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Am Abgrund - Die Chronik der Unsterblichen

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Wolfgang Hohlbein<strong>Die</strong> <strong>Chronik</strong> <strong>der</strong> <strong>Unsterblichen</strong><strong>Am</strong> <strong>Abgrund</strong>Band 1 – Osteuropa im 15. Jahrhun<strong>der</strong>tOriginalausgabe HardcoverEgmont vgs, September 1999ISBN 978-3-8025-2608-4358 SeitenPreis: 20,50 EuroPaperbackEgmont vgs, September 2007ISBN 978-3-8025-8126-7351 SeitenPreis: 14,95 EuroTaschenbuchUllstein Taschenbuch,ISBN 978-3-5482-5165-3358 SeitenPreis: 8,95 EuroWie ein Blitz aus heiterem Himmel wird ein kleines Dorfim fernen Transsilvanien von den grausamenVollstreckern <strong>der</strong> Inquisition in Schutt und Aschegelegt. <strong>Die</strong> Überlebenden werden verschleppt; nur <strong>der</strong>junge Fre<strong>der</strong>ic entkommt dem brutalen Überfall.Als Fre<strong>der</strong>ic herausfindet, dass die heimtückische Tateinzig und allein dem Schwertkämpfer Andrej galt, istes schon fast zu spät. Aber Andrej spürt den jungenMann auf und nimmt ihn mit auf eine abenteuerlicheund gefährliche Reise quer durch Transsilvanien.Doch schon bald hegt Fre<strong>der</strong>ic einen furchtbarenVerdacht: Andrej, <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> fast unbeschadetdurchs Feuer gehen kann und die schwerstenVerletzungen mühelos übersteht, muss mit dem Teufelim Bunde sein! Dass Andrej zu den letzten<strong>Unsterblichen</strong> gehört, die für ihr ewiges Leben einenhohen Preis bezahlen, ahnt er nicht.<strong>Die</strong> komplette o<strong>der</strong> teilweise Verwendung des folgenden CopyrightgeschütztenTextes ist ausdrücklich untersagt. <strong>Die</strong> Leseprobedateien sind nur für denpersönlichen Gebrauch bestimmt.www.chronik-<strong>der</strong>-unsterblichen.de- 1 -


<strong>Am</strong> <strong>Abgrund</strong>Ein dünner Ast peitschte in sein Gesicht und hinterließeinen blutigen Kratzer auf seiner Wange. <strong>Die</strong> Wundewar nicht tief und würde so schnell heilen wie allean<strong>der</strong>en Verletzungen, die er sich im Laufe seinesLebens zugefügt hatte; er hatte so unglaublich gutesHeilfleisch, dass ihn selbst schwere Verwundungen nielange hatten beeinträchtigen können. Der Schmerz warsowieso ohne Bedeutung – nachdem er Raqi und seinegerade erst geborene Tochter auf grausame Artverloren hatte, gab es nichts mehr, was ihn wirklichberührte. Und doch riss ihn das dünne Blutrinnsal aufseiner Wange für einen Moment aus seinen düsterenGedanken. Andrej Delany sah auf, unterzog seineUmgebung einer flüchtigen Musterung – und zügelteüberrascht sein Pferd.Er war zu Hause.Er hatte geglaubt, ziellos durch das Land geritten zusein, seitdem er sofort nach <strong>der</strong> improvisiertenBeerdigung aufgebrochen war, aber dem war nicht so.Er war wie<strong>der</strong> am Ort seiner Geburt angekommen.Über den sanften Hügel, den sein Pferd hinaufgetrabtwar, war er als Kind zusammen mit seinen Freundengetobt. Er erkannte die verkrüppelte, mächtige Buche,<strong>der</strong>en Äste sich wie die vielfingrigen Hände einesfreundlichen Riesen in alle Richtungen reckten. Als Kindwar er mehr als einmal von ihrem Wipfel gefallen, ohnesich auch nur ein einziges Mal einen Knochen zubrechen o<strong>der</strong> sich an<strong>der</strong>weitig zu verletzen.Während er den gewaltigen Baum betrachtete, erschienihm das immer unglaublicher – bis ihm klar wurde,dass die Buche aus <strong>der</strong> Sichtweite eines Kindes vielriesiger und Furcht einflößend gewirkt hatte, gera<strong>der</strong>echt, um seinen Freunden seinen außergewöhnlichenWagemut zu beweisen. Der Gedanke ließ ihnerschauern. In wie viele verrückte und gefährlicheSituationen hatte er sich freiwillig begeben, nur um denan<strong>der</strong>en zu beweisen, dass er <strong>der</strong> Mutigste war? Undspäter hatte er dann oft daraus keinen Ausweggefunden – wie nach dem verhängnisvollenKirchenraub in Rotthurn, als er einem so genanntenFreund aus einer verzwickten Lage geholfen hatte,obwohl dieser eigentlich keine Hilfe verdient hatte. Mitgerade erst sechzehn Jahren war er so zumAusgestoßenen geworden, ein Verdammter, dessenLeben nun keinen normalen Verlauf mehr nehmenkonnte. <strong>Die</strong> Folgen dieser Entscheidungen hatten- 2 -


Wenn er zurückblickte, musste er gestehen, dass esfast so etwas wie <strong>der</strong> Anfang seines bewussten Lebensgewesen war, als sich Michail seiner angenommenhatte. Der einzige Wehrmutstropfen war, dass sieschon kurz nach Michails Rückkehr das Dorf fastfluchtartig hatten verlassen müssen: Seine Mutter,Michail und er selbst. Aus einem Grund, den er bisheute noch nicht ganz verstanden hatte, waren demWeltreisenden nicht nur Neid und Ablehnung entgegengeschlagen, son<strong>der</strong>n auch ein abgrundtiefer Hass, <strong>der</strong>sich schließlich in einer blutigen Gewalttat entladenhatte, bei dem Gott sei Dank allerdings nieman<strong>der</strong>nsthaft zu Schaden gekommen war. Noch in<strong>der</strong>selben Nacht hatten sie all ihre Habseligkeitenzusammengepackt und waren Hals über Kopf in dieBerge aufgebrochen, wo sie für die nächsten Jahreunter vielen Entbehrungen ein sehr einfaches Lebengeführt hatten. Er war <strong>der</strong> einzige gewesen, <strong>der</strong> nochrecht lange zu gelegentlichen Besuchen ins Dorfaufbrach und von einem Onkel o<strong>der</strong> einer Tanteheimlich etwas zugesteckt bekam – allen voran vonBarak, <strong>der</strong> nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dasser die Vertreibung von Andrejs Familie missbilligte.Aber es hatte auch noch einen an<strong>der</strong>en Anfanggegeben, später, nachdem er Michail und seine Mutterverlassen hatte, um in die Welt hinauszuziehen – undum mit seinen sechzehn Jahren dann doch nur bisRotthurn zu kommen und durch den Kirchenraub fürimmer und alle Zeiten gebrandmarkt zu werden.Einsam und verwirrt hatte er sich auf den Rückweg zudem einfachen Haus seiner Mutter gemacht. Auf demWeg dorthin, mitten in abgelegenem Berggebiet, warer auf Raqi gestoßen. Auch sie war auf <strong>der</strong> Fluchtgewesen. Zusammen hatten sie bei seiner Mutter undMichail Unterschlupf gefunden, bis einer nach deman<strong>der</strong>en von ihm gegangen war.Kurz, nachdem Raqi zu ihnen gestoßen war, hatte esangefangen. Zuerst waren es nur merkwürdigeGeräusche gewesen und Fußspuren, die sich in denkärglichen Boden eingegraben hatten, auf dem sie ihreHütte errichtet hatten. Später dann war es zuhinterhältigen Angriffen durch Unbekannte gekommen,denen sie nie hatten habhaft werden können.Inzwischen waren sie alle tot. Seine Mutter hatten sieerwischt, als sie ihren kleinen Kräutergarten gejätethatte. Bevor Michail und er, durch einen schrecklichenTumult angelockt, den hinter einen Hügel gelegenenKräutergarten erreicht hatten, war es schon zu spätgewesen. Mit mehreren groben Steinen und spitz- 4 -


zulaufenden Holzlatten war seine Mutter regelrecht zuTode geprügelt worden – die Mör<strong>der</strong> hatten sie nieausfindig machen können.Von den Folgen des Angriffs hatte sich seine Mutter nieerholt. Wenige Wochen danach war sie an ihrenVerletzungen elendiglich zugrunde gegangen. Nur zweiJahre später war Michail Nadasdy nach einemheimtückischen Attentat an den Folgen einesSchwerthiebs nach tagelangem Siechtum in seinenArmen regelrecht verblutet. Raqi war dagegen aufnatürliche aber nicht min<strong>der</strong> entsetzliche Weise imKindbett gestorben – und mit ihr seine Tochter, diekaum das Tageslicht erblickt hatte, bevor sie <strong>der</strong> Herrzu sich geholt hatte.Es hatte in dieser Zeit nicht einen Tag, nicht eineStunde gegeben, in <strong>der</strong> er nicht daran gedacht hätte,seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er hatte keineAngst vor dem Tod. Ganz im Gegenteil; <strong>der</strong> To<strong>der</strong>schien ihm wie ein sanfter alter Freund, <strong>der</strong> alleSorgen und alle Trauer von ihm nehmen würde. Dennwie er es auch drehte und wendete: Er hatte dieMenschen, die ihm auf <strong>der</strong> ganzen Welt am meistenbedeuteten, mit eigenen Händen beerdigt. Nur ihm wardie Gnade des Todes bisher nicht zuteil geworden.Was also hatte ihn hierher geführt? Ein Instinkt, wie ermanche Tiere dazu brachte, an den Ort ihrer Geburtzurückzukehren, um dort zu sterben? War er es Raqischuldig, ihr zu folgen und seinem Leben ein Ende zusetzen? O<strong>der</strong> vielleicht ein noch viel, viel älteres Gefühl– Einsamkeit?Andrej zögerte lange, bevor er sich endgültig zumWeiterreiten entschied. Er hatte nichts zu verlieren.Borsã, <strong>der</strong> Ort seiner Geburt, lag auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seitedes Hügels, unmittelbar am Ufer des Brasan, an dessenWassern sich die Bauernburg erhob. Konnte man sichdort noch an ihn erinnern, o<strong>der</strong> war es zu lange her,seit er, Michail Nadasdy und seine Mutter das Dorfverlassen hatten? Als er viele Jahre später Mariushierher gebracht hatte, war er kurz nach <strong>der</strong> Einbruch<strong>der</strong> Nacht angekommen und – um von niemanden alsAndrej Delany und damit als einer <strong>der</strong> angeblichenKirchenräuber von Rotthurn enttarnt zu werden – kurzvor Sonnenaufgang wie<strong>der</strong> aufgebrochen.Doch gerade weil das so war, hatte er auch nichts zuverlieren. Ihn beunruhigte mehr und mehr die Frage,warum er hierher gekommen war. War es wirklich nurein Instinkt eines Vaters und die Sorge um sein Kindgewesen, das Erbe seiner tierischen Vorfahren, wie- 5 -


Michail Nadasdy es immer genannt hatte, ohne dass erjemals wirklich verstand, was damit gemeint war.Möglicherweise irgendeine ... Ahnung? Delany wolltelächeln, doch es misslang ihm. Sprich niemals abfälligüber deine Ahnungen, wisperte Michail NadasdysStimme in seinem Kopf. Wer weiß, vielleicht sind dieseBotschaften ein Teil von uns, <strong>der</strong> Dinge sieht, die demRest verborgen bleiben ...Aber vielleicht war nichts davon <strong>der</strong> Grund, aus dem erhier war. Dennoch blieb es dabei: Es konnte nichtsschaden, wenn er die paar Meter weiter ritt und einenBlick auf das unter ihm liegende Borsã. Er schnalztemit <strong>der</strong> Zunge, um das Pferd zum Weitertraben zubewegen. Michail Nadasdy hatte ihn gelehrt, um wievieles besser ein Pferd gehorchte, wenn man es mitviel Liebe und Geduld dazu erzog, auf gesprocheneBefehle zu gehorchen, statt ihm mit <strong>der</strong> Peitsche denGehorsam einzuprügeln, und er hatte nicht langegebraucht, um zu begreifen, wie viel Weisheit indiesem Rat steckte – nicht nur in Bezug auf Pferde.Oben auf dem Hügel hielt er noch einmal an. DasBorsã-Tal lag unter ihm, wie er es erwartet hatte. Undzumindest aus dieser großen Entfernung herausbetrachtet schien es ihm fast, als sei die Zeit stehengeblieben.Nichts hatte sich verän<strong>der</strong>t. Der Wehrturm von Borsãragte düster und majestätisch aus den kristallklarenWassern des ruhiges Flussarms empor, ein uraltesMonument, dessen charakteristische Linien die Zeitglatt geschliffen, aber nicht gebrochen hatte. ImGegenlicht, im Schein <strong>der</strong> rötlich glühendenNachmittagssonne, wirkten seine Mauern fast schwarz.Andrej glaubte dennoch, die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>eVerän<strong>der</strong>ung zu erkennen: Hier und da war einSchaden ausgebessert, eine abgebrochene Zinne desWehrturmes erneuert, ein Dachstuhl <strong>der</strong> hölzernenNebengebäude verän<strong>der</strong>t worden. Nichts davon hattedie Bauernburg mit dem zentralen Turm jedoch wirklichverän<strong>der</strong>t. Der Wehrturm stand so unberührt undtrutzig da, wie er schon vor zweihun<strong>der</strong>t Jahren dagestanden hatte und wie er wohl auch noch nachweiteren zweihun<strong>der</strong>t Jahren dastehen würde.Der Turm würde den Türken wahrscheinlich nichtwichtig genug sein, um ihn irgendwann einmal zuschleifen, dachte Andrej spöttisch. Auch die hölzerneBrücke, die von dem Turm im Nebenarm des Flusses zudem kleinen Ort an seinem Ufer führte, stand noch wiein den Tagen seiner Kindheit – als wäre sie für dieEwigkeit gebaut. Dabei hatten sie schon in seiner- 6 -


Kindheit heimlich Wetten darauf abgeschlossen, wielange es noch dauern mochte, bis <strong>der</strong> nächste heftigeSturm sie endgültig davon blies.Er ritt weiter und ließ seinen Blick nun auch über Borsãschweifen. Im Gegensatz zur Bauernburg hatte sich <strong>der</strong>Ort stark verän<strong>der</strong>t. Er war nicht einmal viel größergeworden, aber die Gassen waren nun befestigt, undviele Häuser hatten richtige Dächer aus Holzschindeln,statt mit Stroh und Ästen gedeckt zu sein. Borsã waroffensichtlich zu bescheidenem Wohlstand gekommen.Was es verloren hatte, das waren seine Bewohner. Dasfiel Delany erst auf, als er den Weg vom Hügel hinabschon zu mehr als <strong>der</strong> Hälfte zurückgelegt hatte.Nirgendwo in den wenigen Gassen Borsãs rührte sichetwas. Aus keinem Kamin kräuselte sich Rauch. Selbstdie Pferdekoppeln, die er von hier aus sehen konnte,waren leer.Er ließ sein Pferd wie<strong>der</strong> anhalten. Sein Herz schlug einwenig schneller – nicht aus Furcht, son<strong>der</strong>n infolgeleichter Anspannung –, und er senkte die Hand auf dieWaffe an seiner Seite, um die grauen Stofffetzen zuentfernen, mit denen er den Griff umwickelt hatte,damit das exotische Sarazenenschwert nicht zu vieleneugierige Blicke auf sich zog o<strong>der</strong> gar dieAufmerksamkeit von <strong>Die</strong>ben erregte.Andrej glaubte eigentlich nicht wirklich, dass er dieWaffe brauchen würde. Borsã wirkte wie ausgestorben,aber über dem Ort lag nicht <strong>der</strong> Geruch von Tod undVerwesung. <strong>Am</strong> Himmel kreisten keine Aasvögel, un<strong>der</strong> konnte zumindest aus <strong>der</strong> Entfernung keine Spureneines Kampfes erkennen.Es musste eine an<strong>der</strong>e Erklärung für diesevollkommene Abwesenheit von Leben dort untengeben. Alle Dorfbewohner mochten auf den Fel<strong>der</strong>nsein, im Wald, um Holz zu schlagen, o<strong>der</strong> zum Fischenan den großen Weihern, die hinter den Hügeln lagenund seinen Blicken somit entzogen waren. Vielleichthatten sie sich auch in <strong>der</strong> Bauernburg versammelt, umdort alle zusammen ein Fest zu feiern.Und dazu hatten sie alle ihre Hunde und Katzen,Schweine und Ziegen, Pferde und Kühe mitgenommen?Wohl kaum. Es musste einen an<strong>der</strong>en Grund dafürgeben, dass alles Leben aus Borsã geflohen zu seinschien.Delany hörte auf, sich den Kopf über etwas zuzerbrechen, worauf er sowieso keine Antwort findenwürde, und ließ das Pferd ein wenig schneller traben.<strong>Am</strong> Fuße des Hügels schwenkte er nach links und ritt –- 7 -


mit schlechtem Gewissen – ein kurzes Stück über einenfrisch umgepflügten Acker, bis er den fest gestampftenTeil <strong>der</strong> Straße erreichte, <strong>der</strong> gut zwanzig Meter vor <strong>der</strong>eigentlichen Ortschaft begann.Er wurde wie<strong>der</strong> langsamer. <strong>Die</strong> Stille schlug ihm wieeine Wand entgegen, und mit jedem Schritt, den erdem Ort näher kam, schien sich ein immer stärkerwerden<strong>der</strong>, ersticken<strong>der</strong> Druck auf seine Seele zulegen.Es war die Last <strong>der</strong> Erinnerung, die er spürte. <strong>Die</strong>s war<strong>der</strong> Ort seiner Kindheit, <strong>der</strong> Platz, an dem eraufgewachsen war, wo er gehen und reiten gelernthatte, wo er Freundschaften geschlossen hatte – aberes war zugleich auch <strong>der</strong> Ort einer verletzendenSchmach und tiefen Enttäuschung. Nachdem er mitnoch sehr jungen Jahren in Zusammenhang mit demKirchenraub ins Gerede gekommen war – an dem erselbst tatsächlich nicht teilgenommen hatte –, war ernoch einmal ins Dorf gekommen. Er hatte nicht geahnt,dass man ihn mittlerweile in ganz Transsylvaniengesucht hatte, dass die Pfaffen nichts Besseres zu tungehabt hatten, als ihn landauf, landab alsKirchenschän<strong>der</strong> und frechen <strong>Die</strong>b zu diffamieren.<strong>Die</strong> Dorfbewohner hatten ihn nicht gerade freundlichempfangen. Mit Schimpf und Schande hatten sie ihndie Dorfstraße heruntergejagt, hinein in einen gleißendheißen Tag, dessen Helligkeit mit unglaublicherBrutalität in seine äußerst lichtempfindlich Augenstach. Sie hatten mit Steinen und Kot nach ihmgeworfen, ihn einen Ketzer und Teufelsanbetergenannt. Er hatte damals nicht gewusst, was mit ihmgeschah – und eigentlich wusste er es ja auch heutenoch nicht! –, er hatte einfach nur Angst gehabt. Erhatte geweint, geschrieen, seine Freunde angebettelt,doch endlich auf ihn zu hören, Freunde, die plötzlich zuFeinden geworden waren, weil sie glaubten, dass er einGotteshaus geschändet hatte. Heute verstand er sie. Erhegte keinen Groll mehr gegen sie. Aber das lin<strong>der</strong>tenicht den Schmerz, den die Erinnerung mit sichbrachte.Er dachte an seinen Großonkel Barak, und einflüchtiges, warmes Gefühl breitete sich in seinemInneren aus. Barak war vielleicht <strong>der</strong> einzige gewesen,<strong>der</strong> damals zu ihm gehalten hatte; möglicherweisenicht einmal aus Freundschaft o<strong>der</strong> auch nur ausSympathie, son<strong>der</strong>n aus ererbter Loyalität seinem Dorfgegenüber. Aber ganz gleich, warum – Barak hatte eres jedenfalls zu verdanken, dass er damals nicht auf<strong>der</strong> Stelle gesteinigt, son<strong>der</strong>n nur aus Borsã gejagt- 8 -


worden war. Er bedauerte, ihn seither nicht wenigstensnoch ein einziges Mal wie<strong>der</strong> gesehen zu haben.Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Etwas hattegeklappert – vielleicht nur <strong>der</strong> Wind, <strong>der</strong> mit einerlosen Dachschindel o<strong>der</strong> einem Fensterladen spielte.Bestimmt nur <strong>der</strong> Wind. Trotzdem beschloss Delany,dem Geräusch nachzugehen.Es wie<strong>der</strong>holte sich nicht, aber er hatte sich dieRichtung gemerkt, aus <strong>der</strong> es gekommen war. Wieerwartet fand er nichts außer einem lockerenFensterladen, <strong>der</strong> sich knarrend im Wind bewegte undgelegentlich gegen den Rahmen schlug.Da er nun schon einmal hier war, konnte er das Hausauch genauer in Augenschein nehmen. Er stieg ausdem Sattel, schob die Tür vorsichtig mit <strong>der</strong> linkenHand auf und trat ein, die Rechte auf dem Griff deskostbaren Sarazenenschwertes, den einzig wertvollenBesitz, den sein Stiefvater von seinen abenteuerlichenReisen mit nach Hause gebracht hatte.Einen Moment lang glaubte er ein rasches Huschen inden Schatten vor sich wahrzunehmen; einerschrockenes Seufzen, das Tappen fe<strong>der</strong>leichter,eilen<strong>der</strong> Schritte. Und er glaubte, etwas zu spüren –die Anwesenheit eines o<strong>der</strong> mehrerer Menschen, dieihn heimlich und misstrauisch beäugten.Delany blieb stehen, zog das Sarazenenschwert zweiFinger weit aus <strong>der</strong> Scheide und versuchte, dieDämmerung vor sich mit Blicken zu durchdringen.Gleichzeitig lauschte er konzentriert.<strong>Die</strong> Schatten blieben Schatten, und er hörte auchnichts mehr. An diesem mit Erinnerungen überladenenOrt durfte er seinen Sinnen nicht trauen – vielleichtgaukelte ihm sein Gedächtnis etwas vor, was nicht dawar.Er durchsuchte das Haus, schnell, aber gründlich. DerEindruck, den er schon von weitem gehabt hatte,bestätigte sich: <strong>Die</strong> Bewohner dieses Hauses warenkeine armen Leute und es mussten an<strong>der</strong>e sein als die,die er hier als Hausbewohner in Erinnerung hatte. In<strong>der</strong> Truhe <strong>der</strong> Hausfrau gab es zwei Klei<strong>der</strong> – wasbedeutete, dass sie drei besaß, wenn sie nicht nacktauf die Straße gegangen war. Und ihr Mann, <strong>der</strong> wohldas Tischlerhandwerk ausgeübt haben mochte,verfügte über eine wohl sortierte Werkstatt. Wenn erdie Möbel, mit denen das Haus ausgestattet war, selbstgebaut hatte, dann war er in seinem Beruf ein Meistergewesen.- 9 -


Delany schüttelte ärgerlich den Kopf, als ihm klarwurde, dass er mehr und mehr in <strong>der</strong>Vergangenheitsform von diesen Leuten zu denkenbegann. Noch hatte er keinen Beweis dafür, dass sietot waren, ja, dass ihnen überhaupt etwas zugestoßenwar.Er verließ das Haus, untersuchte auch noch dasbenachbarte und stieg schließlich wie<strong>der</strong> in den Sattel.Es hatte keinen Sinn, Stunden damit zuzubringen, dasganze Dorf zu durchkämmen; er würde zu keineran<strong>der</strong>en Erkenntnis gelangen als zu <strong>der</strong>, die er schonbesaß: Es war niemand da. <strong>Die</strong> einzige Spur vonLeben, auf die er gestoßen war, war eine halbverhungerte Katze gewesen, die ihn aus den Schattenheraus angemaunzt hatte, vielleicht in <strong>der</strong> irrigenHoffnung, einen Leckerbissen von ihm zu ergattern.Er musste in die Bauernburg, um sich dort nachMöglichkeit Klarheit über den Verbleib <strong>der</strong>Dorfbewohner zu verschaffen.Sein Pferd in Richtung <strong>der</strong> Holzbrücke zu lenken, die zu<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Felsinsel gelegenen Bauernburg inmittendes ruhigen Flussarms hinüberführte, verlangte ihmnoch mehr Überwindung ab, als es ihn gekostet hatte,in den Ort zu reiten. Er hatte regelrecht Angst davor,auch hier niemanden zu finden. An<strong>der</strong>erseits – wennsich die Dorfbewohner vor irgendeiner Gefahr hatten inSicherheit bringen wollen, dann ganz gewiss hier. Erhoffte, seinen Sohn Marius im Kreise seinerVerwandten wohlbehütet vorzufinden, aber irgendetwas in ihm fürchtete sich davor, dass diese Hoffnungin jähes Entsetzen umschlagen könnte, wenn er weiterritt und auf eine grausige Wahrheit stieß, die vielleichtbesser unentdeckt blieb.Delany sah an sich herab. Er war auf die landesüblicheArt gekleidet: Sandalen und Kniestrümpfe, einUntergewand und darüber eine Tunika aus Leinenstoffmit Schlüsselloch-Ausschnitt, <strong>der</strong> von einer einfachenFibel zusammengehalten wurde und ein einfachesHaarband, das seine wilde Mähne bändigte. <strong>Die</strong>Schärpe, die er trug, hatte er vor vielen Jahren aufeinem Markt erstanden – Raqi hatte viele Talentegehabt, aber das Schnei<strong>der</strong>n hatte nicht dazu gehört –und verdeckte ganz bewusst den Waffengurt, den erzusammen mit dem Schwert von Michail geerbt hatte.Nein, er war nicht auffällig gekleidet und konnte beieinigem guten Willen als <strong>der</strong> Bewohner eines <strong>der</strong> etwasweiter entfernten Nachbardörfer durchgehen. Zudemhatte er sich in den letzten Jahren so stark verän<strong>der</strong>t,dass ihn selbst <strong>der</strong> alte Barak wohl nicht mehr- 10 -


erkannte hätte: auch dann nicht, wenn er ihm direktgegenüber gestanden hätte.Das war ihm wichtig, denn es war ihm durchaus klar,dass er auch nach all den Jahren hier immer noch nichtwillkommen geheißen werden würde, wenn man ihnerkannte. Er galt nach wie vor als Kirchenschän<strong>der</strong> und<strong>Die</strong>b und musste sich vorsehen, dass er nichtunversehens zur Zielscheibe einer Hetzjagd wurde, bei<strong>der</strong> er durchaus zu Tode kommen konnte: <strong>Die</strong>Menschen in Transsylvanien waren nicht gerade alszimperlich bekannt, wenn es darum ging, Ketzern o<strong>der</strong>vermeintlichen Langfingern den Garaus zu machen.Und in ihren Augen war er eine Mischung aus beidem.Der AutorWolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist <strong>der</strong> meistgeleseneund erfolgreichste deutschsprachige Autor mit einer Gesamtauflagevon 35 Millionen Büchern. Der Durchbruch gelang dem Großmeister<strong>der</strong> Phantastik 1982 mit MÄRCHENMOND, das seinen Siegeszug inzahlreichen Ausgaben von den USA bis in den Fernen Osten bis heuteungebrochen fortsetzt. 1993 stand sein phantastischer ThrillerDRUIDENTOR für ein volles Jahr auf <strong>der</strong> Spiegel Bestsellerliste, gefolgtvon vielen an<strong>der</strong>en Titeln wie ANUBIS (2005), dem PAULUSEVANGELIUM (2006) und UNHEIL (2007).<strong>Die</strong> neue deutsche Phantastik ist ohne Wolfgang Hohlbein undenkbar.In über 150 immer wie<strong>der</strong> neu aufgelegten Bestsellern hat er demGenre den Weg geebnet. Ob märchenhafte o<strong>der</strong> düstere Fantasy, obMystery-Thriller o<strong>der</strong> Vampir-Roman: In je<strong>der</strong> dieser Spielartenphantastischer Literatur gelangen ihm preisgekrönte Meisterwerke.Neben seinen Einzelwerken hat sich Wolfgang Hohlbein beson<strong>der</strong>s mitseinen Dark Fantasy Reihen hervorgetan. Seine drei Buchreihen DERHEXER, ENWOR und DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN gelten als diedrei erfolgreichsten ihrer Art in deutscher Sprache.Der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt Hohlbeins ist seine Familie. Derpassionierte Motorradfan und Zinnfigurensammler lebt mit seiner Frauund Co-Autorin Heike, seinen Kin<strong>der</strong>n und zahlreichen Hunden undKatzen am Nie<strong>der</strong>rhein.www.chronik-<strong>der</strong>-unsterblichen.de- 11 -

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