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de ira Norbert Fries (Berlin) - Linguistik online

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<strong>de</strong> <strong>ira</strong><strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong> (<strong>Berlin</strong>)AbstractThis contribution discusses a selection of words referring to emotional sentimentslike anger, rage, fury. The meaning of such words is highly complex; itwill be explored by emotional scenes. In more <strong>de</strong>tail I treat German Wut andZorn.Wenn rohe Kräfte feindlich sich entzweienUnd blin<strong>de</strong> Wut die Kriegesflamme schürt,Wenn sich im Kampfe toben<strong>de</strong>r ParteienDie Stimme <strong>de</strong>r Gerechtigkeit verliert,Wenn alle Laster schamlos sich befreien,Wenn freche Willkür an das Heilge rührt,Den Anker löst, an <strong>de</strong>m die Staaten hängen,Das ist kein Stoff zu freudigen Gesängen![Friedrich von Schiller, An Karl Theodor von Dalberg,25.04.1804; erste Strophe]"Diese Äußerung im Zorn habe ich als Fehler öffentlich bedauert."[Jürgen Möllemann, zitiert nach <strong>de</strong>r <strong>Berlin</strong>er Zeitung,Ressort Politik, 07.06.2002]"Zorn und Wut mischen sich in die Kommentare. Empörungüber Jürgen Möllemann."[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Politik, 23.09.2002]"Den Zorn Guido Westerwelles, <strong>de</strong>r sich hintergangenfühlte, konnten nun auch einige Liberale in MöllemannsVerband verstehen".[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Politik, 02.12.2002]1 Glückliche VerkettungIm Folgen<strong>de</strong>n versuche ich einige Erklärungen dafür zu liefern, weshalb Wutkeinen Stoff zu freudigen Gesängen abgibt, inwiefern Jürgen Möllemann seineÄußerung nicht in Wut, son<strong>de</strong>rn im Zorn tat, wieso er sich trotz Wut, Zorn undEmpörung seiner Parteigenossen lediglich <strong>de</strong>n Zorn Guido Westerwelles zuzog


104particulae collectaeund weshalb bestimmte Auffassungen Annaeus Senecas auch heute nochbeachtenswert sind.Aber, aber! wird man, ein Beispiel 1 <strong>de</strong>s mit dieser Festschrift Geehrten verwen<strong>de</strong>nd,einzuwerfen geneigt sein: Was für ein Thema zu diesem Anlass! Hieraufsei erwi<strong>de</strong>rt: Immerhin (cf. Weydt 1979a; 1979b: 411) haben Glückwünscheetwas mit <strong>de</strong>m Ausdruck von Gefühlen zu tun; je<strong>de</strong>nfalls (cf. Weydt 1979b) ist<strong>de</strong>r Beglückwünschte untrennbar mit Partikeln verbun<strong>de</strong>n und diese haben, wieschon Georg von <strong>de</strong>r Gabelentz bemerkte, was wir wie<strong>de</strong>rum durch <strong>de</strong>n Gefeiertenwissen (cf. Weydt 1977: 10ff), etwas mit <strong>de</strong>m Ausdruck von Gefühlenzu tun. Ohnehin (cf. Weydt 1983b) unterschei<strong>de</strong>n sich Wut und Zorn gera<strong>de</strong>darin, dass wenigstens (cf. Weydt 1979) letzterer auch nach Schiller in einemGeschenk durchaus nicht unangebracht ist:Doch wenn ein Volk, das fromm die Her<strong>de</strong>n wei<strong>de</strong>t,Sich selbst genug, nicht frem<strong>de</strong>n Guts begehrt,Den Zwang abwirft, <strong>de</strong>n es unwürdig lei<strong>de</strong>t,Doch selbst im Zorn die Menschlichkeit noch ehrt,Im Glücke selbst, im Siege sich beschei<strong>de</strong>t,– Das ist unsterblich und <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s wert.Und solch ein Bild darf ich dir freudig zeigen:Du kennsts, <strong>de</strong>nn alles Große ist <strong>de</strong>in eigen.[Friedrich von Schiller, An Karl Theodor von Dalberg, 25.04.1804;zweite Strophe]Schließlich (cf. Weydt (1979b) geht es in diesem Beitrag nicht nur um Wut undZorn, son<strong>de</strong>rn zuvor um generelle Aspekte emotionaler Einstellungen undSzenen.2 Gefühle und EmotionenDass alltagssprachig die bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Wörter Gefühl und Emotion nicht alsSynonyme gelten können, zeigt sich schon an wenigen Beispielen: Gefühlbezeichnet(1) seelische Empfindungen(Gefühl von Angst; die Gefühle für meine Angehörigen)(2) körperliche Wahrnehmungen(Gefühl von Übelkeit; Gefühl von Hunger; ein kribbeln<strong>de</strong>s Gefühl in <strong>de</strong>nBeinen)1 "Ein <strong>de</strong>utscher Lehrer könnte kopfschüttelnd seine toben<strong>de</strong>n Schüler betrachten, unddazu Aber, aber! sagen. Entsprechungen: *Mais, mais! o<strong>de</strong>r But, but! fehlen im Französischenund in <strong>de</strong>n mir bekannten Sprachen." Weydt (1983a: 155).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 105(3) nicht genau erklärbare Ahnungen(ein Gefühl haben, dass etwas Schlimmes passiert)(4) die Fähigkeit, etwas durch seelische Empfindung (z. B. in seiner Funktiono<strong>de</strong>r in seinem Wert) zu erfassen(Sprachgefühl, Rhythmusgefühl, ein Gefühl für eine Sache haben)Emotion kommt im Deutschen 2 hingegen nur eine (1) entsprechen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utungzu (cf. ?? eine Emotion von Übelkeit; ?? Sprachemotion; ?? kribbeln<strong>de</strong> Emotionenin <strong>de</strong>n Beinen haben usw.), eine Be<strong>de</strong>utung, auf welche auch die PluralformGefühle beschränkt ist ( ?? Gefühle von Einsamkeit und Hunger;?? kribbeln<strong>de</strong> Gefühle im Magen; ?? Sprachgefühle). Die bei<strong>de</strong>n Wörter Gefühlund Emotion sind alltagssprachig also, entgegen Behauptungen, die manchmal in<strong>de</strong>r Literatur zu fin<strong>de</strong>n sind (cf. z. B. Jäger 1988: 37), nicht gleichbe<strong>de</strong>utend.Bei Gefühlen im Sinne von (1) han<strong>de</strong>lt es sich um psychische, zentralnervösewie peripher körperliche Phänomene höherer Lebewesen. Gefühle sind vegetativeBegleiterscheinungen, die hormonal vermittelt wer<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n teilweise,jedoch nicht notwendig, im Hinblick auf ihre biologische Prozessualisierungund in funktionaler Hinsicht in Opposition zu (homöostatischen) Triebenexpliziert, insbeson<strong>de</strong>re weil sie von <strong>de</strong>r Lerngeschichte eines Individuums abhängigsind, azyklisch (nicht-homöostatisch) sind und (ethologisch-funktionalbetrachtet) Umweltreize selektieren, das heißt, Wichtiges von Unwichtigem, Angenehmesvon Unangenehmem unterschei<strong>de</strong>n.Kognitionswissenschaftlich betrachtet stellen Gefühle also eine Kombinationdreier Verhaltensebenen dar: <strong>de</strong>r subjektiv-psychologischen, <strong>de</strong>r motorischverhaltensmäßigenund <strong>de</strong>r physiologisch-humoralen Ebene. Sie beziehen sich<strong>de</strong>mentsprechend auf komplexe Reaktionsmuster, die in biologischen, medizinischen,psychologischen (affektlogischen), philosophischen, ethologischen,semiotischen usw. Explikationen interdisziplinär erfassbar sind.Evolutionsgeschichtlich haben sich Gefühle im Zusammenhang mit unterschiedlichenLebensaufgaben und Überlebensstrategien <strong>de</strong>s Menschen entwickelt. Wasfür eine bestimmte Klasse von Gefühlen gilt, muss daher nicht notwendig auchauf an<strong>de</strong>re Klassen von Gefühlen zutreffen. Beispielsweise können Vermeidungsgefühle(wie Furcht, Unlust, Feindseligkeit, Ekel) über ganz an<strong>de</strong>reEigenschaften verfügen als Gefühle, die z. B. <strong>de</strong>r Nachkommenspflege o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rFortpflanzung dienen, und zwar in allen kognitionswissenschaftlich interessantenHinsichten: Was ihren neuro-anatomischen Ursprung, ihre Prozessualisierung,ihre semiotische Konzeptualisierung, ihre Kommunikation und2 Das Wort Emotion wird im heutigen Englisch zur Übersetzung für <strong>de</strong>n nur noch seltenverwen<strong>de</strong>ten fachsprachlichen Terminus Gemütsbewegung verwen<strong>de</strong>t; cf. z. B. in <strong>de</strong>nSchriften Ludwig Wittgensteins, Zettel, in <strong>de</strong>r Ausgabe Anscombe/Wright (1967).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 107carent, habent autem similes illis quosdam impulsus: alioquin, si amor in illisesset et odium, esset amicitia et simultas, dissensio et concordia; quorum aliquain illis quoque exstant vestigia, ceterum humanorum pectorum propria bonamalaque sunt." 3 Je differenzierter die semiotischen Fähigkeiten eines Lebewesenssind, <strong>de</strong>sto nuancierter sind seine Gefühle.Durch Zeichen codierte Gefühle (im Sinne seelischer Empfindungen) will ichEmotionen nennen. Emotionen in diesem Sinne sind also keine angeborenenVerhaltensmechanismen, son<strong>de</strong>rn arbiträre, semiotische Entitäten. Als solcheinvolvieren sie für semiotische Prozesse charakteristische I<strong>de</strong>ntifikationsprozeduren:Spezifische Emotionen (Angst, Ekel, Wut usw.) beziehen sich somitauf spezifische Aspekte von Gefühlen (im Sinne seelischer Empfindungen).Das heißt, sprachliche Zeichen wie Angst, Ekel, Wut <strong>de</strong>notieren jeweils eineidiosynkratische Mixtur aus <strong>de</strong>n oben genannten Aspekten 1.-3. So <strong>de</strong>notiert das<strong>de</strong>utsche Wort Angst eine sprachspezifische (und sich durchaus von z. B. englischenAusdrücken wie fear, be afraid, be scared unterschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>) Mischungdreier Aspekte, nämlich(a) einen introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>r Ungewissheit gegenübereiner realen o<strong>de</strong>r eingebil<strong>de</strong>ten Bedrohung, <strong>de</strong>r(b) für an<strong>de</strong>re Lebewesen in bestimmten physischen Reaktionen wahrnehmbarwird, und <strong>de</strong>r(c) für bestimmte Situationen prototypisch ist (eben für angstauslösen<strong>de</strong> Situationen)Für die <strong>Linguistik</strong> relevante generalisierbare Funktionen von Gefühlen bestehendarin,• spezifische Bewertungen, nämlich emotionale, über sprachliche Äußerungenund ihre Komponenten zu liefern• hierdurch wesentlich in Entscheidungsprozesse einzugreifen und• die Planung, die Zielsetzung, <strong>de</strong>n Verlauf und das Ergebnis von Handlungenzu beeinflussen3 "'Zürnen' nennt <strong>de</strong>r Dichter Trieb und Erregung. Doch zürnen können Tiere ebensowenigwie verzeihen. Sprachlose Lebewesen haben keine menschlichen Affekte, haben aberbestimmte diesen ähnliche Instinkte. An<strong>de</strong>rnfalls wären, wenn es bei ihnen Liebe undHass gäbe, auch Freundschaft und Feindseligkeit, Zwist und Eintracht vorhan<strong>de</strong>n. Davonfin<strong>de</strong>n sich auch bei ihnen einige Spuren, im übrigen aber sind es für <strong>de</strong>n Menschen typischegute und schlimme Seelenregungen." (Seneca in De <strong>ira</strong>. Liber 1. Übersetzung vonGerhard Fink 1992:104 f.).


108particulae collectae3 Emotionale EinstellungenNach <strong>de</strong>r hier vertretenen Auffassung han<strong>de</strong>lt es sich bei Emotionen um arbiträrekomplexe semiotische Entitäten. Zur Explikation <strong>de</strong>s Verhältnisseszwischen Sprechhandlungen, speziell zwischen Äußerungsbe<strong>de</strong>utungen un<strong>de</strong>motionalen Bewertungen verwen<strong>de</strong> ich die Kategorien emotionale Einstellungund emotionale Szene.Emotionale Einstellungen sind Komponenten <strong>de</strong>r semiotischen Äußerungsbe<strong>de</strong>utung.Sie referieren auf spezifische Komponenten von Gefühlen, und zwarauf Empfindungsqualitäten und auf Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Empfindungsintensität.Als elementare Einheiten emotionaler Einstellungen {EM} betrachte ich(a) {EM ± },das ist die Bewertung bedürfnisrelevanter Konzepte als positiv (Affirmationselbstrelevanter Konzepte; Lust) bzw. als negativ (Negierung selbstrelevanterKonzepte; Unlust) und(b) {EM INT },das ist das Intensitätsspektrum <strong>de</strong>r BewertungDem liegt die Annahme zugrun<strong>de</strong>, dass Emotionen in <strong>de</strong>r Reflexion selbstrelevanterWerte, Bewertungen und Bedürfnisse grün<strong>de</strong>n. 4Die Komponenten {EM ± } und {EM INT } sind bei <strong>de</strong>r symbolischen Codierungauf einen Repräsentationsgehalt R bezogen, was noch nichts über die formale(z. B. phonologische, morphologische, syntaktische o<strong>de</strong>r sprachspezifischsemantische)Realisierung von {EM ± }, {EM INT } und R aussagt:(1) [{EM ± }, {EM INT }] (R)Wir können somit sagen, dass sich Ausdrücke wie dt. Superuni, Scheißuni,Sauhaufen qua zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>r wort- und begriffsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Prozesse in <strong>de</strong>nbewerten<strong>de</strong>n Aspekten {EM + } und {EM _ } unterschei<strong>de</strong>n. In adjektivischenWortbildungen wie dt. scheißkalt, saugut wird hingegen die Intensität {EM INT }codiert.Gefühle bzw. Teilaspekte von Gefühlen müssen nicht notwendig mittelssprachlichen Symbolen codiert wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn können auch mittels in<strong>de</strong>xikalischerZeichen ausgedrückt wer<strong>de</strong>n. Allerdings wird man <strong>de</strong>n Ausdruck vonEmotionen durch in<strong>de</strong>xikalische Zeichen, z. B. über das Rotwer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Weinenbeim Schämen, bei Wut, bei Freu<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r bei Trauer usw. nur unter <strong>de</strong>r Bedingungals kommunikativen Prozess bezeichnen, falls ein Sen<strong>de</strong>r diese Zeichenintentional produziert, das heißt, in <strong>de</strong>r Absicht, bei einem Empfänger eineWirkung dadurch zu erzeugen, dass dieser eben diese Absicht bemerkt. Dies ist4 Cf. zur ausführlichen Diskussion dieser Annahme Scheele (1990).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 109beispielsweise bei <strong>de</strong>r Verwendung von Emoticons in E-Mails <strong>de</strong>r Fall ☺. Mitan<strong>de</strong>ren Worten: Gewöhnlicherweise weint o<strong>de</strong>r lacht man nicht <strong>de</strong>shalb, damitein an<strong>de</strong>rer merkt, wie wütend, froh usw. man ist.Auch in<strong>de</strong>xikalische Zeichen, zu welchen neben Gestik, Mimik auch Phänomenewie Blickrichtung, Körperhaltung, Körperabstand, Körperbewegung und Körperorientierungim Raum zu rechnen sind, sind keineswegs nicht-arbiträr: IhreInterpretation ist nicht nur abhängig von sozialen, kulturellen, geographischenund historischen Faktoren, son<strong>de</strong>rn auch von vollkommen persönlichen und individuellenEigenschaften, wie sich beispielsweise in <strong>de</strong>r Variation <strong>de</strong>s Scham-Verhaltens zeigt. Wie verhält sich eine Frau, wenn sie von einem Unbekanntenbeim Nacktba<strong>de</strong>n überrascht wird? 5 Eine Muslimin wird ihr Gesicht hinter ihrenHän<strong>de</strong>n verstecken, eine Laotin wird ihre Brüste be<strong>de</strong>cken, eine traditionelleChinesin wird ihre Füße verstecken, eine Sumatranerin wird ihre Knie be<strong>de</strong>cken,eine Samoanerin wird ihren Nabel be<strong>de</strong>cken, in Europa und Amerika wird siemit einer Hand ihre Brüste be<strong>de</strong>cken, mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n Genitalbereich (manvergleiche hierzu Rembrandts Susanna im Ba<strong>de</strong>) – und wie verhält sich die Leserindieses Textes?Sprachliche Äußerungen funktionieren zwar wesentlich mittels Symbolen, sindjedoch in je<strong>de</strong>r medialen Realisierungsform zugleich an die durch das jeweiligeMedium bedingte in<strong>de</strong>xikalische Zeichen-Prozessualisierung gebun<strong>de</strong>n, ob essich hierbei um auditiv, visuell o<strong>de</strong>r taktil wahrnehmbare Gesten han<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>rum Schrift in ihren unterschiedlichen Realisierungsformen. 6In Form in<strong>de</strong>xikalischer Zeichen referieren Emotionen auf <strong>de</strong>n Produzenten(Sen<strong>de</strong>r) <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Zeichen, während sie in <strong>de</strong>r Form sprachlicherZeichen natürlich auch auf Aspekte von Gefühlen an<strong>de</strong>rer Personen referiereno<strong>de</strong>r diese thematisieren können (cf. hierzu ausführlich z. B. Fiehler 1990; Konstantinidou1997).Kommunikationspartner sind somit prinzipiell in <strong>de</strong>r Lage, über in<strong>de</strong>xikalischeZeichen mehr o<strong>de</strong>r weniger angemessen zu beurteilen, ob symbolisch codiertenemotionalen Einstellungen entsprechen<strong>de</strong> Empfindungen <strong>de</strong>r Sprecher zugrun<strong>de</strong>liegen o<strong>de</strong>r nicht. Die Kenntnisse <strong>de</strong>r Kommunikationspartner beziehen sich dabeiwesentlich auf die Eigenschaften und Prinzipien <strong>de</strong>r jeweiligen Kommunikationsformenund Kommunikationsumstän<strong>de</strong> im Verhältnis zu Kenntnissenüber Gefühle und ihren in<strong>de</strong>xikalischen Ausdruck.Emotionale Einstellungen können sprachlich auf allen Ebenen <strong>de</strong>s jeweiligenSprachsystems codiert wer<strong>de</strong>n. So genannte Exklamativsätze sind beispielsweise5 Beispiel nach Colton (1983: 210); cf. ferner <strong>Fries</strong> (2000: 20ff.)6 Zu entsprechen<strong>de</strong>n Ausdrucksparametern von Emotionen cf. übersichtshalber die Beiträgein Davidson et al. (2002, insbeson<strong>de</strong>re Teil 4).


110particulae collectaeKandidaten aus <strong>de</strong>m Deutschen, mittels prosodischer, syntaktischer und lexikalischerMittel (inklusive Abtönungspartikeln) systematisch emotionale Einstellungen(wie gesagt, nicht spezifische Gefühle) zu codieren, cf. (2)–(5);weitere grammatische Mittel <strong>de</strong>s Deutschen wer<strong>de</strong>n durch die Beispiele unter (6)und (7) illustriert:(2) Ist mir vielleicht schlecht!(3) Was Eva aber auch alles in sich reinstopft!(4) Was für ein Schwein sie doch ist!(5) Wie schnell du isst!(6) das Schwein <strong>de</strong>s Jahres; das Schwein <strong>de</strong>r Schweine(7) Eva und fasten!Reduplikation kann als ein universales strukturbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Verfahren zur Codierungemotionaler Einstellungen verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n (cf. z. B. Regier 1998).Universal dienen ferner emotive Interjektionen zum Ausdruck von Emotionen:Sie codieren die Komponenten {EM ± } und {EM INT } systematisch, wobei je nachsprachspezifischen Eigenschaften <strong>de</strong>r Interjektionen <strong>de</strong>r Repräsentationsgehalt Rinnerhalb einer Interjektionsphrase (IntP) codiert wer<strong>de</strong>n kann (cf. Wierzbicka(1991: 302ff; <strong>Fries</strong> 2002):(8) [ IntP Pfui [ SATZ isst Eva schnell]]Bei mündlichem Sprechen codieren prosodische Faktoren (auditivwahrnehmbare Gesten) die Komponenten {EM ± } und {EM INT }, und zwar ineinem Wechselspiel mit lexikalischen und strukturellen Codierungsformen undmit extra-sprachlichen gestischen und mimischen Formen. Für an<strong>de</strong>re medialeRealisierungen gelten die entsprechen<strong>de</strong>n Bedingungen in<strong>de</strong>xikalischer Zeichen(Schrifttypen, Schriftgröße, Schriftauszeichnungen wie Fettdruck o<strong>de</strong>r Farbe;Prägnanz von Segmenten bei Gebär<strong>de</strong>nsprachen, usw.).Ich gehe davon aus, dass je<strong>de</strong> sprachliche Äußerung eine emotionale Einstellungaufweist, welche sich gegebenenfalls auf eine ausgedrückte Proposition bezieht.Stellt man sich die Werte <strong>de</strong>r Komponenten {EM ± } und {EM INT } auf einer Skalagemäß Abbildung (9) vor, so können sich auch Null-Werte dieser Komponentenals emotional neutrale Äußerungen ergeben: 77 Intensitätswerte bezeichne ich im Folgen<strong>de</strong>n mit Ausdrücken wie {EM INT>0 } o<strong>de</strong>r{EM INT=0 }.


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 111(9)EM INTEM _ EM +Emotionale Einstellungen sind beschränkt rekursiv. So besitzt (10 a) zweimögliche Interpretationen, (10 b) und (10 c):(10) a. Ach igitt schmeckt das Fleisch scheußlich!b. [ IntP Ach igitt [ SATZ schmeckt das Fleisch scheußlich]]c. [ IntP Ach [ IntP igitt [ SATZ schmeckt das Fleisch scheußlich]]]In <strong>de</strong>r Lesart (10 b) wer<strong>de</strong>n zwei emotionale Einstellungen in Bezug auf ein und<strong>de</strong>nselben Repräsentationsgehalt R codiert; in <strong>de</strong>r Interpretation (10 c) beziehtsich die topologisch linke Interjektion ach auf <strong>de</strong>n Repräsentationsgehalt,welcher durch die topologisch folgen<strong>de</strong> Interjektion igitt inklusive <strong>de</strong>sRepräsentationsgehaltes das Fleisch schmeckt scheußlich konstituiert wird.(10 b) kann beispielsweise so interpretiert wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r Sprecher zugleichbedauert und seinen Ekel darüber ausdrückt, dass das Fleisch scheußlichschmeckt; (10 c) kann z. B. so interpretiert wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r Sprecher seinenEkel über das scheußlich schmecken<strong>de</strong> Fleisch bedauert.4 Emotionale SzenenEmotionale Szenen sind signifikant relevante komplexe Konzepte z. B. für dieExplikation <strong>de</strong>r Elemente <strong>de</strong>s Gefühlswortbestan<strong>de</strong>s von Sprachen und von einschlägigenMetaphern und Metonymien.Die Semantik Gefühle bezeichnen<strong>de</strong>r Ausdrücke lässt sich durch semantischeMerkmale nur unvollkommen explizieren: Wörter wie Wut, Zorn, Empörung,Entrüstung, Ärger, Unmut o<strong>de</strong>r wie Angst, Furcht, Panik, Phobie, Grauen,


112particulae collectaeSchreck, Bangigkeit unterschei<strong>de</strong>n sich wesentlich dadurch, dass sie jeweils unterschiedlichesprachspezifische emotionale Szenen 8 <strong>de</strong>notieren.Emotionale Szenen konstituieren sich aus <strong>de</strong>n Komponenten {EM ± } und{EM INT }, und Urteilen und Bewertungen über Bedingungen von {EM ± } und{EM INT }.Die Komponente Urteile und Bewertungen über Bedingungen von {EM ± } und{EM INT } konstituiert sich aus1. Variablen für die Qualität subjektiv-psychologischer Aspekte,das heißt für interne, introspektiv wahrnehmbare Zustän<strong>de</strong> von Lebewesen2. Variablen für Sachverhalte,auf welche sich interne, introspektiv wahrnehmbare Zustän<strong>de</strong> beziehenDie Qualität interner, introspektiv wahrnehmbarer Zustän<strong>de</strong> kann durch verschie<strong>de</strong>neParameter erfasst wer<strong>de</strong>n (cf. z. B. Ortony et al. 1988; Mees 1991;Jahr 2000). Eine linguistische Kernfrage ist hierbei, welche Aspekte bzw. Variablenfür subjektiv-psychologische Aspekte sich auf welchen Ebenen <strong>de</strong>sSprachsystems und <strong>de</strong>r Sprachverwendung als sprachzeichentheoretisch relevanterwiesen.Ich gehe von fünf Klassen introspektiv wahrnehmbarer Zustän<strong>de</strong> aus: (I) Behagen,(II) Empathie, (III) Wertschätzung, (IV) Attraktivität und (V) Erwartung.Die Klassen sind jeweils mit <strong>de</strong>n emotionalen Einstellungen [{EM ± }, {EM INT }]verbun<strong>de</strong>n, das heißt, sie können mittels Symbolen jeweils als Affirmationselbstrelevanter Konzepte {EM + } bzw. als Negierung selbstrelevanter Konzepte{EM _ } realisiert wer<strong>de</strong>n, und zwar mit einem jeweils variablen Intensitätsspektrum{EM INT }.Die genannten Klassen (I)-(V) differenzieren in vielen Sprachen beispielsweisediverse durch Interjektionen codierte emotionale Aspekte (im Folgen<strong>de</strong>nBeispiele aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>utscher Interjektionen). Ferner lassen sich nachihnen in vielen Sprachen Gefühle bezeichnen<strong>de</strong> Ausdrücke klassifizieren (imFolgen<strong>de</strong>n Beispiele aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>utscher Substantive). Zu<strong>de</strong>m könnenspezifische Partikeln im Zusammenspiel mit weiteren lexikalischen, grammatischenund prosodischen Faktoren auf die Differenzierung <strong>de</strong>r genannten Aspektefestgelegt sein (im Folgen<strong>de</strong>n Beispiele aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Abtönungspartikeln):8Zu einzelsprachlichen Ausprägungen von Emotionen cf. z. B. Athanasiadou/Tabakowska(1998); Harkins/Wierzbicka (2001); Huang (2002); Kövecses (2000);Lutz (1988); Mesquita/Frijda (1992); Wierzbicka (1999).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 113I. BehagenBeispieleInterjektionen:Substantive:Abtönungspartikeln:II. EmpathieBeispieleInterjektionen:Substantive:Abtönungspartikeln:III. WertschätzungBeispieleInterjektionen:Substantive:Abtönungspartikeln:IV. AttraktivitätBeispieleInterjektionen:Substantive:Abtönungspartikeln:V. ErwartungBeispieleInterjektionen:Substantive:Abtönungspartikeln:au↓ 9 , brr↓Angst, Beklemmung, Freu<strong>de</strong>, Glück, Heiterkeit, Leid,Wonneruhig (Sie kann das ruhig essen.)ach↑↓, ei↑↓, hm→Mitfreu<strong>de</strong>, Mitleid, Neid, Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong>ja, nur (Warum isst sie das nur?)hm↑↓, hm↓, ih↑↓, nana→, pah↓, pfui↓Scham, Stolz, Verachtung, Zorneben, halt, ohnehin, übrigens, wenigstens (Sie isst dashalt.)he↑↓, na↑Abscheu, Antipathie, Ekel, Hass, Liebenun, man (Lass man gut sein!)aha↓↑, hu→, na↑Befriedigung, Erleichterung, Angst, Furcht, Hoffnung,Vertrauenbloß, gar, immerhin, ja, schon (Sie wird das schon essen.)Beispielsweise <strong>de</strong>notiert das <strong>de</strong>utsche Wort Angst eine sprachspezifische emotionaleSzene, die erstens durch die Komponenten {EM _ } und ein spezifisches(z. B. ein Panik unterschreiten<strong>de</strong>s) Intensitätsspektrum {EM INT } charakterisiertist, zweitens durch bestimmte Urteile und Bewertungen über Bedingungen dieseremotionalen Einstellung. X hat Angst, wenn er Zustän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Ereignisse(gegebenenfalls mehrere) als bedrohlich beurteilt und nicht weiß, wie die Bedrohungdurch ihn abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann, unfähig ist, einen Handlungsplan zurAbwendung <strong>de</strong>r Bedrohung zu entwerfen und hierdurch verunsichert ist:9 Für die Interpretation interjektionaler Äußerungen sind in vielen Sprachen Ton- bzw.Intonationsmuster relevant, die ich im Folgen<strong>de</strong>n durch die Zeichen ↑ (steigend), →(gleichbleibend), ↓ (fallend), ↑↓ (steigend-fallend) und ↓↑ (fallend-steigend) codiere.Die angeführten Beispiele beziehen sich auf die Interpretation <strong>de</strong>utscher Interjektionen,cf. Ehlich (1986); <strong>Fries</strong> (2002).


114particulae collectae(11) Emotionale Szene AngstX fühlt Angst genau dann wenn (1)-(5):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass negative Ereignisse Z {EM _ } geschehen wer<strong>de</strong>n(2) X will nicht, dass Z {EM _ } geschieht(3) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Z {EM _ } nicht geschieht(4) X weiß nicht, was er tun kann, damit Z {EM _ } nicht geschehen wird(5) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>sBehagens {EM _ }, {EM INT >0}Furcht unterschei<strong>de</strong>t sich von Angst unter an<strong>de</strong>rem darin, dass X zwar <strong>de</strong>nkt,dass ihm ein bedrohliches Ereignis zustoßen kann, jedoch durchaus in <strong>de</strong>r Lagesein kann, einen Handlungsplan zur Abwendung <strong>de</strong>r Bedrohung zu entwickeln.Insbeson<strong>de</strong>re jedoch fokussiert das <strong>de</strong>utsche Wort Angst <strong>de</strong>n introspektivwahrnehmbaren Gefühlszustand eines Behagens {EM _ }, <strong>de</strong>r mit einer Verunsicherungselbstrelevanter Konzepte einhergeht, <strong>de</strong>r jedoch nicht notwendig ineiner realen Bedrohung begrün<strong>de</strong>t sein muss. Das <strong>de</strong>utsche Wort Furcht fokussiert<strong>de</strong>mgegenüber eine Erwartung {EM _ }, die sich auf die Bedrohungselbstrelevanter Konzepte bezieht, und nicht die durch eine Bedrohung möglicherweiseverursachte Verunsicherung.Daher stellt sich bei einer Äußerung wie Ich habe Angst nicht notwendig dieFrage nach einem bedrohlichen Ereignis; eine Äußerung wie Ich habe Furchtwirft jedoch die Frage nach <strong>de</strong>r Ursache <strong>de</strong>r Bedrohung auf: Wir können Angsthaben, ohne dass wir wissen, weshalb. Furcht ist in<strong>de</strong>s nur dann möglich, wennman weiß, wovor man sich fürchtet. Dies erklärt, weshalb man zwar vonAngstneurosen und von Angstträumen sprechen kann, nicht aber von Furchtneuroseno<strong>de</strong>r Furchtträumen, weshalb es zwar Angsthasen gibt, Menschen, dieleicht in <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Angst zu versetzen sind, aber keine Furchthasen,weshalb Phobie-Bezeichnungen im Deutschen angemessen mit Angst übersetztwer<strong>de</strong>n und nicht mit Furcht: Denn z. B. Brückenangst (Gephyrophobie) o<strong>de</strong>rHöhenangst (Hypsiphobie) usw. sind keine Ängste vor Brücken bzw. Höhen,son<strong>de</strong>rn Zustän<strong>de</strong>, welche in <strong>de</strong>r Nähe von Brücken bzw. in <strong>de</strong>r Höhe auftreten,Krebsangst (Kanzerophobie) ist nicht die Furcht vor Krebs, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Zustand<strong>de</strong>r wahnhaften Vorstellung, an Krebs erkrankt zu sein, usw. 10Im Unterschied zu (11) ergibt sich für das <strong>de</strong>utsche Wort Furcht <strong>de</strong>mentsprechen<strong>de</strong>ine emotionale Szene wie unter (12):10 Die diachrone Entwicklung <strong>de</strong>r divergieren<strong>de</strong>n Fokussierung von Behagen bzw. Erwartung<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Substantive Angst und Furcht ist auch <strong>de</strong>r Grund ihrerunterschiedlichen Verwendungsweise in Bibelübersetzungen seit Luther, cf. Wierzbicka(1999: 123ff.); <strong>Fries</strong> (2003); zu Angst und Furcht cf. ausführlich <strong>Fries</strong> (2000, 2001,2003).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 115(12) Emotionale Szene FurchtX fühlt Furcht genau dann wenn (1)-(4):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass ein negatives Ereignis Z {EM _ } geschehen wird(2) X will nicht, dass Z {EM _ } geschieht(3) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Z {EM _ } nicht geschieht(4) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>rErwartung {EM _ }, {EM INT >0}Emotionale Szenen unterstützen unsere Fähigkeit zum Erinnern, zum Beschreibenund zum Erklären unserer Handlungen, Erlebnisse, Urteile und Wünsche:Wenn ich weiß, dass ich bei meiner Hochzeit Angst vor meinem zukünftigenLebenspartner hatte, so erinnere ich eine an<strong>de</strong>re emotionale Szene, als wenn ichweiß, dass ich bei meiner Hochzeit Furcht vor ihm hatte o<strong>de</strong>r in Panik war; undich referiere wie<strong>de</strong>rum auf jeweils unterschiedliche emotionale Szenen, wenn ichsage, dass mein ehemaliger Lebenspartner bei unserer Scheidung Unmut, Ärger,Entrüstung, Empörung, Ekel, Brass, Groll, Grimm, Wut, Zorn, Furor, Tobsuchto<strong>de</strong>r Rage auf mich hatte bzw. äußerte.5 Wut und ZornIm Folgen<strong>de</strong>n geht es um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n einzelsprachlichen ZeichenWut und Zorn.Im Gegensatz zu Zorn besitzt Wut neben einer emotionalen eine nicht-emotionaleBe<strong>de</strong>utung , wie sichbeispielsweise in <strong>de</strong>r unterschiedlichen Be<strong>de</strong>utung von Phrasen wie mit Wut andie Arbeit gehen und vor/aus Wut an die Arbeit gehen zeigt. Dieses unterschiedlicheBe<strong>de</strong>utungsspektrum restringiert auch die Begriffsbildungsmöglichkeitenmit <strong>de</strong>n Bestandteilen zorn bzw. wut : Während beispielsweise die produktivenwut-Bildungen (cf. Arbeitswut, Bauwut, Bekehrungswut, Kaufwut, Konsumwut,Lesewut, Musizierwut, Putzwut, Reformwut, Regulierungswut, Sammelwut, Vernichtungswut,Verordnungswut usw.) eine nicht-emotionale Be<strong>de</strong>utung codieren,ist dies bei Bildungen mit zorn als Letztglied nicht möglich (?? Bauzorn,?? Sammelzorn, ?? Reformzorn usw.). Dass Wut nicht notwendig auf emotionaleBe<strong>de</strong>utungsaspekte festgelegt ist, zeigt sich zu<strong>de</strong>m darin, dass leblosen ObjektenWut zugeschrieben wer<strong>de</strong>n kann (Wut <strong>de</strong>s Sturmes; Wut <strong>de</strong>r Elemente). Einenicht-emotionale Be<strong>de</strong>utungsvariante ist ebenso für Ableitungen wie wüten,wütend, -wütig konstatierbar (Die Inflation wütet mit einer Rate von mehr als 13Prozent [Saarbrücker Zeitung, 6.12.1979, S. 2]; wüten<strong>de</strong> Schmerzen; he<strong>ira</strong>tswütig,tanzwütig).


116particulae collectaeDemgegenüber ist Zorn auf die Codierung emotionaler Be<strong>de</strong>utungsaspektebeschränkt, was gleichermaßen auf alle Ableitungen mit <strong>de</strong>n Bestandteilen zorn,zürn zuzutreffen scheint. 11Wut und Zorn codieren emotionale Szenen, in welchen die introspektivwahrnehmbaren Zustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Behagens und <strong>de</strong>r Wertschätzung dominieren:(13) Am meisten schmerzt, dass die Grünen an <strong>de</strong>r FDP vorbeigezogen sind. "Das",sagt jemand, "ist die eigentliche Blamage." Zorn und Wut mischen sich in die Kommentare.Empörung über Jürgen Möllemann.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Politik, 23.09.2002]Wut und Zorn unterschei<strong>de</strong>n sich erstens in <strong>de</strong>r Relevanz von Behagen undWertschätzung für die betreffen<strong>de</strong>n emotionalen Szenen:(14) a. Mit verbissener Wut arbeiteten die Menschen am Bau <strong>de</strong>s Eisenbahndammes.[Neues Deutschland, 19.01.1949, S.3](14) b. Da sich in<strong>de</strong>ssen Aggressivität für einen an sich entspannten Charakter nichtverordnen läßt, arbeitet <strong>de</strong>r Coach daran, seinem Schützling vor je<strong>de</strong>m Rennen "inWut über irgen<strong>de</strong>twas zu versetzen". […] Eine Wut, die du brauchst, um schnell überdie Hür<strong>de</strong>n zu kommen.[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 01.09.1998, S. 25](14) c. Mit Wut im Bauch "latscht" mancher beson<strong>de</strong>rs vehement drauf.[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 15.06.1998, S. 21]d. Melodiöse Rockballa<strong>de</strong>n erzählen in einer Mischung aus lautem Klamauk,emotionaler Wut und leiser Melancholie ihre Lebensgeschichte.[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 16.06.1998, S. 32]e. Wut und Angst in Hintzes Heimatort. "Das kann nicht wahr sein, daß einer<strong>de</strong>r gefährlichsten Schwerverbrecher Deutschlands einfach aus <strong>de</strong>r Justizvollzugsanstaltflieht", schimpft Kioskbesitzerin Waltraud Grapatin, "da gehören Leute bei Polizeiund Justiz abgelöst!"[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 17.11.1998, S. 3]Ähnlich wie die <strong>de</strong>utschen Wörter Angst und Furcht sich in <strong>de</strong>r Fokussierung<strong>de</strong>r jeweils introspektiv wahrnehmbaren Zustän<strong>de</strong> unterschei<strong>de</strong>n, fokussieren die<strong>de</strong>utschen Wörter Wut und Zorn unterschiedliche interne, introspektivwahrnehmbare Zustän<strong>de</strong>: Wut fokussiert <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Behagens {EM _ },Zorn fokussiert <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Wertschätzung {EM _ }, wobei <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>sUnbehagens bei Zorn als stärker kontrollierbar als bei Wut konzeptualisiert wird.Aus diesem Grun<strong>de</strong> kann Wut als Ausdrucksphänomen von angestautem Zornversprachlicht wer<strong>de</strong>n:11 Trotz einiger poetischer Gegenbeispiele wie z. B. Die zorn'ge Welle hat sie hergescheucht(Droste-Hülshoff, Die Mergelgrube. Gedichte Ausgabe 1844, S. 59) cf.(?? he<strong>ira</strong>tszornig; ?? zornige Schmerzen; ?? <strong>de</strong>r Sturm zürnte).


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 117(15) Ein Wutschrei hallte über <strong>de</strong>n Platz und <strong>de</strong>r jahrelang aufgespeicherte Zornüber das in Westberlin herrschen<strong>de</strong> System <strong>de</strong>r Willkür und Unterdrückung brachsich Bahn.[Neues Deutschland, 26.06.1954, S. 8]Ebenso wie in <strong>de</strong>n eingangs zu diesem Beitrag zitierten Belegen ist Zorn in (17)nur mit erheblichem Be<strong>de</strong>utungsunterschied gegen Wut austauschbar; gleichestrifft auf die Austauschbarkeit von Wut mit Zorn in <strong>de</strong>n Belegen (14) und (16)zu, in welchen mit -wut <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>s Unbehagens fokussiert wird;(16) a. Doch neben Trennungsschmerz und -wut sind auch bereits die ersten Anzeicheneiner neuen Balz zu beobachten.[Oberösterreichische Nachrichten, 27.01.2000]b. Ich habe eine Mordswut, durch so etwas in Richtung Doping gerückt zuwer<strong>de</strong>n.[Frankfurter Rundschau, 04.12.1998, S. 21](17) Vielen in <strong>de</strong>r FDP galt Hil<strong>de</strong>gard Hamm-Brücher als moralische Instanz. Nunist sie aus <strong>de</strong>r Partei ausgetreten _ voller Zorn über <strong>de</strong>n Vorsitzen<strong>de</strong>n.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Politik, 25.09.2002]Fokussierung <strong>de</strong>r Wertschätzung und stärkere Kontrollierbarkeit <strong>de</strong>s Ausdrucks<strong>de</strong>s Unbehagens bei Zorn dürften die Grün<strong>de</strong> dafür sein, weshalb Intensivierungsbildungenwie in (16 b) und (18 a, b) für Zorn relativ inakzeptabel sind,cf. (18 c):(18) a. Sauwut, Stinkwutb. Je<strong>de</strong>nfalls hinterlassen die vier von nahe und live nicht <strong>de</strong>n Eindruck, diesprichwörtlichen Ausgeburten <strong>de</strong>s anarchischen, wut- und bluttriefen<strong>de</strong>n Rock zusein.[Züricher Tagesanzeiger, 06.02.1999, S. 50]c. ?? Mordszorn, Sauzorn, StinkzornDie schon in <strong>de</strong>n ältesten Sprachstufen <strong>de</strong>s Deutschen 12 nachweisbare Fokussierung<strong>de</strong>s Unbehagens und <strong>de</strong>ssen gegenüber Zorn geringere Kontrollierbarkeitbei Wut dürften die Grün<strong>de</strong> dafür sein, weshalb auch weitere Ableitungenund Zusammensetzungen mit <strong>de</strong>n Elementen wut und zorn unterschiedlichenBeschränkungen unterliegen, cf. (19):(19) a. Wutanfall, Wüterei, Wüterich, wutverzerrt, wutschäumendb. ?? Zornanfall, ?? Zürnerei, ?? Zürnerich, ?? zornverzerrt, ?? zornschäumend(akzeptabler hingegen:Zornausbruch, zornbebend, zornentbrannt, zornschnaubend)12 Z. B. ahd. wuot (Raserei, Wahnsinn), wuotn (besessen sein), aengl wod, wood (wahnsinnig,rasend); <strong>de</strong>mgegenüber ahd. und mhd. zorn auch in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von Zank,Streit.


118particulae collectaeZweitens kann <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>r Wertschätzung sowohl bei Wut als auch bei Zorneine persönlich empfun<strong>de</strong>ne Verletzung normativer Wertschätzungen betreffen.Bei Zorn ist diese persönlich empfun<strong>de</strong>ne Verletzung normativer Wertschätzungenobligatorisch, bei Wut jedoch fakultativ. Daher kann man prinzipiell Wut aufalles haben, cf. (20):(20) a. Ist es die Wut auf abgenutzte Harmonien, auf Schönklang überhaupt o<strong>de</strong>rdie Wut auf laue Sommeraben<strong>de</strong>, die die drei Musiker antreibt?[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 02.08.1999, S. 27]b. Frust, Ärger, Wut auf alles und nichts, weil sein Feuerwehrfreund Wochenspäter bei einem selbstverschul<strong>de</strong>ten Brand im Bett erstickt war.[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 08.09.1999, S. 52]c. Wut auf Handy am Steuer brachte Pech[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 27.11.1999, S. 8]d. So lenkt Wut auf Frem<strong>de</strong> von Problemen im Innern ab.[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 11.05.1999, S. 4]e. Es bleibt <strong>de</strong>r Schmerz – und Wut auf die Bahn[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 03.06.1999, S. 3]Zorn ist daher auf durch Menschen verursachte Verstöße restringiert. Im Unterschiedzur Entrüstung ist bei Zorn und gegebenenfalls bei Wut die Verletzungnormativer Wertschätzungen jedoch nicht auf moralisch-sittliche Verstößeeingeschränkt, cf. die Belege unter (21) vs. (22). Primäres Ziel <strong>de</strong>s Zorns ist <strong>de</strong>mentsprechenddie Regulierung menschlichen Verhaltens mittels Ausdruck <strong>de</strong>rWertschätzung, cf. (21); primäres Ziel <strong>de</strong>r Wut ist die Bekundung <strong>de</strong>s Unbehagens,cf. (20). Primäres Ziel <strong>de</strong>r Entrüstung ist die Regulierung moralischsittlichenVerhaltens mittels Ausdruck <strong>de</strong>r Wertschätzung; die Wertschätzungkann hierbei aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen, wie Beleg (22 a) zeigenmag: Im Unterschied zu Wut und Zorn ist Entrüstung kein Singularetantum.In <strong>de</strong>n Belegen unter (20)-(22) sind daher Wut, Zorn und Entrüstung nicht gegeneinan<strong>de</strong>raustauschbar:(21) a. Französische Bauern lassen ihren Zorn auf US-Strafzölle an McDonalds aus[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 25.08.1999, S. 3]b. Der Zorn auf viele Lehrlinge und die Qualität <strong>de</strong>r Schulausbildung stelltesogar die Wut über die Rettung <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Branche als Preisdrücker bekanntenBaugiganten Philip Holzmann in <strong>de</strong>n Schatten. Landrat Dr. Bernd Schrö<strong>de</strong>r (SPD)war <strong>de</strong>r gleichen Meinung: "Die Überbetreuung <strong>de</strong>r Jugend führt oft auch dazu, dassein junger Mensch kaum noch in <strong>de</strong>r Lage ist, für sich selber Verantwortung zuübernehmen."[<strong>Berlin</strong>er Morgenpost, 30.11.1999, S. 43]


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 119(22) a. Als diese Tennessee-Williams-Verfilmung von Meisterregisseur Elia KazanMitte <strong>de</strong>r fünfziger Jahre in die Kinos kam, waren die Entrüstungen über diesesangeblich unmoralische Südstaaten-Melodram groß, heute gilt es als Kinoklassiker.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Kultur, 09.09.1995]b. Ein geplantes Wett-Trinken für Damen sorgt in Thailand für Entrüstung.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Kultur, 17.01.2003]c. Die Goldmedaillengewinnerinnen Lavinia Milosivici und Claudia Presecansowie ihre ehemalige Teamkollegin Corina Ungureanu haben sich für das japanischeHerrenmagazin Shukan Gendai hüllenlos an <strong>de</strong>n Turngeräten fotografieren lassenund damit in ihrer Heimat einen Sturm <strong>de</strong>r Entrüstung ausgelöst.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Sport, 16.11.2002]Ebenso wie Zorn impliziert auch Empörung die persönlich empfun<strong>de</strong>ne Verletzungnormativer Werte, im Gegensatz zu Entrüstung nicht nur sittlichmoralischer:(23) a. Für Empörung sorgte in Abidjan vor allem die Abmachung, dass dieRebellen für die Besetzung <strong>de</strong>s Innen- und Verteidigungsministeriums zuständig seinsollen.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Politik, 27.01.2003]b. […] zuletzt 1969 in einem Fernsehfilm, in <strong>de</strong>m seine Empörung immerstärker als Verletzung menschlicher Gleichheitsrechte erschien.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Feuilleton, 27.01.2003]Im Unterschied zu Wut und Zorn sind bei Entrüstung und Empörung argumentativeStrategien zwecks Handlungsregulierung nicht ausgeschlossen: DurchVerhandlungen könnte ein Konsens erreichbar sein, cf. (24) und (25). PrimäresZiel <strong>de</strong>r Empörung ist allerdings <strong>de</strong>r Ausdruck <strong>de</strong>s Unbehagens zwecksRegulierung menschlichen Verhaltens, und zwar _ wie bei Entrüstung <strong>de</strong>r Ausdruck<strong>de</strong>r Wertschätzung _ aus unterschiedlichen Perspektiven; wie Entrüstungist Empörung pluralfähig, cf. (25 a):(24) Der Brief ist im Grun<strong>de</strong> ein Kooperationsangebot, vorgetragen im Brustton <strong>de</strong>rEntrüstung.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Medien, 24.08.2002](25) a. Je<strong>de</strong> Verbrechenswelle zieht unweigerlich eine Debatte über die Auswirkungenvon Gewaltdarstellungen in <strong>de</strong>n Medien nach sich. Konkrete Folgen haben dieEmpörungen selten, bestenfalls führen sie zu generellen Mahnungen vom Typ"Rauchen kann Ihrer Gesundheit scha<strong>de</strong>n".[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Medien, 01.12.1997]b. Mit Empörung habe ich erfahren, dass es in <strong>Berlin</strong> möglich ist, zwei jungeKriegsflüchtlinge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in <strong>de</strong>n Kosovo auszuweisen […]Vom Bun<strong>de</strong>sinnenminister erwarte ich, dass er die Verantwortlichen in <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rnan <strong>de</strong>n Bun<strong>de</strong>stagsbeschluss von 2001 erinnert.[<strong>Berlin</strong>er Zeitung, Ressort Lokales, 13.12.2002]


120particulae collectaeIn <strong>de</strong>r Bibel treten nicht Wut, Entrüstung o<strong>de</strong>r Empörung als WesensmerkmalJahwes auf, son<strong>de</strong>rn Zorn, was mit <strong>de</strong>n genannten Differenzen begründbar ist.Gottes Zorn verfolgt das Ziel, menschliches Verhalten zu regulieren: GottesZorn ist kein unkontrollierter Wutausbruch, son<strong>de</strong>rn steht für die kontrollierte,strafen<strong>de</strong> Gerechtigkeit, für die Reaktion auf die Verletzung göttlicher Ordnungen.Gottes Zorn ist keine Empörung, da Gott nicht über die Verletzung seinerGebote zu diskutieren beabsichtigt; Gottes Zorn ist keine Entrüstung, da es nichtnur um die Verletzung sittlich-moralischer Gesetze geht, cf. (26). Das Zornmotivist in <strong>de</strong>r Bibel vielmehr mit <strong>de</strong>r Durchsetzung <strong>de</strong>s AlleinverehrungsanspruchesJahwes (cf. ausführlich Miggelbrink 2002) und seiner Gebote allgemeinverbun<strong>de</strong>n, cf. (26 b). Entsprechend ist Zorn das beherrschen<strong>de</strong> Thema <strong>de</strong>sAlten Testaments und in seiner Distribution im <strong>de</strong>utschsprachigen Text nichtgegen Wut, Entrüstung, Empörung (o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Wörter) austauschbar:(26) a. So fürchtet euch vor <strong>de</strong>m Schwert; <strong>de</strong>nn das Schwert ist <strong>de</strong>r Zorn über dieMissetaten, auf daß ihr wißt, daß ein Gericht sei.[Das Buch Hiob (Hiob Hi 19, 29); Luther-Bibel 1912]b. Und sollst nicht an<strong>de</strong>rn Göttern nachfolgen <strong>de</strong>r Völker, die um euch hersind, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r HERR, <strong>de</strong>in Gott, ist ein eifriger Gott unter dir, daß nicht <strong>de</strong>r Zorn <strong>de</strong>sHERRN, <strong>de</strong>ines Gottes, über dich ergrimme und vertilge dich von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>.[Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium Dtn 6, 15); Luther-Bibel 1912]6 Zorn, Wut, göttliche Größe und menschliche BelastbarkeitZusammenfassend ergeben sich für die <strong>de</strong>utschen Wörter Wut, Zorn, Empörungund Entrüstung emotionale Szenen wie unter (27)-(30):(27) Emotionale Szene WutX fühlt Wut genau dann wenn (1)-(6):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass jetzt negative Ereignisse Z {EM _ } geschehen wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>rgeschehen sind(2) X will nicht, dass Z {EM _ } geschieht(3) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Z {EM _ } nicht geschieht(4) X weiß nicht, was er tun kann, damit Z {EM _ } nicht geschieht(5) X will <strong>de</strong>shalb selbst etwas Negatives {EM _ } tun(6) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>sBehagens {EM _ }, {EM INT >0}(28) Emotionale Szene ZornX fühlt Zorn genau dann wenn (1)-(7):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass Y negative Ereignisse Z {EM _ } verursacht(2) Z {EM _ } betrifft normative Werte(3) X will nicht, dass Y Z {EM _ } verursacht(4) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Y Z {EM _ } nicht verursacht


<strong>Norbert</strong> <strong>Fries</strong>: <strong>de</strong> <strong>ira</strong> 121(5) X weiß nicht, was er tun kann, damit Y Z {EM _ } nicht verursacht(6) X will <strong>de</strong>shalb etwas für Y Negatives {EM _ } tun(7) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>rWertschätzung {EM _ }, {EM INT >0}(29) Emotionale Szene EmpörungX fühlt Empörung genau dann wenn (1)-(5):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass Y negative Ereignisse Z {EM _ } verursacht(2) Z {EM _ } betrifft normative Werte(3) X will nicht, dass Y Z {EM _ } verursacht(4) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Y Z {EM _ } nicht verursacht(5) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>sBehagens {EM _ }, {EM INT >0}(30) Emotionale Szene EntrüsungX fühlt Entrüstung genau dann wenn (1)-(4):(1) X <strong>de</strong>nkt, dass Y negative Ereignisse Z {EM _ } verursacht(2) Z {EM _ } betrifft moralisch-sittliche Werte(2) X will nicht, dass Y Z {EM _ } verursacht(3) X will <strong>de</strong>shalb etwas tun, damit Y Z {EM _ } nicht verursacht(4) X ist <strong>de</strong>shalb im introspektiv wahrnehmbaren Zustand <strong>de</strong>rWertschätzung {EM _ }, {EM INT >0}Seneca gab mit Demokrit <strong>de</strong>n durchaus auch in unserer Zeit beachtenswertenRat, dass Seelenfrie<strong>de</strong>n nur <strong>de</strong>m beschie<strong>de</strong>n sei, <strong>de</strong>r sich we<strong>de</strong>r privat noch für<strong>de</strong>n Staat überfor<strong>de</strong>rt. Dies sei eine <strong>de</strong>r Bedingungen, Zorn und Wut zu vermei<strong>de</strong>n,<strong>de</strong>nn: "Numquam tam feliciter in multa discurrenti negotia dies transit, utnon aut ex homine aut ex re offensa nascatur, quae animum in <strong>ira</strong>s paret." 13Die Zitate aus Schillers Gedicht zu Beginn dieses Beitrags zeigen, dass <strong>de</strong>mgegenübernach Auffassung unseres großen Klassikers <strong>de</strong>r Zorn ein Volk ehrt,falls es sich gegen unwürdig zugefügtes Leid zur Wehr setzt.Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle taten also gut daran, ihre Äußerungennicht mit Wut son<strong>de</strong>rn mit Zorn in Verbindung zu setzen, ebenso wieGerhard Schrö<strong>de</strong>r laut <strong>de</strong>n Belegen unter (31):(31) a. "Alle bleiben aufgefor<strong>de</strong>rt, nicht auf wichtigtuerisches Gehabe undparteipolitische Symbolik anstelle sachgerechter Politik zu setzen", diktierte <strong>de</strong>rKanzler im Zorn. Alle? Beson<strong>de</strong>rs einer. Trittin. Der, so gnädig ist Schrö<strong>de</strong>r,immerhin "eingela<strong>de</strong>n" bleibt, am Energiekonsens mitzuwirken.13 "Nie geht so glücklich einem Vielgeschäftigen <strong>de</strong>r Tag dahin, daß ihm nicht durcheinen Menschen o<strong>de</strong>r ein Ereignis Unbill erwüchse, die in ihm Zorn hochkommen läßt."(Seneca in De <strong>ira</strong>. Liber 1. Übersetzung von Gerhard Fink 1992:237).


122particulae collectae[Frankfurter Rundschau, 23.12.1998, S. 3](b) Im Streit um die Liefergenehmigung für einen Testpanzer an die Türkeiwächst bei Schrö<strong>de</strong>r nach Darstellung <strong>de</strong>r «Welt am Sonntag» <strong>de</strong>r Zorn auf <strong>de</strong>nKoalitionspartner. Schrö<strong>de</strong>r habe kein Verständnis für die Argumente <strong>de</strong>r Grünen.[St. Galler Tagblatt, 25.10.1999]Eine Äußerung im Zorn bekun<strong>de</strong>t die Absicht, normative Wertschätzungenzurechtrücken zu wollen, wenngleich auch nicht notwendig in einem Konsens.Politisch ist Zorn – ebenso wie in <strong>de</strong>r Bibel - einigermaßen erfolgreich, wie (32)in Relation zu (31 a) belegt, obwohl sich <strong>de</strong>r Vorwurf, bei Überfor<strong>de</strong>rung zuunkontrollierten Affektausbrüchen zu neigen, nicht immer vermei<strong>de</strong>n lässt:(32) Keinen Kommentar gab es von Umweltminister Trittin – wohl, um sich nichtwie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zorn <strong>de</strong>s Kanzlers zuzuziehen. Angeblich hat Schrö<strong>de</strong>r in einemWutanfall gedroht, Trittin zu entlassen, weil dieser die von Schrö<strong>de</strong>r gegenüber <strong>de</strong>rAutoindustrie gemachten Zusagen nicht umgesetzt hatte.[Oberösterreichische Nachrichten, 23.06.1999]So o<strong>de</strong>r so wirft <strong>de</strong>r Zorn je<strong>de</strong>nfalls eine göttliche Aura auf unsere Politiker, dienicht nur gnädig und unselig sein können (cf. 31 a: 33), son<strong>de</strong>rn selbst auch alsResultat nicht immer gnädiger Handlungen Gottes empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können:(33) […] mit ihrer unseligen Erklärung im Herbst 1969 habe die damaligeBun<strong>de</strong>sregierung – "die Gott im Zorn eingesetzt haben muß" – die staatsrechtlicheAnerkennung <strong>de</strong>r "DDR" als zweitem Staat auf <strong>de</strong>utschem Bo<strong>de</strong>n vollzogen.[Die Welt, 18.11.1974, S. 1]LiteraturangabenAnscombe, G.E.M. / Wright, G.H. von (eds.) (1967): Zettel. Oxford.Athanasiadou, Angeliki/Tabakowska, Elzbieta (1998): Speaking of Emotions. Conceptualisationand Expression. <strong>Berlin</strong> etc.Colton, Helen (1983): The gift of touch: how physical contact improves communication,pleasure, and health. New York.Davidson, Richard J./Goldsmith, H. Hill/Scherer, Klaus R. (ed.) (2002): Handbook of theAffective Sciences. New York/Oxford.Ehlich, Konrad (1986): Interjektionen. Tübingen.Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. <strong>Berlin</strong> etc..Fink, Gerhard (1992): L.Annaeus Seneca, Die kleinen Dialoge. Band 1. München.<strong>Fries</strong>, <strong>Norbert</strong> (1990-1996): Sprache und Pragmatik (S&P). Lund, Bän<strong>de</strong> 17 [1990], 23[1991], 30 [1992], 33 [1994], 38 [1996].<strong>Fries</strong>, <strong>Norbert</strong> (1996): "Grammatik und Emotionen". LiLi 1996/26 (101): 37–69.<strong>Fries</strong>, <strong>Norbert</strong> (2000): Sprache und Emotionen. Bergisch-Gladbach.<strong>Fries</strong>, <strong>Norbert</strong> (2001): "Auslassungsphobie (Paralipophobie) o<strong>de</strong>r Die exzessive Angst,ein Wort zu übersehen". Göttinger Beiträge zur Sprachwissenschaft 6/2001: 43–62.<strong>Fries</strong>, <strong>Norbert</strong> (2002): Interjektionen. In: Lexikologie. [HSK] <strong>Berlin</strong> etc.


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