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Lara Schwander & Melanie Fischer Fadera - Boycotlettes

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<strong>Lara</strong> <strong>Schwander</strong> & <strong>Melanie</strong> <strong>Fischer</strong> <strong>Fadera</strong>


Auszug aus Katalog zur Ausstellung „Maja Rieder & <strong>Boycotlettes</strong>“<br />

Eva Inversini<br />

Direktorin und Kuratorin Kunstkaus Grenchen<br />

„... <strong>Boycotlettes</strong> gehen teilweise von eigenen fotografischen Bildvorlagen aus, die sie modifizieren und in andere<br />

Medien übersetzen. Dabei gehen die Künstlerinnen während des Bildfindungsprozesses mit absoluter Präzision, klar<br />

vordefinierten Elementen sowie in geplanten Aktionen vor, ebenso wie mit Intuition und Spontaneität, was Raum<br />

für Zufälliges schafft, ja dies teilweise sogar bewusst provoziert. Bocotlettes reagieren auf vorgefundene räumliche<br />

Situationen und kreieren einige ihrer Arbeiten raumgreifend und zugeschnitten auf den jeweiligen Ort.<br />

<strong>Melanie</strong> <strong>Fischer</strong> <strong>Fadera</strong> (*1976 in Solothurn) und <strong>Lara</strong> <strong>Schwander</strong> (*1976 in Brugg) nennen sich <strong>Boycotlettes</strong>. Die<br />

Zusammenarbeit der beiden Künstlerinnen besteht seit 1999. Ihre gemeinsame Tätigkeit umfasst den Bereich der<br />

bildenden Kunst sowie der angewandten Kunst, wenn sie als Designerinnen mit eigenem Mode-Label auftreten.<br />

Gleich wie ihr wohlklingender und für so manche Interpretation verlockend offener Name muten ihre Wandkompositionen,<br />

Siebdrucke und Objekte an: attraktiv, weil farbig, ästhetisch, vieldeutig und für jede und jeden mit bekannten<br />

Elementen durchsetzt.<br />

Die Bilderflut ist als Ganzes kaum fassbar, wohin der Blick auch schweift, immer wieder lassen sich neue Details und<br />

neue Bezüge zwischen den einzelnen Teilen des Bildes entdecken. Die Künstlerinnen entwerfen eigene Bildwelten,<br />

die sich aus einem über die Jahre angelegten Bildarchiv speisen. Die einzelnen Elemente dieses Archivs stammen<br />

aus ganz unterschiedlichen Quellen, mal sind sie im Internet gefunden und verändert, mal selbst entworfen und gezeichnet,<br />

mal fotografiert. Motive, die <strong>Boycotlettes</strong> als Muster für Textildesigns entwerfen und verwenden, gelangen<br />

über das Fotografieren der Models, welche die daraus hergestellten Kleidungsstücke tragen, sowie das Verwenden<br />

dieser Modefotografien als Bildvorlagen wieder zurück in die Wandbilder und umgekehrt. Verwendungszwecke und<br />

Entwicklungsstadien der Sujets multiplizieren und überlagern sich so fortlaufend. Die Bildsprache erinnert an Graffitis<br />

und Street Art, gemischt mit den sehr traditionellen Verfahren des Scherenschnitts und der Wandmalerei – wenn<br />

auch in einer modernen und abgewandelten Form.<br />

Wandkompositionen wie „von Früchten und Viechern“ (2010) folgen keinen logischen Gesetzen, erzählen keine<br />

fortlaufenden Geschichten mit Anfang und Ende, dennoch sind sie vielsagend, aussagekräftig, zusammenhängend.<br />

Sie setzen Assoziationen und Emotionen frei, bleiben aber letztlich doch rätselhaft. Um eine horizontale Bildachse<br />

aufgebaut, fügen sich geometrische monochrome oder mit Motiven bedruckte Farbflächen und verschiedenste,<br />

sich partiell wiederholende Motive zu einem neuen, vernetzten Bildganzen. Das Grundmaterial für diese Collagen<br />

sind Folien, die in verschiedene Formen geschnitten und auf die Wand appliziert werden. Die Sujets stammen aus<br />

Flora (Kakteen, Orangen, Blumen, Kirschen,...) und Fauna (Frösche, Eulen, Ratten, Pferde, Affen, Insekten,...), aus<br />

der Alltagswelt (Anker, Schlüssel, Besteck,...) oder sind surreal wirkende Kombinationen wie etwa Brillengläser mit<br />

sehenden Augen oder ein menschliches Wesen mit überdimensioniertem Kopf auf zu kleinem Körper. Was auf den<br />

ersten Blick harmlos, witzig, leicht und farbenfroh daherkommt, birgt latent lauernd auch das Gegenteil: Abgründiges,<br />

Bedrohliches und Düsteres irritiert die vermeintlich heile Blümchenwelt.<br />

Die für den Druck der Folien und Stoffe verwendeten Siebe werden nach Gebrauch nicht einfach ausgewaschen –<br />

zuvor finden sie in den sogenannten „waste papers“ (2006–09, „Abfallpapiere“) eine weitere Verwendung. Die übrig<br />

gebliebene Farbe wird von den Sieben auf Papier und Karton ausgestrichen, die Motive verschmelzen erneut zu<br />

kleinen Kosmen – Druckgrafik entsteht.<br />

Auch Dreidimensionales ist den <strong>Boycotlettes</strong> nicht fremd: So erstreckt sich auf dem Boden ein Objekt aus Telefonkarten<br />

fremder Länder, mit Draht zusammen geflochten – ähnlich der Form einer Pflanzenkapsel oder Kalebasse, in<br />

der Farbigkeit gleich einem Stoff des italienischen Designlabels Missoni. Oder feine Kettchen verbinden als Leitungen<br />

auf die Wand applizierte Strom- und Telefonmasten und lassen die Collage in der Schwebe zwischen Relief und<br />

Zeichnung. Als reales Element in der Welt der Abbildung verweisen sie auf die klassische Frage nach der Realität<br />

und deren Repräsentation.<br />

Der aktive Einbezug der Besucherinnen und Besucher zeigt eine weitere Facette im grenzüberschreitenden Schaffen<br />

der Künstlerinnen, wenn zuvorderst an der Glasfront des Kunsthauses unter Mithilfe aller ein neues Biotop, ein Teich<br />

eigens für und in Grenchen entsteht, dessen Froschkönig auf einem überdimensionierten Laichballen thront, als ob<br />

er darauf wartete, geküsst zu werden. Mit grün blitzendem Blick fordert er Besucher und Passanten auf, in die Welt<br />

jenseits der grünlich spiegelnden vermeintlichen Wasseroberfläche einzutauchen. .....“<br />

(1)


„Ohne Titel“<br />

Kunstkaus Grenchen<br />

(2)


„Based on a true“<br />

Kunstkaus Grenchen<br />

(3)


„one million minutes“<br />

Kunstkaus Grenchen, blackboxx Basel, Kunsthaus Baselland<br />

(4)


„Von Früchten und Viechern“<br />

Kunstkaus Grenchen<br />

(5)


„waste papers“<br />

Kunstkaus Grenchen<br />

(6)


„temple of nonsense boys“<br />

Künstlerhaus S11<br />

(7)


„nice to be nike“<br />

Kunstraum Riehen<br />

(8)


„le bon Dieu a fait ça“<br />

Projektraum M54 Basel<br />

(9)


„BIG MAC - BIG DICK“<br />

Kunsthaus Palazzo Liestal<br />

(10)


„draussen zuhause“<br />

Rheinpromenade Unteres Kleinbasel & Nt Areal<br />

(11)


Auszug aus Katalog zur Ausstellung „Maja Rieder & <strong>Boycotlettes</strong>“<br />

Sabine Schaschl<br />

Direktorin und Kuratorin Kunstkaus Baselland<br />

(A) (B)<br />

Von Früchten und Viechern, Mode und Grenzüberschreitungen – boys4ever!<br />

Meine erste Begegnung mit <strong>Boycotlettes</strong> geht auf das Jahr 2002 zurück, als die zwei Künstlerinnen <strong>Melanie</strong> <strong>Fischer</strong><br />

<strong>Fadera</strong> und <strong>Lara</strong> <strong>Schwander</strong> die grossen Fensterscheiben des Kunsthaus Baselland mit Klebebildern von Menschen<br />

in lässig urbaner Freizeitkleidung überzogen, ergänzt von diversen ornamentalen Elementen und Versatzstücken.<br />

Eine der Szenerien zeigte eine Frau, die sich neben einer Kleiderstange ein Oberteil überzieht – ein Oberteil entworfen<br />

von <strong>Boycotlettes</strong> (Abb. A: „autocollante 02“, 2002, Kunsthaus Baselland). Dieses Bild kann als programmatisch<br />

und selbstreferentiell für das kunstbestimmende Handeln des Künstlerinnenduos gelesen werden. <strong>Boycotlettes</strong>, die<br />

seit dem Jahre 1999 als Mode-Designerinnen und Künstlerinnen zusammenarbeiten, überschreiten aus Überzeugung<br />

kunstdisziplinäre Grenzen und lassen immer wieder auch die visuelle Allmacht westeuropäischer Prägung<br />

hinter sich.<br />

Ihre Bildassemblagen an Wänden oder Fensterscheiben können den auf Fotografien basierenden Bildern von<br />

realen Personen oder Motiven aus ihrem mittlerweile stark angewachsenen Bildarchiv entspringen. Viele der meist<br />

auf Klebefolien übersetzten Porträts sind wiedererkennbar: Künstlerkollegen, Freunde und Modeliebhaber werden<br />

sowohl zu Models der Designerkleidung, aber auch zu Modellen einer eigenständig zusammengesetzten Phantasiewelt.<br />

Die Realität stand dafür wortwörtlich Pate und Versatzstücke des Realen, beispielsweise Motive aus ihrer<br />

unmittelbaren jeweiligen Lebensumgebung, werden in die Bildwelten integriert. Ergänzt mit graphischen, ornamentalen,<br />

floralen, architektonischen und schriftlichen Elementen, bauen <strong>Boycotlettes</strong> Szenerien zusammen, die meist<br />

verzweigt angeordnet, nach allen Richtungen les- und interpretierbar sind. „Von Früchten und Viechern“ (2010), so<br />

der Titel einer Wandarbeit im Kunsthaus Grenchen, funktioniert wie eine Art Bauklötzchen-System, bei welchem<br />

von der Raumecke ausgehend, nach beiden Seiten hin, hauptsächlich in absteigender Richtung, einzelne Bildebenen<br />

kreiert werden. An das Motiv eines Walkmans mit daraus aufsteigenden Zacken reihen sich Siebdrucke eines<br />

pelzartigen Materials, in welche Bogen eingeschrieben sind, gefolgt von Klebebildern von Pferden, die auf den<br />

Betrachter zuzulaufen scheinen und Spinnen, die über die Pferde nach oben verlaufen. Eine Ebene darunter stösst<br />

eine Faust, umspannt von einer Uhr mit Metallarmband, frontal in Richtung Betrachter. Dieses, einem Buch über<br />

französische Vignetten entnommene Motiv, kommt immer wieder vor, ebenso wie Schlüssel und florale Elemente,<br />

die linearen Gestaltungsprinzipien folgen; comicartigen Sternformen, die über einzelne Wandzonen gestreut werden<br />

oder einzelnen Bilder, beispielsweise eine Frau auf einem dreirädrigen Motorrad. Vor Beginn der Arbeit scheinen <strong>Boycotlettes</strong><br />

ein visuelles Alphabet bereitzulegen, welches je nach formalen Überlegungen, Intuition und gestalterischen<br />

Prinzipien repetitiv zum Einsatz kommt. Eine Eruption von Eislutschern formiert sich zu einer Art Regenbogen, der<br />

die Assemblage auf der einen Wandseite nach oben abschliesst, im Gleichgewicht gehalten von gezackten Blumenblüten<br />

auf der gegenüberliegenden Wand. Mäuse und Ratten ergänzen das tierische Motivrepertoire ebenso wie<br />

eine hochsitzende Eule, eine Kuh, das Gesicht eines Affen und Bilder von gotischen Fabelwesen, deren ursprüngliche<br />

Aufgabe darin bestand, mit ihrem abschreckenden Antlitz die Nichtgläubigen am Betreten eines Gotteshauses<br />

zu hindern. Auf einer Seite wird das Wandbild von einem orangefarbigen Früchtearrangement abgeschlossen; die<br />

andere zeigt eine Reihe lässig und cool gekleideter Menschen und ein gedrucktes Konterfei von Sylvester Stallone.<br />

Die Arbeitsweise und der Stil von <strong>Boycotlettes</strong>, wenn man diesen Ausdruck benutzen will, sind durch die Geste des<br />

Zusammenfügens gekennzeichnet, bei welcher jedes Mal eine werkspezifische „Phrasierung“ entsteht. Die Motive<br />

entstammen den unterschiedlichsten inhaltlichen Bereichen, die sich trotz ihrer oft surreal anmutenden Zusammenstellung<br />

existentiell behaupten. „Von Früchten und Viechern“ (2010) ist eine dynamische, stark auf den Rezipienten<br />

bezogene Wandarbeit. Nicht nur die treppenförmige Anordnung, die dem Betrachter quasi entgegenkommt spricht<br />

dafür, sondern auch einzelne Motive, die in den Raum hineinzuragen scheinen. Einmal in den Bann der Arbeit<br />

gezogen, vollzieht man als Rezipient bald selbst eigene geistige Bildergänzungen. Konsequenterweise haben <strong>Boycotlettes</strong><br />

diesen Entwicklungsschritt in ihrem Werk in Form einer interaktiven Arbeit aufgegriffen. Die Arbeit „Ohne<br />

Titel“ (2010) auf den Fenstern im Eingangsbereich des Kunsthaus Grenchen bietet dem Betrachter die Möglichkeit,<br />

selbst aktiv zu werden. Das Ausgangsbild von zwei Fröschen und ihrem Laich kann von den Ausstellungsbesuchern<br />

komplementiert werden. Aus Klebefolien ausgeschnittene Frösche und Kaulquappen liegen zum Mitmachen auf, und<br />

es bleibt dem Rezipienten überlassen, ob er diese lieber mit nach Hause nimmt, damit das Werk von <strong>Boycotlettes</strong><br />

vor Ort erweitert oder das Folienbild vielleicht irgendwo im öffentlichen Raum platziert.<br />

Auf den wichtigen Bezug zum öffentlichen Raum im Werk von <strong>Boycotlettes</strong> ist immer wieder hingewiesen worden.<br />

Bedenkt man, dass ihre Motive teilweise diesem entspringen und sie Momente des Strassenalltags in den Kunstkontext<br />

integrieren, kann man von einer Verschränkung von Kunst- und öffentlichem Raum sprechen. Die Künstlerinnen<br />

tragen jedoch nicht nur ein Stück ‚Street Culture’ in den Kunstkontext, sondern agieren auch im urbanen<br />

Raum selbst. Ihre Bildzusammenfügungen sind beispielsweise auf Hausmauern, Türen, Bushaltestellen, Plakatwänden<br />

oder in Bars, Toiletten und Treppenhäusern anzutreffen (Abb. B: „sisters from different mothers“, 2004, Galerie<br />

piano nobile, Genf). Streift man durch ihre Wohngegend in Basel oder durch lokale Kunstinstitutionen können auch<br />

noch Jahre nach deren ursprünglichen Anbringung <strong>Boycotlettes</strong>’sche Figuren, Muster und Bildmotive entdeckt<br />

werden. Vergleichbar mit Graffiti- und Tag-Arbeiten haben sie sich einen Platz jenseits der strikten Legalität erobert<br />

und fordern gleichsam das Recht auf ihre Existenz im öffentlichen Raum ein. Ihre Arbeiten verfügen über eine so<br />

genannte ‚Street-Credibility’. Sie sind mit der und durch die Strasse und dem Alltagsleben entstanden, glaubwürdig<br />

geworden als Teil des künstlerischen Ausdrucks von <strong>Boycotlettes</strong>. Auch die Arbeit „based on a true story“ (2010), die<br />

eine Reihe Strommasten aus Klebefolien, verbunden mit dünnen Kettchen zeigt, bringt die Strasse wortwörtlich in<br />

den Ausstellungsraum. Der Anfahrtsweg nach Grenchen, vorbei durch das im Nebel liegende Solothurn, wo nur die<br />

Strommasten sichtbar waren, findet einen unmittelbaren Wiederhall. Dass durch die leichte Krümmung der Ausstellungswand<br />

die verbindenden Kettchen stellenweise tatsächlich in den Raum ragen, gibt der Arbeit eine zusätzliche<br />

raumbezogene Note. Die Realität des Materials spricht den Rezipienten unmittelbar an und bezieht ihn in das Bild<br />

und dessen Atmosphäre ein.<br />

Die zuvor erwähnte ‚Street-Credibility’ findet sich auch in der Mode von <strong>Boycotlettes</strong>. Geprägt von einer unkomplizierten,<br />

aktiven und selbstbewussten Haltung können ihre Hoodies, Shirts, Röcke und Kleider mit einer aktuellen<br />

Jugendkultur in Verbindung gebracht werden, mitsamt ihren Anleihen an die Hip-Hop-Musik, die Graffiti- und<br />

Tag-Kultur. Wie sehr sich im Werk von <strong>Boycotlettes</strong> Fremdes mit Eigenem, Gefundenes mit Gestaltetem, Aussen mit<br />

Innen und Reales mit Fiktivem mischt, bezeugen nicht zuletzt die für ihre Mode verwendeten Stoffe. Ihr Hauptaugenmerk<br />

gilt den „gefundenen“ Stoffdesigns aus Westafrika, ein Land, das die <strong>Boycotlettes</strong> immer wieder bereisen.<br />

Die bunten, wild gemusterten, so genannten Wax-Stoffe gelten im westlichen Kulturkreis als Inbegriff des Afrikanischen.<br />

Ursprünglich kommen sie jedoch aus den Niederlanden. Im 19. Jahrhundert versuchten niederländische<br />

Tuchhändler, Stoffe in der Art indonesischer Batik-Herstellung in der damaligen niederländischen Kolonie Indonesien<br />

zu vertreiben. Nachdem im Kolonialland kein Interesse dafür aufkam, verbreiteten sich die Stoffe über westafrikanische<br />

Soldaten, die nach Indonesien beordert wurden, um die Aufstände in der Kolonie niederzuschlagen. Jene<br />

brachten die Stoffe von Indonesien auf den afrikanischen Kontinent, wo sie schnell zum Demonstrationsmittel eines<br />

neuen afrikanischen Selbstbewusstseins mutierten. Noch heute werden die Stoffe hauptsächlich in den Nieder-


landen produziert, wobei die Muster sowohl für politische und religiöse Statements als auch für eine Huldigung an<br />

den westlichen Konsum eingesetzt werden. Die heutigen Wax-Stoffe zeigen beispielsweise Motive wie Lippenstifte,<br />

Handys, Computer, Zahnbürsten oder Rollschuhe (Abb. C: Lippen- und Taschenlampenwax aus Bamako/Mali, 2004).<br />

Ebenso finden Porträts von Präsidenten und religiöse Motive Eingang in das Stoff-Design. Die komplexe Geschichte<br />

der Wax-Stoffe, die ein Stück Kolonialgeschichte widerspiegelt, ist im gegenwärtigen Kunstgeschehen immer wieder<br />

thematisiert worden. Als berühmtes Beispiel gilt der in London geborene und in Nigeria aufgewachsene Künstler<br />

Yinka Shonibare, der mit Installationen, in denen er beispielsweise viktorianische Möbel mit Wax-Stoffen überzieht,<br />

Fragen zum Verhältnis zwischen Kolonialisten und Kolonialisierten thematisiert. Wenn nun <strong>Boycotlettes</strong> solche Stoffe<br />

für ihr europäisches, mit ‚Street-Credibility’ ausgezeichnetes Modedesign verarbeiten, greifen sie auf visuell stark<br />

konnotierte Motive zurück. Sie sind sich der mit den Stoffmustern einhergehenden Fragen nach kultureller Identität<br />

und Authentizität bewusst und konfrontieren diese sozusagen mit Fragen und Sehnsüchten der Strassenkultur,<br />

welche nicht zuletzt ihrerseits von der Suche nach Identität und Authentizität geprägt ist.<br />

<strong>Boycotlettes</strong> setzen die Stoffe aber nicht nur für ihr Modedesign ein, sondern entwerfen in Anlehnung daran neue<br />

Eigenkreationen, die wiederum in ihrer bildenden Kunst Eingang finden. Die Serie der so genannten „waste papers“<br />

(2006–2009) entstand aus einer Reihe von übereinander gelegten Siebdrucken unterschiedlichster Muster. Ähnlich<br />

wie die Künstlerinnen Wandarbeiten aus Klebefolien und Sieb,- Raster- oder Foliendruck-Bilder collagieren, wird<br />

das Collage-Prinzip auf ein einzelnes Blatt Papier oder Karton angewendet. Ursprünglich aus der Idee geboren, die<br />

Restfarbe im Siebdruck-Sieb auszunutzen, lagerten <strong>Boycotlettes</strong> verschiedene dieser „Sieb-Säuberungs-Bilder“ so<br />

übereinander, dass teils zufällige, teils bewusst komponierte, neue Zusammenfügungen entstanden. <strong>Boycotlettes</strong> recyceln<br />

sozusagen und erfinden dabei neue hybride Bilder, deren einzelne Elemente unterschiedlichster Herkunft sind<br />

und aus verschiedenen Kulturen stammen. Ankermotive werden mit graphischen und architektonischen Elementen<br />

durchmischt, Augenpaare treffen sich mit Käfern und Faltern, ebenso wie mit dem bereits bei „Von Früchten und<br />

Viechern“ (2010) vorkommenden Motiv der Frau auf dem dreirädrigen Motorrad. Die Künstlerinnen verwenden ihre<br />

Muster und Motive quer durch alle Erzeugnisse, unabhängig von Materialität und Funktion. Auch die Skulptur „one<br />

million minutes“ (2009), die aus überzähligen westafrikanischen Telefonkarten besteht, setzt Gefundenes visuell,<br />

sprachlich und formal neu zusammen. Die Telefonkarten, die vom afrikanischen Wunsch nach schnellem und billigem<br />

Kontakt ins Ausland sprechen, werden von <strong>Boycotlettes</strong> zu einer überdimensionierten knospenartigen Form gebündelt.<br />

Die einzelnen Slogans auf den Karten verheissen bunte und glückliche Welten: ‚Africa is the future’, ‚Joy’, ‚Talk<br />

tomato’, ‚Flash me’, ‚card nostalgiée’, ‚Money 4 sun’, ‚Starcall’ oder ‚call motherland’ u.a. steht darauf zu lesen. Die<br />

von <strong>Boycotlettes</strong> recycelten und zu einer hybriden Form in einem neuen Kontext zusammenfügten Karten vermitteln<br />

gleichzeitig etwas von den hinter den Sprüchen stehenden Sehnsüchten und Erwartungen.<br />

Man kann sagen, dass <strong>Boycotlettes</strong> mittlerweile zu einem Label geworden sind, das für interdisziplinäre Freiheit und<br />

kulturelle Unabhängigkeit steht. Sie haben die Freiheit des formalen und visuellen Zusammenfügens gefundener,<br />

gestalteter Motive und Materialien für sich zum Grundprinzip gemacht. Niemand sonst kann Viecher und Früchte<br />

ebenso glaubwürdig zusammenbringen wie Mode und räumliche Grenzüberschreitungen. In diesem Sinne stösst die<br />

Liebeserklärung „boys4ever“, die in der oben genannten Wandarbeit vorkommt, auf eindeutige Gegenliebe.<br />

(C)<br />

INDEX WERKE<br />

Titelseite „Da wird schon wieder Grass drüber wachsen“ Beschriftung Sozialräume neue Ricolafabrik<br />

Laufen | PVCFolie geschnitten | 90 x 210 cm<br />

(1) „Maja Rieder & <strong>Boycotlettes</strong>“ Impressionen Aus der Austellung<br />

(2) „Ohne Titel“ | 2010 | PVCFolie geplottet | 295 x 1460 cm<br />

(3) „based on a true“ | 2010 | PVCFolie geplottet und Panzerketten | 370 x 580 x 40 cm<br />

(4) „one million minutes“ | 2009 | Telefonkarten , Draht geflechtet | 42 x 165 x 50<br />

(5) „Von Früchten und Viechern“ | 2010 | PVCFolie geplottet und bedruckt (Siebdruck)<br />

370 x 1450 (910+540) x 180 cm<br />

(6) „waste papers“ | 2006 - 09 | Siebdruck | je 42 x 59.4 cm<br />

(7) „temple of nonsense boys“ | 2008 | PVCFolie geplottet und bedruckt (Siebdruck) | Rauminstallation<br />

(8) „nice to nike“ | 2007 | PVCFolie geplottet | 310 x 870<br />

(9) „le bon dieu a fait ça“ | 2005 | PVCFolie geplottet | 382 x 534<br />

(10) „BIG MAC - BIG DIG“ | 2008 | PVCFolie geplottet | 309 x 108<br />

(11) „draussen zuhause“ | 2008 - 10 | PVCFolie geplottet | Interventionen auf der Strasse


BOYCOTLETTES<br />

Altrheinweg 34<br />

4057 Basel<br />

Mail: beauty@boycotlettes.ch<br />

www.boycotlettes.ch<br />

<strong>Melanie</strong> <strong>Fischer</strong> <strong>Fadera</strong><br />

geboren 1976 in Solothurn, lebt und arbeitet in Basel<br />

078 624 65 07<br />

<strong>Lara</strong> <strong>Schwander</strong><br />

geboren 1976 in Brugg, lebt und arbeitet in Basel<br />

076 499 26 12<br />

1999 Gründung <strong>Boycotlettes</strong><br />

PREISE UND FÖRDERUNG<br />

2002 Werkjahrbeitrag KUNSTKREDIT 02 Basel-Stadt<br />

Swiss Fashionimage Award Zürich<br />

2003 Reisepreis des Basler Kunstvereins<br />

Ankauf der Kunstkommission Basel-Stadt<br />

2004 Förderpreis Regiobank Solothurn<br />

Reisestipendium für Westafrika Christoph-Merian Stiftung<br />

2005 Eidgenössischer Preis für Design<br />

2007 Ankauf Kulturrelles.bl<br />

2008 3. Preis Swiss Ethical Fashion Award<br />

2009 Werkjahrbeitrag Kanton Solothurn<br />

2010 Förderpreis der Alexander Clavel Stiftung<br />

Ankauf für die Sammlung der Stiftung dss Kunsthaud Grenchen<br />

Ankauf Kunstkommision Kanton Solothurn<br />

AUSSTELLUNGEN<br />

2002 KUNSTKREDIT 02 Basel-Stadt „autocollante02“ Kunsthaus Baselland<br />

2003 URBAN DIARIES Swiss Young Art „autocollante03“ neue Kunsthalle Madrid<br />

Regionale 04 „JURASSIC PARC“ in den Institutionen: Kunsthalle Basel / Kunstraum Riehen<br />

Kunsthaus Baselland / Le Quai Mulhouse / Kunstverein Freiburg<br />

2004 „Sisters from different Mothers“ Galerie piano nobile Genf<br />

Jahresaustellung „united we stand - divided we fall“ Kunstmuseum Solothurn<br />

2005 Gruppenausstellung Signes Quotidiens “ou tu vas comme ça?” Centre Culturelle Suisse Paris<br />

Auszeit - auf der Suche nach dem Paradies „Le bon dieu a fait ça“ Projektraum M54 Basel<br />

Preisträger Eidgenössischer Preis für Design / Mudac Lausanne<br />

2006 IAAB choices „C`est pas pour les chiens, c‘est pour les hommes“ Kunstraum Riehen<br />

Regionale 7 „pimp up my plug“ Plug in Basel<br />

Jahresaustellung „collage rapide°1“ Kunstmuseum Solothurn<br />

2007 „it`s not old scool - if your not relating to the streets“ Imprimerie Basel<br />

you say art - we say yeah! mit Show „Pimps + Pin-ups“ Gallery Daeppen Basel<br />

Regionale 8 „nice to be nike“ Kunstraum Riehen<br />

2008 ERNTE 07 „Big Mac - Big Dick“ Palazzo Liestal<br />

„temple of nonsense boys“ Künstlerhaus S11 Solothurn<br />

Regionale 9 “vinylfou” Kunsthaus L6 Freiburg<br />

2009 “KEBAP 4 LIFE” High Voltage Basel<br />

Kleid im Kontex Gewerbe Museum Winterthur<br />

Regionale 10 “WASTE PAPERS 09” Kunsthaus Muttenz<br />

2010 “früher einsam * jetzt verlobt” Wenkenhof Riehen<br />

Maya Rieder / <strong>Boycotlettes</strong> Kunsthaus Grenchen<br />

„fashionable art / Mode in der Kunst“ Kunstraum Riehen<br />

Jahresausstellung “WASTE PAPERS 10” Kunstmuseum Solothurn<br />

KUNST AM BAU<br />

2004 Realisierung Fassade Riehenring Basel „Alice in the city“<br />

2005 Realisierung Empfangsbereich Christoph Merian Stiftung Basel „ Voyage de miel“<br />

2006 Realisierung Sozialräume Ricolafabrik Laufen „da wird schon wieder Gras drüber wachsen“<br />

2009 Realisierung Oberlichtgallerie Gymnasium Oberwil

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