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13 I,III 08 - MDZ-Moskau

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<strong>Moskau</strong>er Deutsche Zeitung Nr. 19 (242) Oktober 20<strong>08</strong>Gesellschaft09Lebensrettende MaßnahmeSchockkampagne des russischen Innenministeriums rüttelt Autofahrer aufEs geht alles sehr schnell. Reifenquietschen, ein dumpfer Knall, der Körper einer Frau bleibt regungslos auf derFahrbahn liegen, nachdem er durch die Wucht des Aufpralls meterweit geschleudert wurde. Täglich verunglückenMenschen auf <strong>Moskau</strong>s Straßen. Autokolonnen schleichen am Unfallort vorbei, Passanten wenden sich ab. Auchder russische Staat hat jahrelang tatenlos zugesehen. Im Rahmen des Programms zur Verkehrssicherheit ergreiftdas Innenministerium nun drastische Maßnahmen. Blutige Videoclips im Kino, Fernsehen und Internet sollen fahrlässigenBürgern die Augen öffnen.Ein junges Geschwisterpaarsitzt auf der Fensterbank. IhreBlicke verlieren sich irgendwo inder Nacht, auf dem Asphalt derSchnellstraße. Die Kinder wartensehnsüchtig auf ihre Eltern.Währenddessen turteln Vater undMutter im Auto auf dem Heimweg,das Fahrzeug beschleunigt.Ein Lächeln ziert das Gesicht desVaters, bevor das Auto von derStraße abkommt und das Ehepaarmit über 100 Stundenkilometerneinen Kleinwagen rammt, der amStraßenrand steht. Die Front wirdvom Aufprall völlig zerfetzt, dasFahrzeug überschlägt sich. BlutüberströmteKörper sind am Endedes Videos zu sehen, die Gesichtszügeerstarrt.Der Kurzfilm ist Teil einer„Schockkampagne“, die Autofahrerzum Anschnallen animieren unddamit einer neuen Sicherheitskulturim Straßenverkehr Vorschubleisten soll. Bisher wurden fünfVideoclips produziert, der erstelief im Juni vergangen Jahres imKino und im Internet. Die großenFernsehesender wollte ihrenZuschauern die blutigen Clips nichtzumuten. Das hat sich inzwischengeändert. Die neuen vier Filme werdenab Oktober auch im Fernsehenzu sehen sein. Initiiert wurde dasföderale Programm „Erhöhung derVerkehrssicherheit 2006 bis 2012“von der Abteilung für Sicherheitim Straßenverkehr des russischenInnenministeriums. Unterstütztwird sie durch den Bund der Autoversichererund die Media ArtsGruppe.Bei den Todesraten im Straßenverkehrist Russland Europas traurigerRekordhalter. VergangenesJahr starben laut Angaben derrussischen Regierung insgesamt33 000 Menschen bei Verkehrsunfällen.Der NachrichtenagenturRIA Nowosti zufolge geht die Zahlder Verkehrstoten in Russland dennochleicht zurück. Im Vergleichzum Vorjahr sank sie im Zeitraumvon Januar bis August um 11,4Prozent. 18 031 Menschen sind indiesem Jahr bereits ums Lebengekommen. Verletzt wurden rund170 000 Menschen. „Der Rückgangverläuft sehr langsam", sagte derrussische Innenminister RaschidNurgalijew in einem Interview.Überlebenschance Anschnallgurt: Viele Russen müssen davon erst überzeugt werden.Die Ursachen dafür sind vielfältig:mangelnde Fahrkenntnisse, Nichtgebrauchdes Sicherheitsgurtes,Alkohol am Steuer, noch häufigerist aber überhöhte Geschwindigkeit.Lange unternahm die Regierungnichts gegen das Sterben imStraßenverkehr, die Unfallstatistikenwuchsen unaufhörlich. SeitBeginn des Jahres wird nun auchdas Nichtbefolgen der Anschnallpflichtmit empfindlichen Geldbußenbestraft.Neben Aufnahmen, die sekundenschnellden Schrecken einesUnfalls vermitteln sollen, stehenauf dem Maßnahmenplan des Leitersder Abteilung für Straßenverkehrsicherheit,Viktor Kirianow,noch weitere Punkte: verschärfteStrafen bei Missachtung derVerkehrsregeln, modernste Gerätefür die Verkehrspolizei und dieInstallation von Radaranlagen. Ineiner Umfrage fand das Innenministeriumheraus, dass sich gerademal 15 Prozent aller Unfälleaufgrund von objektiv messbarenFaktoren ereignen, wie zum Beispielschlechten Straßenverhältnissen,defekten Ampelanlagenoder unklaren Straßenverläufen.85 Prozent dagegen seien Folgenmangelnder Verantwortunggegenüber anderen Verkehrsteilnehmernsowie leichtsinnigen Verhaltensin Stresssituationen. Lauteiner Umfrage der Medienagentur„Yes Taste Win Now“, die auch fürdie Clips verantwortlich ist, wollensich 42 Prozent der Autofahrernicht anschnallen,weil esunbequem seiund sie der Gurtbeim Fahrenstört. „Komfortbedeutetden Menschenmehr als ihreigenes Leben“,empört sichdie Chefin derAgentur NataljaAgre, „das isterschreckend.“Ein weiteresschwerwiegendesProblem ist der Alkoholkonsum.25 Prozent gaben zu,schon alkoholisiert am Steuergesessen zu haben.Von André NaumannDie aufrüttelnden Clips sollennicht nur die Aufmerksamkeit derZuschauer erregen, sie wollen inihr Bewusstsein eindringen. „DerCharakter der Kampagne lösteviele Diskussionen aus“, sagte WladimirSchewtschenko, Pressesprecherder Abteilung für Sicherheitim Straßenverkehr des Innenministeriums,der Moscow Times.Die ungeschönte Härte der Videosziele darauf ab, dem Zuschauerdas ungute Gefühl, dass es jedenzu jeder Zeit treffen kann, brutalund emotionslos darzustellen, realistischeben.Jelena Kosowskaja ist einegewöhnliche Autofahrerin. JedenMorgen und Abend manövriertsie ihren Hyundai durch den Stau.„Ich habe mich nie angeschnallt“,sagt die 23-Jährige. Es sei einbeklemmendes Gefühl gewesen,festgebunden zu sein, also verzichtetesie auf die Sicherheit. „Dannsah ich die Videoclips, die michschockierten und nachdenklichmachten“, erzählt die junge Bankangestellte.Seitdem fährt sie keinenMeter, ohne erst den Sicherheitsgurtangelegt zuhaben.„Schnallt sich derBeifahrer an, dannvertraut er den Fahrkünstendes FahrersFotos: Yes Win Taste Now Agenturnicht“, beschreibtAgenturchefin Agreein weiteres Phänomen,„das war und istheute noch ein ungeschriebenesGesetz.“Viele Russen sinddavon überzeugt,ohne Gurt sichererim Auto unterwegszu sein, weil sie sichim Falle eines Unfallsschneller aus demAutowrack befreienkönnten. In den90ern zeigte das russischeFernsehen Bilder,die verheerendeAutounfälle kommentierten.Dabei fieldas Urteil häufig so aus, dass derSicherheitsgurt, war er denn angelegt,die Wahrscheinlichkeit, imFahrzeug zu sterben, erhöhte.In Befragungen, die die Agentur„Yes Taste Win Now“ im vergangenJahr unternahm, fordertendie Zuschauer Erstaunliches: Nochmehr zeigen, noch realistischer,noch mehr Blut. „Wirklich gefallentun die Videoclips niemandem“,sagt Agre, „dafür erzeugen sie diegewünschte Wirkung.“ Der Tod aufder Leinwand soll Leben auf derStraße retten.Des Kaisers geheime KleiderDer Modezar Valentin Judaschkin ist nicht unbedingt ein Freund vornehmenUnderstatements. Er mag es opulent, er mag es bunt, er mag esauffällig. Seit 20 Jahren ist das russische Pendant zu Wolfgang Joopgrandios im Geschäft. Zu seinen Kundinnen zählen die PräsidentengattinSwetlana Medwedewa und Pop-Ikone Alla Pugatschowa. Der russischenSängerin entwarf er vor kurzem ein Hochzeitskleid und in der Folge denpassenden Diätplan dazu. Anlässlich seines Geschäftsjubiläums macht ersich nun selbst das schönste Geschenk: eine Ausstellung im StaatlichenHistorischen Museum, Roter Platz eins. Gut 70 handverlesene Exponateseiner gesamten Schaffenszeit versammelt die Schau mit dem Titel„Geheimnisse der Haute Couture“, die bis zum 2. November läuft.Meisterwerke aus sieben Genres stellt Judaschkin vor – vom Abendkleidbis zum Karnevalskostüm. Die Roben stehen für sich selbst und sollenPerfektion versinnbildlichen. Worin die Größe des Einzelstücks nun genaubesteht, wird dem Zuschauer nicht erklärt. Seine Kollegen hätten ihm dieGeheimnispreisgabe auch verübelt. Denn Zauberer verraten ihre Tricksnicht, erst recht nicht an einer der prominentesten Adressen Russlands.Russland sucht den SupervolksheldSonntagabend, kurz nach neunUhr, beste Sendezeit auf dem FernsehkanalRossija: Das Studiopublikumbeklatscht die erste Sendungvon „Imja Rossija“ (Name Russland).Die Show wird gut zwei Stundenlang Werbung für zwölf Menschenmachen – die größten PersönlichkeitenRusslands. Es sind die Finalistendes gleichnamigen Projektsdes Senders, die sichseit Mai in mehrerenAbstimmungsetappenaus einer Liste von 500bedeutenden Russenherauskristallisierten.Alexander Ljubimow,der zweite Chef desFernsehsenders, führtGute Siegchancen:Alex ander Newskij.nun persönlich durchdie Show. Jeder derdurchweg bereits verstorbenenFinalistenhat einen Fürsprecher, einen Anwaltin eigener Sache. Für die einzige Fraudes Duzends, Katharina die Große,spricht Alexander Tkatschow, derehemalige Gouverneur der RegionKrasnodar. Den zur Zeit vornliegendenAlexander Newskij übernimmtMetropolit Kirill. Die beidenKandidaten Stalin und Leninwerden von General Warennikowund Kommunist Gennadij Sjuganowvertreten. Es geht nicht unbedingtheiß her bei der Präsentation derKandidaten. Geschichtliche Abrissefolgen aufeinander. Die Fürsprecherunterstreichen die historischeBedeutung ihrer Schützlinge. Auchdunklere historische Kapitel werdenangerissen, aber nicht ausdiskutiert.Stalin und auch Lenin erlebten in denersten Abstimmungswochen wahreHöhenflüge im Internet-Ranking.Die öffentliche Debatte entbranntean der Frage, ob derart umstritteneFiguren tatsächlich zu den größtenPersönlichkeiten desLandes gezählt werdendürfen. Bald gabes Hinweise darauf,dass rotdenkendeComputerfreundesich in das Abstim-Foto: Archivmungssystem imInternet hackten undihre Idole nach vornesetzten oder durchtausendfaches Votendas Ranking manipulierten.Dem haben die Organisatoreneinen Riegel vorgeschoben.Von einer IP-Adresse aus kann manjetzt nur einmal täglich seine Wahltreffen. Oder man vermeldet sieper Telefon und SMS. Im Dezemberendet die Abstimmung, dannwird feststehen, von wem die Russensich am besten in ihrer Größe undGeschichte repräsentiert sehen. Daszeitgenössische Gegenprojekt „ImenaRossiji“ (Namen Russlands), bei demauch lebende russische Persönlichkeitenmitmachen dürfen, führt derzeitPopstar Phillipp Kirkorow.Foto: Anne Wäschle

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