111 - Zeidner Nachbarschaft
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Titelthema<br />
Ich kehr wieder<br />
Der Oberpfälzer Reinhard Ferstl (rechts), verheiratet mit der<br />
<strong>Zeidner</strong>in Harda Kuwer, tauchte für ein paar Tage in eine ihm<br />
wenig bekannte Welt voller Widersprüche ein.<br />
Ob Gott mir die rechte Gunst erweisen wollte oder<br />
nur eine recht günstige Gelegenheit sah, mich zu prüfen,<br />
weiß ich immer noch nicht. Fordern indes wollte<br />
er mich gewiss, denn aus der westlichen Wellnesswelt<br />
auf den Balkan geworfen zu werden hat wenig mit<br />
entspanntem Tourismus zu tun. Zugute kam mir immerhin<br />
eine knapp 30-jährige Vorbereitungsphase, in<br />
der ich, um mir die geografi schen, kulturellen, linguistischen<br />
und ethnischen Grundkenntnisse anzueignen,<br />
zur Sicherheit eine <strong>Zeidner</strong>in geheiratet hatte. Was sich<br />
im Nachhinein als völlig unnötig erwies, denn vor Ort<br />
warteten gut und gern 200 Reiseführer, die alle viel<br />
über dieses traute Plätzchen am Burzenstrand zu erzählen<br />
wussten.<br />
Der Reihe nach. Nach der Landung am Flughafen von<br />
Bukarest und einer Fahrt durch die recht fremd anmutende<br />
Tiefebene wurde es in den Karpaten alpenidyllisch<br />
vertraut. Hinter dem österreichisch eingefärbten<br />
Kronstadt dann Zeiden. Ganz so traut und schön hatte<br />
ich mir das Städtchen nun doch nicht vorgestellt: Am<br />
Ortseingang grüßte erst einmal Lidl. Nach kurzer Fahrt<br />
durch die <strong>Zeidner</strong> City die Ankunft in Annes blitzblanker<br />
Pension. Ich entspannte: Hierhin ließ es sich vor feierwütigen<br />
Sachsen vorzüglich fl üchten.<br />
In den ersten Tagen standen aber zunächst die wichtigsten<br />
Sehenswürdigkeiten Rumäniens auf dem Programm:<br />
Neugasse, Langgasse, Hintergasse, Marktgasse,<br />
noch einmal Neugasse, Schwarze Kirche, Peleş und Bran.<br />
Danach, über Weg und Steg zu erreichen, Bergelchen<br />
mit herrlichem Blick auf die Ebene, Schulfest, Schakerack<br />
und Neugasse. Schließlich Kirchenburg, Schule und<br />
Friedhof. Ach ja, und natürlich Neugasse.<br />
Vor der zweiten Hälft e des Aufenthalts war ich gewarnt:<br />
Wie <strong>Zeidner</strong> feiern – auch tagelang –, hatte ich<br />
aus sicherer Entfernung schon des Öft eren beobachten<br />
können. Worauf mich niemand vorbereitet hatte: Wie<br />
10 | zeidner gruß <strong>111</strong><br />
<strong>Zeidner</strong> feiern, wenn sie von Bergespracht umkränzte<br />
Heimaterde unter sich spüren.<br />
Das erste Grollen kündigte sich in Form von vier Krügen<br />
pro Tisch an. Zwei Wein, zwei Pali! Die Weingläser<br />
machte ich nach kurzer Suche aus, aber wo waren die Gläser<br />
für den Schnaps? Doch nicht etwa die Wasserglä...?<br />
Doch.<br />
Drei Tage Fest – und mit jedem Tag wurde der Abend<br />
länger und die Nacht kürzer. Staunend erlebte ich mit,<br />
wie Leute miteinander tanzten, die sich Jahrzehnte nicht<br />
mehr gesehen hatten und doch vertraut wie Freunde geblieben<br />
waren. Da war ein ständiges Wandern von Tisch<br />
zu Tisch, ein fortwährendes Wiederkehren und Wiedersehen.<br />
Und als ich den Eindruck hatte, dass mancher<br />
Zecher beim Wein schon längst seine letzten Reserven<br />
verbraucht hatte, wurde die Stimmung erst so richtig<br />
ausgelassen. Selbst gestandene Mannsbilder schwebten<br />
heimatselig über den Tanzboden der Schwarzburg und<br />
träumten, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, von<br />
reizenden Mägdelein. Nicht einmal vor rumänischen<br />
Tänzen schreckte man zurück (ich wurde selbst unverschuldet<br />
in einen verwickelt).<br />
Anrührender Höhepunkt war schließlich ein großer<br />
Kreis aus Dutzenden <strong>Zeidner</strong>n, die alle ihre alten Lieder<br />
noch auswendig kannten und begeistert von der Perle<br />
im schönen Heimatland oder der Hintergasse sangen,<br />
während sich in der Mitte die Musikanten abwechselten.<br />
Kann eigentlich jeder <strong>Zeidner</strong> Akkordeon spielen?<br />
Sicher träumte in diesen Nächten mancher insgeheim,<br />
er ginge nie wieder fort. Letzten Endes dürft e aber doch<br />
jeder wieder seinen Koff er gepackt haben, wenn auch keiner<br />
ganz ohne Wehmut geschieden sein wird. Denn alle<br />
Teilnehmer müssen, nachdem die Euphorie abgeklungen<br />
ist, das große Fest zwangsläufi g als das begreifen, was es<br />
ist: als Nostalgieveranstaltung, ja, womöglich sogar als<br />
Tanz auf der Titanic.<br />
Auch mir fi el der Abschied schwer aus diesem Land,<br />
das so bunt ist wie der Rock einer Zigeunerin (wobei das<br />
Blaue und Rote allerdings zusehends verblasst). Und das<br />
die krassesten Gegensätze vereint. Wo sonst existieren<br />
Verfallendes und Neues ... Korruption und freie Wirtschaft<br />
... Bürgerstolz und Bettlerelend ... Pferdefuhrwerk<br />
und Geländewagen so nah beieinander?<br />
Immerhin: Wie fast alle <strong>Zeidner</strong> „iwàr Hattàrt“ habe<br />
auch ich jetzt noch einen Koff er in diesem so schmucken<br />
und schönen Städtchen. Denn ich bin als Reichsdeutscher<br />
hingefahren und als reicherer Deutscher zurückgekommen.<br />
Reinhard Ferstl, Ottobrunn<br />
(Ehemann von Harda Kuwer-Ferstl)