen <strong>in</strong>ternationalen Akten und Dokumenten zuerkannt<br />

worden s<strong>in</strong>d.<br />

Zwei Beispiele aus Deutschland:<br />

93


Rajko Djuric<br />

E<strong>in</strong> Roma hatte e<strong>in</strong>e Straftat begangen und musste vor Gericht<br />

ersche<strong>in</strong>en. Er erklärte dem Gericht, dass er sich <strong>in</strong> der Sprache<br />

der R<strong>roma</strong> ausdrücken wolle, was ja e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> ganz Europa<br />

und über dessen Grenzen h<strong>in</strong>aus anerkanntes Recht war. Das<br />

Hamburger Gericht beschied ihm: „Ja, Du kannst R<strong>roma</strong>nes<br />

sprechen, aber de<strong>in</strong>e Aussagen können nicht offiziell anerkannt<br />

werden, weil die r<strong>roma</strong>ni Sprache bei uns nicht als offizielle<br />

Sprache anerkannt ist.“ Mit anderen Worten, die R<strong>roma</strong>-Sprache ist<br />

nicht ‚<strong>in</strong> offiziellem Gebrauch’. Als man mich zur Sitzung vorlud und<br />

ich nach Hamburg fuhr, um <strong>in</strong>s Deutsche zu übersetzen, stellte ich<br />

fest, dass er wirklich nur das R<strong>roma</strong>nes beherrschte und sonst<br />

kaum e<strong>in</strong>e andere Sprache. Was war ihm also widerfahren? Wenn<br />

wir uns an die Verleumdungen der Standardisierungsgegner<br />

hielten, hätte er nur <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>es Zeltes und auf den<br />

Landstrassen R<strong>roma</strong>nes sprechen dürfen. Nur dar<strong>in</strong> – so glauben<br />

diese ‚Theoretiker’ - bestehe die „echte Zigeunerfreiheit, das<br />

richtige Zigeunerleben“ und nur die auf der Strasse Fahrenden<br />

seien ‚echten R<strong>roma</strong>’(!).<br />

E<strong>in</strong> anderes Beispiel aus Berl<strong>in</strong>: E<strong>in</strong> junger R<strong>roma</strong>, der auch nur<br />

R<strong>roma</strong>nes gut spricht, wird zur Urteilsverkündung geladen. Auch er<br />

hatte darum gebeten, während se<strong>in</strong>es Prozesses R<strong>roma</strong>nes<br />

sprechen zu dürfen. Der Gerichtshof gab ihm die Erlaubnis. Dieser<br />

junge Mann war unschuldig und wurde freigesprochen. Aber was<br />

wäre passiert, wenn das Berl<strong>in</strong>er Gericht R<strong>roma</strong>nes nicht als<br />

offizielle Sprache anerkannt hätte? 4<br />

Diese beiden Beispiele illustrieren, <strong>in</strong> welchem Ausmaß die<br />

Anerkennung der r<strong>roma</strong>ni Sprache e<strong>in</strong> aktuelles Problem im<br />

täglichen Leben darstellt und wie wichtig es für die R<strong>roma</strong> ist, ihre<br />

elementaren Menschenrechte wahrnehmen zu können. Für alle, die<br />

aus Jugoslawien oder Rumänien fliehen mussten, ist die<br />

Standardisierung e<strong>in</strong>e Frage des Überlebens, es geht um ihre<br />

Existenz… Die Tatsache, dass die Sprache der R<strong>roma</strong> noch nicht<br />

als offizielle Sprache anerkannt ist, hängt unmittelbar damit<br />

zusammen, dass die R<strong>roma</strong> nicht als nationale M<strong>in</strong>derheit<br />

anerkannt s<strong>in</strong>d; unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen haben sie nicht die<br />

4 In Frankreich setzt die Beschwerdekommission für Flüchtl<strong>in</strong>ge auf e<strong>in</strong>faches<br />

Ersuchen des Antragstellers Dolmetscher für R<strong>roma</strong>nes e<strong>in</strong>. So können die<br />

betroffenen Personen besser zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, welche Leiden sie im<br />

Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit erfahren haben. Werden derartige<br />

Schilderungen <strong>in</strong> Mehrheitssprachen ausgeführt, neigen sie oft dazu, sich an offizielle<br />

Standards anzupassen und daher stereotyp zu werden – selbst wenn der Sprecher<br />

die Mehrheitssprache ansonsten gut beherrscht.<br />

94


ROMA IN EUROPA<br />

ger<strong>in</strong>gste Chance, Informationen oder effektiven Rechtsschutz <strong>in</strong><br />

ihrer Muttersprache zu erhalten.<br />

Nur mit der Anerkennung der Sprache alle<strong>in</strong> ist es jedoch noch<br />

nicht getan. Das R<strong>roma</strong>nes muss Nuancierungen entwickeln, e<strong>in</strong>e<br />

Rechtsterm<strong>in</strong>ologie aufbauen und die R<strong>roma</strong> müssen nicht nur<br />

deren Worte lernen, sondern auch die Konzepte verstehen, die<br />

h<strong>in</strong>ter den Gesetzen stehen und die sich <strong>in</strong> den Menschenrechten<br />

widerspiegeln, auf deren Grundlagen am Gericht entschieden wird.<br />

Es darf sich nicht wiederholen, was vor 50 Jahren <strong>in</strong> Ungarn<br />

geschah, als die Behörden den R<strong>roma</strong> den Zugang zum<br />

Jurastudium sperrten, aus Furcht, dass diese dann mehr Diebstähle<br />

begehen und sich vor Gericht besser verteidigen können würden.<br />

Das ist Rassismus <strong>in</strong> re<strong>in</strong>ster Form.<br />

Die Gegner der Standardisierung wollen nicht, dass die R<strong>roma</strong> aus<br />

ihren sozialen und kulturellen Ghettos herauskommen und als<br />

Menschen und Nation anerkannt werden. Das ist gewöhnlicher<br />

Rassismus, ob sie das nun offen zugeben oder nicht. Leider gibt es<br />

auch e<strong>in</strong>ige R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>ti, die diese rassistischen und von Nicht-<br />

R<strong>roma</strong> vorgebrachten Thesen anerkennen. An erster Stelle stehen<br />

die R<strong>roma</strong>, die ke<strong>in</strong>erlei Kenntnisse <strong>in</strong> L<strong>in</strong>guistik und Philologie<br />

besitzen, für sie ist die Sprache e<strong>in</strong>e natürliche Tatsache, die sub<br />

specie aeternitatis zu e<strong>in</strong>em Stamm gehört. Natürlich gibt es, wie <strong>in</strong><br />

jedem anderen Volk, auch unter den R<strong>roma</strong> Menschen ohne jede<br />

Bildung. Wenn jedoch der Unwissende den Wissenden belehren<br />

darf, wird dem Wissenden die Wahrheit vorenthalten. Dieser<br />

Vorgang ist e<strong>in</strong>malig und trägt bereits den Keim des Rassismus <strong>in</strong><br />

sich.<br />

E<strong>in</strong>e andere Spezies von Rassisten hält die R<strong>roma</strong>-Sprache für e<strong>in</strong><br />

‚wunderbares Geheimnis’, an das nicht gerührt werden darf. Die<br />

Verfechter dieser These beziehen sich auf die Vergangenheit, auf<br />

die Tatsache, dass nationalsozialistische Philologen zahlreiche<br />

R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>ti <strong>in</strong> die Konzentrationslager gebracht haben. Die<br />

Forschungstätigkeit rassistischer Philologen jener Zeit beruhte<br />

jedoch auf ganz anderen Motiven und Absichten. Hier vermischte<br />

man die Erforschung der Sprache mit Forschungsarbeiten, die <strong>in</strong><br />

Wirklichkeit zutiefst <strong>in</strong>humanen Zielen dienten. Dies ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong> Argument gegen die Standardisierung, es zeigt lediglich, dass<br />

jede Forschungstätigkeit sowohl hehren Zielen als auch perversen<br />

Absichten dienen und somit zu schlimmsten Entgleisungen führen<br />

kann.<br />

95


Rajko Djuric<br />

Die r<strong>roma</strong>ni Sprache stellt ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Tabu dar, sie ist<br />

vielmehr, wie jede andere Sprache, e<strong>in</strong> philologisches und<br />

kulturologisches Phänomen. Wer sie tabuisieren will, weiß entweder<br />

nicht, was das bedeutet - oder er hat ganz andere Interessen und<br />

versteckt sie h<strong>in</strong>ter gewundenen, l<strong>in</strong>guistischen Vorwänden, weil<br />

e<strong>in</strong>e Anerkennung der R<strong>roma</strong> als Nation verh<strong>in</strong>dert werden soll. Die<br />

R<strong>roma</strong> sollen auch weiter nur e<strong>in</strong>e abgeschottete, „asoziale“, ja<br />

sogar „antisoziale“ oder folkloristische Gruppe bleiben, mit der man<br />

machen kann, was man will.<br />

Schließlich gibt es noch jene R<strong>roma</strong>, die allen Anweisungen von<br />

Nicht-R<strong>roma</strong> folgen. Manchmal tun sie das gegen Geld, manchmal<br />

aufgrund von trügerischen Versprechungen oder auch aus<br />

kle<strong>in</strong>licher Ruhmsucht. Sie s<strong>in</strong>d dabei ke<strong>in</strong>eswegs an der<br />

Entwicklung und der Emanzipation der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong>teressiert, es geht<br />

ihnen nur um das Geld, das man ihnen als Vertreter der R<strong>roma</strong> und<br />

S<strong>in</strong>ti gibt oder um das bisschen Ruhm, das sie auf ihrer sozialen<br />

Stufenleiter von den Rassisten ergattern können. Es gibt leider<br />

auch so genannte R<strong>roma</strong>-Stiftungen, die sich der Standardisierung<br />

kategorisch widersetzen. In diesen Stiftungen wurden wichtige<br />

Posten mit ungebildeten R<strong>roma</strong> besetzt, weil diese den R<strong>roma</strong> <strong>in</strong><br />

ihrer Sprache das verkünden, was Nicht-R<strong>roma</strong> verkündet haben<br />

wollen. In derartigen Schlüsselpositionen entscheiden dann R<strong>roma</strong>,<br />

die lediglich e<strong>in</strong>e zwei- oder dreijährige Schulbildung h<strong>in</strong>ter sich<br />

haben, über Projekte, die von promovierten R<strong>roma</strong> ausgearbeitet<br />

wurden. In Wirklichkeit übernehmen sie e<strong>in</strong>e schändliche Rolle, sie<br />

s<strong>in</strong>d nichts weiter als e<strong>in</strong> Schild, h<strong>in</strong>ter dem die Gadjes ihren<br />

Rassismus gegen Roma und S<strong>in</strong>ti verbergen.<br />

All das führt uns zu folgenden Schlussfolgerungen:<br />

1) Die R<strong>roma</strong>, S<strong>in</strong>ti und Kale s<strong>in</strong>d über tausend Jahre h<strong>in</strong>durch<br />

verfolgt worden. Man hat sie ermordet und <strong>in</strong> die Gaskammern<br />

geschickt und doch haben sie ihre Sprache nie ganz verloren. Jetzt<br />

fordern sie ihre Rechte als Menschen und Nation e<strong>in</strong> und eröffnen<br />

damit auch die Diskussion der Standardisierung ihrer Sprache –<br />

was viele gerne verh<strong>in</strong>dern würden.<br />

2) Der Standardisierungsprozess hängt überwiegend von<br />

Menschen ab, die <strong>in</strong> Politik, Kultur und im Bildungsbereich tätig<br />

s<strong>in</strong>d. Er liegt also <strong>in</strong> der Zuständigkeit von Behörden und nicht <strong>in</strong><br />

den Händen der R<strong>roma</strong> und ihrer <strong>in</strong>tellektuellen Vertreter. Zwar<br />

entstanden sehr gute Schriften und Dokumente, die jedoch erst<br />

96


ROMA IN EUROPA<br />

noch <strong>in</strong> die Praxis umgesetzt werden müssen, damit die R<strong>roma</strong> als<br />

nationale und l<strong>in</strong>guistische M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa ihre Chance<br />

wahrnehmen können.<br />

Nichts deutet darauf h<strong>in</strong>, dass Sprache lediglich Werkzeug zur<br />

Kommunikation ist. Vielmehr kommt ihr <strong>in</strong> Wirklichkeit <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Gesellschaft e<strong>in</strong>e Macht zu, die nicht neutral, sondern im Gegenteil<br />

determ<strong>in</strong>istisch wirkt.<br />

Kasuya Keisuke „l<strong>in</strong>guistische Hegemonie“<br />

3) Die Londoner Gruppe zur Verteidigung der Rechte der<br />

M<strong>in</strong>derheiten hat anlässlich der Züricher Konferenz vom 17.05.1976<br />

erklärt, dass die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Sprache auch gleichzeitig die<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung all derjenigen ist, die diese Sprache sprechen. Die<br />

Sprache verleiht dem Menschen nicht nur Worte, vielmehr ist sie<br />

Ausdruck se<strong>in</strong>er Gedanken, Wünsche, Hoffnungen, Gefühle, der<br />

Sicht se<strong>in</strong>er Welt, se<strong>in</strong>es Lebens, se<strong>in</strong>er Ethik. Wird se<strong>in</strong>e Sprache<br />

nicht anerkannt, wird er selbst nicht anerkannt und als Mensch<br />

diskrim<strong>in</strong>iert. Heute, da wir <strong>in</strong> zahlreichen Ländern nationalchauv<strong>in</strong>istische<br />

und faschistische Ges<strong>in</strong>nungen wieder aufleben<br />

sehen, müsste sich eigentlich jeder der Tatsache bewusst se<strong>in</strong>,<br />

dass dies zur Katastrophe führen kann. Wir müssen für die<br />

Anerkennung der R<strong>roma</strong> kämpfen, damit sie nicht als l<strong>in</strong>guistische<br />

M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Europa vergessen werden.<br />

4) Die gegenwärtige Situation der R<strong>roma</strong> ist <strong>in</strong> vielen Ländern<br />

Europas alarmierend. Deshalb müssen die UNO und die<br />

europäischen Institutionen die R<strong>roma</strong> als nationale M<strong>in</strong>derheit ohne<br />

Staatsgebiet anerkennen. Es müssen geeignete Mittel und Wege<br />

gefunden werden, um die R<strong>roma</strong> als „Volk ohne Land“ unter Schutz<br />

zu stellen.<br />

5) Zur Integration der R<strong>roma</strong> muss e<strong>in</strong> europäischer Fonds errichtet<br />

werden, mit dessen Hilfe unter anderem auch der<br />

Standardisierungsprozess der R<strong>roma</strong>-Sprache f<strong>in</strong>anziert werden<br />

kann.<br />

6) Das Recht auf die Muttersprache ist e<strong>in</strong> Grundrecht, das <strong>in</strong><br />

zahlreichen Dokumenten verbrieft ist. Hierauf verweist<br />

<strong>in</strong>sbesondere das Abkommen gegen Diskrim<strong>in</strong>ierung im<br />

Bildungswesen (UNESCO; Dok. 11C, 14.12.1960). Tatsache ist,<br />

dass die R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong> den Bereichen Bildungswesen und<br />

Kultur von allen Völkern am stärksten diskrim<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Zur<br />

E<strong>in</strong>dämmung dieser Diskrim<strong>in</strong>ierung müssen als erstes die für den<br />

97


Rajko Djuric<br />

Gebrauch und die Entwicklung der R<strong>roma</strong>-Sprache erforderlichen<br />

Voraussetzungen geschaffen werden.<br />

7) Die R<strong>roma</strong>-Sprache ist wesentlicher Bestandteil der nationalen<br />

und kulturellen Identität der R<strong>roma</strong>. So wie die UNESCO das<br />

kulturelle Erbe anderer Länder und Nationen anerkannt hat, muss<br />

sie jetzt das R<strong>roma</strong>nes anerkennen. Sie muss ihre Programme<br />

e<strong>in</strong>setzen, damit die für die Entwicklung und Entfaltung des<br />

R<strong>roma</strong>nes erforderlichen konkreten Mittel und Instrumente zur<br />

Verfügung gestellt werden.<br />

8) Es ist dr<strong>in</strong>gend notwendig, den an der Universität von Paris<br />

(Inalco) bestehenden Lehrstuhl für R<strong>roma</strong>ni Wissenschaften<br />

bekannter zu machen. Es müssen mehr junge Menschen an dieser<br />

Fakultät studieren, damit sich <strong>in</strong> der Folge die Rromologie auf e<strong>in</strong>e<br />

mit den anderen kulturellen und wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />

vergleichbare Qualitätsstufe h<strong>in</strong> entwickelt. Nach und nach müssen<br />

dann <strong>in</strong> den verschiedenen Ländern weitere derartige Lehrstühle<br />

geschaffen werden und auf europäischer Ebene<br />

zusammenarbeiten.<br />

98


Marcel Courthiade<br />

ROMA IN EUROPA<br />

WER HAT ANGST VOR DER SPRACHE DER RROMA?<br />

Nationalsprachen waren <strong>in</strong> der Geschichte selten unumstritten. Da<br />

ist auch die Sprache der R<strong>roma</strong> überhaupt ke<strong>in</strong>e Ausnahme. Es<br />

wird <strong>in</strong> der Tat <strong>in</strong> vielfältiger Weise gegen verschiedene Aspekte<br />

ihrer Anwendung polemisiert: die Sprache der R<strong>roma</strong> als Sprache<br />

und als Nationalsprache, als Medium gruppen<strong>in</strong>terner und<br />

grenzüberschreitender Kommunikation, als geschriebenes Wort<br />

etc... Im Wesentlichen geht es bei dieser Ause<strong>in</strong>andersetzung um<br />

Folgendes:<br />

• Handelt es sich bei der r<strong>roma</strong>ni Sprache tatsächlich um e<strong>in</strong>e<br />

Sprache oder nicht?<br />

• Wieviele Sprache(n) werden von den R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Europa<br />

gesprochen?<br />

• Wieviele Dialekte s<strong>in</strong>d darunter?<br />

• Welche Art der Beziehung besteht zwischen diesen Dialekten?<br />

• Wollen R<strong>roma</strong> ihre Muttersprache anwenden?<br />

• Kann man sie als e<strong>in</strong>e moderne Sprache anwenden oder nicht?<br />

• Kann man sie standardisieren oder nicht?<br />

• Kann man sie schriftlich fixieren oder nicht? Und wenn ja, wie<br />

kann man sie buchstabieren?<br />

• E<strong>in</strong> Dialekt? Alle Dialekte? E<strong>in</strong>e uns<strong>in</strong>nige Frage, wenn man die<br />

Struktur an sich richtig versteht.<br />

• S<strong>in</strong>d R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> der Lage, sie zu schreiben oder nicht?<br />

• Sollte ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Dorf e<strong>in</strong>e europäische Norm verwenden?<br />

• Ist es schwierig, <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache zu schreiben? Und<br />

wor<strong>in</strong> liegt letzten Endes die Schwierigkeit?<br />

Schon e<strong>in</strong>e oberflächliche Untersuchung verdeutlicht, dass die<br />

Mehrzahl jener, die diese Fragen aufwerfen, nicht das ger<strong>in</strong>gste<br />

konzeptionelle Instrument besitzen, mit dem sie <strong>in</strong> den meisten<br />

Fällen sofort erkennen könnten, dass es e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und<br />

e<strong>in</strong>deutige Antwort darauf gibt. Man muss sich deshalb von allen<br />

vorgefassten Me<strong>in</strong>ungen über Mehrheitssprachen, die noch aus der<br />

Schulzeit stammen, freimachen. Außerdem gehört fast niemand<br />

unter den Polemikern zum Kreis derer, die die r<strong>roma</strong>ni Sprache im<br />

Alltag verwenden.<br />

99


Marcel COURTHIADE<br />

100<br />

1. Das Thema des Dialektes<br />

Erste Frage: „Wie unterscheidet man e<strong>in</strong>e Sprache von e<strong>in</strong>em<br />

Dialekt?“ In Europa 1 bestehen relativ klare geografische<br />

Abgrenzungen zwischen den Sprachen, manchmal durch so<br />

genannte Übergangsdialekte. Echte Dialekte s<strong>in</strong>d im Wesentlichen<br />

kle<strong>in</strong>ere Unterteilungen <strong>in</strong>nerhalb der Sprachen. Im Falle e<strong>in</strong>er<br />

Sprache ohne eigenem festen Sprachgebiet, wie z. B. der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache, kann e<strong>in</strong>e Dialektvariante von weit verstreut lebenden<br />

Menschen gesprochen werden, während enge Nachbarn durchaus<br />

unterschiedliche Formen verwenden können. Das wirft<br />

zweifelsohne e<strong>in</strong>ige Fragen auf. Der Grundsatz der dialektal<br />

gezogenen Unterteilungen bleibt jedoch derselbe, obwohl die<br />

Varianten nicht an e<strong>in</strong> konkretes Gebiet gebunden s<strong>in</strong>d. Um das<br />

Thema richtig zu verstehen, müssen deshalb e<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge vorab<br />

geklärt werden:<br />

1.1 Dialekte stehen immer genetisch mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung.<br />

In diesem S<strong>in</strong>ne kann e<strong>in</strong>e Sprache X, die sich von Sprache Y<br />

durchaus unterscheidet, nicht e<strong>in</strong>fach als e<strong>in</strong> „weiterer Dialekt der<br />

Sprache Y“ klassifiziert werden, wie im Falle der Bajaš-Sprache<br />

(e<strong>in</strong>er besonderen Form des Rumänischen, wahrsche<strong>in</strong>lich aus<br />

Südserbien); sie wird von verstreut lebenden, aber nicht von den<br />

R<strong>roma</strong> abstammenden Personen gesprochen, die jedoch von der<br />

un<strong>in</strong>formierten (und des<strong>in</strong>teressierten) Landbevölkerung als<br />

„Zigeuner“ – <strong>in</strong> Analogie zu den R<strong>roma</strong> 2 – etikettiert werden. Das<br />

1 Das trifft nicht auf alle Kont<strong>in</strong>ente zu; <strong>in</strong> Indien bef<strong>in</strong>den sich z.B. die meisten<br />

Sprachen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geografischen Kont<strong>in</strong>uum. Dasselbe trifft jedoch auch auf e<strong>in</strong>ige<br />

europäische Sprachen wie volkstümliches Serbokroatisch zu.<br />

2 Das Konzept er<strong>in</strong>nert an die Lage des jüdischen Volkes, das vor Jahrhunderten<br />

se<strong>in</strong>e Muttersprache aufgegeben und verschiedene lokale Sprachen angenommen<br />

hat. Die Juden s<strong>in</strong>d aber durch e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Herkunft und Ethnie mite<strong>in</strong>ander<br />

verbunden, während die R<strong>roma</strong>, Beás und Ägypter (oder Albano-Ägypter, Ashkali,<br />

Evgjit) nie mite<strong>in</strong>ander verbunden waren: Die R<strong>roma</strong> stammen aus Indien, die Beás<br />

aus Südserbien und die Ägypter wahrsche<strong>in</strong>lich aus Ägypten. Somit stellt sich die<br />

Situation grundsätzlich anders dar (auch im Falle der Juden klänge die Feststellung,<br />

dass Jiddisch e<strong>in</strong> jüdisch-spanischer oder semitischer Dialekt sei, eher nach e<strong>in</strong>em<br />

Witz), aber es ist auch klar, dass ausländische Wissenschaftler, die sich dem Thema<br />

vom sozialen Standpunkt nähern und die Sprache der R<strong>roma</strong> nicht beherrschen,<br />

kaum verstehen, dass es sich dabei um unterschiedliche Völker handelt – vor allem,


ROMA IN EUROPA<br />

gleiche trifft auf albanische Dialekte zu, die von Ägyptern des<br />

Balkans gesprochen werden.<br />

1.2 Ke<strong>in</strong>e zwei Personen sprechen denselben Idiolekt. Man<br />

könnte auch h<strong>in</strong>zufügen: Selbst e<strong>in</strong> und dieselbe Person benutzt<br />

unterschiedliche Formen ihrer eigenen Sprache je nachdem, ob es<br />

sich um leichte Unterhaltung im Familienkreis, e<strong>in</strong>e feierliche<br />

Ansprache, berufliche Gespräche etc. handelt. So kann – mit<br />

Ausnahme von Personen, die zwei unterschiedliche Dialekte (oder<br />

Sprachen) <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten anwenden, davon<br />

ausgegangen werden, dass alle anderen nur verschiedene Register<br />

(Sprachstile) des eigenen Dialektes (oder Idiolektes) verwenden. Im<br />

Grunde sprechen noch nicht e<strong>in</strong>mal Verwandte genau dieselbe<br />

Sprachvariante; es ist dabei zu berücksichtigen, dass l<strong>in</strong>guistische<br />

Unterschiede bestimmte Dialekte nur dann auszeichnen, wenn<br />

diese Unterschiede erheblich größer s<strong>in</strong>d als bei zur selben Familie<br />

gehörenden Sprechern: Dies ist die unterste Schwelle für e<strong>in</strong>e<br />

Differenzierung zwischen Dialekten.<br />

1.3 Es bestehen weniger Unterschiede zwischen Dialekten<br />

e<strong>in</strong>er Sprache als zwischen Sprachen. Die statistische<br />

Dialektometrie hat gezeigt, dass die Unterschiede zwischen<br />

e<strong>in</strong>zelnen Dialekten der r<strong>roma</strong>ni Sprache weniger ausgeprägt s<strong>in</strong>d<br />

als jene, die zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Sprachen<br />

herangezogen werden 3 . Demzufolge handelt es sich bei allen<br />

Sprachvarianten der R<strong>roma</strong> um Dialekte e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

Sprache, die als r<strong>roma</strong>ni Sprache bezeichnet werden kann.<br />

1.4 Die Verdrängung e<strong>in</strong>es Teils e<strong>in</strong>er Sprache führt nicht zur<br />

Entstehung e<strong>in</strong>es neuen Dialekts. Dialekte entstehen <strong>in</strong>nerhalb<br />

wenn sie das gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Deshalb sollte man die wirkliche<br />

Me<strong>in</strong>ung der „Zielgruppe“ (nicht nur ihrer Führung) sorgfältig recherchieren.<br />

3 Zur Berechnung dieser Unterschiede vgl. Courthiade 1985: 1-7. Tatsächlich liegt der<br />

<strong>in</strong> dialektometrischen E<strong>in</strong>heiten ausgedrückte Unterschied zwischen der Sprache der<br />

R<strong>roma</strong> und der der S<strong>in</strong>ti bei ungefähr dem kritischen Wert von e<strong>in</strong>s, während der<br />

Unterschied zum spanischen Kalo (oder Chipi kali) bei über e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit liegt; <strong>in</strong> der<br />

Tat handelt es sich bei Kalo nicht um e<strong>in</strong>e Sprache, sondern um e<strong>in</strong>en sehr<br />

begrenzten Wortschatz, der aus der Sprache der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> die spanische oder<br />

katalanische Sprache E<strong>in</strong>gang gefunden hat. Es handelt sich auch nicht um e<strong>in</strong>en<br />

Dialekt der r<strong>roma</strong>ni Sprache, sondern um e<strong>in</strong> besonderes Sprachgebilde, das man<br />

„Paggerdilekte“ nennt.<br />

101


Marcel COURTHIADE<br />

e<strong>in</strong>er Sprache aus verschiedenen, <strong>in</strong> der L<strong>in</strong>guistik wohlbekannten<br />

Gründen. Dazu zählt aber nicht die Tatsache, dass e<strong>in</strong>ige R<strong>roma</strong><br />

aufgrund besonderer Umstände e<strong>in</strong>en Teil ihrer Muttersprache<br />

vergessen haben. Dies führt auch nicht zur Entstehung neuer<br />

Dialekte. Man könnte Parallelen zu den <strong>in</strong> Deutschland geborenen<br />

Türken ziehen: Zwar haben sie e<strong>in</strong>en Teil ihrer Muttersprache<br />

verloren, aber ke<strong>in</strong>en neuen türkischen Dialekt entwickelt. Sie<br />

haben e<strong>in</strong>fach nur Türkisch zum Teil verlernt. Trifft e<strong>in</strong> junger Türke<br />

aus Deutschland, der nicht <strong>in</strong> Türkisch unterrichtet wurde, auf e<strong>in</strong>en<br />

jungen Türken aus Frankreich oder England, der auch nicht <strong>in</strong><br />

Türkisch unterrichtet wurde, werden sie erhebliche<br />

Verständigungsprobleme haben. Das heißt aber nicht, dass sie<br />

verschiedene türkische Dialekte sprechen. Sie versuchen nur,<br />

teilweise verlerntes (und auf unterschiedliche Weise verlerntes)<br />

Türkisch zu sprechen. Dasselbe gilt auch für die Sprache der<br />

R<strong>roma</strong> 4 .<br />

1.5 Die E<strong>in</strong>beziehung e<strong>in</strong>es modernen lokalen Wortschatzes<br />

führt nicht zu e<strong>in</strong>em neuen Dialekt. Wenn e<strong>in</strong>e endaj 5 der R<strong>roma</strong><br />

durch e<strong>in</strong>e Grenze <strong>in</strong> zwei Teile gespalten wird, wird jede<br />

Untergruppe aus den jeweiligen Mehrheitssprachen die meisten<br />

jener Begriffe übernehmen, die sich auf die Gastgesellschaft<br />

beziehen (wie z.B. bei den Cerhàri R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> Ungarn und der<br />

Ukra<strong>in</strong>e). Das bedeutet jedoch nicht, dass Cous<strong>in</strong>s unterschiedliche<br />

Dialekte sprechen, sondern vielmehr, dass die jüngste<br />

Sprachschicht e<strong>in</strong>e lexikalische Abweichung aufweist. Im<br />

Gegensatz dazu übernehmen R<strong>roma</strong> unterschiedlicher dialektaler<br />

Herkunft, die geme<strong>in</strong>sam den Sprachraum derselben<br />

Mehrheitssprache bewohnen, die meisten jener Begriffe aus dieser<br />

Sprache, die sich auf die geme<strong>in</strong>same Gastgesellschaft beziehen.<br />

Das bedeutet jedoch nicht, dass sie denselben Dialekt sprechen –<br />

selbst wenn im Ergebnis ihre Kommunikation <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />

4 Vgl. Duka 2001: 181-190 bzgl. der Hauptgründe für e<strong>in</strong>e Sprachverarmung. Häufig<br />

wird sie von der Sprache der Umgebung verursacht: Unterscheidet diese, im<br />

Gegensatz zur r<strong>roma</strong>ni Sprache, nicht zwischen zwei Sprachkonzepten, wird sich die<br />

Sprache der R<strong>roma</strong> im Laufe e<strong>in</strong>iger Jahrzehnte anpassen und e<strong>in</strong>e der zwei Lexeme<br />

verlieren, die die zwei ursprünglichen Konzepte prägten.<br />

5 Endaj (weibl.) ist der alte Begriff <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong> (<strong>in</strong> Bulgarien und<br />

Rumänien noch <strong>in</strong> Gebrauch) für „e<strong>in</strong>e Gruppe von R<strong>roma</strong>, die sich durch e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same l<strong>in</strong>guistische Variante, ihrem Endajolekt, auszeichnet“.<br />

102


ROMA IN EUROPA<br />

Sprache dadurch erleichtert wird. Auch wenn der Alltagswortschatz 6<br />

e<strong>in</strong>en sehr e<strong>in</strong>fachen Referenzrahmen für Außenstehende darstellt,<br />

kann man diesen nicht zur Unterscheidung zwischen Dialekten<br />

heranziehen.<br />

1.6 Differenzierung nach Dialekten hängt von tiefergründigen<br />

Dialekteigenschaften ab. Nicht jede dialektale Unterscheidung ist<br />

für die Bestimmung e<strong>in</strong>es Dialektes von gleicher Bedeutung; e<strong>in</strong>ige<br />

wirken sich nur „oberflächlich“ aus und können praktisch <strong>in</strong> jeder<br />

Sprache auftreten 7 , andere s<strong>in</strong>d spezifischer Art und daher aus<br />

dialektologischer H<strong>in</strong>sicht von größerem Interesse. Im Falle der<br />

Sprache der R<strong>roma</strong> ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal<br />

der Vokal <strong>in</strong> der Endung der ersten Person (S<strong>in</strong>gular) <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheitsform der Verben: o 8 im sogenannten O-Archidialekt<br />

und e im sogenannten E-Archidialekt. Die zweite E<strong>in</strong>teilungsebene,<br />

die jüngeren Datums zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, basiert auf der Aussprache<br />

zweier phonologischer E<strong>in</strong>heiten, die ćh und Ŵ geschrieben<br />

werden: entweder als aspiriertes „tsch+h“ (wie <strong>in</strong> klatschhaft) und<br />

„dsch“ (wie <strong>in</strong> Dschungel) <strong>in</strong> Dialektvarianten ohne Lautwandel und<br />

als sehr weicher Laut „sch“ und „zsch“ (beziehungsweise polnisch ś<br />

und ź oder im Vergleich zu englisch weicher als sheep und<br />

pleasure) <strong>in</strong> den Dialektvarianten mit Lautwandel. Diese zwei<br />

Merkmale differenzieren zwischen vier „Ebenen“: 1 oder „O ohne<br />

Lautwandel“, 1# oder „O mit Lautwandel“, 2 oder „E ohne<br />

Lautwandel“ und schließlich 2# (häufiger als 3 bezeichnet) oder „E<br />

mit Lautwandel“. Die erste Ebene wird nochmals <strong>in</strong> vier Dialekte<br />

unterteilt, sodass es zusammen sieben Gruppen von Endajolekten<br />

6 Die meisten alltäglichen D<strong>in</strong>ge um e<strong>in</strong>en herum gehören eher zur<br />

Mehrheitsgesellschaft und s<strong>in</strong>d deshalb zur Dialektbestimmung weniger geeignet als<br />

Listen, die von Dialektologen ausgearbeitet wurden.<br />

7 Zu den nicht relevanten Eigenschaften zählen die verschiedenen Palatalisierungen<br />

der Konsonanten, wie z. B. „ge“ <strong>in</strong> gelem (ich g<strong>in</strong>g), spontan [g], [ģ], [dj] oder sogar<br />

[dž] <strong>in</strong> verschiedenen Gegenden und Dialekten ausgesprochen, ohne dass zwischen<br />

ihnen e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung bestünde. Diese Entwicklung tritt auch <strong>in</strong> vielen anderen<br />

Sprachen überall <strong>in</strong> der Welt auf.<br />

8 Der Vokal u kann auch im O-Archidialekt auftreten, z. B. bisterdŏm (oder<br />

bisterdŭm) „Ich vergaß“, gelǒm (oder gelǔm) "Ich g<strong>in</strong>g", xalǒm (oder xalǔm) "I aß"<br />

etc…, im Ggs. zu bisterdem, gelem, xalem. Tatsächlich bef<strong>in</strong>det sich dieser<br />

Lautwandel auch im Verbstamm mukhel/mekel “lassen” und im Plural des<br />

bestimmten Artikels o/e.<br />

103


Marcel COURTHIADE<br />

(vgl. Fußnote 5) ergibt, wie die folgende Tabelle darstellt (von unten<br />

nach oben gelesen):<br />

E E# = E mit Lautwandel 3 (oder 2#) lovàra, kelderàra, drizàra etc…<br />

↑ E♮ = E ohne Lautwandel 2 gurbet, ćergar, Ŵambaz, filipiŴi<br />

etc…<br />

↑ O# = O mit Lautwandel 1# cerhàri, colàri, ćuràri etc…<br />

O<br />

1N<br />

Polska R<strong>roma</strong>, xaladìtka etc…<br />

↑ O♮ = O ohne Lautwandel 1C<br />

karpatiko, rromungro etc…<br />

↑<br />

1V<br />

vendetika-ślajferika<br />

↑<br />

1S<br />

baćòri, fićìri, mećkàri, kabuŴìa,<br />

↑<br />

↑<br />

èrli, thare-gone, mahaŴèri etc…<br />

1.7 Außerdem haben sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen soziol<strong>in</strong>guistischen<br />

Szenarien spezifische Idiome herausgebildet, die Para-r<strong>roma</strong>ni<br />

oder „Paggerdilekte“ genannt werden. Dabei s<strong>in</strong>d zwei<br />

wesentliche Entwicklungen zu berücksichtigen, durch die<br />

Paggerdilekte und periphere Idiome von der Sprache der R<strong>roma</strong> (im<br />

wörtlichen S<strong>in</strong>ne oder als Sprache der östlichen R<strong>roma</strong>) abgetrennt<br />

wurden (bzgl. der dialektalen Unterschiede zwischen der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache und diesen Idiomen, s. oben 1.3 und Fußnote 3):<br />

• E<strong>in</strong>e sehr starke Durchdr<strong>in</strong>gung mit fremden Sprachelementen<br />

(vor allem Wortschatz) hat die S<strong>in</strong>to-Idiome geschaffen (durch<br />

germanischen E<strong>in</strong>fluß im Norden und italischen im Süden);<br />

• Die Aufgabe der r<strong>roma</strong>ni Sprache als Heimatsprache hat zur<br />

Bildung von „Paggerdilekten“ geführt (e<strong>in</strong> vor allem zu sozialen<br />

Zwecken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ansonsten spanische, katalanische oder englische<br />

Sprache wieder e<strong>in</strong>geführter Restwortschatz aus der Sprache der<br />

R<strong>roma</strong>).<br />

Der überwältigende Teil dieser E<strong>in</strong>teilung gilt für die östliche<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache (fast 90%), dann für Paggerdilekte (fast 10%) und<br />

der Rest (1 oder 2%) für S<strong>in</strong>to und ähnliche periphere Idiome.<br />

Zusammenfassend sollte man zwischen vier<br />

Differenzierungsformen <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache und para-r<strong>roma</strong>ni<br />

Idiomen unterscheiden:<br />

104


ROMA IN EUROPA<br />

a) E<strong>in</strong>e strikt dialektologische E<strong>in</strong>teilung mit zwei wesentlichen<br />

Isoglossen (Dialektabgrenzungen): den O/E Gegensatz (begleitet<br />

von der lexikalischen Differenzierung e<strong>in</strong>iger Dutzend Wörter) und<br />

die Lautwandelabgrenzungen. Diese Gegensätze bee<strong>in</strong>trächtigen<br />

die E<strong>in</strong>heit der Sprache der R<strong>roma</strong> nicht, da O/E nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Teil der Sprache betrifft (e<strong>in</strong>e Verb-Endung, e<strong>in</strong>en Verbstamm und<br />

e<strong>in</strong>e Form des Artikels), während der Lautwandel nicht immer vom<br />

Zuhörer aufgenommen wird; beide s<strong>in</strong>d außerdem als<br />

zwischendialektale Beziehungen ganz systematisch und der<br />

Zusammenhang wird immer genau e<strong>in</strong>gehalten.<br />

b) Die soziol<strong>in</strong>guistische Ebene mit zwei wesentlichen Szenarien<br />

für die Bildung peripherer Idiome und Paggerdilekte. Sie werden nur<br />

von wenigen verwendet (ca. 10 % der R<strong>roma</strong> <strong>in</strong>sgesamt) und<br />

folglich ist die E<strong>in</strong>heit der r<strong>roma</strong>ni Sprache davon nicht wesentlich<br />

betroffen.<br />

c) Die Ebene der lexikalischen Objekte oder Wörter, die lokal oder<br />

regional <strong>in</strong> Vergessenheit geraten s<strong>in</strong>d (<strong>in</strong>kl. fehlende<br />

Weiterentwicklung aufgrund der Lebensumstände: die Sprache des<br />

ländlichen Umfelds ärmer als die Sprache der R<strong>roma</strong>,<br />

Marg<strong>in</strong>alisierung etc.). Das betrifft nicht die Sprache an sich,<br />

sondern nur die Art und Weise, wie sie <strong>in</strong> bestimmten Gebieten<br />

angewendet wird. Deshalb könnte, mit nachdrücklichen<br />

didaktischen Anstrengungen im Kontext der sprachlichen<br />

Aufwertung, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Vergessenheit geratener Wortschatz wieder<br />

erworben und das Problem gelöst werden.<br />

d) Punktuelle lexikalische Diskrepanzen, bei denen es um e<strong>in</strong>e<br />

sehr begrenzte Anzahl von Lexemen geht: korr/men „Nacken“,<br />

gilabel/bagal „er s<strong>in</strong>gt“ etc.<br />

Schlussfolgerung Nr. 1: Die so genannte „dialektale“ Disparität <strong>in</strong><br />

der Sprache der R<strong>roma</strong> sollte eher als etwas verstanden werden,<br />

was sich daraus ergibt, dass Sprachelemente <strong>in</strong> Vergessenheit<br />

geraten s<strong>in</strong>d: Zwei R<strong>roma</strong> mit unterschiedlichem dialektalen<br />

H<strong>in</strong>tergrund können sich mite<strong>in</strong>ander besser verständigen, wenn<br />

beide jeweils ihren Dialekt der r<strong>roma</strong>ni Sprache sprechen, als zwei<br />

R<strong>roma</strong> mit demselben Ursprungsdialekt, die ihre Muttersprache<br />

lückenhaft gelernt haben. Das ist darauf zurückzuführen, dass das<br />

eigentliche (asiatische) Element <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong><br />

erstaunlich e<strong>in</strong>heitlich <strong>in</strong> allen Dialekten vertreten ist. Diese<br />

105


Marcel COURTHIADE<br />

Tatsache verweist auch auf die E<strong>in</strong>zigartigkeit der Sprache der<br />

<strong>in</strong>dischen Vorfahren der R<strong>roma</strong>.<br />

Folgender Vergleich ist zur Verdeutlichung herangezogen worden:<br />

- der Kern der r<strong>roma</strong>ni Sprache als Sprache ist grundsätzlich <strong>in</strong><br />

allen Dialekten derselbe – so wie der menschliche Körper im<br />

Grunde bei Jedem derselbe ist (sodass die anatomischen Begriffe<br />

mehr oder weniger von allen Dialekten geteilt werden, da sie sich<br />

auf geme<strong>in</strong>same natürliche Konzepte beziehen);<br />

- die aus europäischen Sprachen übernommenen Begriffe<br />

unterscheiden sich unter den R<strong>roma</strong>, so wie Bekleidung von Land<br />

zu Land unterschiedlich ist (sodass Begriffe, die sich auf das nicht-<br />

R<strong>roma</strong> Leben beziehen – Bekleidung, Verwaltung, Nahrung etc. –<br />

sich bei den R<strong>roma</strong> unterscheiden, da sie sich auf künstliche<br />

Konzepte beziehen);<br />

- gerät e<strong>in</strong> Wort <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache <strong>in</strong> Vergessenheit, wird es<br />

durch e<strong>in</strong>en nicht-r<strong>roma</strong>ni Begriff ersetzt, so wie e<strong>in</strong> fehlendes<br />

Organ/Glied durch e<strong>in</strong> künstliches ersetzt wird; aber dabei handelt<br />

es sich nicht um e<strong>in</strong> Modell für das Leben an sich;<br />

- können andere Dialekte das fehlende Wort ersetzen, ist diese<br />

Lösung vorzuziehen, so wie e<strong>in</strong>e Transplantation e<strong>in</strong>er Prothese<br />

vorzuziehen ist – aber dies setzt auch größere Geschicklichkeit<br />

voraus.<br />

-<br />

Damit wurden die ersten vier Fragen beantwortet und wir können<br />

daraus schlussfolgern, dass – sollte e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Wortschatz <strong>in</strong><br />

der Sprache der R<strong>roma</strong> aus ganz Europa zusammengeführt und<br />

nach den phonologischen Regeln der verschiedenen Dialekte<br />

sortiert werden – nichts dafür spricht, dass sich diese Sprache von<br />

anderen europäischen Sprachen bezüglich ihrer Unterteilung nach<br />

Dialekten unterscheidet.<br />

106<br />

2. Das Thema Sprachpraxis und Engagement<br />

Das zweite Schlüsselthema befasst sich mit der tatsächlichen<br />

Anwendung der r<strong>roma</strong>ni Sprache durch die R<strong>roma</strong>. Bevor man auf<br />

diesen Punkt weiter e<strong>in</strong>geht, sollte daran er<strong>in</strong>nert werden, dass die


ROMA IN EUROPA<br />

meisten E<strong>in</strong>wanderersprachen <strong>in</strong>nerhalb von vier Generationen 9<br />

vollkommen vergessen s<strong>in</strong>d. Man erlebt häufig, dass junge Albaner,<br />

die <strong>in</strong> Albanien oder im Kosovo geboren s<strong>in</strong>d, aber <strong>in</strong> Frankreich<br />

leben, untere<strong>in</strong>ander eher Französisch als Albanisch sprechen.<br />

Andererseits erregt die Lebendigkeit der Sprache der R<strong>roma</strong> auch<br />

nach fast tausend Jahren der Migration die une<strong>in</strong>geschränkte<br />

Bewunderung aller Beobachter: „Auch heute noch zeigt jeder<br />

Besuch bei e<strong>in</strong>er Zigeunerfamilie 10 , dass die K<strong>in</strong>der als erstes<br />

R<strong>roma</strong>ni lernen, ihre Muttersprache, und erst dann die Sprache des<br />

Landes, <strong>in</strong> dem sie leben“ (Re<strong>in</strong>hard 1976:III). E<strong>in</strong>e neuere<br />

Veröffentlichung von Halwachs und Zătreanu behauptet jedoch,<br />

dass die R<strong>roma</strong> heutzutage die r<strong>roma</strong>ni Sprache nur noch zur<br />

Begrüßung verwenden und zur Mehrheitssprache überwechseln,<br />

sobald sie e<strong>in</strong>e richtige Unterhaltung beg<strong>in</strong>nen (2004:12-14).<br />

2.1 Wie kann man die Situation objektiv beurteilen? Zwar ist für<br />

jeden offensichtlich, dass auf der europäischen Ebene die Sprache<br />

der R<strong>roma</strong> im Alltagsleben sehr viel präsenter ist als <strong>in</strong> der<br />

Broschüre von Halwachs dargestellt, aber es gibt durchaus<br />

alarmierende Anzeichen für e<strong>in</strong>en Rückgang <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahrzehnten. Man sollte sich deshalb genauer mit den Gründen für<br />

den Niedergang der r<strong>roma</strong>ni Sprache beschäftigen, die<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich das Schicksal der meisten M<strong>in</strong>derheitssprachen <strong>in</strong><br />

großen urbanen Ansiedlungen teilt. Soziol<strong>in</strong>guisten haben darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, dass die ursprüngliche Sprache e<strong>in</strong>er Exilbevölkerung<br />

um so stärker und länger verwendet wird, je mehr diese e<strong>in</strong>er<br />

gemischt sozialen Herkunft ist. Die vielgestaltige Sozialstruktur der<br />

Vorfahren der R<strong>roma</strong> beim Verlassen Indiens begründet also das<br />

erstaunliche Überleben ihrer Sprache – im Gegensatz zu anderen<br />

E<strong>in</strong>wanderersprachen (vgl. Fußnote 9). Es sollte dabei besonders<br />

betont werden, dass die Sprache der R<strong>roma</strong> erfolgreich den<br />

radikalen Veränderungen im kulturellen Umfeld widerstanden hat,<br />

als die R<strong>roma</strong> aus dem nördlichen Indien nach Afghanistan und<br />

Persien verschleppt wurden, von wo aus sie später nach Kle<strong>in</strong>asien<br />

9 1. Generation: Muttersprache hat Vorrang vor Gastlandsprache; 2. Gen.:<br />

ausgewogene Verwendung von Muttersprache und Gastlandsprache; 3. Gen.:<br />

Gastlandsprache dom<strong>in</strong>iert im Alltag; 4. Gen.: Gastlandsprache wird neue<br />

Muttersprache; nach Japp de Ruiter „Morrocan and Turkish Communities <strong>in</strong> Europe“<br />

<strong>in</strong>: ISIM Newsletter 1/98.<br />

10 „Zigeuner“ bedeutete <strong>in</strong> früheren Zeiten etwa dasselbe wie „R<strong>roma</strong> und S<strong>in</strong>te“.<br />

107


Marcel COURTHIADE<br />

und verschiedenen europäischen Ländern weiterzogen, wo sie<br />

jedes Mal e<strong>in</strong>er vollkommen unbekannten Kultur ausgesetzt waren.<br />

Die sehr differenzierte Zusammensetzung der Ur-<br />

R<strong>roma</strong>bevölkerung war wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Faktor, der zu ihrem<br />

Erhalt beigetragen hat. Die Tatsache, dass heutzutage die meisten<br />

Geme<strong>in</strong>schaften der R<strong>roma</strong> ähnlich anderer<br />

E<strong>in</strong>wanderergeme<strong>in</strong>schaften auf den Zustand homogener armer<br />

Gruppen reduziert s<strong>in</strong>d, setzte sie e<strong>in</strong>em vergleichbaren Risiko der<br />

Akkulturation aus. In allen Erklärungen wird jedoch immer wieder<br />

der feste Wille bekundet, die r<strong>roma</strong>ni Sprache an künftige<br />

Generationen weitergeben zu wollen.<br />

2.2 Abgesehen von der nachlassenden Präsenz der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache und dem erklärten Willen der R<strong>roma</strong> zum Erhalt der<br />

Sprache sollte besonders unterstrichen werden, dass der Erhalt<br />

e<strong>in</strong>er Sprache weniger e<strong>in</strong>e Frage von Absichtserklärungen als<br />

von Motivation ist. Da Sprache als gesellschaftliches Phänomen<br />

zwei wesentliche Seiten hat – die der Kommunikation und<br />

Identitätsstiftung – kann auch die Motivation zu ihrem Erhalt<br />

zweifacher Natur se<strong>in</strong>. Als Ausdruck der Identität wird sie von jedem<br />

unterstützt, der sich dieser gesellschaftlichen Funktion bewusst ist,<br />

aber als Kommunikationsmedium empf<strong>in</strong>den sie e<strong>in</strong>ige Sprecher<br />

der r<strong>roma</strong>ni Sprache als unangemessen, wenn es um die<br />

Vermittlung moderner Inhalte geht – e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, die auf<br />

verschiedenen Missverständnissen beruht.<br />

2.3 Die vorrangige Aufgabe der natürlichen Sprachpraxis<br />

besteht nicht <strong>in</strong> der Vermittlung komplizierter Informationen,<br />

sondern der Schaffung e<strong>in</strong>er freundlichen und herzlichen<br />

Atmosphäre des divàno zwischen Menschen, die ihre Gefühle<br />

zue<strong>in</strong>ander zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen wollen, sowie aller möglichen<br />

banalen Äußerungen, die zwar ke<strong>in</strong>e Informationen vermitteln, aber<br />

für den Seelenzustand der Geme<strong>in</strong>schaft von großer Bedeutung<br />

s<strong>in</strong>d. Dazu eignen sich alle Dialekte der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

gleichermaßen. E<strong>in</strong> Problem ergibt sich daraus, dass sich die<br />

Mehrheitssprachen unter dem E<strong>in</strong>fluss der Schulen und der Medien<br />

<strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>er Art pseudo-<strong>in</strong>tellektuellen Sprache auch im<br />

Alltagsleben bedienen. Außerdem verbreiten Schulen und Medien<br />

e<strong>in</strong> Bild der Sprache, als ob sie nur aus Term<strong>in</strong>ologie bestünde.<br />

M<strong>in</strong>derheiten neigen dazu, den Stil der Mehrheitssprache zu<br />

kopieren – allerd<strong>in</strong>gs ohne Erfolg, weil ihre Muttersprache nicht im<br />

108


ROMA IN EUROPA<br />

selben Maße sorgfältig gepflegt wurde wie die offiziellen Sprachen<br />

mit ihren stilistischen und technologischen Verfe<strong>in</strong>erungen. Vor<br />

allem besitzt jede Sprache andere Formen, um etwas zu sagen,<br />

auszudrücken und zu vermitteln (im übertragenen S<strong>in</strong>n hat jede<br />

Sprache „etwas anders zu sagen“). Infolgedessen unterbewerten<br />

M<strong>in</strong>derheiten ihre Muttersprache und wechseln mehr und mehr zur<br />

Mehrheitssprache. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie nicht<br />

mehr <strong>in</strong> ihrer Muttersprache, sondern nach dem Vorbild der<br />

Mehrheit denken; es fällt ihnen leichter, den Denkmustern der<br />

Mehrheitsgesellschaft <strong>in</strong> deren Sprache zu folgen als <strong>in</strong> ihrer<br />

eigenen Muttersprache, die sowieso <strong>in</strong> den wesentlichen<br />

Handlungsräumen der Mehrheitsgesellschaft – Medien, Schule,<br />

K<strong>in</strong>o, öffentlicher Raum, Geschäfte, Sport, Spiele etc. – vollkommen<br />

ignoriert oder sogar verachtet wird, sodass diese M<strong>in</strong>derheit bei<br />

allen diesen Aktivitäten <strong>in</strong> den Sprachmustern der Mehrheit denkt.<br />

Der Familienkreis stellt dabei e<strong>in</strong>e Art privaten Schutzraum dar, <strong>in</strong><br />

denen die letzten sprachlichen Relikte noch Verwendung f<strong>in</strong>den.<br />

Man kann aber beobachten, dass die Muttersprache nichts Eigenes<br />

mehr auszudrücken hat und e<strong>in</strong>e Sprache, die nichts mehr zu<br />

sagen hat, stirbt von selbst.<br />

Es sollte deshalb nicht verwundern, dass viele Eltern den Wert der<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache nicht wahrnehmen (selbst wenn sie den Wunsch<br />

äußern, dass ihren K<strong>in</strong>dern diese Sprache vermittelt werden soll –<br />

aber durch Andere):<br />

• Die Sprache der R<strong>roma</strong> sollte förmliche Anerkennung und<br />

Aufwertung im öffentlichen Leben erfahren (und hat e<strong>in</strong>en<br />

Anspruch darauf) und zu jeder Tageszeit gleichwertig mit der/den<br />

Hauptsprache/n <strong>in</strong> Medien, Schule, Spiele, Sport etc. angewendet<br />

werden, wodurch auch gleichzeitig e<strong>in</strong>e Aufwertung der R<strong>roma</strong><br />

selbst stattf<strong>in</strong>det. Die Mehrheitsgesellschaften ebenso wie die<br />

R<strong>roma</strong> s<strong>in</strong>d der Wahrheit verpflichtet, <strong>in</strong>dem sie nicht nur der<br />

Sprache, sondern auch allen Elementen des R<strong>roma</strong>-Erbes wieder<br />

zu Achtung verhelfen. Diese sollten so behandelt werden, dass sie<br />

e<strong>in</strong>er Nation ohne festes Staatsgebiet und nicht e<strong>in</strong>er amorphen<br />

Ansammlung sozial marg<strong>in</strong>alisierter Gruppen zugeordnet werden.<br />

• Kampagnen zur Bewusstse<strong>in</strong>sbildung über die Bedeutung<br />

aller Muttersprachen sollten <strong>in</strong> Schulen und Medien durchgeführt<br />

werden, u.a. aus Gefühlen menschlicher Solidarität. Die<br />

Vorstellung, dass Sprache nicht nur e<strong>in</strong> Instrument der<br />

109


Marcel COURTHIADE<br />

Kommunikation, sondern auch der Identitätsstiftung und geistigen<br />

Entwicklung darstellt, sollte überall verbreitet werden. Es ist <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang auf die wichtige, von den Indios<br />

Kolumbiens stammende Unterscheidung zwischen<br />

„Gnossodiversität“ (Vielfalt der Denkart/der Wahrnehmungen des<br />

Lebens) und „Glottodiversität“ (Vielfalt der Sprachen) ebenso wie<br />

auf die Rolle der Sprache zur Pflege e<strong>in</strong>es immateriellen Erbes<br />

h<strong>in</strong>zuweisen.<br />

• Es sollte <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache unterrichtet und gelehrt<br />

werden, wie sich e<strong>in</strong> moderner Inhalt genauer <strong>in</strong> der Sprache der<br />

R<strong>roma</strong> ausdrücken lässt (z. B. um von „die Analyse war schlecht“<br />

zu „se<strong>in</strong> Blutzuckerwert liegt bei 1,95 g/l“ zu kommen – was<br />

zugegebenermaßen auch M<strong>in</strong>destkenntnisse der Physiologie<br />

voraussetzt, aber ebenso notwendig auch auf dem Gebiet der<br />

Verwaltung, des Rechts, der Politik etc. ist. Das wäre e<strong>in</strong>e echte<br />

Aufwertung i. S. von empowerment). Gleichzeitig sollte moderne<br />

Term<strong>in</strong>ologie als Sekundärmedium e<strong>in</strong>geführt werden – im<br />

Gegensatz ebenso wie als Ergänzung zur Ausdruckskraft der<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache mit ihren bildhaften Ausdrücken, typischen<br />

begrifflichen Ressourcen, Sprichwörtern und ähnlichen geistigen<br />

Werten.<br />

• Fehlende formale Unterrichtung <strong>in</strong> der Muttersprache führt<br />

zur Diglossie, d.h. der Ansicht, dass die Muttersprache das<br />

Ausdrucksmittel e<strong>in</strong>er mehr und mehr vergehenden Welt ist,<br />

während die Sprache des Gastlandes alle positiven Werte der<br />

Moderne, der sozialen Integration und des Erfolgs transportiert.<br />

Diese Aufspaltung führt zur Auflösung der M<strong>in</strong>derheitssprache,<br />

selbst wenn man sie vorübergehend noch e<strong>in</strong>mal „künstlich<br />

beatmet“, <strong>in</strong>dem man <strong>in</strong> den Schulen K<strong>in</strong>der dar<strong>in</strong> unterrichtet, die<br />

ihre frühere Muttersprache schon gar nicht mehr beherrschen.<br />

Man sollte sich fragen, warum sprachliche Kommunikation so<br />

effektiv ist: Wir nehmen e<strong>in</strong> Wort mit e<strong>in</strong>igen Phonemen und<br />

verstehen sofort dessen Bedeutung – „Hund“, „Haus“, „Sohn“,<br />

„Vater“ etc. – nur weil e<strong>in</strong>e solche Zusammenstellung von<br />

Phonemen aufgrund unserer Bildung mit dem entsprechenden<br />

110


ROMA IN EUROPA<br />

Gegenstand assoziiert wird 11 . Im Falle dieser Begriffe ist die<br />

Bedeutung e<strong>in</strong>fach und erschließt sich unmittelbar, während bei<br />

anspruchsvolleren Konzepten jede Kultur sich zunächst e<strong>in</strong><br />

mentales Bild des Konzepts macht, um es dann durch e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von Phonemen nach ziemlich strikten Regeln der Ableitung,<br />

Analogie, Anleihe etc. zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen. Das erklärt die<br />

Wirkungskraft sprachlicher Kommunikation und auch warum<br />

Sprache gleichzeitig e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres und unersetzbares Spiegelbild<br />

unserer Gesellschaft und kultureller Bezüge darstellt.<br />

Schlussfolgerung Nr. 2: Die Aufgabe der eigenen Sprache ist die<br />

Reaktion naiver Menschen, die sich nur der Funktion der Sprache<br />

zur Informationsvermittlung bewusst s<strong>in</strong>d (und deren Unfähigkeit,<br />

dies zu leisten – warum sollten sie diese dann überhaupt an ihre<br />

K<strong>in</strong>der weitergeben, wenn sie so absolut unzulänglich ist?). Diese<br />

Menschen berücksichtigen nicht die Fähigkeit der Sprache, e<strong>in</strong><br />

ganzes eigenes Universum widerzuspiegeln; dies Opfer führt sie <strong>in</strong><br />

die Irre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremde Welt, <strong>in</strong> die sie erst nach Jahren, vielleicht<br />

nach Generationen E<strong>in</strong>gang f<strong>in</strong>den; gleichzeitig s<strong>in</strong>kt das Niveau<br />

der Differenziertheit im Ausdruck der neu angenommenen Sprache<br />

– wie man es beim Englisch der Nicht-Muttersprachler erlebt. Die<br />

oben beschriebene Strategie – e<strong>in</strong>schließlich der Aufklärung<br />

darüber, wie Sprache(n) wahrgenommen werden sollten – motiviert<br />

erheblich dazu, die Muttersprache <strong>in</strong> allen Lebenslagen<br />

anzuwenden. Unterricht zur Wiedererlangung der Kompetenz <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Muttersprache – zur Großmuttersprache geworden – ist nur<br />

von symbolischer Bedeutung und erhält e<strong>in</strong>e Sprache ke<strong>in</strong>esfalls<br />

am Leben, wenn nicht auch die anderen Voraussetzungen erfüllt<br />

werden. Es sollte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang darauf h<strong>in</strong>gewiesen<br />

werden, dass sehr viel Geld <strong>in</strong> solch hoffnungslose Unterfangen<br />

fließt, während nichts getan wird, um die Sprache der R<strong>roma</strong> zu<br />

11 In modernen Sprachen kann auch das lexikalische Bild als Sekundärreferenz<br />

verwendet werden, mit der man so genannte moderne zusammengesetzte Begriffe<br />

bilden kann: im engl. z.B. poverty trap, soap opera, clear<strong>in</strong>g house, shadow cab<strong>in</strong>et,<br />

dead l<strong>in</strong>e, power po<strong>in</strong>t etc.. Aufgrund ihrer höchst metaphorischen Dimension s<strong>in</strong>d sie<br />

nur <strong>in</strong>nerhalb der Kultur zu verstehen, <strong>in</strong> der sie entstanden (im Ggs. zu gewöhnlichen<br />

zusammengesetzten Begriffen, die unmittelbar verständlich s<strong>in</strong>d: im engl. firewood,<br />

wood fire, time difference etc.). Es besteht jedoch ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Trennl<strong>in</strong>ie<br />

zwischen beidem; überhaupt ist die Abgrenzung irgendwie subjektiv und von der<br />

eigenen Ursprungskultur geprägt.<br />

111


Marcel COURTHIADE<br />

erhalten und dort zu entwickeln, wo sie regelmäßig als alltägliche<br />

Muttersprache angewendet wird – oder anders gesagt, solcher<br />

Unterricht macht nur als begleitende Maßnahme S<strong>in</strong>n, dann und nur<br />

dann, wenn die Bevölkerungsgruppen, die die Sprache anwenden,<br />

über e<strong>in</strong>en soliden Bezugsrahmen verfügen, der sich aus den oben<br />

beschriebenen vier grundsätzlichen Maßnahmen ergibt. Damit s<strong>in</strong>d<br />

zwei weitere Fragen beantwortet.<br />

112<br />

3. Das Thema der Standardisierung/Modernisierung<br />

Auch hier stehen wir wieder vor ziemlich verwirrenden<br />

Vorstellungen darüber, was Standardisierung bedeutet.<br />

3.1 E<strong>in</strong>ige hängen noch immer der <strong>roma</strong>ntischen Vorstellung<br />

an, dass man Sprachen unmöglich aktiv bee<strong>in</strong>flussen kann. Die<br />

moderne L<strong>in</strong>guistik hat bewiesen, dass es „ke<strong>in</strong>e ‚natürlichen<br />

Sprachen‘ gibt, die nicht auf Regeln oder andere normative<br />

Prozesse zurückgreifen, um die Bedürfnisse der entsprechenden<br />

Sprachgeme<strong>in</strong>schaft zu erfüllen [...]. Tatsächlich ist sowohl auf der<br />

mikro- wie auf der makrol<strong>in</strong>guistischen Ebene e<strong>in</strong>e Planung der<br />

Sprache (language build<strong>in</strong>g) unvermeidlich und <strong>in</strong> allen<br />

Abstufungen möglich“ (Eloy 2004:18). Die Vorstellung e<strong>in</strong>er<br />

„Verbesserung“, „Aktualisierung“, „Standardisierung“ oder<br />

„Modernisierung“ der Sprache der R<strong>roma</strong> sollte deshalb nicht von<br />

vornhere<strong>in</strong> verworfen werden – wie es viele Beobachter tun. Diese<br />

„Spezialisten“ bestehen darauf, dass die r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

außerhalb jeder Weiterentwicklung bleiben sollte (natürlich mit<br />

Ausnahme der Verarmung des Wortschatzes, die sie<br />

zugegebenermaßen als unvermeidbar und verhängnisvoll<br />

betrachten), würden dies aber für ihre eigene Muttersprache nie<br />

akzeptieren und verstecken somit ihren diskrim<strong>in</strong>ierenden Ansatz<br />

unter dem Mäntelchen der Achtung vor der Sprache der R<strong>roma</strong> und<br />

ihrem Schicksal. Es ist <strong>in</strong>zwischen deutlich geworden, dass man<br />

e<strong>in</strong>e Sprache dazu verdammt, nur für triviale Zwecke angewendet<br />

zu werden, wenn ihre Ausdrucksmöglichkeiten nicht ständig<br />

erweitert werden, und dass man dadurch Diglossie verursacht, was<br />

letzten Endes zur vollkommenen Ausrottung der Sprache oder ihrer<br />

symbolischen Fossilierung (möglicherweise mit begleitender<br />

Maskottisierung) führt und damit das endgültige Aus nur verzögert,<br />

aber nicht abwendet. Die Frage ist also nicht, „ob“ sondern „wie“<br />

man erfolgreich e<strong>in</strong>e Wirkung auf e<strong>in</strong>e Sprache ausüben kann, um


ROMA IN EUROPA<br />

deren gesellschaftliche Funktionen zur Kommunikation und<br />

Identitätsstiftung zu optimieren.<br />

3.2 Viele Menschen verwechseln noch immer Standard- und<br />

Schriftsprache. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene<br />

Konzepte; wir werden uns später mit der Verschriftlichung<br />

(graphization, созданые алфавита, codificació <strong>in</strong>terna) der<br />

Sprache der R<strong>roma</strong> befassen. Unter Standardisierung stellen sich<br />

diese Menschen e<strong>in</strong> unverwechselbares Modell vor, wie das auch <strong>in</strong><br />

den meisten “etablierten” Sprachen der Fall ist. Im Gegensatz dazu<br />

hat das traditionelle Gefühl gegenseitiger Achtung bei<br />

verschiedenen endaja zu der sehr demokratischen Londoner<br />

Resolution geführt, nach der “ke<strong>in</strong> Dialekt besser als irgende<strong>in</strong><br />

anderer ist, aber wir benötigen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Sprachform, die<br />

es erlaubt, uns auf <strong>in</strong>ternationalen Tagungen und <strong>in</strong> der Literatur zu<br />

verständigen” (Erster Kongress der R<strong>roma</strong>, London, 8. April 1971).<br />

Abgesehen also von e<strong>in</strong>igen Beobachtern, die weder die<br />

Notwendigkeit, den Nutzen noch die Möglichkeit zur<br />

Standardisierung der r<strong>roma</strong>ni Sprache erkennen – und darunter<br />

bef<strong>in</strong>den sich nur sehr wenige R<strong>roma</strong> – ist die restliche Gruppe<br />

gespalten <strong>in</strong> jene, die e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigartiges Modell erstreben, das für alle<br />

R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> ihrem Land gelten soll wie bei Mehrheitssprachen (die für<br />

gewöhnlich ke<strong>in</strong>e Vorstellung von der europäischen Dimension der<br />

r<strong>roma</strong>ni Nation haben) und jenen, die e<strong>in</strong>e flexible europäische<br />

Sprache der R<strong>roma</strong> ersehnen, die dem kulturellen Reichtum der<br />

Dialekte Rechnung trägt und trotzdem auf e<strong>in</strong>er breiteren<br />

Kommunikationsebene angewendet werden kann.<br />

3.3 E<strong>in</strong>ige s<strong>in</strong>d noch immer der Me<strong>in</strong>ung, dass r<strong>roma</strong>ni Dialekte<br />

sich so wenig ähneln, dass e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Sprache e<strong>in</strong> Traum<br />

sei. Tatsächlich gibt es schon e<strong>in</strong>e Sprache der R<strong>roma</strong> auf<br />

europäischer Ebene, gesprochen von Menschen, die auch ihren<br />

ursprünglichen Dialekt gut beherrschen. Angesichts der oben<br />

beschriebenen korrigierten Def<strong>in</strong>ition von Dialekten, e<strong>in</strong>er<br />

systematischen Überprüfung der r<strong>roma</strong>ni Endajolekte und e<strong>in</strong>er<br />

klaren Vorstellung der gegenseitigen Beziehungen zwischen ihnen<br />

kann man davon ausgehen, dass fast alle zur Grundlage für e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same r<strong>roma</strong>ni Sprache herangezogen werden können,<br />

vorausgesetzt, man wendet ihre noch nicht vergessene Variante an.<br />

Dazu ist es notwendig, dass man die r<strong>roma</strong>ni Sprachvarianten nicht<br />

mehr als unabhängige, parallel angewendete Elemente versteht,<br />

113


Marcel COURTHIADE<br />

sondern als e<strong>in</strong>e, wenn auch umfangreiche Struktur, die <strong>in</strong> sich<br />

logisch ist. Nur periphere Gruppen – wie die Sprecher e<strong>in</strong>er sehr<br />

untypischen süditalienischen Form der r<strong>roma</strong>ni Sprache – oder des<br />

f<strong>in</strong>nischen Kaalenqi ćhimb oder auch des <strong>in</strong>zwischen<br />

ausgestorbenen Waliser R<strong>roma</strong>nī – weisen ganz ungewöhnliche<br />

Merkmale auf, werden aber von kaum mehr als 2-3% der Sprecher<br />

angewendet. Die Methode der sprachlichen Festlegung besteht<br />

aus:<br />

• der möglichst umfassenden Sammlung genu<strong>in</strong>en<br />

Wortschatzes und Formen der r<strong>roma</strong>ni Sprache <strong>in</strong> ganz<br />

Europa, e<strong>in</strong>schließlich lokaler Begriffe (ausgenommen<br />

regionaler Lehnwörter jüngeren Datums, die die gegenseitige<br />

Verständigung erschweren, ohne e<strong>in</strong>en kulturellen Mehrwert<br />

zu erbr<strong>in</strong>gen); diese Aufgabe ist bisher für wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

mehr als 99% des Wortschatzes aus Interviews und<br />

Publikationen erfüllt worden – manchmal auch aus sehr alten<br />

Quellen 12 ;<br />

• der E<strong>in</strong>ordnung dieses Materials nach unterschiedlichen<br />

Dialekten und Suche nach Entsprechungen <strong>in</strong> anderen<br />

Dialekten;<br />

• ggf. Berücksichtigung möglicher Anleihen aus anderen<br />

Dialekten, aber nur <strong>in</strong> Fällen von Lücken im Wortschatz,<br />

ansonsten ist dialektale E<strong>in</strong>heitlichkeit vorzuziehen;<br />

• Berücksichtigung von Ressourcen wie Ableitung,<br />

Wiedere<strong>in</strong>führung veralteter Begriffe oder semantische<br />

Erweiterung zur Verbesserung der Ausdruckskraft der<br />

Sprache, um den aktuellen Kommunikationsbedürfnissen der<br />

heutigen Zeit Rechnung zu tragen, ohne jedoch, wo immer<br />

möglich, den festen Sprachmustern ausländischer Modelle zu<br />

folgen; dieser Methode ist der Vorzug zu geben, wenn alle<br />

europäischen Sprachen unterschiedliche Begriffe für e<strong>in</strong><br />

bestimmtes modernes Element verwenden und man nicht auf<br />

e<strong>in</strong>en gesamteuropäischen Oberbegriff zurückgreifen kann.<br />

• H<strong>in</strong>zuziehung ausländischer Lehnwörter vor allem <strong>in</strong><br />

Fällen, wo es um technische Bereiche ohne emotionale<br />

12 Z.B. ist das Wort berno (männl. Substantiv) „Kreis“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em late<strong>in</strong>ischen Text aus<br />

dem 16. Jahrhundert gefunden worden; oder e<strong>in</strong> anderes Beispiel: das Wort trom<br />

(weibl. Substantiv) „Kühnheit, Mut“ f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief aus dem Jahr 1888 von<br />

Radics Lajos aus Miskolc an Erzherzog Joseph von Habsburg (während das<br />

entsprechende Verb t<strong>roma</strong>l „ er wagt“ breite Verwendung f<strong>in</strong>det).<br />

114


ROMA IN EUROPA<br />

Dimension geht; dabei ist es s<strong>in</strong>nvoll, geme<strong>in</strong>same<br />

Neologismen für alle r<strong>roma</strong>ni Varianten zu entwickeln: Wenn<br />

ganz Europa planèta für “Planet” sagt, ist es s<strong>in</strong>nlos, <strong>in</strong><br />

Ungarn dazu "bojgòvo" 13 zu sagen, nur weil das ungarische<br />

Wort für Planet bolygó [bojgo] ist. Auf jeden Fall handelt es<br />

sich bei Lehnwörtern um e<strong>in</strong> natürliches und notwendiges<br />

Phänomen der Sprachentwicklung, durch das man sich aus<br />

dem konzeptionellen Ghetto der Vergangenheit befreien kann.<br />

• Vermeidung doppeldeutiger Lehnwörter, vor allem, wenn<br />

es dadurch zu Kommunikationsproblemen kommen kann: In<br />

e<strong>in</strong>igen Dialekten bedeutet "glàso" “Glas” (


Marcel COURTHIADE<br />

• Empfehlung, die betreffenden Formen weitgehend zu<br />

verwenden, ggf. mit Erläuterungen, falls der Kontext die<br />

Bedeutung nicht ausreichend erschließt, aber unter<br />

Beachtung der Tatsache, dass die Verwendung bestimmter<br />

Ausdrücke nur durch die Sprachpraxis bestätigt wird.<br />

• Dabei geht es um e<strong>in</strong>en wesentlichen Aspekt der<br />

Sprachbehauptung, da die Propagierung von Begriffen, deren<br />

Bedeutung nicht klar ist, ke<strong>in</strong>en Nutzen br<strong>in</strong>gt: Das gilt nicht<br />

nur für “neue” (oder “moderne”) Konzepte des Rechts, der<br />

Mediz<strong>in</strong> oder im Journalismus, sondern auch für traditionelle<br />

kulturelle Vorstellungen der R<strong>roma</strong>, die zunehmend häufiger<br />

ihren natürlichen Weg der Verbreitung verloren haben.<br />

•<br />

Die IRU-Kommission für Sprache und L<strong>in</strong>guistische Rechte ist seit<br />

mehr als 20 Jahren <strong>in</strong> diesem Bereich aktiv, <strong>in</strong> dem Dutzende ihrer<br />

Mitglieder mite<strong>in</strong>ander kooperieren. Die Ergebnisse dieser<br />

kollektiven gesamteuropäischen Anstrengungen werden jedoch<br />

nicht ausreichend gewürdigt, da es an Geld zu ihrer Verbreitung<br />

fehlt und e<strong>in</strong>ige “Freunde der R<strong>roma</strong>” e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>haltetaktik<br />

verwenden, da sie der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, die r<strong>roma</strong>ni Sprache würde<br />

ihre “Zigeuner”-Identität verlieren, wenn zusätzlich zu lokalen<br />

Varianten ihre europäische Dimension wiederhergestellt und<br />

gefördert wird. Wenn man die Sprache der R<strong>roma</strong> gefangen hält <strong>in</strong><br />

ihrer “ursprünglichen” ländlichen Form, ist das gleichbedeutend mit<br />

dem Appell, sie nur für Lieder und Folklore zu verwenden und für<br />

die wichtigen Themen des Lebens auf die Mehrheitssprachen<br />

zurückzugreifen.<br />

Außerdem s<strong>in</strong>d sehr merkwürdige Projekte im Zusammenhang mit<br />

dem “Standard-R<strong>roma</strong>nī” zu beobachten, die immer mal wieder <strong>in</strong><br />

improvisierter Form auftauchen, aber vor allem aus folgenden<br />

Gründen für die tatsächliche Umsetzung nicht taugen:<br />

• Den Fürsprechern solcher Projekte mangelt es sowohl an der<br />

Geduld wie auch der Entschlossenheit und Kompetenz, bestehende<br />

Quellen für so viele Dialekte wie möglich <strong>in</strong> allen Teilen Europas zu<br />

überprüfen. Anstatt dass sie die r<strong>roma</strong>ni Sprache nach ihrer<br />

Anwendung durch kompetente Muttersprachler aufbauen, nehmen<br />

sie das Wissen zufällig ausgewählter Sprecher (häufig selbst<br />

ernannte lokale Führungsleute, die wegen ihrer Biografie und ihres<br />

ger<strong>in</strong>gen Kommunikationsbedarfs die Sprache nur unzulänglich<br />

116


ROMA IN EUROPA<br />

beherrschen) und versuchen, die ganze Sprache aus deren<br />

dürftigen Restkenntnissen der r<strong>roma</strong>ni Sprache zu rekonstruieren.<br />

Gleichzeitig übernehmen sie massiv Begriffe aus verwandten<br />

Sprachen, orientieren sich aber sonst eng an der Sprache und den<br />

Denkmustern der Mehrheitsgesellschaft.<br />

• Wenn ihnen Ressourcen (Wortschatz, Ausdrücke etc. ...)<br />

angeboten werden, wird deren Berücksichtigung unter dem<br />

Vorwand des dialektalen Chauv<strong>in</strong>ismus, aber im Grunde aus<br />

Bequemlichkeit abgelehnt. Diese Menschen betrachten die<br />

europäische Dimension der r<strong>roma</strong>ni Sprache als unmaßgeblich<br />

oder glauben e<strong>in</strong>fach, sie könnten Millionen von R<strong>roma</strong> ihre<br />

Vorstellungen aufzw<strong>in</strong>gen. Dadurch trägt jeder E<strong>in</strong>zelne von ihnen<br />

dazu bei, dass e<strong>in</strong>e schon bestehende Sprache <strong>in</strong> wenig<br />

überzeugende E<strong>in</strong>zelprojekte für Restidiome aufgespalten wird, die<br />

auf e<strong>in</strong>er unsicheren Grundlage aufgebaut werden.<br />

• Grobe Grammatikfehler s<strong>in</strong>d dabei im Gebrauch der Sprache<br />

durchaus üblich: "kodo buti" “diese Arbeit” (kodo ist männl., aber<br />

buti weibl.), "na śaj" “er kann nicht” (richtig wäre naśti), na si “es<br />

ist nicht” (richtige Formen: naj, nane, nanaj). Wenn man sie dazu<br />

befragt, geben diese “Neusprachler” e<strong>in</strong>fach vor, dass es sich um<br />

ihren Dialekt handelt – noch e<strong>in</strong>e Manipulation des Begriffs “Dialekt”<br />

– und verstärken damit den falschen E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er dialektalen<br />

Aufspaltung der r<strong>roma</strong>ni Sprache. Man sollte <strong>in</strong> solchen Fällen eher<br />

von “Fantasiolekten” sprechen.<br />

• Vielfach ist für ihren Diskurs ke<strong>in</strong>e große Sprachgenauigkeit<br />

erforderlich. Sie übernehmen e<strong>in</strong>fach leere Worthülsen aus der<br />

Mehrheitssprache, wie man es auch auf zahlreichen<br />

Verbandstreffen erleben kann, z. B.: "Anda kodo kritićno<br />

kontèksto, amaro sociàlno projèkto śaj popravil i ekonomìćna<br />

situàcia e Rromenqi thaj lenqe problème" (anda, kodo, amaro,<br />

śaj, thaj, lenqe “<strong>in</strong>”, “dies”, “uns” “kann”, “und”, “ihr” s<strong>in</strong>d R<strong>roma</strong>nī &<br />

popravil “verbessern” ist slawisch – e<strong>in</strong>e Übersetzung des<br />

restlichen Satzes erübrigt sich). Es ist sogar unmöglich, solche<br />

Sätze <strong>in</strong> die normale r<strong>roma</strong>ni Sprache rückzuübersetzen, weil der<br />

Inhalt so wenig fassbar ist. Alle Dolmetscher kennen die<br />

Schwierigkeit der Übersetzung, wenn der Ursprungstext zu vage ist,<br />

es sei denn, die Zielsprache hat e<strong>in</strong>e ähnlich vage Term<strong>in</strong>ologie<br />

entwickelt, was <strong>in</strong> den meisten “modernen” Sprachen der Fall ist.<br />

117


Marcel COURTHIADE<br />

Die r<strong>roma</strong>ni Sprache kennt bisher solche politischen Phrasen noch<br />

nicht, und es ist auch e<strong>in</strong>e Frage der Kultur. Vielleicht kl<strong>in</strong>gt es<br />

paradox, aber die Feststellung ist trotzdem richtig, dass dieses<br />

Defizit von Vorteil ist, da es zu e<strong>in</strong>er konkreteren Analyse sehr<br />

wichtiger Probleme zw<strong>in</strong>gt.<br />

In der Tat lässt sich <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache, selbst <strong>in</strong> ihrem<br />

gegenwärtigen Zustand, sehr viel mehr ausdrücken als viele<br />

erwarten würden, solange man die ganze Bedeutung durch den<br />

Filter der r<strong>roma</strong>ni Kultur analysiert und nicht nur r<strong>roma</strong>ni Begriffe<br />

e<strong>in</strong>em ausländischen Denkmuster aufpfropft. Deshalb lassen sich<br />

auch viele Probleme sehr viel leichter lösen, wenn man unter<br />

R<strong>roma</strong> <strong>in</strong> eigener Sprache spricht (z. B. bei e<strong>in</strong>em traditionellen kris<br />

der R<strong>roma</strong> – r<strong>roma</strong>ni kris), als wenn man e<strong>in</strong>e fremde Sprache<br />

oder e<strong>in</strong>e Art “Schatten”-R<strong>roma</strong>nī” spricht. Dies beweist die enge<br />

Verb<strong>in</strong>dung zwischen Sprache und Kultur. Wenn wir – aus<br />

Ignoranz, fehlendem Bewusstse<strong>in</strong>, Chauv<strong>in</strong>ismus oder Faulheit –<br />

e<strong>in</strong> gesamteuropäisches echtes R<strong>roma</strong>ni aufgeben, und damit<br />

se<strong>in</strong>e Sicht der Realität, zerstören wir sehr viel mehr als nur die<br />

Sprache selber – und zwar etwas, ohne das die Sprache nur e<strong>in</strong>e<br />

Anhäufung von Begriffen ist: die r<strong>roma</strong>ni Sicht der Welt.<br />

Es ist bedauerlich, wenn man auf vielen Tagungen Vertreter der<br />

R<strong>roma</strong> sagen hört, nachdem sie e<strong>in</strong> paar Grußworte <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache gesprochen haben: “Also mir fallen die Worte <strong>in</strong> R<strong>roma</strong>nī<br />

nicht e<strong>in</strong>, ich mache jetzt auf gaŴikanes weiter” – selbst wenn man<br />

sonst stundenlang mit ihnen <strong>in</strong> der Sprache der R<strong>roma</strong> plaudern<br />

kann. Es zeigt sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> tiefes Missverständnis über das<br />

Konzept von Sprache und Kultur.<br />

Ähnliche Schwierigkeiten treten häufig dann auf, wenn man –<br />

offensichtlich <strong>in</strong> der besten Absicht, aber mit schwer wiegenden<br />

Folgen für die Sprache, falls man nicht vorsichtig vorgeht – e<strong>in</strong>e<br />

Liste von nicht-R<strong>roma</strong> Begriffen <strong>in</strong> die r<strong>roma</strong>ni Sprache überträgt. In<br />

allen Ländern gibt es Beispiele dafür <strong>in</strong> den populären<br />

K<strong>in</strong>derbilderbüchern, die e<strong>in</strong>e typisch bürgerliche, urbane Welt als<br />

Universalmodell darstellen und andere Lebensarten bewusst außer<br />

Acht lassen. Gewöhnlich wird <strong>in</strong> diesen hübschen K<strong>in</strong>derbüchern<br />

ausschließlich die westliche moderne Lebensart <strong>in</strong> der Stadt mit<br />

immer den gleichen Häusern, s<strong>in</strong>nbildlichen Objekten<br />

(verschiedene Bekleidungsstücke, Möbel und Zubehör<br />

118


ROMA IN EUROPA<br />

verschiedenster Art, Mahlzeiten etc.), typischen Betätigungen<br />

(Sport, Spiele, Gartenarbeit, Unterhaltung, Arbeit, Feste etc.) und<br />

das, worum es dabei geht, dargestellt. Aus Sicht der<br />

Mehrheitsgesellschaft ist das durchaus legitim, sollte aber nicht als<br />

das alle<strong>in</strong> gültige Lebensmodell verstanden werden 15 . Auch andere<br />

Lebensstile haben e<strong>in</strong>en Anspruch darauf, dargestellt zu werden,<br />

der ihnen aber verwehrt wird. Folglich sche<strong>in</strong>en bei der r<strong>roma</strong>ni<br />

Übersetzung der Bilderbücher viele Begriffe zu fehlen, die es aber<br />

tatsächlich <strong>in</strong> der Sprache gar nicht gibt, da man sie <strong>in</strong> dieser<br />

spezifischen Gesellschaft nicht braucht und ihre Wiedergabe vor<br />

allem durch die Regeln des Marktes diktiert wird. Das Ergebnis<br />

e<strong>in</strong>er r<strong>roma</strong>ni Übersetzung dieser Bücher, die gleichzeitig <strong>in</strong><br />

Dutzenden von städtisch geprägten Sprachen herausgegeben<br />

werden, zeigt sich auf dreierlei Art:<br />

• E<strong>in</strong>erseits bietet sie e<strong>in</strong>e gute Gelegenheit, um viele sehr<br />

nützliche Begriffe aus dem Alltagsleben zu prägen und e<strong>in</strong>en neuen<br />

Wortschatz für echte soziale Bedürfnisse zu entwickeln (wie<br />

Schulbedarf, Gesundheitsdienste, Verwaltung etc.),<br />

• Andererseits wird man mit zahlreichen Konzepten konfrontiert, die<br />

aus den folgenden Gründen für e<strong>in</strong>e Nicht-Mehrheitsgesellschaft<br />

eigentlich nutzlos s<strong>in</strong>d:<br />

- weil sie im eigenen Alltag nicht vorkommen (und man sehr wohl<br />

ohne sie zurecht kommt);<br />

- weil, wenn es sie gibt, sie nicht von so zentraler Bedeutung s<strong>in</strong>d,<br />

dass man dafür e<strong>in</strong>en speziellen Begriff braucht (man kann sie<br />

umschreiben);<br />

- weil e<strong>in</strong>e Übernahme des entsprechenden Begriffs aus dem<br />

Englischen häufig s<strong>in</strong>nvoller ist, vor allem bei Objekten, die ke<strong>in</strong>e<br />

kulturellen oder geistigen Werte übermitteln (dabei bleibt die Frage<br />

der Anpassung der Grammatik);<br />

●Was auch immer zutreffend ist, jedwede Besonderheit des r<strong>roma</strong>ni<br />

Wortschatzes als Spiegel kultureller, sozialer und spiritueller Werte<br />

wird von allen ga ikane-Lesern oder Schriften als unbekannt<br />

ausgeklammert.<br />

3.4 Infolgedessen verstärken diese Publikationen noch das<br />

falsche Bild des Unzulänglichen, das der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

anhängt (oder den E<strong>in</strong>druck des Künstlichen, wenn der Übersetzer<br />

15 Darauf wurde auch von Lehrern <strong>in</strong> post-kolonialen Ländern h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

119


Marcel COURTHIADE<br />

alle möglichen Lösungen <strong>in</strong>s Auge fasst), während ihr wahrer<br />

konzeptioneller Reichtum <strong>in</strong> Vergessenheit gerät. Begriffe aus der<br />

Sprache des Gastlandes <strong>in</strong> Wörterbücher für R<strong>roma</strong>nī zu<br />

übernehmen, kann nur e<strong>in</strong>en Teil der l<strong>in</strong>guistischen Strategie<br />

ausmachen, während für die Sprachbehauptung hauptsächlich auf<br />

echte Texte (e<strong>in</strong>schließlich der Wörterbücher für R<strong>roma</strong>ni/Gastland-<br />

Sprache) zurückgegriffen werden sollte, die direkt <strong>in</strong> der Sprache<br />

der R<strong>roma</strong> mit dem entsprechenden Blickw<strong>in</strong>kel verfasst wurden<br />

und die viele Begriffe und Ausdrücke ohne Entsprechung <strong>in</strong> den<br />

Sprachen der Gastländer 16 be<strong>in</strong>halten, und die damit<br />

e<strong>in</strong>hergehenden Gefühle, Andeutungen und Konnotationen. E<strong>in</strong>er<br />

Förderung dieses Erbes kommt e<strong>in</strong>e sehr viel größere Bedeutung<br />

zu als der Förderung von Wortlisten <strong>in</strong> der r<strong>roma</strong>ni Sprache, die<br />

nach ausländischen Mustern ausgearbeitet wurden.<br />

Schlussfolgerung Nr. 3: E<strong>in</strong>e Entwicklung der Sprache der R<strong>roma</strong><br />

kann nur durch e<strong>in</strong>en additiven Prozess erreicht werden: Um<br />

Unterschiede im Wortschatz verschiedener Varianten der Sprache<br />

zu reduzieren, muss man das bestehende Vokabular so weit wie<br />

möglich verbreiten und – falls erforderlich, und nur dann –<br />

geme<strong>in</strong>same Neologismen für neue Konzepte e<strong>in</strong>führen. Dies kann<br />

als “additive Kapitalisierung” bezeichnet werden und ist <strong>in</strong> allen<br />

Sprachen das wichtigste Mittel zu ihrer Modernisierung. Im<br />

Gegensatz dazu gehen durch e<strong>in</strong>en subtraktiven Ansatz, bei dem<br />

alle nicht unmittelbar von e<strong>in</strong>zelnen handelnden Personen<br />

verstandenen Begriffe ausgeschlossen werden (die Methode des<br />

kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenners), 90 % des lexikalischen Bestands<br />

oder mehr verloren. Die sich daraus ergebene Verarmung der<br />

Sprache veranlasst die Benutzer der Sprache, künstliche<br />

Konstruktionen und Lehnwörter zum Ersatz des verlorenen<br />

Reichtums e<strong>in</strong>zuführen und damit e<strong>in</strong>e r<strong>roma</strong>ni Schattensprache zu<br />

16 Das Vorwort e<strong>in</strong>es kürzlich erschienenen Wörterbuches (2004) führt folgende<br />

Beispiele an: manralo „bedeckt mit den Resten e<strong>in</strong>es frisch angesetzten Brotteiges“,<br />

baśakărèla „e<strong>in</strong>en Laut hervorrufen“, muzgonèla „mit e<strong>in</strong>er Art ungebrannten Lehm<br />

beschichten“, lokoć<strong>in</strong>èla „Lehm anrühren“, dipi „Mitte (Boden) des Korbes [Begriff<br />

der Korbflechter]“, xonòta „der besondere Geruch der Erde nach dem Regen“,<br />

papar<strong>in</strong>ŏla „se<strong>in</strong>e Eigenschaften beim E<strong>in</strong>weichen <strong>in</strong> Wasser verlieren“, phućivèla<br />

„[Eier] ohne Schale legen“, źambàla „e<strong>in</strong> rituelles Gruppenspiel während der<br />

Herdelèzi Feier (6. Mai)“, uźdàga „e<strong>in</strong> besonderer Stab des Rlìa-Stammes“ – um nur<br />

e<strong>in</strong>ige zu erwähnen; man könnte dieser Liste Hunderte idiomatischer Ausdrücke<br />

h<strong>in</strong>zufügen.<br />

120


ROMA IN EUROPA<br />

schaffen, der es an jeglicher kultureller Dichte mangelt. Es s<strong>in</strong>d<br />

deshalb besondere Anstrengungen nötig, um alle Ausdrucksmittel<br />

des konzeptionellen Erbes der R<strong>roma</strong> wieder zu aktivieren.<br />

4. Das Thema Verschriftung<br />

Bei Überlegungen zur Strategie der Verschriftung sollten folgende<br />

wesentliche Unterschiede zwischen den Mechanismen, die dem<br />

mündlichen und schriftlichen Sprachverständnis zugrunde liegen,<br />

bedacht werden:<br />

a) Sobald man die Sprachanwendung durch die Verbreitung <strong>in</strong><br />

schriftlicher Form erweitert, stehen alle Sprachen vor e<strong>in</strong>er Reihe<br />

neuer Anforderungen: Sie verlieren wichtige nichtsprachliche<br />

Elemente wie Intonation, Gestik und die sichtbare Präsenz der<br />

betreffenden Objekte, während sie gleichzeitig komplexere,<br />

genauere und häufig auch abstraktere Ideen ausdrücken müssen.<br />

Es gibt dann auch ke<strong>in</strong>e Gelegenheit der Nachfrage für den<br />

Empfänger, wenn nicht alles verstanden wurde. Sie verändern sich<br />

von e<strong>in</strong>em weitschweifigen, redundanten, auf wenige bekannte<br />

Themen beschränkten Stil zu e<strong>in</strong>em verdichteten, ökonomisch<br />

e<strong>in</strong>gesetzten Ausdruck vielfältigster Themenfelder. Sie müssen<br />

längere Sätze mit strengerer Gliederung bilden und letztlich sollen<br />

sie sich über die Zeit bewähren, denn wir wissen: verba volant,<br />

scripta manent. Sie müssen somit nicht nur die verlorenen<br />

Ausdrucksmittel durch neue kompensieren, sondern auch<br />

zusätzliche Kunstgriffe e<strong>in</strong>setzen, um die Bedeutung klarzustellen.<br />

E<strong>in</strong>e geschriebene Sprache ist nie e<strong>in</strong>fach nur die Verschriftung der<br />

mündlichen Sprache. E<strong>in</strong> schriftlich fixierter mündlicher Text ist<br />

lesbar nur, wenn es dabei um e<strong>in</strong>en außerordentlich e<strong>in</strong>fachen<br />

Inhalt geht (weswegen demagogische Texte, vor allem<br />

Beleidigungen, <strong>in</strong> schriftlicher Form verstanden werden, selbst<br />

wenn sie nur e<strong>in</strong>e Verschriftung mündlicher Äußerungen darstellen<br />

– <strong>in</strong> solchen Fällen besteht e<strong>in</strong>e große Übere<strong>in</strong>stimmung zwischen<br />

dem mündlichen und schriftlichen Stil). Je anspruchsvoller die<br />

Bedeutung e<strong>in</strong>es Textes ist, um so größer ist die Diskrepanz<br />

zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachregister.<br />

b) Andererseits ist die verstandesmäßige Verarbeitung <strong>in</strong> der<br />

mündlichen Kommunikation ganz anders, da sie natürlich ist und<br />

von angeborenen Fähigkeiten abhängt, wie beim Lesen, da es<br />

121


Marcel COURTHIADE<br />

künstlich ist und von erlernten Fähigkeiten abhängt. Der<br />

menschliche Verstand ist <strong>in</strong> der Lage, große dialektale<br />

Diskrepanzen zwischen Sprechern unterschiedlicher Herkunft durch<br />

automatische Anpassung an se<strong>in</strong>e/ihre dialektale Struktur<br />

auszugleichen, während es e<strong>in</strong>en solchen “Dekoder” beim Lesen<br />

nicht gibt. Dies muss durch besonders entwickelte Strategien <strong>in</strong> der<br />

Schriftsprache kompensiert werden. E<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied<br />

zwischen den mündlichen und schriftlichen Sprachkodes besteht<br />

dar<strong>in</strong>, dass alle phonetischen Wiedergaben (“Laute”: [a],[e],[i],[m],<br />

[b] usw.) e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum ohne scharfe Abgrenzungen darstellen – es<br />

gibt Millionen Lautzwischenformen zwischen [a] und [e], zwischen<br />

[m] und [b] usw., wobei Sprachgewohnheiten die Unterschiede<br />

herstellen, damit man zwischen Phonemen unterscheiden kann, die<br />

“e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergeben” (sagen ≠ Segen, Bauer ≠ Mauer), während<br />

die Entsprechungen <strong>in</strong> der Schriftsprache, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />

gedruckter Form, sehr stark abgegrenzt werden. Außerdem<br />

überschneiden sich die akustischen Merkmale dieser “Laute”<br />

teilweise und machen damit die mündliche Kommunikation noch<br />

flexibler; auch dies e<strong>in</strong>e Eigenschaft, die der gedruckten Sprache<br />

fehlt. Wenn man e<strong>in</strong>en verschwommenen Laut vernimmt (oder<br />

e<strong>in</strong>en für die eigene dialektale Struktur undeutlichen Laut, der aber<br />

für die dialektale Struktur des Sprechers ganz klar ist), ordnet das<br />

Gehirn diesem Laut je nach Kontext und früherer Erfahrung e<strong>in</strong>en<br />

bestimmten Wert zu. Wenn man dies jedoch schreiben will, muss<br />

man zwischen klar abgegrenzten Buchstaben wählen und e<strong>in</strong>ige<br />

Unterschiede zu Papier br<strong>in</strong>gen, die vielleicht im ursprünglichen<br />

Dialekt gar nicht maßgeblich waren, während man gleichzeitig<br />

andere, im ursprünglichen Dialekt wesentliche, aber <strong>in</strong> der<br />

Dialektvariante des Lesers unbekannte Eigenschaften übersieht.<br />

Dies geschieht, wenn jeder nach der Rechtschreibung der<br />

Mehrheitssprache se<strong>in</strong>es Landes schreibt. Das erste Beispiel wurde<br />

schon im Zusammenhang mit dem oben genannten Lautwandel<br />

angesprochen: In der mündlichen Kommunikation s<strong>in</strong>d Dialekte mit<br />

oder ohne Lautwandel gegenseitig durchaus zu verstehen und der<br />

Lautwandel wirkt eher wie e<strong>in</strong> Akzent, der die Bedeutung des<br />

Wortes nicht verändert: [ havo]/[ avo] “Junge”, [ hib]/[ ib]<br />

“Zunge” etc. Wenn man diese zwei unterschiedlichen Aussprachen<br />

jedoch nach den Rechtschreibregeln der nicht-r<strong>roma</strong>ni Sprachen<br />

schreibt (z. B. <strong>in</strong> kroatischer Schrift: čhavo/šjavo), ergeben sich<br />

riesige Unterschiede, die vom Leser erst nach weiterem<br />

122


ROMA IN EUROPA<br />

Nachdenken über den Begriff und den Kontext erfasst werden,<br />

wenn die ausländische Aussprache zugrunde gelegt wurde. Lesen<br />

wird zu e<strong>in</strong>er Rätselaufgabe. Rajko Djurić hat <strong>in</strong> veröffentlichten<br />

Werken über die R<strong>roma</strong> und <strong>in</strong> r<strong>roma</strong>ni Wörterbüchern das<br />

Syntagma "Sprache der R<strong>roma</strong>" <strong>in</strong> den folgenden Formen<br />

gefunden: románi czib, románi čib, rōmani tschib, románi<br />

tschiwi, <strong>roma</strong>ni tšiw, romeni tšiv, <strong>roma</strong>ni tscheeb, r<strong>roma</strong>ni<br />

čhib, <strong>roma</strong>ni chib, rhomani chib, <strong>roma</strong>ni čhib, <strong>roma</strong>ji šjib,<br />

<strong>roma</strong>i şib, <strong>roma</strong>nyi shib etc. (ohne nicht-late<strong>in</strong>ische Schriften –<br />

Kyrillisch, Griechisch usw. zu erwähnen) – und zwar alles für die<br />

phonetische Wiedergabe von [r<strong>roma</strong>[n]i hib/ ib].<br />

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die zwei Formen des r-Lautes:<br />

[ oripen] “Diebstahl”/[ orripen] “Armut”, die häufig von nichtr<strong>roma</strong>ni<br />

Hörern nicht unterschieden und deshalb gleich geschrieben<br />

werden (e<strong>in</strong>ige Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts haben sogar<br />

moralische Schlussfolgerungen aus dieser für sie sche<strong>in</strong>bar<br />

une<strong>in</strong>geschränkten Homonymie gezogen). Man beachte, dass der<br />

zweite r-Laut auch am Anfang des Begriffs Rrom selbst auftaucht.<br />

Selbst junge R<strong>roma</strong>, die die r<strong>roma</strong>ni Sprache aus Büchern (oder<br />

dem Internet) lernen, glauben, dass “Diebstahl” und “Armut” <strong>in</strong> ihrer<br />

Sprache Homonyme s<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong> so genanntes “diasystematisches” System wurde auf dem 4.<br />

Kongress für die r<strong>roma</strong>ni Sprache 1990 <strong>in</strong> Warschau (nach<br />

jahrelangen Beratungen) e<strong>in</strong>geführt, um die verschiedenen<br />

Wiedergaben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verschrifteten Form zusammenzuführen und<br />

sie nicht noch weiter durch fremde Rechtschreibung zu<br />

unterscheiden. Dabei handelt es sich um das am besten<br />

funktionierende von den bisher vorgeschlagenen Systemen, wenn<br />

man berücksichtigt, dass ke<strong>in</strong>e Rechtschreibung ganz vollkommen<br />

ist (auch <strong>in</strong> Mehrheitssprachen) und dass die Wahl e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Rechtschreibung häufig die Wahl zwischen zwei Übeln<br />

ist. Im Grunde geht es darum, dass sich jeder e<strong>in</strong> wenig anstrengen<br />

muss, um sich an e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Rechtschreibung zu halten, um<br />

allen anderen Benutzern, die die Sprache lesen wollen, große<br />

Anstrengungen zu ersparen. Menschen schreiben mehr oder<br />

weniger gleich und jede/r liest so, wie er/sie es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er/ihrer<br />

Familie gelernt hat. Das ganze System mag kompliziert ersche<strong>in</strong>en<br />

und ist es bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grade auch, aber das betrifft nur<br />

die L<strong>in</strong>guisten, während jeder Benutzer se<strong>in</strong>e/ihre dialektalen<br />

123


Marcel COURTHIADE<br />

Regeln fürs Lesen und Schreiben kennen muss – und die s<strong>in</strong>d nicht<br />

komplizierter als im Italienischen oder Spanischen.<br />

E<strong>in</strong>ige Politiker und Beobachter haben e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung der<br />

Rechtschreibung gefordert. Worum geht es? Es geht darum,<br />

dass sie e<strong>in</strong>e Rechtschreibung wollen, die sie sofort verwenden<br />

können, ohne die e<strong>in</strong>, zwei für die richtige Beherrschung der<br />

europäischen Rechtschreibung erforderlichen Stunden Unterricht.<br />

Es geht darum, dass die von ihnen vorgeschlagene<br />

Rechtschreibung jener entspricht, die sie <strong>in</strong> ihren jeweiligen<br />

Schulen <strong>in</strong> den Mehrheitssprachen gelernt haben. Das bedeutet<br />

für Bulgaren, dass die Rechtschreibung bulgarisiert wird, für<br />

Ungarn, dass sie ungarisiert wird, für die Polen, dass sie polnisiert<br />

wird 17 usw. , wobei jedes Mal die E<strong>in</strong>heit der r<strong>roma</strong>ni Sprache<br />

zugunsten e<strong>in</strong>er Konformität mit lokalen Sprachen zerstört wird.<br />

Allgeme<strong>in</strong> wird damit argumentiert, dass R<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der nicht e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte eigene Rechtschreibung lernen könnten (während<br />

andere K<strong>in</strong>der, die zu M<strong>in</strong>derheiten gehören, das sehr wohl<br />

können). Der gemäßigte Flügel schlägt das kroatische Alphabet für<br />

alle vor, aber erkennt nicht, dass e<strong>in</strong> solches Alphabet<br />

oberflächliche Unterschiede <strong>in</strong> der Aussprache für immer festlegt<br />

und fortschreibt, die zwar die mündliche Kommunikation nicht<br />

verh<strong>in</strong>dern, aber erhebliche Unklarheiten beim Lesen entstehen<br />

lassen. Der radikale Flügel besteht jedoch weiterh<strong>in</strong> auf lokalen<br />

Alphabeten und fördert sogar verschiedene Alphabete <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und<br />

demselben Land wie z. B. <strong>in</strong> Österreich 18 , wo e<strong>in</strong> und derselbe<br />

Satz – z. B. “die Frau sagte, sie kenne die Wahrheit”,<br />

folgendermaßen geschrieben werden kann:<br />

i dschuvli pentscha so dschanel o tschatschipe (im wendischen<br />

Dialekt [1V], deutsche Rechtschreibung)<br />

17 Zis iz az if aj uer rajt<strong>in</strong>g <strong>in</strong>gliš zis uej <strong>in</strong> Jugoslawien, youz<strong>in</strong>g razeur zisse euzeure<br />

oueille <strong>in</strong> Frankreich und stil anăzăr uan, laic zis for <strong>in</strong>stăns <strong>in</strong> Rumänien, нот ту<br />

меншън зъ уан ай ўуд чуз фор България… statt der regulären englischen<br />

Rechtschreibung. Es lässt sich jeder kurze Satz <strong>in</strong> welcher Sprache auch immer mit<br />

jeder Rechtschreibung mehr oder weniger gut verstehen, aber nicht e<strong>in</strong> wirklicher<br />

Text für e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Kommunikation.<br />

18 Dieselben Wissenschaftler, die erklären, dass R<strong>roma</strong> nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e<br />

eigene Schreibweise zu verwenden, fördern verschiedene Schreibweisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und<br />

demselben Staat. Bei lokaler Rechtschreibung verwendet man tatsächlich die ganze<br />

Energie auf das Entziffern des Textes und vergisst darüber fast das Wichtigste,<br />

nämlich die menschliche Botschaft.<br />

124


ROMA IN EUROPA<br />

und<br />

e žuvli phenda so žanel o čačimos (im “Lovari” Dialekt [3L],<br />

kroatische Schreibweise). Festzuhalten ist, dass der letzte Satz<br />

auch <strong>in</strong> “Lovari”, aber auf der anderen Seite der Grenze <strong>in</strong> Ungarn,<br />

folgendermaßen geschrieben wird:<br />

é zsúlyi phéndá szó zsánél o csácsímó (ungarische<br />

Rechtschreibung), während beide Sätze <strong>in</strong> der allgeme<strong>in</strong>en<br />

Rechtschreibung so aussehen würden:<br />

i uvli phendǎ so anel o ćaćipe (wendischer Dialekt)<br />

und<br />

e uvli phenda so anel o ćaćimos (Lovari). Damit zeigt sich, dass<br />

das, was auf der lokalen Ebene vielleicht e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung<br />

darstellt, selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land, geschweige denn auf der<br />

europäischen Ebene (vgl. Fußnote 17) große Verwirrung stiften<br />

kann. E<strong>in</strong> solcher Ansatz würde dazu führen, dass Texte nur im<br />

nationalen Raum zirkulieren. Tatsächlich s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> oder sogar zwei<br />

Stunden Unterricht nichts im Vergleich zu den Vorteilen, die der<br />

Erhalt e<strong>in</strong>er paneuropäischen Sprache für den gesamten Kont<strong>in</strong>ent<br />

und das Ausmaß des Erbes, das damit Millionen von R<strong>roma</strong><br />

zugänglich gemacht würde, mit sich br<strong>in</strong>gen würde. Die Tatsache,<br />

dass mehr als 16.000 r<strong>roma</strong>ni Schüler jedes Jahr <strong>in</strong> dieser<br />

Schreibweise <strong>in</strong> Rumänien unterrichtet werden, belegt, dass dieses<br />

Problem nur vorgeschoben wird.<br />

E<strong>in</strong>ige behaupten, dass sich die Buchstaben nicht auf ihrer Tastatur<br />

bef<strong>in</strong>den. Das ist nicht wahr, da bei e<strong>in</strong>igen Computer-<br />

Schriftversionen alle r<strong>roma</strong>ni Buchstaben vertreten s<strong>in</strong>d (am<br />

weitesten verbreitet ist Arial Unicode und es ist sehr e<strong>in</strong>fach, für die<br />

verschiedenen Sonderzeichen e<strong>in</strong>en Shortcut auf der Tastatur<br />

e<strong>in</strong>zurichten). Wenn man außerdem bedenkt, dass die von 40.000<br />

Menschen gesprochene lappische (Sami) Sprache 9 eigene<br />

Tastaturen für alle neueren Microsoft-Versionen genießt, ist es<br />

dann nicht e<strong>in</strong>e auffällige Diskrim<strong>in</strong>ierung, dass die von Millionen<br />

gesprochene r<strong>roma</strong>ni Sprache noch nicht e<strong>in</strong>mal berücksichtigt<br />

wird? Wir müssen uns also dafür engagieren, dass alle r<strong>roma</strong>ni<br />

Buchstaben auf allen europäischen Tastaturen leicht e<strong>in</strong>zurichten<br />

s<strong>in</strong>d (dies ist tatsächlich <strong>in</strong> Arbeit).<br />

Schlussfolgerung Nr. 4: Global denken und lokal handeln gilt auch<br />

im Falle der r<strong>roma</strong>ni Sprache. Sagt e<strong>in</strong>e Dorflehrer<strong>in</strong>: “Warum soll<br />

ich für me<strong>in</strong>e Schüler <strong>in</strong> diesem entlegenen Bergdorf die<br />

125


Marcel COURTHIADE<br />

europäische Schreibweise benutzen?”, bedeutet das nicht, dass die<br />

r<strong>roma</strong>ni Rechtschreibung schwierig ist sondern nur, dass diese<br />

Lehrer<strong>in</strong> weder die europäische Dimension der r<strong>roma</strong>ni Sprache,<br />

Kultur und Nation verstanden hat noch wieviel ihre Schüler dadurch<br />

verlieren, dass <strong>in</strong> der geschriebenen Sprache die lokale<br />

Aussprache zugrunde gelegt wird, so wie sie <strong>in</strong> lokalen nichtr<strong>roma</strong>ni<br />

Schreibweisen wahrgenommen wird.<br />

126<br />

5. Gegenwärtige Probleme und Anliegen<br />

Es geht praktisch um folgende zentrale Probleme:<br />

a. Der Mangel an Engagement und Geld für die Veröffentlichung<br />

und Verteilung von möglichst viel Material <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

Schreibweise und <strong>in</strong> der ursprünglichen dialektalen Variante<br />

(entsprechend editiert wie bei allen anderen Sprachen, um<br />

Verständnisschwierigkeiten zu vermeiden), aber auch auf anderen<br />

Trägern wie Filmen, Bändern, elektronischen Spielen etc. .<br />

b. Der Mangel an Motivation, Bewusstse<strong>in</strong> und manchmal auch<br />

Lernwillen auf Seiten e<strong>in</strong>iger R<strong>roma</strong>, die nur zögerlich e<strong>in</strong> oder zwei<br />

Stunden Unterricht <strong>in</strong>vestieren würden, um die geme<strong>in</strong>same<br />

Rechtschreibung zu lernen, und danach vielleicht e<strong>in</strong>ige freie Zeit<br />

darauf verwenden, sich die <strong>in</strong> ihrer Geme<strong>in</strong>schaft verschütteten,<br />

aber <strong>in</strong> anderen Teilen Europas noch benutzten genu<strong>in</strong>en Begriffe<br />

der r<strong>roma</strong>ni Sprache anzueignen.<br />

c. Der Mangel an Bewusstse<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>igen r<strong>roma</strong>ni Übersetzern,<br />

die sich mit äußerst fragwürdigen Übersetzungen zufrieden geben<br />

und dafür noch bezahlt werden (das gilt leider für viele politische<br />

Dokumente des Europarates 19 oder sogar für literarische Werke wie<br />

der ersten r<strong>roma</strong>ni Übersetzung des “Kle<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zen”). Solche<br />

Veröffentlichungen entmutigen potenzielle Leser, verschwenden die<br />

für R<strong>roma</strong>-Projekte verfügbaren knappen Geldmittel und<br />

untergraben die begründete Affirmation der r<strong>roma</strong>ni Sprache als<br />

e<strong>in</strong>er modernen europäischen Sprache.<br />

19 Ich machte e<strong>in</strong>em von ihnen gegenüber e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Bemerkung dazu und er<br />

antwortete zynisch: „Was soll´s, R<strong>roma</strong> lesen nicht und Ga es verstehen es nicht.“...


ROMA IN EUROPA<br />

d. Der Mangel an Aufklärung und Motivation bei Mitmenschen, die<br />

die r<strong>roma</strong>ni Sprache immer noch ignorieren - so wie sie das<br />

Volk der R<strong>roma</strong>, den Genozid an den R<strong>roma</strong>, den Beitrag der<br />

R<strong>roma</strong> zur Zivilisation der Menschheit, den Anteil der R<strong>roma</strong> an<br />

der Geschichte usw. ignorieren.<br />

e. E<strong>in</strong>e grassierende Verachtung der <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten<br />

der R<strong>roma</strong> (s. oben).<br />

f. Nicht zuletzt kann man e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Haltung der Obstruktion<br />

bei e<strong>in</strong>igen Nicht-R<strong>roma</strong> beobachten, e<strong>in</strong>e Art Angst davor, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em bisher verachteten Volk, das <strong>in</strong> großer Zahl <strong>in</strong>mitten Europas<br />

lebt, etwas anderes zu sehen als “Geme<strong>in</strong>schaften der R<strong>roma</strong>” 20<br />

(früher “Stämme”) und sie stattdessen als “e<strong>in</strong>e Nation der R<strong>roma</strong>”<br />

<strong>in</strong> sehr vielfältiger Gestalt zu verstehen – sowie deren Sprache nicht<br />

als “Anhäufungen von Dialekten”, sondern als “e<strong>in</strong>e r<strong>roma</strong>ni<br />

Sprache” mit ebenso großem Reichtum an kulturellen<br />

Ausdrucksmöglichkeiten. Es sche<strong>in</strong>t, als ob sie Angst vor e<strong>in</strong>er<br />

Schwächung ihrer eigenen nationalen, auf e<strong>in</strong>em Staatsgebiet<br />

basierenden Identität haben, wenn sie die E<strong>in</strong>heit von Sprache und<br />

Identität e<strong>in</strong>em Volk zuerkennen, das zahlenmäßig groß, aber nicht<br />

an e<strong>in</strong> Staatsgebiet gebunden ist. Mit anderen Worten: Es wird<br />

ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn nationale<br />

E<strong>in</strong>heit über politische Grenzen und kulturelle Unterschiede h<strong>in</strong>weg<br />

e<strong>in</strong>em Volk zugestanden wird, dessen Besonderheit auf se<strong>in</strong>em<br />

20 E<strong>in</strong> häufig angeführtes Argument dafür besteht <strong>in</strong> der Vielfalt der Kultur der R<strong>roma</strong>.<br />

H<strong>in</strong>ter dieser sche<strong>in</strong>baren Achtung der Vielfalt verbergen sich zwei Ungenauigkeiten:<br />

1. Zusammenfassen (amalgamation) – e<strong>in</strong>ige nicht-R<strong>roma</strong>-Gruppen werden von<br />

un<strong>in</strong>formierten Außenstehenden als R<strong>roma</strong> gesehen, nur weil sie mit denen e<strong>in</strong>ige<br />

soziale Eigenschaften wie Armut und Marg<strong>in</strong>alisierung geme<strong>in</strong>sam haben (e<strong>in</strong>e<br />

solche Haltung der Negation, d.h. die Leugnung e<strong>in</strong>er positiven nationalen Identität<br />

und deren Ersatz durch e<strong>in</strong>e negative soziale E<strong>in</strong>schätzung, hat e<strong>in</strong>e lange<br />

Leidensgeschichte, selbst wenn sie gegenwärtig unter dem karitativen Mäntelchen<br />

versteckt wird) und 2. Aufspalten (carv<strong>in</strong>g up) – e<strong>in</strong>ige Menschen berufen sich auf die<br />

kulturelle Vielfalt der R<strong>roma</strong>, um ihnen die Eigenschaft als eigene Nation<br />

abzusprechen. E<strong>in</strong>e solche Haltung ist gerade heutzutage unhaltbar, wo altmodische<br />

Träume von nationaler Uniformität der Vergangenheit angehören. Es sollte<br />

h<strong>in</strong>zugefügt werden, dass sowohl die Amalgamation wie die Identitätsspaltung <strong>in</strong> der<br />

Kolonialzeit ausgiebig gegen unterdrückte Völker e<strong>in</strong>gesetzt wurden und dass die<br />

Kolonialherren ihre Macht u. a. daraus gewannen, dass sie das unterdrückte Volk<br />

oder zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Führer von der Richtigkeit dieser Sicht überzeugten –<br />

manchmal aus fehlendem Bewusstse<strong>in</strong> und häufig aus direktem Eigen<strong>in</strong>teresse.<br />

127


Marcel COURTHIADE<br />

traditionellen Gefühl des Andersse<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Sprache<br />

(sei es <strong>in</strong> der tatsächlichen Praxis oder <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung als<br />

Symbol der Vergangenheit) und e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen historischen<br />

Schicksal beruht – und das ohne irgende<strong>in</strong> fassbares Staatsgebiet.<br />

Es ruft die Bemerkung e<strong>in</strong>es der großen Sanskritisten, Jules Bloch,<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, der feststellte: “Trotz der Zerstreuung ihrer Gruppen<br />

und ihrer fehlenden E<strong>in</strong>heitlichkeit betrachten sich die R<strong>roma</strong> als e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zigartiges Volk. Dieses von allen geteilte Gefühl der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft erlaubt es uns, sie als e<strong>in</strong>e Nation zu betrachten,<br />

selbst wenn ihnen genau das fehlt, was für uns zum Symbol e<strong>in</strong>er<br />

Nation geworden ist, d. h. e<strong>in</strong>heitliche Institutionen und e<strong>in</strong> festes<br />

Staatsgebiet. Viele bleiben R<strong>roma</strong>, auch [...] jene, die die Sprache<br />

der Vorfahren nicht mehr benutzen.” (Bloch 1953:54).<br />

Des Lesens und Schreibens unkundige und marg<strong>in</strong>alisierte R<strong>roma</strong><br />

haben bisher die Sprache der R<strong>roma</strong> am Leben erhalten, aber<br />

werden <strong>in</strong>zwischen zunehmend stärker von den Mehrheitssprachen<br />

vere<strong>in</strong>nahmt. E<strong>in</strong>e Ausnahme s<strong>in</strong>d die Erben e<strong>in</strong>er lebendigen<br />

mündlichen Kultur, die sich ihre Liebe für und den Stolz auf ihre<br />

Muttersprache bewahrt haben. Entgegen der landläufigen Me<strong>in</strong>ung<br />

ist es ganz und gar nicht naturgegeben, dass man die Sprache der<br />

Vorfahren pflegt: Es bedarf e<strong>in</strong>es unerschütterlichen Bewusstse<strong>in</strong>s<br />

und Motivation, um die zur Akkulturation führende Tatenlosigkeit zu<br />

überw<strong>in</strong>den. Im heutigen Europa haben M<strong>in</strong>derheitssprachen nur<br />

e<strong>in</strong>e Überlebenschance dank des freiwilligen E<strong>in</strong>satzes der Eliten 21 .<br />

Wenn R<strong>roma</strong> die verfügbaren Lehrhilfen richtig nutzen und ihre<br />

europäische Elite entwickeln können, gäbe es die Hoffnung, dass<br />

diese Elite als Vorbild (e<strong>in</strong>e Art nationaler Mittelstand) für andere<br />

R<strong>roma</strong> fungiert und sie dazu ermutigt, die gegenwärtig von ihnen<br />

vernachlässigte Sprache auf mittlere Sicht wieder zu aktivieren.<br />

21 In beiden Bedeutungen des Wortes: Die formal gebildete Elite wird sich des Wertes<br />

ihres sprachlichen Erbes bewusst (manchmal zögert man noch e<strong>in</strong>e Generation lang,<br />

dieses Erbe anzunehmen) und kämpft für se<strong>in</strong>e Anerkennung, aber auch e<strong>in</strong>fache<br />

Menschen ohne Schulbildung, die sich Sorgen um den Erhalt ihrer Muttersprache<br />

machen, können zu e<strong>in</strong>er wirklichen Elite mit allen entsprechenden Eigenschaften<br />

werden.<br />

128


Bibliografie<br />

ROMA IN EUROPA<br />

BLOCH, J. 1953. 128 p. Les tsiganes. Coll. "Que sais-je?". PUF<br />

Verlag. Paris.<br />

COURTHIADE, M. 1985. Distance between R<strong>roma</strong>ni Dialects. In:<br />

Journal of the Gipsy Lore Society. North American Chapter. Nr 8,<br />

S.1-7. Silver Spr<strong>in</strong>g.<br />

COURTHIADE, M. 2004. The Dialect Structure of the R<strong>roma</strong>ni<br />

Language. In: Interface. Nr 31, S. 9-14, Paris (aktualisiert <strong>in</strong>:<br />

Structure dialectale de la langue r<strong>roma</strong>ni, Etudes tsiganes. Nr 22.<br />

S. 12-23. Paris, 2005).<br />

COURTHIADE, M. 2004. Politique l<strong>in</strong>guistique d'une m<strong>in</strong>orité<br />

nationale à implantation dispersée dans de nombreux États : le<br />

cas de la langue r<strong>roma</strong>ni. . In: Impérialismes l<strong>in</strong>guistiques hier<br />

et aujourd'hui. S.241-271. Inalco-Edisud-Fujiwara, Paris-Tokyo.<br />

COURTHIADE, M. 2005. La langue r<strong>roma</strong>ni, d'un millénaire à l'autre.<br />

In: Etudes tsiganes. Nr 22. S. 25-38. Paris, 2005.<br />

DUKA, J. 2001. Pratique <strong>in</strong>terdialectale en situation de diaspora : le<br />

lexique r<strong>roma</strong>ni – témoignage en synchronie. In: Faits de langues.<br />

Nr 18, S.181-190. Ophrys publisher. Gap-Paris (ursprünglicher<br />

r<strong>roma</strong>ni Text veröffentlicht <strong>in</strong>: Džaniben Nr 3-4 aus 2001, Prag unter<br />

dem Titel "Pan naja, pan phrala, pan ćhibǎ – naśti te oven<br />

jekh").<br />

COLL. R<strong>roma</strong>ne lila – Cigány levelek – R<strong>roma</strong>ni letters. 2003, 196<br />

Seiten Fővárosi Önkormányzat Cigány Ház Verlag. Budapest.<br />

COLL. Fjalor rromisht-shqip i të folmeve rrome në përdorim në<br />

Shqipëri. [R<strong>roma</strong>ni-Albanisches Wörterbuch der R<strong>roma</strong>ni parlers, <strong>in</strong><br />

Albanien verwendet] 2004, 252 Seiten. R<strong>roma</strong>ni baxt Verlag.<br />

Tirana.<br />

DJURIĆ, R. Fonološki sistem romskog jezika i njegov alfabet u svetlu<br />

etimoloških istraživanja. In: Konsultàcia vaś-i standardizàcia e<br />

ćhibǎqiri. Warschau, 1990.<br />

129


Marcel COURTHIADE<br />

ELOY, J.-M. 2004. Des langues collatérales: problèmes et<br />

propositions. In: Des langues collaterals – actes du colloque<br />

<strong>in</strong>ternational d'Amiens 21-24 nov. 2001. L'Harmattan, Paris.<br />

HALWACHS, D. & M. ZATREANU. 2004. 46 Seiten. Romani <strong>in</strong><br />

Language. Europarat Verlag. Strassburg.<br />

LANDABURU, J. 1997. Historia de la traducción de la Constitución de<br />

Colombia a siete lenguas <strong>in</strong>dígenas (1992-1994). In: Amer<strong>in</strong>dia:<br />

traducción y alteridad lngüística. Band 1. Bogota-Paris.<br />

Re<strong>in</strong>hard, M. D. 1976. Die Sprache der deutschen Zigeuner. In:<br />

Mitteilungen zur Zigeunerkunde. Beiheft Nr. 1. Mömbris.<br />

SARĂU, Gh. 2002. 56 p. R<strong>roma</strong>ni language – The Present Time <strong>in</strong><br />

the Education of National M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Romania. Bukarest.<br />

E<strong>in</strong>e umfassende und aktuelle Bibliographie von Lehrmaterial <strong>in</strong> der<br />

r<strong>roma</strong>ni Sprache ist auch <strong>in</strong> "El idioma r<strong>roma</strong>nó y su cultura". Paris,<br />

L'Harmattan – 2006 zur Veröffentlichung vorgesehen, enthalten.<br />

Weitere Informationen unter www.<strong>in</strong>alco.fr.<br />

130


Andrzej Mirga<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Roma und der Beitritt zur EU:<br />

Gewählte und ernannte Vertreter der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

erweiterten Europa<br />

Bericht über das Projekt für ethnische Beziehungen (PER),<br />

Pr<strong>in</strong>ceton 2005<br />

E<strong>in</strong>leitung 1<br />

1 Am 9. und 10. Dezember 2003 veranstalteten die Europäische Kommission und das<br />

Projekt für ethnische Beziehungen (PER) e<strong>in</strong> zweitägiges Sem<strong>in</strong>ar zur Rolle der<br />

Roma-Führung <strong>in</strong> den neuen Beitrittsländern der Europäischen Union. An den<br />

Beratungen nahmen Beamte der Europäischen Kommission und Mitglieder des<br />

Europäischen Parlaments sowie gewählte und ernannte Vertreter der Roma aus der<br />

Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakei (die am 1. Mai 2004<br />

Mitglieder der EU wurden) und aus den Kandidatenländern Bulgarien und Rumänien<br />

teil. Mit dem vom Projekt für ethnische Beziehungen zusammen mit der Europäischen<br />

Kommission veranstalteten Treffen <strong>in</strong> Brüssel bot sich den Vertretern der Roma das<br />

zweite Mal die Gelegenheit e<strong>in</strong>er Anhörung am Sitz der Europäischen Union. Beim<br />

ersten von PER veranstalteten Treffen <strong>in</strong> Brüssel im Juli 1999 trafen<br />

Regierungsvertreter und führende Roma mit der Europäischen Kommission<br />

zusammen, um über die Gestaltung und Umsetzung der Regierungsstrategien bzgl.<br />

der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> den beitrittswilligen Ländern zu diskutieren und zu<br />

debattieren. Damals stand die Notwendigkeit von Partnerschaften zwischen<br />

Regierungen und Roma bei der Entwicklung ihrer Strategien im Mittelpunkt. Das<br />

aktuelle Treffen fand zu e<strong>in</strong>em für Europas Roma-Bevölkerung historischen Zeitpunkt<br />

statt, nämlich am Vorabend der ersten EU-Erweiterungsrunde von 15 auf 25<br />

Mitgliedsländer. Die Tatsache, dass dabei zum ersten Mal Romani als offizielle<br />

Sprache am Sitz der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments<br />

e<strong>in</strong>gesetzt wurde, war e<strong>in</strong> symbolträchtiges Zeichen des Wandels.<br />

Diese Veranstaltung sollte zum direkten Dialog zwischen gewählten und ernannten<br />

Funktionären der Roma aus den Kandidatenländern e<strong>in</strong>erseits und der Europäischen<br />

Kommission und dem Europäischen Parlament andererseits e<strong>in</strong>laden. Für die<br />

europäischen Beamten bot sich damit e<strong>in</strong>e wichtige Gelegenheit, von Roma-<br />

Vertretern <strong>in</strong> Politik gestaltenden Funktionen direkt zu hören, wie sie politische<br />

Maßnahmen bewerten, und gleichzeitig deren E<strong>in</strong>fluss abzuwägen. Den Vertretern<br />

der Roma bot sich die Gelegenheit, e<strong>in</strong> Bild über die aktuelle Politik der EU und ihre<br />

zukünftige Haltung bzgl. der Roma-Thematik zu erhalten. Der Runde Tisch am ersten<br />

Tag mit der Kommission bestand aus Vorträgen und Erklärungen der <strong>roma</strong>ni<br />

Vertreter. Die Kommissionsvertreter <strong>in</strong>formierten die versammelten Roma über die<br />

aktuelle und zukünftige Politik der EU und über Instrumente, die den Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheiten helfen könnten. Romani Teilnehmer befragten die Beamten der<br />

Kommission auch zu e<strong>in</strong>er Reihe spezifischer Themen. Nach dem Runden Tisch<br />

trafen sich Delegationen der Roma mit Beamten der Kommission <strong>in</strong> deren Büros zu<br />

E<strong>in</strong>zelgesprächen. Am zweiten Tag des Treffens, das am Sitz des Europäischen<br />

Parlaments stattfand, stellten die Parlamentsmitglieder Fragen an die Vertreter der<br />

Roma; es folgte e<strong>in</strong>e lebhafte Diskussion.<br />

131


Andrzej Mirga<br />

Obwohl seit der Erweiterung im März 2004 e<strong>in</strong>ige Länder mit<br />

großen Roma-M<strong>in</strong>derheiten zur Europäischen Union gehören,<br />

bewahrheiteten sich die von den Medien e<strong>in</strong>iger EU-Länder<br />

geäußerten Befürchtungen nicht: Es gab ke<strong>in</strong>en Ansturm „der<br />

erbärmlich armen Roma-M<strong>in</strong>derheiten aus neuen Mitgliedsländern<br />

wie der Slowakei, Ungarn und der Tschechischen Republik“, die<br />

sich auf die besser gestellten Staaten der Union stürzten. 2<br />

Trotzdem stellen die Fragen der Roma sowohl die Regierungen wie<br />

führende Roma <strong>in</strong> den neuen Mitgliedsländern vor neue<br />

Herausforderungen. Dabei können die Erfahrungen der alten<br />

Mitgliedsländer, wie sie Probleme der Roma zu lösen versuchten,<br />

nicht als Beispiel dienen. 3 Tatsächlich hat die neue Diskussion über<br />

die Roma Mittel- und Ost<strong>europa</strong>s e<strong>in</strong>ige EU-Länder wie Spanien,<br />

Griechenland, Deutschland und Schweden veranlasst, ihre Politik <strong>in</strong><br />

dieser Frage noch e<strong>in</strong>mal zu überprüfen.<br />

Wird die Erweiterung Veränderungen für die Roma bedeuten? Wird<br />

sie deren Lebensbed<strong>in</strong>gungen verbessern und ihnen<br />

Chancengleichheit <strong>in</strong> Bildung und Beschäftigung br<strong>in</strong>gen? Wird sie<br />

zu weniger Ausgrenzung und Diskrim<strong>in</strong>ierung führen?<br />

Sowohl den Regierungen wie führenden Vertretern der Roma ist<br />

klar, dass ke<strong>in</strong>e schnellen Fortschritte zu erwarten s<strong>in</strong>d. Aber die<br />

Erweiterung hat durchaus neue Hoffnungen darauf geweckt, dass<br />

sich die Probleme der Roma nun auf andere Art und Weise und mit<br />

bisher nicht verfügbaren F<strong>in</strong>anzmitteln lösen lassen. Soziale<br />

Unruhen <strong>in</strong> der <strong>roma</strong>ni „mahala“ (Stadtbezirk) von Plovdiv/Bulgarien<br />

im Jahr 2002 und die Ausschreitungen <strong>in</strong> der östlichen Slowakei im<br />

Februar 2004 s<strong>in</strong>d erste Warnzeichen, was passieren könnte, wenn<br />

ke<strong>in</strong>e Entscheidungen und Taten folgen. 4<br />

Dieser Artikel wurde auszugsweise mit entsprechender Genehmigung dem Bericht<br />

des PER „Roma and EU Accession: Elected and Appo<strong>in</strong>ted Romani Representatives<br />

<strong>in</strong> an Enlarged Europe“ entnommen, Pr<strong>in</strong>ceton 2004 (Im Internet nachzulesen unter:<br />

http://www.per-usa.org/Per%20Brussels%20Report.pdf)<br />

2 „Those Roam<strong>in</strong>´ Roma“, The Economist, 7. Februar 2004.<br />

3 Monitor<strong>in</strong>g the EU Accession Process: M<strong>in</strong>ority Protection, Open Society Institute,<br />

EU Monitor<strong>in</strong>g Program, Budapest (2002). S. Kapitel zur „Lage der Roma <strong>in</strong><br />

Deutschland“ und zur „Lage der Roma <strong>in</strong> Spanien“. Der Volltext des Berichts ist unter<br />

http://www.eumap.org/reports/2002 verfügbar.<br />

4 Andrzej Mirga und Nicolae Gheorghe warnten 1997 vor e<strong>in</strong>er solchen Gefahr. S. The<br />

Roma <strong>in</strong> the Twenty-First Century. A Policy Paper. PER-Report, Pr<strong>in</strong>ceton, 1997. S.<br />

35.<br />

132


ROMA IN EUROPA<br />

Geme<strong>in</strong>schaften der Roma s<strong>in</strong>d dabei, sich zu organisieren und<br />

zivilgesellschaftliche und politische Organisationen aufzubauen.<br />

Führende Vertreter der Roma fordern Mitsprache am öffentlichen<br />

und politischen Leben ihrer Länder. Sie streben nach Ämtern <strong>in</strong><br />

gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung. Sie drängen<br />

auf e<strong>in</strong>e koord<strong>in</strong>ierte Politik gegenüber den Roma auf Ebene der<br />

EU. Diese Entwicklungen fordern sowohl die EU wie auch die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedsländer heraus.<br />

In der Phase vor dem Beitritt war die EU-Politik darauf ausgerichtet,<br />

die Regierungen der Beitrittskandidaten zur Ausarbeitung von<br />

Politiken und Programmen für ihre Roma-M<strong>in</strong>derheiten zu drängen.<br />

Gleichzeitig stellte die EU F<strong>in</strong>anzhilfen für die Umsetzung dieser<br />

Programme zur Verfügung und ermunterte zum Aufbau e<strong>in</strong>er<br />

<strong>roma</strong>ni Zivilgesellschaft. Mit dem Beitritt ändert sich vieles an der<br />

EU-Politik. E<strong>in</strong>ige Instrumente - z. B. die Förderung im Rahmen von<br />

PHARE - stehen nach e<strong>in</strong>em Beitritt nicht mehr zur Verfügung. Die<br />

Europäische Kommission hat auch weniger E<strong>in</strong>fluss über schon<br />

beigetretene Länder. Sicherlich ergeben sich neue Mittel und Wege<br />

und andere Möglichkeiten f<strong>in</strong>anzieller Förderung, aber die Roma<br />

werden lernen müssen, sich diese als neue Bürger der EU zunutze<br />

zu machen.<br />

Mit den neu entstehenden politischen Organisationen der Roma<br />

strebt e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, aber wachsende Schar ihrer Politiker - Mitglieder<br />

nationaler Parlamente und Regierungsorgane - nach e<strong>in</strong>er größeren<br />

Rolle bei der Formulierung und Umsetzung politischer Maßnahmen<br />

zugunsten der Roma-M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> ihren Ländern und <strong>in</strong> der EU.<br />

Die gewählten und ernannten Vertreter der Roma kamen nach<br />

Brüssel, um sich Informationen aus erster Hand über die zukünftige<br />

EU-Politik für ihre Geme<strong>in</strong>schaften zu beschaffen. Sie forderten die<br />

EU zur Fortsetzung ihrer Unterstützung und weiterem Druck auf<br />

ihre Regierungen auf, damit diese Veränderungen e<strong>in</strong>leiten. Sie<br />

wollten die Partnerschaften zwischen den Institutionen der EU <strong>in</strong><br />

Brüssel und den Organisationen der Roma - <strong>in</strong>sbesondere den<br />

politischen - konsolidieren. Sie schlugen vor, f<strong>in</strong>anzielle und<br />

politische Mittel zugunsten der Roma zu erhöhen und empfahlen<br />

e<strong>in</strong>e Verlagerung vom ausgaben- zum ergebnisorientierten<br />

Monitor<strong>in</strong>g von diesem Zeitpunkt an. Noch wichtiger war aber, dass<br />

sie <strong>in</strong> Brüssel e<strong>in</strong>e Perspektive vertraten, bei der die nationale<br />

Politik jedes E<strong>in</strong>zelstaates im Mittelpunkt der Bemühungen um die<br />

Förderung und den Schutz der Roma-M<strong>in</strong>derheiten stand. Sie<br />

betonten, dass <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Ländern mit großen Roma-<br />

133


Andrzej Mirga<br />

Geme<strong>in</strong>schaften nationale Lösungen gefunden und dass Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheiten Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream werden müssten.<br />

1. H<strong>in</strong>tergrund<br />

EU-Förderung für Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />

Während des Prozesses zur Vorbereitung des Beitritts übten die EU<br />

und ihre Brüsseler Institutionen Druck auf Regierungen aus, damit<br />

diese politische Maßnahmen zur Verbesserung der schrecklichen<br />

Lage der Roma und zu deren besseren Integration <strong>in</strong> die<br />

Gesellschaft ergriffen. Die Beitrittsländer unternahmen<br />

entsprechende Anstrengungen, um den Anforderungen und<br />

Empfehlungen der Kopenhagener Politischen Kriterien (1993), der<br />

Agenda 2000 (1997), den regelmäßigen Fortschrittsberichten der<br />

Kommission im Vorlauf des Beitrittsprozesses (seit 1998<br />

herausgegeben und danach jedes Jahr aktualisiert) und den vom<br />

Europäischen Rat auf se<strong>in</strong>er Sitzung <strong>in</strong> Tampere 1999<br />

angenommenen COCEN-Richtl<strong>in</strong>ien zur Verbesserung der<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen der Roma Rechnung zu tragen.<br />

In den Dokumenten der Europäischen Kommission zur<br />

Beitrittspartnerschaft mit Bulgarien, der Tschechischen Republik,<br />

Ungarn und Rumänien von 1998 wurde der weiteren Integration der<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten mittelfristig politische Priorität e<strong>in</strong>geräumt,<br />

während die Slowakei ermutigt wurde, politische Maßnahmen und<br />

Institutionen zum Schutz der M<strong>in</strong>derheitenrechte zu fördern und zu<br />

stärken. Die aktualisierten Dokumente über Beitrittspartnerschaften<br />

von 2001 gaben der Umsetzung nationaler Aktionspläne oder<br />

Rahmenprogramme zugunsten der Roma politische Priorität <strong>in</strong><br />

Bulgarien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Rumänien und der<br />

Slowakei.<br />

Im Erweiterungsstrategiepapier von 2001, <strong>in</strong> dem die Fortschritte<br />

der Beitrittsländer bewertet wurden, kam die Kommission zu<br />

folgendem Schluss:<br />

134<br />

Aus allen Ländern mit größeren Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />

liegen <strong>in</strong>zwischen nationale Aktionspläne vor, um die weit<br />

verbreitete Diskrim<strong>in</strong>ierung zu bekämpfen und die noch<br />

immer extrem schwierigen Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu<br />

verbessern. In den meisten Fällen geht es mit der<br />

Umsetzung dieser Aktionspläne voran und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Ländern wurden die entsprechend höheren Mittel im


ROMA IN EUROPA<br />

Staatshaushalt e<strong>in</strong>gestellt. PHARE-Förderung steht<br />

weiterh<strong>in</strong> zur Unterstützung dieser Maßnahmen zur<br />

Verfügung. Es bedarf weiterer Anstrengungen, um sicher<br />

zu stellen, dass die unterschiedlichen Programme <strong>in</strong> enger<br />

Abstimmung mit Vertretern der Roma kont<strong>in</strong>uierlich<br />

umgesetzt werden und dass <strong>in</strong> allen Ländern dafür<br />

ausreichende Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. 5<br />

In den Umfassenden Länderberichten der Kommission von 2003<br />

zur Überprüfung der Lage <strong>in</strong> den Beitrittsländern – den letzten<br />

Berichten vor dem Beitritt e<strong>in</strong>iger dieser Länder zur EU – wird<br />

festgestellt, dass die Länder zwar im Wesentlichen den aus den<br />

Beitrittsverhandlungen resultierenden Verpflichtungen und<br />

Anforderungen nachgekommen seien, die Kommission aber<br />

nachdrücklich betone, dass erhebliche Anstrengungen zur<br />

Verbesserung der Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der Tschechischen<br />

Republik, Ungarn und der Slowakei erforderlich seien. Im E<strong>in</strong>zelnen<br />

betont der Bericht über die Slowakei, dass „die Lücke zwischen gut<br />

formulierter Politik und ihrer Umsetzung vor Ort nicht wesentlich<br />

ger<strong>in</strong>ger geworden ist. Es s<strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong> erhebliche<br />

Mehranstrengungen erforderlich, um die Lage zu korrigieren.“ 6 Der<br />

Bericht zur Situation <strong>in</strong> der Tschechischen Republik unterstreicht,<br />

dass „vielfältige Diskrim<strong>in</strong>ierung und soziale Ausgrenzung, denen<br />

die Roma ausgesetzt s<strong>in</strong>d, weiterh<strong>in</strong> Besorgnis erregen“ <strong>in</strong><br />

Bereichen wie E<strong>in</strong>stellungspraktiken, Bildung (Roma-K<strong>in</strong>der werden<br />

<strong>in</strong> Sonderschulen e<strong>in</strong>gewiesen) und im Wohnungswesen. 7 Für<br />

Ungarn kommt der Bericht zu dem Schluss, dass „die Mehrheit der<br />

Menschen, die zur Geme<strong>in</strong>schaft der Roma gehören, weiterh<strong>in</strong><br />

sozialen Ungleichheiten, sozialer Ausgrenzung und weit verbreiteter<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> Bildung, Beschäftigung und beim Zugang zu<br />

öffentlichen Leistungen ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Segregation <strong>in</strong> den<br />

Schulen stellt noch immer e<strong>in</strong> ernstes Problem dar.“ 8<br />

5 Unter: http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report2001/<strong>in</strong>dex.htm. (Deutsche<br />

Zitate aus den Berichten s<strong>in</strong>d auch im Folgenden Teil der Übersetzung)<br />

6 Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Slovakia´s Preparations for Membership, S.<br />

34, unter:<br />

http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_sk_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />

7<br />

Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Czech Republic´s Preparations for<br />

Membership, S. 34-35, unter:<br />

http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_cz_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />

8<br />

Comprehensive Monitor<strong>in</strong>g Report on Hungary´s Preparations for Membership, S.<br />

36, unter:<br />

http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/cmr_hu_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />

135


Andrzej Mirga<br />

In den Regelmäßigen Berichten über die Kandidatenländer von<br />

2003 stellt die Kommission fest, dass <strong>in</strong> Bulgarien e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />

von Initiativen vonseiten der Regierung ergriffen worden seien, u. a.<br />

e<strong>in</strong> Aktionsplan zur Umsetzung des Rahmenprogramms, „aber sich<br />

die Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit kaum verbessert hat“. 9 Im Falle<br />

Rumäniens bemerkt der Bericht, dass zwar Fortschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Bereichen zu verzeichnen seien und „die Roma-Strategie weiterh<strong>in</strong><br />

umgesetzt wird, wenn auch mangels Ressourcen die Ergebnisse<br />

ziemlich mager ausfielen“. 10<br />

Die Frage der Roma <strong>in</strong> den neuen EU-Mitgliedsstaaten und den<br />

Kandidatenländern gibt also weiterh<strong>in</strong> Anlass zur Besorgnis - e<strong>in</strong>e<br />

Tatsache, die auch von anderen <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong><br />

Europa bestätigt wird. 11<br />

In der Vorbereitungsphase gab es f<strong>in</strong>anzielle Förderung für die<br />

Beitrittskandidaten durch das Phare-Programm der EU. Es wurde<br />

1989 aufgelegt und stellte Haushaltsmittel von <strong>in</strong>sgesamt 4,2 Mrd.<br />

Euro für 1990-1994 und e<strong>in</strong>e Erhöhung auf fast 6,7 Mrd. Euro für<br />

1995-1999 zur Verfügung. Jedes der Beitrittsländer erhielt<br />

sogenannte „nationale Allokationen“ im Rahmen des Phare-<br />

Programm, wobei die Behörden aufgefordert wurden, Mittel für die<br />

Roma-Geme<strong>in</strong>schaften vorzusehen und über die<br />

zivilgesellschaftlichen Entwicklungsstiftungen weiterzugeben, die <strong>in</strong><br />

Bulgarien, der Tschechischen Republik, Ungarn, Rumänien und der<br />

Slowakei zu diesem Zweck gegründet worden waren. Seit 1998<br />

haben die nationalen Phare-Programme entsprechend den <strong>in</strong> den<br />

Beitrittspartnerschaften festgelegten Prioritäten e<strong>in</strong>en Teil der Mittel<br />

zur F<strong>in</strong>anzierung von Projekten für die Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />

aufgewendet. Insgesamt belief sich der Betrag, der 1999 für<br />

Förderprogramme zugunsten der Roma aufgewendet wurde, auf<br />

11,7 Mio. Euro. In den Folgejahren stieg dieser Betrag auf 13,65<br />

Mio. Euro im Jahr 2000 und 31,35 Mio. 2001. Abgesehen von den<br />

nationalen PHARE-Fördermitteln standen den Roma-<br />

Geme<strong>in</strong>schaften auch andere EU-F<strong>in</strong>anzierungsprogramme offen,<br />

so z. B. das Lien-Programm, das ACCESS-Programm, die<br />

Europäische Initiative für Demokratie und Menschenrechte der GD<br />

9 2003 Regular Report on Bulgaria´s Progress Towards Accession, S. 25-26, unter:<br />

http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/rr_bg_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />

10 2003 Regular Report on Romania´s Progress Towards Accession, S. 30-32, unter:<br />

http://www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/report_2003/pdf/rr_ro_f<strong>in</strong>al.pdf.<br />

11 S. dazu die jüngsten Länderberichte, die von der Europäischen Kommission gegen<br />

Rassismus und Intoleranz (ECRI) herausgegeben wurden oder die Länderberichte<br />

und Gutachten des Beratenden Ausschusses, die im Zusammenhang mit der<br />

Rahmenkonvention zum Schutz nationaler M<strong>in</strong>derheiten veröffentlicht wurden.<br />

136


ROMA IN EUROPA<br />

Außenbeziehungen, die GD Beschäftigung und Soziale<br />

Angelegenheiten u.a. 12<br />

Die Roma als Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream: Ausübung<br />

politischer Rechte<br />

In zahlreichen Empfehlungen e<strong>in</strong>er Reihe <strong>in</strong>ternationaler<br />

Organisationen, die sich mit Roma-Themen beschäftigen – u. a. im<br />

neuesten Aktionsplan der OSZE 13 - taucht immer wieder die<br />

Forderung nach Teilhabe (Inklusion) der Roma an<br />

Entscheidungsprozessen auf, d. h. ihrer Beteiligung am öffentlichen<br />

und politischen Leben ihrer Heimatländer. Die Beteiligung der<br />

Roma an Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen ist e<strong>in</strong><br />

außerordentlich wichtiger Schritt auf dem Weg zu ihrer Integration,<br />

damit sie sich als Teil der Gesellschaft begreifen. Partizipation und<br />

Partnerschaft s<strong>in</strong>d deshalb Schlüsselbegriffe für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>gliederung<br />

der Roma.<br />

Das Projekt für ethnische Beziehungen (PER) hat sich seit 1991 für<br />

diese wichtigen Ideen e<strong>in</strong>gesetzt, als man sich für Fragen der Roma<br />

<strong>in</strong> Mittel- und Ost<strong>europa</strong> zu engagieren begann. Man hat<br />

Regierungen und führende Roma-Vertreter ermutigt, konstruktive<br />

Partnerschaften e<strong>in</strong>zugehen, und den Roma den Weg <strong>in</strong><br />

parlamentarische und Regierungsgremien geebnet. PER war die<br />

erste Organisation, die Wahlstrategien der Roma entwickelte und<br />

auch die erste, die Bündnisse zwischen Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />

und politischen Gruppen der Roma befürwortete.<br />

In ihrem programmatischen Bericht für PER „The Roma <strong>in</strong> the<br />

Twenty-First Century“ kamen Andrzej Mirga und Nicolae Gheorghe<br />

1997 zu dem Schluss, dass sich unter den Roma e<strong>in</strong> starker Trend<br />

zur ethnischen Mobilisierung bemerkbar mache. Die Roma könnten<br />

versuchen, aus ihrer Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>e ebenso wirkungsvolle<br />

Lobby und Interessenvertretung wie andere nationale/ethnische<br />

12 Dazu mehr <strong>in</strong>: European Union support for Roma communities <strong>in</strong> Central and<br />

Eastern Europe, GD Erweiterung, Brüssel, Mai 2002, aktualisiert 2003, unter:<br />

http://<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/enlargement/docs/pdf/brochure_<strong>roma</strong>_oct2003_en.pdf.<br />

13 Der „Aktionsplan zur Verbesserung der Lage der Roma und S<strong>in</strong>ti auf dem Gebiet<br />

der OSZE“ wurde per Beschluss Nr. 566 des Ständigen Rates der OSZE am 27.<br />

November 2003 angenommen. Kapitel sechs „Förderung der Teilnahme am<br />

öffentlichen und politischen Leben“ beschäftigt sich mit dem Thema. Der Volltext ist<br />

verfügbar unter: www.osce.org/documents/odihr/2003/11/1562_en.pdf.<br />

137


Andrzej Mirga<br />

Gruppen <strong>in</strong> der heutigen Welt zu machen. Mirga und Gheorghe<br />

deuteten an, dass die Zukunft der Roma-Bevölkerung davon<br />

abhänge, wie erfolgreich sie sich zu e<strong>in</strong>er solchen Gruppe, die sich<br />

ihrer Rechte, Interessen und Macht bewusst ist, entwickle.<br />

Gleichzeitig bekräftigten sie, dass die zur Verfügung stehenden<br />

demokratischen Mittel - z. B. freie Wahlen – von den Roma genutzt<br />

werden müssten. In ihren Augen war e<strong>in</strong>e gewählte Vertretung<br />

unbed<strong>in</strong>gt erforderlich, um die Kluft zwischen selbst ernannten<br />

Roma-Führungen und der nicht aktiven Masse der Bevölkerung zu<br />

überbrücken. 14<br />

Es bleibt jedoch bis heute schwierig, e<strong>in</strong>e wirksamere<br />

Interessenvertretung zu erreichen und die Roma <strong>in</strong> erheblich<br />

größerem Umfang am öffentlichen und politischen Leben zu<br />

beteiligen. Die Me<strong>in</strong>ungen s<strong>in</strong>d geteilt <strong>in</strong> der Frage, warum die<br />

Roma noch immer <strong>in</strong> gewählten Gremien – und der Politik ganz<br />

allgeme<strong>in</strong> – unterrepräsentiert s<strong>in</strong>d. Mehrheitlich neigen Analysten<br />

und Aktivisten zu der Ansicht, dass der Zustand der Parteien des<br />

Ma<strong>in</strong>stream, der Regierungen oder sogar der Gesellschaft<br />

allgeme<strong>in</strong> dafür verantwortlich sei, dass es den Roma nicht gel<strong>in</strong>ge,<br />

e<strong>in</strong> zufrieden stellendes Maß politischer Partizipation und<br />

Vertretung zu erreichen. Gesellschaftliche Ausgrenzung,<br />

Rassismus und Diskrim<strong>in</strong>ierung oder Augenwischerei der Politik,<br />

die nur e<strong>in</strong> paar Alibi-Roma <strong>in</strong> öffentlichen Gremien platziere,<br />

werden als Gründe für dieses Unvermögen angeführt. 15<br />

Anstelle politischer Organisationen werden die aus dem Boden<br />

schießenden zivilgesellschaftlichen Gruppen häufig als Sprachrohr<br />

der Gruppen<strong>in</strong>teressen betrachtet. E<strong>in</strong>e Vielfalt unterstützender<br />

Netzwerke ersetzt echte politische Vertretung, die ihren Wählern<br />

gegenüber rechenschaftspflichtig wäre. 16<br />

14 The Roma <strong>in</strong> the Twenty-First Century: A Policy Paper, PR Report, Pr<strong>in</strong>ceton, 1997.<br />

15 S. beispielsweise hierzu Referate <strong>in</strong>: Roma Rights Quarterly Nr. 4 (2003): Political<br />

Rights, ERRC, Budapest, April 2003, unter:<br />

http://www.lists.errc.org/rr_nr4_2003/<strong>in</strong>dex.shtml; sowie Roma Political Participation <strong>in</strong><br />

Bulgaria, Romania and Slovakia von NDI unter:<br />

www.accessdemocracy.org/library/1636_cee_<strong>roma</strong>report_033103.pdf<br />

16 S. die Arbeit von Peter Vermeersch zu diesem Thema. E<strong>in</strong>e Reihe von Umfragen<br />

bezüglich des Vertrauens, das Roma <strong>in</strong> ihre Organisationen setzen, können das<br />

Thema weiter erhellen. E<strong>in</strong>e Umfrage der UNDP aus dem Jahr 2003 zeigte, dass 86<br />

% der Roma der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, dass ihre Interessen auf nationaler Ebene nicht gut<br />

vertreten seien; 75 % glauben, dass es für sie ke<strong>in</strong>e angemessene Vertretung auf<br />

lokaler Ebene gebe. 91 % der Roma können ke<strong>in</strong>e NRO ihres Vertrauens nennen und<br />

86 % ke<strong>in</strong>e <strong>roma</strong>ni Partei ihres Vertrauens. Die Zahlen unterscheiden sich von Land<br />

zu Land, aber <strong>in</strong>sgesamt schneiden Parteien der Roma besser ab als ihre NROs.<br />

Rumänien ist dabei der <strong>in</strong>teressanteste Fall: Dort ist die Differenz zwischen dem<br />

138


ROMA IN EUROPA<br />

E<strong>in</strong>ige Stimmen wurden laut, dass <strong>roma</strong>ni Basis<strong>in</strong>itiativen und<br />

florierende Nichtregierungsorganisationen dem Entstehen<br />

politischer Organisationen der Roma im Wege gestanden und damit<br />

die politische Partizipation der Roma e<strong>in</strong>geschränkt hätten.<br />

Anstrengungen zum Aufbau starker und politisch handlungsfähiger<br />

Organisationen seien durch die Tatsache geschwächt worden, dass<br />

e<strong>in</strong> Großteil der Bildungselite <strong>in</strong> den zivilgesellschaftlichen Sektor<br />

abgewandert sei, wo man sich f<strong>in</strong>anziell besser stelle und der<br />

beträchtliche Förderung durch ausländische Geberorganisationen<br />

erhalte. 17<br />

Innerhalb der Geme<strong>in</strong>schaft der Roma herrscht weiterh<strong>in</strong><br />

Verwirrung, was Fragen der Führung und legitimierten Vertretung<br />

anbetrifft. Zwar erkennt man <strong>in</strong> wachsendem Maße, dass mehr<br />

gewählte Repräsentanten erforderlich s<strong>in</strong>d, wie man diese aber<br />

rechenschaftspflichtig machen kann gegenüber ihrer <strong>roma</strong>ni<br />

Wählerschaft, die großenteils ungebildet und manipulationsanfällig<br />

ist, bleibt e<strong>in</strong> ernstes Problem.<br />

E<strong>in</strong>e mehr symbolische Anzahl an Roma <strong>in</strong> der öffentlichen<br />

Verwaltung und e<strong>in</strong>ige wenige – ohne Zweifel zu wenige - gewählte<br />

<strong>roma</strong>ni Vertreter ist der Stand dessen, was die Roma-Bevölkerung<br />

bisher <strong>in</strong> der Ausübung politischer Rechte erreichen konnte.<br />

Vielversprechend ist dabei die Tatsache, dass auch der<br />

zivilgesellschaftliche Sektor <strong>in</strong>zwischen die Notwendigkeit zu<br />

Veränderungen erkannt hat und dass e<strong>in</strong>ige ihrer prom<strong>in</strong>enten<br />

Führungskräfte sich für e<strong>in</strong>e stärkere E<strong>in</strong>beziehung der Roma <strong>in</strong> die<br />

Parteien und die Politik des Ma<strong>in</strong>stream ausgesprochen haben. 18<br />

Vertrauen <strong>in</strong> politische Parteien der Roma und dem Vertrauen <strong>in</strong> NROs der Roma am<br />

größten; 26 % haben Vertrauen <strong>in</strong> politische Parteien der Roma gegenüber weniger<br />

als 5 %, die den NROs vertrauen.<br />

17 E. Sobotka, „The Limits of the State: Political Participation and Representation of<br />

Roma <strong>in</strong> the Czech Republic, Hungary, Poland and Slovakia“, JEMIE (Journal on<br />

Ethnopolitics and M<strong>in</strong>ority Issues <strong>in</strong> Europe), W<strong>in</strong>ter 2001/2002, auch unter www.<br />

ecmi.de.<br />

18 Rumyan Russ<strong>in</strong>ov hat dies jüngst mit se<strong>in</strong>er Aussage bestätigt: „... Die<br />

Mechanismen der Bewegung der Roma s<strong>in</strong>d ausgeschöpft und wir können ke<strong>in</strong>e<br />

Programmänderungen auf Ebene der Zivilgesellschaft mehr durchführen. ... Wir<br />

brauchen e<strong>in</strong>e breiter gefächerte E<strong>in</strong>gliederung nicht auf der Ebene der Programme,<br />

sondern auf der Ebene der Politik.“ Aus E. Sobotka, Roma <strong>in</strong> Politics <strong>in</strong> the Czech<br />

Republic, Slovakia and Poland“, Roma Rights Quarterly Nr. 4 (2003): Political Rights,<br />

ERRC, Budapest, April 2003, S. 31.<br />

139


Andrzej Mirga<br />

Parteipolitik ist e<strong>in</strong>e Frage der Zahlen und der Anteil der Roma an<br />

Macht und Positionen hängt von ihrer Stärke im politischen S<strong>in</strong>ne<br />

ab, d. h. von e<strong>in</strong>em kalkulierbaren und stabilen Wahlverhalten.<br />

Bisher gehen die Stimmen der Roma bei Wahlen nicht<br />

ausschließlich an ihre eigenen Parteien und ihre Wahlpräferenzen<br />

s<strong>in</strong>d nicht kalkulierbar. Aber was die Roma <strong>in</strong> jüngster Zeit, vor<br />

allem <strong>in</strong> den letzten nationalen und kommunalen Wahlen, erreicht<br />

haben, kann durchaus als Erfolg gewertet werden (<strong>in</strong> Ungarn,<br />

Rumänien oder <strong>in</strong> Bulgarien). 19<br />

2. Das Brüsseler Treffen<br />

EU-Unterstützung für die Roma: Auswertung und Erwartungen<br />

Alle <strong>roma</strong>ni Teilnehmer stimmten dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, dass politischer<br />

Druck der EU und f<strong>in</strong>anzielle Förderung für Regierungen und<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>e wesentliche Voraussetzung für die<br />

Verwirklichung nationaler Programme und Aktionspläne zugunsten<br />

der Roma <strong>in</strong> den Beitrittsländern darstellten. Der entsprechende<br />

Ansatz hätte dafür gesorgt, dass die Roma-Themen weiterh<strong>in</strong> Teil<br />

der Regierungsagenda wären und dass die erforderlichen<br />

Maßnahmen <strong>in</strong> partnerschaftlichem E<strong>in</strong>vernehmen mit Vertretern<br />

der Roma ausgearbeitet und beschlossen worden seien. Nach<br />

Me<strong>in</strong>ung der meisten <strong>roma</strong>ni Redner würde e<strong>in</strong>e wirksame Politik<br />

zugunsten der Roma jedoch wesentlich von der<br />

Handlungsbereitschaft der Regierung und den im Haushalt<br />

e<strong>in</strong>gestellten Mitteln abhängen, mit denen die Umsetzung<br />

beschlossener Programme und Aktionspläne sicher gestellt würde.<br />

Bei beidem sah man Probleme. E<strong>in</strong> Redner der Roma me<strong>in</strong>te dazu,<br />

dass es <strong>in</strong> der Regierung immer Menschen guten Willens gebe,<br />

aber dass es aber häufig an e<strong>in</strong>em wirklichen Engagement der<br />

Regierung selber gefehlt habe.<br />

Die <strong>roma</strong>ni Teilnehmer waren über Tempo und Ergebnis der<br />

Regierungspolitik besorgt. Sie waren der Me<strong>in</strong>ung, dass trotz<br />

steigender f<strong>in</strong>anzieller EU-Förderung an die Regierungen die <strong>in</strong><br />

ihren Ländern erreichten Fortschritte unbefriedigend seien.<br />

19 L. Plaks, „Roma Political Participation: A Story of Success or Failure?“ E<strong>in</strong>e für die<br />

Konferenz „Roma <strong>in</strong> an Enlarged European Union“ ausgearbeitete Erklärung, Brüssel,<br />

22./23. April 2004. Die <strong>in</strong> Brüssel versammelten Roma-Vertreter auf der von PER und<br />

Kommission veranstalteten Sitzung sprachen sich deutlich für weitere Anstrengungen<br />

aus, um die Zahl der <strong>roma</strong>ni Politiker <strong>in</strong> ihren Ländern <strong>in</strong> Zukunft zu erhöhen.<br />

140


ROMA IN EUROPA<br />

Besonders besorgt äußerten sie sich über das langsame Tempo bei<br />

der Implementierung von Programmen. In e<strong>in</strong>igen Ländern, wie der<br />

Slowakei und Bulgarien, seien Anstrengungen nur sehr zögerlich<br />

oder <strong>in</strong> so unzureichendem Umfang gemacht worden, dass sich die<br />

Erwartungen der Menschen auf Verbesserungen nicht erfüllt hätten.<br />

E<strong>in</strong>ige Teilnehmer äußerten sich kritisch zu der Tatsache, dass<br />

Regierungen dazu neigten, sich bei der Durchführung der<br />

Programme für die Roma sehr stark auf Hilfe von außen, vor allem<br />

der EU, zu verlassen. Sie waren gleichermaßen besorgt über die<br />

Art und Weise, wie ihre Regierungen die ursprünglich zur<br />

Förderung der Roma-M<strong>in</strong>derheiten bestimmten Geldmittel<br />

verwendet hatten. Die Abrechnungsunterlagen hätten den<br />

Vertretern der Roma ke<strong>in</strong> klares Bild darüber vermittelt, ob die Mittel<br />

dem Zweck entsprechend e<strong>in</strong>gesetzt worden seien oder ihre Ziele<br />

erreichten, und zwar sowohl was die zu unterstützenden<br />

Zielgruppen wie die Ziele der Projekte oder Programme betreffe.<br />

Die Teilnehmer forderten deshalb mehr Transparenz und<br />

Informationsaustausch mit der Regierung ebenso wie e<strong>in</strong>e<br />

Überprüfung (Monitor<strong>in</strong>g) nicht nur der Ausgaben, sondern auch der<br />

Ergebnisse.<br />

Kritik wurde auch an den zivilgesellschaftlichen<br />

Entwicklungsstiftungen und den EU-Länderdelegationen laut, denen<br />

mangelnde Transparenz bei ihren Auswahlverfahren für Projekte<br />

und bei der Vergabe von Fördermitteln vorgeworfen wurde. Die<br />

Vertreter der Roma schlugen deshalb genauere Richtl<strong>in</strong>ien der<br />

Kommission vor, die der Tatsache Rechnung tragen sollten, dass<br />

Projekte unter aktiver Beteiligung der Roma umgesetzt werden<br />

sollten, weil <strong>in</strong> vielen Fällen die <strong>roma</strong>ni Organisationen den<br />

Kürzeren zögen, wenn sie mit Nicht-Roma-Organisationen und<br />

deren hoch qualifizierten, professionellen Mitarbeitern konkurrieren<br />

müssten.<br />

Sie forderten e<strong>in</strong>e Fortsetzung der Förderpolitik der EU und des<br />

Drucks auf Regierungen. Wie e<strong>in</strong>er der versammelten Roma dazu<br />

bemerkte, bedarf es erheblicher Mehranstrengungen vonseiten aller<br />

betroffenen Akteure, um <strong>in</strong> den nächsten Jahren e<strong>in</strong>e wirkliche<br />

Verbesserung für die Roma zu erreichen. Man erwartete e<strong>in</strong>e<br />

Konsolidierung der Partnerschaften mit <strong>roma</strong>ni Organisationen, vor<br />

allem im politischen Raum. Es wurde vorgeschlagen, das<br />

Monitor<strong>in</strong>g stärker ergebnisorientiert durchzuführen. Vor allem aber<br />

sprach man sich für e<strong>in</strong>e stärkere Rolle gewählter und ernannter<br />

Roma-Vertreter <strong>in</strong> ihren Ländern aus. Nach Me<strong>in</strong>ung der<br />

Anwesenden waren die Förderpolitik der EU und ihr Druck auf die<br />

141


Andrzej Mirga<br />

Regierungen sowie Anstrengungen h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er<br />

zivilgesellschaftlichen Entwicklung der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften<br />

durchaus richtig und begrüßenswert, aber nicht ausreichend:<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten müssten Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream<br />

werden und ihre Themen als grundsätzlich politische Themen<br />

formulieren. Nur dann wären die Roma weniger abhängig von den<br />

Absichten Anderer und könnten aktiv am politischen Leben ihrer<br />

Länder teilhaben.<br />

Vertretung der Roma <strong>in</strong> gewählten Gremien<br />

Es war e<strong>in</strong> deutlicher Unterschied festzustellen zwischen den<br />

Ansätzen und Bewertungen der Roma-Vertreter, die schon e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Rolle im politischen Ma<strong>in</strong>stream spielten und jenen, für die<br />

das nicht galt. Dieser Unterschied zeigte sich klar <strong>in</strong> den<br />

Gegensätzen zwischen den Roma-Delegationen aus Ungarn und<br />

Rumänien e<strong>in</strong>erseits und denen aus Bulgarien und anderen<br />

Ländern andererseits. In der ersten Gruppe waren die Roma-<br />

Vertreter Teil des politischen Establishment und ihren politischen<br />

Partnern verbunden oder sie waren an Regierungskoalitionen<br />

beteiligt. In der zweiten Gruppe waren die Roma Angestellte aus<br />

der öffentlichen oder staatlichen Verwaltung ohne Verb<strong>in</strong>dung zu<br />

Parteien des Ma<strong>in</strong>stream oder Unterstützung durch stärkere<br />

politische Organisationen der Roma. Folglich neigte die erste<br />

Gruppe eher zu e<strong>in</strong>er positiven E<strong>in</strong>schätzung ihrer eigenen<br />

Leistungen bei der Gestaltung und Umsetzung von Politik.<br />

Gleichzeitig waren sie stärker zukunftsorientiert <strong>in</strong> dem, was sie zu<br />

erreichen hofften, und mit welchen Mitteln, sowie <strong>in</strong> ihren<br />

Erwartungen gegenüber Brüssel nach dem Beitritt. Aus der zweiten<br />

Gruppe, vor allem den Delegationen, die die Slowakei und die<br />

Tschechische Republik vertraten, kamen kritischere Stimmen. In<br />

diesen Fällen hatten die Roma ke<strong>in</strong>e vergleichbare Rolle im<br />

politischen Ma<strong>in</strong>stream erreicht und konnten nur von wenigen<br />

Erfolgen berichten.<br />

Die Parlamentsmitglieder unter den Roma betrachteten Roma-<br />

Themen als im Grunde politische Themen. Wie der <strong>roma</strong>ni<br />

Abgeordnete aus Rumänien unterstrich, könnten sich die Roma<br />

nicht e<strong>in</strong>fach auf die Rolle untätiger Beobachter zurückziehen,<br />

sondern müssten sich an der Gestaltung der Lösungen ihrer<br />

Probleme beteiligen und auch e<strong>in</strong>e gewisse Verantwortung dafür<br />

tragen. Für e<strong>in</strong>e solche aktivere Rolle sei es jedoch notwendig,<br />

dass die Roma echte Partnerschaften im Rahmen des politischen<br />

Ma<strong>in</strong>stream e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen.<br />

142


ROMA IN EUROPA<br />

Organisationen der Roma haben auf unterschiedliche Art und<br />

Weise versucht, im Parlament Fuß zu fassen und sich daran<br />

orientiert, was machbar war und den Traditionen des betreffenden<br />

Landes entsprach. In Rumänien war es den NROs der M<strong>in</strong>derheiten<br />

gestattet, sich an den Parlaments- und Kommunalwahlen zu<br />

beteiligen und so entstand die Roma-Partei (heute:<br />

Sozialdemokratische Roma-Partei) als die zentrale politische Kraft<br />

zur Vertretung der Interessen der Roma. Seit Anfang der 1990er<br />

Jahre hat sie an Wahlen auf allen Ebenen teilgenommen und jedes<br />

Mal den für die Roma reservierten Sitz im Parlament gewonnen. In<br />

anderen Ländern, <strong>in</strong> denen die NROs sich nicht an Wahlen<br />

beteiligen durften, haben die Roma andere Strategien angewendet:<br />

Entweder gründeten sie ihre eigenen – ethnischen – Parteien, wie<br />

z.B. <strong>in</strong> der Slowakei und e<strong>in</strong> Stück weit auch <strong>in</strong> Bulgarien, oder sie<br />

g<strong>in</strong>gen politische Absprachen mit Parteien des Ma<strong>in</strong>stream e<strong>in</strong>, wie<br />

z.B. <strong>in</strong> Ungarn.<br />

Diese Anstrengungen haben sich <strong>in</strong> jüngster Zeit <strong>in</strong> Ungarn,<br />

Rumänien und Bulgarien, aber nicht <strong>in</strong> der Slowakei oder der<br />

Tschechischen Republik ausgezahlt. Dabei spielten demografische<br />

Faktoren häufig die entscheidende Rolle - z. B. die Größe der<br />

Roma-Bevölkerung e<strong>in</strong>iger Länder als Wählerpotenzial für die<br />

Parteien des Ma<strong>in</strong>stream - außer <strong>in</strong> der Slowakei, obwohl dort die<br />

Roma-Bevölkerung den größten Prozentsatz an der<br />

Gesamtbevölkerung hält, verglichen mit dem Rest der Region.<br />

Strategisch g<strong>in</strong>gen die Roma-Organisationen so vor, dass sie sich<br />

starke politische Bündnispartner, hauptsächlich <strong>in</strong> der stärksten<br />

Partei, suchten. Im Gegenzug für potenzielle Wählerstimmen der<br />

Roma wird die Zusammenarbeit durch politische Absprachen oder<br />

Protokolle vor den Wahlen formalisiert. In Rumänien hat es solche<br />

Abkommen zwischen der Roma-Partei und der Partei der<br />

Sozialdemokratie (PSD) gegeben.<br />

In Ungarn haben die Roma-Organisationen Abkommen mit zwei<br />

großen Parteien geschlossen - je nach erklärter Anb<strong>in</strong>dung oder<br />

politischer Ausrichtung entweder mit den Sozialisten oder der<br />

Fidesz, e<strong>in</strong>er Partei rechts der Mitte. In Bulgarien haben sich Roma-<br />

Organisationen ebenfalls mit Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />

zusammengeschlossen.<br />

Entsprechend haben die Roma <strong>in</strong> den letzten Wahlen die folgenden<br />

Sitze <strong>in</strong> den Parlamenten gewonnen: In Ungarn errangen sie drei<br />

Sitze über die Liste der Fidesz und e<strong>in</strong>en von den Sozialisten; <strong>in</strong><br />

143


Andrzej Mirga<br />

Rumänien g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> für Roma reservierter Parlamentssitz an die<br />

Roma-Partei und e<strong>in</strong> zweiter an die PSD, nachdem der frühere<br />

Präsident der Roma-Partei übergetreten war; <strong>in</strong> Bulgarien<br />

gewannen sie zwei Sitze, e<strong>in</strong>en über die Nationale Bewegung<br />

Simeon II (der Regierungspartei) und den anderen über die<br />

Koalition für Bulgarien, e<strong>in</strong>er Partei l<strong>in</strong>ks der Mitte (jetzt <strong>in</strong> der<br />

Opposition). Parlamentsabgeordnete der Roma <strong>in</strong> Bulgarien<br />

berichteten auch von Stimmenzuwachs bei den letzten<br />

Kommunalwahlen. 20<br />

Mit Blick auf die Zukunft erklärten alle Abgeordneten der Roma,<br />

dass sie sich darum bemühen würden, mehr Roma <strong>in</strong> die<br />

nationalen Parlamente zu br<strong>in</strong>gen. Für sie erschien die Lösung<br />

e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen, für die Roma reservierten M<strong>in</strong>derheitensitzes im<br />

Parlament - wie <strong>in</strong> Rumänien - unbefriedigend, da sich dadurch die<br />

parlamentarische Vertretung e<strong>in</strong>er Gruppe, die manchmal die<br />

größte M<strong>in</strong>derheit des Landes stelle, möglicherweise beschränke.<br />

Sie sprachen sich für e<strong>in</strong>e Änderung der Wahlgesetze aus, um die<br />

für politische Parteien normalerweise geltende Fünf-Prozent-Hürde<br />

für Wahllisten der Roma-M<strong>in</strong>derheiten und deren Organisationen<br />

außer Kraft zu setzen. Damit würde die eigentlich paradoxe<br />

Situation korrigiert, dass e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner <strong>roma</strong>ni Abgeordneter mit<br />

Anspruch auf e<strong>in</strong>en Quotenplatz <strong>in</strong> den Wahlen die höchste<br />

Stimmenzahl von allen im Parlament err<strong>in</strong>gt – wie <strong>in</strong> Rumänien. Mit<br />

e<strong>in</strong>er solchen Änderung könnten vielleicht auch die Roma <strong>in</strong><br />

Ländern wie der Slowakei die ihnen bisher fehlende Vertretung im<br />

Parlament erreichen. In Ungarn werde aktuell e<strong>in</strong>e Änderung des<br />

Wahlgesetzes diskutiert, um der Verfassung Genüge zu tun, die<br />

e<strong>in</strong>e parlamentarische Vertretung von M<strong>in</strong>derheiten vorschreibe. Da<br />

die politischen Lager der L<strong>in</strong>ken und Rechten <strong>in</strong> Ungarn<br />

zahlenmäßig gleich groß seien, könnten die Stimmen der Roma<br />

ausschlaggebend für die Machtverhältnisse nach den nächsten<br />

Wahlen se<strong>in</strong> und somit hofften die ungarischen Roma auf e<strong>in</strong>e<br />

zunehmend wichtigere Rolle <strong>in</strong> der Politik des Landes.<br />

20 In Bulgarien wurden beispielsweise <strong>in</strong> den Kommunalwahlen 2003 <strong>in</strong>sgesamt 164<br />

Vertreter der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>deräte gewählt gegenüber 101 im Jahr<br />

1997. In den Kommunalwahlen 2004 <strong>in</strong> Rumänien konnten die Roma ihre Stimmen<br />

mehr als verdoppeln und erreichten 372 Sitze gegenüber 151 im Jahr 2000 und 139<br />

<strong>in</strong> 1996. Bei den Kommunalwahlen 1998 <strong>in</strong> der Slowakei stellten die Roma 6<br />

Bürgermeister und 86 Geme<strong>in</strong>deräte; 2002 wurden 158 Geme<strong>in</strong>deräte der Roma und<br />

10 Bürgermeister gewählt.<br />

144


Institutionalisierung der Roma-Politik<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Schon seit Langem betrachtet man die Institutionalisierung der<br />

Roma-Politik als Voraussetzung für e<strong>in</strong>e effektive Behandlung und<br />

Lösung der Probleme der Roma. In Ungarn wurden als Folge der<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetzgebung von 1993 e<strong>in</strong>e Reihe von Institutionen<br />

unter Beteiligung der Roma gegründet. Die <strong>in</strong>stitutionelle Basis<br />

wurde später erweitert, nachdem Regierungsstrategien entwickelt<br />

worden waren: In Ungarn und Rumänien gab es sehr viele und sehr<br />

komplexe Strukturen (<strong>in</strong>term<strong>in</strong>isterielle Kommissionen,<br />

Fachgremien, Berater, Stiftungen etc.), während das <strong>in</strong> den<br />

anderen auf der Konferenz vertretenen Ländern nicht im selben<br />

Umfang der Fall war. Forderungen nach dem Aufbau von<br />

ausschließlich mit Roma-Fragen befassten Regierungsstellen<br />

waren im Falle Rumäniens und Ungarns auch Teil der Absprachen<br />

vor den Wahlen mit den Parteien des Ma<strong>in</strong>stream. In diesen<br />

Ländern wurden dann auch irgendwann Büros für Roma-<br />

Angelegenheiten auf Regierungsebene unter der Leitung von<br />

<strong>roma</strong>ni Beamten e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Die <strong>in</strong> Brüssel versammelten Abgeordneten der Roma,<br />

<strong>in</strong>sbesondere aus Rumänien und Ungarn, berichteten, dass sie e<strong>in</strong>e<br />

zentrale Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung der Roma-Politik<br />

<strong>in</strong> ihren Ländern spielten. Der anwesende Roma-Abgeordnete aus<br />

Rumänien stellte fest, dass die Roma-Partei 1997 die<br />

Verhandlungen mit der PSD aufgenommen und 1999 e<strong>in</strong><br />

Abkommen abgeschlossen habe. Im unterzeichneten<br />

Verhandlungsprotokoll (Protocol of Understand<strong>in</strong>g) habe man die<br />

Ziele und Prioritäten der Roma festgehalten, die die PSD nach den<br />

Wahlen unterstützen und umsetzen wollte: u. a. den Aufbau e<strong>in</strong>es<br />

<strong>in</strong>stitutionellen Mechanismus zur Umsetzung der Roma-Politik;<br />

gesicherte Beteiligung der Roma an der öffentlichen Verwaltung auf<br />

verschiedenen Ebenen sowie den Entwurf e<strong>in</strong>es nationalen<br />

Programms zur Behandlung von Roma-Fragen und die Förderung<br />

und Unterstützung gesetzlicher Regelungen, die den Roma dabei<br />

helfen sollten, ihre gegenwärtige benachteiligte Position <strong>in</strong> der<br />

Gesellschaft zu überw<strong>in</strong>den.<br />

Zwei gegenwärtig im rumänischen Parlament vertretene<br />

Abgeordnete der Roma arbeiten aktiv an e<strong>in</strong>er Gesetzgebung mit,<br />

die die Lage der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong>sgesamt verbessern soll<br />

(Unterlagen mit Informationen zu den Gesetzes<strong>in</strong>itiativen der<br />

<strong>roma</strong>ni Abgeordneten im rumänischen Parlament wurden der<br />

Kommission und dem Europäischen Parlament zur Verfügung<br />

gestellt). E<strong>in</strong>e Neuauflage des Protokolls sei 2002 unterzeichnet<br />

145


Andrzej Mirga<br />

worden und habe e<strong>in</strong>e neue Institution für die Roma-M<strong>in</strong>derheit<br />

geschaffen - e<strong>in</strong> nationales Büro für die Roma unter Leitung e<strong>in</strong>es<br />

Rom sowie Bezirksbüros auf Ebene der Präfekturen. Schließlich sei<br />

2003 e<strong>in</strong> drittes Protokoll unterzeichnet worden, das e<strong>in</strong>e weitere<br />

Stärkung des <strong>in</strong>stitutionellen Rahmens für die Umsetzung der Politik<br />

vorgesehen habe, nämlich den Aufbau e<strong>in</strong>er nationalen Behörde<br />

zur Implementierung der Roma-Politik.<br />

Im Falle Ungarns s<strong>in</strong>d nach Aussage des <strong>roma</strong>ni Abgeordneten und<br />

Staatssekretärs, der die Roma-Regierungsstelle leitet, die 2002 von<br />

der Regierung e<strong>in</strong>geleiteten Änderungen von zentraler Bedeutung<br />

für die Bemühungen um e<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage der Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheit gewesen. E<strong>in</strong> mittelfristiger Aktionsplan sei <strong>in</strong> Kraft und<br />

detaillierte Maßnahmen bis 2006 festgeschrieben. Es gebe<br />

Fortschritte bei der Institutionalisierung der Roma-Politik, die er als<br />

e<strong>in</strong>en Meilenste<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Integrationspolitik bezeichnete: E<strong>in</strong><br />

staatliches Sekretariat für Roma-Angelegenheiten sei e<strong>in</strong>gerichtet<br />

worden; zahlreiche Roma-Vertreter seien <strong>in</strong> die staatliche<br />

M<strong>in</strong>isterialverwaltung berufen worden und weitere Roma arbeiteten<br />

auf der Ebene der Geme<strong>in</strong>deverwaltungen. Das Bildungs- und<br />

Wohnungswesen und Beschäftigung hätten obersten Stellenwert<br />

und erhielten getrennt ausgewiesene Haushaltsmittel. Er unterstrich<br />

gleichzeitig, dass das neue Gesetz gegen Hassreden und für<br />

Chancengleichheit, für das sich <strong>roma</strong>ni Abgeordnete e<strong>in</strong>gesetzt<br />

hätten, demnächst im Parlament zur Abstimmung anstehe und für<br />

die Roma außerordentlich wichtig sei.<br />

In Ungarn bestehen zwei verschiedene Strukturen zur<br />

Interessenvertretung der Roma: zum e<strong>in</strong>en die<br />

Parlamentsabgeordneten der Roma und <strong>in</strong> die Regierung berufene<br />

Roma-Vertreter und zum anderen das schon bestehende<br />

Selbstverwaltungssystem der Roma-M<strong>in</strong>derheit. Auf lokaler und<br />

kommunaler Ebene arbeiten annähernd e<strong>in</strong>tausend Roma-Vertreter<br />

für die M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung, wovon 800 <strong>in</strong> der eigentlichen<br />

Selbstverwaltung tätig s<strong>in</strong>d. An deren Spitze steht das nationale<br />

Selbstverwaltungsorgan der Roma. Dessen Direktor, selber<br />

Teilnehmer des Brüsseler Runden Tisches, bestätigte, dass man<br />

zwar erhebliche Fortschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bereichen zu verzeichnen<br />

habe, dass es aber weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige ungelöste Probleme im<br />

Bildungs- und Wohnungswesen und bei der Beschäftigung gebe.<br />

Es habe aber auch vielversprechende Anstrengungen gegeben,<br />

z. B. e<strong>in</strong> Stipendiatenprogramm für Roma-Studierende, für das drei<br />

Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung stünden; e<strong>in</strong><br />

„Slumsanierungsprogramm“, das nach den Planungen 460 Slums<br />

beseitigen solle; es sei außerdem vorgesehen, aus dem Nationalen<br />

146


ROMA IN EUROPA<br />

Entwicklungsprogramm erhebliche Mittel für Roma-Projekte<br />

aufzuwenden. Die Selbstverwaltungse<strong>in</strong>richtungen der Roma und<br />

das staatliche Sekretariat würden geme<strong>in</strong>sam über die Verwendung<br />

der Mittel entscheiden.<br />

Der bulgarische <strong>roma</strong>ni Abgeordnete betonte, dass die Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung<br />

unterrepräsentiert sei. Er vertrat den Standpunkt, dass sich nur<br />

wenig verbessern oder erreichen ließe ohne e<strong>in</strong>e stärkere Präsenz.<br />

Abgesehen von den zwei augenblicklich im bulgarischen Parlament<br />

vertretenen Abgeordneten gebe es bisher nur e<strong>in</strong>en weiteren<br />

<strong>roma</strong>ni Angestellten der Regierungsverwaltung - wenn auch<br />

versprochen worden sei, im kommenden Jahr weitere Roma <strong>in</strong><br />

verschiedenen M<strong>in</strong>isterien e<strong>in</strong>zustellen. Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

müssten die Roma <strong>in</strong> Bulgarien e<strong>in</strong>e wirkungsvollere Vertretung<br />

anstreben und partnerschaftliche Beziehungen auf politischer<br />

Ebene zur Regierung und ihren Institutionen pflegen. Er gab zwar<br />

ohne Weiteres zu, dass die Roma noch nicht ausreichend politisch<br />

aktiv seien, stellte aber gleichzeitig fest, dass man ihnen auch die<br />

Möglichkeit dazu e<strong>in</strong>räumen müsse, da es unter der Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong>e gebildete Elite gebe, die am öffentlichen Leben<br />

teilnehmen könne. Er sprach sich dafür aus, die Roma als<br />

konstruktiven Faktor und nicht als H<strong>in</strong>dernis auf dem Weg zur<br />

Integration Bulgariens <strong>in</strong> die EU zu sehen. In se<strong>in</strong>er<br />

Parlamentsarbeit konzentriere er sich auf soziale Themen, wie die<br />

Erhöhung der Sozialleistungen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />

unter den Roma und vor allem bessere<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Regionen mit e<strong>in</strong>er hohen<br />

Konzentration der Roma.<br />

Als Erfolg bezeichnete er den Beschluss über e<strong>in</strong>en Aktionsplan zur<br />

Umsetzung der Roma-Strategie der Regierung und die<br />

Verabschiedung von Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen im Parlament.<br />

Bezüglich des ersten Punktes verwies er jedoch darauf, dass die<br />

Haushaltsmittel zur Umsetzung des Aktionsplans nicht ausreichten.<br />

Außerdem verlangte er mehr Transparenz von der Regierung, was<br />

die Verwendung der Mittel anbetreffe. 21 Zu den Anti-<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen führte er aus, dass sie se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach wichtig für die Roma seien, aber behauptete, dass die Roma<br />

21 E<strong>in</strong>e ähnliche Me<strong>in</strong>ung wurde vom „Balkan Menschenrechtsprojekt“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Presseveröffentlichung am 16. Oktober 2003 vertreten unter dem Titel „Bulgaria: the<br />

Government worked out its Action Plan for the Roma m<strong>in</strong>ority but it raises a number of<br />

questions.“<br />

147


Andrzej Mirga<br />

darüber nicht ausreichend <strong>in</strong>formiert seien. Grundsätzlich sah er die<br />

Notwendigkeit, von Diskussionen und Plänen wegzukommen und<br />

wirklich zur Tat zu schreiten, damit sich vor Ort endlich etwas<br />

bewege. E<strong>in</strong>e bessere Kommunikation zwischen den Roma und der<br />

Regierung würde dabei hilfreich se<strong>in</strong>. Der zweite anwesende<br />

Delegierte aus Bulgarien setzte h<strong>in</strong>zu, dass man sich um die<br />

Ausarbeitung lokaler Aktionspläne bemüht habe als e<strong>in</strong>em Weg,<br />

den nationalen Aktionsplan wirkungsvoll umzusetzen.<br />

Die Sicht der <strong>roma</strong>ni Regierungsbeamten<br />

In der Slowakei und der Tschechischen Republik ist die Roma-<br />

Bevölkerung gegenwärtig nicht im Parlament vertreten. Die<br />

schwachen Institutionen, die die Aufgabe haben, sich um Roma-<br />

Themen zu kümmern, wie auch die wenigen, <strong>in</strong> der öffentlichen<br />

Verwaltung beschäftigten Roma stehen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Verhältnis zu der<br />

Größenordnung der Probleme, mit dem diese M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> beiden<br />

Ländern konfrontiert wird. Die Roma s<strong>in</strong>d weder politisch so gut<br />

organisiert noch als Interessenvertretung wirkungsvoll genug, um<br />

von den Parteien des Ma<strong>in</strong>stream ernst genommen zu werden.<br />

Das Büro des Bevollmächtigten für Roma-Angelegenheiten ist die<br />

e<strong>in</strong>zige E<strong>in</strong>richtung für die Roma, die auf Regierungsebene <strong>in</strong> der<br />

Slowakei geschaffen wurde. Es wurde beauftragt, e<strong>in</strong>e<br />

Regierungsstrategie auszuarbeiten, deren Umsetzung zu<br />

koord<strong>in</strong>ieren und mit Organisationen der Roma<br />

zusammenzuarbeiten. Der Bevollmächtigte für Roma-<br />

Angelegenheiten bestätigte, dass e<strong>in</strong>ige dieser Aufgaben<br />

<strong>in</strong>zwischen abgeschlossen seien. So sei beispielsweise e<strong>in</strong>e von<br />

se<strong>in</strong>em Büro ausgearbeitete langfristige Strategie im April 2003 von<br />

der Regierung beschlossen worden. Das Büro unterstütze<br />

gleichzeitig Roma-Organisationen und <strong>in</strong>sbesondere Bürgermeister<br />

aus der Roma-Bevölkerung. Man bemühe sich z. Z. auch um e<strong>in</strong>e<br />

Verstärkung des Büros durch Eröffnung von fünf Regionalbüros <strong>in</strong><br />

der Slowakei.<br />

Nach Ansicht des Bevollmächtigen ist e<strong>in</strong>e erfolgreiche Umsetzung<br />

der Regierungspolitik vom politischen Willen und von ausreichender<br />

F<strong>in</strong>anzierung abhängig – beides sei z. Z. e<strong>in</strong> Problem. Es wurde<br />

auch darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass es zwar viele Parteien der Roma<br />

(18) gebe, aber diese weder die Regierung richtig unter Druck<br />

setzten noch das Büro des Bevollmächtigten unterstützten. Der<br />

Bevollmächtigte, der aus den Reihen der NROs stammt und<br />

ke<strong>in</strong>erlei politische B<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>e der Parteien des Ma<strong>in</strong>stream<br />

148


ROMA IN EUROPA<br />

hat, könne sich nicht auf die Unterstützung der Roma-Parteien<br />

verlassen. Unterstützung von außen und Druck von E<strong>in</strong>richtungen<br />

der EU hätten sich jedoch als hilfreich für die Arbeit erwiesen.<br />

Kritisch äußerte sich auch e<strong>in</strong> anderer Roma-Teilnehmer aus der<br />

Slowakei, der im Bildungsm<strong>in</strong>isterium arbeitet. Es seien wenige<br />

Fortschritte bei der Schulerziehung von Roma-K<strong>in</strong>dern zu<br />

verzeichnen. 2001 habe das slowakische Bildungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong><br />

Förderprogramm für die Bildung von Roma-K<strong>in</strong>dern als Teil se<strong>in</strong>es<br />

langfristigen nationalen Programms beschlossen. Die Regierung<br />

habe e<strong>in</strong>ige bestehende Gesetze geändert und verschiedene<br />

Verordnungen und Entschließungen verabschiedet, damit e<strong>in</strong>e<br />

„Null-Ebene“ -e<strong>in</strong>e Art Vorschulprogramm <strong>in</strong> den Grundschulen -<br />

sowie die Funktion e<strong>in</strong>es Lehrassistenten e<strong>in</strong>geführt werden<br />

konnten. Es sei das Ziel beider Initiativen gewesen, „e<strong>in</strong> positives<br />

Lernumfeld für K<strong>in</strong>der und Jugendliche aus benachteiligten sozialen<br />

und kulturellen Schichten zu schaffen“ – hauptsächlich K<strong>in</strong>der der<br />

Roma. 22 Das Bildungsm<strong>in</strong>isterium habe auch Unterricht <strong>in</strong> der<br />

<strong>roma</strong>ni Sprache und Literatur <strong>in</strong> den Lehrplan für die erste bis<br />

neunte Klasse der Hauptschule aufgenommen. Dies sei seit<br />

September 2003 <strong>in</strong> Kraft. Verschiedene Projekte zur<br />

Schulerziehung der Roma-K<strong>in</strong>der seien verwirklicht oder auf den<br />

Weg gebracht worden, die entweder im Rahmen von PHARE<br />

f<strong>in</strong>anziert oder von anderen ausländischen Gebern gefördert<br />

worden seien.<br />

Es gebe aber weiterh<strong>in</strong> Probleme: u. a. die faktische Segregation<br />

der Roma und ihrer Schulen <strong>in</strong> Gegenden mit starker Konzentration<br />

der Roma-Bevölkerung; qualitativ schlechte Infrastruktur mit nicht<br />

ausreichendem Platz und Kapazitäten <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>dergärten und<br />

Grundschulen; das ungelöste Thema der E<strong>in</strong>weisung von Roma-<br />

K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> Sonderschulen für geistig Beh<strong>in</strong>derte; die E<strong>in</strong>stellung der<br />

<strong>roma</strong>ni Eltern zum Sonderunterricht; fehlendes Interesse der Lehrer<br />

an der Arbeit <strong>in</strong> getrennten Schulen der Roma sowie die Tendenz,<br />

K<strong>in</strong>der der Nicht-Roma Bevölkerung aus den K<strong>in</strong>dergärten und<br />

Grundschulen zu nehmen, sobald dort e<strong>in</strong>e wachsende Zahl von<br />

Roma-Schülern unterrichtet würden. Nach Me<strong>in</strong>ung des Vertreters<br />

des slowakischen Bildungsm<strong>in</strong>isteriums klaffen Politik und<br />

Umsetzung, verbale Unterstützung und Praxis ause<strong>in</strong>ander. Um<br />

diesbezügliche Probleme der Roma-M<strong>in</strong>derheit zu lösen, müsse die<br />

Regierung se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die Pr<strong>in</strong>zipien positiver<br />

22 Jan Hero, „Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g and Education of Roma Children and Students <strong>in</strong> Slovakia“,<br />

e<strong>in</strong>e schriftliche Erklärung, ausgearbeitet für das Brüsseler Treffen.<br />

149


Andrzej Mirga<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung, sozialer E<strong>in</strong>gliederung und multikultureller<br />

Erziehung verfolgen.<br />

Für die Teilnehmer aus der Tschechischen Republik waren<br />

Regional- und Selbstverwaltungspolitik zugunsten der Roma,<br />

Beschäftigung und Wohnungswesen Themen von herausragender<br />

Bedeutung. Nach der Dezentralisierungsreform und der E<strong>in</strong>richtung<br />

von vierzehn Regionen liege die Umsetzung der<br />

Regierungsstrategie für die Roma <strong>in</strong> den Händen regionaler<br />

Behörden. E<strong>in</strong> Koord<strong>in</strong>ator für Roma-Angelegenheiten sei <strong>in</strong> jeder<br />

dieser Regionen als e<strong>in</strong>e Art Verb<strong>in</strong>dungsbeamter zwischen den<br />

Behörden und den Roma-Organisationen e<strong>in</strong>gesetzt worden. Der<br />

Koord<strong>in</strong>ator für Roma-Angelegenheiten Zentralböhmens – der<br />

größten Region – arbeite mit zwanzig NROs und drei Bürgerzentren<br />

der Roma zusammen. In se<strong>in</strong>er Region gebe es nur zwei Stadträte<br />

der Roma.<br />

Regionalbehörden seien für die Umsetzung der Roma-Strategie der<br />

Regierung zuständig, die <strong>in</strong> der Unterstützung bedürftiger oder von<br />

sozialer Ausgrenzung bedrohter Bürger bestehe. Dies sei e<strong>in</strong>e<br />

projektorientierte Politik, d. h., die Behörden stellten Zuschüsse für<br />

Projekte der NROs zur Verfügung. Die Regierung plane, 40 Mio.<br />

tschechische Kronen (annähernd 1.522.000 $) 2004 für die<br />

Umsetzung der Roma-Strategie <strong>in</strong> den Haushalt e<strong>in</strong>zustellen. Der<br />

Roma-Koord<strong>in</strong>ator Zentralböhmens äußerte jedoch Zweifel, ob<br />

diese Gelder dazu beitragen würden, die Ziele der Strategie zu<br />

erreichen. Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach wird die Umsetzung der<br />

Regierungsstrategie nicht wirklich überprüft, weil es den regionalen<br />

und kommunalen Behörden an politischem Willen fehle. Er vertrat<br />

den Standpunkt, dass diese zuschussorientierte Politik nicht zu<br />

positiven Ergebnissen führe und dass die Lage tatsächlich<br />

schlimmer werde.<br />

In der Tschechischen Republik sei die Lage auf dem<br />

Wohnungsmarkt kritisch. Privatisierung und der Verkauf von<br />

Wohnungen habe dazu geführt, dass Privateigentümer versuchten,<br />

<strong>roma</strong>ni Anwohner oder Mieter loszuwerden, die häufig ihre Miete<br />

und Nebenkosten nicht zahlen könnten. Infolgedessen würden<br />

<strong>roma</strong>ni Mieter vor die Tür gesetzt und zum Umzug <strong>in</strong> Slums oder<br />

zur Auswanderung <strong>in</strong>s Ausland gezwungen.<br />

Die zweite Teilnehmer<strong>in</strong> von den tschechischen Roma, die im Büro<br />

des Ombudsmans für Menschenrechte arbeitet, führte im E<strong>in</strong>zelnen<br />

dazu aus, dass nach ihrer Erfahrung – sie arbeite seit 2001 im Büro<br />

des Ombudsmans – besonders die <strong>in</strong> Sozialwohnungen lebenden<br />

150


ROMA IN EUROPA<br />

Roma von Zwangsräumungen betroffen seien. Nach ihrer Aussage<br />

hat die jüngste Dezentralisierungsreform der Verwaltung den<br />

kommunalen Behörden unbegrenzte Entscheidungsbefugnisse <strong>in</strong><br />

der Wohnungspolitik gegeben, wobei e<strong>in</strong>e Klage auf Rücknahme<br />

oder Sanktionierung ihrer Entscheidungen wenig Aussicht auf<br />

Erfolg habe. Infolgedessen griffen die Behörden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Geme<strong>in</strong>den hart und kompromisslos durch, siedelten <strong>roma</strong>ni Mieter<br />

um oder wiesen sie aus Sozialbauwohnungen oder –häusern aus.<br />

Beide Teilnehmer bestätigten, dass das Ausmaß politischer<br />

Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Tschechischen Republik<br />

unzureichend sei und dass man nur wenige Institutionen geschaffen<br />

habe, die dies fördern sollten – wie z. B. die <strong>in</strong>term<strong>in</strong>isterielle<br />

Kommission für Roma-Angelegenheiten und das Amt e<strong>in</strong>es<br />

regionalen Roma-Koord<strong>in</strong>ators; ansonsten kümmerten sich NROs<br />

um die Interessenvertretung für die Roma.<br />

Identifikation mit den Anliegen der Roma und Verantwortung:<br />

zivilgesellschaftliche und politische Organisationen<br />

Für gewählte Vertreter der Roma sei es etwas Neues und sicherlich<br />

auch e<strong>in</strong> Zeichen ihrer wachsenden politischen Reife, dass man als<br />

Politiker handele und nicht nur den eigenen <strong>roma</strong>ni Wählern,<br />

sondern auch den politischen Partnern <strong>in</strong> den Parteien des<br />

Ma<strong>in</strong>stream gegenüber rechenschaftspflichtig sei, bemerkte e<strong>in</strong>er<br />

der Teilnehmer. Gerade die Roma-Abgeordneten neigten zu der<br />

Vorstellung, dass sie als demokratisch gewählte Vertreter e<strong>in</strong>e<br />

andere Art von Verantwortung als die Führungen der NROs und<br />

Aktivisten der Roma tragen würden.<br />

Die Tatsache, dass es für den politischen und zivilgesellschaftlichen<br />

Sektor unterschiedliche Rollen und Kapazitäten bei der Lösung der<br />

Roma-Probleme gebe, wurde von allen Teilnehmern deutlich<br />

ausgesprochen. Nach Ansicht der meisten versammelten Roma<br />

gibt es zwar e<strong>in</strong>e Vielzahl an <strong>roma</strong>ni NROs mit Programmen und<br />

Projekten, die auf Bedürfnisse der Roma-Bevölkerung reagieren,<br />

aber zur Lösung ihrer Probleme brauche man mehr als das,<br />

nämlich e<strong>in</strong>e Politik auf nationaler Ebene. Zu diesem Zweck<br />

müssten die Roma <strong>in</strong> gewählten Entscheidungsgremien vertreten<br />

se<strong>in</strong>. Diejenigen, die <strong>in</strong> Parlament und Regierung vertreten seien,<br />

würden politische Mittel e<strong>in</strong>setzen, um die Situation vor Ort durch<br />

Gesetzgebung und Regierungsmaßnahmen <strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne zu<br />

verändern. Ihre Bemühungen konzentrierten sich auf<br />

Systemlösungen, die ganze Geme<strong>in</strong>schaften bee<strong>in</strong>flussten. Das sei<br />

151


Andrzej Mirga<br />

durch NRO-Projekte nicht zu erreichen. Mit diesem Ansatz gehe<br />

jedoch auch e<strong>in</strong>e andere Art von Verantwortung e<strong>in</strong>her, da man<br />

Erfolge vorweisen und bei Misserfolg belastender Kritik ausgesetzt<br />

sei und e<strong>in</strong>en politischen Preis zahlen müsse. Welche Wirkungen<br />

sie mit ihren Bemühungen erzielten, hänge von ihrem Geschick und<br />

ihrer relativen Macht gegenüber dem Gesetzgeber und den<br />

Regierungsm<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> der Verfolgung der Interessen der Roma<br />

ab. Deshalb sei es auch sehr wichtig, betonten die Roma-<br />

Abgeordneten nachdrücklich, dass man politische Verbündete oder<br />

Partner habe, die sie unterstützten.<br />

Die Regierungen erwarteten oder forderten sogar, dass die Roma<br />

selbst mehr Verantwortung und Engagement zeigten, um die Lage<br />

ihrer Geme<strong>in</strong>schaften zu verbessern. Beim Wiener OSZE-Treffen 23<br />

hätten Konzepte der Identifikation (ownership) und Verantwortung<br />

im Mittelpunkt der Debatten gestanden, berichtete der<br />

OSZE/ODIHR-Berater für Angelegenheiten der Roma und S<strong>in</strong>ti. Die<br />

Regierungen hätten auf dieser Sitzung die Ansicht vertreten, dass<br />

die Roma selbst e<strong>in</strong>e gewisse Verantwortung für die gegenwärtige<br />

Situation trügen und mehr tun müssten, um sie zu verändern. Diese<br />

Betonung der Eigenverantwortung der Roma käme nahe an die<br />

Vorstellung heran, dass die Roma selbst die gegenwärtige Lage zu<br />

verantworten hätten – e<strong>in</strong>e Vorstellung, der die Mehrheit der<br />

versammelten Vertreter der Roma widersprach. In dem 2003 <strong>in</strong><br />

Maastricht angenommenen OSZE-Aktionsplan habe man sich<br />

deshalb auf die Frage konzentriert, welche aktive Rolle die Roma <strong>in</strong><br />

diesem Prozess spielten. Oder anders gesagt, den Roma sollte<br />

mehr Verantwortung übertragen werden, sobald es e<strong>in</strong>e klar<br />

def<strong>in</strong>ierte Rolle und entsprechendes Engagement im Prozess der<br />

Gestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen zur<br />

Verbesserung der Lage der Roma-Bevölkerung gebe. Diese<br />

Aufgabe werde zunehmend mit gewählten und ernannten Vertretern<br />

der Roma <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht. Der OSZE-Aktionsplan habe der<br />

Frage der politischen Partizipation der Roma – sowohl als Wähler<br />

wie als Kandidaten – hohen Stellenwert beigemessen und man<br />

beabsichtige, noch mehr <strong>in</strong> dieser Richtung zu tun.<br />

Derselbe Redner stellte auch fest, dass andere, großenteils<br />

zivilgesellschaftliche Akteure aufseiten der Roma e<strong>in</strong>e solche Rolle<br />

für gewählte und ernannte Roma-Vertreter <strong>in</strong> Frage stellten. Roma-<br />

Aktivisten aus den NROs zweifelten die Legitimität der Vertreter <strong>in</strong><br />

23 Die Sondersitzung zu Fragen der Roma und S<strong>in</strong>ti fand vom 10. bis 11. April 2003<br />

während des OSZE-Ergänzungstreffen zur Menschlichen Dimension <strong>in</strong> Wien statt.<br />

152


ROMA IN EUROPA<br />

gewählten Gremien und <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung an und<br />

stellten üblicherweise sogar die Frage, ob diese Menschen<br />

tatsächlich die wirklichen Interessen der Roma-Bevölkerung<br />

verträten. Zurückzuführen sei diese Kontroverse e<strong>in</strong>erseits auf die<br />

unterschiedlichen politischen Ziele beider Sektoren und<br />

andererseits auf die E<strong>in</strong>stellung der NROs zum Staat und se<strong>in</strong>er<br />

Politik. Die Roma-Zivilgesellschaft positioniere sich als Verteidiger<br />

der Menschenrechte, während sich die gewählten und ernannten<br />

Vertreter als Teil staatlicher Strukturen um soziale und<br />

wirtschaftliche Themen kümmerten. NROs der Roma seien<br />

gewöhnt, den Staat und se<strong>in</strong>e Politik als Gegner der Roma zu<br />

sehen, sodass jene, die zum Teil dieses Staates würden, sich der<br />

Kritik aussetzten, dass sie andere Anliegen verträten, die nichts mit<br />

den Roma zu tun hätten. Wie e<strong>in</strong>er der Roma-Abgeordneten jedoch<br />

abschließend feststellte, wäre es weit wichtiger, dass Roma-<br />

Vertreter ihren Geme<strong>in</strong>schaften klar machten, was für Aufgaben<br />

gewählte und ernannte Roma-Vertreter erfüllten und ob ihre<br />

Bemühungen zu konkreten Ergebnissen führten, als auf diese<br />

Weise mite<strong>in</strong>ander zu konkurrieren.<br />

Die Roma nach dem Beitritt: welcher Rahmen, welche Politik?<br />

In se<strong>in</strong>er Darstellung der Politik der Europäischen Union wies der<br />

Leiter der Direktion für die Koord<strong>in</strong>ierung der Verhandlungen und<br />

Beitrittsvorbereitungen für Bulgarien, Rumänien und der Türkei der<br />

Generaldirektion für Erweiterung darauf h<strong>in</strong>, dass bei diesem<br />

Treffen sowohl die Roma-Vertreter wie Beamte <strong>in</strong> Brüssel Neuland<br />

betreten würden. Die Roma müssten über die Politik der<br />

Europäischen Union <strong>in</strong>formiert werden und darüber, was sie<br />

realistischerweise von Brüssel erwarten könnten. Andererseits<br />

brauchten die Institutionen der Europäischen Union e<strong>in</strong>e Reaktion<br />

vonseiten der Roma, um zu verstehen, was funktioniere und welche<br />

Programme und politische Maßnahmen zur Unterstützung der<br />

Roma-Bevölkerung verbessert werden müssten. Er betonte, dass<br />

Vertreter der Roma lernen müssten, wie man mit den Brüsseler<br />

Institutionen umgeht: Sie seien vielleicht bürokratisch und komplex,<br />

aber das solle die Roma nicht abschrecken. Man müsse<br />

Stehvermögen haben und sich aktiv <strong>in</strong> Netzwerken engagieren;<br />

diese Art von Treffen leiste dazu e<strong>in</strong>en Beitrag.<br />

In der Vorbereitungsphase für den Beitritt habe die Kommission mit<br />

ihren Regelmäßigen Berichten Druck auf die Regierungen der<br />

Beitrittskandidaten ausgeübt, damit diese politische Maßnahmen<br />

zur Verbesserung der Lage der Roma-Bevölkerung ergriffen.<br />

153


Andrzej Mirga<br />

Sobald die Erweiterung abgeschlossen sei, gebe es jedoch ke<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit mehr für die Kommission, direkt auf Regierungen<br />

e<strong>in</strong>zuwirken und sie zu drängen - mit möglicherweise negativen<br />

Konsequenzen für die Roma. Außerdem werde das PHARE-<br />

Programm für Beitrittsländer wie die Tschechische Republik,<br />

Ungarn und die Slowakei bis Mai 2004 abgeschlossen. Dieses<br />

Programm gelte dann nur noch für Bulgarien und Rumänien bis zu<br />

deren endgültigen Beitritt. Von 2004 an müssten Roma <strong>in</strong> den<br />

neuen EU-Mitgliedsländern die Instrumente und unterschiedlichen<br />

F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten der Union nutzen, um die<br />

Weiterführung laufender Maßnahmen oder Projekte sicher zu<br />

stellen. Deshalb sei es notwendig, dass die Roma diese<br />

Instrumente und F<strong>in</strong>anzierungsformen, die <strong>in</strong>nerhalb der Union zur<br />

Verfügung stünden, besser kennen lernen und verstehen.<br />

Er unterstrich, dass die Politik der Kommission und der Druck, den<br />

sie <strong>in</strong> der Vergangenheit ausgeübt habe, offensichtlich u. a. zur<br />

Folge gehabt habe, dass Regierungen politische Programme und<br />

Aktionspläne zugunsten ihrer Roma-Bevölkerung ausgearbeitet und<br />

mit ihrer Umsetzung begonnen hätten. Die Europäische<br />

Kommission sei sich bewusst, dass die Gesamtlage der Roma <strong>in</strong><br />

den Beitrittsländern alles andere als unproblematisch sei. Man<br />

müsse deshalb sicher stellen, dass die vorliegenden Aktionspläne<br />

von den Regierungen vollständig verwirklicht würden, <strong>in</strong>sbesondere<br />

auf der regionalen und kommunalen Ebene. Man werde deshalb<br />

weitere Anstrengungen weniger förmlicher Art zu diesem Zweck<br />

unternehmen.<br />

Mit dem vollständigen Beitritt seien die neuen Mitgliedsländer „dem<br />

Vere<strong>in</strong> beigetreten“ und somit <strong>in</strong> der Lage, die Politik und das<br />

Regelwerk der EU mitzugestalten. Die restliche Zeit der Sitzung<br />

solle deshalb dazu verwandt werden zu überlegen, wie die<br />

zukünftige Politik der EU gestaltet werden könne, um die Belange<br />

der Roma-Bevölkerung und deren E<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Union zu verbessern, führte der Vertreter der Kommission<br />

aus.Vertreter der Roma sollten den direkten Dialog mit ihren<br />

Landesregierungen suchen und dort ihre Anliegen vorbr<strong>in</strong>gen, da<br />

man die zukünftige Roma-Politik nur über die Regierungsvertreter<br />

im Europäischen Rat bee<strong>in</strong>flussen könne. Selbst wenn bei den<br />

Roma vielleicht e<strong>in</strong> Gefühl der Unzufriedenheit mit bestehenden<br />

Instrumenten entstehen würde, sei es hilfreich für die Kommission,<br />

davon zu erfahren, weil es auf Verbesserungsbedarf h<strong>in</strong>weise.<br />

Abschließend betonte er die Notwendigkeit der Zusammenarbeit,<br />

da letzten Endes „die meisten der hier Versammelten bald Bürger<br />

der EU se<strong>in</strong> werden.“<br />

154


ROMA IN EUROPA<br />

E<strong>in</strong> anderer Vertreter der Kommission erläuterte, dass man<br />

weiterh<strong>in</strong> so weit wie möglich Druck auf die Regierungen ausüben<br />

werde, was die Probleme der Roma anbetreffe, aber dies nur im<br />

Rahmen bestehender Gesetzgebung möglich sei. „Ke<strong>in</strong> Programm<br />

für die Roma ohne die Roma“ sei e<strong>in</strong> gängiges Pr<strong>in</strong>zip, aber die<br />

Kommission könne souveräne Regierungen nicht dazu zw<strong>in</strong>gen.<br />

Desgleichen sei die Kommission zwar aufgeschlossen gegenüber<br />

Regierungsmaßnahmen und Aktionsplänen für die Roma, könne<br />

aber ke<strong>in</strong>e Vorschriften erlassen, wie diese umgesetzt werden<br />

sollten. Die Europäische Kommission habe mit Regierungen zu tun<br />

und Richtl<strong>in</strong>ien der Kommission beschäftigten sich mit den<br />

Bedürfnissen und Rechten der Bürger. Aus Sicht der Europäischen<br />

Union handele es sich bei den Roma zunächst und vor allem um<br />

Bürger und nicht unbed<strong>in</strong>gt um M<strong>in</strong>derheiten. Die Kommission sehe<br />

aber die Probleme der Roma-Bevölkerung und kümmere sich<br />

darum. Der Dialog mit e<strong>in</strong>er Vielzahl an Organisationen und<br />

Vertretern sei für die Kommission im Großen und Ganzen die<br />

Grundlage ihrer Arbeit, d. h., sie pflege regelmäßigen Kontakt mit<br />

allen möglichen Nicht-Regierungsorganisationen. Dieser Redner<br />

begrüßte deshalb die Tatsache, dass die Kontakte und der Dialog<br />

<strong>in</strong>zwischen auch die gewählten und ernannten Vertreter der Roma<br />

<strong>in</strong> den neuen Mitgliedsländern umfasse.<br />

Außerdem betonten die Redner, dass die EU nicht auf alle<br />

Probleme der Roma e<strong>in</strong>e Antwort habe, aber viele Chancen zur<br />

Bewältigung dieser Probleme vor allem <strong>in</strong> den neuen<br />

Mitgliedsstaaten biete.<br />

EU-Instrumente und Rahmenpolitik<br />

Vertreter der Kommission stellten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vortrag die EU-<br />

Instrumente und EU-Politik vor und beschrieben kurz jene, die der<br />

Roma-Bevölkerung helfen könnten. Drei Bereiche wurden erwähnt:<br />

EU-Gesetzgebung, F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten und<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zur Koord<strong>in</strong>ierung der Politik, um<br />

geme<strong>in</strong>same Ziele zu erreichen. Wie e<strong>in</strong> Vertreter der Kommission<br />

dazu feststellte, gebe es alle<strong>in</strong> im Bereich der Beschäftigungs- und<br />

Sozialpolitik – die gleichermaßen für die Bevölkerung der Roma wie<br />

für andere Bürger der Union wichtig seien – an die fünfundsiebzig<br />

Gesetze, deren Spektrum vom Arbeits- und Gesundheitsschutz bis<br />

zur Gleichstellung von Mann und Frau reichten. Er verwies<br />

<strong>in</strong>sbesondere auf die Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000, die sogenannte<br />

Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie, die schon früher auf der Sitzung<br />

155


Andrzej Mirga<br />

erwähnt worden sei. E<strong>in</strong>ige Länder hätten diese Richtl<strong>in</strong>ie erst sehr<br />

spät <strong>in</strong> die nationale Gesetzgebung übernommen, aber die Roma<br />

sollten wissen, dass sie gegen ihre Regierungen vor dem<br />

Europäischen Gerichtshof klagen können, falls sich Behörden nicht<br />

an die Vorschriften dieses Gesetzes hielten.<br />

Die Strukturfonds und der Kohäsionsfonds seien die wichtigsten<br />

F<strong>in</strong>anzierungsquellen. Diese Mittel ständen allen neuen<br />

Mitgliedsstaaten offen. Die Strukturfonds arbeiteten mit<br />

mittelfristigen Programmplanungszeiträumen von sieben Jahren;<br />

der gegenwärtige Planungszeitraum umfasse die Zeit von 2000 -<br />

2006. Die zehn neuen Mitgliedsländer, die der EU am 1. Mai 2004<br />

beigetreten seien, fielen <strong>in</strong> den gegenwärtigen Planungszeitraum<br />

und würden zwischen 2004 und 2006 davon profitieren; danach<br />

werde e<strong>in</strong> neuer Planungszeitraum (für 2007 - 2013) gelten.<br />

Zweiundzwanzig Milliarden Euro seien für alle Struktur<strong>in</strong>strumente<br />

<strong>in</strong> den zehn neuen EU-Mitgliedsländern vorgesehen. Der<br />

Beitrittsvertrag sehe vor, dass Beitrittsländer vom 1. Januar 2004 an<br />

Anspruch auf F<strong>in</strong>anzierung durch die Strukturfonds und den<br />

Kohäsionsfonds hätten, sobald die entsprechenden, für diese<br />

Fonds geltenden Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt seien. Bei diesen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen handele es sich um die vollständige Umsetzung der<br />

Implementierungsregeln der Fonds sowie der politischen Vorgaben<br />

und der Gesetzgebung der Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Zahlungen aus den Strukturfonds h<strong>in</strong>gen vom BIP e<strong>in</strong>es Landes<br />

und der Bevölkerungsgröße ab. Nach den Vorschriften der<br />

Strukturfonds konzentrierten sich Strukturmaßnahmen auf drei<br />

Kernziele: Beim ersten Ziel gehe es vorrangig um wirtschaftliche<br />

Entwicklung und Strukturanpassung <strong>in</strong> zurückgebliebenen<br />

Regionen. Anspruch auf Förderung hätten Regionen, die weniger<br />

als 75 % des durchschnittlichen BIP der EU aufwiesen. Beim<br />

zweiten Ziel gehe es um die Unterstützung wirtschaftlicher und<br />

sozialer Konversion für Gebiete mit strukturellen Schwierigkeiten<br />

(<strong>in</strong>dustriell, ländlich, städtisch und Fischereiwesen). Ziel 3 diene der<br />

Entwicklung der Arbeitsmärkte und der Beschäftigten und solle die<br />

Anpassung und Modernisierung nationaler Bildungs-, Ausbildungs-<br />

und Beschäftigungspolitik und –systeme fördern. Der Europäische<br />

Fonds für regionale Entwicklung f<strong>in</strong>anziere Programme, die auf Ziel<br />

e<strong>in</strong>s und zwei ausgerichtet seien. Für diesen Fonds sei die<br />

Generaldirektion Regionalpolitik zuständig. Der Europäische<br />

Sozialfonds f<strong>in</strong>anziere Programme im Zusammenhang mit Ziel drei<br />

und dafür sei die GD für Beschäftigung und soziale<br />

Angelegenheiten zuständig. Diese beiden Fonds seien für die<br />

Roma wichtig, während die zwei anderen Fonds – für die Bereiche<br />

156


ROMA IN EUROPA<br />

Landwirtschaft und Fischereiwesen – weniger <strong>in</strong>teressant für sie<br />

seien.<br />

Wie funktioniere das? Regierungen legten nationale<br />

Entwicklungspläne auf – Strategien zur Nutzung der Strukturfonds<br />

für den Zeitraum 2004-2006. Dieser Plan be<strong>in</strong>halte: e<strong>in</strong>e<br />

Situationsanalyse im Zusammenhang mit dem betreffenden Ziel;<br />

e<strong>in</strong>e Analyse vorrangiger Bedürfnisse; geplante Strategie- und<br />

Handlungsprioritäten und e<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>anzierungsplan. Dieses<br />

Dokument solle landesweit ausgiebig diskutiert und dann als<br />

Grundlage der Verhandlungen der Kommission vorgelegt werden.<br />

Die Kommission greife generell auf der Ebene der Strategien und<br />

Prioritäten e<strong>in</strong>, während die Länderregierungen für die Festlegung<br />

der Maßnahmen und Projektkriterien zuständig seien. In den<br />

meisten Fällen würden die Entwicklungspläne der Beitrittsländer als<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmen (Community Support Frameworks,<br />

CSF) mit e<strong>in</strong>zelf<strong>in</strong>anzierten operativen Programmen (s<strong>in</strong>gle-funded<br />

operational programmes, SOP) für die Implementierung aufgelegt.<br />

Alle Verhandlungen über CSFs und SOPs im Rahmen des<br />

Strukturfonds seien im Dezember 2003 mit den neuen<br />

Mitgliedsländern abgeschlossen und vertraglich besiegelt worden.<br />

Sobald sie von der Kommission angenommen worden seien,<br />

würden die Entwicklungspläne von ausführenden Behörden<br />

umgesetzt, die von den Mitgliedsstaaten ernannt worden seien. Die<br />

Implementierung der Maßnahmen und Projekte werde von<br />

Monitor<strong>in</strong>g-Ausschüssen beaufsichtigt. Alle von der EU geförderten<br />

Projekte müssten kof<strong>in</strong>anziert werden; die Projektauswahl werde<br />

von den für e<strong>in</strong>zelne Projekte zuständigen nationalen und<br />

regionalen Behörden, nicht der Kommission vorgenommen.<br />

Beschäftigungs- und sozialpolitischer Rahmen<br />

Wie oben erwähnt, ist die GD für Beschäftigung und soziale<br />

Angelegenheiten für den Europäischen Sozialfonds zuständig - dem<br />

wichtigsten Instrument, die Beschäftigung benachteiligter Gruppen<br />

zu fördern und ihnen Zugang zu den Arbeitsmärkten zu<br />

verschaffen. Diese Generaldirektion bietet F<strong>in</strong>anzierung für<br />

Maßnahmen im Zusammenhang mit Ziel 3 entsprechend den<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />

und Beschäftigungsrichtl<strong>in</strong>ien (beschlossen auf dem Luxemburger<br />

157


Andrzej Mirga<br />

Gipfel 1997) 24 und den sozialpolitischen Zielen des Lissaboner<br />

Europäischen Rates 2000, bei denen es um Armutsbekämpfung<br />

und soziale Ausgrenzung geht. 25 Dieses Instrument war für die<br />

Roma von besonderer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass<br />

sie als Bevölkerungsgruppe stark von Armut und Arbeitslosigkeit<br />

betroffen s<strong>in</strong>d. Der Vertreter der GD Beschäftigung und soziale<br />

Angelegenheiten führte aus, dass der Europäische Sozialfonds<br />

auch von den gegenwärtigen Mitgliedsstaaten wie Spanien,<br />

Griechenland und Frankreich für Projekte genutzt worden sei, die<br />

die Roma betrafen. Im Laufe der Verhandlungen hätte die<br />

Kommission die neuen Mitgliedsstaaten aufgefordert, Romaspezifische<br />

Projekte über den Fonds zu beantragen. E<strong>in</strong> weiterer<br />

Fonds wurde ebenfalls erwähnt – die Geme<strong>in</strong>schafts<strong>in</strong>itiative<br />

EQUAL. Dieser Fonds unterstütze <strong>in</strong>novative Projekte zur<br />

Förderung benachteiligter Gruppen, um ihnen den Zugang zum<br />

Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dutzende solcher Projekte, die sich<br />

<strong>in</strong>sbesondere an Roma richteten, seien <strong>in</strong> den gegenwärtigen<br />

Mitgliedsländern schon gefördert worden.<br />

Die <strong>roma</strong>ni Teilnehmer wurden darüber unterrichtet, dass es <strong>in</strong> der<br />

GD für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten vier<br />

verschiedene Programme gebe, die sich jeweils mit sozialer<br />

Ausgrenzung, Gleichheit von Mann und Frau, Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

und Beschäftigungsanreizen befassen. In allen diesen Bereichen<br />

gelte die Aufmerksamkeit der Kommission <strong>in</strong>sbesondere den Roma.<br />

Als das Referat „Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung“ vor kurzem dazu aufgefordert<br />

habe, Projektvorschläge e<strong>in</strong>zureichen, seien die Roma besonders<br />

erwähnt worden.<br />

24 Mit dem 1997 <strong>in</strong> Amsterdam unterzeichneten EU-Vertrag wurde das<br />

Beschäftigungsthema fester Bestandteil der politischen Tagesordnung der Union. Die<br />

Verpflichtung, Beschäftigungspolitik und Schaffung von mehr und besseren<br />

Arbeitsplätzen zu koord<strong>in</strong>ieren, wurde mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie<br />

auf dem Luxemburger Gipfel 1997 umgesetzt. Die Beschäftigungsstrategie war als<br />

das zentrale Instrument zur Ausrichtung und gesicherten Koord<strong>in</strong>ierung der Prioritäten<br />

<strong>in</strong> der Beschäftigungspolitik gedacht, auf die sich die Mitgliedsstaaten auf Ebene der<br />

EU verständigt hatten.<br />

25 Die Treffen des Europäischen Rates <strong>in</strong> Lissabon und Feira (2000) setzten e<strong>in</strong><br />

neues Ziel: den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Die vom Europäischen<br />

Rat festgelegten politischen Richtl<strong>in</strong>ien und Ziele enthielten u. a. die Forderung, e<strong>in</strong><br />

besseres Verständnis über soziale Ausgrenzung zu fördern, E<strong>in</strong>gliederung zu e<strong>in</strong>em<br />

wesentlichen Faktor der allgeme<strong>in</strong>en Beschäftigungs-, Bildungs- und Ausbildungs-,<br />

Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik der Mitgliedsländer zu machen sowie<br />

Prioritäten zugunsten bestimmter Zielgruppen (z. B. M<strong>in</strong>derheitengruppen, K<strong>in</strong>der,<br />

ältere Menschen und Beh<strong>in</strong>derte) zu setzen.<br />

158


ROMA IN EUROPA<br />

Während der Verhandlungen mit den neuen Mitgliedsländern habe<br />

die Kommission der Roma-Thematik besondere Aufmerksamkeit<br />

geschenkt und die Regierungen aufgefordert, die Strukturfonds<br />

auch für die Bevölkerungsgruppe der Roma zu nutzen. Es wurde<br />

jedoch auch darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die Roma selbst mit den<br />

Länderbehörden oder -regierungen Kontakt aufnehmen müssten,<br />

um sicher zu stellen, dass ihre Geme<strong>in</strong>schaften von dieser<br />

Förderung profitierten.<br />

Zwar habe die Kommission weniger Möglichkeiten, auf<br />

Vollmitglieder Druck auszuüben als auf Kandidaten- oder<br />

Beitrittsländer, aber man habe doch e<strong>in</strong>ige Mittel, die hilfreich se<strong>in</strong><br />

könnten. E<strong>in</strong>es der <strong>in</strong> diesem Zusammenhang erwähnten<br />

Instrumente ist die sogenannte „offene Methode“ der Koord<strong>in</strong>ierung<br />

im Bereich der Rahmenpolitik für Beschäftigung und soziale<br />

E<strong>in</strong>gliederung. 26 Das bedeute, dass sich die Mitgliedsländer auf<br />

Ebene der EU auf geme<strong>in</strong>same Ziele und deren Umsetzung<br />

verständigten. Die Regierungen müssten dann der Kommission<br />

gegenüber Bericht erstatten, wie sie versucht hätten, diese Ziele zu<br />

erreichen; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Peer Review“-Verfahren würden die<br />

Kommission und die Regierungen dann auswerten, wie erfolgreich<br />

e<strong>in</strong>zelne Länder bei der Erreichung ihrer Ziele gewesen seien.<br />

26 Die im Rahmen der Beschäftigungsstrategie e<strong>in</strong>geführte „offene Methode“ der<br />

Koord<strong>in</strong>ierung umfasst folgende Schritte: a) Beschäftigungsrichtl<strong>in</strong>ien: Auf Vorschlag<br />

der Kommission verständigt sich der Europäische Rat jedes Jahr auf e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Richtl<strong>in</strong>ien, die geme<strong>in</strong>same Prioritäten <strong>in</strong> der Beschäftigungspolitik der<br />

Mitgliedsländer festschreiben. b) Nationale Aktionspläne, <strong>in</strong> denen beschrieben wird,<br />

wie die Richtl<strong>in</strong>ien umgesetzt werden sollen, werden von jedem Mitgliedsland<br />

ausgearbeitet. c) Die Kommission und der Europäische Rat prüfen geme<strong>in</strong>sam jeden<br />

Nationalen Aktionsplan und arbeiten e<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>samen Beschäftigungsbericht aus;<br />

dann erstellt die Kommission e<strong>in</strong>en neuen Vorschlag zur Überarbeitung der<br />

Richtl<strong>in</strong>ien für das nächste Jahr. d) Nach Erhalt des Kommissionsvorschlags kann<br />

der Rat beschließen, länderspezifische Empfehlungen auszusprechen. So entsteht<br />

mit Hilfe der offenen Koord<strong>in</strong>ierungsmethode e<strong>in</strong> fortlaufendes Programm jährlicher<br />

Planung, Monitor<strong>in</strong>g, Prüfung und Neuanpassung. Nach dem Treffen des<br />

Europäischen Rates <strong>in</strong> Lissabon (2000) wurde die offene Koord<strong>in</strong>ierungsmethode<br />

auch auf den sozialpolitischen Bereich ausgeweitet, wobei man nunmehr Zweijahres-<br />

Zeiträume für Planung, Berichterstattung und die Neufestsetzung von Prioritäten<br />

vorsah. Die Kandidatenländer waren entsprechend den Bestimmungen der<br />

Beitrittspartnerschaften an beiden Rahmenverfahren beteiligt. Geme<strong>in</strong>same<br />

Auswertungspapiere (jo<strong>in</strong>t assessment papers, JAP) zur Beschäftigungspolitik wurden<br />

das erste Mal 2001 mit den Beitrittsländern abgeschlossen als<br />

Vorbereitungsdokumente für die Entwicklung nationaler und regionaler Strategien,<br />

nach denen zukünftig Mittel aus den europäischen Strukturfonds nach dem Beitritt<br />

beantragt werden könnten. Für den sozialpolitischen Bereich wurde im Dezember<br />

2003 von den beitretenden Ländern ebenfalls e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames Memorandum zur<br />

Sozialen E<strong>in</strong>gliederung (Jo<strong>in</strong>t Memorandum on Social Inclusion, JIM) mit der<br />

Kommission ausgearbeitet und unterzeichnet.<br />

159


Andrzej Mirga<br />

Sowohl für den Bereich Beschäftigung wie für soziale E<strong>in</strong>gliederung<br />

seien geme<strong>in</strong>same Ziele vere<strong>in</strong>bart worden, die auch Interessen der<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten tangierten.<br />

Die gegenwärtigen Mitgliedsstaaten würden Berichte zur sozialen<br />

E<strong>in</strong>gliederung herausgeben; auf der Grundlage dieser Berichte<br />

würde die Kommission e<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>samen Bericht zur Sozialen<br />

E<strong>in</strong>gliederung erstellen. Die neuen Mitgliedsländer seien Teil des<br />

Verfahrens und hätten im Dezember 2003 e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>sames<br />

Memorandum zur sozialen E<strong>in</strong>gliederung (engl. Abkürzung: JIM)<br />

unterzeichnet. Alle Memoranden hätten Maßnahmen zur sozialen<br />

E<strong>in</strong>gliederung e<strong>in</strong>en besonderen Stellenwert zugewiesen, vor allem<br />

bei Gruppen, die besonders von langfristiger Arbeitslosigkeit<br />

bedroht seien wie Jugendliche, ältere Menschen oder Frauen,<br />

sowie bei besonders benachteiligten Gruppen wie den Roma und<br />

anderen ethnischen M<strong>in</strong>derheiten. Diese Prioritäten und<br />

Maßnahmen seien auch <strong>in</strong> die Dokumente im Rahmen der<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsförderung (CSF) übernommen worden.<br />

Bei der Ausarbeitung dieser Dokumente und den entsprechenden<br />

Verhandlungen habe die Kommission und <strong>in</strong>sbesondere die GD für<br />

Beschäftigung und soziale Angelegenheiten die Regierungen<br />

aufgefordert, die Roma-Thematik aufzugreifen und ihr besondere<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. Man könne diese Dokumente nun als<br />

politisches Mittel e<strong>in</strong>setzen, um Regierungen zur Verantwortung zu<br />

ziehen und nachzufragen, ob die geme<strong>in</strong>samen Ziele, auf die sie<br />

sich verpflichtet hätten, auch erreicht worden seien. Gegenwärtig<br />

überprüfe die Kommission die bestehenden Vere<strong>in</strong>barungen,<br />

politischen Vorgaben und Programme, um festzustellen, ob man sie<br />

nicht noch wirkungsvoller e<strong>in</strong>setzen könne, um Fragen der Roma <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er erweiterten Union zu behandeln. E<strong>in</strong>e Untersuchung über die<br />

Lage der Roma, die u. a. <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem Europäischen<br />

Roma-Informationsbüro (ERIO) durchgeführt werde, sowie e<strong>in</strong>e für<br />

April 2004 <strong>in</strong> Brüssel geplante Konferenz verfolgten das gleiche<br />

Ziel: auf die besonderen Bedürfnisse der Roma-M<strong>in</strong>derheiten mit<br />

den Instrumenten der EU zu reagieren. 27<br />

27 Die Konferenz „Roma <strong>in</strong> an enlarged European Union“ fand vom 22. bis 24. April<br />

2004 <strong>in</strong> Brüssel statt. Der Bericht über „The Situation of Roma <strong>in</strong> an enlarged<br />

European Union, Fundamental Rights and Anti-discrim<strong>in</strong>ation“ wurde von der<br />

Generaldirektion für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Referat D3,<br />

Europäische Geme<strong>in</strong>schaften, 2004 veröffentlicht. Der Bericht nimmt aber nicht<br />

Stellung zu politischer Partizipation und Vertretung der Roma.<br />

160


ROMA IN EUROPA<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten als Nutznießer der Strukturfonds: Chancen<br />

und Risiken<br />

Die Bemerkungen der Roma-Teilnehmer machten deutlich, dass<br />

unter ihnen nur e<strong>in</strong>ige wirklich gut über diese Instrumente,<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Dokumente sowie die Verfahrensweise<br />

der Strukturfonds <strong>in</strong>formiert waren. Roma-M<strong>in</strong>derheiten mit starker<br />

politischer Präsenz im Heimatland waren sicherlich erfolgreicher<br />

dar<strong>in</strong>, die Interessen der Roma zu vertreten und engagiert für die<br />

E<strong>in</strong>beziehung ihrer Ziele <strong>in</strong> Programmdokumente zu werben. Es<br />

zeigte sich auch, dass die Roma <strong>in</strong> vielen Fällen vom<br />

Konsultationsprozess ausgeschlossen worden s<strong>in</strong>d oder – mit<br />

wenig Macht oder politischem E<strong>in</strong>fluss ausgestattet - nur schwerlich<br />

die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen konnten, damit<br />

<strong>in</strong> den ausgehandelten Dokumenten angemessen auf ihre<br />

Probleme reagiert werden konnte.<br />

Nach Aussage e<strong>in</strong>es der Roma-Vertreter aus Ungarn seien die<br />

Probleme der Roma <strong>in</strong> allen fünf Operativen Programmen des<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmens (CSF) se<strong>in</strong>es Landes angesprochen<br />

worden. Dazu beigetragen habe die Tatsache, dass sich die<br />

Kommission <strong>in</strong> den Verhandlungen vor dem Beitritt nachdrücklich<br />

auf die Roma konzentriert habe: Nach der ersten<br />

Verhandlungsrunde habe die Kommission angedeutet, dass es zu<br />

wenig Maßnahmen zur Förderung der Roma gebe und die<br />

Regierung aufgefordert, weitere Schritte zur Verbesserung der Lage<br />

der Roma e<strong>in</strong>zuleiten.<br />

Auch der Roma-Vertreter aus der Slowakei berichtete, dass das<br />

E<strong>in</strong>greifen der Kommission - u. a. ihr Drängen auf E<strong>in</strong>beziehung<br />

des Bevollmächtigten für Roma-Angelegenheiten <strong>in</strong> die Delegation<br />

während der letzten Verhandlungsphase <strong>in</strong> Brüssel - hilfreich<br />

gewesen sei, um die Bedürfnisse der Roma <strong>in</strong> den Kapiteln über<br />

grundlegende Infrastruktur und Humanressourcen des<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsförderrahmens (CSF) zur Sprache zu br<strong>in</strong>gen.<br />

E<strong>in</strong> Vertreter der Kommission bemerkte, dass der Beitrag aus den<br />

Strukturfonds für Maßnahmen zugunsten der Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong><br />

der Slowakei höher als sonst üblich bei 80% liegen werde, d. h., zur<br />

Kof<strong>in</strong>anzierung seien nur 20 % erforderlich – während für andere<br />

Maßnahmen der Anteil der F<strong>in</strong>anzierung und Kof<strong>in</strong>anzierung bei<br />

jeweils 75 % und 25 % liege. Im Falle der Tschechischen Republik<br />

seien die Roma <strong>in</strong> zwei Operativen Programmen angesprochen<br />

worden, die festlegten, welcher Anteil der Mittel <strong>in</strong> Roma-Projekte<br />

161


Andrzej Mirga<br />

fließen solle. Damit habe die Kommission sicher stellen wollen,<br />

dass Mittel der Strukturfonds auch zugunsten der Roma-<br />

Bevölkerung verwendet würden.<br />

Es sei jedoch für die Kommission politisch schwierig, genauere<br />

Vorgaben zu machen - wie z. B. die schwerpunktmäßige Förderung<br />

von Roma-M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Regionen mit starker Konzentration<br />

dieser Gruppe oder die Lösung ihrer Wohnprobleme, wie von e<strong>in</strong>em<br />

der Roma-Vertreter gefordert. Diese Fragen lägen im<br />

Ermessensspielraum der Mitgliedsländer. Der Kommission mangele<br />

es außerdem an zuverlässigen statistischen Daten über<br />

M<strong>in</strong>derheiten, besonders der Roma. Die Kommission formuliere<br />

allgeme<strong>in</strong>e Ziele: Im Bereich Beschäftigung müssten die<br />

Mitgliedsländer beispielsweise die Kluft <strong>in</strong> der Arbeitslosigkeit von<br />

benachteiligten Gruppen und der allgeme<strong>in</strong>en Bevölkerung<br />

reduzieren. Um genauere quantitative Vorgaben machen zu<br />

können, müsse man zunächst Daten über die ethnischen<br />

M<strong>in</strong>derheiten sammeln – e<strong>in</strong> sowohl für die Regierungen wie<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften heikles Thema.<br />

Die Teilnehmer aufseiten der Roma vertraten den Standpunkt, dass<br />

für die Zielsetzung <strong>in</strong> der Sozialpolitik Daten über alle möglichen<br />

sozialen Gruppen erforderlich seien; man sprach sich deshalb für<br />

die Sammlung von Daten aus, die den sozialen Status<br />

benachteiligter Bevölkerungsgruppen allgeme<strong>in</strong> festhalten. Man war<br />

jedoch gegen die Aufnahme der Roma <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong> ethnisches<br />

Archiv oder Register.<br />

Die Vertreter der Kommission erläuterten, dass man nur sehr<br />

beschränkte Möglichkeiten habe, konkrete Maßnahmen oder<br />

Projekte zu bee<strong>in</strong>flussen, da sowohl die Verwaltung der<br />

Strukturfonds wie die Projektauswahl <strong>in</strong> die Zuständigkeit des<br />

E<strong>in</strong>zelstaates fielen. Sie unterstrichen außerdem, dass die<br />

Regierungen e<strong>in</strong>iger Länder die Entscheidungsbefugnisse über die<br />

Verwendung der Strukturfondsmittel entsprechend der<br />

Dezentralisierungspolitik der EU an regionale und kommunale<br />

Behörden übertragen hätten. Andererseits sei der Zugang zu den<br />

Strukturfonds aber e<strong>in</strong>facher geworden: Projektanträge müssten<br />

nicht jedes Mal e<strong>in</strong>zeln mit der Kommission ausgehandelt werden<br />

wie noch im Falle der PHARE-F<strong>in</strong>anzierung. Es sei wichtig für die<br />

Roma, dass man e<strong>in</strong>e vielleicht ger<strong>in</strong>gere Zahl an qualitativ<br />

besseren Projekten beantrage. Sie stellten auch fest, dass Roma-<br />

Organisationen Mitglied im Monitor<strong>in</strong>g-Ausschuss werden könnten,<br />

der die Aufsicht darüber führe, wie Mittel der Strukturfonds<br />

verwendet würden. Dieser Ausschuss sei ggf. auch befugt,<br />

162


ROMA IN EUROPA<br />

Maßnahmen zu ändern oder Mittel an andere Maßnahmen<br />

umzuleiten.<br />

Die Teilnehmer der Roma äußerten sich aber besorgt, <strong>in</strong>wieweit die<br />

Kapazitäten der Roma-Geme<strong>in</strong>schaften und Organisationen<br />

überhaupt zur Beantragung solcher Projekte ausreichten,<br />

<strong>in</strong>sbesondere da die Forderung nach Kof<strong>in</strong>anzierung<br />

diesbezügliche Initiativen beschränken könnten. Desgleichen waren<br />

sie besorgt, ob kommunale Behörden überhaupt genügend<br />

Interesse daran hätten, entsprechende Förderprojekte zugunsten<br />

der Roma-Bevölkerung zu beantragen oder deren eigene Projekte<br />

zu unterstützen. Nach Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>iger Teilnehmer s<strong>in</strong>d die Roma<br />

nicht gut <strong>in</strong>formiert über diese neuen F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten,<br />

und auch nicht darüber, wie man sie beantragt und <strong>in</strong>wieweit ihre<br />

Bedürfnisse <strong>in</strong> den Programmdokumenten angesprochen wurden.<br />

E<strong>in</strong>er der Roma-Teilnehmer aus Rumänien kam zu dem Schluss,<br />

dass die zentrale Botschaft des Treffens für ihn dar<strong>in</strong> bestanden<br />

habe, dass sowohl während wie nach dem Beitrittsverfahren<br />

Regierungen e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle spielten. Für ihn bedeute das,<br />

dass e<strong>in</strong>e politische Vertretung für die Roma-M<strong>in</strong>derheiten absolut<br />

Vorrang habe – ob nun im Parlament oder der Regierung oder<br />

sogar <strong>in</strong> den Brüsseler Institutionen. Ohne e<strong>in</strong>e aktive Mitarbeit der<br />

Roma-Vertreter <strong>in</strong> diesen Institutionen könnten die Interessen der<br />

Roma nicht ausreichend vertreten werden.<br />

Das Thema der Teilhabe an Entscheidungs- und<br />

Konsultationsprozessen <strong>in</strong> unterschiedlichen Institutionen wurde<br />

wiederholt von den Roma-Vertretern angesprochen. Unabhängig<br />

vone<strong>in</strong>ander schlugen e<strong>in</strong>ige Roma-Teilnehmer vor, dass<br />

gewählten und ernannten Vertretern der Roma die Möglichkeit<br />

regelmäßiger Beratungen mit den Institutionen der EU über diese<br />

Thematik e<strong>in</strong>geräumt werden solle. Sie schlugen vor, e<strong>in</strong> Gremium<br />

am Sitz der Europäischen Kommission e<strong>in</strong>zurichten mit dem<br />

Auftrag, Vertreter der Roma und der EU-Institutionen<br />

zusammenzubr<strong>in</strong>gen; dieses Gremium solle für Kooperation,<br />

Koord<strong>in</strong>ierung, Dialog, Orientierung und Überwachung der EUweiten<br />

Maßnahmen für Roma-M<strong>in</strong>derheiten zuständig se<strong>in</strong>. Es<br />

wurde ebenfalls betont, dass man die Umsetzung EU-f<strong>in</strong>anzierter<br />

Maßnahmen und die bestehenden Strategien oder Aktionspläne der<br />

Regierungen zugunsten der Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> den<br />

Mitgliedsländern <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form koord<strong>in</strong>ieren müsse. Die<br />

gleiche Forderung wurde von Roma-Vertretern <strong>in</strong> den Gesprächen<br />

im Europäischen Parlament aufgestellt. E<strong>in</strong>ige Mitglieder des EP<br />

unterstützten die Idee regelmäßiger Treffen <strong>in</strong> Brüssel.<br />

163


Andrzej Mirga<br />

Als Antwort auf diese Forderung stellte e<strong>in</strong> Vertreter der<br />

Europäischen Kommission fest, dass die EU <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Weise vorgehe: Der EU-Rat, bestehend aus Vertretern der<br />

Mitgliedsländer, treffe Entscheidungen auf Anweisung der<br />

Regierungen. Es sei deshalb vielleicht erforderlich, dass sich<br />

Roma-Vertreter zunächst an ihre eigenen Regierungen wendeten<br />

und dort für ihre Vorschläge grünes Licht erhielten. Er unterstrich<br />

ebenfalls, dass solche Vorschläge gut ausgearbeitet werden sollten,<br />

bevor man sie vorlege. 28<br />

Der Ansatz der Roma-Vertreter: Roma-Themen s<strong>in</strong>d politische<br />

Themen 29<br />

Der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen<br />

Parlamentes (EP) hat sich aktiv mit der Roma-Thematik beschäftigt;<br />

sie ist seit Aufnahme der Verhandlungen mit den Beitrittsländern<br />

immer wieder auf se<strong>in</strong>e Tagesordnung gesetzt worden. Für die<br />

Roma-Bevölkerung der neu beitretenden Länder wird der mit<br />

Roma-Fragen beschäftigte Ausschuss für Bürgerrechte des EP e<strong>in</strong><br />

wichtiges Gremium se<strong>in</strong>, da es sich dabei zukünftig um <strong>in</strong>nere<br />

Angelegenheiten der EU handelt. Zwar wird sich der Ausschuss für<br />

Auswärtige Angelegenheiten auch weiterh<strong>in</strong> mit Angelegenheiten<br />

der Roma beschäftigen, allerd<strong>in</strong>gs nur für die Kandidatenländer<br />

(d.h. Bulgarien und Rumänien). Er wird se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit auch<br />

auf die Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> den früheren jugoslawischen Staaten<br />

richten.<br />

28 In e<strong>in</strong>er Pressemitteilung unter dem Titel: „Kommission fordert mehr<br />

Aufmerksamkeit für Fragen der Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten EU“<br />

nach der Konferenz „Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erweiterten Europäischen Union“, die <strong>in</strong> Brüssel<br />

vom 22. bis 24. April 2004 stattfand, stellte die Generaldirektor<strong>in</strong> der GD für<br />

Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Frau Odile Qu<strong>in</strong>t<strong>in</strong>, fest: „ wir müssen<br />

sicher stellen, dass politische Maßnahmen der EU die Lage der Roma-Bevölkerung<br />

überall <strong>in</strong> der erweiterten Union wirklich verändern. Alle Beteiligten müssen koord<strong>in</strong>iert<br />

zusammenarbeiten. Wir können es uns nicht länger leisten, <strong>in</strong> dieser Frage nur<br />

stückweise vorzugehen.“ Als Beispiel für die Art von Ansatz, der erforderlich wäre,<br />

schlug Frau Qu<strong>in</strong>t<strong>in</strong> die Überprüfung der <strong>in</strong>ternen Koord<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Kommission vor, um sicher zu stellen, dass es e<strong>in</strong>en „<strong>in</strong>tegrierten“ Ansatz <strong>in</strong> Fragen<br />

der Politik gegenüber den Roma zwischen allen Generaldirektionen der Kommission<br />

gebe. Mehr dazu unter:<br />

http://<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/employment_social/news/2004/apr/<strong>roma</strong>2_en.html<br />

29 Der zweite Tag des von PER und Kommission veranstalteten Treffens brachte die<br />

Roma-Vertreter mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments zusammen.<br />

164


ROMA IN EUROPA<br />

Nach Me<strong>in</strong>ung der Mitglieder des Europäischen Parlamentes<br />

(MEPs) war es e<strong>in</strong> ermutigendes Zeichen, mit Roma<br />

zusammenzutreffen, die politische Ämter übernommen hätten und<br />

sich politisch aktiv für die Interessen ihrer Geme<strong>in</strong>schaften<br />

e<strong>in</strong>setzten. Sie unterstrichen die grundlegende Bedeutung<br />

politischer Partizipation für die Roma, da es schwieriger wäre, ohne<br />

eigene politische Organisation der Roma deren Probleme zu lösen;<br />

Lösungen müssten vor Ort, auf der nationalen und kommunalen<br />

Ebene, gefunden werden.<br />

Die Roma-Teilnehmer erläuterten ihren Ansatz und ihre<br />

Sichtweisen zur Roma-Thematik <strong>in</strong> der nationalen und<br />

europäischen Politik. Nach Aussage der Redner müsse man Roma-<br />

Themen im Grunde als politische Themen verstehen, die deshalb<br />

e<strong>in</strong>e politische Lösung erforderten. Das bedeute, dass die Roma<br />

Teil des politischen Ma<strong>in</strong>stream und engagierte Akteure werden<br />

müssten, die ihren <strong>roma</strong>ni Wählern und politischen Verbündeten<br />

gegenüber politisch verantwortlich seien. Als gewählte und<br />

ernannte Amtsträger <strong>in</strong> Parlamenten und Regierungen habe man<br />

die Rolle von Politikern der Roma übernommen. Zwar gebe es<br />

bisher nur wenige von ihnen, aber mit jeder weiteren Wahl <strong>in</strong> der<br />

Region würde die Zahl der gewählten Roma-Abgeordneten oder<br />

Stadt- und Geme<strong>in</strong>deräte zunehmen. Diese Entwicklung müsse<br />

zukünftig gefördert und verstärkt werden.<br />

Die Roma-Vertreter sprachen sich auch für e<strong>in</strong>e Institutionalisierung<br />

der <strong>in</strong>nenpolitischen Rolle der Roma aus, d. h. die Schaffung<br />

bestimmter <strong>in</strong>stitutioneller Strukturen auf zentraler und kommunaler<br />

Regierungsebene, um Roma-Themen auf der politischen<br />

Tagesordnung zu halten und ihre regelmäßige und kont<strong>in</strong>uierliche<br />

Erörterung sicherzustellen. Sie sprachen sich für e<strong>in</strong>e Partizipation<br />

der Roma <strong>in</strong> diesen Strukturen aus, damit die Roma e<strong>in</strong> gesichertes<br />

Mitspracherecht bei Entscheidungen hätten. Im Übrigen hielten die<br />

Roma-Vertreter e<strong>in</strong>e Stärkung der politischen Organisationen oder<br />

Parteien der Roma für notwendig, um dadurch die Roma-<br />

Geme<strong>in</strong>schaften politisch zu mobilisieren; sie hoffen, damit eher<br />

Maßnahmen zur besseren E<strong>in</strong>gliederung der Roma umsetzen zu<br />

können.<br />

Die MEPs diskutierten diese Vision und überlegten, ob dies der<br />

beste Ansatz sei. Nach Ansicht zahlreicher MEPs ist die von den<br />

Roma angestrebte Bildung getrennter Parteien oder ethnisch<br />

ausgerichteter politischer Organisationen vielleicht nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

die beste Wahl und könnte sogar kontraproduktiv für die<br />

Bemühungen um e<strong>in</strong>e Integration der Roma <strong>in</strong> den Ma<strong>in</strong>stream des<br />

165


Andrzej Mirga<br />

politischen und öffentlichen Lebens wirken. Stattdessen<br />

favorisierten sie e<strong>in</strong>e Strategie, die von der Mitgliedschaft der Roma<br />

<strong>in</strong> den politischen Parteien des Ma<strong>in</strong>stream ausgeht. Dazu wurden<br />

positive Beispiele entsprechender Anstrengungen der M<strong>in</strong>derheiten<br />

aus dem Vere<strong>in</strong>igten Königreich angeführt.<br />

Als Antwort auf diese Kritik vertraten die Roma-Abgeordneten die<br />

Ansicht, dass diese Option gegenwärtig <strong>in</strong> Mittel- und Südost<strong>europa</strong><br />

nicht zur Verfügung stehe. Weder seien die Parteien des<br />

Ma<strong>in</strong>stream daran <strong>in</strong>teressiert noch bereit, Politiker der Roma als<br />

Mitglieder aufzunehmen oder Roma-Themen <strong>in</strong> ihrem<br />

Parteiprogramm anzusprechen. Alle<strong>in</strong> die Bereitschaft dieser<br />

Parteien, vor den Wahlen Absprachen mit Organisationen oder<br />

Parteien der Roma zu treffen, sei als Durchbruch zu werten. Die<br />

Parteien des Ma<strong>in</strong>stream seien daran <strong>in</strong>teressiert, e<strong>in</strong>en<br />

kalkulierbaren Anteil der Stimmen der ethnischen M<strong>in</strong>derheit für<br />

sich zu gew<strong>in</strong>nen – was die Organisationen der M<strong>in</strong>derheiten<br />

versprechen; das könne e<strong>in</strong>en Machtgew<strong>in</strong>n für die Politiker der<br />

M<strong>in</strong>derheiten bedeuten.<br />

Die Roma-Geme<strong>in</strong>schaften bildeten immer noch nicht e<strong>in</strong><br />

zuverlässiges Wählerpotenzial und <strong>roma</strong>ni Politiker seien noch nicht<br />

so erfolgreich <strong>in</strong> der Mobilisierung möglicher Wähler wie die<br />

Führungen anderer M<strong>in</strong>derheiten, doch allmählich erkenne man die<br />

Politik des Ma<strong>in</strong>stream und der ethnischen Gruppen besser. Wie<br />

der Abgeordnete der Roma aus Bulgarien jedoch bekannte, kann<br />

sich die Roma-M<strong>in</strong>derheit dort bei der Vertretung und Durchsetzung<br />

ihrer Interessen nicht auf andere starke M<strong>in</strong>derheiten – wie<br />

beispielsweise die Türken – verlassen. Die türkische M<strong>in</strong>derheit sei<br />

im Parlament durch ca. zwanzig Abgeordnete vertreten, habe<br />

Leitungsfunktionen <strong>in</strong> verschiedenen M<strong>in</strong>isterien der Regierung und<br />

viele Türken arbeiteten <strong>in</strong> der staatlichen und kommunalen<br />

Verwaltung. Deshalb stelle man Bulgarien häufig als e<strong>in</strong>e Art Modell<br />

für ethnische Politik dar. Vielleicht funktioniere das Modell ja für die<br />

Türken, aber nicht für die Roma-M<strong>in</strong>derheit, bemerkte dazu der<br />

Redner. Dieser Teilnehmer vertrat den Standpunkt, dass die Roma<br />

ihre Rechte und Interessen alle<strong>in</strong> schützen und umsetzen müssten,<br />

<strong>in</strong>dem sie sich als ethnische M<strong>in</strong>derheit politisch engagieren.<br />

Romani Teilnehmer stellten fest, dass e<strong>in</strong>e Analyse der politischen<br />

Partizipation der Roma <strong>in</strong> der Region seit 1989 zu e<strong>in</strong>igen<br />

<strong>in</strong>teressanten Ergebnissen führe. Erstens seien die Kandidaten der<br />

Roma, die über die Listen ihrer eigenen Organisationen und<br />

Parteien an den nationalen Wahlen teilnähmen, <strong>in</strong> den meisten<br />

Fällen nicht erfolgreich. Diejenigen, die sich den Parteien des<br />

166


ROMA IN EUROPA<br />

Ma<strong>in</strong>stream angeschlossen hätten und dann über deren Listen<br />

kandidierten, hätten eher gesiegt. Zweitens werde die – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

Ländern zahlenmäßig starke Wählerschaft der Roma zunehmend<br />

auch für die Parteien des Ma<strong>in</strong>stream <strong>in</strong> ihrer Suche nach<br />

Wählerstimmen <strong>in</strong>teressant. Dies zeige sich deutlich an der<br />

Bereitschaft dieser Parteien, vor den Wahlen Absprachen mit<br />

Organisationen oder Parteien der Roma zu treffen, und die Roma<br />

profitierten davon, da man sich dadurch Sitze <strong>in</strong> gewählten Gremien<br />

und Ämter <strong>in</strong> der öffentlichen Verwaltung sichere. Drittens sche<strong>in</strong>e<br />

dieselbe Strategie auch auf kommunaler Ebene zu funktionieren;<br />

Roma-M<strong>in</strong>derheiten würden bei jeder neuen Wahl mehr Sitze <strong>in</strong> den<br />

Geme<strong>in</strong>de- und Stadträten gew<strong>in</strong>nen.<br />

F<strong>in</strong>anzierung für Roma-Projekte<br />

Zahlreiche Roma-Teilnehmer sprachen das Thema der EU-<br />

F<strong>in</strong>anzierung für Roma-Projekte an. Sie äußerten sich besorgt<br />

darüber, dass häufig Mittel, die für diese Gruppen vorgesehen oder<br />

die verfügbar seien, nicht die Zielgruppen erreichten, sondern an<br />

besser <strong>in</strong>formierte und besser organisierte Organisationen flössen<br />

und damit nicht unbed<strong>in</strong>gt zugunsten der Roma-Bevölkerung<br />

e<strong>in</strong>gesetzt würden. Wie es e<strong>in</strong> Teilnehmer der Roma formulierte,<br />

blühe „das ethnische Geschäft“. Es wurde auch darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, dass sich die Kritik an der gegenwärtigen<br />

Verwendung der Mittel zur Verbesserung der Lage und<br />

E<strong>in</strong>gliederung der Roma unter den Roma-Organisationen und ihren<br />

führenden Vertretern häufe: Zwar flössen mehr Gelder, aber es<br />

zeige sich ke<strong>in</strong>e Verbesserung der Lage der Roma; das stelle die<br />

Effektivität der EU-Ausgaben <strong>in</strong> Frage. Die Roma-Vertreter<br />

forderten mehr Transparenz <strong>in</strong> der Verwendung der Mittel, vor allem<br />

bei den Ausgaben der Regierungen. Es sollten nicht nur Ausgaben,<br />

sondern auch Folgewirkungen und Ergebnisse überprüft werden.<br />

Als Reaktion auf diese Forderungen und kritischen Äußerungen<br />

widersprach e<strong>in</strong> Vertreter der Kommission der Behauptung, dass<br />

die f<strong>in</strong>anzierten Projekte ke<strong>in</strong>e Ergebnisse gebracht hätten; die<br />

Ergebnisse seien vielleicht nicht ausreichend, aber man habe<br />

durchaus e<strong>in</strong>ige positive Veränderungen vor Ort bewirkt, stellte er<br />

fest. Es wurde auch angemerkt, dass es e<strong>in</strong>e Frage der Qualität der<br />

Projekte sei; gegenwärtig fehle es an guten Roma-Projekten. Dieser<br />

Redner er<strong>in</strong>nerte die Roma-Teilnehmer daran, dass sie sich nicht<br />

nur auf Förderung und F<strong>in</strong>anzierungsmöglichkeiten durch die EU<br />

verlassen sollten – das seien nur ergänzende Mittel. Es sei<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal Aufgabe des e<strong>in</strong>zelnen Mitgliedslandes, sich um<br />

167


Andrzej Mirga<br />

die Probleme der Roma-M<strong>in</strong>derheiten zu kümmern und sie zu<br />

lösen.<br />

Trotzdem räumte e<strong>in</strong> MEP e<strong>in</strong>, dass es sich hierbei um e<strong>in</strong><br />

gravierendes Problem handele, um das sich das Europäische<br />

Parlament kümmern sollte. Er gab zu, dass man die Verwendung<br />

der EU-Gelder verbessern und sicher stellen müsse, dass die Mittel<br />

ihre rechtmäßigen Empfänger erreichen und nicht irgendwo <strong>in</strong><br />

Regierungsbüros hängen bleiben. Er sicherte zu, dass sich das<br />

Parlament darum kümmern werde, dass EU-Hilfe für die Roma-<br />

Bevölkerung auch wirklich ihr Ziel erreiche und zur Umsetzung von<br />

Roma-Projekten zur Verfügung stehe. In diesem Zusammenhang<br />

wies der OSZE-Berater für Angelegenheiten der Roma und S<strong>in</strong>ti auf<br />

den Haushaltsausschuss des EP h<strong>in</strong>, der den Haushalt der<br />

Kommission verabschiede; über diesen Weg könne man E<strong>in</strong>fluss<br />

auf die F<strong>in</strong>anzierungspolitik der EU nehmen.<br />

Aussichten für e<strong>in</strong>e Kooperation mit dem Europäischen<br />

Parlament<br />

Als Antwort auf die Forderung der Roma nach engerer<br />

Zusammenarbeit umriss der Sitzungsvorsitzende und Vertreter des<br />

Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des EP die Formen<br />

möglicher geme<strong>in</strong>samer Anstrengungen. Als Erstes wurde<br />

vorgeschlagen, dass diese Art von Treffen mit gewählten und<br />

ernannten Vertretern der Roma zukünftig regelmäßig stattf<strong>in</strong>den<br />

solle – vielleicht e<strong>in</strong>mal pro Jahr. Die Tagesordnung solcher Treffen<br />

solle um die Thematik der Roma <strong>in</strong> den „alten“ Mitgliedsstaaten der<br />

Europäischen Union erweitert werden und nicht nur die der Roma <strong>in</strong><br />

den neuen Mitgliedsstaaten oder Beitrittsländern behandeln. Auch<br />

Vertreter der Roma aus jenen Ländern sollten daran teilnehmen.<br />

Die am Treffen beteiligten Mitglieder des EP versprachen, alles zu<br />

tun, um die Roma-Thematik <strong>in</strong>nerhalb des Europäischen<br />

Parlaments zu unterstützen und zur Diskussion zu stellen. Es<br />

wurden e<strong>in</strong>ige, zu diesem Zweck besonders nützliche Ausschüsse<br />

genannt, nämlich die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten,<br />

Bürgerrechte, Justiz und Inneres, Regionalentwicklung (für<br />

Strukturfonds zuständig) und Haushaltsfragen.<br />

Die Teilnehmer wurden auch daran er<strong>in</strong>nert, dass die<br />

Verhandlungen zum neuen Programmzeitraum der EU-<br />

Strukturfonds 2007 - 2013 gerade erst beg<strong>in</strong>nen würden und<br />

Mitglieder des EP sich nach möglichen besonderen oder<br />

zusätzlichen Maßnahmen für die Roma erkundigen könnten.<br />

168


ROMA IN EUROPA<br />

Offiziell liege die Roma-Thematik nicht im Zuständigkeitsbereich der<br />

EU-Politik; diesbezüglich gebe es auch gegenwärtig ke<strong>in</strong>e<br />

Änderungsvorschläge <strong>in</strong> der neuen EU-Verfassung. Man könne<br />

aber den Standpunkt vertreten, dass die Roma-M<strong>in</strong>derheit e<strong>in</strong>e<br />

besondere, mit ke<strong>in</strong>er Gruppe vergleichbare M<strong>in</strong>derheit sei. Das<br />

könne vielleicht e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stieg für Initiativen zugunsten der Roma<br />

se<strong>in</strong>. Es wurde vorgeschlagen, dass die Mitglieder des EP bei der<br />

Formulierung der Bed<strong>in</strong>gungen für den Zeitraum 2007-2013 des<br />

Strukturfonds berücksichtigen sollten, wie man die Roma-<br />

Bevölkerung e<strong>in</strong>beziehen oder sicher stellen könne, dass die<br />

Förderung sie erreiche - vor allem <strong>in</strong> den Regionen, wo Roma unter<br />

den allen wohl bekannten schwierigen Umständen lebten.<br />

Die Mitglieder des EP unterstützten auch den Vorschlag der Roma-<br />

Vertreter, e<strong>in</strong> Gremium e<strong>in</strong>zurichten, <strong>in</strong> dem Vertreter der Roma<br />

und der Brüsseler Institutionen zu Kooperation, Koord<strong>in</strong>ierung und<br />

Dialog sowie zur Orientierung und Überprüfung der EU-weiten<br />

Politik gegenüber den Roma-M<strong>in</strong>derheiten zusammenkommen<br />

könnten. Es sei jedoch Aufgabe der Roma, sich darum zu<br />

kümmern. E<strong>in</strong> solches Gremium könne e<strong>in</strong> Gegenpart für das<br />

Europäische Parlament oder sogar für nationale Parlamente<br />

bilden. 30<br />

30 Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 hat sich e<strong>in</strong>e neue<br />

Möglichkeit ergeben, e<strong>in</strong>e Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen zu realisieren,<br />

die <strong>in</strong> den Diskussionen <strong>in</strong> Brüssel zur Sprache kamen. Livia Jaroka, e<strong>in</strong>e junge Rom<br />

aus Ungarn, wurde über die Parteiliste der Fidesz gewählt. Sie wurde damit die zweite<br />

Abgeordnete der Roma im EP nach Juan de Dios Ramirez-Heredia aus Spanien, der<br />

von 1994 - 1999 im Parlament war. Später wurde dann e<strong>in</strong>e weitere Vertreter<strong>in</strong> der<br />

Roma aus Ungarn, Frau Victoria Mohasci, von der Sozialistischen Partei <strong>in</strong>s<br />

Europäische Parlament gewählt.<br />

169


Claude Cahn<br />

Die Rechte der Roma und die<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />

ROMA IN EUROPA<br />

In diesem Aufsatz 1 geht es um die gegenwärtigen Anstrengungen<br />

zur Umsetzung der <strong>in</strong> den letzten Jahren erheblich erweiterten<br />

gesetzlichen Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsnormen sowohl von Seiten der EU<br />

wie auf <strong>in</strong>ternationaler Ebene. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e<br />

Untersuchung <strong>in</strong>sbesondere der aktuellen Auswirkungen dieser<br />

Gesetze auf die Inklusion der Roma und die Bekämpfung der<br />

gegenwärtig starken Ressentiments gegen die Roma <strong>in</strong> Europa<br />

sowie der Aussichten für e<strong>in</strong>e wesentliche Verbesserung der<br />

beunruhigenden Lage vieler Roma-Geme<strong>in</strong>schaften aufgrund<br />

solcher Gesetze. Des weiteren geht es um die Notwendigkeit der<br />

Entwicklung zusätzlicher Rechts<strong>in</strong>strumente, d. h. von<br />

Fördermaßnahmen (positive action measures) bzw. von „für<br />

Staaten verb<strong>in</strong>dliche, rechtliche Maßnahmen, die die Inklusion der<br />

Roma gewährleisten“. Zum Schluss werden e<strong>in</strong>ige Überlegungen<br />

darüber angestellt, welche Grenzen – und Chancen – der<br />

gesellschaftlichen Umgestaltung sich mit der Gesetzgebung<br />

ergeben, vor allem <strong>in</strong> der schwierigen Frage des Rassismus.<br />

Umsetzung der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />

Im Rahmen se<strong>in</strong>er Arbeit beschäftigt sich das Europäische Zentrum<br />

für die Rechte der Roma (ERRC) sehr <strong>in</strong>tensiv mit der Förderung<br />

der Interessenvertreter der Roma; <strong>in</strong> diesem Zusammenhang hatte<br />

ich kürzlich e<strong>in</strong> Erlebnis, dass mir wieder e<strong>in</strong>mal die aktuelle Lage <strong>in</strong><br />

den meisten der Länder, <strong>in</strong> denen das ERRC arbeitet, mit aller<br />

Macht vor Augen führte. Wir sollten vor e<strong>in</strong>er Gruppe von Vertretern<br />

der Roma aus unterschiedlichen Ländern des früheren Jugoslawien<br />

anlässlich e<strong>in</strong>er Schulungsmaßnahme <strong>in</strong> Ohrid, Mazedonien,<br />

referieren, die im Herbst 2004 vom schwedischen Hels<strong>in</strong>ki-<br />

Committee veranstaltet wurde. Nach e<strong>in</strong>igem Nachdenken<br />

entschloss ich mich, kurz e<strong>in</strong>ige der Fälle anzusprechen, die wir<br />

und andere Anwälte im Laufe des Jahres 2004 im Rahmen des<br />

gerade verabschiedeten Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzes <strong>in</strong> Bulgarien<br />

gewonnen hatten.<br />

1 Stand: 30. Mai 2005<br />

171


Claude Cahn<br />

Bei den betreffenden Fällen – damals gab es fünf Siege vor Gericht,<br />

<strong>in</strong>zwischen ist ihre Zahl weiter gestiegen – g<strong>in</strong>g es um für e<strong>in</strong>ige<br />

von uns sicherlich banale D<strong>in</strong>ge. In e<strong>in</strong>em Fall wurde e<strong>in</strong>e Romani<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geschäft für Unterwäsche <strong>in</strong> Sofia nicht bedient. In e<strong>in</strong>em<br />

anderen wurde e<strong>in</strong>em Rom e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stellungsgespräch verweigert,<br />

nachdem er am Telefon dem zukünftigen Arbeitgeber gesagt hatte,<br />

er sei „Zigeuner“ und gefragt hatte, ob das se<strong>in</strong>e Aussichten auf<br />

den Arbeitsplatz bee<strong>in</strong>trächtigen könne. In den anderen Fällen g<strong>in</strong>g<br />

es um die Stromversorgung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von Roma bewohnten<br />

Stadtbezirk Sofias namens Fakulteta. In e<strong>in</strong>em Fall hatte der<br />

Stromversorger allen Anwohnern des Stadtbezirks den Strom<br />

gesperrt, weil e<strong>in</strong>ige der Verbraucher nicht gezahlt hatten. In zwei<br />

Fällen hatte das Versorgungsunternehmen - alle<strong>in</strong> aufgrund der<br />

<strong>roma</strong>ni Herkunft des Kunden - beschlossen, den Stromzähler für die<br />

Wohnung auf e<strong>in</strong>en neun Meter hohen Mast zu <strong>in</strong>stallieren mit dem<br />

Argument, dass der Verbraucher sonst das Gerät manipulieren<br />

würde.<br />

In allen fünf Fallen entschieden die bulgarischen Gerichte, dass die<br />

beklagten Personen oder Unternehmen den<br />

Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt hatten. Sie verurteilten die<br />

Beklagten, die diese ungesetzlichen Handlungen begangen hatten,<br />

zur Zahlung von Entschädigungen an die betreffenden Opfer<br />

aufseiten der Roma.<br />

Noch während ich diese Fälle den ungefähr 25 versammelten<br />

Vertretern der Roma aus dem früheren Jugoslawien vortrug,<br />

machte sich e<strong>in</strong>e merkwürdige Stille im Raum bemerkbar. Ich<br />

übertreibe nicht mit der Feststellung, dass e<strong>in</strong>em oder zweien von<br />

ihnen der Mund offen stehen blieb. Nach dem Vortrag gab es e<strong>in</strong>en<br />

Ansturm an Fragen: Wer hatte die Fälle vor Gericht gebracht? Wie?<br />

Was war passiert, nachdem die Gerichtsurteile ergangen waren?<br />

Die Vorstellung, dass e<strong>in</strong> Rom e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierungsklage gegen<br />

e<strong>in</strong>en Täter, der nicht zu den Roma gehörte, gew<strong>in</strong>nen konnte,<br />

schien den versammelten Roma-Vertretern e<strong>in</strong>fach deshalb an e<strong>in</strong><br />

Wunder zu grenzen, weil es sich dabei zwar um Banalitäten<br />

handelte, aber ke<strong>in</strong>er von ihnen jemals von etwas Ähnlichem<br />

irgendwo sonst gehört hatte. Die bloße Tatsache e<strong>in</strong>er Bestrafung<br />

der Diskrim<strong>in</strong>ierung – von der Art, die Roma tagtäglich überall <strong>in</strong><br />

Europa erleben – schien bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach außerhalb ihrer<br />

Vorstellungskraft zu liegen.<br />

Paradox war an den vor dem Jahr 2000 bestehenden<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsregelungen vor allem, dass sich mit Ausnahme<br />

172


ROMA IN EUROPA<br />

e<strong>in</strong>iger nordeuropäischer Länder wie z. B. des Vere<strong>in</strong>igten<br />

Königreichs, der Niederlande, Irlands und Schwedens die<br />

Verfassungen der meisten europäischen Länder zwar dem hehren<br />

Ideal der Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung deklaratorisch verpflichteten, aber die<br />

meisten Rechtsordnungen entweder gar ke<strong>in</strong>e Regelungen zur<br />

Sanktionierung e<strong>in</strong>es Täters und Entschädigung für das Opfer<br />

enthielten, oder wenn es solche gab, diese außerordentlich<br />

unzulänglich waren. In e<strong>in</strong>igen Fällen musste man die h<strong>in</strong>tersten<br />

Ecken der Gesetze durchforsten, um Implementierungsvorschriften<br />

zu f<strong>in</strong>den. Solche Verfahren waren üblicherweise nicht nur den<br />

Laien, sondern auch den Mitgliedern des Anwaltstandes<br />

vollkommen unbekannt. In anderen Fällen war Diskrim<strong>in</strong>ierung zwar<br />

im Rahmen der Implementierungsgesetzgebung verboten – aber<br />

nur als strafrechtlich relevanter Tatbestand, für den die Vorschriften<br />

bei Zuwiderhandlung u. a. auch Gefängnisstrafen vorsahen. In<br />

jenen Ländern, die Diskrim<strong>in</strong>ierung strafrechtlich verbieten, ist es<br />

zwar allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass Diskrim<strong>in</strong>ierung gegen das Gesetz<br />

verstößt, aber das Vergehen wird nie geahndet, da die Vorstellung,<br />

e<strong>in</strong>en Wirt dafür <strong>in</strong>s Gefängnis zu schicken, dass er e<strong>in</strong>em Zigeuner<br />

e<strong>in</strong> Bier verweigert, <strong>in</strong> den meisten, wenn nicht allen Fällen, e<strong>in</strong>fach<br />

absurd ersche<strong>in</strong>t.<br />

Diese paradoxe Situation hat <strong>in</strong> vielen Gesellschaften fatale<br />

Wirkungen gehabt. E<strong>in</strong>erseits unterstützt es verachtete<br />

M<strong>in</strong>derheiten wie die Roma und andere Diskrim<strong>in</strong>ierungsopfer <strong>in</strong><br />

den meisten Ländern Kont<strong>in</strong>ental<strong>europa</strong>s <strong>in</strong> ihrer Me<strong>in</strong>ung, dass<br />

ihre Gesellschaften im Grunde zutiefst heuchlerisch handeln: Zwar<br />

wird auf höchster Ebene der Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung Tribut gezollt,<br />

aber gleichzeitig unterstützen die Regierungen ihrer Länder<br />

praktisch e<strong>in</strong> System, <strong>in</strong> dem Diskrim<strong>in</strong>ierung une<strong>in</strong>geschränkt<br />

geduldet wird. Dabei lassen sich die privilegierten Mitglieder der<br />

Nicht-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der Gesellschaft durch die Vorstellung<br />

beruhigen, dass ihre Gesellschaft nicht nur gerecht, sondern<br />

irgendwie fast ohne Tadel ist, weil das Gesetz besagt, dass ke<strong>in</strong>e<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung möglich ist und weil niemand dafür bestraft wird.<br />

Abgesehen von der fundamentalen Ungerechtigkeit, die daraus für<br />

Tausende von Menschen <strong>in</strong> Europa tagtäglich entsteht, schreibt die<br />

bestehende Ordnung den sozialen Konflikt fest, ja sie verstärkt ihn<br />

noch, wenn zu Parias gewordene M<strong>in</strong>derheiten aufgrund<br />

regelmäßiger Benachteiligung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand tiefster<br />

Entfremdung fallen – voller Skepsis, ob ihnen jemals e<strong>in</strong> gutes<br />

Leben <strong>in</strong> ihren eigenen Gesellschaften offen stehen wird.<br />

173


Claude Cahn<br />

Die Ausbreitung der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung <strong>in</strong><br />

Europa<br />

Offensichtlich aus der Überzeugung heraus, dass der oben<br />

beschriebene Zustand unhaltbar war, ergriffen sowohl der<br />

Europarat wie auch die Europäische Union im Jahr 2000<br />

Maßnahmen, die allmählich die Gesellschaften Europas zu<br />

verändern beg<strong>in</strong>nen, wenn auch nicht so schnell, wie e<strong>in</strong>ige es<br />

gehofft hatten. Im Juni 2000 verabschiedete die Europäische Union<br />

die Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000 des Rates zur „Verwirklichung des<br />

Grundsatzes der Gleichbehandlung bei Personen ohne Unterschied<br />

der Rasse oder ethnischen Herkunft“. Im November 2000 machte<br />

der Europarat das Protokoll 12 zur Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention unterschriftsreif. Beides war der<br />

Schlusspunkt unter e<strong>in</strong>em Jahrzehnt der Entwicklungen sowohl<br />

<strong>in</strong>nerhalb dieser Institutionen wie auch auf der Ebene nationaler<br />

Regierungen und der Zivilgesellschaft, die dem alarmierenden<br />

Wiederaufflammen e<strong>in</strong>es hässlichen Rassismus <strong>in</strong> Europa<br />

begegnen wollten, <strong>in</strong>dem sie wesentliche Defizite der europäischen<br />

Rechtsordnungen korrigierten.<br />

Das Protokoll 12 erweitert das Diskrim<strong>in</strong>ierungsverbot im Rahmen<br />

der Europäischen Konvention (d.h. <strong>in</strong> allen Mitgliedsstaaten des<br />

Europarates) so, dass die Realisierung jedes gesetzlich<br />

geschützten Rechtes e<strong>in</strong>geschlossen ist. Das bestehende Verbot<br />

im Rahmen des Artikels 14 der Europäischen Konvention bezieht<br />

sich nur auf die Verwirklichung der <strong>in</strong> der Europäischen Konvention<br />

selber aufgeführten Rechte. Als es unterschriftsreif war,<br />

unterzeichneten 25 Länder das Protokoll 12, das bisher von 11<br />

Ländern ratifiziert wurde. Es trat am 1. April 2005 <strong>in</strong> Kraft.<br />

Von vielleicht noch größerer Wirkung war die Verabschiedung der<br />

EU-Richtl<strong>in</strong>ie 43/2000, e<strong>in</strong>em Dokument, das wir <strong>in</strong>zwischen<br />

üblicherweise als „Anti-Rassismusrichtl<strong>in</strong>ie“ oder<br />

„Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie“ bezeichnen. Richtl<strong>in</strong>ien s<strong>in</strong>d für die<br />

Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich und müssen <strong>in</strong><br />

nationale Gesetzgebung übernommen werden. E<strong>in</strong>e Übernahme<br />

wird auch von allen Beitrittskandidaten gefordert. Die Anti-<br />

Rassismusrichtl<strong>in</strong>ie beschreibt ausführlich die Bed<strong>in</strong>gungen für den<br />

Schutz, der allen Personen gewährt werden soll. Dabei geht es u.<br />

a.um Folgendes:<br />

• In zahlreichen Bereichen, u. a. bei Beschäftigung, Bildung und<br />

Ausbildung sowie bei Gesundheitsversorgung,<br />

174


ROMA IN EUROPA<br />

Wohnungswesen, Sozialdienste und –leistungen darf es ke<strong>in</strong>e<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung geben.<br />

• Das Verbot muss sich sowohl auf e<strong>in</strong>e „unmittelbare“ wie<br />

„mittelbare“ Diskrim<strong>in</strong>ierung erstrecken. Nach der Richtl<strong>in</strong>ie<br />

„liegt e<strong>in</strong>e unmittelbare Diskrim<strong>in</strong>ierung vor, wenn e<strong>in</strong>e Person<br />

aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

vergleichbaren Situation e<strong>in</strong>e weniger günstige Behandlung als<br />

e<strong>in</strong>e andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“<br />

„E<strong>in</strong>e mittelbare Diskrim<strong>in</strong>ierung“ ist nach der Richtl<strong>in</strong>ie<br />

verboten und liegt vor, „wenn dem Ansche<strong>in</strong> nach neutrale<br />

Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die e<strong>in</strong>er<br />

Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, <strong>in</strong> besonderer<br />

Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden<br />

Vorschriften, Kriterien oder Verfahren s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong><br />

rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel s<strong>in</strong>d zur<br />

Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“.<br />

• Wenn im Streitfall e<strong>in</strong>e Partei Tatsachen glaubhaft machen<br />

kann, die e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung vermuten lassen, obliegt die<br />

Beweislast dem mutmaßlichen Täter, der beweisen muss,<br />

dass ke<strong>in</strong>e Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />

vorgelegen hat. (Gerade diese Vorschrift beseitigt e<strong>in</strong>es der<br />

zentralen Ärgernisse <strong>in</strong> jedem Streitfall zur<br />

Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, nämlich der Anforderung, dass das<br />

mutmaßliche Opfer den Schaden nach hohen<br />

Beweisstandards glaubhaft machen muss, selbst wenn sich<br />

e<strong>in</strong> Großteil, wenn nicht alle Beweise für die Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

im Besitz des Täters bef<strong>in</strong>den).<br />

• Die Gesetzgebung muss Sanktionen vorsehen, die „wirksam,<br />

verhältnismäßig und abschreckend“ s<strong>in</strong>d. Es kann sich dabei<br />

auch um Geldbußen handeln.<br />

Die Richtl<strong>in</strong>ie sieht e<strong>in</strong>e Anzahl weiterer Vorschriften vor, u. a. dass<br />

Mitgliedsstaaten „e<strong>in</strong>e oder mehrere Stellen bezeichnen, deren<br />

Aufgabe dar<strong>in</strong> besteht, die Verwirklichung des Grundsatzes der<br />

Gleichbehandlung aller Personen ohne Diskrim<strong>in</strong>ierung aufgrund<br />

der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu fördern“.<br />

Die Union legte den endgültigen Term<strong>in</strong> für die Übernahme der<br />

Richtl<strong>in</strong>ie durch die EU-Mitgliedsstaaten auf Juli 2003 fest. Für<br />

Staaten, die der Europäischen Union im Mai 2004 beigetreten s<strong>in</strong>d,<br />

wurde der Stichtag auf den Beitrittsterm<strong>in</strong> gelegt, aber die Union hat<br />

175


Claude Cahn<br />

Bulgarien und Rumänien aktiv ermuntert, umfassende<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze schon vor dem Beitritt zu<br />

verabschieden und wird wahrsche<strong>in</strong>lich auch bei den folgenden<br />

Beitrittskandidaten ähnlich verfahren. Tatsächlich haben Bulgarien<br />

und Rumänien schon e<strong>in</strong>ige Zeit vor dem Beitritt zur EU<br />

entsprechende Gesetze verabschiedet – und Rumänien hat <strong>in</strong> der<br />

Zwischenzeit se<strong>in</strong>e Gesetze schon e<strong>in</strong>ige Male durch Änderungen<br />

verschärft. E<strong>in</strong>ige Mitgliedsstaaten der EU, z. B. die Tschechische<br />

Republik, Polen, F<strong>in</strong>nland, Deutschland und Griechenland, haben<br />

es bisher noch nicht oder nur teilweise geschafft, die Richtl<strong>in</strong>ie <strong>in</strong><br />

nationales Gesetz zu übernehmen, sodass die Europäische<br />

Kommission <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> Verfahren wegen Vertragsverletzung<br />

gegen sie e<strong>in</strong>geleitet hat. Das könnte letzten Endes zu Sanktionen<br />

führen, die die Kommission verhängt, falls der Europäische<br />

Gerichtshof <strong>in</strong> Luxemburg dies für angemessen hält. Andere<br />

Länder, die e<strong>in</strong>e EU-Mitgliedschaft anstreben wie z. B. Mazedonien,<br />

haben noch ke<strong>in</strong>e ernsthafte Debatte über das Thema angestoßen;<br />

Me<strong>in</strong>ungen wie „<strong>in</strong> Mazedonien gibt es ke<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung“ oder<br />

„die Verfassung verbietet Diskrim<strong>in</strong>ierung und das reicht“ herrschen<br />

noch immer vor. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Positionen<br />

schnell aufgegeben werden, sobald die EU ihre Anforderungen<br />

bekannt macht und die Unzulänglichkeit der bestehenden<br />

Rechtsvorschriften sichtbar wird.<br />

Es lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau sagen, wie sich<br />

diese Gesetze auf jene europäischen Gesellschaften auswirken<br />

werden, die bisher noch ke<strong>in</strong>e Erfahrung mit der Anwendung von<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen haben. In e<strong>in</strong>igen Ländern s<strong>in</strong>d die<br />

ersten Entwicklungen deprimierend. Z. B. hat Ungarn zwar im<br />

Dezember 2003 e<strong>in</strong>e umfangreiche<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung verabschiedet - offensichtlich,<br />

um der EU-Richtl<strong>in</strong>ie Genüge zu tun. Aber bis zum Tag der<br />

Niederschrift des Beitrags ist es dem Land nicht gelungen, die vom<br />

Gesetz vorgesehene Gleichbehandlungskommission e<strong>in</strong>zurichten,<br />

sodass die Umsetzung nur langsam vonstatten g<strong>in</strong>g. In e<strong>in</strong>em der<br />

ersten Fälle, die im Rahmen des Gesetzes zur Verhandlung<br />

anstanden – bei dem es nicht um Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, sondern<br />

um e<strong>in</strong>en Fall g<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e katholische Universität e<strong>in</strong>em<br />

Studenten e<strong>in</strong> Diplom verweigert hatte, weil er homosexuell war –<br />

kam e<strong>in</strong> Gericht der ersten Instanz zu dem schockierenden<br />

Ergebnis, dass es sich dabei nicht um Diskrim<strong>in</strong>ierung gehandelt<br />

habe. Auf verschiedenen Konferenzen mit Mitgliedern des<br />

ungarischen Richterstandes zeigte sich, dass viele Vertreter des<br />

Rechts <strong>in</strong> Ungarn erhebliche Bedenken gegen die Anwendung des<br />

176


ROMA IN EUROPA<br />

Gesetzes hegten. Probleme <strong>in</strong> der Umsetzung zeigten sich auch <strong>in</strong><br />

Rumänien.<br />

Aus genau diesem Grunde ist der stete Fluss positiver<br />

Gerichtsurteile aus Bulgarien so begrüßenswert. Trotz e<strong>in</strong>iger von<br />

den bulgarischen Gesetzgebern und Rechtsexperten vorgebrachten<br />

Argumente, dass die (damals) vorgeschlagenen Vorschriften<br />

unangemessen seien (hauptsächlich aufgrund der falschen<br />

Vorstellung, dass Anti-Diskrim<strong>in</strong>ierung e<strong>in</strong> den kont<strong>in</strong>entalen<br />

Rechtssystemen fremdes Element darstelle und deshalb auch nicht<br />

dar<strong>in</strong> verankert werden könne), haben es bulgarische Gerichte mit<br />

Leichtigkeit geschafft, <strong>in</strong> den meisten, wenn nicht allen der<br />

e<strong>in</strong>gebrachten Fälle Gerechtigkeit herzustellen. Die oben<br />

beschriebenen Urteile bestanden meistens aus e<strong>in</strong>er Geldstrafe für<br />

den Täter und Schadensersatz für die Opfer. Diese Gerichtsurteile<br />

gehen als Höhepunkte der europäischen Rechtsprechung bei<br />

Rassendiskrim<strong>in</strong>ierungsfällen <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong> – ebenso wie<br />

das Urteil e<strong>in</strong>es irischen Gerichts, das e<strong>in</strong>en Kneipenwirt für<br />

„moralisch ungeeignet“ zur Führung e<strong>in</strong>er Bar bezeichnete, weil er<br />

fahrendes Volk diskrim<strong>in</strong>ierte, sowie das schwedische Urteil, das<br />

Ladenbesitzern das Recht absprach, Frauen der Roma <strong>in</strong><br />

traditionellen langen Röcken des Ladens zu verweisen, nur weil sie<br />

Angst haben, dass die Frauen darunter gestohlene Ware<br />

verstecken könnten.<br />

Diese Urteile haben nicht nur e<strong>in</strong>e Wirkung auf die Opfer, die<br />

gerecht entschädigt werden und auf die Täter, die bestraft werden.<br />

Die Öffentlichkeit erfährt dadurch außerdem, dass Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

nicht nur grundsätzlich schlecht ist, sondern dass auch die<br />

Merkmale der verbotenen Handlungen klar festgelegt s<strong>in</strong>d und man<br />

zur Rechenschaft gezogen wird, sobald man gegen die Regeln<br />

verstößt. Viele Beobachter haben schon feststellen können, dass im<br />

Laufe der Zeit e<strong>in</strong>e umfassende Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung<br />

– vor allem wenn sie gut umgesetzt wird – e<strong>in</strong> Anstoß se<strong>in</strong> kann für<br />

die wichtige Debatte über die Rolle der Rassengleichheit <strong>in</strong> der<br />

Gesellschaft und über die Grenzen der zumutbaren Behandlung<br />

anderer Menschen. So gesehen können diese Gesetze sehr viel<br />

stärker aufklärend wirken als Programme oder Sem<strong>in</strong>are zum<br />

„Toleranztra<strong>in</strong><strong>in</strong>g“ oder ähnliche Maßnahmen.<br />

Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, dass<br />

solche Gesetze und Urteile, <strong>in</strong> denen sie sich widerspiegeln, den<br />

mutigen und ehrgeizigen Mitgliedern der Paria-M<strong>in</strong>derheit Kraft<br />

geben, sich vehement für die Inklusion e<strong>in</strong>zusetzen und sich der<br />

Behandlung rassischer Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> den Weg zu stellen, die<br />

177


Claude Cahn<br />

gegenwärtig so unbekümmert und gedankenlos als Norm im Leben<br />

europäischer Gesellschaften praktiziert wird. Sie stärken damit das<br />

Element der Gerechtigkeit <strong>in</strong> den europäischen Gesellschaften und<br />

kratzen am falschen Bild des „untadeligen Verhaltens“ unter den<br />

selbstgefälligeren von ihnen. Gleichzeitig fühlen sich dadurch jene<br />

unangenehm berührt, die sich an e<strong>in</strong>e überzogene Vorstellung<br />

kollektiver Unschuld gewöhnt haben; dieses Unbehagen ist aber<br />

durchaus von Vorteil - ebenso wie die Herstellung von Gerechtigkeit<br />

für die gesamte Gesellschaft von Nutzen ist.<br />

Jenseits der Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung: für die<br />

Staaten verb<strong>in</strong>dliche, rechtliche Maßnahmen zur gesicherten<br />

Inklusion der Roma<br />

Aber natürlich ist e<strong>in</strong>e umfassende<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den EU-<br />

Standards nicht das Allheilmittel. Es geht dabei nicht so sehr<br />

darum, dass die oben beschriebenen gesetzlichen<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsvorschriften nicht notwendig s<strong>in</strong>d. Tatsächlich<br />

wirken sie wie Wasser <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er endlosen Wüste für viele – z. B. die<br />

Roma-Vertreter <strong>in</strong> Ohrid -, denen es zunächst um Möglichkeiten<br />

geht, die jahrhundertelange tagtägliche Ungerechtigkeit<br />

e<strong>in</strong>zudämmen und rückgängig zu machen. Vielmehr beschäftigt<br />

jene, die sich mit Fragen der Rechte der Roma ause<strong>in</strong>ander setzen,<br />

e<strong>in</strong> anderes Problem häufig sehr viel mehr: Reichen diese Gesetze<br />

aus, um die Lage wirklich langfristig zu ändern nicht nur für Roma,<br />

die tagtäglich e<strong>in</strong>er demütigenden Behandlung ausgesetzt werden,<br />

weil sie von Nicht-Roma als „Zigeuner“ wahrgenommen werden,<br />

sondern können damit auch die vielen extrem marg<strong>in</strong>alisierten<br />

Roma, die sich <strong>in</strong> unterschiedlichen Stadien langfristiger sozialer<br />

Ausgrenzung und Armut – praktisch über Generationen – bef<strong>in</strong>den,<br />

damit aus dieser Lage befreit und unter Achtung ihrer Würde <strong>in</strong> die<br />

Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert werden?<br />

Es gibt <strong>in</strong> der Slowakei – aber nicht nur dort – e<strong>in</strong>ige Hundert<br />

außerordentlich heruntergekommene Slumsiedlungen der Roma.<br />

Sie zeichnen sich durch extreme Verwahrlosung aus. Es fehlen für<br />

gewöhnlich e<strong>in</strong>e oder mehrere der folgenden<br />

Versorgungsleistungen: Strom, Heizung, Versorgung mit<br />

Tr<strong>in</strong>kwasser, Abwasser- und/oder Müllentsorgung,<br />

Straßenbeleuchtung, Fußgängerwege, gepflasterte Straßen und<br />

E<strong>in</strong>beziehung <strong>in</strong> die öffentlichen Verkehrssysteme. Sie bef<strong>in</strong>den<br />

sich außerdem häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>iger Entfernung von Schulen,<br />

Krankenhäusern und kommunalen oder anderen öffentlichen<br />

178


ROMA IN EUROPA<br />

Behörden. Die Nichtzustellung der Post hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen dazu<br />

geführt, dass die Bewohner solcher Siedlungen nicht rechtzeitig vor<br />

Gericht erschienen, nicht erfuhren, dass sie e<strong>in</strong> Stipendium<br />

gewonnen hatten oder ganz e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Nachricht von ihnen<br />

nahestehenden Personen erhielten. E<strong>in</strong>ige, wie die Siedlung<br />

Patoracka <strong>in</strong> der Nähe von Rudn’any, s<strong>in</strong>d extrem gefährlich;<br />

Patoracka bef<strong>in</strong>det sich am Ende e<strong>in</strong>er ehemaligen<br />

Quecksilberm<strong>in</strong>e.<br />

Worum es <strong>in</strong> den slowakischen Siedlungen geht, ist aber nicht nur<br />

e<strong>in</strong>e vorübergehende materielle Verelendung. Die Lage kompliziert<br />

sich zudem durch extreme Ressentiments der nicht-<strong>roma</strong>ni<br />

Slowaken gegen die Roma und durch e<strong>in</strong>en Grad der Verzweiflung<br />

und Verwahrlosung, der so extrem ist, dass es im Februar 2004 zu<br />

Aufständen der Roma kam. Die Unruhen wurden durch Änderungen<br />

im Sozialhilfegesetz ausgelöst, die e<strong>in</strong>e weitere Senkung der<br />

sowieso schon niedrigen Sozialleistungen vorsahen, ohne ernsthaft<br />

andere E<strong>in</strong>kommensmöglichkeiten <strong>in</strong> Aussicht zu stellen. Nach den<br />

Unruhen schrieb Ingrid Antalova, Leiter<strong>in</strong> der<br />

Nichtregierungsorganisation Milan-Simecka-Stiftung mit Sitz <strong>in</strong><br />

Bratislava, folgenden Artikel <strong>in</strong> der slowakischen Tageszeitung<br />

SME. Ich zitiere hier ausführlich aus ihrem Artikel, um e<strong>in</strong> Gefühl<br />

von den Problemen zu vermitteln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft zutage<br />

treten, <strong>in</strong> der sich diese Probleme verhärtet haben und wo sich<br />

Menschen guten Willens, die sich mit den Rechten der Roma<br />

beschäftigen, fragen, ob das gerade erlassene<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetz der Slowakei wirklich alle auftretenden<br />

Probleme bewältigen kann:<br />

Die Plünderungen und Unruhen <strong>in</strong> den Siedlungen waren<br />

e<strong>in</strong> Ausdruck der Wut. Jetzt folgen Hoffnungslosigkeit,<br />

Verzweiflung und Hunger. Schon seit geraumer Zeit ist<br />

Hunger e<strong>in</strong> ständiges Problem <strong>in</strong> den Roma-Siedlungen.<br />

Selbst jene Familien, denen es bisher trotz ihrer<br />

Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung gelang, ihre<br />

Mittel so aufzuteilen, dass sie den ganzen Monat zu essen<br />

hatten, bef<strong>in</strong>den sich jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ernsten f<strong>in</strong>anziellen<br />

Notlage.<br />

Ich telefonierte mit e<strong>in</strong>igen me<strong>in</strong>er Freunde <strong>in</strong> den Roma-<br />

Siedlungen, e<strong>in</strong>er jungen Familie mit drei K<strong>in</strong>dern. Diese<br />

Familie erhielt bisher 10.500 slowakische Kronen im Monat<br />

und war die e<strong>in</strong>zige Familie <strong>in</strong> der Siedlung (mit Ausnahme<br />

der wucherischen Geldverleiher), der es gelang, jeden<br />

Monat 3.000 Kronen auf die Bank zu br<strong>in</strong>gen. Sie sparten<br />

179


Claude Cahn<br />

180<br />

für e<strong>in</strong>en neuen Schrank und e<strong>in</strong> neues Bett für e<strong>in</strong> seit<br />

Langem versprochenes neues Haus. Natürlich wird es ke<strong>in</strong><br />

neues Haus geben. Man hätte vor zwei Jahren mit dem<br />

Bau beg<strong>in</strong>nen sollen, kam aber nie über e<strong>in</strong>ige<br />

Versprechungen und Landvermessungen h<strong>in</strong>aus. Es gab<br />

ke<strong>in</strong> Geld für das Projekt und im darauf folgenden Jahr<br />

konnten die Mittel nicht mehr e<strong>in</strong>gesetzt werden, da das<br />

Baum<strong>in</strong>isterium irgendwie „vergessen“ hatte, sie im<br />

nächsten Haushalt e<strong>in</strong>zustellen. Mit Unterstützung unserer<br />

Sozialarbeiter war es der Familie gelungen, ihren Sohn <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er „normalen“ (d.h. weißen) Schule unterzubr<strong>in</strong>gen. Im<br />

selben Jahr fand die Mutter e<strong>in</strong>e verantwortungsvolle<br />

Tätigkeit, <strong>in</strong>dem sie die Erstklässler morgens abholte, zur<br />

Schule brachte und dem Lehrer beim Unterricht half. Aber<br />

jetzt werden sie ke<strong>in</strong> Geld mehr sparen: Nach den<br />

Änderungen erhalten sie nur noch 4.700 slowakische<br />

Kronen im Monat und müssen deshalb auf ihre Ersparnisse<br />

zurückgreifen, um genug zum Leben zu haben. Der Sohn<br />

geht auf die weiße Schule und muss adrett gekleidet se<strong>in</strong>;<br />

dafür wird er Unterstützung brauchen. Der Vater bereitet<br />

sich gerade auf se<strong>in</strong>e Abreise <strong>in</strong> die Tschechische Republik<br />

vor, um dort zu arbeiten.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Familie ist nicht e<strong>in</strong> solcher „Modellfall“. Es<br />

gibt zehn K<strong>in</strong>der und bisher erhielt die Familie monatlich<br />

20.000 Kronen. Selbst das reichte nie. Wenn alle K<strong>in</strong>der<br />

schon zehn Tage vor der Auszahlung der nächsten<br />

Sozialhilfe Hunger litten, waren die Kredithaie nur zu gern<br />

bereit zu „helfen“. Obwohl sie wirklich zu denen gehörten,<br />

die am schlimmsten dran waren, konnten wir sie<br />

überreden, den ältesten Sohn zur Schule zu schicken. Jetzt<br />

erhalten sich nur noch 9.000 Kronen im Monat. Ihre erste<br />

Sparmaßnahme wird dar<strong>in</strong> bestehen, den ältesten Sohn<br />

von der Schule zu nehmen. Das Stipendium unserer<br />

Stiftung reicht nicht, um alle se<strong>in</strong>e Ausgaben zu f<strong>in</strong>anzieren<br />

und er kann (und will) nicht das Familiene<strong>in</strong>kommen weiter<br />

belasten. Jedes Familienmitglied erhält 750 Kronen<br />

monatlich. Kann man davon leben?<br />

Unterstützungsleistungen, die für den Arbeitsmarkt<br />

qualifizieren sollen, br<strong>in</strong>gen weitere 200 Kronen pro Kopf.<br />

Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei die Tatsache,<br />

dass die Familie für ihre Lehmhütte noch nicht e<strong>in</strong>mal Miete<br />

zahlen muss und auch nicht für das Wasser aus dem Fluss<br />

zum Tr<strong>in</strong>ken zahlt.


ROMA IN EUROPA<br />

Wir haben gerade u. a. e<strong>in</strong> Stipendienprojekt für K<strong>in</strong>der aus<br />

benachteiligten Familien laufen. Ich will gar nicht wissen,<br />

wie viele K<strong>in</strong>der nach diesen Änderungen der Sozialhilfe<br />

nicht mehr zur Schule gehen werden. Warum machen wir<br />

ke<strong>in</strong>e Unterschiede <strong>in</strong> diesen Fällen? Warum helfen wir<br />

nicht jenen Familien, die sich wirklich bemühen und ihre<br />

K<strong>in</strong>der tatsächlich zur Schule schicken? Die neue Reform<br />

wird diese Eltern genauso treffen wie jene, die sich gar<br />

nicht um ihre K<strong>in</strong>der kümmern, die noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

wissen, wie viele K<strong>in</strong>der sie haben. Es soll hier ke<strong>in</strong>eswegs<br />

verheimlicht werden, dass es auch solche Familien gibt.<br />

Ich bezweifele nicht, dass die Reform (des<br />

Sozialhilfegesetzes) kommen musste. Die Reform war<br />

nötig, sie hätte früher kommen und schon seit Langem<br />

umgesetzt werden sollen. Eben weil die Reform nicht vor<br />

Jahren angepackt wurde, haben wir – das heißt der Staat –<br />

diese Familien noch abhängiger von Sozialleistungen<br />

gemacht. Durch die neue Reform wirkt diese plötzliche<br />

„Therapie“ wie e<strong>in</strong> Schock und hat zu sehr traurigen<br />

Ergebnissen geführt. Die Lehrer <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en Dörfern<br />

wissen, wie hungrige K<strong>in</strong>der aussehen: die Art und Weise,<br />

wie sie auf alles <strong>in</strong> ihren Händen herumknabbern; ihr<br />

aggressives Verhalten; ihre fehlende<br />

Konzentrationsfähigkeit. Nunmehr werden diese K<strong>in</strong>der<br />

nicht mehr nur e<strong>in</strong>ige Tage hungrig se<strong>in</strong>, sondern e<strong>in</strong>e<br />

ganze Woche lang, bis wieder Sozialhilfe ausgezahlt wird.<br />

Die extremen Verhältnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen der ostslowakischen<br />

Siedlungen der Roma – Orte wie Hermanovce, Letanovce, Sv<strong>in</strong>ia<br />

und Jarovnice – veranlassten die Europäische Union nach e<strong>in</strong>em<br />

Besuch des damaligen Kommissars für die Erweiterung Günther<br />

Verheugen im Jahr 1999 dazu, die Mittel für Infrastruktur <strong>in</strong> den<br />

slowakischen Siedlungen der Roma im Rahmen des Phare-<br />

Programms für Beitrittsländer erheblich aufzustocken. Das erste<br />

größere Projekt für Roma-Siedlungen <strong>in</strong> der Slowakei wurde <strong>in</strong> das<br />

Phare-Programm für 2001 aufgenommen. In der ersten Phase sah<br />

Phare 2001 sowohl Infrastrukturmaßnahmen <strong>in</strong> den Roma-<br />

Kommunen wie auch Leistungen für die angrenzenden Standorte<br />

der Nicht-Roma <strong>in</strong> 30 Geme<strong>in</strong>den der Slowakei vor. Phare 2001<br />

plante dafür 10 Millionen Euro als EU-Beitrag e<strong>in</strong>, der durch 8<br />

Millionen Euro des slowakischen Staates aufgestockt werden sollte.<br />

Das war e<strong>in</strong>e der größten Zuwendungen für Roma-spezifische<br />

Projekte, die es bislang jemals irgendwo gegeben hat.<br />

181


Claude Cahn<br />

Nach Auskunft der EU-Vertretung <strong>in</strong> Bratislava wurden die<br />

Auswirkungen des 2001-Programms von Phare bis zum frühen<br />

Dezember 2004 noch nicht offiziell ausgewertet. Es war noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal klar, ob die EU-Vertretung überhaupt e<strong>in</strong>e förmliche<br />

Auswertung der im Rahmen von Phare 2001 gelaufenen Projekte<br />

beabsichtigt, da das Büro der Vertretung bald geschlossen wird und<br />

e<strong>in</strong>ige Mitarbeiter der Vertretung andeuteten, dass es nicht Aufgabe<br />

der EU se<strong>in</strong> könne, irgend etwas anderes als die Rechtmäßigkeit<br />

der Verträge zu überwachen (die offizielle Projektaufsicht liegt nach<br />

Auskunft dieser EU-Mitarbeiter beim Baum<strong>in</strong>isterium). Es deutet<br />

jedoch alles darauf h<strong>in</strong>, dass die Umsetzung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Geme<strong>in</strong>den<br />

sehr schlecht gelaufen ist. E<strong>in</strong> Dorf (Sv<strong>in</strong>ia) verweigerte sich von<br />

Anfang an. Andere haben ansche<strong>in</strong>end Projekte entweder planlos<br />

oder unwirtschaftlich durchgeführt und/oder Gelder veruntreut. Es<br />

gibt e<strong>in</strong> ständiges frustriertes Gemurmel grundsätzlicher Art<br />

vonseiten der nicht-slowakischen Mitarbeiter aus der EU-Vertretung<br />

<strong>in</strong> Bratislava <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass ke<strong>in</strong>s der Projekte gut laufe.<br />

Das Monitor<strong>in</strong>g der slowakischen Phare-2001 Infrastruktur <strong>in</strong> den<br />

Roma-Geme<strong>in</strong>den und anderer EU-f<strong>in</strong>anzierter Projekte wirft die<br />

Frage auf, <strong>in</strong>wieweit Mittel der EU-Kommission und anderer Quellen<br />

– zusammen mit den Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzen zur Umsetzung<br />

der Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie – alle<strong>in</strong> schon ausreichen, um e<strong>in</strong>e<br />

Inklusion der Roma <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten.<br />

Erfahrungen mit den Auswirkungen von Projekten wie Phare 2001<br />

haben verschiedentlich die Forderung nach rechtlichen<br />

Maßnahmen auf der Ebene der EU laut werden lassen, um die<br />

Inklusion der Roma für alle Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />

vorzuschreiben.<br />

Gegenwärtig liegen e<strong>in</strong>ige Vorschläge auf dem Tisch, wie man die<br />

Rechts<strong>in</strong>strumente auf EU-Ebene weiterentwickeln könnte. Es geht<br />

dabei um e<strong>in</strong>e EU-Gesetzgebung, die entweder Fördermaßnahmen<br />

zugunsten der Roma oder benachteiligter Gruppen im allgeme<strong>in</strong>en<br />

zw<strong>in</strong>gend vorschreibt. Dabei handelt es sich <strong>in</strong>sbesondere um<br />

Folgendes:<br />

1. In se<strong>in</strong>em „Bericht für 2003 zur Lage der Grundrechte <strong>in</strong> der<br />

Europäischen Union“ vom Januar 2004, der aber erst am 26.<br />

Mai 2004 veröffentlicht wurde, empfiehlt das EU-Netzwerk<br />

unabhängiger Grundrechtsexperten die Annahme e<strong>in</strong>er<br />

182


ROMA IN EUROPA<br />

„Richtl<strong>in</strong>ie, die explizit die Integration der Roma fördert“. 2 Das<br />

EU-Netzwerk unabhängiger Grundrechtsexperten ist e<strong>in</strong><br />

angesehenes Gremium, das auf Beschluss des Europäischen<br />

Parlamentes von der Europäischen Kommission e<strong>in</strong>gerichtet<br />

wurde mit dem Auftrag, die Lage der Grundrechte <strong>in</strong> den<br />

Mitgliedsstaaten und <strong>in</strong> der Union zu überwachen. Das<br />

Gremium setzt sich aus führenden Juristen aller EU-<br />

Mitgliedsstaaten zusammen.<br />

In der Darlegung der Gründe für e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie stellt das<br />

EU-Expertennetzwerk zunächst fest, dass „das Konzept e<strong>in</strong>es<br />

umfassenden Auftrags [...] vor allem auf die besondere Lage<br />

von Geme<strong>in</strong>schaften e<strong>in</strong>gehen sollte, die unter Bed<strong>in</strong>gungen<br />

der Segregation leben, abgeschnitten von der restlichen<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Fällen, wo ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>kommen<br />

e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis zur Benutzung kostenpflichtiger Verkehrsmittel<br />

darstellen. Dies trifft <strong>in</strong>sbesondere auf die Lage der Roma <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen Staaten zu“.<br />

Im Bericht heißt es dann weiter: „Der wichtigste Beitrag, den die<br />

Europäische Geme<strong>in</strong>schaft zum Schutz von M<strong>in</strong>derheiten<br />

<strong>in</strong>nerhalb ihrer Zuständigkeiten leisten könnte, wäre die<br />

Verabschiedung e<strong>in</strong>er Richtl<strong>in</strong>ie, die explizit die Integration der<br />

Roma fördert. Die Stellungnahmen des Beratenden<br />

Ausschusses zum Rahmenübere<strong>in</strong>kommen zum Schutz<br />

nationaler M<strong>in</strong>derheiten lassen ke<strong>in</strong>en Zweifel an den Defiziten<br />

der Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG vom 29. Juni 2000, selbst wenn sie<br />

den Schutz der Roma gegen jede Form der Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />

aufgrund der Mitgliedschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe<br />

vorsieht. Der dr<strong>in</strong>gende Appell, e<strong>in</strong>e gesonderte Richtl<strong>in</strong>ie auf<br />

der Grundlage von Artikel 13 EG zur Förderung der Integration<br />

der Roma zu beschließen, begründet sich nicht nur durch die<br />

ernste Besorgnis, die <strong>in</strong> den Auswertungsberichten zur Lage<br />

dieser M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Mitgliedsstaaten der Europäischen<br />

Union zum Ausdruck gebracht wurde - und zwar nicht nur <strong>in</strong><br />

den Beitrittsländern, wo sich das Problem der Integration der<br />

Roma mit besonderer Dr<strong>in</strong>glichkeit stellt. Handlungsbedarf<br />

ergibt sich auch <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>ige Unzulänglichkeiten der<br />

2 Netzwerk unabhängiger Grundrechtsexperten der Europäischen Union, „Bericht für<br />

2003 zur Lage der Grundrechte <strong>in</strong> der Europäischen Union“, Brüssel, Januar 2004, S.<br />

103. Der Volltext des Berichtes auf Englisch ist im Internet auf der Homepage der<br />

Generaldirektion der Europäischen Kommission für Justiz und Inneres unter:<br />

www.<strong>europa</strong>.eu.<strong>in</strong>t/comm/justice_home/<strong>in</strong>dex_en.htm nachzulesen. Die Zitate auf<br />

Deutsch s<strong>in</strong>d Teil der Übersetzung.<br />

183


Claude Cahn<br />

184<br />

Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG, die nicht explizit die Integration<br />

traditionell ausgegrenzter Gruppen wie den Roma zum Ziel<br />

hatte“. Ausführliche Argumente für e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie aus<br />

Bereichen wie Beschäftigung, Wohnungswesen, Bildung und<br />

Gesundheit werden dann im Bericht aufgelistet.<br />

Am Schluss stellt das EU-Expertennetzwerk fest, dass die<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung der EU gegenwärtig nicht<br />

die Probleme aufgreift, die sich beim Zugang zu persönlichen<br />

Dokumenten ergeben: „Richtl<strong>in</strong>ie 2000/43/EG verbietet nicht<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausstellung von<br />

Verwaltungsdokumenten. Solche Dokumente s<strong>in</strong>d aber häufig<br />

notwendig, um Zugang zu Sozialleistungen zu erhalten, die<br />

gerade für marg<strong>in</strong>alisierte Völker e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Integrationshilfe darstellen. Auch aus diesem Grunde ist e<strong>in</strong>e<br />

explizit für die Roma geltende Richtl<strong>in</strong>ie unumgänglich. Artikel<br />

13 EG liefert die angemessene Rechtsgrundlage für e<strong>in</strong>e<br />

solche Richtl<strong>in</strong>ie.“ 3<br />

2. E<strong>in</strong> zweiter zur Diskussion stehender Vorschlag zur<br />

Gesetzgebung zugunsten der Integration der Roma auf EU-<br />

Ebene konzentriert sich auf e<strong>in</strong>e „Desegregationsrichtl<strong>in</strong>ie“, die<br />

die Bereiche Bildung, Wohnungswesen und Gesundheit<br />

umfassen würde. Diese Idee war der zentrale Programmpunkt<br />

<strong>in</strong> den Vorschlägen von Victoria Mohacsi, Mitglied des<br />

Europäischen Parlaments und, nebenbei bemerkt, frühere<br />

Mitarbeiter<strong>in</strong> des ERRC (Europäisches Zentrum für Roma-<br />

Rechte) und gegenwärtig e<strong>in</strong>es der zwei <strong>roma</strong>ni Mitglieder des<br />

EP <strong>in</strong> Brüssel (beide stammen aus Ungarn). Zwar liegt dem<br />

ERRC bisher noch ke<strong>in</strong> umfassender Vorschlag über den<br />

Geltungsbereich e<strong>in</strong>er solchen Richtl<strong>in</strong>ie vor, aber auf<br />

rechtlicher Ebene würde damit wahrsche<strong>in</strong>lich der Versuch<br />

gemacht, <strong>in</strong> die EU-Gesetzgebung e<strong>in</strong> ergänzendes Verbot<br />

aufzunehmen ähnlich dem Segregationsverbot des Artikels 3<br />

des Internationalen Übere<strong>in</strong>kommens zur Beseitigung jeder<br />

Form von Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung (ICERD). 4<br />

3 Ebenda, S. 102-107.<br />

4 Artikel 3 des ICERD besagt: „ Die Vertragsstaaten verurteilen <strong>in</strong>sbesondere die<br />

Segregation und die Apartheid und verpflichten sich, alle derartigen Praktiken <strong>in</strong> ihren<br />

Hoheitsgebieten zu verh<strong>in</strong>dern, zu verbieten und auszumerzen.“ Die Regelungen von<br />

Artikel 3 stellen e<strong>in</strong>e Ergänzung von Artikel 5 und anderen ICERD-Regelungen dar,<br />

die Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> unterschiedlichen Bereichen des zivilen, sozialen und<br />

wirtschaftlichen Lebens verbieten.


ROMA IN EUROPA<br />

3. Andere haben mögliche Schritte h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er „Förderrichtl<strong>in</strong>ie“<br />

(i.S. von „positiven Maßnahmen“) <strong>in</strong>s Auge gefasst, die die EU-<br />

Mitgliedsstaaten verpflichten würde, Fördermaßnahmen<br />

zugunsten von M<strong>in</strong>derheiten und anderen benachteiligten<br />

Gruppen e<strong>in</strong>zuleiten oder auf anderem Wege die<br />

Verpflichtungen der EU-Mitgliedsstaaten bezüglich solcher<br />

Maßnahmen zu klären. E<strong>in</strong>e solche „Förderrichtl<strong>in</strong>ie“ könnte e<strong>in</strong><br />

gesondertes Kapitel über die Roma enthalten oder sich auf<br />

andere Weise explizit auf die Roma beziehen.<br />

Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie der EU lässt die Möglichkeit von<br />

Fördermaßnahmen vonseiten der Mitgliedsstaaten offen und führt<br />

dazu aus, dass es sich dabei nicht um Diskrim<strong>in</strong>ierung handelt<br />

(d. h. sie nicht i.S. der Richtl<strong>in</strong>ie als gesetzeswidrig gelten würden).<br />

Im Gegensatz zu e<strong>in</strong>igen völkerrechtlichen Regelungen geht die<br />

Richtl<strong>in</strong>ie jedoch nicht so weit, Fördermaßnahmen e<strong>in</strong>zufordern:<br />

„Der Gleichbehandlungsgrundsatz h<strong>in</strong>dert die Mitgliedsstaaten nicht<br />

daran, zur Gewährleistung der vollen Gleichstellung <strong>in</strong> der Praxis<br />

spezifische Maßnahmen, mit denen Benachteiligungen aufgrund<br />

der Rasse oder ethnischen Herkunft verh<strong>in</strong>dert oder ausgeglichen<br />

werden, beizubehalten oder zu beschließen.“<br />

Es besteht auch e<strong>in</strong>e Rechtsgrundlage außerhalb des EU-Systems<br />

für die E<strong>in</strong>leitung von Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter<br />

Gruppen. In H<strong>in</strong>blick auf M<strong>in</strong>derheiten bieten die Artikel 1(4) und<br />

2(2) des Internationalen Übere<strong>in</strong>kommens zur Beseitigung jeder<br />

Form der Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung (ICERD) grundsätzliche<br />

Parameter für solche Maßnahmen. 5 Der Europarat hat <strong>in</strong> den<br />

5 Artikel 1(4) des ICERD stellt fest:<br />

Sondermaßnahmen, die e<strong>in</strong>zig zu dem Zweck getroffen werden, e<strong>in</strong>e<br />

angemessene Entwicklung bestimmter Rassengruppen, Volksgruppen oder<br />

Personen zu gewährleisten, die Schutz benötigen, soweit e<strong>in</strong> solcher<br />

erforderlich ist, damit sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

gleichberechtigt genießen und ausüben können, gelten nicht als<br />

Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung, sofern diese Maßnahmen nicht die Beibehaltung<br />

getrennter Rechte für verschiedene Rassengruppen zur Folge haben und<br />

sofern sie nicht fortgeführt werden, nachdem die Ziele, deretwegen sie<br />

getroffen wurden, erreicht s<strong>in</strong>d.<br />

Artikel 2(2) des ICERD regelt diesbezüglich:<br />

Die Vertragsstaaten treffen, wenn die Umstände es rechtfertigen, auf<br />

sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem und sonstigem Gebiet besondere<br />

und konkrete Maßnahmen, um die angemessene Entwicklung und e<strong>in</strong>en<br />

h<strong>in</strong>reichenden Schutz bestimmter Rassengruppen oder ihnen<br />

angehörender E<strong>in</strong>zelpersonen sicherzustellen, damit gewährleistet wird,<br />

dass sie <strong>in</strong> vollem Umfang und gleichberechtigt <strong>in</strong> den Genuss der<br />

Menschenrechte und Grundfreiheiten gelangen. Diese Maßnahmen dürfen<br />

185


Claude Cahn<br />

letzten Jahren diesen normativen Rahmen erheblich erweitert, vor<br />

allem durch das Rahmenübere<strong>in</strong>kommen zum Schutz nationaler<br />

M<strong>in</strong>derheiten, 6 wie auch durch Urteile des Europäischen<br />

Menschenrechtshofs. 7 Die Frage, welche Rolle die EU spielen<br />

sollte, um Mitgliedsstaaten zur E<strong>in</strong>haltung dieser Verpflichtungen zu<br />

drängen, ist jedoch noch ungeklärt.<br />

E<strong>in</strong>zelne Vertreter der Europäischen Kommission haben der<br />

Vorstellung, auf irgendwelche rechtlichen Maßnahmen zu drängen,<br />

die über die bestehenden Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsrichtl<strong>in</strong>ien<br />

h<strong>in</strong>ausgehen würden, e<strong>in</strong>e deutliche Abfuhr erteilt. Von der<br />

Kommission liegt dazu offiziell noch ke<strong>in</strong>e öffentliche<br />

Stellungnahme vor, aber e<strong>in</strong>ige Beamte der Kommission und<br />

andere ihr nahestehende Personen äußerten sich dazu <strong>in</strong><br />

folgendem S<strong>in</strong>ne:<br />

• „Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie (43/2000) behandelt alle für die<br />

Inklusion der Roma maßgeblichen Aspekte; es geht nunmehr<br />

um die umfassende Implementierung <strong>in</strong> den Mitgliedsstaaten“;<br />

• „Das gegenwärtige (raue, sicherheitsdom<strong>in</strong>ierte) politische<br />

Klima spricht gegen e<strong>in</strong> Drängen auf weitere Richtl<strong>in</strong>ien; es<br />

186<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall die Beibehaltung ungleicher oder getrennter Rechte für<br />

verschiedene Rassengruppen zur Folge haben, nachdem die Ziele, um<br />

deretwegen sie getroffen wurden, erreicht s<strong>in</strong>d.<br />

6 Artikel 4(2) und 4(3) des Rahmenübere<strong>in</strong>kommens stellt fest:<br />

2. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene<br />

Maßnahmen zu ergreifen, um <strong>in</strong> allen Bereichen des wirtschaftlichen,<br />

sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und<br />

tatsächliche Gleichheit zwischen Angehörigen e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit<br />

und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

berücksichtigen sie <strong>in</strong> gebührender Weise die besonderen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

der Angehörigen nationaler M<strong>in</strong>derheiten.<br />

3. Die <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit Absatz 2 ergriffenen Maßnahmen werden<br />

nicht als Diskrim<strong>in</strong>ierung angesehen.<br />

7<br />

Grundsatzurteil im Fall Thlimmenos gg. Griechenland im Jahr 2000, wo das Gericht<br />

zu folgendem Schluss kam:<br />

Das Gericht war bisher der Ansicht, dass das <strong>in</strong> Artikel 14 geregelte Recht<br />

auf Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausübung von im Übere<strong>in</strong>kommen<br />

garantierten Rechten verletzt wird, wenn Staaten Personen <strong>in</strong><br />

vergleichbaren Situationen unterschiedlich behandeln, ohne dafür e<strong>in</strong>e<br />

objektive und vernünftige Rechtfertigung zu haben.[...]. Das Gericht ist der<br />

Ansicht, dass dies nicht der e<strong>in</strong>zige Aspekt des Diskrim<strong>in</strong>ierungsverbots <strong>in</strong><br />

Artikel 14 darstellt. Das Recht auf Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung bei der Ausübung<br />

von im Übere<strong>in</strong>kommen garantierten Rechten wird auch verletzt, wenn<br />

Staaten ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung Personen nicht<br />

unterschiedlich behandeln, deren Lage erheblich unterschiedlich ist.“<br />

(Übersetzung aus dem Engl.)


ROMA IN EUROPA<br />

könnte im Gegenteil bald notwendig se<strong>in</strong>, die bestehenden<br />

Richtl<strong>in</strong>ien gegen Bemühungen zu ihrer Abschwächung zu<br />

verteidigen“;<br />

• „Die Erweiterung und die Notwendigkeit, unter 25<br />

Mitgliedsstaaten e<strong>in</strong>en Konsens herbeizuführen, macht die<br />

Annahme neuer Richtl<strong>in</strong>ien unwahrsche<strong>in</strong>lich, wenn nicht<br />

unmöglich“.<br />

Die gegenwärtig fehlende Unterstützung der Kommission für<br />

weitere rechtliche Maßnahmen stellt e<strong>in</strong> Problem dar. Alle oben<br />

aufgeführten Argumente müssen natürlich ernsthaft erwogen<br />

werden, aber ke<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>t letzten Endes ausreichend schlüssig,<br />

um die Untätigkeit zu rechtfertigen. Bezüglich des ersten Arguments<br />

ist es <strong>in</strong> der Tat so, dass die bestehenden<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsrichtl<strong>in</strong>ien nicht e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> allen<br />

völkerrechtlich relevanten Aspekten verbieten und dass die<br />

bestehenden Richtl<strong>in</strong>ien wahrsche<strong>in</strong>lich notwendig, aber nicht<br />

ausreichend s<strong>in</strong>d, um die Inklusion der Roma zu erreichen.<br />

Zweitens ist festzustellen, dass es nicht sicher ist, ob es überhaupt<br />

irgendwann e<strong>in</strong>en günstigen Zeitpunkt für<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze gibt, da diese normalerweise nicht zu<br />

den vorrangigen Forderungen der Öffentlichkeit gehören. Die<br />

Befürworter der Antirassismusrichtl<strong>in</strong>ie g<strong>in</strong>gen gewiss nicht davon<br />

aus, dass sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em idyllischen politischen Klima bewegten,<br />

als sie sich für e<strong>in</strong>e solche Maßnahme stark machten. Und das<br />

dritte Argument lässt sich erst beweisen, wenn man es versucht<br />

hat.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Aspekt <strong>in</strong> dieser Ansammlung bestehender Dilemmata<br />

ist die faktische Macht der Kommission, Mitgliedsstaaten zur<br />

Inklusion der Roma zu zw<strong>in</strong>gen. De jure hat die Union viel mehr<br />

Macht über Mitgliedsstaaten als über Beitrittsländer. In der Praxis<br />

ist das Kräfteverhältnis gerade umgekehrt: Während die<br />

Kommission unnachgiebig die Beitrittsbed<strong>in</strong>gungen für die neuen<br />

Kandidaten diktierte und die Lage der Roma zu e<strong>in</strong>er<br />

Schlüsselfrage des Beitrittsprozesses machte, reagierte sie sehr<br />

zögerlich und <strong>in</strong> der mildesten Form, die möglich war, auf jene<br />

Politiken der Mitgliedsstaaten, die grundsätzliche Fragen der<br />

Menschenrechte tangierten. Manchmal wurde dieses Paradox<br />

sogar öffentlich gemacht, z. B. als die Kommission dem Parlament<br />

und dem Rat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offiziellen Stellungnahme im Oktober 2003<br />

mitteilte: „Die Kommission ist überzeugt, dass es <strong>in</strong> dieser<br />

Wertegeme<strong>in</strong>schaft nicht notwendig se<strong>in</strong> wird, die im Rahmen von<br />

Artikel 7 des Unionsvertrages und Artikel 309 des EG-Vertrages<br />

vorgesehenen Strafen zu verhängen.“ Diese Tatsache ist sowohl <strong>in</strong><br />

187


Claude Cahn<br />

den Mitgliedsstaaten wie den Beitrittsländern genauestens bekannt<br />

und stellt die Glaubwürdigkeit der Union ebenso <strong>in</strong> Frage wie deren<br />

Fähigkeit, Mitglieder zu ernsthaften Anstrengungen für e<strong>in</strong>e<br />

Inklusion der Roma zu bewegen. Aufseiten der Beitrittskandidaten<br />

hat es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen dazu geführt, dass man Strategien der<br />

Verzögerung, Obstruktion, Vermeidung und teilweisen<br />

Implementierung angewandt hat <strong>in</strong> Erwartung jenes magischen<br />

Augenblicks des Beitritts, wenn man alle Anstrengungen ohne<br />

Umschweife aufgeben oder auf Sparflamme kochen lassen kann.<br />

Auch <strong>in</strong> der slowakischen Implementierung von Phare 2001 kamen<br />

solche Ansätze z. B. zum Tragen. Rechtliche Maßnahmen auf<br />

Ebene der Union könnten dies Problem vielleicht beheben und<br />

damit tatsächlich erhebliche Auswirkungen sowohl für die<br />

Mitgliedsstaaten wie die Beitrittsländer haben, und vielleicht sogar<br />

für Länder, die ke<strong>in</strong>e zukünftigen EU-Beitrittskandidaten s<strong>in</strong>d.<br />

Der jüngst veröffentlichte Bericht über die Roma <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

erweiterten Europa, der von der Europäischen Kommission<br />

veröffentlicht wurde, aber nicht unbed<strong>in</strong>gt deren Me<strong>in</strong>ung<br />

wiedergibt, stellt Folgendes zu dem Problem fest, nachdem alle<br />

oben erwähnten Argumente des EU-Netzwerks der<br />

Grundrechtsexperten noch e<strong>in</strong>mal dargestellt wurden:<br />

188<br />

Die Autoren des vorliegenden Berichts s<strong>in</strong>d der Me<strong>in</strong>ung,<br />

dass die Schlussfolgerungen der EU-<br />

Grundrechtsexperten ausreichend belegt s<strong>in</strong>d und dass<br />

ohne e<strong>in</strong>e solche Richtl<strong>in</strong>ie nicht genügend Anreiz für die<br />

EU-Mitgliedsstaaten besteht, Roma und andere als<br />

„Zigeuner“ bezeichnete Gruppen zu <strong>in</strong>tegrieren. Man<br />

muss jedoch zugeben, dass dieser Vorschlag e<strong>in</strong>ige<br />

rechtliche und praktische Fragen aufwirft. Erstens,<br />

<strong>in</strong>wieweit könnten die angesprochenen Probleme durch<br />

e<strong>in</strong>e bessere Implementierung und Durchsetzung der<br />

bestehenden europäischen und nationalen<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung gelöst werden?<br />

Zweitens wäre es wünschenswert, Gesetzgebung<br />

vorzuschlagen oder zu beschließen, die nur e<strong>in</strong>e<br />

spezifische ethnische M<strong>in</strong>derheitengruppe zum Ziel hat,<br />

anstelle e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Gleichbehandlungsrahmens<br />

zugunsten aller M<strong>in</strong>derheiten? Drittens, <strong>in</strong>wieweit ist die<br />

EU zuständig dafür, Anforderungen für<br />

Fördermaßnahmen (positive actions) aufzustellen<br />

angesichts der Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs?


...<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Es wäre die Annahme von EU-Regeln, die Segregation<br />

aufgrund der Rasse und ethnischen Herkunft zum<strong>in</strong>dest<br />

<strong>in</strong> den Bereichen Bildung, Wohnungswesen und<br />

Gesundheitsversorgung verbieten, zu erwägen. Die<br />

Union sollte sich näher mit möglichen rechtlichen<br />

Maßnahmen <strong>in</strong> diesem Bereich beschäftigen, dabei u. a.<br />

beispielhafte Def<strong>in</strong>itionen und M<strong>in</strong>destmaßnahmen zur<br />

Bekämpfung der Rassensegregation, wie formale<br />

Monitor<strong>in</strong>g-Verfahren und Sanktionen, vorsehen. E<strong>in</strong>ige<br />

haben e<strong>in</strong>e „Desegregationsrichtl<strong>in</strong>ie“ vergleichbar den<br />

Richtl<strong>in</strong>ien zu Rasse und Beschäftigung im Rahmen des<br />

Artikels 13 vorgeschlagen. Dieser Vorschlag verdient e<strong>in</strong>e<br />

genauere Betrachtung und sollte im Mittelpunkt weiterer<br />

Forschungs- und politischer Initiativen stehen. Die<br />

Autoren dieser Untersuchung s<strong>in</strong>d außerdem der<br />

Me<strong>in</strong>ung, dass die Idee rechtlicher Maßnahmen, die e<strong>in</strong>e<br />

Integration der Roma für Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />

vorschreiben - wie vorgeschlagen - ausführlich erörtert<br />

werden sollte und dass wir der europäischen<br />

Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e fundierte Debatte zu dem Thema<br />

schuldig s<strong>in</strong>d. Im Idealfall solle e<strong>in</strong>e solche Debatte unter<br />

Federführung der Institutionen der Europäischen Union,<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Europäischen Kommission, stattf<strong>in</strong>den. 8<br />

Außerhalb der Institutionen der Europäischen Union hat es jüngst<br />

<strong>in</strong>teressante Weiterentwicklungen im Rahmen des Europäischen<br />

Menschenrechtshofs gegeben, der im Fall Connors gegen das<br />

Vere<strong>in</strong>igte Königreich vom Juni 2004 das Vere<strong>in</strong>igte Königreich der<br />

Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention aus<br />

folgenden Gründen für schuldig befand:<br />

„Die prekäre Lage der Zigeuner als M<strong>in</strong>derheit bedeutet,<br />

dass ihren Bedürfnissen und ihrem anderen Lebensstil<br />

sowohl im Rahmen der maßgeblichen Verordnungen wie <strong>in</strong><br />

den Urteilen zu bestimmten Fällen (Buckley-Urteil[...], S.<br />

1292-95, §§ 76, 80 und 84) besonders Rechnung getragen<br />

werden sollte. In diesem S<strong>in</strong>ne besteht e<strong>in</strong>e positive<br />

Verpflichtung aufseiten der Vertragsstaaten im Rahmen<br />

des Artikels 8, Zigeunern ihren eigenen Lebensstil zu<br />

8 Generaldirektion für Beschäftigung und Soziales der Europäischen Kommission,<br />

Roma <strong>in</strong> an Enlarged European Union, Oktober 2004. (Text ist Teil der Übersetzung,<br />

nicht im Orig<strong>in</strong>al).<br />

189


Claude Cahn<br />

190<br />

ermöglichen (s. Chapman, [...], § 96 und die dar<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>ngemäß zitierten Instanzen)“.<br />

Das Gericht hatte diese Grundsätze schon <strong>in</strong> früheren Urteilen<br />

aufgestellt, aber bis zum Fall Connors nie e<strong>in</strong> Mitglied des<br />

Europarates deswegen der Verletzung der Europäischen<br />

Konvention für schuldig befunden. Bei der Prüfung der Probleme,<br />

die im Fall Connors e<strong>in</strong>e Rolle spielten, beschäftigte sich das<br />

Gericht e<strong>in</strong>gehend mit der Frage lokaler Zuständigkeiten für die<br />

Implementierungspolitik bezüglich der Inklusion der Roma sowie<br />

mit der Frage, ob Zigeuner tatsächlich „e<strong>in</strong>en Nutzen“ aus diesen<br />

politischen Maßnahmen zögen, die zum<strong>in</strong>dest auf dem Papier zu<br />

ihrer Unterstützung gedacht waren. Nach dem Fall Connors<br />

könnte es jetzt e<strong>in</strong>e Reihe positiver Verpflichtungen im Rahmen<br />

des Fallrechts der Europäischen Konvention geben, die grob<br />

folgendermaßen umschrieben werden könnten:<br />

• Es muss e<strong>in</strong>en Rahmen geben der sicherstellt, dass e<strong>in</strong><br />

„Lebensstil der Zigeuner“ ermöglicht wird und dass<br />

angesichts der „prekären Lage der Zigeuner als M<strong>in</strong>derheit“<br />

ihre Bedürfnisse „besondere Berücksichtigung“ erfahren;<br />

• Diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen implementiert werden;<br />

• Lokale Zuständigkeiten für die Umsetzung der<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen klar zugeordnet werden;<br />

• Es sollten ke<strong>in</strong>e willkürlichen H<strong>in</strong>dernisse der Nutzung dieser<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen im Weg stehen;<br />

• Die Wirksamkeit der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen wird zum<strong>in</strong>dest<br />

teilweise ausgewertet, um festzustellen, ob die Roma<br />

„irgende<strong>in</strong>en Nutzen“ von diesen Bed<strong>in</strong>gungen haben;<br />

• Als Teil der Rahmenbed<strong>in</strong>gungen müssen Grund- und<br />

Menschenrechte – <strong>in</strong>sbesondere die unter der Europäischen<br />

Konvention gewährten Rechte – tatsächlich verwirklicht<br />

werden. 9<br />

E<strong>in</strong> möglicher Ausweg aus der oben beschriebenen Zwickmühle<br />

könnte dar<strong>in</strong> bestehen, dass man sich der Probleme annimmt, die<br />

beim Implementierungs-Monitor<strong>in</strong>g von EU-Projekten zutage treten,<br />

wie z. B. der Probleme, die sich bei der oben beschriebenen<br />

Implementierung von Phare 2001 <strong>in</strong> der Slowakei ergaben. Es<br />

lassen sich durchaus Argumente fiskalischer Art sowie der<br />

9 Zu den Auswirkungen des Connors-Urteils, was die Regierungsverpflichtungen im<br />

Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention anbetrifft, s. Cahn, Claude,<br />

„Towards Realis<strong>in</strong>g a Right to Positive Action for Roma <strong>in</strong> Europe: Connors v. UK“,<br />

veröffentlicht <strong>in</strong> Roma Rights 1/2005.


ROMA IN EUROPA<br />

Transparenz und Rechenschaftspflicht für „rechtliche Maßnahmen,<br />

die e<strong>in</strong>e Integration der Roma für Mitgliedsstaaten verb<strong>in</strong>dlich<br />

vorschreiben“, f<strong>in</strong>den. Das Profil solcher rechtlich verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Maßnahmen könnte sich aus den oben aufgezählten<br />

Anforderungen <strong>in</strong>folge des Connors-Urteils ergeben. Dabei wäre<br />

z. B. zu denken an (i) die Verpflichtung, lokale Zuständigkeiten für<br />

die Implementierung klar zuzuordnen; (ii) die Verpflichtung, Romaspezifische<br />

Vorgaben und Indikatoren zu entwickeln und<br />

e<strong>in</strong>zuhalten, z. B. Indikatoren für Desegregation <strong>in</strong> der Schule u. Ä.;<br />

(iii) und anderes mehr. E<strong>in</strong> solcher Ansatz hätte vielleicht bessere<br />

Erfolgschancen, da es dabei nicht nur um<br />

Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetzgebung und die politische Aufgabe zur<br />

sozialen Inklusion geht, sondern man könnte sich auch die<br />

Verdrossenheit über verme<strong>in</strong>tliche Verschwendung/Korruption auf<br />

Ebene der EU und anderswo zunutze machen und die Maßnahme<br />

als solide Fiskalpolitik verkaufen. E<strong>in</strong>ige Vertreter der Roma s<strong>in</strong>d<br />

schon bei ihrem Engagement auf nationaler Ebene entsprechend<br />

vorgegangen. 10<br />

E<strong>in</strong>e der vielen Schwierigkeiten auf dem ste<strong>in</strong>igen Weg zu<br />

Fördermaßnahmen (positive actions) besteht <strong>in</strong> der tief<br />

verwurzelten Fe<strong>in</strong>dseligkeit der allgeme<strong>in</strong>en Öffentlichkeit. E<strong>in</strong>ige<br />

mittel- und osteuropäische Länder verfolgten schon zu Zeiten des<br />

Kommunismus e<strong>in</strong>e Förderpolitik. Im Kommunismus vergaben die<br />

tschechoslowakischen Behörden z. B. Wohnraum vorzugsweise an<br />

Roma, bevor Nicht-Roma versorgt wurden - und das zu e<strong>in</strong>er Zeit<br />

allgeme<strong>in</strong>er Wohnungsknappheit, wo verheiratete Paare häufig<br />

jahrelang auf e<strong>in</strong>e Wohnung warten mussten. Diese Politik führte zu<br />

erheblichen Ressentiments gegen die Roma, auf die <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Debatte nicht e<strong>in</strong>gegangen wurde, da sie sich unter<br />

totalitären Bed<strong>in</strong>gungen entwickelten. Nach 1989 brachen diese<br />

Ressentiments – und auch Gewalt – gegen die Roma <strong>in</strong> der<br />

Tschechoslowakei mit aller Macht auf und s<strong>in</strong>d noch heute<br />

Besorgnis erregend <strong>in</strong> ihrem Ausmaß. Es ist deshalb erforderlich,<br />

dass jede umgesetzte Fördermaßnahme von umfangreichen<br />

öffentlichen Debatten und e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Konsens begleitet<br />

wird. Die Regierungen Europas müssen diese Debatten anstoßen<br />

und fördern, denn je länger man sich <strong>in</strong> diesem Bereich nicht<br />

ernsthaft bemüht, um so wahrsche<strong>in</strong>licher wird es, dass Unruhen<br />

wie die <strong>in</strong> der Slowakei 2004 zur Regel werden, da größere Teile<br />

10 S. dazu z. b. Clements, Luke und Rachel Morris, At What Cost? The Economics of<br />

Gypsy and Traveller Encampments, Policy Press, 2002.<br />

191


Claude Cahn<br />

ausgegrenzter M<strong>in</strong>derheiten immer mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand extremer<br />

Verelendung fallen.<br />

Die Grenzen der Gesetzgebung<br />

Die Rassengleichheitsrichtl<strong>in</strong>ie wird <strong>in</strong> ganz Europa umgesetzt<br />

werden. Sie wird das Leben vieler Menschen verändern und die<br />

europäischen Gesellschaften e<strong>in</strong> großes Stück weit neu gestalten.<br />

Die Debatten über notwendige Fördermaßnahmen für e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von belasteten Gruppen und/oder rechtliche Maßnahmen, die die<br />

Inklusion der Roma verb<strong>in</strong>dlich für alle Mitgliedsstaaten<br />

vorschreiben, s<strong>in</strong>d eröffnet. Es ist noch nicht klar, was letzten<br />

Endes dabei herauskommt. Klar ist jedoch, dass es abgesehen von<br />

der notwendigen Rechtsreform <strong>in</strong> allen Teilen Europas noch immer<br />

e<strong>in</strong>ige Gesellschaften gibt, <strong>in</strong> denen zentrale Debatten über die<br />

Rolle der Rasse und rassischer Ausgrenzung noch nicht<br />

stattgefunden haben. Während sicherlich viele zustimmen, dass<br />

sich Deutschland nach dem Holocaust vielen Themen der<br />

Vergangenheit gestellt hat, und dies noch immer tut, und dass<br />

e<strong>in</strong>ige andere europäische Gesellschaften, wie z. B.<br />

Großbritannien, sich regelmäßig mit den beunruhigenden<br />

Wirkungen des Rassismus auf die Gesellschaft ause<strong>in</strong>andersetzen,<br />

ist diese wichtige Schwelle <strong>in</strong> der großen Mehrzahl der<br />

europäischen Gesellschaften noch nicht überschritten worden. Die<br />

vorherrschende Me<strong>in</strong>ung im Kommunismus, dass Rassismus <strong>in</strong> den<br />

sozialistischen Ländern überwunden sei, hat dazu geführt, dass die<br />

postkommunistischen Länder praktisch vollkommen unvorbereitet<br />

mit dem erneuten Ausbruch von Rassismus im Europa der 1990er<br />

Jahre bis <strong>in</strong>s neue Jahrtausend h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> konfrontiert wurden. Welche<br />

Faktoren genau angesprochen werden sollten, um e<strong>in</strong>e fundierte<br />

Debatte über das Thema anzustoßen, lässt sich nicht nach e<strong>in</strong>em<br />

festen Plan regeln – jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg mit<br />

Hilfe ihrer Regierung, ihrer Eliten und ihrer Öffentlichkeit dorth<strong>in</strong><br />

f<strong>in</strong>den. Es ist jedoch klar, dass unter bestimmten Umständen das<br />

Gesetz, und vor allem umfassende Antidiskrim<strong>in</strong>ierungsgesetze,<br />

e<strong>in</strong>e zentrale Rolle dabei spielen können und es e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

ermöglichen, das Problem des Rassismus anzugehen.<br />

192


ROMA IN EUROPA<br />

DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA:<br />

Das ungarische Partizipationsmodell und se<strong>in</strong>e<br />

Umsetzung bei den Roma<br />

I. M<strong>in</strong>derheitenrechte und -selbstverwaltung<br />

1. Allgeme<strong>in</strong>e Grundlagen<br />

Auf dem Territorium des Staates Ungarn lebte traditionell e<strong>in</strong>e<br />

gemischte Bevölkerung. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Anteil<br />

der ungarischsprachigen Bevölkerung weniger als 50 %. Heute gibt<br />

es <strong>in</strong> Ungarn offiziell 13 anerkannte M<strong>in</strong>derheiten. 1 Die mit Abstand<br />

Größte davon ist die der Roma. Die genaue Zahl der Roma ist<br />

schwer zu bestimmen. Laut letzter Volkszählung leben ca. 200 000<br />

Roma <strong>in</strong> Ungarn, aber nach zuverlässigen soziologischen Studien<br />

liegt die genauere Zahl bei 550 000.<br />

Die M<strong>in</strong>derheiten Ungarns, so auch die Roma, leben zerstreut auf<br />

dem Staatsgebiet. Die Landkarte auf der folgenden Seite zeigt die<br />

territoriale Verteilung der Roma <strong>in</strong> Ungarn.<br />

Die rechtliche Lage der M<strong>in</strong>derheiten, die vorher praktisch nicht<br />

geregelt war, hat sich im Laufe des politischen Umbruchs, Anfang<br />

der 90-er Jahre grundlegend geändert. 2<br />

2. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechts<br />

Es muss nicht unbed<strong>in</strong>gt ausschlaggebend se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> welcher Form<br />

die Verfassung den Staat als solchen def<strong>in</strong>iert. Gleiche oder sehr<br />

ähnliche Formulierungen können im Kontext mit anderen Elementen<br />

der Verfassung grundlegend verschiedene Bedeutungen haben.<br />

Vergleicht man z. B. die Verfassung Spaniens mit der von<br />

Rumänien f<strong>in</strong>det man ähnliche Aussagen über die E<strong>in</strong>heitlichkeit<br />

1 Dies s<strong>in</strong>d: Roma, Deutsche, Kroaten, Slowaken, Rumänen, Ukra<strong>in</strong>er, Slowenen,<br />

Polen, Serben, Griechen, Bulgaren, Armenier und Ruthenen.<br />

2 Vor der Wende wurde die Roma-Gruppe nicht als e<strong>in</strong>e Volksgruppe (mit eigener<br />

Sprache, Kultur und Tradition) betrachtet, sondern als e<strong>in</strong>e Randgruppe und somit als<br />

e<strong>in</strong> soziales Problem.<br />

193


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

und Unteilbarkeit des Staates der rumänischen bzw. der spanischen<br />

Nation. 3 Und doch s<strong>in</strong>d diese beiden Länder geradezu<br />

Musterbeispiele für den gegensätzlichen Umgang mit der<br />

Multiethnizität der Staatsbürger. 4<br />

Landkarte: Die Romabevölkerung <strong>in</strong> Ungarn<br />

Die <strong>in</strong> 1989 grundlegend novellierte Verfassung der Republik<br />

Ungarn be<strong>in</strong>haltet ke<strong>in</strong>e diesbezüglichen Passagen. Anstatt des<br />

Begriffs "Nation" wird aber das Wort "Volk" benutzt, das die ganze<br />

Bevölkerung des Landes umfassen soll, unabhängig von der<br />

Herkunft, was durchaus als erster Schritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

m<strong>in</strong>derheitenfreundliche Richtung bewertet werden kann. Im ersten<br />

Kapitel der Verfassung, bei den allgeme<strong>in</strong>en Bestimmungen,<br />

werden zwar ke<strong>in</strong>e weiteren Aussagen über die Rolle der<br />

3 Siehe: Artikel 2 der Verfassung Spaniens ("Die Verfassung, die auf der spanischen<br />

Nation, auf der unauflösbaren E<strong>in</strong>heit des geme<strong>in</strong>samen und unteilbaren Vaterlandes<br />

aller Spanier basiert ..." (<strong>in</strong>offizielle Übersetzung) und Art.1 Abs. 1 der Verfassung<br />

Rumäniens („Rumänien ist e<strong>in</strong> souveräner und unabhängiger, e<strong>in</strong>heitlicher und<br />

unteilbarer Nationalstaat.“)<br />

4 Während es <strong>in</strong> Spanien autonome Regionen der Volksgruppen (z. B. Katalonien,<br />

Baskenland) gibt, wird zur Zeit die territoriale Autonomie e<strong>in</strong>er Volksgruppe<br />

kategorisch abgelehnt.<br />

194


ROMA IN EUROPA<br />

M<strong>in</strong>derheiten gemacht, aber im Kapitel IX., wo die Grundrechte des<br />

Bürgers aufgelistet s<strong>in</strong>d, bef<strong>in</strong>den sich e<strong>in</strong>ige Artikel zum Thema.<br />

Es gibt selbstverständlich den allgeme<strong>in</strong>en Gleichheitssatz (Artikel<br />

70/A), der jegliche Unterscheidung nach Rasse, Hautfarbe,<br />

Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger<br />

Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt,<br />

oder sonstigem Status untersagt. Das eigentliche Novum ist hier<br />

aber die E<strong>in</strong>führung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die diese<br />

bisher nur auf dem Papier stehende Regelung mit Leben erfüllte.<br />

Man f<strong>in</strong>det aber auch Paragrafen, deren Inhalt sich unmittelbar auf<br />

die M<strong>in</strong>derheiten bezieht. Artikel 68 Absatz 1 bezeichnet die<br />

M<strong>in</strong>derheiten als "staatsbildende Faktoren", die Teilhaber an der<br />

Macht des Volkes s<strong>in</strong>d. Die Interpretation dieser Regelung ist sehr<br />

kontrovers, und reicht von der Bewertung, dass es sich hier um e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>fache Deklaration handelt, woraus ke<strong>in</strong>e "e<strong>in</strong>klagbaren Rechte"<br />

abgeleitet werden können, bis zur Annahme, dass sie e<strong>in</strong>e klare<br />

Absage an den Nationalstaat be<strong>in</strong>haltet, die öffentlich-rechtliche<br />

Konsequenzen haben muss.<br />

Aus den darauf folgenden Passagen kann man eher auf Letzteres<br />

schließen: Absatz 2 verpflichtet den Staat zum aktiven<br />

M<strong>in</strong>derheitenschutz <strong>in</strong> den Bereichen der Kulturpflege, des<br />

Gebrauchs der Muttersprache, des muttersprachlichen Unterrichts<br />

und der Namensführung <strong>in</strong> der eigenen Sprache sowie der<br />

kollektiven Beteiligung am öffentlichen Leben. - Absatz 3 garantiert<br />

die Vertretung der M<strong>in</strong>derheiten, während Absatz 4 das Recht zur<br />

Gründung von Autonomiekörperschaften (Selbstverwaltungen)<br />

sowohl auf örtlicher als auch auf nationaler Ebene gewährleistet. -<br />

Absatz 5 sieht die Verabschiedung e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>derheitengesetzes vor,<br />

das die oben genannten Bestimmungen detailliert regeln soll.<br />

Im Artikel 32/B wird e<strong>in</strong> Parlamentsbeauftragter (Ombudsmann) für<br />

die Rechte der nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten etabliert,<br />

der die Umsetzung der <strong>in</strong> der Verfassung und <strong>in</strong> dem<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetz festgeschriebenen Rechte kontrolliert,<br />

Missstände aufdecken und allgeme<strong>in</strong>e sowie e<strong>in</strong>zelne Maßnahmen<br />

zur Aufhebung solcher Missstände beantragen soll.<br />

195


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

3. Gesetzliche Bestimmungen<br />

3.1 Das M<strong>in</strong>derheitengesetz und andere m<strong>in</strong>derheitenrelevante<br />

Rechtsnormen 5<br />

Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten zur Regelung der<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechte. Sie können <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Gesetzen, die die<br />

verschiedenen Bereiche des öffentlichen Lebens regulieren,<br />

verankert werden, oder man kann e<strong>in</strong>e Art M<strong>in</strong>derheitenkodex<br />

schaffen, <strong>in</strong> dem zum<strong>in</strong>dest die wichtigsten Rechtsvorschriften<br />

systematisch kodifiziert s<strong>in</strong>d. Interessanterweise wird diese zweite<br />

Variante ausschließlich <strong>in</strong> Ost<strong>europa</strong> praktiziert. In Ungarn hat diese<br />

Art von Regulierung noch dazu e<strong>in</strong>e lange Tradition. 6 Das gültige<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetz, das nach fast zweijährigen Verhandlungen<br />

zwischen Vertretern der Regierung und des sog.<br />

"M<strong>in</strong>derheitenrundtisches" <strong>in</strong> 1993 vom Parlament verabschiedet<br />

wurde (Gesetz Nr. LXXVII/1993), versucht, die Rechte der<br />

M<strong>in</strong>derheiten systematisch zu erfassen und e<strong>in</strong>e Art "Grundgesetz"<br />

zu se<strong>in</strong>. Es handelt sich hier um e<strong>in</strong> sog. "Zweidrittelgesetz", es<br />

gehört also - laut Verfassung - zu den Gesetzen, die die<br />

verfassungsrechtlich wichtigsten Institutionen regeln, deren<br />

Verabschiedung e<strong>in</strong>e qualifizierte Mehrheit benötigt. Die wichtigsten<br />

Regelungsbereiche s<strong>in</strong>d Folgende:<br />

3.1.1 Grundbestimmungen.<br />

In diesem Kapitel wird der M<strong>in</strong>derheitenbegriff def<strong>in</strong>iert. Subjekte<br />

der Rechte s<strong>in</strong>d alle Staatsbürger der Republik Ungarn, die sich zu<br />

e<strong>in</strong>er nationalen oder ethnischen M<strong>in</strong>derheit bekennen sowie die<br />

Geme<strong>in</strong>schaften dieser Personen. Als M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften<br />

werden die seit e<strong>in</strong>em Jahrhundert <strong>in</strong> Ungarn beheimateten<br />

Volksgruppen anerkannt, die sich von der Mehrheitsbevölkerung<br />

durch ihre eigene Sprache, Kultur, und Traditionen unterscheiden,<br />

5<br />

Zur Erklärung von m<strong>in</strong>derheitenrelevanten Gesetzen siehe Kaltenbach Jenõ, Bodáné<br />

Pálok Judit, Vánkosné Tímár Éva: A nemzeti és etnikai kisebbségek jogai és az<br />

önkornányzati választások (Die Rechte der nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />

und Selbstverwaltungswahlen) In: Bullet<strong>in</strong> für die nationalen und ethnischen<br />

M<strong>in</strong>derheiten Ungarns, Nr. 3, Budapest 1994.<br />

6<br />

Es gab bereits zwei M<strong>in</strong>derheitengesetze <strong>in</strong> Ungarn und zwar im Jahre 1849 und<br />

1868.<br />

196


ROMA IN EUROPA<br />

die gleichzeitig von e<strong>in</strong>em Bewußtse<strong>in</strong> der Zusammengehörigkeit<br />

Zeugnis ablegen. 7 Die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er nationalen oder<br />

ethnischen M<strong>in</strong>derheit wird nicht nach objektiven, sondern nach<br />

subjektiven Kriterien entschieden. Das heißt, dass es ke<strong>in</strong>e<br />

staatliche Registrierung der M<strong>in</strong>derheiten gibt, ja e<strong>in</strong>e<br />

Fremdbestimmung der Zugehörigkeit sogar verboten ist. Das<br />

Gesetz basiert auf der freien Selbstbestimmung der Identität und<br />

macht auch e<strong>in</strong> Bekenntnis zur "Doppelidentität" möglich. Re<strong>in</strong><br />

juristisch gesehen ist dies natürlich nicht unproblematisch, aber<br />

entspricht dem Willen der Betroffenen und verursachte <strong>in</strong> der<br />

bisherigen Praxis nur beim Gebrauch des Rechts zur<br />

Selbstorganisierung bzw. bei der politischen Mitwirkung<br />

Schwierigkeiten.(Dazu näheres später.)<br />

Wichtige Aussagen s<strong>in</strong>d weiterh<strong>in</strong>:<br />

- die Verpflichtung des Staates zum aktiven M<strong>in</strong>derheitenschutz,<br />

- das Verbot jedweder Politik, die zur Assimilierung der<br />

M<strong>in</strong>derheiten führt, die auf die ethnische Veränderung des<br />

Siedlungsgebietes der M<strong>in</strong>derheiten gerichtet ist, oder e<strong>in</strong>e<br />

Aus- bzw. Umsiedlung der Betroffenen zum Ziel hat,<br />

- e<strong>in</strong>e Politik, die die Lebensbed<strong>in</strong>gungen für die M<strong>in</strong>derheiten<br />

erschwert, sie bei der Ausübung ihrer Rechte h<strong>in</strong>dert, oder sie<br />

verfolgt, ist ebenfalls untersagt.<br />

3.1.2 Individuelle und kollektive (Grund)Rechte 8<br />

Im Zentrum der <strong>in</strong>dividuellen Rechte steht das Recht zur Wahrung<br />

der nationalen (ethnischen) Identität. Alle weiteren Bestimmungen<br />

<strong>in</strong> diesem Bereich dienen dazu, dies zu gewährleisten. Und gerade<br />

das macht die M<strong>in</strong>derheitenrechte so andersartig im Vergleich zu<br />

den Grundrechten im allgeme<strong>in</strong>en, nämlich dass sie Rechte s<strong>in</strong>d,<br />

die für die Mehrheit e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit darstellen. Diese<br />

Rechte s<strong>in</strong>d der Namensgebrauch nach den Regeln der<br />

Muttersprache, das Erlernen, die Pflege und Weitergabe der<br />

Muttersprache sowie die Teilnahme am Unterricht <strong>in</strong> der<br />

Muttersprache und der Gebrauch der Muttersprache. Es ist<br />

durchaus richtig festzustellen, dass es sich hier eigentlich meistens<br />

7<br />

Weiteres dazu siehe: Bullet<strong>in</strong> für die nationalen und ethnischen M<strong>in</strong>derheiten<br />

Ungarns Nr. 1. Budapest 1993.<br />

8<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Term<strong>in</strong>ologie bezüglich der "kollektiven Rechte". Man<br />

benutzt auch die Term<strong>in</strong>i Gruppenrechte, Geme<strong>in</strong>schaftsrechte als synonyme<br />

Begriffe.<br />

197


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

"um objektiv-rechtliche Gewährleistungen handelt, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

staatliche Verpflichtungen begründen ..." 9<br />

Die Rechte zur Selbstorganisierung (die Gründung von Parteien,<br />

Vere<strong>in</strong>en, usw.) haben schon kollektiven Charakter und führen zu<br />

e<strong>in</strong>em der meistdiskutierten Probleme. Kollektiven<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechten gegenüber gibt es <strong>in</strong> vielen Staaten Europas<br />

erhebliche Bedenken. Die Akzeptanz dieser Rechte führt nämlich<br />

zum Anerkennen des Autonomierechts. Solche (territorialen)<br />

Autonomieregelungen gibt es zurzeit nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />

westeuropäischen Staaten; sie kommen aber sehr selten <strong>in</strong><br />

Ost<strong>europa</strong> vor. Die zwei Ausnahmen s<strong>in</strong>d Moldawien und Ungarn.<br />

Die Gagauzen <strong>in</strong> Moldawien haben sogar e<strong>in</strong>e territoriale<br />

Autonomie. (Die Autonomie der Krim-Region <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e ist stark<br />

umstritten und die Russische Föderation entspricht kaum dem<br />

westlichen Standard. 10 )<br />

Über das Problem der Kollektiv- oder Gruppenrechte konnte man<br />

auch im Völkerrecht ke<strong>in</strong>en Konsens erreichen. 11 Es ist daher umso<br />

wichtiger, dass sich der ungarische Gesetzgeber um e<strong>in</strong>e Lösung<br />

zum<strong>in</strong>dest bemüht hat.<br />

Bei e<strong>in</strong>igen der im Gesetz taxierten Gruppenrechte handelt es sich<br />

um "Spiegelbilder" von <strong>in</strong>dividuellen Rechten 12 . Dies gilt z. B. für die<br />

Pflege der Sprache, die Beteiligung am öffentlichen Leben, die<br />

Wahrung der Kultur und der historischen Traditionen. "Richtige"<br />

kollektive Rechte s<strong>in</strong>d eigentlich diejenigen, die e<strong>in</strong> "<strong>in</strong>neres<br />

Selbstbestimmungsrecht" gewährleisten sollen.<br />

Als e<strong>in</strong> besonderes Geme<strong>in</strong>schaftsrecht kann das Recht auf den<br />

M<strong>in</strong>derheitenombudsmann betrachtet werden. Er (oder sie) wird auf<br />

Vorschlag des Staatspräsidenten mit e<strong>in</strong>er Zweidrittelmehrheit vom<br />

Parlament gewählt. Der Staatspräsident ist aber verpflichtet, die<br />

Me<strong>in</strong>ung der Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten zur von<br />

ihm vorgeschlagenen Person e<strong>in</strong>zuholen.<br />

9<br />

G. Brunner-H. Tontsch (Anm. 1.) S 34.<br />

10<br />

Vgl. dazu M. Hoskova: Die rechtliche Stellung des M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e <strong>in</strong> J.<br />

Frowe<strong>in</strong>, R. Hoffmann, S. Oeter: Das M<strong>in</strong>derheitenrecht europäischer Staaten, Teil 2,<br />

Berl<strong>in</strong>-Heidelberg-New York, 1994, S. 359.<br />

11<br />

Zum Recht auf Selbstbestimmung der M<strong>in</strong>derheiten siehe u. a. Manfred Nowak:<br />

The Right of Self-Determ<strong>in</strong>ation and Protection of M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Central and Eastern<br />

Europe <strong>in</strong> light of the case-law of the Human Rights Committee. In: International<br />

Journal on Group Rights, Volume 1, S. 7-16.<br />

12<br />

Siehe Kukorelli István: Alkotmánytan (István Kukorelli: Verfassunglehre) Budapest<br />

1994 S. 95.<br />

198


ROMA IN EUROPA<br />

Die Geme<strong>in</strong>schaftsrechte, die im M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />

festgeschrieben s<strong>in</strong>d, bilden - geme<strong>in</strong>sam mit den bereits erwähnten<br />

Verfassungsbestimmungen - die Grundlagen für das<br />

Autonomiesystem. Sie bestimmen die Organisationsform und die<br />

Bereiche der Aktivitäten (Bildung, Kultur, Medien, Traditionspflege,<br />

Interessenvertretung, <strong>in</strong>ternationale Kontakte).<br />

3.2 Die Selbstverwaltung der M<strong>in</strong>derheiten<br />

Ohne Organisation ist Demokratie nicht denkbar. 13 Das bedeutet,<br />

dass gewisse gesellschaftliche Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Demokratie nur<br />

vertretbar s<strong>in</strong>d, falls sie sich organisieren können. In all diesen<br />

Fällen müssen zwei D<strong>in</strong>ge gewährleistet werden:<br />

...- e<strong>in</strong>erseits die Abgrenzung des Interessenbereichs von allen<br />

anderen bzw. die Legitimierung dieser autonomen<br />

Interessen, und zwar auf den Ebenen der Organisation, der<br />

Funktion und der F<strong>in</strong>anzen, und<br />

- andererseits die (Re) Integration dieses Interessenkomplexes <strong>in</strong><br />

das Gesamtgefüge des gesellschaftlichen Lebens.<br />

Auch bei der Vorbereitung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes ist das größte<br />

Problem die Abgrenzung der M<strong>in</strong>derheitenautonomie sowohl<br />

organisatorisch als auch funktional und f<strong>in</strong>anziell gewesen.<br />

Letztendlich entschied man sich für e<strong>in</strong>e ziemlich komplizierte<br />

Variante, womit man den - zu jener Zeit nicht völlig klaren -<br />

Realitäten Rechnung tragen wollte. Das Modell ist<br />

zugegebenerweise e<strong>in</strong> Experiment und ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> ausgereiftes<br />

System. Man hat mehrmals betont, es sei nur die erste Phase der<br />

Entwicklung, die - gemäß der im Laufe der Zeit gesammelten<br />

Erfahrungen - weiterentwickelt werden soll.<br />

3.2.1 Die Organisationsstruktur<br />

a. Die örtliche M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung<br />

Da die M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Ungarn zerstreut auf dem ganzen Gebiet<br />

des Landes leben, kommt e<strong>in</strong>e territoriale Autonomie nicht <strong>in</strong> Frage.<br />

Es gibt aber mehrere Ortschaften, wo sie die lokale Mehrheit bilden,<br />

13 J. H. Kaiser zitiert mit diesem Satz Robert Michels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch "Die<br />

Repräsentation organisierter Interessen". Berl<strong>in</strong> 1978. S 11.<br />

199


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

und <strong>in</strong> vielen Geme<strong>in</strong>den und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Städten gehört e<strong>in</strong><br />

bedeutender Teil der E<strong>in</strong>wohnerschaft zu e<strong>in</strong>er oder zu mehreren<br />

M<strong>in</strong>derheiten. Um den lokalen Gegebenheiten zu entsprechen,<br />

bietet das Gesetz drei Möglichkeiten zur Wahl der m<strong>in</strong>oritären<br />

Selbstverwaltung.<br />

Das kommunale Wahlgesetz (Gesetz Nr.LXIV/1990) wurde mit den<br />

Regeln über die lokalen M<strong>in</strong>derheitenwahlen ergänzt. Danach<br />

konnten sich die örtlichen M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften - nach der<br />

lokalen Stärke ihrer Gruppe - entscheiden, ob sie sich an den<br />

allgeme<strong>in</strong>en Kommunalwahlen durch Aufstellung eigener<br />

Kandidaten beteiligen oder e<strong>in</strong>e sog. unmittelbare<br />

M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung gründen.<br />

Im Falle der ersten Variante gibt es wiederum zwei Möglichkeiten.<br />

Falls die M<strong>in</strong>derheitenkandidaten die Mehrheit der Mandate<br />

gew<strong>in</strong>nen, kann sich der neugewählte Geme<strong>in</strong>derat (nach der<br />

ungarischen Term<strong>in</strong>ologie Vertretungskörperschaft) zur<br />

"kommunalen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung" erklären. Das kann<br />

praktisch bedeuten, dass dadurch e<strong>in</strong>e Art lokal-territorialer<br />

Autonomie entsteht, da der Geme<strong>in</strong>derat natürlich alle<br />

Kompetenzen und Befugnisse e<strong>in</strong>es "normalen" Rates hat, ergänzt<br />

mit den m<strong>in</strong>derheitenspezifischen Entscheidungsbereichen. (Dazu<br />

näheres später). - Erreichen die M<strong>in</strong>derheitenkandidaten 30 % der<br />

Mandate, haben sie das Recht, e<strong>in</strong>e sog. "mittelbare<br />

M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung" zu konstituieren, die als e<strong>in</strong>e<br />

Fraktion fungiert, aber als juristische Person auch eigene<br />

Befugnisse ausüben kann. - In den Ortschaften, <strong>in</strong> denen – wie vor<br />

allem <strong>in</strong> den größeren Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> den Städten und <strong>in</strong> den<br />

Hauptstadtbezirken - der prozentuale Anteil der<br />

M<strong>in</strong>derheitenbevölkerung ger<strong>in</strong>g ist, können parallel mit den<br />

Kommunalwahlen - auf Initiative der M<strong>in</strong>derheitengruppe -<br />

besondere M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungswahlen veranstaltet<br />

werden und, falls die im Gesetz vorgeschriebenen Stimmenzahlen<br />

(m<strong>in</strong>destens 50 bis 100 je nach Siedlungsgröße) abgegeben<br />

wurden, kann die sog. "unmittelbare M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung“<br />

konstituiert werden.<br />

Wahlberechtigt s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> jedem genannten Modus alle Wahlbürger,<br />

d. h., es wird bei der Stimmabgabe ke<strong>in</strong> formelles ethnisches<br />

Bekenntnis gefordert. Diese Art von "Integration" ist natürlich nicht<br />

unproblematisch. Sie ist <strong>in</strong> diesem Bereich auch die Achillesferse<br />

des ganzen Systems, die sich auch bei den anderen Elementen<br />

(besonders stark bei der Def<strong>in</strong>ierung von Funktion und f<strong>in</strong>anzieller<br />

Ausstattung) des Autonomiegebäudes bemerkbar macht.<br />

200


ROMA IN EUROPA<br />

Die <strong>in</strong>nere Organisation und die Geschäftsordnung, der M<strong>in</strong>oritäten-<br />

Selbstverwaltung ist durch das M<strong>in</strong>derheitengesetz und zum<br />

größten Teil durch das Kommunalgesetz geregelt, wobei die nur<br />

begrenzte Anwendungsmöglichkeit e<strong>in</strong>zelner Bestimmungen des<br />

Kommunalgesetzes viele Schwierigkeiten verursacht.<br />

b. Die Landesselbstverwaltung<br />

Die örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen können sich zu e<strong>in</strong>er<br />

Landesselbstverwaltung zusammenschließen. Besser gesagt, die<br />

Vollversammlung der Landesebene kann von der<br />

Elektorenversammlung gewählt werden. Elektoren s<strong>in</strong>d alle<br />

Mitglieder der örtlichen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen, die den<br />

größten Teil der Elektorenversammlung ausmachen. Der Rest<br />

kommt durch folgendes Verfahren zustande: In den Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong><br />

denen ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung gewählt wurde, kann der<br />

M<strong>in</strong>derheitenkandidat, der die meisten Stimmen bei den<br />

Kommunalwahlen bekommen hat, als "örtlicher<br />

M<strong>in</strong>derheitensprecher" auch als Elektor agieren. Wo es diesen auch<br />

nicht gibt, kann auf Wunsch von drei Bürgern der Kommune durch<br />

Elektorenwahl e<strong>in</strong> Elektor gewählt werden.<br />

Die <strong>in</strong>nere Organisation der Landesselbstverwaltung ist anders als<br />

die der örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung im Gesetz kaum<br />

geregelt. Es besteht also e<strong>in</strong>e sehr weitgehende<br />

Organisationsfreiheit, e<strong>in</strong> fast rechtsfreier Raum, der aber, da es<br />

sich hier um e<strong>in</strong>e juristische Person des öffentlichen Rechts<br />

handelt, mit den rechtsstaatlichen Pr<strong>in</strong>zipien kaum zu vere<strong>in</strong>baren<br />

ist. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Regelung zu schaffen, ist - mit Rücksicht auf<br />

die Vielfalt der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften 14 - ke<strong>in</strong>e leichte<br />

Aufgabe; die allgeme<strong>in</strong> gültigen Spielregeln der rechtsstaatlichen<br />

Demokratie müssen aber auch hier garantiert werden.<br />

Das Verhältnis der örtlichen Ebene zur Landesselbstverwaltung ist<br />

überhaupt nicht geregelt. Weder e<strong>in</strong>e Hierarchie von oben, noch<br />

Subsidiarität von unten bestimmen das Bild. E<strong>in</strong>e mittlere Stufe,<br />

etwa auf Komitatsebene, wurde bei der Vorbereitung des Gesetzes<br />

- trotz dem Wunsch der M<strong>in</strong>derheitenseite - mit Ausnahme der<br />

14 Zur Zeit gibt es <strong>in</strong> Ungarn 13 vom Gesetz anerkannte M<strong>in</strong>derheiten, die mehr als<br />

800 örtliche Selbstverwaltungen und 11 Landesselbstverwaltungen haben. Die<br />

geschätzte Größe der e<strong>in</strong>zelnen Volksgruppen bewegt sich zwischen 800.000 und<br />

e<strong>in</strong>igen 1.000 Angehörigen.<br />

201


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

Hauptstadt - nicht etabliert. Es ist aber möglich und wird auch<br />

praktiziert, dass die örtlichen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen <strong>in</strong><br />

den e<strong>in</strong>zelnen Komitaten Komitatsverbände gründen, um dadurch<br />

e<strong>in</strong>e bessere regionale Koord<strong>in</strong>ierung zu erreichen. Die<br />

Rechtsstellung dieser Verbände ist aber unklar.<br />

Abschließend kann festgestellt werden, dass das ungarische Modell<br />

organisatorisch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Komb<strong>in</strong>ation von Lokal- und<br />

Personalautonomie ist, während es funktional als e<strong>in</strong>e<br />

Kulturautonomie zu betrachten ist, deren Qualität davon abhängt,<br />

wie der Organisationsrahmen <strong>in</strong>haltlich und auch f<strong>in</strong>anziell<br />

ausgestattet ist. Dieser Frage wird <strong>in</strong> den folgenden Punkten<br />

nachgegangen.<br />

3.2.2 Die Funktionen<br />

Anders als nur vor e<strong>in</strong>igen Jahren s<strong>in</strong>d Maßstäbe, woran die Qualität<br />

e<strong>in</strong>er kulturellen Autonomie zu messen ist, heutzutage ke<strong>in</strong>e<br />

Mangelware mehr. 15 In den meisten dieser Dokumente werden für<br />

die lokal-regionale Autonomie folgende Funtionsbereiche erwähnt:<br />

- das Recht, eigene Symbole zu haben und zu zeigen,<br />

- e<strong>in</strong> Unterrichtswesen, welches die Werte und Bedürfnisse der<br />

Gruppe berücksichtigt,<br />

- kulturelle Institutionen und Programme,<br />

- Rundfunk und Fernsehen. 16<br />

Die ungarische Gesetzgebung erfüllt die oben genannten Kriterien.<br />

Das M<strong>in</strong>derheitengesetz erwies sich <strong>in</strong> der Zwischenzeit als e<strong>in</strong><br />

wahrer Kodex, da es die spätere Gesetzgebung bestimmt hat: Die<br />

Modifizierung des Unterrichtsgesetzes (Gesetz Nr. LXXIX/1993) <strong>in</strong><br />

1996 sowie das neue Mediengesetz (Gesetz Nr. I/1996) vom<br />

gleichen Jahr be<strong>in</strong>halten wichtige m<strong>in</strong>derheitenrelevante<br />

Bestimmungen.<br />

In allen Aufgabenbereichen der kulturellen Autonomie (Bildung und<br />

Kultur, Medien, Sprachgebrauch) f<strong>in</strong>det man Rechte und<br />

Befugnisse, die teils "richtige" Autonomierechte<br />

(Entscheidungsmöglichkeiten <strong>in</strong> eigener Sache), teils<br />

Mitbestimmungsrechte (Integrationsrechte) s<strong>in</strong>d. Die Qualität der<br />

15 E<strong>in</strong>e sehr gute Zusammenfassung von e<strong>in</strong>schlägigen Zitaten aus völkerrechtlichen<br />

Dokumenten siehe F. Ermacora, Ch. Pan: Volksgruppenschutz <strong>in</strong> Europa, Wien 1995.<br />

16 Wie z. B. im Jugoslawien-Vorschlag der Haager Friedenskonferenz. Siehe: F.<br />

Ermacora-Ch. Pan, a.a.O., S. 41-42.<br />

202


ROMA IN EUROPA<br />

Autonomie kann durch das Verhältnis beider zu e<strong>in</strong>ander gemessen<br />

werden.<br />

a. Bildung und Kultur<br />

Außer den schon erörterten Bestimmungen des<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetzes besagt das Unterrichtsgesetz, dass die<br />

Unterrichtssprachen <strong>in</strong> Ungarn ungarisch und die Sprachen der<br />

M<strong>in</strong>derheiten s<strong>in</strong>d. Das Schulsystem besteht zum größten Teil aus<br />

staatlichen (von den Kommunen bzw.den Komitaten betriebenen)<br />

Schulen. Es gibt aber auch e<strong>in</strong>ige kirchliche und private Schulen.<br />

Die Rechte und Ansprüche der M<strong>in</strong>derheiten werden also nicht<br />

durch e<strong>in</strong> eigenes Schulnetz, sondern vom Staat selbst<br />

gewährleistet bzw. befriedigt. Wenn es m<strong>in</strong>destens acht Familien<br />

beantragen, ist der Schulherr verpflichtet, Unterricht auch <strong>in</strong> den<br />

M<strong>in</strong>derheitensprachen anzubieten.<br />

Das M<strong>in</strong>derheitengesetz erlaubt zwar den m<strong>in</strong>oritären<br />

Selbstverwaltungen, eigene Schulen zu gründen, damit s<strong>in</strong>d sie<br />

aber nur mit allen anderen Rechtssubjekten gleichgestellt. Es<br />

bedeutet eigentlich nichts mehr, als dass die Gründung von<br />

M<strong>in</strong>derheitenschulen nicht rechtswidrig ist. Laut Gesetz besteht<br />

auch die Möglichkeit für die M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung e<strong>in</strong>e<br />

staatliche Schule von der Kommune durch Vere<strong>in</strong>barung zu<br />

übernehmen, falls erstere dazu bereit ist.<br />

Die Autonomierechte s<strong>in</strong>d also <strong>in</strong> Form von Mitsprache- bzw.<br />

Mitbestimmungsrechten gestaltet. So muss die<br />

Landesselbstverwaltung <strong>in</strong> das Gesetzgebungsverfahren<br />

e<strong>in</strong>gebunden werden, falls es um m<strong>in</strong>derheitenrelevante Gesetze<br />

geht. Gleiches gilt für die örtliche Selbstverwaltung bei<br />

Satzungsentscheidungen. Als e<strong>in</strong>e andere Form der Beteiligung<br />

wurde vom Bildungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitenkommission aus<br />

Vertretern der Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten<br />

gegründet, die e<strong>in</strong>e Beratungsfunktion ausübt. Stärkste "Waffe" der<br />

örtlichen m<strong>in</strong>oritären Selbstverwaltung ist das Vetorecht bei der<br />

Ernennung des Direktors e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheitenschule und bei weiteren<br />

m<strong>in</strong>derheitenrelevanten Beschlüssen des Geme<strong>in</strong>de- bzw.<br />

Stadtrates.<br />

b. Medien<br />

Die M<strong>in</strong>derheitenverbände s<strong>in</strong>d natürlich auch Subjekte des Rechts<br />

auf Pressefreiheit. Die Herausgabe von Zeitungen ist nicht nur<br />

203


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

erlaubt, sie wird auch vom Staat subventioniert. Wichtige<br />

Regulierung des Mediengesetzes (eigentlich das Gesetz über die<br />

öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten) ist, dass die<br />

Landesselbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>en<br />

Vertreter <strong>in</strong> die Kuratorien, die diese Institutionen beaufsichtigen,<br />

entsenden können.<br />

Es gibt auch e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destgarantie für die Sendezeiten, die <strong>in</strong> der<br />

Zukunft nicht kürzer werden dürfen als sie beim Inkrafttreten des<br />

Mediengesetzes, am 1. Februar 1996, gewesen s<strong>in</strong>d. Da das sog.<br />

duale System von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern<br />

gerade e<strong>in</strong>geführt wird, ist es auch von großer Bedeutung, dass das<br />

Mediengesetz bestimmt, dass bei der Vergabe von Frequenzen<br />

Bewerber bevorzugt werden sollen, die auch<br />

M<strong>in</strong>derheitensendungen (das heißt Sendungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

M<strong>in</strong>derheitensprache und über M<strong>in</strong>derheiten) anbieten wollen.<br />

c. Gebrauch der Muttersprache<br />

De iure ist der Gebrauch der M<strong>in</strong>derheitensprachen <strong>in</strong> allen<br />

Bereichen des öffentlichen Lebens durch das M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />

und durch die Gesetze über das Zivil-, Straf- und<br />

Verwaltungsverfahren garantiert. Geme<strong>in</strong>de- bzw. Stadträte müssen<br />

auf Wunsch der M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen dafür sorgen,<br />

dass Veröffentlichungen sowie Formulare auch <strong>in</strong> den Sprachen der<br />

M<strong>in</strong>derheiten zur Verfügung stehen. Das gilt auch für die Orts- und<br />

Straßenschilder.<br />

In den Ortschaften mit M<strong>in</strong>derheitenbevölkerung müssen bei der<br />

Bewerbung für Verwaltungsstellen Bewerber bevorzugt werden, die<br />

auch die M<strong>in</strong>derheitensprache sprechen.<br />

Diese sehr großzügigen Regelungen haben zurzeit kaum praktische<br />

Bedeutung. Sie können aber große Bedeutung erhalten, falls das<br />

erklärte Ziel des M<strong>in</strong>derheitengesetzes, nämlich die Revitalisierung<br />

der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften, ernsthaft angestrebt wird.<br />

204


3.3.3 Die f<strong>in</strong>anzielle Autonomie<br />

ROMA IN EUROPA<br />

"It is impossible to conclude a study of autonomy... without<br />

discuss<strong>in</strong>g the f<strong>in</strong>anc<strong>in</strong>g of that autonomy" schreibt zutreffend Prof.<br />

Philippe de Bruycker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie für den Europarat <strong>in</strong> 1993. 17<br />

Wie steht es mit den F<strong>in</strong>anzen des ungarischen<br />

Selbstverwaltungssystems? Da es sich bei den<br />

M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen um Subjekte des öffentlichen<br />

Rechts handelt, ist die Bestimmung des M<strong>in</strong>derheitengesetzes, die<br />

die F<strong>in</strong>anzierung durch den Staat garantiert, e<strong>in</strong>e<br />

Selbstverständlichkeit. Es gibt aber weder eigene E<strong>in</strong>nahmen noch<br />

e<strong>in</strong>e normativ festgelegte Beteiligung an den Haushaltse<strong>in</strong>nahmen<br />

(Steuergelder oder sonstige Abgaben), die normalerweise<br />

Bestandteile e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Autonomie s<strong>in</strong>d. Es werden vielmehr<br />

<strong>in</strong> den Jahreshaushalten öffentliche Mittel für M<strong>in</strong>derheitenzwecke,<br />

wie z. B. Sonderleistungen für den M<strong>in</strong>derheitenunterricht<br />

bereitgestellt. Bei der Anwendung dieser Gelder haben die<br />

m<strong>in</strong>oritären Selbstverwaltungen wiederum e<strong>in</strong> Mitsprache- aber ke<strong>in</strong><br />

Mitbestimmungsrecht.<br />

E<strong>in</strong>e andere Form der zweckbestimmten, also nicht normativen<br />

F<strong>in</strong>anzierung, die eigentlich e<strong>in</strong>e Projektf<strong>in</strong>anzierung ist, ist die<br />

Verteilung von Haushaltsmitteln durch e<strong>in</strong>e öffentliche Stiftung, bei<br />

der sich die M<strong>in</strong>derheitenorganisationen mit Projekten bewerben<br />

können. Im Kuratorium dieser Stiftung s<strong>in</strong>d die<br />

M<strong>in</strong>derheitenvertreter dom<strong>in</strong>ant repräsentiert.<br />

Außerdem bekommen die örtlichen und die Landes-<br />

Selbstverwaltungen jährlich e<strong>in</strong>e gewisse Summe zur Deckung<br />

laufender Kosten, deren Höhe vom Menschenrechtsausschuß des<br />

Parlaments - nach verschiedenen Kriterien - bestimmt wird.<br />

E<strong>in</strong>e sehr unkalkulierbare Quelle für die örtlichen<br />

Selbstverwaltungen der M<strong>in</strong>derheiten s<strong>in</strong>d die Kommunen. Die<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetzgebung verpflichtet sie nur mit sehr ungenauen<br />

Regeln zur Mitf<strong>in</strong>anzierung. Es liegt praktisch im freien Ermessen<br />

der Kommune, <strong>in</strong> welchem Maße sie dieser Pflicht nachkommt.<br />

Außer auf regelmäßige Zuweisungen kann sich e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle<br />

Autonomie auch auf Gew<strong>in</strong>ne aus Vermögen stützen. Abgesehen<br />

17 Philippe de Bruycker: The political and <strong>in</strong>stitutional role of regions <strong>in</strong> federal and<br />

"regional" states: evaluation and perspectives. In: Regionalisation <strong>in</strong> Europe:<br />

evaluation and perspectives Strasbourg 1994 (Studies and texts, No. 35) S 36.<br />

205


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

von e<strong>in</strong>em ziemlich kle<strong>in</strong>en Startkapital 18 für die<br />

Landesselbstverwaltungen wurden allerd<strong>in</strong>gs weder den örtlichen<br />

noch den Landes-Selbstverwaltungen Eigentumsgegenstände<br />

(Immobilien oder Aktien) übertragen.<br />

4. Erfahrungen und Bewertung<br />

a. Die M<strong>in</strong>derheitenwahlen<br />

Seit dem Inkrafttreten des M<strong>in</strong>derheitengesetzes (22. Oktober<br />

1993) s<strong>in</strong>d drei Wahlperioden vergangen. In dieser Zeit haben die<br />

Angehörigen der M<strong>in</strong>derheiten von ihrem Wahlrecht weitgehend<br />

Gebrauch gemacht. Es wurden <strong>in</strong> 1994-95 landesweit be<strong>in</strong>ahe 800<br />

lokale Selbstverwaltungen gewählt (die Gesamtzahl der Kommunen<br />

<strong>in</strong> Ungarn liegt bei 3200), die sich <strong>in</strong> 11 Landesselbstverwaltungen<br />

zusammengeschlossen haben. 19 Für die M<strong>in</strong>derheitenlisten bei den<br />

Kommunalwahlen wurden mehr als e<strong>in</strong>e halbe Million Stimmen<br />

abgegeben. Nach allgeme<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung haben - besonders <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen Ortschaften - auch sehr viele "Ungarn" für diese Listen<br />

gestimmt, was – wie oben schon erwähnt wurde – nach dem<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetz durchaus möglich ist. Die Vertreter der<br />

M<strong>in</strong>derheiten bewerten dies meistens als e<strong>in</strong>e<br />

Sympathiebekundung der Mehrheitsbevölkerung. H<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er<br />

möglichen Majorisierung durch die Wählerschaft der Mehrheit<br />

wurden e<strong>in</strong>stweilen ke<strong>in</strong>e ernsthaften Befürchtungen geäußert. Die<br />

Gefahr für die Zukunft ist aber auch damals unübersehbar<br />

gewesen. Diese Befürchtungen haben sich leider <strong>in</strong> der zweiten und<br />

besonders <strong>in</strong> den dritten Wahlperiode weitgehend bestätigt. Es gab<br />

skandalöse Missbräuche. Nach Schätzungen der e<strong>in</strong>zelnen<br />

Landesselbstverwaltungen gehören zahlreiche Mitglieder der<br />

M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen nicht zur Geme<strong>in</strong>schaft und s<strong>in</strong>d<br />

nur an e<strong>in</strong>em gewissen „ethnobus<strong>in</strong>ess“ <strong>in</strong>teressiert.<br />

Die Diskussion über e<strong>in</strong>e eventuelle Registrierung <strong>in</strong> besonderen<br />

Wählerlisten für die M<strong>in</strong>derheiten ist nach dieser Ereignissen wieder<br />

entflammt. Da es <strong>in</strong> Ungarn nicht nur e<strong>in</strong> Datenschutzgesetz<br />

(Gesetz Nr. LXIII/1992), sondern auch e<strong>in</strong>en Ombudsmann für<br />

18<br />

Laut M<strong>in</strong>derheitengesetz bekamen die Landesselbstverwaltungen Aktien <strong>in</strong> Wert<br />

von 15 bis 60 Millionen For<strong>in</strong>t.<br />

19<br />

Die genauen Zahlen s<strong>in</strong>d folgende: Roma 421, deutsch 162, kroatisch 56,<br />

slowakisch 49, serbisch 19, armenisch 16, rumänisch 12, polnisch 7, griechisch 6,<br />

slowenisch 6, bulgarisch 4, ruthenisch 1. Bei den zweiten und bei den dritten Wahlen<br />

haben sich diese Zahlen jeweils fast verdoppelt.<br />

206


ROMA IN EUROPA<br />

Datenschutz und Informationsfreiheit gibt, halten die Autoren die<br />

Bedenken der M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften bezüglich e<strong>in</strong>er solchen<br />

Registrierung für unbegründet. Aber die Angst und der<br />

Vertrauensverlust haben ihre historischen Gründe und sitzen<br />

ansche<strong>in</strong>end tiefer als angenommen.<br />

II. Besondere Probleme der Roma bei der Umsetzung des<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetzes<br />

E<strong>in</strong>führende Gedanken<br />

Die Besonderheit der Roma-Selbstverwaltungen besteht vor allem<br />

dar<strong>in</strong>, dass sie ohne die erforderlichen Mittel und Kompetenzen, im<br />

Rahmen der ihnen zugesicherten Aufgabenbereichen nicht <strong>in</strong> der<br />

Lage s<strong>in</strong>d, die Interessen der Geme<strong>in</strong>schaft effizient zu vertreten<br />

und ihre Probleme zu lösen. Der Romabevölkerung geht es nämlich<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht darum, ihre M<strong>in</strong>derheitenidentität (Sprache,<br />

Traditionen, Kultur) zu bewahren. Vermutlich geht es noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> zweiter L<strong>in</strong>ie um diese Fragen, sondern es geht vor allem<br />

um die Behebung der täglichen materiellen und sozialen<br />

Schwierigkeiten.<br />

Für die Romageme<strong>in</strong>schaften ist die im M<strong>in</strong>derheitengesetz<br />

verankerte Autonomie fast belanglos, weil e<strong>in</strong>e auf Kultur und<br />

Muttersprache fokussierte Rechts<strong>in</strong>stitution nicht geeignet ist,<br />

soziale Probleme zu lösen.<br />

Die Sprache der Roma und ihre Volksmusik – die ohneh<strong>in</strong> schon<br />

fast vollständig von der Weltmusik e<strong>in</strong>verleibt wurde – s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

Ungarn vom Aussterben bedroht. Auch die nur noch <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Gruppen aufrecht erhaltenen traditionellen Kulturwerte der Roma<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> großer Gefahr. Aber das Recht auf M<strong>in</strong>derheitenkultur und<br />

das Bedürfnis, solche Rechte geltend zu machen, wird zur<br />

zweitrangigen oder gar drittrangigen Frage angesichts der sozialen<br />

Probleme.<br />

1. Bestandsaufnahme<br />

Die außerhalb der Grenzen lebenden 2,75 Millionen Ungarn und die<br />

mitteleuropäischen Roma – deren Zahl auf 4,5 - 6 Millionen<br />

geschätzt wird – gehören zu den größten M<strong>in</strong>derheiten<br />

207


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

Mittel<strong>europa</strong>s. 20 Die Romabevölkerung ist gleichzeitig die größte<br />

M<strong>in</strong>derheit Europas und Ungarns.<br />

Charakteristisch für die <strong>in</strong> Ungarn lebende Romabevölkerung ist 21<br />

e<strong>in</strong> niedriges Durchschnittsalter, bzw. e<strong>in</strong> hoher Anteil junger<br />

Menschen, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>deranteil von 40 % und e<strong>in</strong>e viel kürzere<br />

Lebenserwartung als der ungarische Durchschnitt. Die Fertilität der<br />

Romabevölkerung ist hoch, die durchschnittliche Pro-Kopf-Zahl der<br />

von e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>kommen unterhaltenen Personen beträgt das<br />

Zweifache des ungarischen Durchschnitts.<br />

Bis zum Jahre 2050 wird die Zahl der Roma auf m<strong>in</strong>destens<br />

824.000 und höchstens auf 1,6 Millionen prognostiziert. Wenn man<br />

<strong>in</strong> Betracht zieht, dass die Zahl der alternden ungarischen<br />

Gesamtbevölkerung voraussichtlich auf 8 Millionen zurückgeht,<br />

kann der Anteil der Roma <strong>in</strong>sgesamt 15 % erreichen.<br />

Zweidrittel der Romabevölkerung lebt <strong>in</strong> schlecht ausgestatteten<br />

Wohnungen. Die Arbeitslosigkeit der Roma ist sehr hoch und<br />

erreicht <strong>in</strong> den von Roma bewohnten Regionen (d. h. <strong>in</strong> den<br />

ärmsten Landesteilen, vor allem <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>stdörfern) erschreckende<br />

Werte. Aber selbst <strong>in</strong> diesen Regionen liegt die Beschäftigungsrate<br />

der Roma wesentlich unter dem Durchschnitt der dort lebenden<br />

Bevölkerung.<br />

Und wie steht es mit den Grundschulen? E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> 573 Grundschulen<br />

durchgeführte Untersuchung zeigt 22 , dass <strong>in</strong> Klassen mit normalem<br />

Curriculum der Anteil der Romaschüler bereits jetzt 37 % beträgt. In<br />

spezialisierten Klassen liegt ihr Anteil mit 17 % bei weniger als der<br />

Hälfte. Romak<strong>in</strong>der kommen also kaum <strong>in</strong> spezialisierte Klassen,<br />

<strong>in</strong> denen Englisch, Deutsch, Gymnastik oder Musik Hauptfächer<br />

s<strong>in</strong>d. In Schülergruppen mit besonderen Erziehungsbedürfnissen<br />

liegt der Anteil von Romak<strong>in</strong>dern andererseits bei 73%. Und fast<br />

20 László Szarka: Wie die mitteleuropäischen M<strong>in</strong>derheiten typologisch kategorisiert<br />

werden können. In: M<strong>in</strong>derheitenforschung, 2/1999. (A Közép-európai kisebbségek<br />

tipológiai besorolhatósága. Kisebbségkutatás, 1999.)<br />

21 Demographische Szenarien 1997–2050. (Demográfiai forgatókönyvek 1997-2050.)<br />

Bevölkerungswissenschaftliches Forschungs<strong>in</strong>stitut, Statistisches Zentralamt,<br />

Budapest, 1998.<br />

22 Im Frühl<strong>in</strong>g 2004 haben – dem Auftrag der für die Integration benachteiligter<br />

Romak<strong>in</strong>der zuständigen M<strong>in</strong>isterialbeauftragten des Unterrichtsm<strong>in</strong>isteriums folgend<br />

– Experten des Forschungs<strong>in</strong>stituts für Hochschuldbildung <strong>in</strong> 573 Grundschulen die<br />

Auswirkungen der durch die Regierung e<strong>in</strong>geführten Desegregationsmaßnahmen<br />

untersucht.<br />

208


ROMA IN EUROPA<br />

genauso viele gehen <strong>in</strong> sogenannte Kle<strong>in</strong>gruppen, um zum<br />

Durchschnittsniveau aufzuschließen.<br />

Über die Unterrichtsqualität sagt viel aus, dass <strong>in</strong> Grundschulen <strong>in</strong><br />

den nur von Roma besuchten „homogenen Klassen” mit<br />

Normalcurriculum mit e<strong>in</strong>em um 60% verr<strong>in</strong>gerten Lehrmaterial<br />

unterrichtet wird.<br />

Diese Romak<strong>in</strong>der setzen ihr Laufbahn meistens <strong>in</strong> Fachschulen<br />

fort, wo nur e<strong>in</strong>e sehr beschränkt marktfähige Bildung zu erwerben<br />

ist. Diese Schüler können später den Erforderungen des<br />

Arbeitsmarktes sehr oft nicht gerecht werden.<br />

Romaschüler werden mit e<strong>in</strong>er 8-mal so großen Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

vom täglichen Schulbesuch befreit – d. h. als Privatschüler<br />

e<strong>in</strong>gestuft – als Nicht<strong>roma</strong>-Schüler, wobei dieser Schülerstatus<br />

e<strong>in</strong>deutig zum drastischen Rückgang der Lernergebnisse und zur<br />

Verr<strong>in</strong>gerung der Chancen für e<strong>in</strong>e weitere Ausbildung führt.<br />

Die Zahl der Schulen, <strong>in</strong> denen der Anteil der Roma mehr als 80 %<br />

beträgt, wird immer größer. E<strong>in</strong> Viertel dieser Schulen ist <strong>in</strong> Städten<br />

zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e derartige Segregation e<strong>in</strong>deutig durch den<br />

kommunalen Schulbetreiber zu verantworten ist. Aber selbst <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>eren Siedlungen lässt sich der hohe Anteil stark benachteiligter<br />

Schüler nicht von der Zusammensetzung der Bevölkerung ableiten.<br />

Auch hier steht sehr oft e<strong>in</strong>e Entscheidung der Kommune im<br />

H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Schulen, an denen stark benachteiligte K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d, haben e<strong>in</strong> nur<br />

sehr ger<strong>in</strong>ges Ansehen. In Bezug auf Personal und Ausrüstung s<strong>in</strong>d<br />

sie am schlechtesten ausgestattet. (Die oben angeführten Daten<br />

zeigen seit dem Jahr 2000 – dank der Desegregationsmaßnahmen<br />

der Regierung – e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung der Segregation <strong>in</strong> den<br />

Schulen!)<br />

Sprachlich hat sich die Romabevölkerung <strong>in</strong> Ungarn stark<br />

assimiliert. In den 700er Jahren beherrschten noch 20 % der<br />

Romabevölkerung die Romani-Sprache. Inzwischen g<strong>in</strong>g dieser<br />

Anteil aber auf 5 % zurück. E<strong>in</strong> großer Teil hat also aufgehört, diese<br />

Sprache zu benutzen. 23 - Die Sprache der Roma ist mit allen<br />

anderen M<strong>in</strong>derheitensprachen gleichgestellt, und die Regierung<br />

23 E<strong>in</strong>schliesslich der sog. „Beas”-Sprache, e<strong>in</strong>e altrumänische Sprache, die für 10%<br />

der als Roma geltenden Menschen die Muttersprache ist.<br />

209


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

hält es für wünschenswert, diese Sprache <strong>in</strong> Schulen zu<br />

unterrichten, Fakultäten für Romologie zu gründen, die Sprache zu<br />

erforschen und zu lehren. Trotzdem stellt sich ernsthaft die Frage,<br />

ob die Romani-Sprache <strong>in</strong> Ungarn überhaupt e<strong>in</strong>e Chance zu<br />

überleben hat? 24<br />

Diese Frage ist auch deshalb sehr wichtig, weil entsprechend dem<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetz die geme<strong>in</strong>schaftliche Benutzung der<br />

Muttersprache, die diese Menschen von anderen Teilen der<br />

Bevölkerung unterscheidet, als e<strong>in</strong>es der immanenten Kriterien des<br />

M<strong>in</strong>derheitenbegriffes gilt: Ohne Muttersprache gibt es dem Gesetz<br />

nach ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaften.<br />

Da die eigene Muttersprache als wichtigstes Element der<br />

ethnischen Identität gilt, aber auch wegen der <strong>in</strong> allen Bereichen<br />

des gesellschaftlichen Lebens beweisbar vorhandenen<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung, haben die ungarischen Roma auch mit e<strong>in</strong>er<br />

Identitätskrise zu kämpfen.<br />

Die mit <strong>in</strong>neren Konflikten, seelischen Verletzungen und<br />

M<strong>in</strong>derwertigkeitskomplexen e<strong>in</strong>hergehende Selbstverleugnung<br />

kann bereits im K<strong>in</strong>desalter erkannt werden. Das „Schicksal“ von<br />

Jugendlichen gestaltet sich <strong>in</strong> den Mehrheitsgeme<strong>in</strong>schaften anders<br />

als <strong>in</strong> dieser M<strong>in</strong>derheitengeme<strong>in</strong>schaft. Der zur Mehrheit der<br />

Gesellschaft gehörende Jugendliche kann se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Krise <strong>in</strong> der<br />

Regel mit der Zeit meistern und se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />

f<strong>in</strong>den, sich <strong>in</strong>tegrieren. Der zur M<strong>in</strong>derheit gehörende Jugendliche<br />

kämpft weiterh<strong>in</strong> mit der eigenen Identität: Wer b<strong>in</strong> ich? Warum b<strong>in</strong><br />

ich gerade so, wie ich b<strong>in</strong>? Wo komme ich her? Warum werde ich<br />

von der mehrheitlichen Gesellschaft nicht angenommen? 25<br />

Wie aus Forschungen hervorgeht, würde <strong>in</strong> Ungarn m<strong>in</strong>destens die<br />

Hälfte der Roma die eigene Herkunft verleugnen, wenn dies wegen<br />

der äußeren Merkmale nicht unmöglich wäre. Vergessen wir nicht:<br />

E<strong>in</strong>e Roma-Herkunft zu beweisen, ist nur <strong>in</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht<br />

wegen der Datenschutzregelungen schwierig. In der Praxis läuft die<br />

Sache recht „problemlos“. In der langsam wachsenden Gruppe der<br />

Roma-Intelligenz wird häufig die – menschlich verständliche –<br />

„Bleichungsstrategie“ verfolgt, die auch dadurch erleichtert wird,<br />

dass die ungarische Gesellschaft – zum<strong>in</strong>dest meistens - Roma mit<br />

24 János Báthory: Identität ohne Sprache?,<br />

www.ctmt.fw.hu/news/200404/b%E1tori.htm<br />

25 Szabóné Judit Kármán: Abweichende Züge der Sozialisation <strong>in</strong> Schule und Familie<br />

im Leben der Romak<strong>in</strong>der, http://www.mave.hu/news.php?cat=1124_2<br />

210


ROMA IN EUROPA<br />

Universitätsabschluss zwar gerne akzeptiert, diese aber nur als<br />

„Ausnahme“ ansieht. Nicht <strong>in</strong> diese Gruppe fallen allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Romapolitiker und die im Staatswesen tätigen und für Romafragen<br />

zuständigen Beauftragten, die praktisch als „professionelle Roma“<br />

angesehen werden,<br />

Wie e<strong>in</strong>e im Januar 2005 durchgeführte Forschung zeigte 26 , gibt es<br />

nur e<strong>in</strong>e Gruppe <strong>in</strong> der untersuchten ungarischen Gesellschaft, die<br />

mehr als der Durchschnitt auf ihrem Europäischse<strong>in</strong> besteht. Das<br />

s<strong>in</strong>d die Roma, die aber gleichzeitig ihre ungarische Identität<br />

ebenfalls für wichtig halten. Ihr europäischer Stolz geht also<br />

e<strong>in</strong>erseits nicht zulasten der ungarischen Identität, andererseits<br />

brauchen sie unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Beziehungspunkt außerhalb des<br />

Mutterlandes, der Sicherheit, genauer gesagt den Ansche<strong>in</strong> der<br />

Sicherheit, gibt und gewissermaßen das Mutterland ersetzt.<br />

Arbeitslosigkeit, tiefe Armut, Wohnungsprobleme, Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong><br />

sämtlichen Lebensbereichen und Unsicherheit – mit diesen Worten<br />

lässt sich kurz die Situation der ungarischen Roma-Gesellschaft<br />

beschreiben.<br />

2. Das subjektive Verhältnis zur kulturellen Autonomie<br />

Zahl und Anteil der Roma-Selbstverwaltungen wachsen ständig 27 .<br />

Dies ist e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Anzeichen dafür, dass die Existenz der<br />

durch die Verfassung und das M<strong>in</strong>derheitengesetz konstruierten<br />

Rechts<strong>in</strong>stitution der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung für die<br />

ungarische Roma-Gesellschaft sehr wichtig ist.<br />

Die Frage ist, ob dieses zahlen- und anteilmäßige Wachstum der<br />

M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen e<strong>in</strong> positives Verhältnis der Roma<br />

zur kulturellen Autonomie darstellt. Oder bedeutet es nur, dass es<br />

ke<strong>in</strong> anderes staatlich unterstütztes Interessenvertretungsforum für<br />

die ungarische Roma-Gesellschaft gibt? Oder bedeutet es noch<br />

weniger? Bedeutet es vielleicht nur e<strong>in</strong> niedriges Mandatshonorar<br />

bzw. e<strong>in</strong>e Möglichkeit zum Lobby<strong>in</strong>g von zweifelhaftem Wert für<br />

etwa 3000 Privatpersonen? Oder nicht e<strong>in</strong>mal soviel?<br />

26 Die Forschung wurde im Auftrag der Stiftung Demokratieforschungen vom Institut<br />

Tárki durchgeführt, Népszabadság, 11. März 2005.<br />

27 Im Jahre 1998 waren von 1309 M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen 753 Roma-<br />

Selbstverwaltungen; im Jahre 2002 waren von 1473 M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltungen<br />

1002 Zigeuner-M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen.<br />

211


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

3. Braucht man überhaupt Roma-Selbstverwaltungen?<br />

Laut e<strong>in</strong>er im Herbst 2001 und im Frühl<strong>in</strong>g 2002 durchgeführten<br />

Untersuchung 28 beantwortete e<strong>in</strong>e Mehrheit von 70 % der<br />

Vorsitzenden der Roma-Selbstverwaltungen diese Frage mit ja. Sie<br />

erwähnten dabei, wie wichtig es sei, die Integration der Roma<br />

voranzutreiben, ihre Interessen zu vertreten und die Me<strong>in</strong>ung der<br />

Roma-Bevölkerung zu artikulieren. Sie erklärten auch, dass die<br />

Roma-Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Richtung der Romabevölkerung als<br />

Kommunikationskanal funktionieren können. Fast niemand hat<br />

dabei an die kulturelle Autonomie und die Aufgabe der<br />

Traditionserhaltung gedacht, obwohl dies entsprechend dem<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetz das Hauptprofil der M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltungen ist.<br />

90 % der Leiter der Roma-Selbstverwaltungen hielten es für wichtig,<br />

dass die Roma-Selbstverwaltungen existieren. Es gab jedoch<br />

ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen (!) Abgeordneten, der Autonomie und<br />

Traditionserhaltung als etwas Notwendiges erwähnt hätte.<br />

Die Antwort auf die Frage ist daher: Ja – aber nicht um kulturelle<br />

Autonomie zu sichern.<br />

4. Wozu s<strong>in</strong>d also Roma-Selbstverwaltungen gut?<br />

Die Mehrheit der Romaabgeordneten me<strong>in</strong>en, dass das „Roma-<br />

Problem behandelt wird“ 29 Die Abgeordneten glauben sogar <strong>in</strong><br />

vielen Bereichen seriöse Kompetenzen zu besitzen, die ihnen laut<br />

Gesetz überhaupt nicht zustehen. Dazu gehört unter anderem die<br />

soziale Arbeit. 30<br />

8 Ernő Kállai: Erfahrungen und wünschenswerte Änderungen bei den lokalen<br />

Zigeuner-M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen, <strong>in</strong>. Tér és terep, Ed.: Nóra Kovács, Anna<br />

Osvát und László Szarka, Akademischer Verlag, Budapest, 2004.<br />

9 Siehe: Kállai<br />

10 Siehe: 102/C. § (1), Gesetz Nr. LXV. von 1990 über die lokalen<br />

Selbstverwaltungen. Die lokalen M<strong>in</strong>derheitenaufgaben und die diesbezüglichen<br />

Kompetenzen stehen dem lokalen M<strong>in</strong>derheitenselbstverwaltung zu. Das Gremium<br />

kann se<strong>in</strong>e Kompetenz auf den Vorsitzenden und den Ausschuss übertragen.<br />

(2) Die Abgeordneten der kommunalen Selbstverwaltung können ihre Aufgaben und<br />

Kompetenzen – mit Ausnahme von Aufgaben und Kompetenzen, die mit behördlichen<br />

Tätigkeiten und Kommunale Versorgung zusammenhängen – auf das Gremium der<br />

lokalen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung übertragen<br />

212


ROMA IN EUROPA<br />

Aus den Antworten von kommunalen Führungskräften geht es<br />

hervor, dass den Roma-Selbstverwaltungen besondere<br />

Kompetenzen im Bereich der Abwicklung von sozialen<br />

Angelegenheiten zugemutet werden. Das heißt, dass nicht nur<br />

Roma-Führungskräfte selbst bei sich das Recht, <strong>in</strong> sozialen<br />

Angelegenheiten aktiv zu werden, vermuten, sondern dass sie auch<br />

<strong>in</strong> dieser Rolle von anderen kommunalen Führungskräften bestätigt<br />

werden. In vielen Fällen werden sie sogar mit diesen<br />

Angelegenheiten beauftragt, woran die Romabevölkerung ihrerseits<br />

meistens auch tatsächlich <strong>in</strong>teressiert ist. Dadurch werden<br />

gleichzeitig die Verantwortung und die mit sozialen Aufgaben<br />

e<strong>in</strong>hergehenden Konfrontationslasten an die Roma-<br />

Selbstverwaltungen delegiert.<br />

Ungefähr Zweidrittel jener, die sich mit Beschwerden an den<br />

M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten (Ombudsman) wenden, s<strong>in</strong>d Roma, und<br />

bei fast Zweidrittel davon geht es um Sozialhilfe, Sozialarbeit,<br />

Wohnung und um andere soziale Fragen. Wenn der<br />

M<strong>in</strong>derheitenbeauftragte auf nationaler Ebene <strong>in</strong> sozialen<br />

Angelegenheiten <strong>in</strong> dem Maße um Hilfe gebeten wird, dann ist es<br />

durchaus vorstellbar, dass <strong>in</strong> Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit<br />

die Roma-Selbstverwaltungen – die sich selbst soziale<br />

Kompetenzen zumuten – fast ausschließlich mit sozialen<br />

Problemen aufgesucht werden.<br />

Laut e<strong>in</strong>er Untersuchung von 1999 31 halten 46,4 % der Roma die<br />

Arbeit der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen für nicht ausreichend<br />

und 40 % glauben nicht daran, dass die M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltung ihren Erwartungen gerecht wird. Im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

s<strong>in</strong>d sie der Me<strong>in</strong>ung, dass die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung bei<br />

der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben ke<strong>in</strong>e guten Ergebnisse<br />

aufweist.<br />

Statt Unterricht von Kultur, Geschichte oder Sprache der Roma<br />

halten es die Roma selbst für viel wichtiger, dass die Roma-<br />

Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Sachen Ausbildung von Arbeitskräften,<br />

Sozialhilfe, Wohnungswesen aktiv werden, bzw. Fälle von<br />

Diskrim<strong>in</strong>ierung aufdecken. Statt der Durchsetzung von<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechten wird die Durchsetzung von sozialen Rechten<br />

11 Robert E. Koulish: Was wollen die Roma? E<strong>in</strong>e Untersuchung über die Attitüden im<br />

öffentlichen Leben der Roma <strong>in</strong> Ungarn, www.<strong>roma</strong>centrum.hu/aktualis/tud.kut<br />

213


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

der Roma als e<strong>in</strong>e viel wichtigere Aufgabe der M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltungen erachtet.<br />

Die anderen nationalen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen<br />

veranstalten generell viele Kulturprogramme (Bälle, gastronomische<br />

Abende, Auftritt von Tanzgruppen und Volkschören, volkstümliche<br />

Aufführungen, Studentenlager, Gesangslager etc.). Die Tätigkeit<br />

der Roma-Verwaltungen besteht dagegen grundsätzlich aus<br />

Lobby<strong>in</strong>g. Die Roma-Bevölkerung bittet ihre M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltungen vorwiegend <strong>in</strong> solchen Angelegenheiten um<br />

Hilfe, <strong>in</strong> denen die Selbstverwaltung überhaupt ke<strong>in</strong>e Kompetenzen<br />

hat, wie bei Wohnungsproblemen, Arbeitsplatzsuche, Schulden den<br />

Stadtwerken gegenüber, Geldhilfe. In solchen Angelegenheiten<br />

kann sich die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung höchstens vermittelnd<br />

e<strong>in</strong>setzen, sie kann auf e<strong>in</strong>e Lösung h<strong>in</strong>wirken und gute Worte<br />

e<strong>in</strong>legen. Typischerweise werden auch kommunale und<br />

geme<strong>in</strong>nützige Arbeiten organisiert und abgewickelt. Dabei werden<br />

die Arbeitskräfte durch die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung<br />

ausgewählt. Sie ist auch für die Überwachung und Kontrolle der<br />

Arbeiten zuständig, wodurch sie auch die daraus entstehenden<br />

Konflikte austragen muss.<br />

Dabei geht es nicht nur um e<strong>in</strong>e „freiwillige“ Aufgabenübernahme<br />

seitens der Roma-Selbstverwaltungen. Vielmehr erwartet dies die<br />

Regierung auch, und zwar mit dem Ziel, den Roma-Arbeitslosen zu<br />

Vorteilen zu verhelfen und ihnen Vergünstigungen 32 zu sichern. Das<br />

Arbeitsm<strong>in</strong>isterium kann nämlich die zur Vergünstigung nicht<br />

berechtigten Personen nur durch „Mitwirkung“ der Roma-<br />

Selbstverwaltung herausfiltern.<br />

32 Die relevanten Regelungen s<strong>in</strong>d Teil der Verordnung Nr. 6/1996. (16.VII.) des<br />

Arbeitsm<strong>in</strong>isteriums über beschäftigungsfördernde Unterstützungen. Die<br />

Vergünstigungen können grundsätzlich <strong>in</strong> zwei Kategorien e<strong>in</strong>gestuft werden.<br />

Abweichend von den allgeme<strong>in</strong>en Regeln, kann zum Erwerb e<strong>in</strong>es<br />

Grundschulabschlusses, e<strong>in</strong>er Fachausbildung, e<strong>in</strong>er für die Hochschule oder<br />

Universität vorbereitenden Bildung Unterstützung gewährt werden, wenn <strong>in</strong> der<br />

Rekrutierung und Auswahl der Teilnehmer auch die Roma-Selbstverwaltung, e<strong>in</strong><br />

Zusammenschluss von mehreren Roma-Selbstverwaltungen oder aber e<strong>in</strong>e<br />

gerichtlich e<strong>in</strong>getragene Roma-Interessenvertretungs-Organisation mitwirkt. Laut<br />

rechtlicher Bestimmung wird die Vergünstigung auch dann vorteilhafter, wenn die<br />

Teilnahme von Roma an geme<strong>in</strong>nützigen Arbeiten von e<strong>in</strong>er Roma-Selbstverwaltung,<br />

von e<strong>in</strong>em Zusammenschluss von mehreren Roma-Selbstverwaltungen oder aber<br />

durch e<strong>in</strong>e gerichtlich e<strong>in</strong>getragene Roma-Interessenvertretungs-Organisation<br />

organisiert wird oder wenn diese wenigstens an der Organisationsarbeit teilnehmen.<br />

In diesem Fall kann die Unterstützung bis zu 90 % der direkten Kosten der<br />

Beschäftigung betragen und anstatt während e<strong>in</strong>es Jahres zwei Jahre lang<br />

ausgezahlt werden.<br />

214


ROMA IN EUROPA<br />

Hier haben wir offenbar e<strong>in</strong>en Widerspruch: Obwohl das<br />

Selbstverwaltungsgesetz den M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen<br />

ke<strong>in</strong>e behördlichen Aufgaben zuteilt, wird durch e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>isterielle<br />

Verordnung bei e<strong>in</strong>er adm<strong>in</strong>istrativen Beschäftigungsaufgabe e<strong>in</strong>e<br />

„Mitwirkung“ der Roma-Selbstverwaltungen erwartet, allerd<strong>in</strong>gs<br />

ohne Zusicherung von behördlichen Kompetenzen.<br />

5. Wie funktioniert die Roma-Selbstverwaltung?<br />

Die wichtigste Tätigkeit, das Lobby<strong>in</strong>g, wird von persönlichen<br />

Kontakten bestimmt: Wenn führende Persönlichkeiten der Roma-<br />

M<strong>in</strong>derheit Erfolg bei der Erledigung e<strong>in</strong>er Sache haben wollen,<br />

dann besuchen sie meistens den Bürgermeister. Sie wenden sich<br />

ebenfalls sehr oft an den kommunalen Verwaltungschef 33<br />

Es lässt sich daher feststellen, dass die Funktionsfähigkeit <strong>in</strong> erster<br />

L<strong>in</strong>ie davon abhängt, wie die zwei Selbstverwaltungen, die<br />

kommunale und die der M<strong>in</strong>derheit, subjektiv zusammenarbeiten<br />

können und wollen. Der Schutz der M<strong>in</strong>derheitenrechte sollte aber<br />

nicht von subjektiven Überzeugungen abhängen, sondern auf<br />

e<strong>in</strong>deutige Regelungen basieren.<br />

In den vom Ombudsman für M<strong>in</strong>derheiten 2002 und 2003<br />

durchgeführten umfassenden Untersuchungen („Wie<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechte <strong>in</strong> der Praxis zur Geltung kommen“) gehörte es<br />

ebenfalls zu den wichtigsten Feststellungen, dass der Erfolg der<br />

Zusammenarbeit von kommunalen und M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltungen grundsätzlich vom Beziehungskapital bestimmt<br />

wird, also stark von guten persönlichen Beziehungen und<br />

politischen Sympathien abhängt.<br />

Untersuchungen zeigen, dass das Durchsetzungsvermögen e<strong>in</strong>er<br />

M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung gestärkt wird, wenn der<br />

Bürgermeister der fraglichen Geme<strong>in</strong>de zu e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit gehört<br />

und/oder der Vorsitzende der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung auch<br />

Mitglied des Geme<strong>in</strong>de(Stadt)rates ist. 34<br />

33 Siehe: Kállai<br />

34 Es soll dabei bemerkt werden, dass bei den Wahlen von 2002 die Bürger der<br />

<strong>in</strong>sgesamt 3167 ungarischen Siedlungen 4 Personen der Roma-M<strong>in</strong>derheit zu<br />

Bürgermeistern (dies entspricht 0,12 %) und 545 zu lokalen Abgeordneten, d. h. zu<br />

Mitgliedern ders kommunalen Vertretungskörperschaften, gewählt haben. Aber auch<br />

die letzte Zahl entspricht nicht dem Anteil der Roma-Bevölkerung an der<br />

215


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

Aus diesem Grund s<strong>in</strong>d die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen der<br />

Roma von e<strong>in</strong>em Zwang zur Zusammenarbeit und<br />

Konfliktvermeidung durchdrungen: Für sie ist wichtiger als alles<br />

andere, gute Beziehungen mit dem Bürgermeisteramt, dem<br />

Bürgermeister und dem Notar aufzubauen und zu pflegen.<br />

6. Die objektiven Bed<strong>in</strong>gungen der „kulturellen Autonomie“ der<br />

Roma<br />

6.1. Die besondere f<strong>in</strong>anzielle Situation der Roma-<br />

Selbstverwaltungen<br />

Um gesetzesmäßig zu funktionieren, reicht es für e<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung aus, der formalen Anforderung<br />

nachzukommen und jährlich sechs Sitzungen abzuhalten. Daher<br />

besteht durchaus die Möglichkeit, die zur Verfügung stehenden<br />

spärlichen staatlichen Zuschüsse ausschließlich für<br />

Abgeordnetenhonorare, bzw. Spesen und Kostenerstattungen, zu<br />

verwenden. Deswegen ist es nicht nur vorstellbar, sondern es<br />

kommt oft auch <strong>in</strong> der Praxis vor, dass Roma-Selbstverwaltungen<br />

ke<strong>in</strong>e tatsächlichen Tätigkeiten ausüben, und wegen des<br />

Geldmangels auch nicht ausüben können.<br />

Entscheidet sich e<strong>in</strong>e Roma-Selbstverwaltung für Honorar und/oder<br />

Kostenerstattung, so kann sie kulturelle Veranstaltungen erst dann<br />

organisieren, wenn die kommunale Selbstverwaltung, die eigentlich<br />

hierzu nicht verpflichtet ist, Ressourcen zur Verfügung stellt. Auf<br />

persönliche Beziehungen und politischem Vertrauen basierende<br />

Unterstützungen gehen aber immer Hand <strong>in</strong> Hand mit Unterordnung<br />

und Verb<strong>in</strong>dlichkeit.<br />

Und dabei kann man nicht leugnen, dass viele Abgeordneten der<br />

Roma arm s<strong>in</strong>d. Für sie kann selbst e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Summe sehr viel<br />

bedeuten, und zwar so viel, dass sie, wenn sie die kommunale<br />

Gesamtbevölkerung: Die Zahl der Roma-Abgeordneten <strong>in</strong> den lokalen<br />

Vertretungskörpern beträgt weniger als 2 %, während der Anteil der Roma an der<br />

ungarischen Gesamtbevölkerung wahrsche<strong>in</strong>lich über 5 % liegt. Das Bild ist noch<br />

trauriger, wenn wir berücksichtigen, dass die überwiegende Mehrheit der Roma-<br />

Kandidaten nicht aus eigenem Recht, sondern nur durch die den<br />

M<strong>in</strong>derheitenkandidaten zustehenden besonderen Vergünstigungen Bürgermeister<br />

bzw. Abgeordnete wurden. (Übrigens haben e<strong>in</strong>ige nicht zur M<strong>in</strong>derheit gehörenden<br />

Personen, gerade wegen dieser Vergünstigungen den M<strong>in</strong>derheiten-Kandidaten-<br />

Status missbraucht.)<br />

216


ROMA IN EUROPA<br />

Selbstverwaltung zum Mitspielen bewegen können, auch die<br />

Honorare unter dem Titel „Kostenerstattung“ annehmen (wobei<br />

natürlich ke<strong>in</strong>e tatsächlichen Aufwendungen erfolgten), weil eben<br />

dies steuerfrei ist. Und jene Politiker, die praktisch nur für ihren<br />

Lebensunterhalt Politik machen (sog. „Erwerbspolitiker“), können<br />

nicht e<strong>in</strong>mal jene Sachen durchsetzen, zu denen sie vom Gesetz<br />

her berechtigt wären: Sie s<strong>in</strong>d käuflich, und dazu reicht manchmal<br />

die Möglichkeit, e<strong>in</strong> Mobiltelefon gratis benutzen zu dürfen.<br />

Mit Sicherheit können die Roma-Selbstverwaltungen nur mit der<br />

staatlichen Unterstützung rechnen. Von außerhalb kommt ke<strong>in</strong><br />

Geld, da es für sie ke<strong>in</strong>en Mutterstaat gibt. An Ausschreibungen<br />

können sie nur sehr selten teilnehmen. Dazu muss man die<br />

Ausschreibungen verfolgen und die Bewerbungen schreiben<br />

können, wofür sie Hilfe von der kommunalen Selbstverwaltung<br />

brauchen würden.<br />

Es ist bloß e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfall, trotzdem ist er typisch: Bei der oben<br />

angesprochenen Untersuchung der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten<br />

stellte sich heraus, dass an e<strong>in</strong>em Ort <strong>in</strong> Ungarn der Vorsitzende<br />

der deutschen M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung die Hälfte se<strong>in</strong>es<br />

Honorars regelmäßig an die Roma-Selbstverwaltung überwies, weil<br />

dort außer den staatlichen Zuschüssen überhaupt ke<strong>in</strong>e anderen<br />

Gelder ankamen.<br />

6.2. Die „parteiische“ kulturelle Autonomie<br />

Da die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen laut Gesetz nur Rechte,<br />

und ke<strong>in</strong>e Pflichtaufgaben und Verpflichtungen haben, kann es<br />

auch - ad absurdum - vorkommen, dass e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>derheitenvere<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

der Organisierung von Dienstleistungen für M<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>e<br />

aktivere Rolle spielt als die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung selbst.<br />

Das Parteiischwerden der Roma-Selbstverwaltungen führt (vor<br />

allem <strong>in</strong> den Städten) dazu, dass die politischen Kräfte der<br />

fraglichen Stadt ihre Unterstützung für die M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Selbstverwaltung oder für e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>derheitenvere<strong>in</strong> (auch bei der<br />

Gründung von Vere<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d oft verschiedene politische Kräfte im<br />

Spiel) davon abhängig machen, auf welcher Seite sie <strong>in</strong> der „großen<br />

Politik“ stehen. Unterstützungen, die auf e<strong>in</strong>er vertraulichen<br />

Beziehung basieren, werden aber immer mit Unterwürfigkeit,<br />

Servilismus und Opportunismus e<strong>in</strong>hergehen.<br />

217


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

6.3. Die „Unwissenheit”<br />

Das, was die M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen von den zivilen<br />

Organisationen (Vere<strong>in</strong>e) unterscheidet, s<strong>in</strong>d eben die Mehrrechte,<br />

d. h. das bereits erwähnte E<strong>in</strong>verständnisrecht (oder Vetorecht) bei<br />

gewissen Entscheidungen des Geme<strong>in</strong>derates. Doch br<strong>in</strong>gt es, im<br />

Alltagsleben nicht viel für die M<strong>in</strong>derheit, wenn ihre Repräsentanten<br />

entweder der Mehrheitselite persönlich ausgeliefert s<strong>in</strong>d, oder ihre<br />

Rechte überhaupt nicht kennen. Es ist wohl überflüssig zu<br />

erwähnen, dass die mangelhaften rechtlichen Kenntnisse<br />

besonders <strong>in</strong> den Roma-Selbstverwaltungen weit verbreitet s<strong>in</strong>d,<br />

auch wenn Verwaltungsämter auf Ebene der Komitate von Zeit zu<br />

Zeit Schulungen für lokale Abgeordneten veranstalten, und<br />

manchmal auch Mitarbeiter der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragten mit<br />

e<strong>in</strong>beziehen. Diese Schulungen s<strong>in</strong>d allgeme<strong>in</strong>er Art, und im Laufe<br />

der Rechtsanwendung s<strong>in</strong>d sie nicht besonders effizient.<br />

6.4. Fragen der Legitimation<br />

Laut geltender Regelungen dürfen alle lokalen Wahlberechtigten<br />

ihre Stimmen bei der Wahl der M<strong>in</strong>derheitenvertretungen abgeben.<br />

Deswegen können die „Sympathiestimmen“ aus der Mehrheit oder<br />

von anderen M<strong>in</strong>derheiten gegebenenfalls bedeuten, dass die<br />

Selbstverwaltung e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit mehrheitlich von Bürgern<br />

gewählt wird, die nicht zu dieser M<strong>in</strong>derheit gehören. Nach e<strong>in</strong>em<br />

verbitterten ethnischen Konflikt ist es bereits vorgekommen, dass<br />

die zur Mehrheit gehörenden Bewohner e<strong>in</strong>er Siedlung e<strong>in</strong>e aus<br />

Nicht-Roma bestehende Roma-Selbstverwaltung gewählt haben. 35<br />

Daher ist es höchst überraschend, dass fast die Hälfte der<br />

Führungskräfte der Roma-Selbstverwaltungen und der kommunalen<br />

Selbstverwaltungen mit dem jetzigen Wahlsystem zufrieden s<strong>in</strong>d.<br />

35 Die Selbstverwaltung – vor allem der Bürgermeister – hat die Segregation von<br />

Roma und Nicht<strong>roma</strong>-K<strong>in</strong>der dadurch legalisiert, dass er die Gründung e<strong>in</strong>er Stiftung<br />

gefördert und unterstützt hat, um e<strong>in</strong>e weitere Schule zu eröffnen. Da das<br />

Verwaltungsamt auf Komitatsebene das Gesetz fehlerhaft ausgelegt hat, konnte die<br />

lokale M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung se<strong>in</strong>e im Gesetz verankerte Rechte nicht<br />

geltend machen und hat vergebens e<strong>in</strong> Veto gegen die Entscheidung der<br />

kommunalen Selbstverwaltung e<strong>in</strong>gelegt. Man hat alle weiteren Gegenmaßnahmen<br />

der M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung <strong>in</strong> der Weise verh<strong>in</strong>dert, dass man bei den Wahlen<br />

zur M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltung planmäßig und bewusst solche Personen als<br />

Kandidaten antraten und Mandate erwarben, die e<strong>in</strong>deutig und <strong>in</strong> deklarierter Weise<br />

nicht zur Roma-M<strong>in</strong>derheit gehörten. Mit ihnen wurden alle Entscheidungen, die sich<br />

gegen die Interessen der Roma-M<strong>in</strong>derheit richteten, möglich.<br />

218


ROMA IN EUROPA<br />

Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass man fast sicher se<strong>in</strong><br />

kann, nicht zum Mitglied der M<strong>in</strong>derheitenvertretung gewählt zu<br />

werden, wenn man nur mit den Stimmen von Menschen rechnen<br />

muss, deren Erwartungen man nicht erfüllen konnte, weil mangels<br />

gesetzlicher Kompetenzen dazu von vornehere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

bestand. Bei der Bestimmung der Kriterien e<strong>in</strong>er Kandidatur<br />

betrachten die lokalen kommunalen Selbstverwaltungen die<br />

M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen als Organ der gegebenen<br />

M<strong>in</strong>derheit und erwarten von ihr, dass nur sie an der Erledigung der<br />

eigenen Angelegenheiten teilnehmen. Bei der Wahl der<br />

Vertretungskörper geht jedoch die Mehrheit mit Recht davon aus,<br />

dass sie, obwohl sie nicht zur M<strong>in</strong>derheit gehört, e<strong>in</strong> Recht darauf<br />

hat, bei der Wahl die Entscheidung zu bee<strong>in</strong>flussen. Damit werden<br />

die Kräfteverhältnisse <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheitenvertretung stark<br />

verändert. 36<br />

Auch die politischen Parteien haben den Wahlen für die<br />

M<strong>in</strong>derheiten-Selbstverwaltungen <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e besondere<br />

Bedeutung beigemessen. In vielen Fällen haben sie versucht, <strong>in</strong><br />

früher nicht da gewesenen Maßen die Ergebnisse zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />

Der M<strong>in</strong>derheitenbeauftragte wies darauf h<strong>in</strong>: Wenn politische<br />

Kräfte versuchen die Ergebnisse zu bee<strong>in</strong>flussen, kann das das<br />

Selbstverwaltungsrecht als solches gefährden. Da aber die<br />

politischen Parteien bei der Artikulierung der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>e sehr wichtige Rolle spielen, es ist unmöglich, ihnen die<br />

E<strong>in</strong>mischung zu verbieten. Sie haben das Recht, ihre Standpunkte<br />

zu formulieren und an Kampagnen von M<strong>in</strong>derheiten-<br />

Organisationen teilzunehmen.<br />

Da die e<strong>in</strong>zelnen M<strong>in</strong>derheiten-Organisationen s<strong>in</strong>d immer auf der<br />

Suche nach politischen Verbündeten <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Parteien. Dies gilt auch umgekehrt. Die Grundsatzfrage bei den<br />

Wahlen lautet daher nicht mehr, welche Organisation am besten die<br />

Interessen der fraglichen M<strong>in</strong>derheit vertritt. Die Selbstverwaltungen<br />

der M<strong>in</strong>derheiten, hier der Roma, bilden sich vielmehr <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an die „rechten“ und „l<strong>in</strong>ken“ politischen Kräften.<br />

36 Die Öffentliche Stiftung für Europäische M<strong>in</strong>derheiten-Vergleichsforschungen<br />

untersuchte Ende 2000 <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit der Median Kft. die mit den <strong>in</strong> Ungarn<br />

lebenden M<strong>in</strong>derheiten zusammenhängenden Kenntnisse. Die Forschungsergebnisse<br />

wurden unter dem Titel M<strong>in</strong>derheiten, Wahlen und Selbstverwaltungen <strong>in</strong> Ungarn<br />

publiziert. Budapest, EOKIK 2002.<br />

219


DR. JENÕ KALTENBACH - LÁSZLÓ FÓRIKA<br />

6.5. Schlussfolgerungen<br />

Es gibt Witze über die Roma, die besagen, dass „die Zigeuner, die<br />

ja so hohe K<strong>in</strong>derzahlen haben, bald Ungarn regieren“ und sich im<br />

Parlament sitzend den Kopf über die „Ungarnfrage“ zerbrechen<br />

werden. Aber es ist falsch, so etwas anzunehmen. Wahr ist, dass<br />

die Roma-M<strong>in</strong>derheit anteilmäßig immer größer wird. Die Statistiken<br />

zeigen sogar, dass sich ihr Anteil gerade <strong>in</strong> der Altersgruppe der<br />

Arbeitsfähigen besonders drastisch verändern wird. Trotzdem dürfte<br />

die Roma-M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Ungarn – gemessen an ihrem E<strong>in</strong>fluss und<br />

ihrer Macht – e<strong>in</strong>e „ewige M<strong>in</strong>derheit“ bleiben.<br />

Warum? Nur e<strong>in</strong>e wirklich gute politische Interessenvertretung und<br />

e<strong>in</strong>e engagierte <strong>in</strong>tellektuelle Elite könnte die <strong>in</strong>nere Kohäsion der<br />

Gruppe gewährleisten (zurzeit gibt es weder das e<strong>in</strong>e noch das<br />

andere). Da die Geme<strong>in</strong>schaft der Roma nach dem<br />

Systemwechsel, d. h. <strong>in</strong> den letzten 15 Jahren, ke<strong>in</strong>e Kraft und<br />

ke<strong>in</strong>en Willen entwickelt hat, die Verantwortung für die<br />

gesellschaftliche Mobilisierung der Roma und zur Überw<strong>in</strong>dung<br />

ihres stagnierenden Zustandes zu übernehmen, wird diese<br />

Verantwortung ausschließlich von der politischen Elite der Mehrheit<br />

getragen.<br />

Was bedeutet und welches Gewicht hat die „Zigeunerfrage“, wenn<br />

wir sie vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Zukunft, der Wettbewerbsfähigkeit<br />

und der moralischen Haltung der ungarischen Gesellschaft<br />

betrachten? Ist es e<strong>in</strong>e Frage von Romani-Sprachunterricht,<br />

Zigeuner-Tanzhaus, Jugendcamp für Traditionspflege, und ist es<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e Frage der gefährdeten Kultur, die ansonsten sehr<br />

wichtig ist, und für den Bestand der M<strong>in</strong>derheit sorgen kann? Oder<br />

ist es e<strong>in</strong>e deprimierende Flut von Problemen, die bereits <strong>in</strong> naher<br />

Zukunft schwere Auswirkungen für das Gleichgewicht der gesamten<br />

Gesellschaft haben werden, und deshalb nicht nur im Bereich der<br />

M<strong>in</strong>derheitenpolitik zu behandeln s<strong>in</strong>d?<br />

Diese Frage zu entscheiden und dementsprechend zu handeln ist<br />

ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach und bisher auch niemandem gelungen: Um<br />

radikale, mehrere Regierungen überspannende Änderungen zu<br />

bewirken, müsste die politische Elite ihre jetzige Denkweise, die<br />

ausschließlich auf kurzfristigen Machtgew<strong>in</strong>n und –erhalt<br />

ausgerichtet ist, aufgeben und e<strong>in</strong>sehen, dass die Roma-Politik<br />

nicht auf die Stimmen ausgerichtet se<strong>in</strong> sollte, die man mit ihr<br />

verlieren oder gew<strong>in</strong>nen kann, sondern e<strong>in</strong> moralisches, bzw.<br />

menschenrechtliches Fundament haben sollte, das auch mit den<br />

220


ROMA IN EUROPA<br />

langfristigen wirtschaftlichen Interessen des Landes <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang<br />

steht.<br />

221


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

Die Selbstverwaltung der Roma <strong>in</strong> Suto Orizari<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Es ist e<strong>in</strong>e große Ehre, e<strong>in</strong> Mitglied der Roma-Geme<strong>in</strong>schaft zu<br />

se<strong>in</strong>, und es ist e<strong>in</strong>e noch größere Ehre <strong>in</strong> Suto Orizari leben zu<br />

können – der ersten Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> der Welt, <strong>in</strong> der über 80 Prozent<br />

der E<strong>in</strong>wohner Roma s<strong>in</strong>d. Als Romani Journalist<strong>in</strong> hatte ich das<br />

Glück, an der E<strong>in</strong>weihung von Suto Orizari teilnehmen zu können.<br />

In den 11 Jahren me<strong>in</strong>er Karriere als Journalist<strong>in</strong> für die<br />

Nachrichtenabteilung der Roma im makedonischen Fernsehen ist<br />

so viel passiert, dass ich niemals Gefahr lief, dass me<strong>in</strong>e Arbeit nur<br />

Rout<strong>in</strong>e wurde. Me<strong>in</strong>e Berichte über Ereignisse waren immer<br />

faktenreich und sachlich, aber me<strong>in</strong>e Stimme rührte aus der Seele<br />

me<strong>in</strong>es Herzens und me<strong>in</strong>em Stolz, e<strong>in</strong>e gewöhnliche Roma-Frau<br />

zu se<strong>in</strong>. Ich hoffe sehr, dass me<strong>in</strong>e Ausführungen e<strong>in</strong> exaktes Bild<br />

jenes Volkes und se<strong>in</strong>er freundlichen Nachbarn (Makedoniern,<br />

Albanern, Türken) wiedergeben, die an dem Ort, der Suto Orizari<br />

genannt wird, aufe<strong>in</strong>ander treffen.<br />

Roma und Politik<br />

Der 12. September 1996 ist <strong>in</strong> die goldenen Annalen der<br />

Geschichte der Roma e<strong>in</strong>gegangen. Entsprechend dem<br />

makedonischen Abkommen zur territorialen Gebietsunterteilung<br />

und Def<strong>in</strong>ition der Gebiete lokaler Selbstverwaltung nahm die<br />

Stadtverwaltung von Suto Orizari (e<strong>in</strong>e Zusammenlegung des Ortes<br />

Suto Orizari mit den Dörfern Gorno und Dolno Orizari) zu diesem<br />

Term<strong>in</strong> ihre Arbeit auf. Dies ist nicht nur für die Roma <strong>in</strong><br />

Makedonien e<strong>in</strong> historisches Ereignis, sondern auch für die Roma<br />

<strong>in</strong> der ganzen Welt. Zum ersten Mal wurde e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de<br />

gegründet, <strong>in</strong> der die Zahl der Roma die Mehrheit der E<strong>in</strong>wohner<br />

bildete.<br />

Die Zusammensetzung der lokalen Verwaltung von Suto Orizari<br />

wurde durch Kommunalwahlen im November und Dezember 1996<br />

bestimmt. Die entsprechenden Organe begannen ihre Arbeit im<br />

Januar 1997 unter schwierigen technischen und f<strong>in</strong>anziellen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, denn der Haushalt der Geme<strong>in</strong>de war auf 4.9<br />

Millionen Makedonische Denar, dies entspricht 76.000 €, begrenzt.<br />

223


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

Als Konsequenz des niedrigen Budgets wurden die Behörden der<br />

Geme<strong>in</strong>de mit lediglich 8 Mitarbeitern <strong>in</strong>sgesamt besetzt. 1<br />

Nezdet Mustafa wurde als Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de Suto<br />

Orizari mit 9.000 Stimmen von 12.330 Stimmen der<br />

Wahlberechtigten <strong>in</strong>sgesamt gewählt. Er war bis zu se<strong>in</strong>er Wahl<br />

zum Abgeordneten im Rahmen der Parlamentswahlen von 1999<br />

Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de.<br />

Erduan Iseni, Mitglied der Partei von Mustafa wurde als<br />

vorübergehender Oberbürgermeister der Geme<strong>in</strong>de ernannt. Iseni<br />

wurde während der wenige Monate später erfolgten<br />

außerordentlichen Kommunalwahlen zum Bürgermeister von Suto<br />

Orizari gewählt und war bis zu den letzten Kommunalwahlen im<br />

Jahr 2005 Bürgermeister. Er war Kandidat der OPE (Vere<strong>in</strong>igte<br />

Partei für Emanzipation), die Partner der amtierenden Parteien-<br />

Koalition «Für Makedonien» (za Makedonija), bestehend aus<br />

SDSM, DUI und LDP, war.<br />

2005 fanden <strong>in</strong> Makedonien wieder Wahlen für die Bürgermeister<br />

der Kommunen statt. Im Frühjahr 2005 gab es fünf Kandidaten für<br />

den Bürgermeister von Suto Orizari. Erduan Iseni (Koalition für<br />

Makedonien), Amdi Bajram (Allianz der Roma <strong>in</strong> Makedonien),<br />

Kemal Sadik (Partei für demokratische Stärke der Roma <strong>in</strong><br />

Makedonien), Severdzan Iljaz (Demokratische Union der Roma)<br />

und Kadri Sefo (unabhängiger Kandidat). In der zweiten Runde gab<br />

es zwei Kandidaten im Wettbewerb um die Position des<br />

Bürgermeisters: Erduan Iseni und Amdi Bajram. Während der<br />

Kommunalwahlen wurde Amdi Bajram vom Gerichtshof <strong>in</strong> Stip für<br />

Delikte, die im Zusammenhang mit der Textilfabrik Makedonka <strong>in</strong><br />

Stip und deren Vorsitzenden standen, zu vieren Jahren Haft<br />

verurteilt. Es war lediglich e<strong>in</strong>e Frage der Zeit, bis das Gericht e<strong>in</strong>en<br />

Haftbefehl erlassen würde. Bajram hatte jedoch offiziell die<br />

Kommunalwahlen <strong>in</strong> Suto Orizari gewonnen und das nationale<br />

Wahlkomitee bestätigte die Ergebnisse. Amdi Bajrams Freude sollte<br />

jedoch nur wenige Tage währen, denn mittlerweile sitzt er <strong>in</strong> Suto<br />

Orizari im Gefängnis.<br />

Aufgrund der Kommunalwahlen <strong>in</strong> Suto Orizari hat sich e<strong>in</strong>e neue<br />

Verteilung der Sitze im Stadtrat ergeben. Die Roma-Parteien haben<br />

zehn Mitglieder im Stadtrat: Die Partei von Amdi Bajram hat sechs<br />

Sitze gewonnen, die Vere<strong>in</strong>igte Partei für Emanzipation vier Sitze.<br />

E<strong>in</strong> Sitz ist für die VMRO-narodna (die national-konservative<br />

1 Mustafa, N., The first years, 2000<br />

224


ROMA IN EUROPA<br />

makedonische Partei) vorgesehen und die restlichen Sitze gehen<br />

an die beiden albanischen Parteien DPA und DUI (Demokratische<br />

Partei der Albaner und Demokratische Union für Integration). Sami<br />

Srebezovski, Mitglied der Allianz für die Roma <strong>in</strong> Makedonien,<br />

wurde zum Vorsitzenden des Stadtrates gewählt. 2<br />

Am 21. August wurden <strong>in</strong> Suto Orizari außerordentliche Wahlen<br />

abgehalten. Es traten drei Kandidaten für den Posten des<br />

Bürgermeisters von Sutka an: Erduan Iseni (OPE), Enver Ibraim als<br />

unabhängiger Kandidat Saban Saliu (der e<strong>in</strong>zige Roma<br />

Rechtsanwalt <strong>in</strong> Makedonien) für die Allianz der Roma <strong>in</strong><br />

Makedonien. 3 Die zweite Wahlrunde fand zwei Wochen später statt<br />

und die E<strong>in</strong>wohner von Suto Orizari mussten sich zwischen Erduan<br />

Iseni und Saban Saliu entscheiden. Der Bürgermeister von Suto<br />

Orizari ist wieder Erduan Iseni von der Vere<strong>in</strong>igten Partei für<br />

Emanzipation (OPE) geworden.<br />

Suto Orizari wird Realität<br />

Suto Orizari wurde nach dem katastrophalen Erdbeben <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> im<br />

Jahre 1963 gebaut, um die schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen der<br />

Roma-Familien, deren Häuser zerstört worden waren, zu<br />

verbessern. Die m<strong>in</strong>derwertigen Unterkünfte, <strong>in</strong> denen sie lebten,<br />

waren völlig unzumutbar. Die neue Selbstverwaltung der Roma gab<br />

Anlass zur Hoffnung, dass die Probleme bald gel<strong>in</strong>dert werden<br />

könnten und dass man auf die entsprechenden Fragen die richtigen<br />

Antworten f<strong>in</strong>den würde.<br />

Die Bevölkerung der Roma <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de hatte größere<br />

Erwartungen an ‘ihre’ Verwaltung. Tatsächlich führten die<br />

schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen dazu, dass neue Maßnahmen<br />

ergriffen wurden. Die selbst verwaltete Geme<strong>in</strong>de von Suto Orizari<br />

beflügelte das Selbstwertgefühl und die Würde der Roma, da sie<br />

die erste offizielle Zeitung auf Romanes und Makedonisch<br />

herausgab, <strong>in</strong> der zum ersten Mal offizielle Dokumente auf<br />

Romanes veröffentlicht wurden. Das Siegel und die Fahne der<br />

Geme<strong>in</strong>de wurden e<strong>in</strong>geführt, was das Identitätsgefühl der ersten<br />

europäischen Geme<strong>in</strong>de mit e<strong>in</strong>er Mehrheit der Roma <strong>in</strong> der<br />

Bevölkerung stärkte.<br />

2 Ergebnisse der Kommunalwahlen im Frühjahr 2005 vom staatlichen Wahlkomitee<br />

3 Quellen: Wahlkomitee der Geme<strong>in</strong>de<br />

225


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

E<strong>in</strong>er der ersten Schritte zur Verbesserung der Infrastruktur <strong>in</strong> der<br />

Geme<strong>in</strong>de war die Rekonstruktion der Hauptstraße <strong>in</strong> Suto Orizari<br />

sowie e<strong>in</strong>er Straße <strong>in</strong> der Nachbarschaft von Suto Orizari durch die<br />

Siedlung Vizbegovo <strong>in</strong> der Nähe der Geme<strong>in</strong>de von Cair. Zudem<br />

wurde das auf dem Platz <strong>in</strong> Suto Orizari stehende Gebäude<br />

renoviert. Die Mittel für die Bauarbeiten wurden von der Stadt<br />

<strong>Skopje</strong> und der Geme<strong>in</strong>de von Suto Orizari bereitgestellt. Zwei<br />

Jahre später stellten diese beiden Verwaltungen 84.000 Euro für die<br />

Rekonstruktion der Vietnamska und Nov Zivot Straße bereit und<br />

38.000 für die Garcia Lorka Straße. Die Erhaltung der<br />

Stromversorgung für die Geme<strong>in</strong>de kostet 33.000 € pro Jahr. Diese<br />

Projekte s<strong>in</strong>d jedoch nur e<strong>in</strong> Tropfen auf den heißen Ste<strong>in</strong>. Die<br />

Geme<strong>in</strong>deverwaltung besitzt nicht genügend Kapazitäten, um die<br />

Probleme, wie Straßenbeleuchtung, Grünanlagen, systematische<br />

Wasserversorgung usw., zu lösen. 4<br />

Gemäß des Abschnitts 22 der gesetzlichen Bestimmungen zur<br />

Selbstverwaltung soll die Geme<strong>in</strong>deverwaltung folgende<br />

Zuständigkeitsbereiche abdecken: städtische und ländliche<br />

Planung, Umwelt- und Naturschutz, lokale wirtschaftliche<br />

Entwicklung, Geme<strong>in</strong>deaktivitäten, Kultur, Sport und Erholung,<br />

sozialer Schutz und Schutz von K<strong>in</strong>dern, Bildung,<br />

Gesundheitsfürsorge usw.<br />

Das lokale Abkommen zur Selbstverwaltung bewirkte e<strong>in</strong>e<br />

Dezentralisierung der Macht und <strong>in</strong> der Folge haben die Geme<strong>in</strong>den<br />

verschiedene Regierungskompetenzen übernommen. Die von der<br />

lokalen Geme<strong>in</strong>deverwaltung übernommene Amtsgewalt ist <strong>in</strong> viele<br />

Zuständigkeits- und Wirkungsbereiche aufgeteilt wie z. B. Bildung,<br />

Wissenschaft, Kultur, Gesundheitsfürsorge etc. Gemäß dem neuen<br />

Abkommen zur Dezentralisierung (territorialen Organisation),<br />

welches dieses Jahr <strong>in</strong> Kraft trat, sollen e<strong>in</strong>zelne<br />

Selbstverwaltungen nicht länger vom Staat abhängig se<strong>in</strong>. Die<br />

Geme<strong>in</strong>deverwaltungen sollen eigenständig bessere Bed<strong>in</strong>gungen<br />

schaffen und die Amtsgewalt liegt <strong>in</strong> den Händen ihrer<br />

Verwaltungsorgane. Dieses Gesetz bekräftigt das Bemühen der<br />

Regierung, den euro-atlantischen Strukturen durch die vollständige<br />

Implementierung des Abkommens von Ohrid e<strong>in</strong> Stück näher zu<br />

rücken. Damit wurde dem Versprechen Rechnung getragen, dass<br />

die territoriale Integrität sowie der die verschiedenen Ethnien<br />

e<strong>in</strong>schließende Charakter des Landes aufrechterhalten werden.<br />

4 Mustafa, N., The first years, 2000<br />

226


a) Sutka – Kle<strong>in</strong>-Paris<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Im Bezirk von Suto Orizari gibt es viele glückliche Menschen. Man<br />

sieht trotz Armut und sozialer Isolation fröhliche Gesichter. Im<br />

Zentrum des Stadtviertels trifft man auf e<strong>in</strong> lebendiges, fast schon<br />

tumultartiges Gewusel von Menschen. Vor allem an den<br />

Wochenenden herrscht e<strong>in</strong>e besondere Atmosphäre. An jeder Ecke<br />

f<strong>in</strong>det man improvisierte Stände, an denen Kleider, Schmuck,<br />

Schuhe <strong>in</strong> allen Farben und Formen angeboten werden.<br />

Der Sutka-Basar ist gegenwärtig der beliebteste Markt <strong>in</strong><br />

Makedonien, auf dem man sehr preiswert e<strong>in</strong>kaufen kann.<br />

E<strong>in</strong>kaufen macht sehr viel Spaß, vor allem wenn die neueste Roma-<br />

Musik aus den Lautsprechern der nächstgelegenen CD-Shops<br />

dröhnt. Schätzungsweise 90 Prozent der E<strong>in</strong>wohner des<br />

Stadtviertels s<strong>in</strong>d Händler. Aufgrund des niedrigen<br />

Beschäftigungsanteils <strong>in</strong> der Bevölkerung von Suto Orizari haben<br />

sich viele E<strong>in</strong>wohner auf den Handel verlegt. Aufgrund des Defizits<br />

an Produktionskapazitäten <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de r<strong>in</strong>gen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ewigen Auf und Ab um die Sicherung ihrer Existenz. In Suto Orizari<br />

gibt es lediglich zwei Schulen, e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten, das<br />

Geme<strong>in</strong>dezentrum Rosh, e<strong>in</strong>e Polikl<strong>in</strong>ik, e<strong>in</strong>e Post und e<strong>in</strong>ige<br />

wenige Zentren der Roma-Nichtregierungsorganisationen (NGOs).<br />

Das größte Problem ist die hohe Anzahl der Arbeitslosen. Der<br />

detaillierte Plan der Stadt sieht neben <strong>in</strong>dividuellen<br />

Wohnmöglichkeiten die Schaffung sozialer und öffentlicher<br />

E<strong>in</strong>richtungen, wie Schulen, Marktplätze, Krankenhäuser,<br />

Kulturzentren etc., vor. Leider s<strong>in</strong>d bislang erst 30 Prozent der<br />

Vorhaben umgesetzt worden. E<strong>in</strong>es der jüngsten Projekte ist die<br />

zentrale Kläranlage, die mit der f<strong>in</strong>anziellen Unterstützung der<br />

österreichischen Regierung gebaut wurde. Die Kosten des Projekts<br />

beliefen sich auf 26.250.000 Makedonische Denar (430.300 Euro). 5<br />

b) Kle<strong>in</strong>e und schmale Häuser stehen Seite an Seite<br />

Die Häuser <strong>in</strong> Suto Orizari s<strong>in</strong>d wie Pilze aus dem Boden<br />

geschossen. Größere und kle<strong>in</strong>e Häuser stehen Seite an Seite.<br />

E<strong>in</strong>ige von ihnen besitzen moderne Fassaden, wiederum andere<br />

s<strong>in</strong>d so alt wie das Stadtviertel selbst. Die Farbgebung der Häuser<br />

5 Mustafa, N., The first years, 2000 - Rougheri, Chr., Center for Documentation and<br />

Information on M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong> Europe - Southeast Europe (CEDIME-SE), M<strong>in</strong>orities <strong>in</strong><br />

Southeast Europe, Roma <strong>in</strong> Macedonia<br />

227


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

ist <strong>in</strong>teressant: Hellblau, Hellorange, Zitronengelb, Weiß dom<strong>in</strong>ieren<br />

jedoch. Die neuen Häuser bieten mit 10 qm pro Familie e<strong>in</strong>en<br />

hohen Standard, aber sie stellen lediglich 20 Prozent der gesamten<br />

Wohnsubstanz da. 6<br />

Es gibt e<strong>in</strong>heitlich gestaltete Hütten, die sich aufgrund mangelnder<br />

Instandhaltungsmaßnahmen größtenteils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em äußerst<br />

schlechten Zustand bef<strong>in</strong>den. Die “ hangarni baraki” genannten<br />

Wellblechhütten s<strong>in</strong>d nach und nach entstanden, die<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen bef<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d jedoch auf unterstem Niveau<br />

und s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Form nicht zu akzeptieren. Dennoch wird man die<br />

fröhlichen Farben der Häuser <strong>in</strong> Sutka <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung behalten.<br />

c) Sozio-ökonomische Situation der Roma <strong>in</strong> Suto Orizari<br />

Die anhaltende ungünstige wirtschaftliche Entwicklung <strong>in</strong> der<br />

Republik Makedoniens zieht die gesamte Bevölkerung <strong>in</strong><br />

Mitleidenschaft und wirkt sich negativ auf die Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

e<strong>in</strong>er großen Anzahl von Bürgern aus. E<strong>in</strong>es der größten Probleme,<br />

das aus diesem Trend resultiert, ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die<br />

Beschäftigungsquote der Roma könnte sich lediglich verbessern,<br />

wenn die Regierung weitere positive makroökonomische<br />

Bed<strong>in</strong>gungen schaffen würde. Der größte Anteil Arbeit suchender<br />

Roma hat allerd<strong>in</strong>gs nicht das nötige Bildungsniveau, um auf dem<br />

Arbeitsmarkt bestehen zu können. Öffentlichen Erhebungen zufolge<br />

waren 2003 von der Gesamtzahl an Arbeitslosen, die im Arbeitsamt<br />

der Republik Makedoniens registriert waren, 4,3 % Roma. Die<br />

Hälfte von ihnen hat noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e abgeschlossene<br />

Grundschulausbildung. Laut des letzten Berichts des Arbeitsamtes<br />

im Mai 2005 s<strong>in</strong>d 17.177 Roma arbeitslos. Die Bevölkerung von<br />

Suto Orizari hat die höchste Quote sozial benachteiligter Familien.<br />

Gemäß den Erhebungen des Zentrums für Sozialarbeit s<strong>in</strong>d 1.700<br />

Familien als besonders benachteiligte Familien registriert, die über<br />

ke<strong>in</strong> regelmäßiges E<strong>in</strong>kommen verfügen. Angesichts der<br />

tagtäglichen Schließung staatlicher und privater Unternehmen<br />

verwundert es nicht, dass die Zahl der Sozialfälle zunimmt.<br />

Das Kernproblem <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de, die Arbeitslosigkeit, ist die<br />

Hauptursache für die soziale Benachteiligung der Roma-Familien.<br />

Die Geme<strong>in</strong>de verfügt über ke<strong>in</strong>e Produktionskapazitäten und<br />

aufgrund der bekannten wirtschaftlichen Problematik gibt es auch <strong>in</strong><br />

den anderen Geme<strong>in</strong>den ke<strong>in</strong>e Beschäftigungsmöglichkeiten, die<br />

6 Iseni, E., Suto Orizari, 2005<br />

228


ROMA IN EUROPA<br />

genutzt werden könnten. Zudem stehen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ke<strong>in</strong>e<br />

natürlichen Ressourcen zur Verfügung, die z. B. e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

der Agrarkultur erlauben würden. Die Roma <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de leben<br />

„von e<strong>in</strong>em Tag zum nächsten“ und warten immer noch auf bessere<br />

Zeiten. In der Zwischenzeit leben die meisten Familien vom Handel<br />

und vom Geld, das sie <strong>in</strong> Form von Sozialhilfe beziehen. 7<br />

d) Bürger ohne Staatsbürgerschaft<br />

E<strong>in</strong> sehr problematischer Punkt ist das ‚Abkommen zur<br />

Staatsbürgerschaft’ von 1992, da ab November 1993 alle Roma<br />

und andere Bewohner der ehemaligen Republiken von Jugoslawien<br />

ke<strong>in</strong> Anrecht mehr auf die makedonische Staatsbürgerschaft hatten.<br />

Aus den Bed<strong>in</strong>gungen, die das Gesetz für die Regelung der<br />

Wohnsitzfrage <strong>in</strong> Makedonien vorsieht, ergeben sich hierbei die<br />

maßgeblichen H<strong>in</strong>dernisse. Vor e<strong>in</strong>em entsprechenden Antrag<br />

muss der Antragsteller 15 Jahre lang se<strong>in</strong>en Wohnsitz <strong>in</strong><br />

Makedonien gehabt haben und über e<strong>in</strong> regelmäßiges E<strong>in</strong>kommen<br />

verfügen. Die Antragsgebühr variiert von 50.500.250 Denar bis 80<br />

USD (letztes Jahr) und viele Roma konnten das Geld für den Antrag<br />

nicht aufbr<strong>in</strong>gen. 8 In Suto Orizari konnte dieses Problem dank der<br />

Initiative von drei NGOs (ROZPR, CDRIM und Avutnipe) gelöst<br />

werden, die sich mit dem Schutz von Menschenrechten befassen.<br />

Die Organisationen halten die erforderlichen Dokumente für die<br />

E<strong>in</strong>bürgerung bereit und die Antragsgebühr wird von der UNHCR<br />

gezahlt (genau genommen zahlen die Antragsteller selbst für die<br />

E<strong>in</strong>bürgerung und das Geld wird dann später von der UNHCR<br />

zurückerstattet). Dieses Jahr hat es seitens der NGOs, die sich für<br />

Menschenrechte e<strong>in</strong>setzen, und von der makedonischen Regierung<br />

e<strong>in</strong>e verstärkte Kampagne für die makedonische Staatsbürgerschaft<br />

gegeben. So wurde e<strong>in</strong> Fernsehspot auf Romanes und<br />

Makedonisch gesendet, <strong>in</strong> dem Bürger für die makedonische<br />

Staatsbürgerschaft plädieren. Zudem wurden Broschüren<br />

veröffentlicht, <strong>in</strong> denen die Bed<strong>in</strong>gungen für die makedonische<br />

Staatsbürgerschaft sowie die Frist, nämlich März 2006, für e<strong>in</strong>en<br />

solchen Antrag erläutert werden. 9<br />

7<br />

Iseni, E., Shuto Orizari, 2005 – Mustafa, N., The first years, 2000<br />

8<br />

Rougheri, Chr., 1998.<br />

9<br />

E<strong>in</strong>e dieser Broschüren wurde von CDRIM erarbeitet<br />

229


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

e) Spiegle<strong>in</strong>, Spiegle<strong>in</strong> an der Wand, welche Schule ist die<br />

beste für mich?<br />

In Suto Orizari gibt es zwei Grundschulen mit <strong>in</strong>sgesamt 3.800<br />

Schülern. E<strong>in</strong>e heißt OU “26 Juli” und die andere wird OU “Braka<br />

Ramiz Hamid“ genannt. Die Unterrichts<strong>in</strong>halte werden durch das<br />

makedonische Bildungsm<strong>in</strong>isterium bestimmt, das die Zuständigkeit<br />

für die Gestaltung des Unterrichts hat. In diesen Schulen gibt es<br />

viele Probleme. Jedes Jahr, wenn die K<strong>in</strong>der für die erste Klasse<br />

der Grundschule registriert werden sollen, passiert es, dass die<br />

Eltern mit ihren K<strong>in</strong>dern die Schule erst gar nicht aufsuchen, weil<br />

sie entweder zu beschäftigt s<strong>in</strong>d oder die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es<br />

Schulbesuchs nicht erkennen. Tatsächlich warten sie mit der<br />

Registrierung oft bis zur letzten M<strong>in</strong>ute im September. Traurig, aber<br />

wahr. Und dies ist nur e<strong>in</strong>es der Probleme. Der Anteil an Schülern,<br />

die die weiterführende Schule besuchen ist ebenfalls viel zu ger<strong>in</strong>g.<br />

Die ‚Ghetto’-Problematik hat für die Roma-K<strong>in</strong>der viele negative<br />

Auswirkungen, wie die mangelnde Kenntnis der makedonischen<br />

Sprache (sie ist die offizielle und Verwaltungssprache <strong>in</strong> den beiden<br />

Schulen). Dies führt natürlich zu schlechteren Schulleistungen und<br />

untergräbt schließlich die Motivation der Schüler, bessere Resultate<br />

zu erzielen. 10<br />

In den letzten Jahren ist jedoch e<strong>in</strong> deutlicher Fortschritt zu<br />

verzeichnen. Dank der Roma NGOs und ihrer Aktivitäten hat sich<br />

die Situation verbessert. Die letzten Erhebungen zeigen, dass 15 %<br />

der Bevölkerung über 15 Jahren die weiterführende Schule<br />

abgeschlossen haben. Der Anteil derjenigen jedoch, die die<br />

Hochschulreife erlangen, ist nach wie vor mit lediglich 0,48 %<br />

verhältnismäßig niedrig geblieben. Ermutigend ist, dass sich die<br />

bislang wenigen Akademiker <strong>in</strong> Suto Orizari nun <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de<br />

für die höhere schulische Bildung e<strong>in</strong>setzen. So gab es im letzten<br />

Jahr zum Beispiel e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong> an der Theaterfakultät und auch<br />

dieses Jahr gibt es zwei Roma-Mädchen, die e<strong>in</strong>en Besuch der<br />

gleichen Fakultät anstreben. Vor sieben Jahren gab es lediglich<br />

e<strong>in</strong>en Roma-Schüler, der die weiterführende Kunsthochschule<br />

besuchte (er wurde der erste Hochschulabsolvent im Bereich<br />

Bildhauerei <strong>in</strong> Makedonien) und nach ihm gab es zwei Studenten,<br />

die <strong>in</strong> dieser Sparte erfolgreich ihren Abschluss machten. Mit der<br />

Hilfe ausländischer Förderer haben die Roma-NGOs mit Roma-<br />

K<strong>in</strong>dern im Alter zwischen 5 und 7 Jahren gearbeitet, um ihre<br />

10<br />

Saip, I. Rektor der Grundschule ”Braka Ramiz Hamid”, Suto Orizari (persönliches<br />

Gespräch, 2005)<br />

230


ROMA IN EUROPA<br />

Kenntnisse der makedonischen Sprache zu verbessern. Der<br />

Schlüssel zu e<strong>in</strong>em erfolgreichen Bildungsweg liegt auch <strong>in</strong> der<br />

Arbeit der NGOs mit den Eltern der K<strong>in</strong>der, wenn es darum geht,<br />

diese von der Bedeutung e<strong>in</strong>er Schulausbildung zu überzeugen.<br />

E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong>der besuchen den K<strong>in</strong>dergarten der Geme<strong>in</strong>de, der e<strong>in</strong>e<br />

Betreuungskapazität für 150 K<strong>in</strong>der hat.<br />

Zurück zum Thema Grundschule: Die niederländische Botschaft hat<br />

zusammen mit der NGO Mosaic <strong>in</strong> der Zeit von 1998 - 99 mit<br />

416.000 Denar (ca. 6.800 €) e<strong>in</strong>e Unterstützung für Schulen<br />

gewährt. Im gleichen Jahr hat die Weltbank Unterstützungen für die<br />

Grundschulausbildung bereitgestellt und e<strong>in</strong> Jahr später hat die<br />

deutsche Botschaft <strong>in</strong>sgesamt 1.100.000 Denar bzw. 18.000 Euro<br />

für den gleichen Zweck gespendet. Die jüngste Unterstützung für<br />

die Grundschulen erfolgte durch die IOM ( Internationale<br />

Organisation für Migration) und beläuft sich auf 120.000 Euro. 11 In<br />

den letzten zwei Jahren hat die deutsche Caritas Mahlzeiten und<br />

Milch für Schüler <strong>in</strong> Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt. 12<br />

f) Romanes <strong>in</strong> der Grundschule<br />

An den zwei Grundschulen der Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari hat man<br />

begonnen, Wahlunterricht <strong>in</strong> Romanes anzubieten. Der Anfang war<br />

aufgrund der fehlenden Lehrbücher <strong>in</strong> der Sprache der Roma<br />

schwer, doch wurde die Situation nach und nach verbessert.<br />

Professor Saip Jusuf hat zusammen mit dem bekannten<br />

makedonischen Autor Krume Kepeski die erste Sprachlehre <strong>in</strong><br />

Romanes veröffentlicht. Überdies hat Jusuf e<strong>in</strong> Buch zur Romanes<br />

Rechtschreibung vorgelegt. Die Romanes Lehrer benutzen zudem<br />

Romanes-Literatur aus anderen europäischen Ländern. 13<br />

g) Medien und Kultur: Die Seele des Volkes<br />

Neben der Verwendung der Romani Sprache <strong>in</strong> der Grundschule <strong>in</strong><br />

Suto Orizari kann man auch die Nachrichten auf Romanes hören.<br />

Seit zehn Jahren gibt es e<strong>in</strong>e lokale Fernsehstation namens „TV<br />

Sutel“ <strong>in</strong> Suto Orizari. Das Grüßen von Freunden ist e<strong>in</strong>es der<br />

<strong>in</strong>teressantesten Programmmerkmale der Fernsehstation. Wenn<br />

11<br />

Mustafa, N., The first years, 2000<br />

12<br />

Mishel-Ilieva, K., Vertreter des Caritas-Büros (Essen, Deutschland) <strong>in</strong> Suto Orizari<br />

(persönliches Gespräch, 2005)<br />

13<br />

Iseni, Saip, Rektor der Grundschule ”Braka Ramiz Hamid”, Suto Orizari<br />

(persönliches Gespräch, 2005)<br />

231


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

man bedenkt, dass die Roma Musik lieben, ist dies nichts<br />

Ungewöhnliches für die E<strong>in</strong>wohner. Das Feiern von Hochzeiten,<br />

Geburtstagen oder akademischen Abschlüssen s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige der<br />

vielen Gelegenheiten zu denen die E<strong>in</strong>wohner von Suto Orizari<br />

Grüße mit Video-Material verfassen oder ihre eigenen Fotos<br />

schicken! All dies kann man auf TV Sutel mitverfolgen. Für die<br />

Fernsehstation arbeiten Roma-Journalisten. Zudem wird e<strong>in</strong>e<br />

tägliche Nachrichtensendung ausgestrahlt.<br />

Das Programm ist nicht auf Themen, die die Geme<strong>in</strong>de betreffen,<br />

begrenzt. Es gibt e<strong>in</strong>e Vielzahl von Kultur- und<br />

Bildungsprogrammen und wenn man von Kultur spricht, muss man<br />

auch erwähnen, dass die Wurzeln der Roma-Kultur <strong>in</strong> der Republik<br />

Makedonien <strong>in</strong> das Viertel von Suto Orizari zurückreichen. In den<br />

fünfziger Jahren gründete e<strong>in</strong>e Gruppe junger enthusiastischer<br />

Leute die Roma-Vere<strong>in</strong>igung Phralipe, die später e<strong>in</strong>e<br />

Theatergruppe förderte, die <strong>in</strong> ganz Europa Auftritte hatte. Der<br />

Name Phralipe repräsentierte <strong>in</strong> den folgenden Jahrzehnten die<br />

Roma-Kultur, und zwar nicht nur <strong>in</strong> Makedonien, sondern auch im<br />

Ausland. Und alles begann <strong>in</strong> Suto Orizari. Nach drei Jahrzehnten<br />

erfolgreicher Arbeit <strong>in</strong> Suto Orizari g<strong>in</strong>g die Theatergruppe Phralipe<br />

nach Deutschland. In den achtziger Jahren gründeten e<strong>in</strong>ige<br />

ehemalige Mitglieder von Phralipe, die <strong>in</strong> Makedonien geblieben<br />

waren e<strong>in</strong> Studententheater, Mitte der neunziger Jahre gab es<br />

schließlich verschiedene Laien-Theatergruppen.<br />

Heute gibt es zwei Laien-Theatergruppen, nämlich Roma und<br />

Fadiljoni und e<strong>in</strong>e weitere Gruppe, die Teil der “Romano Ilo” NGO<br />

ist. Leider bef<strong>in</strong>det sich unter ihnen nur e<strong>in</strong> junges Mädchen, Sanela<br />

Em<strong>in</strong>, die kurz vor Beendigung ihrer Ausbildung an der<br />

Theaterfakultät <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> steht. Die anderen s<strong>in</strong>d lediglich<br />

begeisterte und talentierte junge Roma-Aktivisten mittleren Alters,<br />

die das Theater e<strong>in</strong>fach lieben. Ihre Stücke s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong> bis zwei<br />

Mal im Jahr zu sehen. Diese Theatergruppen bef<strong>in</strong>den sich alle <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Notlage. Das makedonische Kulturm<strong>in</strong>isterium<br />

gewährt dem Roma und Fadiljoni Theater nur e<strong>in</strong>mal im Jahr e<strong>in</strong>e<br />

f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung (e<strong>in</strong>e Summe von je 60,000 Denar bzw.<br />

1.000 Euro). In 2005 fanden zwei Premieren dieser Theater statt.<br />

Sie besitzen ke<strong>in</strong>e eigenen Räumlichkeiten für ihre Proben und es<br />

gibt ke<strong>in</strong> Theatergebäude <strong>in</strong> Suto Orizari. Es gibt noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong>e Halle, <strong>in</strong> der die Theater ihre Kunst und die Früchte ihrer Arbeit<br />

zeigen könnten. Aus diesem Grunde werden die Stücke <strong>in</strong> den<br />

Theatern im Zentrum von <strong>Skopje</strong> aufgeführt, z. B. im MNT-teatar<br />

Centar.<br />

232


ROMA IN EUROPA<br />

Die Situation <strong>in</strong> den anderen kulturellen Bereichen ist ähnlich. Die<br />

Roma-Bevölkerung <strong>in</strong> Suto Orizari sehnt sich nach e<strong>in</strong>em<br />

kulturellen Leben, denn es gibt praktisch ke<strong>in</strong>e kulturellen<br />

Veranstaltungen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de. Nur e<strong>in</strong>mal im Jahr zum Welttag<br />

der Roma am 8. April f<strong>in</strong>den kulturelle Ereignisse vor Ort statt. Mit<br />

diesen wird der Tag gefeiert, an dem die Geme<strong>in</strong>de offiziell ihre<br />

Arbeit aufnahm. Und all dies kann nur dank der Roma-NGOs<br />

stattf<strong>in</strong>den. Sie organisieren Musik- und Lyrik-Abende, Konzerte mit<br />

Roma-Musik, Cocktails u. Ä.. Erwähnenswert ist auch die junge<br />

Generation, die sich mit neuer Musik der Roma beschäftigt. In den<br />

späten neunziger Jahren etablierte sich e<strong>in</strong>e neue Musikrichtung<br />

der Roma <strong>in</strong> Makedonien und der Mittelpunkt war wiederum Suto<br />

Orizari. Fünfzig Jahre lang wurden vom Phralipe Volksmusik-<br />

Ensemble, das gleichbedeutend war mit dem Musikleben der<br />

Roma, traditionelle Musik und Volkstanz nicht nur <strong>in</strong> Makedonien,<br />

sondern auch <strong>in</strong> anderen Teilen Europas aufgeführt.<br />

Pop, R’n’B und Rap waren im letzten Jahrzehnt die beliebtesten<br />

Musikrichtungen. Namen wie Shekil und Dzevat s<strong>in</strong>d sehr bekannt.<br />

Shekil stammt ebenfalls aus Suto Orizari und <strong>in</strong> 2003 hatte er<br />

zusammen mit Mustafa und dem berühmten mazedonischen<br />

Sänger Aleksandar Ristovski-Pr<strong>in</strong>c e<strong>in</strong>en Nr. 1 Hit <strong>in</strong> den<br />

makedonischen Charts (auf Makedonisch gesungen). Dzevat war<br />

e<strong>in</strong>er der 10 F<strong>in</strong>alisten und wurde Dritter im mazedonischen M2<br />

potraga po nova zvezda-Wettbewerb für neue Musiktalente und <strong>in</strong><br />

diesem Jahr ist er e<strong>in</strong>er der bekanntesten neuen Namen <strong>in</strong> der<br />

jungen makedonischen Popmusik-Szene. Die Rap-Sänger und<br />

Tänzer der neuen Musikszene s<strong>in</strong>d auf jedem großen<br />

makedonischen Musik-Event zu sehen.<br />

All dies zeigt, welch große Musikbegabung den Roma eigen ist.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass <strong>in</strong> den letzten Jahren die Anzahl der Roma-<br />

Schüler aus Suto Orizari, die ihre Ausbildung an der<br />

Musikakademie <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> fortsetzen, kont<strong>in</strong>uierlich zunimmt. Über<br />

mehrere Jahre <strong>in</strong> Folge ist das Mandol<strong>in</strong>en-Orchester der “Braka<br />

Ramiz Hamid” Grundschule, das von dem Lehrer Samir Mehmed<br />

(akademischer Musiker) geleitet wird, das erfolgreichste Orchester<br />

<strong>in</strong> nationalen Wettbewerben. 14<br />

14 Petrovski, Branko, 2004 – President of the Association for Roma folklore and<br />

culture ”Romano ilo” (persönliches Gespräch) - Abed<strong>in</strong>, Faat, 2005 – Schauspieler im<br />

Theater “Roma” (persönliches Gespräch) – Iseni, 2004<br />

233


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

h) Unterstützung durch Roma NGOs<br />

Die Roma-NGOs nahmen zu jener Zeit ihre Arbeit auf, als das Land<br />

se<strong>in</strong>e Unabhängigkeit erreichte. E<strong>in</strong>e der ersten NGOs <strong>in</strong><br />

Makedonien wurde <strong>in</strong> Suto Orizari gegründet. ”HOMOS” war e<strong>in</strong>e<br />

humanitäre Organisation, die für mehrere Jahre den E<strong>in</strong>wohnern<br />

von Suto Orizari Hilfe zukommen ließ. E<strong>in</strong>ige Jahre später wurden<br />

weitere NGOs gegründet, wie z. B. Esma, e<strong>in</strong>e Organisation für<br />

Frauen (der Name wurde zu Ehren der berühmtesten Roma-<br />

Sänger<strong>in</strong> Esma Redzepova Teodosievska gewählt). In Suto Orizari<br />

setzen sich gegenwärtig drei Organisationen für die<br />

Menschenrechte der Roma e<strong>in</strong>: ROZPR (Republical Organization<br />

for Roma Rights), CDRIM (Center for Democratic Development and<br />

Initiatives of Roma <strong>in</strong> Macedonia) und die Organisation für<br />

Menschenrechte Avutnipe.<br />

Ihre Hauptanliegen s<strong>in</strong>d:<br />

• Die Bevölkerung über ihre Rechte zu <strong>in</strong>formieren<br />

• Unterstützung beim Ausfüllen von Dokumenten<br />

(Bewerbungsschreiben, Antrag auf E<strong>in</strong>bürgerung etc.)<br />

• Bereitstellung der notwendigen Dokumente für das<br />

Erlangen der makedonischen Staatsbürgerschaft<br />

• Kampf gegen die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma<br />

• Unterstützung der Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrem Bemühen,<br />

e<strong>in</strong>en besseren Status <strong>in</strong> der Republik Makedonien zu<br />

erlangen, und Suche nach angemessenen Lösungen bei<br />

alltäglichen Problemen.<br />

Diese NGOs bieten zusammen mit dem Informationszentrum für<br />

Bürger, das zur Geme<strong>in</strong>deverwaltung von Suto Orizari gehört,<br />

schnelle Hilfe bei allen möglichen Problemen, die gelöst werden<br />

müssen.<br />

E<strong>in</strong>es der jüngsten Projekte für e<strong>in</strong>e direkte Hilfe für alle Roma der<br />

Geme<strong>in</strong>de ist das Programm der IOM (Internationale Organisation<br />

für Migration) für die Opfer des Holocaust.<br />

Der Holocaust der Roma <strong>in</strong> Makedonien (von den Roma Poraimos<br />

genannt) war <strong>in</strong> den bulgarischen Faschismus e<strong>in</strong>gebunden. 1944<br />

wurde <strong>in</strong> Deutschland die Waffen-Gebirgs-Division der SS<br />

Skanderbeg gebildet, die den Kosovo, Südserbien, Montenegro und<br />

das westliche Makedonien besetzte. Opfer des Genozids und der<br />

Vernichtung waren makedonische Orthodoxe, serbische Orthodoxe,<br />

Roma und die jüdische Bevölkerung Makedoniens. In der größeren<br />

234


ROMA IN EUROPA<br />

albanischen Region im Westen Makedoniens waren ebenso<br />

makedonische Orthodoxe, serbische Orthodoxe, Roma und die<br />

jüdische Bevölkerung Makedoniens Opfer der Ausrottung und<br />

Deportation. 15<br />

Das Programm <strong>in</strong> Suto Orizari wurde durch die Frauenorganisation<br />

Esma etabliert und schloss die Versorgung mit Lebensmittel- und<br />

Sanitätspaketen sowie Ausstattungen für den W<strong>in</strong>ter und Kleider<br />

e<strong>in</strong>. Zudem gibt es e<strong>in</strong>e kostenlose mediz<strong>in</strong>ische Versorgung für<br />

alle Roma-Opfer des Holocaust (die nicht später als am 8. Mai 1945<br />

geboren s<strong>in</strong>d) 16 Im letzten Jahr begann die Vere<strong>in</strong>igung für<br />

Jugendliche und Frauen Luludi mit Aktivitäten für die jüngere<br />

Bevölkerung und für die Frauen <strong>in</strong> Suto Orizari. So gibt es z. B. für<br />

K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>en täglichen Kreativ-Workshop. Junge ausgebildete<br />

Roma unterrichten Roma-K<strong>in</strong>der auf freiwilliger Basis im Rahmen<br />

dieses <strong>in</strong>offiziellen Unterrichtsangebots. 17<br />

Im Zusammenhang mit diesem <strong>in</strong>offiziellen Unterrichts kommt<br />

Rosh, dem <strong>in</strong> 2000 gegründeten Kulturzentrum der Geme<strong>in</strong>de – es<br />

wurde durch Spenden von Arc, UNHCR und Unicef ermöglicht –<br />

e<strong>in</strong>e große Bedeutung zu. Dieses Zentrum bietet viele<br />

außerplanmäßige Kurse nicht nur für E<strong>in</strong>heimische, sondern auch<br />

für Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge an. Es werden Nähkurse, Computerkurse,<br />

Englischkurse angeboten, zudem gibt es e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dergarten, <strong>in</strong><br />

dem die Roma-K<strong>in</strong>der Makedonisch lernen, und weiteres. Das<br />

Kulturzentrum der Geme<strong>in</strong>de steht den E<strong>in</strong>heimischen, aber auch<br />

allen Roma-Flüchtl<strong>in</strong>gen aus dem Kosovo offen. Und über die<br />

Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge muss man e<strong>in</strong>e ganz eigene Geschichte<br />

erzählen.<br />

i) De<strong>in</strong> Zuhause ist, wo de<strong>in</strong> Herz ist<br />

Im Sommer 1999 befanden sich als Konsequenz der Intervention<br />

der NATO <strong>in</strong> Jugoslawien 2.500 Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Kosovo<br />

im Flüchtl<strong>in</strong>gslager Stenkovec <strong>in</strong> Makedonien. Im April 2000 wurde<br />

durch e<strong>in</strong>heimische und <strong>in</strong>ternationale Quellen bekannt gegeben,<br />

dass es seit 1999 mittlerweile 5.000 Flüchtl<strong>in</strong>ge aus dem Kosovo<br />

seien.<br />

15<br />

Carl Savich, Greater Bulgaria, Roma and the Holocaust <strong>in</strong> Macedonia, Oktober<br />

2004<br />

16<br />

Memedova,Kevser, Vorsitzender von WA Esma, persönliches Gespräch, 2004<br />

17<br />

Kjmet,Amet,RAZM Luludi, persönliches Gespräch, 2004<br />

235


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

Anders als im Fall der albanischen Flüchtl<strong>in</strong>ge, die zum Teil <strong>in</strong><br />

Lagern, bei Freunden und Verwandten im Westen Makedoniens<br />

unterkamen, waren aufgrund ihrer Armut nur wenige makedonische<br />

Romafamilien bereit, die Kosovo-Roma aufzunehmen. Anfang<br />

2000 wurden die Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> vorläufige Sammelcamps<br />

umquartiert. Im gleichen Jahr entschied das M<strong>in</strong>isterium für Arbeit<br />

und Soziales, dass e<strong>in</strong> ständiges Lager für die Kosovo-Roma auf<br />

dem Siedlungsgebiet von Suto Orizari errichtet werden soll. In<br />

diesem Lager kamen 3.000 Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge unter und es<br />

unterstand bis 2003 der Aufsicht der UNHCR.<br />

Aufgrund der schlechten gesundheitlichen und hygienischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen im Flüchtl<strong>in</strong>gscamp von Suto Orizari haben die<br />

Regierung und die UNHCR beschlossen, das Camp zu schließen.<br />

Die Flüchtl<strong>in</strong>ge lebten bis Mai 2003 weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem Camp, obwohl<br />

es offiziell am 31. März geschlossen worden war. Ihnen wurde<br />

seitens der makedonischen Regierung e<strong>in</strong> vorübergehender<br />

humanitärer Status zugesprochen. Der Status wurde alle sechs<br />

Monate von der Regierung überprüft. Die Flüchtl<strong>in</strong>ge durften ke<strong>in</strong>e<br />

Arbeit annehmen, was bedeutete, dass sie vollständig auf<br />

humanitäre Unterstützung angewiesen waren.<br />

Den Vorschlag der UNHCR, sie <strong>in</strong> privaten Familien<br />

unterzubr<strong>in</strong>gen, weil man befürchtete, dass die von der “Hohen<br />

Kommission” bereit gestellte f<strong>in</strong>anzielle Hilfe nicht ausreichen<br />

würde, um e<strong>in</strong>e angemessene und langfristige Wohnsituation zu<br />

gewährleisten, begrüßten die Flüchtl<strong>in</strong>ge nicht. E<strong>in</strong>e weitere<br />

Befürchtung war, dass die Flüchtl<strong>in</strong>ge, wenn sie auf private<br />

Familien verteilt würden, leichter wieder <strong>in</strong> den Kosovo<br />

abzuschieben wären. Nachdem das Camp geschlossen worden<br />

war, blieben die Flüchtl<strong>in</strong>ge dort, ohne e<strong>in</strong>en festen Wohnsitz zu<br />

haben und ihr Aufenthalt im Land war nach makedonischem Recht<br />

somit illegal. Dies war der Hauptgrund für die berühmte ‚Odyssee’<br />

der Roma-Flüchtl<strong>in</strong>ge von Suto Orizari zum Grenzübergang<br />

Medzitlija. Die makedonische Regierung empfahl den Roma, nach<br />

<strong>Skopje</strong> zurückzukehren und sich im H<strong>in</strong>blick auf das im Entwurf<br />

vorliegende Asylgesetz und die bereits angelaufene Bearbeitung<br />

von Anträgen auf Anerkennung ihres Flüchtl<strong>in</strong>gsstatus im Land<br />

registrieren zu lassen. Nach fast drei Monaten gaben die Roma-<br />

Flüchtl<strong>in</strong>ge ihren Widerstand auf, da sie nicht weiterh<strong>in</strong> unter<br />

derartig unhygienischen Bed<strong>in</strong>gungen leben konnten. Die meisten<br />

Roma-Familien wurden im Laufe des letzten Jahres <strong>in</strong> privaten<br />

Familien <strong>in</strong> Suto Orizari untergebracht, wobei die UNHCR für<br />

236


ROMA IN EUROPA<br />

diesen Zweck f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung sowohl an die<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gsfamilien als auch an die e<strong>in</strong>heimischen Familien zahlt. 18<br />

In Suto Orizari s<strong>in</strong>d diese Menschen nun Teil der Roma Geme<strong>in</strong>de<br />

und der heutigen Realität.<br />

Roma <strong>in</strong> der unabhängigen Republik Makedonien<br />

Die makedonische Verfassung von 1991 erkennt die Roma als e<strong>in</strong>e<br />

der Nationalitäten der Republik an: “Makedonien wurde als<br />

Nationalstaat für das makedonische Volk gegründet, <strong>in</strong> dem<br />

Albaniern, Türken, Walachen, Roma und andere Nationalitäten, die<br />

<strong>in</strong> der Republik Makedonien leben, als Bürgern völlige<br />

Gleichberechtigung und e<strong>in</strong>e dauerhafte Koexistenz mit dem<br />

makedonischen Volk zugestanden werden.“<br />

Die Partei für die völlige Gleichberechtigung der Roma (PCER) war<br />

die erste Roma-Partei <strong>in</strong> Makedonien und wurde von Faik Abdi<br />

1990 gegründet. Er hatte bis 1998 e<strong>in</strong>en Sitz im makedonischen<br />

Parlament für den Wahlbezirk von Suto Orizari. Vor der Gründung<br />

der zweiten Roma-Partei waren 38.000 Roma als Mitglieder der<br />

PCER registriert und die Partei war auf lokaler Ebene fast überall<br />

wo Roma lebten präsent. Zu dieser Zeit konnten die Roma 15 von<br />

1.510 Sitzen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>deversammlung für sich gew<strong>in</strong>nen. In<br />

der Geme<strong>in</strong>deversammlung von <strong>Skopje</strong> hatten die Roma zwei von<br />

70 Sitzen und zwei Abgeordnete <strong>in</strong> der aus 120 Mitgliedern<br />

bestehenden Nationalversammlung. In dieser Stärke war die PCER<br />

Teil der Koalitionsregierung. Während der Kommunalwahlen 1996<br />

verließ Amdi Bajram mit e<strong>in</strong>em weiteren Parlamentsabgeordnete<br />

der Roma die Partei, um e<strong>in</strong>e eigene Partei, die Allianz der Roma <strong>in</strong><br />

Makedonien (Sojuz na Romite vo Makedonija) zu gründen. Bis<br />

2003 hatte er zwei Mandate.<br />

Die Demokratisch Progressive Partei der Roma <strong>in</strong> Makedonien<br />

wurde 1991 von e<strong>in</strong>er Gruppe Intellektueller gegründet. Ende 1998<br />

wurde Nezdet Mustafa Vorsitzender der Partei: Zu dieser Zeit war<br />

er Bürgermeister der Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari. Die Partei änderte<br />

1998 ihren Namen <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>te Partei der Roma (Obed<strong>in</strong>eta partija<br />

na Romite). 2003 wurde e<strong>in</strong>e neue Partei mit dem Namen<br />

Vere<strong>in</strong>igte Partei für die Gleichberechtigung der Roma <strong>in</strong><br />

18<br />

2003 Human Rights Watch, Background: The Plight of the Kosovo Roma Refugees,<br />

2003<br />

237


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

Makedonien (partija za ednistvo na Romite vo Makedonija)<br />

gegründet, der sich die Partei der Roma und die Partei für die<br />

völlige Gleichberechtigung der Roma anschlossen. Nezdet Mustafa<br />

wurde zum ersten Vorsitzenden der Partei ernannt. 19<br />

Im gleichen Jahr bildete während der Parlamentswahlen die Partei<br />

von Nezdet Mustafa mit der Sozialdemokratischen Allianz <strong>in</strong><br />

Makedonien, die die Wahlen gewann, e<strong>in</strong>e Koalition. Mustafa war<br />

nun der e<strong>in</strong>zige Vertreter der Roma im makedonischen Parlament.<br />

Er war der erste Generalsekretär der Partei für die völlige<br />

Gleichberechtigung der Roma (PCER). Später wurde er zu e<strong>in</strong>em<br />

der Gründer der neuen Demokratisch Progressiven Partei der<br />

Roma <strong>in</strong> Makedonien und e<strong>in</strong>ige Jahre darauf, wurde er als ihr<br />

neuer Vorsitzender gewählt und die Partei wurde <strong>in</strong> Partei der<br />

Roma <strong>in</strong> Makedonien umbenannt. 20<br />

Erste Fortschritte für die Roma ergaben sich <strong>in</strong> den frühen<br />

neunziger Jahren <strong>in</strong> der unabhängigen Republik Makedonien. Die<br />

Partei für völlige Gleichberechtigung <strong>in</strong>itiierte e<strong>in</strong>e groß angelegte<br />

Kampagne zugunsten des Wahlfachs Romanes an Grundschulen,<br />

wo die meisten Schüler Roma-K<strong>in</strong>der waren. Zunächst bedurfte es<br />

der Ausbildung von entsprechenden Lehrern, als dies jedoch<br />

erreicht war, wurde der Traum wahr. Für die makedonischen Roma<br />

begann e<strong>in</strong>e neue Zeit. Die makedonische Verfassung gestand<br />

ihnen das erste Mal <strong>in</strong> ihrer Geschichte die gleichen Rechte zu wie<br />

den anderen Bürgern des Staates. Die politischen Parteien der<br />

Roma waren an der Veränderung der Zukunft für die Bevölkerung<br />

der Roma <strong>in</strong> Makedonien maßgeblich beteiligt. Sie verliehen dem<br />

Welttag der Roma am 8. April e<strong>in</strong>e große Bedeutung. Das Feiern<br />

dieses Tages mit vielen kulturellen Aktivitäten gab der jüngeren<br />

Generation die Gelegenheit, sich selbst aus der Anonymität zu<br />

befreien. Die Gründung der Roma-Nachrichtenredaktion für die<br />

makedonische Radio- und Fernsehstation war <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang äußerst wichtig und wirkte sich motivierend auf die<br />

Bevölkerung der Roma aus. Das Programm startete mit kle<strong>in</strong>en<br />

Beiträgen. Die beiden Redaktionen waren jedoch so etwas wie die<br />

Stimme der Roma <strong>in</strong> Makedonien. Bald schon kam die Literatur der<br />

Roma durch die Veröffentlichung der ersten Romani Sprachlehre zu<br />

Ehren. Von Tag zu Tag machte die Literatur der Roma von da an<br />

Fortschritte.<br />

19 M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Südost<strong>europa</strong>, Roma <strong>in</strong> Mazedonien<br />

20 Mustafa, N., The first years, 2000<br />

238


ROMA IN EUROPA<br />

Mehrmals im Jahr trafen sich die Dichter der Roma zu Musik-und<br />

Lyrikabenden. E<strong>in</strong>e der ersten Aktivitäten der politischen Parteien<br />

der Roma war das erste Volksmusikfestival der Roma, das Sutka<br />

Festival der Volksmusik, das berühmte Sänger der Roma aus ganz<br />

Europa zusammenbrachte. Schirmherr des Festivals war das<br />

Parlament der Republik Makedonien.<br />

Im Laufe der Jahre hat der politische E<strong>in</strong>fluss der Roma<br />

zugenommen. Aus den zweiten und dritten Parlamentswahlen <strong>in</strong><br />

der Republik Makedonien g<strong>in</strong>gen zwei Roma-Abgeordnete für das<br />

Parlament hervor. Zu dieser Zeit erzielte man e<strong>in</strong>ige Fortschritte.<br />

E<strong>in</strong>er war die E<strong>in</strong>schreibung von über 40 Roma, die die<br />

weiterführende Schule abgeschlossen hatten, an der<br />

Polizeiakademie für e<strong>in</strong>e Ausbildung zum Polizeibeamten. Zudem<br />

wurde an den Universitäten <strong>in</strong> Makedonien e<strong>in</strong>e Quote für die<br />

‚E<strong>in</strong>schreibung von M<strong>in</strong>derheiten’ e<strong>in</strong>geführt. Die Quote für Roma-<br />

Studenten war 2 Prozent entsprechend dem prozentualen Anteils<br />

der Roma <strong>in</strong> der ganzen Bevölkerung. Im letzten Jahr haben<br />

gemäß dem Ohrid-Abkommen über 20 Roma, die e<strong>in</strong>en<br />

Sekundarschulabschluss erlangt haben, e<strong>in</strong>en Lehrgang für die<br />

Beschäftigung <strong>in</strong> der staatlichen Verwaltung besucht. In diesem<br />

Jahr arbeiten sie <strong>in</strong> der Regierung und <strong>in</strong> Büros der M<strong>in</strong>isterien.<br />

E<strong>in</strong>e bessere Zukunft für Suto Orizari<br />

Angesichts der gegenwärtigen Situation ist e<strong>in</strong>e detaillierte<br />

Stadtplanung unumgänglich. Die Problematik im Zusammenhang<br />

mit dem Sutko-Basar muss gelöst werden. Suto Orizari hat ke<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>kaufszentrum. Die Tatsache, dass auf dem Sutko-Basar alle<br />

Waren unter freiem Himmel und an improvisierten Ständen verkauft<br />

werden, macht die Notwendigkeit für e<strong>in</strong> solches E<strong>in</strong>kaufszentrum<br />

nur allzu deutlich. Es ist allseits bekannt, dass der Sutka-Markt der<br />

beliebteste E<strong>in</strong>kaufsort im ganzen Land ist, vor allem an<br />

Sonntagen. Aus diesem Grunde bilden sich lange Autoschlangen<br />

von der Stadtgrenze bis zur Stadtmitte. Das hohe<br />

Verkehrsaufkommen und das unvermeidliche Chaos birgt nicht<br />

zuletzt auch e<strong>in</strong> hohes Gefährdungsrisiko für die Menschen. E<strong>in</strong><br />

großer Parkplatz h<strong>in</strong>ter dem Markt wäre sicherlich e<strong>in</strong>e Lösung<br />

dieses Problems.<br />

Das Informationszentrum für Bürger bietet nun bessere und<br />

schnellere Hilfe bei Fragen für die Bewohner der Geme<strong>in</strong>de,<br />

dennoch sollte für bestimmte Anfragen oder sozioökonomische<br />

Neuigkeiten <strong>in</strong> Kooperation mit dem M<strong>in</strong>isterium für Arbeit und<br />

Soziales e<strong>in</strong> Büro für soziale Fragen e<strong>in</strong>gerichtet werden.<br />

239


Sevdija Demirova-Abdulova<br />

Gegenwärtig fehlen <strong>in</strong> Suto Orizari die Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>dustrielle Produktion. Sollte als Teil e<strong>in</strong>es städtebaulichen<br />

Konzepts e<strong>in</strong> solches Industriegebiet entstehen, würde dies die<br />

Ausgangslage für e<strong>in</strong>e Entwicklung der Wirtschaft und der<br />

Beschäftigung vor Ort sicherlich entscheidend verbessern.<br />

Im Sommer gibt es <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de immer noch e<strong>in</strong> Problem mit<br />

der Wasserversorgung. Vor allem die Häuser, die etwas höher<br />

stehen, werden nur unzureichend mit Wasser versorgt. Diese<br />

Situation dauert oft Stunden an, deshalb muss das<br />

Wasserversorgungssystem dr<strong>in</strong>gend verbessert werden.<br />

Die lokalen NGOs der Roma benötigen für die Umsetzung wichtiger<br />

Projekte für die Bevölkerung von Suto Orizari die Unterstützung der<br />

Kommunalverwaltung. In den letzten Jahren hat sich die<br />

Menschenrechtssituation <strong>in</strong> Suto Orizari dank der Aktivitäten dieser<br />

lokalen NGOs verbessert. Die Zusammenarbeit zwischen der<br />

Geme<strong>in</strong>deverwaltung und den NGOs könnte den E<strong>in</strong>wohnern e<strong>in</strong>e<br />

bessere Zukunft bescheren. Aber was zählen ist die<br />

Ausbildungschancen der Bevölkerung, wenn viele Schüler der<br />

Grundschulen ihre Schullaufbahn nach Beendigung der<br />

Grundschule abbrechen. E<strong>in</strong>er der Gründe hierfür ist das Fehlen<br />

f<strong>in</strong>anzieller Mittel für Schulbücher, Busse und Verpflegung. Deshalb<br />

wäre es wichtig, e<strong>in</strong>e weiterführende Schule <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de zu<br />

haben. Derzeit wird diese Frage von führenden Politikern der Roma<br />

mit Vertretern des makedonischen M<strong>in</strong>isteriums für Bildung<br />

diskutiert und es könnte möglich se<strong>in</strong>, dass dieser Traum vieler<br />

junger Leute <strong>in</strong> Sutka <strong>in</strong> Erfüllung geht.<br />

Bislang wurden dafür 750.000 Euro von NGOs bereitgestellt und<br />

über zusätzliche Geldmittel wird mit dem Bildungsm<strong>in</strong>isterium<br />

verhandelt. Wenn es um die Jugend geht, muss e<strong>in</strong>e Lösung für<br />

deren Beschäftigungssituation gefunden werden. Für die<br />

kurzfristige Beschäftigung der jungen Leute muss e<strong>in</strong> strategisches<br />

Konzept erarbeitet werden, ähnlich wie <strong>in</strong> den sechziger Jahren, als<br />

es Agenturen für die Beschäftigung von Jugendlichen gab<br />

(mlad<strong>in</strong>ski zadrugi). Ziel dieser Agenturen war es, kurzfristig<br />

Arbeitsmöglichkeiten für junge Leute zu f<strong>in</strong>den.<br />

Für die junge Generation <strong>in</strong> Suto Orizari werden<br />

Jugendkulturzentren benötigt, die zugleich Treffpunkt s<strong>in</strong>d und<br />

Schutz vor den schlechten E<strong>in</strong>flüssen der Straße bieten. Angesichts<br />

der Tatsache, dass es e<strong>in</strong>e lange Theatertradition <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de<br />

gibt, ist es von hoher Bedeutung für die Geme<strong>in</strong>dekultur, dass e<strong>in</strong><br />

240


ROMA IN EUROPA<br />

Theatergebäude zur Verfügung steht. - Die E<strong>in</strong>heimischen s<strong>in</strong>d als<br />

gute Sportler bekannt. Es gibt e<strong>in</strong>en Fußballvere<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en<br />

Boxvere<strong>in</strong>, doch e<strong>in</strong>e der am erfolgreichsten betriebenen Sportarten<br />

<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ist Tischtennis. Die jungen Mitglieder des Teams<br />

haben sich für die erste makedonische Liga im Tischtennis<br />

qualifiziert. Sie tra<strong>in</strong>ieren <strong>in</strong> dieser Geme<strong>in</strong>de im K<strong>in</strong>der- und<br />

Jugendzentrum. Sportplätze und -hallen würden der Jugend<br />

vielleicht großen Auftrieb geben und sie zu Bestleistungen<br />

motivieren und offensichtlich könnten diese Aktivitäten auch e<strong>in</strong><br />

breiteres Interesse <strong>in</strong> der Bevölkerung bewirken.<br />

Samka Ibraimovski, der stellvertretende M<strong>in</strong>ister für Arbeit und<br />

Sozialpolitik ist der Me<strong>in</strong>ung, dass Suto Orizari e<strong>in</strong>en gut<br />

ausgebildeten und kompetenten Bürgermeister braucht, der für<br />

bessere Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> der Zukunft sorgen könnte. Bildung ist der<br />

Schlüssel dafür, denn der Bürgermeister muss an Projekten<br />

arbeiten, die Investitionen begünstigen, um die Gründung kle<strong>in</strong>er<br />

Fabriken <strong>in</strong> Suto Orizari anzuregen. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />

und e<strong>in</strong>e Reduzierung der Arbeitslosigkeit s<strong>in</strong>d abhängig von den<br />

Investitionen <strong>in</strong> die Produktions<strong>in</strong>dustrie. Die fachliche Kompetenz<br />

<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de ist größer geworden und es ist lediglich e<strong>in</strong>e Frage<br />

der Zeit, bis die Abteilungen der makedonischen M<strong>in</strong>isterien vor Ort<br />

zu funktionieren beg<strong>in</strong>nen. Dies wird die Kommunikation zwischen<br />

der kommunalen und staatlichen Ebene verbessern. 21<br />

Dies s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige wenige Vorschläge, um die Zukunft der<br />

Geme<strong>in</strong>de Suto Orizari zu verbessern. Leider arbeitet die<br />

Geme<strong>in</strong>deverwaltung mit äußerst ger<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>anziellen Mitteln. Der<br />

Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bessere Zukunft ist zwar ste<strong>in</strong>ig, manchmal<br />

erbarmungslos, voller H<strong>in</strong>dernisse, aber er ist es wert, ihn bis zum<br />

Ende zu gehen. Dem Bürgermeister und den E<strong>in</strong>wohnern ist auf<br />

diesem Weg Glück zu wünschen.<br />

21<br />

Interview mit Samka Ibraimovski, stellvertretender M<strong>in</strong>ister für Arbeit und<br />

Sozialpolitik, Juli 2005<br />

241


Osman Balic<br />

243<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Schwierigkeiten beim Aufbau e<strong>in</strong>er starken politischen<br />

Romapartei <strong>in</strong> Serbien und Montenegro<br />

1. Die Roma <strong>in</strong> Serbien<br />

Die E<strong>in</strong>wohnerzahl<br />

Entsprechend den Angaben der staatlichen Volkszählung von 2002<br />

leben <strong>in</strong> Serbien <strong>in</strong>sgesamt 108.193 Bürger, die Roma s<strong>in</strong>d. Man<br />

kann aber mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit behaupten, dass diese Zahl<br />

3,5 mal höher ist. Dies würde bedeuten, dass <strong>in</strong> Serbien ca. 380<br />

000 Roma leben, bzw. 1,45 % der Gesamte<strong>in</strong>wohnerzahl Serbiens.<br />

- Laut der Volkszählung von 1991 waren die Roma <strong>in</strong> Serbien die<br />

viertgrößte M<strong>in</strong>derheit nach den Albanern, den Ungarn und den<br />

Muslimen<br />

Hätten sich die Roma bei der "Volkszählung 2002" als das, was sie<br />

tatsächlich s<strong>in</strong>d, also als Roma, ausgewiesen, wäre das Ergebnis<br />

unzweifelhaft gewesen: Die Roma wären nach den Albanern die<br />

zweitgrößte ethnische M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Serbien. Da außerdem das<br />

Gebiet des Kosovo derzeit außerhalb der Zuständigkeit Serbiens<br />

ist, dürften die Roma die zahlenmäßig größte nationale M<strong>in</strong>derheit<br />

<strong>in</strong> Serbien se<strong>in</strong>.<br />

Die politischen Romaparteien<br />

Die bisherigen Bemühungen, e<strong>in</strong>e starke politische Romapartei zu<br />

gründen, führten noch zu ke<strong>in</strong>em Erfolg. Die ersten Romaparteien<br />

entstanden nach E<strong>in</strong>führung des Mehrparteisystems im ehemaligen<br />

Jugoslawien. Wir Roma brauchten 15 Jahre, um e<strong>in</strong>zusehen, dass<br />

wir <strong>in</strong> unseren Bemühungen, e<strong>in</strong> relevanter politischer Akteur zu<br />

werden, der Unterstützung bedürfen.<br />

Der Misserfolg hatte viele Gründe: die unentwicklte politische<br />

Kultur, das Fehlen von starken politischen Roma-Parteien und -<br />

Leadern, ihre teilnahmslos h<strong>in</strong>nehmende Lethargie und Indolenz,<br />

das niedrige Bildungsniveau der Roma und ihre Alltagssorgen.<br />

Gerade deswegen ist der Bedarf an der Gründung von e<strong>in</strong>er oder<br />

zwei starken politischen Roma-Parteien besonders groß. Ihre


Osman Balic<br />

Aufgabe wäre es, sich mit der politischen Kultur der Roma zu<br />

befassen, bzw. e<strong>in</strong>e politische Organisation zu schaffen und ihren<br />

Landsleuten glaubhaft zu zeigen, dass der politische Bereich der<br />

wichtigste Schauplatz ist, auf dem sowohl über das Schicksal des<br />

E<strong>in</strong>zelnen und se<strong>in</strong>er Familie, also über die Armut und die<br />

Gettoisierung, als auch über den M<strong>in</strong>derheitenstatus, die ethnische<br />

Gleichberechtigung und den Staat im allgeme<strong>in</strong>en entschieden<br />

wird.<br />

2. Die Beziehungen zwischen den Roma<br />

Bei den Roma mangelt es an Solidarität. Die traditionelle<br />

gegenseitige Unterstützung <strong>in</strong> der engeren Familie und <strong>in</strong> der<br />

Großfamilie, <strong>in</strong> der Nachbarschaft und den Straßenzügen, <strong>in</strong> der<br />

ethnischen Untergruppe und der ganzen Volksgruppe ist verloren<br />

gegangen. Es sche<strong>in</strong>t als sei der ethnologische Mythos über die<br />

E<strong>in</strong>igkeit der Roma entschwunden. Statt der Sorge um den<br />

Nächsten breiten sich immer mehr e<strong>in</strong> utilitaristischer<br />

Individualismus und e<strong>in</strong> verhängnissvoller Egoismus aus. "Ich b<strong>in</strong><br />

mir am wichtigsten, mich <strong>in</strong>teressiert nur der engste Kreis me<strong>in</strong>er<br />

Angehörigen". Auch die Beziehungen zwischen den<br />

Generationen s<strong>in</strong>d schlecht.<br />

3. Die politische Kultur der Roma<br />

Die politische Kultur der Roma ist katastrophal. Genauer gesagt:<br />

Es gibt sie gar nicht. Wir können festhalten, dass es sich um e<strong>in</strong>e<br />

politische Unkultur handelt.<br />

Folgende Bed<strong>in</strong>gungen bee<strong>in</strong>flussen die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />

politischen Kultur und e<strong>in</strong>es starken politischen Faktors.<br />

Obwohl ich der Ansicht b<strong>in</strong>, dass die Diskrim<strong>in</strong>ierung der Roma im<br />

kulturellen Bereich am stärksten ist – auch wenn sie dort <strong>in</strong> "buntes<br />

Geschenkpapier" verpackt ist -, möchte ich die Bedeutung des<br />

rechtlichen und politischen Subsystems <strong>in</strong> der Gesellschaft nicht<br />

vernachlässigen. Als solches ist dieses Subsystem e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Determ<strong>in</strong>ante der Lage der großen Gruppen – hier der ethnischen –<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er konkreten Geme<strong>in</strong>schaft. Handelt es sich dabei noch um<br />

ethnische M<strong>in</strong>derheiten ohne Schutz durch ihren Heimatstaat <strong>in</strong> der<br />

unmittelbaren Nachbarschaft, wie es leider der Fall bei den Roma<br />

244


245<br />

ROMA IN EUROPA<br />

ist, sche<strong>in</strong>t der politische Bereich so e<strong>in</strong>e Schlüsselrollezu spielen,<br />

dass viele Sozialanalysten ihm absoluten Vorrang e<strong>in</strong>räumen.<br />

Die Roma spielen im politischen Bereich gar ke<strong>in</strong>e Rolle, sie haben<br />

ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss und dienen den Regierungskreisen für<br />

Manipulationen. E<strong>in</strong> Grund liegt laut Sonja Licht im "Fehlen e<strong>in</strong>er<br />

homogenen Kollektivität, e<strong>in</strong>er autonomen Selbstorganisation und<br />

e<strong>in</strong>es kollektiven nationalen Selbstbewusstse<strong>in</strong>s …"<br />

Die Elite der Roma<br />

Der Aufbau e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>telektuellen, <strong>in</strong>sbesondere politischen Elite steht<br />

den Roma erst bevor. Bis vor kurzem hatten sie nicht e<strong>in</strong>mal<br />

bedeutende Vertreter <strong>in</strong> den Institutionen des Staatssystems. Sogar<br />

als sie, wie z.B. <strong>in</strong> der letzten Regierungsperiode, e<strong>in</strong>ige<br />

Geme<strong>in</strong>deräte <strong>in</strong> den Kommunen und Städten, e<strong>in</strong>ige Abgeordnete<br />

im serbischen Parlament und e<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>ister ohne Portefeuille <strong>in</strong> der<br />

Regierung der Republik Serbien hatten, hätten sie mit ihren<br />

politischen Repräsentanten und ihrem politischen E<strong>in</strong>fluss nicht<br />

zufrieden se<strong>in</strong> sollen - und sie waren es auch nicht. Die Mehrheit<br />

der Roma zweifelte sogar an ihren damaligen Vertretern <strong>in</strong> der<br />

Regierung: Weder hatten sie ihnen ihre Stimme gegeben, noch<br />

haben diese, wie wir uns überzeugen konnten, ihre authentischen<br />

Interessen vertreten.<br />

Es ist e<strong>in</strong> Wunsch und auch das legitime Recht der Roma,<br />

wenigstes dort, wo sie <strong>in</strong> der Mehrheit s<strong>in</strong>d, ihre eigenen Leute<br />

wählen.<br />

Zweifellos würden die Roma ihre Me<strong>in</strong>ung ändern und an politischer<br />

Reife gew<strong>in</strong>nen, wenn ihre sich herausbildende politische Elite<br />

verantwortlicher wäre und sich tatsächlich mit dem Wohl ihrer<br />

Landsleute befassen würde.<br />

Die politische Angst<br />

In starken Zivilgesellschaften würde man über das Bestehen e<strong>in</strong>es<br />

Zusammenhangs zwischen den Kategorien Angst und Politik<br />

staunen. Lebt man jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em totalitären System, wie es das<br />

serbische war, hat die Frage nach diesem Zusammenhangs e<strong>in</strong>e<br />

Rechtfertigung. Das gefallene Regime schuf absichtlich e<strong>in</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>es Gefühl des Nichterlaubtse<strong>in</strong>s und jagte den Menschen,


Osman Balic<br />

wenn sie sich bei Wahlen "falsch" oder für die demokratische<br />

Opposition entschieden, Angst vor den schrecklichen Folgen e<strong>in</strong>.<br />

Insbesondere die Roma waren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er präkeren Lage. Immer und<br />

überall stigmatisiert und sowohl von der eigenen Elite als auch von<br />

der Mehrheitsbevölkerung politisch vernachlässigt waren sie immer<br />

auf der Hut und fürchten sich wahrsche<strong>in</strong>lich mehr als alle anderen.<br />

Ist diese politische Angst der Hauptgrund dafür, dass sie ihren<br />

authentischen politischen Willen nicht ausdrücken?<br />

Die Angst, e<strong>in</strong>e traurige Tatsache für unsere Geme<strong>in</strong>schaft, besteht<br />

bei den Roma und sie erschwert den Weg zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>terkulturellen<br />

Gesellschaft. Wie könnte man sonst die Ergebnisse e<strong>in</strong>iger<br />

Untersuchungen deuten, laut denen e<strong>in</strong> Drittel auf die e<strong>in</strong>e oder<br />

andere Art Angst hat, sich politisch zu äußern? ("Es ist besser, zu<br />

Hause zu bleiben und sich um die eigenen Angelegenheiten zu<br />

kümmern", "Bei uns kennt jeder jeden, und jeder hat Angst vor dem<br />

anderen", "Wenn ich nach eigenem Willen wähle, wird mir der Staat<br />

das Leben erschweren"). Zum Glück hat sich aber über e<strong>in</strong>e Hälfte<br />

der Roma von dieser Angst befreit. Den Ängstlichen, denen man<br />

es auf ke<strong>in</strong>en Fall übel nehmen sollte, da sie daran ke<strong>in</strong>e Schuld<br />

haben, sollte man geduldig erklären, dass man sich wegen der<br />

Beschäftigung mit der Politik und der freien politischen<br />

Entscheidung nicht strafbar macht. Im Gegenteil, es ist die e<strong>in</strong>zige<br />

Möglichkeit der Erreichung e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> der niemand Angst<br />

haben muss. Außerdem sollte man den Roma klarmachen, dass<br />

sich die Mehrheit ihrer Landsleute, Verwandten und Nachbarn von<br />

der Angst befreit hat, politisch reif ist und "gnadenlos" ihre<br />

politischen Forderungen stellt.<br />

Das politische Vertrauen<br />

E<strong>in</strong>ige neue Untersuchungen der Roma-Bevölkerung zeigen, dass<br />

die Roma zu e<strong>in</strong>em konservativen und autoritären Verhalten neigen<br />

und dem Staat, den Regierenden und den eigenen mit den<br />

Regierungskreisen kollaborierenden Vertretern ohne jegliche Kritik<br />

loyal s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e Begründung dafür f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> ihrer<br />

jahrhundertelangen Erfahrung und den Überlebensrategien <strong>in</strong><br />

Staaten der Mehrheitsbevölkerung. Sie sehen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

transnationalen Situation und gezwungen, sich ständig anzupassen<br />

um zu überleben. Ist die Situation aber tatsächlich so und muss es<br />

bei den Roma so bleiben?<br />

246


247<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Inzwischen hat sich vieles bei unseren Roma geändert. Auch sie<br />

haben politische Parteien gegründet, s<strong>in</strong>d Mitglieder <strong>in</strong> anderen<br />

Parteien, haben authentische politische Leader, ihre <strong>in</strong>telektuelle<br />

Elite wächst, sie gründen alternative Roma-Vere<strong>in</strong>e und<br />

Nichtregierungsorganisationen… Wem glauben die Roma am<br />

meisten? Oder schenken sie niemandem ihr politisches Vertrauen?<br />

Blanko glauben die Roma niemandem mehr und das ist auch gut so<br />

für sie. E<strong>in</strong> wenig mehr Vertrauen haben sie <strong>in</strong> den Staat. Das<br />

restliche Vertrauen ist auf verschiedene andere Subjekte verteilt:<br />

E<strong>in</strong>ige traditionelle Subjekte haben dieses Vertrauen verspielt (z.B.<br />

der Dachverband der Roma-Vere<strong>in</strong>e Serbiens bzw. Jugoslawiens)<br />

und die neuen haben dieses Vetrauen noch nicht gew<strong>in</strong>nen können<br />

(Alternative Roma-Vere<strong>in</strong>e und -NGOs).<br />

Die Prognose ist, dass drei gesellschaftlich-politische Akteure e<strong>in</strong>e<br />

günstige Situation langfristig und mit e<strong>in</strong>em geduldigen Angebot<br />

nutzen könnten: die alternativen Vere<strong>in</strong>e und<br />

Nichtregierungsorganisationen der Roma, die politischen Parteien<br />

der Roma und die demokratische Opposition. Derzeit hat der erste<br />

Akteur gewisse Chancen, der zweite hat nur ger<strong>in</strong>gen E<strong>in</strong>fluss, der<br />

dritte h<strong>in</strong>kt stark h<strong>in</strong>terher und sollte sich darüber ernsthafte<br />

Gedanken machen.<br />

Die politischen Parteien der Mehrheitsbevölkerung<br />

Das Problem ist, dass die wichtigeren politischen Parteien sich<br />

e<strong>in</strong>erseits sehnlichst e<strong>in</strong>en starken E<strong>in</strong>fluss auf die<br />

Romabevölkerung wünschen und andererseits ihren spezifischen<br />

Problemen und Forderungen nicht genügend Aufmerksamkeit<br />

widmen. Ihnen ist bewusst, dass der Roma-Anteil an der<br />

Wählermasse nicht zu unterschätzen ist. Er beträgt mehrere<br />

hunderttausend Wähler und stellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Gebieten, Dörfern und<br />

Städten, bzw. Wahlkreisen die Mehrheit.<br />

Obwohl sich die Roma dieser Zusammenhänge nicht bewusst s<strong>in</strong>d,<br />

spüren sie ihre Macht als Wähler und wissen, dass sie von den<br />

politischen Parteien vernachlässigt werden. Wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

wundern sie sich darüber, dasss sie sogar <strong>in</strong> den Programmen der<br />

Parteien der demokratischen Opposition marg<strong>in</strong>alisiert s<strong>in</strong>d.<br />

Deshalb haben die Roma diese Parteien dadurch bestraft, dass sie<br />

entweder überhaupt nicht wählen g<strong>in</strong>gen oder "unerwartet" für die


Osman Balic<br />

Kandidaten der Regierungsparteien votiert haben. 1 Die Roma s<strong>in</strong>d<br />

zunehmend kritisch orientiert und davon überzeugt, dass die<br />

modernen politischen Parteien <strong>in</strong> ihrem "Machtstreben" die<br />

Interessen des geme<strong>in</strong>en Volkes und der kle<strong>in</strong>en Leute<br />

vernachlässigt haben. Sie wissen auch, dass die politischen<br />

Parteien der Mehrheitsbevölkerung bei ihnen e<strong>in</strong>e besonders<br />

wichtige politische Rolle spielen können, wenn sie sich ehrlich für<br />

sie e<strong>in</strong>setzen. Die Roma müssen über ihre politische Elite stärker<br />

die politischen Parteien der Mehrheitsbevölkerung bedrängen, ihre<br />

Forderungen radikaler stellen und mit mehr Verantwortung am<br />

politischen Leben teilnehmen.<br />

Die Nichtregierungsorganisationen der Roma<br />

In Europa haben verschiedene und zahlreiche staatliche Behörden<br />

und Stiftungen das Roma-Problem rechtzeitig erkannt. Mit allen<br />

Kräften versuchen sie, diesem verzweifelten Volk zu helfen. Es gibt<br />

hunderte von sogenannten Programmen für die Roma und<br />

tausende Projekte werden f<strong>in</strong>anziert, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bandbreite<br />

von K<strong>in</strong>der- und Wohltätigkeitsprogrammen bis zu Bildungs- und<br />

Wissenschaftsprogrammen, die durch unzählige Freiwillige und<br />

Enthusiasten, Professionelle und den Roma zugeneigte Experten,<br />

solche, die ihre humanistische Tugend im dritten Sektor, <strong>in</strong> den<br />

geme<strong>in</strong>nützigen humanitären Nichtregierungsorganisationen, <strong>in</strong><br />

Taten umgesetzt werden. Im Gegensatz zu unserer Regierung hat<br />

man dort e<strong>in</strong>gesehen, dass die Zukunft dem dritten Sektor gehört.<br />

Der E<strong>in</strong>fluss der sogenannten Roma-<br />

Nichtregierungsorganisationen, deren Anzahl schon<br />

unübersichtlich geworden ist und der oft von den Serben zu<br />

hörenden Beschreibung entspricht: "Wo e<strong>in</strong> Roma ist, da ist auch<br />

se<strong>in</strong>e Nichtregierungsorganisation", wird immer größer. Man sollte<br />

dies den Roma auch gönnen. Weit nützlicher wäre es jedoch, wenn<br />

sich die E<strong>in</strong>-Mann-NGOs vernetzen und <strong>in</strong>tegrieren würden.<br />

Geme<strong>in</strong>sam könnten sie e<strong>in</strong>en starken Druck auf die Politik<br />

ausüben.<br />

Das politische Wesen der Roma ist - so wie es ist - weder im<br />

E<strong>in</strong>zelnen untersucht worden, noch haben ihm die politischen<br />

Parteien ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet. Die Roma<br />

1<br />

Die Serbische Radikale Partei hat e<strong>in</strong>en enormen E<strong>in</strong>fluss auf die Roma, was e<strong>in</strong><br />

unglaubliches Paradox ist.<br />

248


249<br />

ROMA IN EUROPA<br />

allgeme<strong>in</strong> verdienen e<strong>in</strong>e größere und verstärkte politische<br />

Aufmerksamkeit. Besonders viele Roma leben <strong>in</strong> den Städten. Ihre<br />

Anzahl ist wesentlich größer als die Anzahl der Roma auf dem<br />

Land. Im Gegensatz zur ruralen Zersteuung, gewährleistet die<br />

urbane Konzentration den Roma die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en<br />

bedeutenden Teil des Wahlkorpuses zu stellen. Deshalb kann man<br />

mit e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nvollen politischen Aktion zwei Ziele erreichen:<br />

E<strong>in</strong>erseits wird die <strong>in</strong>tensivere und komplexere Untersuchung des<br />

politischen Wesens der Roma angeregt, andererseits wird ihnen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em demokratischen Verfahren ermöglicht, ihren politischen<br />

Willen frei zu äußern.<br />

Die Bürger befassen sich aus den unterschiedlichsten Gründen mit<br />

der Politik. Die e<strong>in</strong>en tun dies aus ausschließlich persönlichen<br />

Interessen, die anderen sorgen sich um die besonderen<br />

Bedürfnisse e<strong>in</strong>er Schicht oder e<strong>in</strong>er ethnischen Gruppe und<br />

manche s<strong>in</strong>d um die höheren nationalen und staatlichen Interesse<br />

besorgt … Alle haben sie Motive, also auch die Roma, nur müssen<br />

sie per def<strong>in</strong>itione spezifische Gründe für ihre Teilnahme an der<br />

Politik haben.<br />

Im Gegensatz zu ihren Landsleuten <strong>in</strong> anderen Teilen Europas<br />

haben unsere Roma leider nicht das Glück, dass alle Sche<strong>in</strong>werfer<br />

auf sie gerichtet s<strong>in</strong>d. Der Staat hat immer etwas wichtigeres zu<br />

tun, und wenn er hilft, macht er das selektiv und behandelt die<br />

Roma wie e<strong>in</strong>e exotische Folkloregruppe. Den politischen Parteien,<br />

die ihren Analphabetismus und ihre Unorganisiertheit ausnutzen,<br />

dienen sie zum E<strong>in</strong>wegverbrauch – als erweiterter Wahlapparat.<br />

Deshalb müssen sich die Roma auf sich selbst verlassen und "ihr<br />

eigenes Potenzial nutzen", sich politisch organisieren und vere<strong>in</strong>en,<br />

ihre vergrößerte Macht nutzen und der eigenen Elite komplexere<br />

Forderungen stellen. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d sie verpflichtet, die<br />

Nichtregierungsorganisationen <strong>in</strong> ihrem Umfeld kennenzulernen, mit<br />

ihnen zusammenzuarbeiten, an geme<strong>in</strong>samen Programmen zu<br />

arbeiten und unerschöpflich ihre Potentiale zu nutzen. Sie müssen<br />

"Freunde" unter den Wissenschaftlern f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>sbesondere unter<br />

denen aus dem gesellschaftlich-humanistischen Bereich, und bei<br />

ihnen das Interesse für ihre "Frage" wecken. Erst <strong>in</strong> dieser Tr<strong>in</strong>ität<br />

wächst die Chance der Roma soweit, dass sie sichtbar wird und der<br />

Staat und unsere Regierung sie nicht leugnen können.


Osman Balic<br />

In me<strong>in</strong>em Integrationsmodell und auf se<strong>in</strong>en rechtlich-politischen<br />

Wegen gibt es ke<strong>in</strong>en Erfolg ohne e<strong>in</strong>e ausgeprägte politische<br />

Kultur und e<strong>in</strong>e starke politische Rolle. Die Macht bekommt man<br />

nicht geschenkt, man erwirbt sie, <strong>in</strong>dem man für sie kämpft und<br />

sie erkämpft. Die Roma s<strong>in</strong>d nun am Zug, da sie selber die<br />

Schuld tragen für den Mangel an politischer Kultur und an<br />

bedeutenderen politischen Rollen. Gerade dort ist ihre große<br />

Chance, manche glauben sogar die größte: "Die Politik ist der<br />

e<strong>in</strong>zige Bereich, <strong>in</strong> dem die Roma große Erfolge erzielen<br />

können."<br />

4. Die politischen Romaparteien und ihre E<strong>in</strong>stellungen zu den<br />

Problemem<br />

Die wichtigsten Parteien der Roma s<strong>in</strong>d z.Z. die folgenden:<br />

Nr. Name der Partei Vorsitzender<br />

1. Partei der E<strong>in</strong>heit der Roma Žika Mitrović<br />

2. Roma Sozialdemokratische Partei Dragan<br />

Jovanović<br />

3. Neue Demokratische Partei der Roma Serbiens Dragan Ristić<br />

4. Sozialdemokratische Partei Muharem Muja<br />

Alijević<br />

5. Demokratische Roma-Partei Nenad Vasić<br />

6. Demokratische Partei der Roma Sevded<strong>in</strong> Haliti<br />

7. Roma Sozialdemokratische Partei Serbiens Srđan Ša<strong>in</strong><br />

Auf Grund der Gespräche nach den letzten Kommunalwahlen <strong>in</strong><br />

Serbien, die im September 2004 stattfanden, können folgende<br />

kritische Schlussfolgerungen der Führer der Romaparteien genannt<br />

werden:<br />

- Alle Teilnehmer erkannten den Mangel an Experten, die am<br />

politischen Wettkampf mitwirken könnten.<br />

- Die bestehenden politischen Parteien haben ihre politische<br />

Idee, die klaren politischen Ziele, die Plattform und den<br />

Aktionsplan ihres Wahlkampfs nicht klar def<strong>in</strong>iert. Als Gründe<br />

dafür wurden das mangelnde Wissen bei der Erstellung solcher<br />

Pläne und der Mangel an F<strong>in</strong>anzen angeführt.<br />

250


251<br />

ROMA IN EUROPA<br />

- Als Problem wurde auch die Passivität der Parteien <strong>in</strong> der Zeit<br />

zwischen den Wahlen erkannt. Sie werden nur vor Beg<strong>in</strong>n der<br />

Wahlen aktiv.<br />

- Alle Teilnehmer führten auch das Problem der F<strong>in</strong>anzierung der<br />

politischen Parteien an. Auf dieses Problem wurde durch<br />

Beispiele von Eigen<strong>in</strong>vestitionen von Parteimitgliedern oder<br />

E<strong>in</strong>zelpersonen während des Wahlkampfs h<strong>in</strong>gewiesen. Die<br />

Wahlergebnisse s<strong>in</strong>d dann dementsprechend.<br />

- Die Roma-Kandidaten deuten das niedrige Niveau der<br />

Wahlbeteiligung der Roma-Geme<strong>in</strong>schaft als Folge des<br />

Misstrauens <strong>in</strong> die Roma-Parteien und der traditionellen<br />

apolitischen E<strong>in</strong>stellung der Roma.<br />

- Es wurden auch Fälle genannt, <strong>in</strong> denen sich die für die<br />

Anmeldung <strong>in</strong> den Wahllisten zuständigen Beamten<br />

diskrim<strong>in</strong>ierend gegenüber den Vertretern der Wahlausschüsse<br />

und -gremien verhalten haben.<br />

- Das Verhältnis der Nicht<strong>roma</strong>-Parteien zu den Roma-Parteien<br />

ist so, dass niemand e<strong>in</strong>e Koalition mit den Roma e<strong>in</strong>gehen<br />

möchte, da sie der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Pakt mit den<br />

Romaparteien könnte ihnen politisch schaden.<br />

- Die Medien haben e<strong>in</strong>e abwertende Haltung, da die<br />

Romaparteien (häufig wegen Mangel an F<strong>in</strong>anzen) ke<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit hatten, sich vorzustellen.<br />

- Als Bedarf wurde auch die Kommunikation zwischen den<br />

politischen Roma-Parteien genannt, um geme<strong>in</strong>sam über<br />

Möglichkeiten von geme<strong>in</strong>samen Zielen und Koalitionsauftritten<br />

zu diskutieren.<br />

Diese identifizierten Probleme s<strong>in</strong>d nicht neu. Sie verdeutlichen nur,<br />

dass die Probleme nicht gelöst worden s<strong>in</strong>d, sich nicht reduziert<br />

haben und dass die Anzahl der Roma, die am Wahlprozess<br />

teilnehmen möchten, steigt. E<strong>in</strong>e weitere wichtige Tatsache ist das<br />

Fehlen an Kommunikation zwischen den Parteien und an<br />

geme<strong>in</strong>samen Auftritte, <strong>in</strong> denen alle e<strong>in</strong>e Möglichkeit der<br />

Verbesserung der Beteiligung der Roma an den Wahlen sehen.<br />

Nach mehreren Jahren ist e<strong>in</strong> Weg zu erkennen, den man beim<br />

Strukturieren der politischen Interessen durch Koalitionen der<br />

Roma-Parteien begehen sollte. Der Erreichung des Ziels "soziale


Osman Balic<br />

Gerechtigkeit" oder der Schaffung e<strong>in</strong>er "starken politischen Partei,<br />

die wir nicht haben", mangelt immer noch die Konkretisierung, die<br />

Systematik und der langfristige Effekt der Teilhabe an der Macht<br />

und festgelegte Pläne und Ziele für die Zeit nach den Wahlen.<br />

5. Empfehlungen:<br />

Für die politischen Parteien:<br />

• Es ist erforderlich, dass so bald wie möglich e<strong>in</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g für<br />

die politischen Parteien veranstaltet wird, <strong>in</strong> dem sie <strong>in</strong> den<br />

Bereichen der Erarbeitung von politischen Programmen, des<br />

Wahlkampfes und des politischen Managements ausgebildet<br />

werden. Auf diese Weise würden die politischen Roma-Parteien<br />

befähigt werden, e<strong>in</strong> höheres Niveau an Vertrauen bei den Roma<br />

zu gew<strong>in</strong>nen. Dies würde zu e<strong>in</strong>er höheren Partizipation der<br />

Jugendlichen und Gebildeten führen.<br />

• Es ist erforderlich, die Kommunikation zwischen den<br />

politischen Roma-Parteien aufrechtzuerhalten. Die Grundlage<br />

dieser Kommunikation sollten die Mehrheit der Wähler und die<br />

politischen Plattformen stellen.<br />

• Es ist erforderlich, Mechanismen für die Kommunikation<br />

zwischen den Roma-Parteien und den Kandidaten auf den Listen<br />

der Nicht<strong>roma</strong>-Parteien zu f<strong>in</strong>den.<br />

Für die Roma-NGOs und die Roma-Medien<br />

• Die Roma-NGOs sollten die Rolle von Ausbildern der Roma-<br />

Geme<strong>in</strong>schaft übernehmen, ihnen die Bedeutung der Wahlen<br />

erklären und sie ermutigen, wählen zu gehen.<br />

• Die Aktivisten der Roma-NGOs sollten an Wahlbeobachtungen<br />

und <strong>in</strong> der Wahlorganisation teilnehmen.<br />

252


Autoren<br />

253<br />

ROMA IN EUROPA<br />

Osman Balic, Rom, geboren 1957 <strong>in</strong> Nis, Jugoslawien. Er<br />

beendete 1978 se<strong>in</strong>e Ausbildung an der Universität von Nis als<br />

Ingenieur für Arbeitssicherheit. Danach arbeitete, forschte und<br />

publizierte er im Bereich Informationssysteme. Im Jahre 2001<br />

wurde er Berater des Bundesm<strong>in</strong>isters für Nationale und Ethnische<br />

Geme<strong>in</strong>schaften. Von 2000 bis 2004 war er Stellvertretender<br />

Präsident des Verwaltungsrates der Geme<strong>in</strong>de Nis. Außerdem war<br />

er Mitglied des Rates für Beschäftigung der Stadt Nis und Leiter der<br />

Partnerschaftsgruppe der Stadt für das „Employment Promotion<br />

Project“ der Weltbank und des Arbeits- und Sozialm<strong>in</strong>isteriums. Seit<br />

2005 ist er Präsident des Rates für lokale wirtschaftliche<br />

Entwicklung der Geme<strong>in</strong>de Nis Mediana und Autor des Konzeptes<br />

für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Geme<strong>in</strong>de „Mediana for<br />

EU“. - Er war zwischen 1998 und 2005 Mitglied verschiedener<br />

Boards des Open Society Funds und ist Präsident des<br />

Verwaltungsrates der Roma-NGO „YUROM centar“ sowie<br />

Vorsitzender des Expertenausschusses für Arbeit, Sozialpolitik,<br />

K<strong>in</strong>der und primäre mediz<strong>in</strong>ische Versorgung der Demokratischen<br />

Partei von Nis und Vorstandsmitglied dieser Partei. Von 1999 bis<br />

2005 war Mitglied des Präsidiums der International Romani Union<br />

und zuständig für die Organisation und das Informationssystem.<br />

Wohnort: Nis, Serbien<br />

osman@sonis.org.yu oder yuromcentar@banker<strong>in</strong>ter.net<br />

Claude Cahn, besuchte das College <strong>in</strong> Oberl<strong>in</strong>, OH, USA, das er<br />

1990 als Bachelor of Arts verließ. 1995 beendete er mit dem<br />

Masters Degree die Central European University <strong>in</strong> Budapest. Seit<br />

1996 ist er im European Roma Rights Center (ERRC) <strong>in</strong> Budapest<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Funktionen beschäftigt, zur Zeit als Act<strong>in</strong>g<br />

Executive Director. Für die vom ERRC herausgegebene<br />

Vierteljahreszeitschrift „Roma Rights“ zeichnet er als executive<br />

editor. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Herausgeber von<br />

Publikationen, die sich mit rassistisch motivierten<br />

Benachteiligungen von Roma und mit den Rechten der Roma<br />

beschäftigen.<br />

Wohnort: Budapest, Ungarn<br />

claudecahn@compuserve.com oder ccahn@errc.org


Peter Thelen<br />

Marcel Courthiade, Rrom, geboren 1953 <strong>in</strong> Lucy, Frankreich. Er ist<br />

als Doktor der Sprachwissenschaft Leiter der Sektion für die<br />

R<strong>roma</strong>ni Sprache an dem Institut National des Langues et<br />

Civilisations Orientales (INALCO) der Universität <strong>in</strong> Paris. Es gibt<br />

von ihm zahlreiche Veröffentlichungen zur Sprache und<br />

Sprachpolitik <strong>in</strong> vielen Ländern. In 2005 erschien u. a. Politique<br />

l<strong>in</strong>guistique d’ une m<strong>in</strong>orité nationale à implantation dispersée dans<br />

nombreux états: le cas de la langue r<strong>roma</strong>ni, <strong>in</strong>: Impérialismes<br />

l<strong>in</strong>guistiques hier et aujourd’hui, INALCO/Edisud, Aix-en-provence,<br />

und wird als Publikation des Europarates ersche<strong>in</strong>en The Rroms: a<br />

new Perspective. - In der International Romani Union (IRU) ist er<br />

Kommissar für Sprache und l<strong>in</strong>guistische Rechte.<br />

Wohnort: Der Autor betrachtet sich als Europäer und Weltbürger<br />

entitetaqo kodo2mc@yahoo.fr<br />

Sevdija Demirova-Abdulova, Romni, geboren 1975 <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>,<br />

Makedonia. Sie ist Journalist<strong>in</strong> und arbeitet seit 1994 <strong>in</strong> der<br />

Nachrichtenabteilung des Makedonischen Rundfunks und<br />

Fernsehens. Außerdem dichtet sie und arbeitet als Übersetzer<strong>in</strong><br />

und Dolmetscher<strong>in</strong> zwischen der <strong>roma</strong>ni, der makedonischen und<br />

der englischen Sprache. Sie engagiert sich als Erzieher<strong>in</strong> im<br />

UNICEF-Programm im Roma Educational Center <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong>, als<br />

Vorsitzende des Zentrums für kulturelle, erzieherische und geistige<br />

Aufklärung der Roma <strong>in</strong> der makedonischen Republik und als<br />

Vorstandsmitglied im Zentrum für demokratische Entwicklung und<br />

Initiativen der Roma <strong>in</strong> Makedonien.<br />

Wohnort: <strong>Skopje</strong>, Republik Makedonien<br />

sevdijana@yahoo.com<br />

Rajko Djuric, Rom, geboren 1947 <strong>in</strong> Malo Orasje <strong>in</strong> der Nähe von<br />

Belgrad. Er studierte an der Universität <strong>in</strong> Belgrad, erhielt dort das<br />

Diplom für Philosophie und promovierte zum Doktor der Soziologie.<br />

Er ist Schriftsteller und Journalist und arbeitete bis 1991 als<br />

Chefredakteur der Kulturabteilung der jugoslawischen Zeitschrift<br />

Politika. Danach musste er nach Deutschland emigrieren und lebte<br />

bis 2004 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Seitdem ist er wieder <strong>in</strong> Belgrad und arbeitet als<br />

Stellvertretender Direktor von Tanjug. – Er war Präsident der<br />

International Romani Union (IRU) und ist Generalsekretär des<br />

Romani-Zentrums des Internationalen PEN-Clubs. Für se<strong>in</strong><br />

schriftstellerisches Engagement für die Geschichte, Sprache und<br />

Kultur der Roma wurde er 2002 von Schwedischen PEN-Club mit<br />

254


255<br />

ROMA IN EUROPA<br />

dem Tucholsky-Preis geehrt. Veröffentlichungen u. a.: Die Literatur<br />

der S<strong>in</strong>ti und Roma. - Roma und S<strong>in</strong>ti im Spiegel der deutschen<br />

Literatur. - Ohne Heim – Ohne Grab.<br />

Wohnort: Belgrad, Serbien und Montenegro<br />

László Fórika, Rom, geboren 1968 <strong>in</strong> Vásárosnamény, Ungarn. Er<br />

ist Rechtsexperte im Amt des Parlamentsbeauftragten<br />

(Ombudsman) für die Rechte der Nationalen und Ethnischen<br />

M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Ungarn. In der Roma-Versitas-Stiftung ist er<br />

Kurator.<br />

Wohnort: Budapest, Ungarn<br />

forika@obh.hu<br />

Günter Grass, Schriftsteller, Grafiker und Bildhauer, wurde 1927 <strong>in</strong><br />

Danzig geboren. Er war Mitglied der „Gruppe 47“, <strong>in</strong> der er 1955<br />

se<strong>in</strong>e erste Lesung hielt. Se<strong>in</strong> erster Roman, „Die Blechtrommel“<br />

erschien 1959. Dieses Werk, das die zeitgeschichtliche Darstellung<br />

des Nationalsozialismus durch dessen Entmystifizierung<br />

veränderte, machte ihn <strong>in</strong> Deutschland berühmt und brachte ihm<br />

große <strong>in</strong>ternationale Anerkennung. Se<strong>in</strong> umfangreiches<br />

schriftstellerisches Werk ist durch die Erfahrungen mit dem<br />

Nationalsozialismus geprägt und steht im Zusammenhang mit<br />

se<strong>in</strong>em politischen Engagement, <strong>in</strong>sbesondere für Willy Brandt und<br />

die von ihm repräsentierte Sozialdemokratische Partei<br />

Deutschlands. Nach vielen Preisen und Auszeichnungen im In- und<br />

Ausland wurde ihm 1999 der Nobelpreis für Literatur für se<strong>in</strong><br />

Lebenswerk verliehen. – Weil die Roma und S<strong>in</strong>ti wie ke<strong>in</strong> anderes<br />

Volk - außer dem jüdischen – Opfer der nationalsozialistischen<br />

Verfolgung waren und weil das Unrecht gegen sie andauert,<br />

gründete er 1997 mit se<strong>in</strong>er Frau die Stiftung zugunsten des<br />

Romavolkes, deren Zweck es ist, „das Verständnis für die<br />

Eigenarten des Romavolkes zu fördern und über se<strong>in</strong>e kulturelle<br />

und soziale Lage <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart aufzuklären“. Diese<br />

Stiftung vergibt den Otto-Pankok-Preis für Selbsthilfe<strong>in</strong>itiativen<br />

sowie für hervorragende kulturelle Leistungen und für<br />

journalistische oder wissenschaftliche Analysen, die die soziale und<br />

gesellschaftliche Lage des Volkes der Roma zum Thema haben.<br />

Wohnort: Lübeck, Deutschland


Peter Thelen<br />

Jenö Kaltenbach, geboren 1947 <strong>in</strong> Ófalu, Ungarn. Ab 1970<br />

Studium an der Juristischen Fakultät der József Attila Universität <strong>in</strong><br />

Szeged. Promotion (Dr. jur.) zum im Jahre 1975 und Habilitation<br />

(Ph D) zum Thema Kommunalaufsicht im Jahre 1989. Seit 1990 ist<br />

er Leiter des Lehrstuhls für Verwaltungs- und F<strong>in</strong>anzrecht der<br />

Universität <strong>in</strong> Szeged. Von 1990 bis 1993 war er am<br />

Verfassungsgericht der Ungarischen Republik, danach bis 1995<br />

Generaldirektor des Ungarischen Verwaltungs<strong>in</strong>stituts. Als Mitglied<br />

der deutschen M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Ungarn war er 1995<br />

Gründungspräsident der Landesselbstverwaltung der<br />

Ungarndeutschen und wurde noch im gleichen Jahr<br />

Parlamentsbeauftragter (Ombudsman) für die Rechte der<br />

Nationalen und Ethnischen M<strong>in</strong>derheiten der Republik Ungarn. In<br />

diese Funktion wurde er 2001 wiedergewählt. Als<br />

Gründungsmitglied des sog. „M<strong>in</strong>derheitenrundtischs“ und der<br />

Expertenkommission nahm er an der Vorbereitung des ungarischen<br />

M<strong>in</strong>derheitengesetzes teil. Er ist seit 1996 Ständiger Vertreter<br />

Ungarns <strong>in</strong> der Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des<br />

Europarates. Von 1998 bis 2003 war Vizepräsident dieser<br />

Kommission. Seit 1997 ist er Stellvertretendes Mitglied des<br />

Verwaltungsrates der Europäischen Beobachtungsstelle gegen<br />

Rassismus. Er ist Autor e<strong>in</strong>er Reihe von Büchern und<br />

wissenschaftlichen Artikeln zum Thema Menschen- und<br />

M<strong>in</strong>derheitenrechte.<br />

Wohnort: Érd, Ungarn<br />

kaltenbach@obh.hu<br />

Andrzej Mirga, Roma, Ethnologe. Erster Romani Student an der<br />

Jagiellonen Universität <strong>in</strong> Krakau und später Mitglied des<br />

Lehrkörpers an der Fakultät für Völkerkunde der Jagiellonen<br />

Universität (1981-1992). Mitbegründer der Vere<strong>in</strong>igung der Roma <strong>in</strong><br />

Polen und ihr erster Präsident (1991-1995). Berater der polnischen<br />

Regierung und vieler <strong>in</strong>ternationaler Organisationen. Mitglied des<br />

‚Project on Ethnic Relations’ (PER), Pr<strong>in</strong>ceton, der <strong>in</strong> den USA<br />

angesiedelten NGO, und Vorsitz im Beirat für Romafragen. Er<br />

berichtet 1994 mit drei weiteren Roma-Mitgliedern von PERRAC vor<br />

dem US-Kongress über die Situation der Roma <strong>in</strong> Mittel- und<br />

Ost<strong>europa</strong>. 1999 Vortrag vor dem US-Kongress über die Roma aus<br />

dem Kosovo und weitere Vorträge vor dem Kongress. Mitglied der<br />

Fachgruppe Roma, Zigeuner und fahrendes Volk im Rahmen des<br />

Europarats (1995 gegründet); zweiter Vorsitzender und seit 2003<br />

erster Vorsitzender. 1996 wohnte er der Untersuchungskommission<br />

des Europarats bei, die sich mit der Situation der Roma <strong>in</strong> Bosnien<br />

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ROMA IN EUROPA<br />

und Herzegow<strong>in</strong>a beschäftigte. Als Mitarbeiter der Organisation<br />

erstellte er mehrere Berichte. Se<strong>in</strong> Aufsatz über ‘Human Right<br />

Problems Faced by Roma/Gypsies <strong>in</strong> Europe' wurde Grundlage<br />

e<strong>in</strong>es Memorandums, das von der M<strong>in</strong>isterkonferenz angenommen<br />

wurde; e<strong>in</strong> weiterer Aufsatz mit dem Titel ‘Strategic Elements of<br />

Education Policy For Roma Children <strong>in</strong> Europe’ wurde ebenfalls als<br />

Memorandum von der M<strong>in</strong>isterkonferenz angenommen. Beide<br />

bildeten die Grundlage für Empfehlungen, die später vom<br />

Europaausschuss aufgegriffen wurden. Mitarbeit an der Kosciuszko<br />

Foundation der Rutges University, New Brunswick, USA (1999-<br />

2001). Derzeit Lehrstuhl an der Pädagogischen Akademie <strong>in</strong><br />

Krakau. Zu se<strong>in</strong>en Veröffentlichungen gehören Odmiennosc i<br />

nietolerancja. Przypadek Cyganow (Difference and Intolerance. The<br />

Case of Gypsies, mit L. Mroz, 1994), The Roma <strong>in</strong> Twenty-First<br />

Century: A Policy Paper (mit N. Gheorghe, 1997), Romowie -<br />

proces ksztaltowania sie podmiotowosci politycznej" (The Roma -<br />

formation of political subjectivity, hrsg. Piotr Madajczyk, 1998).<br />

Autor zahlreicher Artikel <strong>in</strong> polnischer und englischer Sprache und<br />

mehrerer PER-Berichte; Roma and the Law: Demythologiz<strong>in</strong>g the<br />

Gypsy Crim<strong>in</strong>ality Stereotype, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2000; Roma<br />

and the Statistics, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2000; Leadership,<br />

Representation and the Status of the Roma, PER Bericht,<br />

Pr<strong>in</strong>ceton, 2001; Roma and the Question of Self-Determ<strong>in</strong>ation:<br />

Fiction and Reality, PER Bericht, Pr<strong>in</strong>ceton, 2002.<br />

Place of Residence: Cracow, Poland<br />

usmirga@cyf-kr.edu.pl<br />

Peter Thelen, geboren 1942 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. 1968 Abschluss des<br />

Studiums an der Universität zu Köln als Diplom-Volkswirt und<br />

Beg<strong>in</strong>n der Arbeit im Forschungs<strong>in</strong>stitut der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

Ab 1973 <strong>in</strong> verschiedenen Funktionen <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen Arbeit<br />

der Stiftung <strong>in</strong> Bonn tätig sowie als Leiter der Büros <strong>in</strong> Brüssel<br />

(1973 - 78), <strong>in</strong> Budapest (1990 - 2003) und <strong>in</strong> <strong>Skopje</strong> (2003 - 05).<br />

1994 beg<strong>in</strong>nt er die Arbeit mit Roma im Rahmen e<strong>in</strong>es immer noch<br />

laufenden Ausbildungsprojektes für Mitglieder der lokalen Roma-<br />

Selbstverwaltungen im Komitat Tolna <strong>in</strong> Südungarn. E<strong>in</strong> ähnliches<br />

Programm, <strong>in</strong> dem die Inhalte der Ausbildung von den<br />

teilnehmenden Roma bestimmt werden, startet er 2004 für junge<br />

Roma <strong>in</strong> Makedonien.<br />

Wohnort: Bonn, Deutschland, und Budapest, Ungarn<br />

p.thelen@gmx.net

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