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Am Abgrund - Die Chronik der Unsterblichen

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<strong>Am</strong> <strong>Abgrund</strong>Ein dünner Ast peitschte in sein Gesicht und hinterließeinen blutigen Kratzer auf seiner Wange. <strong>Die</strong> Wundewar nicht tief und würde so schnell heilen wie allean<strong>der</strong>en Verletzungen, die er sich im Laufe seinesLebens zugefügt hatte; er hatte so unglaublich gutesHeilfleisch, dass ihn selbst schwere Verwundungen nielange hatten beeinträchtigen können. Der Schmerz warsowieso ohne Bedeutung – nachdem er Raqi und seinegerade erst geborene Tochter auf grausame Artverloren hatte, gab es nichts mehr, was ihn wirklichberührte. Und doch riss ihn das dünne Blutrinnsal aufseiner Wange für einen Moment aus seinen düsterenGedanken. Andrej Delany sah auf, unterzog seineUmgebung einer flüchtigen Musterung – und zügelteüberrascht sein Pferd.Er war zu Hause.Er hatte geglaubt, ziellos durch das Land geritten zusein, seitdem er sofort nach <strong>der</strong> improvisiertenBeerdigung aufgebrochen war, aber dem war nicht so.Er war wie<strong>der</strong> am Ort seiner Geburt angekommen.Über den sanften Hügel, den sein Pferd hinaufgetrabtwar, war er als Kind zusammen mit seinen Freundengetobt. Er erkannte die verkrüppelte, mächtige Buche,<strong>der</strong>en Äste sich wie die vielfingrigen Hände einesfreundlichen Riesen in alle Richtungen reckten. Als Kindwar er mehr als einmal von ihrem Wipfel gefallen, ohnesich auch nur ein einziges Mal einen Knochen zubrechen o<strong>der</strong> sich an<strong>der</strong>weitig zu verletzen.Während er den gewaltigen Baum betrachtete, erschienihm das immer unglaublicher – bis ihm klar wurde,dass die Buche aus <strong>der</strong> Sichtweite eines Kindes vielriesiger und Furcht einflößend gewirkt hatte, gera<strong>der</strong>echt, um seinen Freunden seinen außergewöhnlichenWagemut zu beweisen. Der Gedanke ließ ihnerschauern. In wie viele verrückte und gefährlicheSituationen hatte er sich freiwillig begeben, nur um denan<strong>der</strong>en zu beweisen, dass er <strong>der</strong> Mutigste war? Undspäter hatte er dann oft daraus keinen Ausweggefunden – wie nach dem verhängnisvollenKirchenraub in Rotthurn, als er einem so genanntenFreund aus einer verzwickten Lage geholfen hatte,obwohl dieser eigentlich keine Hilfe verdient hatte. Mitgerade erst sechzehn Jahren war er so zumAusgestoßenen geworden, ein Verdammter, dessenLeben nun keinen normalen Verlauf mehr nehmenkonnte. <strong>Die</strong> Folgen dieser Entscheidungen hatten- 2 -

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