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1- <strong>GRUNDLAGEN</strong><br />

Im Brennpunkt des Interesses steht die Europäische Union (EU). Was aber<br />

ist die EU ? Sicherlich weder „Reich“ noch „Nation“; zwei Gebilde, die viel Unheil<br />

über Europa brachten. Aus historischer Sicht ist die EU zunächst der – jedenfalls<br />

in den letzten Jahrhunderten einzigartige 1 – Versuch, Europa politisch<br />

zu einigen, und hierbei der erste gewaltlose und vielleicht deshalb so<br />

dauerhafte und – wenn auch schwierige – so doch erfolgreiche Versuch. Aus<br />

ideeller Sicht stellt die EU die mit Abstand wichtigste Realisierung eines gesamteuropäischen<br />

Konzepts der dauerhaften Friedenssicherung dar 2 , das<br />

die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig geprägt hat<br />

und trotz oder gerade auf Grund des vielzitierten Endes „der Geschichte“<br />

bzw. des „Kalten Krieges“ weiter und immer tiefgreifender prägt.<br />

Außer der Feststellung in Artikel 1 Abs. 2 EU 3 , dass nunmehr eine neue Stufe<br />

bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas erreicht<br />

ist, geben die „grundlegenden Verfassungsurkunden“ 4 auch nach In-<br />

Kraft-Treten des Amsterdamer Vertrags 5 und der Unterzeichnung des neuen<br />

Vertrags von Nizza 6 wenig Auskunft auf die Frage nach der rechtlichen Charakterisierung<br />

bzw. – allgemeiner formuliert – nach dem Wesen der Euro-<br />

11<br />

1- Grundlagen<br />

1 Man wird in diesem Zusammenhang etwa die militärischen „Einigungsversuche“ eines Napoleons<br />

oder Hitlers kaum ernsthaft in einem Atemzug nennen wollen.<br />

2 Euphorisch formuliert vielleicht sogar ein Stück des „Wegs zum ewigen Frieden“ im Sinne<br />

Kants (1795). Nimmt das Europarecht doch etwa mit den Freizügigkeitsregelungen der<br />

Unionsbürgerschaft durchaus den Kantschen Denkansatz auf („Weltbürgerrecht“): Das<br />

Unionsbürgerrecht rangiert weitgehend vor der Souveränität der EU-Mitgliedstaaten, und<br />

es ist zugleich – nicht nur als Basis des Binnenmarktes – „denknotwendige Voraussetzung“<br />

der Union.<br />

3 Die Verträge werden entsprechend der vom Europäischen Gerichtshof herausgegebenen<br />

neuen „Zitierhinweise“ (Tätigkeitsbericht Nr. 21/99, S. 35 = NJW 2000, S. 52) zitiert, d.h.<br />

insbesondere mit „EU“ (statt EU-Vertrag) und „EG“ (statt EG-Vertrag), soweit die aktuellen,<br />

nach dem 1.5.1999 geltenden Fassungen der Verträge von Amsterdam bzw. Nizza gemeint<br />

sind; für die älteren Vertrags-Fassungen verbleibt es bei der Zitierweise EUV bzw. EGV /<br />

EWGV.<br />

4 So der Ausdruck des EuGH, vgl. Slg. 1991, I-6079 - EWR-Gutachten -.<br />

5 Am 1. Mai 1999; vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7437 vom 1.4.1999, S. 3; ABl. 1999 Nr. L<br />

114/56 und Nr. C 120/24.<br />

6 Der Vertrag wurde am 26. Februar 2001 feierlich von den EU-Außenministern in Nizza unterzeichnet;<br />

seine Ratifikation in allen Mitgliedstaaten ist nach der Ablehnung der Iren in der<br />

Volksabstimmung vom 7. Juni 2001 fraglich, könnte jedoch auch weiterhin u.U. bis Ende<br />

2002 abgeschlossen sein.<br />

1<br />

2


3<br />

1- Grundlagen<br />

päischen Union. Anders als etwa die EG 7 , ist die EU jedenfalls vertragsrechtlich<br />

nicht ausdrücklich mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit versehen worden.<br />

Dementsprechend kann sie zunächst (nur) als „politische Organisation“<br />

eingestuft werden. Von der Ebene der EU sollen die für die europäische Integration<br />

erforderlichen Impulse und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen<br />

ausgehen 8 .<br />

Es ist offensichtlich, dass das Wesen der Europäischen Union durch eine<br />

(vielen geradezu unheimliche) Dynamik des Integrationsprozesses gekennzeichnet<br />

ist 9 . Aus diesem Grund kann ohnehin immer nur eine Momentaufnahme<br />

gelingen. Kein Staat und keine Internationale Organisation wandelt<br />

sich – auch in den Grundlagen – derart rasch und umfassend wie die EU. Gerade<br />

erst brachte der Vertrag von Amsterdam 1997/1999 nach der Einheitlichen<br />

Europäischen Akte 1986/1987 und dem Maastrichter Vertrag 1992/<br />

1993 die dritte tiefgreifende Fortentwicklung, schon sind die Reformen des<br />

neuen Vertrags von Nizza (2001) im Ratifizierungsverfahren 10 . Zudem steht –<br />

auch seit der Umsetzung der Agenda 2000 11 – die Osterweiterung vor der<br />

Tür, von der sicher gesagt werden kann, dass sie der Union ein umfassend<br />

anderes, neues Gesicht verleihen wird. Grenzen dieser Dynamik bzw. des Integrationsprozesses<br />

werden allenfalls theoretisch durch das in Artikel 2 Abs.<br />

2EUund5Abs.2EG 12 genannte Subsidiaritätsprinzip gesetzt bzw. durch die<br />

7 Vgl. Art. 281 EG: Die Gemeinschaft besitzt Rechtspersönlichkeit; und Art. 282 EG: Die Gemeinschaft<br />

besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit,<br />

die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist; sie kann insbesondere<br />

bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor<br />

Gericht stehen. Zu diesem Zweck wird sie von der Kommission vertreten.<br />

8 Vgl. Art. 4 Abs. 1 EU: Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen<br />

Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung<br />

fest.<br />

9 Wenn man – frei nach Hegel – das „Wesen“ als dasjenige begreift, „was in der Veränderung<br />

gleichbleibt“, könnte man der EU womöglich auf Grund ihrer umwälzenden Dynamik überhaupt<br />

kein „Wesen“ zusprechen wollen. Allerdings wird die EU bspw. als Wertegemeinschaft<br />

durchaus auch von relativ statischen rechtspolitischen Grundlagen und ethischen<br />

Zielen geprägt; vgl. 4.3.1- Europäische Werteordnung.<br />

10 De Gaulle sagte in Bezug auf die europäischen Verträge den berühmt gewordenen Satz:<br />

„Verträge sind wie Rosen; sie halten sich so lange, wie sie sich halten.“<br />

11 KOM (97) 2000 endg., Bulletin der EU, Beilage 5/97. Das Projekt „Agenda 2000“ umfasst<br />

rund 20 Legislativmaßnahmen, mit denen die EU insbesondere osterweiterungsfähig gemacht<br />

werden soll. Die Agenda 2000 reformiert im Wesentlichen die Gemeinsame Agrarpolitik,<br />

die Strukturpolitik und definiert für den Zeitraum 2000-2006 mit der Finanziellen Vorausschau<br />

den EU-Finanzrahmen; vgl. im Internet unter:<br />

http://europa.eu.int/comm/agenda2000/index_de.htm.<br />

12 Art. 5 Abs. 2 EG lautet: In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen,<br />

wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die<br />

12


in Artikel 6 Abs. 3 EU normierte Pflicht der Union, die nationale Identität der<br />

Mitgliedstaaten zu achten. Beide Grenzen jedoch sind nicht wirklich justiziabel<br />

und damit „wachsweich“.<br />

Das Wesen der EU unterliegt mithin einem permanenten Wandel und ist inhaltlich<br />

nur schwer plastisch zu beschreiben. Die Europäische Union in ihrer<br />

Gestalt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nur sehr bedingt mit der ursprünglichen<br />

Montanunion nach dem Ende des 2. Weltkriegs „auf einen Nenner zu<br />

bringen“ 13 . Voraussichtlich wird sie auch nach Abschluss der Osterweiterung<br />

mit der heutigen Gestalt nur noch wenig gemein haben. Jeder Versuch, das<br />

Wesen der EU mit den herkömmlichen völker- und staatsrechtlichen Kategorien<br />

zu umreißen, ist schon aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt. Mit<br />

solchen Kategorien kann sich der EU wohl nur im Sinne der Abgrenzung genähert<br />

werden: Ausgesagt werden kann etwa, dass die Union weder ein<br />

Staatenbund oder eine Internationale Organisation noch ein Bundesstaat ist.<br />

Die Beschreibung der EU als Staatenbund, d.h. als einen mehr oder weniger<br />

engen Zusammenschluss räumlich beieinander liegender Staaten zur Koordinierung<br />

der verschiedenen nationalen Interessen wird dem Umstand nicht<br />

gerecht, dass die Union inhaltlich weit über eine klassisch-diplomatische<br />

Staatenzusammenarbeit hinausgeht. Auch wenn etwa De Gaulle in den<br />

sechziger Jahren mit seinem Konzept des „Europas der Vaterländer“ ein dem<br />

Deutschen Bund (1815–1848/1866) oder der heutigen Gemeinschaft Unabhängiger<br />

Staaten (GUS) vergleichbarer Staatenbund vorgeschwebt haben<br />

mag, ist die Realität doch klar über solche Vorstellungen hinaus gegangen.<br />

Anders als ein Staatenbund hat die EU insbesondere Rechtsetzungsbefugnisse<br />

und hat im Laufe der Jahre auch Abertausende, direkt bindende Rechtsakte<br />

erlassen, bekannt unter dem Begriff des „acquis communautaire“ 14 . Schon dieses,<br />

die nationalen Rechtsordnungen mittlerweile umfassend überlagernde<br />

Europarechtssystem macht deutlich, dass die EU bei weitem „mehr“ ist als<br />

ein bloßer Staatenbund. Längst ist ein rechtlicher und politischer Integrationsstand<br />

erreicht, der es mit sich bringt, dass im Rahmen der EU von wirk-<br />

13<br />

1- Grundlagen<br />

Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend<br />

erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser<br />

auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.<br />

13 Wobei allerdings die integrationspolitischen Ziele des der Montanunion zugrundeliegenden<br />

Schuman-Plans noch immer ziemlich aktuell sind.<br />

14 Oder: Gemeinschaftlicher Besitzstand; vgl. ausführlich unter 1.1.5- Acquis communautaire.<br />

4<br />

5


6<br />

7<br />

1- Grundlagen<br />

lich „unabhängigen“ oder „selbständigen“ Staaten wohl nicht ernsthaft mehr<br />

die Rede sein kann. Bei genauerer Betrachtung sind die Mitgliedstaaten wohl<br />

allenfalls noch aus theoretischer Perspektive – durch ihre Vertragsänderungsbefugnis<br />

– „Herren der Verträge“ 15 . Drastischer formuliert: Blind ist, wer<br />

die massive Einschränkung mitgliedstaatlicher Souveränität auf immer weiteren<br />

Politikfeldern durch die europäische Integration nicht sieht und weiterhin<br />

von einem „Staatenbund“ spricht.<br />

Die EU ist ebenso weit mehr als eine bloße Internationale Organisation,<br />

d.h. nur sehr bedingt vergleichbar mit etwa der UNO, dem Europarat oder der<br />

WTO. Zwar kann auch die Union unter die weitgefasste Definition der „auf<br />

Dauer angelegten Verbindung zwischen Staaten mit mindestens einem gemeinsamen<br />

Organ zur Willensbildung“ 16 subsumiert werden. Zwar vertreten<br />

die völkerrechtlich geprägten Traditionalisten die Auffassung, dass auch das<br />

Unionsrecht Völkerrecht sei; schließlich seien die Gründungsverträge völkerrechtlicher<br />

Natur, durch Völkerrecht entstanden und regelten insbesondere<br />

das gegenseitige Verhältnis der Mitgliedstaaten, die wiederum Völkerrechtssubjekte<br />

seien. Eine solche Deutung der EU als „völkerrechtliches Subsystem“<br />

wird ihren Besonderheiten jedoch nicht hinreichend gerecht. Im Sinne<br />

der Autonomisten ist vielmehr festzustellen, dass die Union eine „eigenständige“<br />

Rechtsordnung sui generis 17 geschaffen hat. Die sich aus dem Gesamtzusammenhang<br />

der Gründungsverträge ergebende Struktur weist erhebliche<br />

Unterschiede zu anderen völkerrechtlichen Verträgen auf. Die EU hat<br />

sich gewissermaßen im Laufe der Zeit vom Völkerrecht losgelöst und sollte<br />

mithin auch insoweit besser als „etwas Anderes und Neues“ charakterisiert<br />

werden.<br />

Insbesondere unterscheidet sich die EU von klassischen Internationalen Organisationen<br />

oder einem Staatenbund durch ihre supranationalen Elemente.<br />

15 Ein „Zurückholen“ substantieller Kompetenzen von der europäischen auf die nationale Ebene<br />

erscheint europapolitisch ziemlich utopisch bzw. europarechtlich im Rahmen des Vertragsänderungsverfahrens<br />

des Art. 48 EU, das u.a. eines europaweiten Konsenses bedarf,<br />

auch in praktischer Hinsicht relativ unwahrscheinlich. Das dürfte selbst dem insoweit viel zitierten<br />

„Post-Nizza-Prozess“ mit seinem Projekt der Kompetenzabgrenzung kaum gelingen.<br />

Zudem sind die Gründungsverträge mit Ausnahme der Montanunion auf unbegrenzte<br />

Zeit errichtet (vgl. Art. 51 EU), d.h. ein Austritt oder eine „Kündigung“ ist weder vorgesehen<br />

noch aus juristischer Sicht möglich; vgl. Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998,<br />

Kap. 1 RdNr. 21 ff.<br />

16 Vgl. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 9. Aufl. 1997, § 49 RdNr. 800.<br />

17 So auch der EuGH, Slg. 1964, 1141 - Costa/ENEL -.<br />

14


Im Rahmen der EU gilt nicht das Prinzip der Einstimmigkeit bzw. des Vetorechts<br />

jedes Vertragsstaats, sondern vielmehr der Grundsatz des Mehrheitsbeschlusses<br />

18 . Und darüber hinaus werden im Rahmen der EU nicht nur<br />

rechtliche Bindungen zwischen den Vertragsstaaten geschaffen, die durch<br />

nationale Gesetze für den Bürger umgesetzt, transformiert werden müssen.<br />

Das eigentliche Europarecht stellt sich vielmehr als rechtlicher „Durchgriff auf<br />

den Bürger“ dar, d.h. schafft unmittelbar mit seinem Erlass auch vor nationalen<br />

Behörden und Gerichten durchsetzbare Rechte und Pflichten 19 . Insoweit<br />

kann der EU sogar ein staatsähnlicher Charakter zugesprochen werden.<br />

Und dennoch ist die Union wohl – derzeit – kein Staat, und zwar weder ein<br />

„unvollendeter Bundesstaat“ (Hallstein) noch ein „Vor-Bundesstaat“. Natürlich<br />

weist die EU verschiedentlich (prä-) föderale Züge auf. Natürlich haben<br />

etwa die Europäische Währungsunion oder der Amsterdamer Vertrag der EU<br />

Hoheitsbefugnisse zugedacht, die sonst nur Staaten inne haben. Auch kann<br />

das „Staatsgebiet“ mit dem Territorium der heutigen 15 Mitgliedstaaten 20<br />

exakt abgegrenzt werden. Dennoch fehlen der Union nach den Kriterien der<br />

klassischen Staatslehre 21 wohl – jedenfalls noch – wesentliche Eigenschaften<br />

von Staatlichkeit.<br />

Insbesondere muss an einer ausreichend umfassenden „Staatsgewalt“ gezweifelt<br />

werden, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Die EU<br />

ist nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 22 konstruiert, hat<br />

mithin keine „Kompetenz-Kompetenz“, d.h. darf (jedenfalls rechtstheoretisch)<br />

nicht verbindlich über die eigene Zuständigkeit entscheiden. Sie ist zur<br />

Ausweitung ihrer Befugnisse strukturell auf Vertragsergänzungen nach<br />

Art. 48 EU 23 angewiesen. Die „Gewalt“ der EU ist auch insoweit begrenzt, als<br />

15<br />

1- Grundlagen<br />

18 Vgl. etwa Art. 205 Abs. 1 EG: Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, beschließt<br />

der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder.<br />

19 Ausdrücklich geregelt für die Verordnung und Entscheidung in Art. 249 Abs. 2 und 4 EG: Die<br />

Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in<br />

jedem Mitgliedstaat. Die Entscheidung ist in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die<br />

sie bezeichnet.<br />

20 Die 6 Gründerstaaten: D/F/I/BeNeLux sowie (Norderweiterung 1973) GB / IRL / DK, (Süderweiterung<br />

1981) GR, (und 1986) P/E,(EFTA-Erweiiterung 1995) A/S/FIN.<br />

21 Vgl. Franke, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1998, 1.Teil, II. 4.<br />

22 Siehe etwa Art. 5 Abs. 1 EG: Die Gemeinschaft wird (nur) innerhalb der Grenzen der ihr in<br />

diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. Ausführlich zu diesem<br />

Prinzip und seinen Durchbrechungen unter 1.2.8- Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.<br />

23 Art. 48 EU: Die Regierung jedes Mitgliedstaats oder die Kommission kann dem Rat Entwür-<br />

8<br />

9


10<br />

1- Grundlagen<br />

sie „nur“ Rechtsgemeinschaft ist, d.h. selbst (noch) kaum über eigene Zwangsmittel<br />

vollstreckungsmäßiger, polizeilicher oder militärischer Art verfügt. Mangels<br />

Kompetenz-Kompetenz und Zwangsmittel aber kann die EU nicht wirklich<br />

als „souverän“ bezeichnet werden. Zudem hat die EU keine umfassende Gebietshoheit,<br />

wie sie für Staaten erforderlich ist, d.h. die EU kann über ihren<br />

„räumlichen Geltungsbereich“ grundsätzlich nicht selbst verfügen. Gleiches gilt<br />

bezüglich der Personalhoheit. Diese liegt nach wie vor weitgehend bei den Mitgliedstaaten.<br />

Auch die in den Artikel 17–22 EG geregelte Unionsbürgerschaft 24<br />

knüpft nur an die Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten an.<br />

Schließlich kann diskutiert werden, ob die Völker der Mitgliedstaaten trotz ihrer<br />

Vielfalt tatsächlich (schon) zu einer politischen Willenseinheit, zu einem<br />

europäischen „Staatsvolk“ zusammengewachsen sind. Hierfür lassen sich<br />

Argumente finden: Zwar ist jeder Unionsbürger natürlich zunächst im Sinne<br />

der nationalen Geschichts-, Sitten- und Sprachgemeinschaft Deutscher,<br />

Franzose, Brite usw. 25 Und auch der EU geht es selbstredend nicht darum,<br />

die Nationen als politische Instanzen und Akteure zu „entmachten“ 26 . Dies<br />

fe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen...Die Änderungen treten<br />

(erst und nur dann) in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen<br />

Vorschriften ratifiziert worden sind.<br />

24 Art. 17 EG: Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit<br />

eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale<br />

Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht. Die Unionsbürger haben die in diesem Vertrag<br />

vorgesehenen Rechte und Pflichten; vgl. ausführlich unter 1.1.4- Unionsbürgerschaft.<br />

25 Wobei allerdings die Frage erlaubt sein muss, ob insbesondere das Zusammengehörigkeitsgefühl<br />

gerade der Deutschen tatsächlich so groß ist, ob beispielsweise die landsmannschaftliche<br />

Verbundenheit eines Badener mit etwa einem Bremer tatsächlich substantiell<br />

„tiefer“ ist als die mit einem Elsässer?<br />

26 Dies wird auch von überzeugten Europäern immer wieder betont. Vgl. z.B. die Ausführungen<br />

des Ex-Kommissionspräsidenten Delors: „Eine Verfassung für Europa darf nicht bedeuten,<br />

dass die Nationalstaaten abgeschafft werden. Dies wäre ein historischer Irrtum. Wir<br />

müssen eine Föderation von Nationalstaaten schaffen. Der Nationalstaat ist ein unverzichtbares<br />

Bindeglied der europäischen Gesellschaften, zwischen bottom-up und top-down...“;<br />

zit. nach: Die Zeit Nr. 6 v. 1.2.2001, S. 3. In diesem Sinne wird auch auf repräsentativer europäischer<br />

Ebene keineswegs von der „Utopie des europäischen Großstaates“ geträumt, in<br />

dem die historisch gewachsenen und politisch geformten Nationalstaaten aufgehen; vgl. zu<br />

diesen Befürchtungen Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und<br />

rechtlicher Bindung, in: DVBl. 1999, S. 637/649 sowie Stolleis, Der Koloss darf nicht nur<br />

marschieren, in: FAZ v. 26.6.1998, S. 45. Ein literarisches Beispiel zur Utopie der<br />

„EU-Nation“ findet sich bei Werfel: „Den Grundnationen Europas aber erging es so, wie es<br />

den alten Wanderstämmen ihrer Väter ergangen war, aus denen sie während des römischen<br />

Altertums entstanden sind. Sie vermischten sich zu einer größeren Einheit, der ältesten<br />

Kontinentalnation der Alten Welt. Die nationalistischen Weltkriege vorher waren nichts<br />

anderes als letzte Zuckungen eines überalterten provinziellen Tribalwesens...“, in: Stern der<br />

Ungeborenen, 1949, S. 206.<br />

16


edeutet allerdings nicht, dass sich ein Deutscher, Franzose oder Brite nicht<br />

in der Regel sehr wohl gleichzeitig als „Europäer“ fühlen kann, und dies<br />

durchaus auch und gerade in Abgrenzung zu („bloßen“) Angehörigen von –<br />

jedenfalls ferneren – Drittstaaten. Hier findet sich noch heute das alte psychologische<br />

Phänomen, dass sich ein „Wir-Gefühl“ besonders dann ausprägt,<br />

wenn es gegen und nicht für etwas geht 27 .<br />

Eine nationale Identität und Emotionalität wird durch die europäische Realität<br />

mithin nicht ausgeschlossen 28 , sie ist aber europäisch überlagert. Unter der<br />

gemeinsamen europäischen Identität leben nach wie vor viele, einander<br />

überlappende und durchaus nicht oberflächliche „Teilidentitäten“ 29 . Die EU<br />

hat im Laufe der Jahre eben auch eine gewisse – durchaus rational begründbare<br />

– emotionale Bindung der Unionsbürger untereinander wachsen lassen,<br />

die sich in weiten Teilen aller Bevölkerungsschichten und Gruppen finden<br />

lässt 30 . Gerade in Deutschland wird vielfach der auf Grund des Dritten Reiches<br />

gehemmte Nationalstolz durch einen gewissen persönlichen Stolz auf<br />

das Europäertum ersetzt, auch wenn dieser noch kaum als „europäischer<br />

Patriotismus“ bezeichnet werden kann. Ihre kulturellen Wurzeln hat eine solche<br />

europäische Identität – neben der Antike 31 – vor allem in Renaissance<br />

und Humanismus, Reformation und Gegenreformation, Säkularisation und<br />

Aufklärung sowie den politischen und industriellen Revolutionen. Aus alledem<br />

hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine „europäische Wertegemeinschaft“ herausgebildet,<br />

die insbesondere auf den Menschenrechten als grundlegenden<br />

Prinzipien menschlichen Zusammenlebens und für die Herrschaftsgewalt unantastbaren<br />

Bereichen sowie auf dem rechtsstaatlich-demokratischen und sozialen<br />

Verfassungsstaat als politischer Ordnungsform beruht 32 .<br />

17<br />

1- Grundlagen<br />

27 Während der Perserkriege zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. waren „die (barbarischen)<br />

Anderen“ die Asiaten, bei den Römern waren es die Kelten und die Germanen, bei den<br />

Christen dann die Heiden und Muslime.<br />

28 Diesbezügliche Beispiele liefern immer wieder Fußballweltmeisterschaften oder auch<br />

Olympiaden; im Jahr 2000 etwa starrten viele Sportjournalisten begeistert auf den Medaillenspiegel<br />

der USA (: 96), obwohl dieser im Vergleich zum Europa der 15 geradezu mickrig<br />

war (EU: 238).<br />

29 Vgl. Meessen, Politische Identität in Europa, in: EuR 6/1999, S. 712 sowie Fuchs, Demos<br />

und Nation in der EU, in: Klingemann/Neidhardt, Zur Zukunft der Demokratie, 2000, S. 215 ff.<br />

30 Zu den politischen Einstellungen und zur politischen Kultur in Europa vgl. die Analyse von<br />

Gabriel in: Die EG-Staaten im Vergleich – Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, 1992, S. 95 ff.<br />

31 Vgl. Karl Jaspers : „Europa, das ist die Bibel und die Antike“ in: Vom europäischen Geist,<br />

1947, S. 9.<br />

32 Ausführlich Dorau, Die Öffnung der EU für europäische Staaten, in: EuR 6/1999, S. 736 ff.<br />

sowie unter unter 4.3.1- Europäische Werteordnung.<br />

11


12<br />

13<br />

1- Grundlagen<br />

Diese europäische Identität hat Altbundeskanzler Schmidt treffend definiert 33 :<br />

Sie bezieht sich zunächst auf die Kultur im engeren Sinne, als da wären Religion,<br />

Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Architektur und Malerei.<br />

Sodann umfasst sie eine spezifische politische Kultur, die auf den Idealen der<br />

Würde und Freiheit der Person basiert sowie auf gleichen Grundrechten. Es<br />

ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des Rechtsstaats mit geordnetem<br />

privaten und öffentlichem Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher<br />

Macht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrtsstaates und des Willens<br />

zu sozialer Gerechtigkeit. Die gemeinsame Identität umschließt schließlich<br />

die wirtschaftliche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmers oder<br />

Kaufmanns, des freien Marktes, der freien Gewerkschaften, des zuverlässigen<br />

Geldwertes – und des gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Arbeitnehmer<br />

durch Arbeitgeber und der Verbraucher durch Kartelle und Monopole.<br />

Die identitätsbildende Wertegemeinschaft wirkt in den Unionsbürgerinnen<br />

und Unionsbürgern durchaus auch unbewusst; Ortega y Gasset hat schon<br />

1929 treffend festgestellt: „Machen wir heute eine Bilanz unseres geistigen<br />

Besitzes – Theorien und Normen, Wünsche und Vermutungen –, so stellt sich<br />

heraus, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern<br />

dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt<br />

der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen ...; vier Fünftel<br />

unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“ 34 Und dies gilt eben<br />

nicht allein im Bereich des geistigen Gutes: Fragt man den brasilianischen<br />

Gewerkschafter, den amerikanischen Unternehmensberater oder den chinesischen<br />

Reformpolitiker nach Europa, leuchten die Augen nicht unbedingt<br />

wegen Kant, Mozart oder Heisenberg, sondern wegen der spezifischen europäischen<br />

Sozialordnung, die „jenseits des Marktdschungels und diesseits<br />

des totalitären Zoos“ (Semprun) liegt. In dieser Sozialordnung soll die Kraft<br />

des Kapitalismus gezähmt werden und kulturelle Vielfalt keinen Gegensatz<br />

zu sozialer Gerechtigkeit darstellen. Um die Sauberkeit europäischer Städte<br />

mit ihren Konzertsälen und Bädern, die Schönheit der Dörfer, die Verlässlichkeit<br />

der Wasser- und Stromversorgung, die funktionierende Müllbeseitigung,<br />

die weitgehend unentgeltliche Bildung, um diese gelungene „europäische<br />

33 Schmidt, Die Selbstbehauptung Europas, 2000, sowie in: Die Zeit Nr. 41 v. 5.10.2000, S.<br />

12.<br />

34 Zitiert nach Bracher in: Hrbek/Schwarz, 40 Jahre Römische Verträge, 1998, S. 19 f.<br />

18


Kombination aus DaimlerChrysler, Modell Schweden und Kant“, von Technik,<br />

Wohlstand und Streben nach globaler Gerechtigkeit, beneiden uns nicht<br />

nur Afrika oder Asien, sondern auch Teile Nordamerikas 35 .<br />

Äußerlich symbolisiert wird die spezifische EU-Wertegemeinschaft etwa<br />

durch die in allen Mitgliedstaaten gerne gehisste Europaflagge 36 , die viel gespielte<br />

Europahymne, den Europatag 37 , die in den 80er Jahren verwirklichte<br />

„Passunion“, die eine Angleichung der Form der Pässe der Mitgliedstaaten 38<br />

einführte, sowie nicht zuletzt durch das gemeinsame Europageld. Anknüpfend<br />

an die innere und äußere europäische Verbundenheit – in Zusammenschau<br />

mit den aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechtspositionen des<br />

Einzelnen 39 – lässt sich die Gesamtheit der Unionsbürger durchaus als politische<br />

Willenseinheit, als „europäisches Volk“ begreifen.<br />

Hierüber kann selbstredend trefflich gestritten werden. Jedenfalls aufgrund<br />

der materiell recht begrenzten „Staatsgewalt“ ist festzuhalten, dass die EU<br />

bislang die qualitative Stufe eines Bundesstaates im Sinne der „Vereinigten<br />

Staaten von Europa“ nicht erreicht hat. Was aber ist die Union dann, wenn sie<br />

längst nicht mehr ein bloßer Staatenbund oder eine Internationale Organisation,<br />

aber auch noch kein Staat ist und vielleicht ein solcher nie werden wird ?<br />

Wie aufgezeigt ist die EU ein eigenständiges und neuartiges Gebilde, das<br />

deshalb wohl auch nur mit neuartigen Begriffen angemessen zu beschreiben<br />

ist. Der Europäische Gerichtshof 40 spricht von der „sui generis“-Natur. Das<br />

Bundesverfassungsgericht 41 hat hieran anknüpfend den Ausdruck des Staatenverbundes<br />

geprägt. Auch wenn mit dieser Bezeichnung freilich – außer<br />

19<br />

1- Grundlagen<br />

35 So zu Recht Greffrath in: Die Zeit Nr. 46 v. 9.11.2000, S. 13.<br />

36 Die berühmte blaue Fahne mit dem Kranz aus 12 goldenen Sternen ist übrigens ursprünglich<br />

die Fahne des Europarats gewesen, die die EU im Laufe der Jahre übernommen hat.<br />

Die Zahl 12 hat mithin nichts mit der Anzahl der EU-Mitgliedstaaten zu tun, sondern symbolisiert<br />

in Anlehnung an Bibel und Antike das „perfekte Maß“.<br />

37 In Deutschland feiern wir den 5. Mai als „Europatag“, da am 5.5.1949 der Europarat durch<br />

den Vertrag von Straßburg gegründet wurde. Die Organe der Gemeinschaften dagegen feiern<br />

als „Europatag“ den – dienstfreien (!) – 9. Mai, da am 9.5.1950 der damalige französische<br />

Außenminister Robert Schuman (ein deutsch erzogener Lothringer) seinen Vorschlag<br />

über die Gründung der Montanunion verkündet hatte, und damit den maßgebenden historischen<br />

Beginn der heutigen EU setzte.<br />

38 Jede/r Unionsbürger/in hat heute einen „lila Europapass“; vgl. die Ministerratsbeschlüsse<br />

vom 23.6.1981 und 30.6.1982, ABl. 1981 Nr. C 141/1 und ABl. 1982 Nr. C 179/1.<br />

39 S. ausführlich unter 1.1.4- Unionsbürgerschaft.<br />

40 EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Slg. 1964, 1141 - Costa/ENEL -.<br />

41 BVerfG, Urteil vom 12.10.1993, E 89, 155 - Maastricht -, der Begriffsprägung Paul Kirchhofs<br />

folgend.<br />

14<br />

15


16<br />

17<br />

1- Grundlagen<br />

dem Hinweis auf „etwas anderes“ – inhaltlich wenig gewonnen ist, ist dieser<br />

Begriff doch vergleichsweise neu. Allerdings kann an ihm bemängelt werden,<br />

dass er zu sehr im überkommenen Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet<br />

und mithin bemüht ist, die Europäische Union in ein klassisches Staats-<br />

Schema hineinzupressen, über das die EU zwischenzeitlich hinausgewachsen<br />

ist, d.h. den zweifelhaften Versuch unternimmt, eine Rückkehr zu den<br />

traditionellen Formen des Völkerrechts zu bewirken 42 .<br />

Vielfach wird deshalb angeregt, die Union im Sinne einer neuen Form politischer<br />

Herrschaft mit dualer Legitimationsstrategie als „Europäischen Verfassungsverbund“<br />

zu benennen, um der notwendigen Offenheit und Dynamik<br />

hinreichend Rechnung zu tragen 43 . Dieser Begriff ist tatsächlich zukunftsweisend,<br />

wird aber wohl – jedenfalls derzeit – der Realität nur begrenzt gerecht.<br />

Noch ringt die EU um Inhalt und Form einer eigenständigen (geschriebenen)<br />

Verfassung, noch haben die Mitgliedstaaten insbesondere im Rahmen<br />

des Rates die tonangebende Rolle, noch sind auch in vielen europäischen<br />

Rechtsakten die nationalstaatlichen Rücksichten und Interessen nicht<br />

zu übersehen.<br />

Die Integrationsgeschichte weist zwischenzeitlich eine ganze Reihe kreativer<br />

Versuche auf, die Gemeinschaften bzw. die Union auf einen griffigen Nenner<br />

zu bringen. Die begriffliche Breite wird deutlich, wenn über die bekanntesten<br />

Definitionsversuche nachgedacht wird: „paraföderale Verbände“ (Scheuner),<br />

„unvollendeter Bundesstaat“ (Hallstein), „parastaatliche Hoheitsstrukturen“<br />

(Seidel), „supranationale Föderation“ (v. Bogdandy), „zielgebundenes transnationales<br />

Gemeinwesen eigener Art“ (Müller-Gaff) oder „Zweckverband<br />

funktioneller Integration“ (Ipsen) 44 . Ipsens Ansatz scheint besonders gelungen,<br />

da er den europäischen telos ins Zentrum rückt und dabei sympathisch<br />

zukunftsoffen bleibt.<br />

42 Vgl. Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, in: NJW 1994,<br />

S. 3.<br />

43 So die Ansätze von Weiler, Kaufmann oder Pernice, vgl. Reh in: integration 1/00, S. 61,<br />

m.w.N.<br />

44 Vgl. zu den Begrifflichkeiten Müller-Graff, Europäische Verfassung und Grundrechtscharta,<br />

in: integration 1/00, S. 36, m.w.N.<br />

20


Hieran anknüpfend sei deshalb im Folgenden – wohl wissend, dass jeder<br />

Name seine Stärken und Schwächen hat und in diesem ein gewisser Pleonasmus<br />

steckt 45 – von der EU als „Europäischem Integrationsverbund“<br />

gesprochen 46 . „Verbund“ – entsprechend der insoweit treffenden Begrifflichkeit<br />

des Bundesverfassungsgerichts – insbesondere in Abgrenzung zu einem<br />

bloßen Bund im überkommenen völkerrechtlichen Sinne. „Integration“,<br />

da dieses Anliegen gewissermaßen Alpha und Omega der EU ist. Allerdings<br />

geht es hier bezüglich Sub- und Objekten nicht nur um Staaten oder Verfassungsordnungen;<br />

Aufgabe und Ziel der EU ist vielmehr darüber hinausgehend<br />

die Integration aller Bürgerinnen und Bürger, d.h. das Zusammenwachsen<br />

der mitgliedstaatlichen Bevölkerungen zu einem nationenübergreifenden<br />

Unionsbürgertum, die Integration der nationalen Volkswirtschaften im supranationalen<br />

Binnenmarkt im Sinne einer europäischen Beschäftigungsund<br />

Sozial-, einer Wachstums- und Wohlstandsgemeinschaft, der einzelstaatlichen<br />

Rechtsordnungen in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, der<br />

nationalen Polizeisysteme und Armeen in einem Europäischen Schutz- und<br />

Sicherheitsraum, schließlich geht es um die Integration der national inzwischen<br />

nicht mehr allzu unterschiedlichen Wertesysteme in einem gemeineuropäischen<br />

Wert- bzw. Solidaritätsverbund. Integrations- statt Staatenverbund,<br />

da es – nach Jean Monnets schönem Wort – in der EU eben nicht darum<br />

geht, Staaten zu koalieren, sondern Menschen zusammen zu bringen.<br />

21<br />

1- Grundlagen<br />

45 D.h. ein „weißer Schimmel“, denn genau genommen bedeutet Integration immer auch Verbund,<br />

und jeder Verbund, an dem Gesellschaften beteiligt sind, bringt eine gewisse Integration<br />

mit sich. „Integration“ kommt vom lateinischen „integratio, integer“ im Sinne der Wiederherstellung<br />

eines Ganzen bzw. der Eingliederung in ein größeres Ganzes, dabei sowohl<br />

den Prozess als auch den erreichten Zustand bedenkend.<br />

46 Suchte man nach einer „EU-Staatsbezeichnung“, könnte man hieran anknüpfend etwa von<br />

den ISE, den „Integrierten Staaten von Europa / Integrated States of Europe / Etats-Integrés<br />

d’Europe“ sprechen.<br />

18


19<br />

20<br />

21<br />

1.1- Strukturen europäischer Integration<br />

1.1- STRUKTUREN EUROPÄISCHER INTEGRATION<br />

In einem ersten Überblick sei im Folgenden der Bogen von den Anfängen<br />

der europäischen Integration bis hin zu den in die Zukunft reichenden Perspektiven<br />

gespannt. Zunächst seien die „europapolitischen Wurzeln“ skizziert,<br />

die sich insbesondere in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auffinden<br />

lassen. Sodann sei auf die „Hauptdaten“ des Vergemeinschaftungsprozesses<br />

ab dem Zweiten Weltkrieg eingegangen, bevor sich im Detail mit den<br />

heutigen Strukturen des supranationalen Integrationsverbunds EU auseinander<br />

gesetzt wird.<br />

1.1.1- Europapolitische Wurzeln<br />

Auf eine umgreifende Schilderung der Geschichte der europäischen Integration<br />

von der Antike bzw. dem frühen Mittelalter bis zum heutigen Tag sei verzichtet.<br />

Diesbezüglich wird auf ausführliche Darstellungen verwiesen 47 .Beginnend<br />

mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sei zunächst erwähnt, dass<br />

der österreichische Graf Coudenhove-Kalergi 48 schon ab 1919 mit seiner<br />

Paneuropa-Bewegung den Gedanken publik machte, die damaligen (formalen)<br />

europäischen Demokratien zu einem Staatenbund nach dem Muster der<br />

Panamerikanischen Union zusammenzufassen. Bereits damals sprach man<br />

von den „Vereinigten Staaten von Europa“, die zu einer neuen Weltmacht neben<br />

den bestehenden Machtzentren 49 werden sollten.<br />

Der erste offizielle Aufruf zur europäischen Einigung folgte im Jahre 1925<br />

durch den französischen Ministerpräsidenten Edouard Herriot, der die Paneuropa-Pläne<br />

aufgriff. Der frühere französische Außenminister Aristide Briand<br />

ergriff hieran anknüpfend am 5.9.1929 als Präsident des 1919 gegründeten<br />

Völkerbundes – einem Vorläufer der UNO – in seiner berühmt gewordenen<br />

Rede die Initiative und forderte die Regierungen auf, sich mit der europäischen<br />

Idee auseinander zu setzen. Briand dokumentierte seine Initiative<br />

unter dem Titel „Memorandum über die Organisation eines Systems europäi-<br />

47 Beispielsweise auf diejenige von Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, XIII bis XLII.<br />

48 Richard Nicolas Coudenhove-Kalergi (1894–1972).<br />

49 Damals: Russland, USA, Großbritannien, Ostasien.<br />

22


scher föderativer Union“. Sein politisches Ziel bestand mithin nicht in der<br />

Gründung eines Einheitsstaates, sondern in der Errichtung einer europäischen<br />

Föderation.<br />

Studiert man diese verschiedenen Europa-Initiativen aus den Jahren nach<br />

dem Ersten Weltkrieg, fällt auf, wie viele konkrete Konzepte, die noch heute<br />

die europapolitische Debatte bestimmen, zum damaligen Zeitpunkt bereits<br />

angedacht oder sogar ausgearbeitet waren. Graf Coudenhove-Kalergi etwa<br />

schlug schon 1919 den Zusammenschluss Europas zu einem einheitlichen<br />

Wirtschaftsgebiet vor; seit 1957/58 existiert die Europäische (Wirtschafts-)<br />

Gemeinschaft. Beispielsweise Briand sah in seinem Europa-Konzept sowohl<br />

eine Europäische Konferenz vor als auch ein Vollzugsorgan in Form eines<br />

Ständigen Politischen Ausschusses mit Sekretariat; seit der Montanunion<br />

von 1951/52 gibt es ein Europäisches Parlament und die Europäische Kommission.<br />

Ökonomisch zielten die europäischen Vordenker der Zeit nach dem<br />

Ersten Weltkrieg auf eine gegenseitige Annäherung der europäischen Volkswirtschaften<br />

unter der Verantwortung solidarischer Regierungen mit Hilfe eines<br />

gemeinsamen Marktes. Liest man Artikel 2 des heute gültigen EG-Vertrags,<br />

in dem es u.a. heißt, dass es „Aufgabe der Gemeinschaft ist, durch die<br />

Errichtung eines Gemeinsamen Marktes ... in der ganzen Gemeinschaft eine<br />

harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens<br />

... und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität<br />

zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“, wird wiederum deutlich, wie<br />

viel von den damaligen Konzepten aktuelle Realität geworden ist.<br />

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bildete sich zudem dasjenige Gedankengut<br />

heraus, das heute gerne als „die europäische Idee“ bezeichnet wird.<br />

Im wesentlichen basiert diese Idee auf fünf Hauptgedanken, die sich durch<br />

die Geschichte der europäischen Einigung wie rote Fäden ziehen und sowohl<br />

das europäische Bewusstsein als auch die europäische Identität mitbestimmen.<br />

Wichtigster Hauptgedanke ist der<br />

– Gedanke der Friedenssicherung: Die europäische Einigung soll zu stabilem<br />

Frieden unter den Mitgliedstaaten und zur gemeinsamen Abwehr nach außen<br />

führen. Ein Gedanke, der lange Zeit gerade von jüngeren Generationen<br />

nicht mehr ernst genommen wurde und erst nach den kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

im ehemaligen Jugoslawien wieder an ungeahnter Aktuali-<br />

23<br />

1.1.1- Europapolitische Wurzeln<br />

22<br />

23<br />

24


25<br />

26<br />

1.1.1- Europapolitische Wurzeln<br />

tät gewonnen hat. In diesem Sinne hat der Gedanke der Friedenssicherung<br />

innerhalb der Mitgliedstaaten heute zwar kaum mehr Relevanz; wer kann<br />

sich schon einen Krieg etwa zwischen den einstigen „Erbfeinden“ Deutschland<br />

und Frankreich vorstellen. Der Gedanke der Friedenssicherung durch<br />

die EU richtet sich heute jedoch nach außen und wird gegenüber Drittstaaten<br />

relevant. Hier wird die EU immer stärker in die Pflicht genommen werden, für<br />

Stabilität und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent Sorge und Verantwortung<br />

zu tragen. Eng verbunden mit dem Gedanken der Friedenssicherung<br />

steht die Überwindung der Nationalstaaterei, d.h. der<br />

– Gedanke der Supranationalität: Von Anbeginn an träumten nahezu alle europäischen<br />

Vordenker von der Schaffung eines europäischen Bundes mit eigenen<br />

Organen und eigener Rechtsetzungskompetenz. Hierdurch soll der<br />

uneingeschränkten Souveränität der Mitgliedstaaten ein Ende bereitet und<br />

der Bürger mit neuen, staatsübergreifenden Rechten und Freiheiten ausgestattet<br />

werden. Der Gedanke der Supranationalität zielt auf Integration und<br />

basiert, wie schon dargelegt, im Wesentlichen auf den Elementen der Mehrheitsentscheidung<br />

sowie dem Vorrang und der unmittelbaren Wirkung des<br />

Rechts, d.h. dem so genannten „Durchgriff auf den Bürger“ 50 . Als Gegenbegriff<br />

zur Supranationalität und zur Abgrenzung der Europäischen Union von<br />

anderen völkerrechtlichen Organisationen ist das Konzept der „Internationalität“<br />

bzw. der „Intergouvernementalen Zusammenarbeit“ zu benennen. Die Internationalität<br />

zielt auf bloße Kooperation ab und hat mithin zur Folge, dass in<br />

den gemeinsamen Organen in der Regel jeder Vertragsstaat gleichermaßen<br />

eine Stimme hat und dass auf der Grundlage des Prinzips der Einstimmigkeit<br />

abgestimmt wird. Subjekte und Adressaten des hierbei entstehenden Völkerrechts<br />

sind in aller Regel allein die Vertragsstaaten und nicht etwa deren Bürgerinnen<br />

und Bürger. Aus der besonderen Bürgernähe, die dagegen eines<br />

der Charakteristika der EU sein soll 51 , folgt auch der<br />

– Gedanke des Gemeinsamen Marktes: Durch die umfassende Gewährung<br />

50 So schon Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 67 ff., der zudem auf die besonderen<br />

Kompetenzen der Kommission und des EuGH hinweist. Der Begriff „Supranationalität“<br />

geht historisch insbesondere auf den Schuman-Plan zur Gründung der Montanunion<br />

zurück, wo er für die dort vorgesehene „Hohe Behörde“ (heute: Kommission) eingeführt<br />

wurde.<br />

51 Vgl. Artikel 1 Abs. 2 EU: Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer<br />

immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen<br />

und bürgernah getroffen werden.<br />

24


der Handels- und Verkehrsfreiheit, d.h. durch räumliche und wirtschaftliche<br />

Freiheitsrechte der Unionsbürger soll einerseits zur Steigerung und Sicherung<br />

des allgemeinen Wohlstands der Unionsbevölkerung beigetragen werden.<br />

Auf diese Weise soll durch die entstehende wirtschaftliche, und eines<br />

Tages möglicherweise auch soziale Verschmelzung der Gesellschaften der<br />

Mitgliedstaaten 52 andererseits die europäische Integration insgesamt vertieft<br />

werden, d.h. es wird davon ausgegangen, dass „das Ökonomische“ gewissermaßen<br />

„das Politische“ nachzieht. Gleichzeitig verbindet sich hiermit auch der<br />

– Gedanke der Machterhaltung Europas: Dieser Gedanke der Erhaltung der<br />

europäischen geschichtlichen Sonderstellung spielt eine früher meist unausgesprochene,<br />

in Zeiten der Globalisierung immer wichtiger werdende Rolle<br />

bei der Fortentwicklung der Europäischen Union. Vielleicht ist er einer der<br />

Gründe, warum die Mitgliedstaaten immer wieder einschneidenden Souveränitätsverlusten<br />

zu Gunsten der EU zustimmen. Er zeigt sich heute beispielsweise<br />

im raschen Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

sowie bei der Wirtschafts- und Währungsunion, die auch zur Schaffung einer<br />

– insbesondere gegenüber Dollar und Yen – schlagkräftigen globalen Ankerwährung<br />

führen soll. Die geschichtliche Sonderstellung Europas spielt<br />

schließlich eine Rolle beim<br />

– Gedanken der Wertegemeinschaft: Die Mitgliedstaaten der Europäischen<br />

Union eint nach wie vor nicht nur verbal die gemeinsame christlich-abendländische<br />

Kultur, die als „Einheit in der Vielfalt“ bezeichnet werden kann. Zwar<br />

findet sich in den europäischen Vertragstexten und der EU-Grundrechtecharta,<br />

anders als beispielsweise im deutschen Grundgesetz und in einigen Verfassungen<br />

der Bundesländer, keine Berufung auf Gott oder die christliche Religion.<br />

Nach Art. 49 i.V.m. 6 des EU-Vertrages können zur Union aber ausdrücklich<br />

nur europäische Staaten beitreten, die die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie,<br />

die Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie den Grundsatz der<br />

Rechtsstaatlichkeit achten. Diese europäische freiheitliche demokratische<br />

Ordnung dient mithin als rechtspolitisches Fundament der Union 53 . Es ist –<br />

25<br />

1.1.1- Europapolitische Wurzeln<br />

52 Wobei derzeit im Bereich Sozialpolitik in Art. 136 Abs. 2 EG allerdings noch die erhaltenswerte<br />

Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten betont wird.<br />

53 Art. 6 Abs. 1 EU: Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der<br />

Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese<br />

Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Vgl. (auch zum an Art. 6 Abs. 1 EU anknüpfenden<br />

Notstandsverfahren des Art. 7 EU) Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag,<br />

1998, Kap. 1 RdNr. 13, 21 ff.<br />

27<br />

28


29<br />

30<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

trotz teilweiser Loslösung vom christlichen Kulturhorizont – nach wie vor eindeutig<br />

von der jüdisch-christlichen, abendländischen Tradition geprägt und<br />

getragen 54 .<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Anknüpfend an die paneuropäischen Konzepte aus der Zeit nach dem Ersten<br />

Weltkrieg plädierte Winston Churchill in seiner berühmten Rede vom 19.<br />

September 1946 an der Universität Zürich erstmals öffentlich nach 1945 wieder<br />

für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Diese Rede kann<br />

als markantes Zeichen des Anfangs vom Ende der selbständig agierenden<br />

Nationalstaaten in Europa bzw. als konkreter Beginn der europäischen Integration<br />

bewertet werden. Unter Berufung auf das gemeinsame historisch-kulturelle<br />

Erbe (Wertegemeinschaft) und aus Angst, auf Grund der<br />

Schwächung durch den Zweiten Weltkrieg zu bloßen Satelliten einer der dominierenden<br />

Großmächte USA oder UdSSR zu werden, entwickelten sich<br />

daraufhin in beeindruckender Geschwindigkeit verschiedenartige sektorale<br />

Zusammenschlüsse auf den Gebieten von Wirtschaft, Politik und Verteidigung:<br />

– Wirtschaft: Zur Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den europäischen<br />

Staaten und insbesondere zur Organisation der amerikanischen<br />

Marshallplan-Hilfe wurde bereits im Jahr 1948 die Organization for European<br />

Economic Cooperation (OEEC) von zunächst 16 europäischen Staaten in<br />

Paris gegründet. Im Jahre 1960 traten insbesondere die USA und Kanada<br />

der Organisation bei; in Folge wurde das Ziel der Entwicklungshilfe aufgenommen<br />

und die Organisation in Organization for Economic Cooperation<br />

and Devolopment (OECD) umbenannt. Nach Artikel 1 des heute gültigen<br />

OECD-Übereinkommens 55 ist es Ziel der Organisation, eine Politik zu fördern,<br />

die darauf gerichtet ist, a) in den Mitgliedstaaten unter Wahrung der finanziellen<br />

Stabilität eine optimale Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung<br />

sowie einen steigenden Lebensstandard zu erreichen und dadurch zur Entwicklung<br />

der Weltwirtschaft beizutragen, b) in den Mitglied- und Nichtmitgliedstaaten,<br />

die in wirtschaftlicher Entwicklung begriffen sind, zu einem gesunden<br />

wirtschaftlichen Wachstum beizutragen, und c) im Einklang mit inter-<br />

54 Ausführlich Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, 1995, S. 260 ff.<br />

55 Vom 14.12.1960; vgl. BGBl. 1961 II S. 1151.<br />

26


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

nationalen Verpflichtungen auf multilateraler und nicht diskriminierender<br />

Grundlage zur Ausweitung des Welthandels beizutragen. Zur OECD gehören<br />

mittlerweile 30 Staaten, u.a. sämtliche EU-Mitgliedstaaten. Heute besitzt<br />

die EU in der OECD einen Sonderstatus. Zwar ist sie selber nicht Mitglied der<br />

Organisation. Die Europäische Kommission gibt jedoch regelmäßig im Namen<br />

der Union Stellungnahmen zu Themen ab, die in ihre Zuständigkeit fallen<br />

oder zu denen die EU-Mitgliedstaaten zuvor einen gemeinsamen Standpunkt<br />

festgelegt haben 56 .<br />

– Politik: Im Sinne von Churchills Züricher Rede wurde am 5. Mai 1949 der<br />

Europarat gegründet. Der Straßburger Europarat war nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg die erste politische Organisation im demokratischen Teil Europas,<br />

in dem die Vertragsstaaten auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und<br />

der Wahrung der Menschenrechte ihre politische Zusammenarbeit vertiefen<br />

wollten; zugedacht war ihm die Rolle eines „Motors der europäischen Einigung“.<br />

Nach Art. 1 seiner Satzung 57 hat der Europarat zur Aufgabe, eine engere<br />

Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung<br />

der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen<br />

und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. In der Zeit<br />

des „kalten Kriegs“ blieb die tatsächliche Wirkungskraft vieler Europarats-Beschlüsse<br />

allerdings mangels durchsetzungsstarker Entscheidungsund<br />

Umsetzungskompetenzen gering, die im Übrigen auch heute nicht wesentlich<br />

effizienter sind. Allenfalls dem schon damals beachtlichen Menschenrechtsengagement<br />

kann aus heutiger Sicht eine besondere Relevanz<br />

zugesprochen werden. Der Europarat besetzte und besetzt die ganz und gar<br />

nicht unwichtigen „weichen Themen“ wie etwa Kultur, Bildung, Soziales, Familie,<br />

Wissenschaft und Forschung, Entwicklungszusammenarbeit, Raumplanung<br />

oder die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und Zeugnissen<br />

58 . Sein Haushalt wird durch Beiträge der Vertragsstaaten finanziert, die<br />

sich nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft richten 59 .<br />

56 Vgl. Ungerer in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 380 f.<br />

57 Vom 5.5.1949; BGBl. 1950 I S. 263; zuletzt geändert am 9.12.1996, BGBl. 1997 II S. 159.<br />

58 Ausführlich Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, § 2 RdNr. 59 ff.<br />

59 Im Jahr 1998 betrug der Etat rund 366 Mio. DM = rund 187 Mio. Euro; vgl. im Internet unter:<br />

http:// www.coe.int; Informationen sind schriftlich erhältlich bei: Europarat, F-67075 Straßburg<br />

Cedex, Tel. 0033 0 388 41 20 24; Fax: 0033 0 388 41 27 04; e-mail: Human-<br />

Rights.Info@coe.fr.<br />

27<br />

31


32<br />

33<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Umbruch in den Ländern<br />

Mittel- und Osteuropas beginnt sich der Europarat neu zu positionieren. Seinem<br />

Selbstverständnis als „gesamteuropäische Klammer“ nach ist ihm die<br />

Unterstützung des Demokratisierungsprozesses zu einem besonderen Anliegen<br />

geworden. Nicht zufällig sprach Gorbatschow gerade im Rahmen des<br />

Straßburger Europarates vom „europäischen Haus“; der Europarat hat dementsprechend<br />

zwischenzeitlich eine ganze Reihe der mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten als neue Vollmitglieder aufgenommen 60 . Seit 1989 leistet er effektive<br />

Hilfestellungen bei der schrittweisen Heranführung der mittel- und osteuropäischen<br />

Länder (MOEL) an westeuropäische Demokratie-, Rechts- und<br />

Verwaltungsstandards, d.h. eine wichtige Brückenfunktionsarbeit 61 . Damit<br />

liegt eine besondere Bedeutung des Europarats heute in seiner Funktion als<br />

„Vorhof der EU“; die Aufnahme in den Europarat bedeutet in jedem Fall ein<br />

erster großer Schritt auf dem Weg zur Integration in die europäische Völkerfamilie<br />

62 .<br />

Die juristisch bedeutsamste Arbeit des Europarats liegt zweifelsohne im Bereich<br />

der Menschenrechtsentwicklung. Alle Mitglieder des Europarats müssen<br />

die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und<br />

Grundfreiheiten (EMRK) 63 unterzeichnen und sich der Judikatur des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg unterwerfen.<br />

Anders als sonst bei Internationalen Organisationen kann gemäß Art. 34<br />

EMRK jede natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe,<br />

die behauptet, durch einen Mitgliedstaat in Menschenrechten verletzt<br />

worden zu sein, den EGMR mit einer Individualbeschwerde befassen;<br />

allerdings erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe, zu denen<br />

in Deutschland in der Regel auch die Verfassungsbeschwerde beim<br />

Bundesverfassungsgericht gehört. Seit dem 1.11.1998 ist der EGMR ein<br />

ständig tagender Gerichtshof 64 . Der EGMR hat auch die Bundesrepublik<br />

Deutschland schon mehrfach verurteilt; so wurde beispielsweise das Bun-<br />

60 Die derzeit 43 Mitgliedstaaten (2001) sind in Art. 26 der Europarat-Satzung aufgelistet.<br />

61 Vgl. Holeschovsky in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 225 ff.<br />

62 Vgl. Schäfer, Studienbuch Europarecht, 2000, S. 61.<br />

63 Europäische Menschenrechtskonvention = EMRK vom 4.11.1950, BGBl. 1952 II S. 685,<br />

953; zuletzt ergänzt durch Protokoll Nr. 11 vom 11.5.1994, BGBl. 1995 II S. 579; (vgl.<br />

http://www.dhdirhr.coe.fr).<br />

64 Jeder EMRK-Vertragsstaat stellt grundsätzlich einen Richter; der deutsche Richter ist derzeit<br />

(2001) der vorherige Direktor des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes, Prof.<br />

Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Georg Ress.<br />

28


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

desverfassungsgericht wegen überlanger Verfahrensdauer gerügt 65 . Die Urteile<br />

des EGMR sind endgültig; die Vertragsstaaten haben sich verpflichtet,<br />

sie umzusetzen und zu befolgen. Zwar bestehen keine Zwangsmöglichkeiten;<br />

in der Praxis gibt es mit der Umsetzung der Urteile in der Regel jedoch<br />

auf Grund der moralischen Autorität des Gerichtshofs keine Probleme. Kein<br />

Vertragsstaat will sich vorhalten lassen müssen, trotz entsprechender Verurteilung<br />

beharrlich Menschenrechte zu verletzen.<br />

Die Judikatur des Straßburger EGMR ist auch im Rahmen der Europäischen<br />

Union von eminenter Bedeutung. Zum einen sind die Grund- und Menschenrechte<br />

der EMRK integraler Bestandteil des EU-Grundrechtsschutzes 66 ; zum<br />

anderen können zwar EU-Rechtsakte als solche vor dem EGMR nicht direkt<br />

angefochten werden, da insbesondere die Europäischen Gemeinschaften<br />

nicht Vertragspartei der EMRK sind. Indirekt – über die Verantwortung der<br />

EU-Mitgliedstaaten für die Wahrung der Rechte aus der EMRK – überprüft<br />

der EGMR seit neuem jedoch bisweilen durchaus auch EU-Rechtsakte. Auch<br />

die Kompetenzübertragung von den Mitgliedstaaten auf die EU dürfe im Ergebnis<br />

nämlich nicht dazu führen, dass die Rechte der Unionsbürger aus der<br />

EMRK verletzt würden, d.h. es gibt keine „Flucht“ der Staaten aus den Bindungen<br />

der EMRK über die EU 67 .<br />

– Verteidigung: Insbesondere aufbauend auf dem Gedanken der Friedenssicherung<br />

wurde am 4. April 1949 die North Atlantic Treaty Organization<br />

(NATO) als Defensivbündnis gegründet 68 . Nach Artikel 1 des NATO-Vertrags<br />

verpflichten sich die 16 Vertragspartner, in Übereinstimmung mit der Satzung<br />

der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt<br />

65 Vgl. EGMR, EuZW 1997, S. 468. Zur Rechtsprechung siehe im Internet unter:<br />

http://www.dhcour.coe.fr.<br />

66 Art. 6 Abs. 2 EU: Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in<br />

Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und<br />

Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen<br />

der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts<br />

ergeben.<br />

67 EGMR, Matthews ./. Vereinigtes Königreich („Gibraltar/Direktwahlakt-Urteil“) vom 18.2.<br />

1999 - Beschwerde-Nr. 24833/94 -; EuZW, 1999, S. 308 ff. (mit Anmerkung von Lenz);<br />

EuGRZ 1999, S. 200 ff.; vgl. Winkler, Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur<br />

EMRK, 2000, S. 153 ff.<br />

68 NATO-Vertrag vom 4.4.1949, BGBl. 1955 II S. 289, i.d.F. des Protokolls vom 17.10.1951,<br />

BGBl. 1955 II S. 293; Gründungsmitglieder waren Frankreich, Großbritannien, BeNeLux,<br />

die USA und Kanada sowie Dänemark, Norwegen, Island, Portugal und Italien. Griechenland<br />

und die Türkei (1952), Deutschland (1955) und Spanien (1982) traten später bei.<br />

29<br />

34<br />

35


36<br />

37<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die<br />

Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen<br />

Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung<br />

zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist.<br />

Nach Artikel 5 des NATO-Vertrags haben die Vertragsparteien vereinbart,<br />

dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa<br />

oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird und<br />

jeder Vertragsstaat in einem solchen Falle dem oder den anderen Vertragsstaaten<br />

unverzüglich – mehr oder weniger „freiwillig“ – Beistand leistet.<br />

Als Angriff gilt gemäß Artikel 6 NATO-Vertrag jeder bewaffnete Angriff auf das<br />

Gebiet eines der Vertragsstaaten in Europa oder Nordamerika, (auf die algerischen<br />

Departements Frankreichs), auf das Gebiet der Türkei oder auf die<br />

der Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen<br />

Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses bzw. auf die Streitkräfte,<br />

Schiffe oder Flugzeuge einer der Vertragsparteien, wenn sie sich in oder<br />

über diesen Gebieten oder irgend einem anderen europäischen Gebiet, in<br />

dem eine der Parteien bei In-Kraft-Treten des Vertrags eine Besatzung unterhält,<br />

oder wenn sie sich im Mittelmeer oder im nordatlantischen Gebiet nördlich<br />

des Wendekreises des Krebses befinden. Nach Artikel 7 NATO-Vertrag<br />

berührt die NATO weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien,<br />

die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben,<br />

noch die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für<br />

die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit.<br />

Seit der Auflösung des Warschauer Paktes (1991) und der geänderten Weltsituation<br />

werden Strategie und Auftrag der NATO diskutiert. 1998 wurde die<br />

NATO-Erweiterung um Polen, Ungarn und Tschechien gebilligt. Schweden<br />

und Finnland, die baltischen Staaten, Russland und ostmitteleuropäische sowie<br />

einige GUS-Staaten traten der NATO-Konzeption „Partner für den Frieden“<br />

1994 bei. Als nächste Aspiranten für einen NATO-Beitritt gelten Slowenien<br />

und Rumänien. Dies birgt Konfliktpotential, denn Russland lehnt nach<br />

wie vor eine solche NATO-Osterweiterung wegen der Ausdehnung des Territoriums<br />

bis an seine Grenze ab 69 . Diese Entwicklung ist auch für die EU nicht<br />

ohne Risiko. Denn sollten eines Tages nach der EU-Osterweiterung fast alle<br />

Nato-Staaten zudem auch EU-Mitglieder sein, dürfte es immer schwerer wer-<br />

69 Vgl. Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 365.<br />

30


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

den, die Sicherheit der Union, zu der wohl bald auch eine eingeschränkte militärische<br />

Kapazität gehören dürfte, von der Sicherheit der Allianz zu trennen.<br />

Neben der NATO sind als sektorale Zusammenschlüsse nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg auf dem Gebiet der Verteidigung insbesondere die – gescheiterte –<br />

Europäische Verteidigungsgemeinschaft sowie die Westeuropäische Union<br />

zu benennen. Nach dem Korea-Krieg (1950-1953), in dessen Folge die USA<br />

einen erheblichen Teil ihrer Kampftruppen aus der besetzten Bundesrepublik<br />

Deutschland abziehen mussten, wollten insbesondere Großbritannien und<br />

auch die französische Regierung durch Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft<br />

(EVG) verhindern, dass sich ein militärpolitisches<br />

Vakuum in Westdeutschland entwickelt. Sowohl Churchill als auch der französische<br />

Premierminister Pleven riefen deshalb zur Gründung einer integrierten<br />

europäischen Armee auf, zu der auch Deutschland nationale Militäreinheiten<br />

zur Verfügung stellen sollte. Die Europa-Armee sollte so weit wie<br />

möglich integriert und einer einheitlichen politischen und militärischen Autorität<br />

unterstellt werden. Der diesen „Pleven-Plan“ umsetzende EVG-Vertrag<br />

wurde am 27. Mai 1952 von Frankreich, Großbritannien, Italien und den Benelux-Staaten<br />

unterzeichnet und von allen Staaten außer Frankreich auch ratifiziert.<br />

In Frankreich scheiterte die Ratifikation am 30. August 1954 in der<br />

französischen Nationalversammlung; Hintergrund war insbesondere das tiefe<br />

französische Misstrauen gegen jede neue deutsche Aufrüstung und auch<br />

die ungelöste Saarfrage 70 . Damit aber wurden zugleich rund 40 Jahre lang im<br />

Wesentlichen alle eigenständigen verteidigungspolitischen Ambitionen des<br />

Integrationsverbunds gestoppt; die Zukunft wird zeigen, ob die in den letzten<br />

Jahren geplante Europäische Krisenreaktionstruppe 71 eines Tages doch<br />

noch den „Pleven-Plan“ realisiert.<br />

Gewissermaßen als sicherheitspolitischer Ersatz für die EVG wurde am 23.<br />

November 1954 die Westeuropäische Union (WEU) gegründet. Im Unterschied<br />

zum Konzept der EVG ist oberstes Ziel der WEU nicht etwa die Installierung<br />

einer Europa-Armee, sondern Rüstungskontrolle und Rüstungsbe-<br />

70 Das französische Parlament lehnte die EVG mit 319 gegen 264 Stimmen in der radikalen<br />

Form der „question préalable“ ab, d.h. es weigerte sich a priori, das Vertragsprojekt überhaupt<br />

in Betracht zu ziehen; vgl. die plastische Schilderung des Zeitzeugens Wilhelm Hausenstein<br />

in: Pariser Erinnerungen 1950-1955, 1961, S. 129 ff.<br />

71 Ausführlich im Rahmen der GASP-Darstellung unter 3.2.3- Politische Tätigkeitsfelder.<br />

31<br />

38<br />

39


40<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

schränkung. Aufbauend auf dem Brüsseler Vertrag 72 beinhaltet die WEU einen<br />

gegenseitigen Beistandspakt der Mitgliedstaaten. Nach Art. IV des Brüsseler<br />

Vertrags ist zwar ausdrücklich der Aufbau einer Parallelorganisation zu<br />

den militärischen NATO-Stäben unerwünscht. Sollte jedoch einer der<br />

WEU-Vertragsstaaten Ziel eines bewaffneten Angriffs in Europa werden, so<br />

werden ihm die anderen Staaten alle in ihrer Macht stehenden militärischen<br />

oder sonstigen Unterstützungen leisten (Art. V Brüsseler Vertrag). Die WEU<br />

ist damit faktisch eine Art „Klein-NATO“ 73 . Seit 1992 war die WEU allerdings<br />

dabei, sich bei sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen zu einer politisch-militärischen<br />

Organisation mit eigenen operativen Fähigkeiten zu entwickeln.<br />

Immer stärker wurde die WEU – auch organisatorisch – dabei in die<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. deren Bestandteil<br />

der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) der Europäischen<br />

Union eingebunden 74 . Vielleicht wird die ESVP – mit der in ihr verschmolzenen<br />

WEU – eines Tages ein ähnliches politisches Schwergewicht<br />

wie die heutige NATO werden und den europäischen Grundgedanken der<br />

Friedenssicherung auch in der Praxis schlagkräftig umsetzen.<br />

Auf dem Gebiet der Verteidigung ist schließlich noch die sich seit 1.1.1995<br />

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nennende<br />

ehemalige KSZE 75 zu erwähnen, die sich insbesondere wirksam für<br />

die Durchsetzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />

engagiert. Ursprünglich war die 1975 ins Leben gerufene KSZE als Folge<br />

72 Vom 17. März 1948, BGBl. 1955 II S. 283.<br />

73 WEU-Mitgliedstaaten sind derzeit: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien,<br />

Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien und Griechenland; die Türkei, Norwegen<br />

und Island sind assoziiert; Dänemark und Irland nehmen an den Beratungen als Beobachter<br />

teil; in dem ein- bis zweimal jährlich auf Botschafterebene tagenden Konsultationsforum<br />

sind zudem Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei und die drei baltischen<br />

Staaten vertreten.<br />

74 Art. 17 Abs. 1 S. 3, 5 EU in der Amsterdamer Fassung: Die Westeuropäische Union (WEU)<br />

ist integraler Bestandteil der Entwicklung der Union; sie eröffnet der Union den Zugang zu<br />

einer operativen Kapazität ... Die Union fördert daher engere institutionelle Beziehungen<br />

zur WEU im Hinblick auf die Möglichkeit einer Integration der WEU in die Union ... ; diese<br />

Passagen sollen nun allerdings mit dem Vertrag von Nizza vom 26.02.2001 aus dem neugefassten<br />

Art. 17 EU entfernt werden. Dort heißt es dann nur noch in Absatz 4: Dieser Artikel<br />

steht der Entwicklung einer engeren Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten<br />

auf zweiseitiger Ebene sowie im Rahmen der WEU und der NATO nicht entgegen,<br />

soweit sie der nach diesem Titel vorgesehenen Zusammenarbeit nicht zuwiderläuft<br />

und diese nicht behindert. Vgl. auch Margedant in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl.<br />

1998, S. 523 ff. sowie unten bei 3.2- Europäische Aussen- und Sicherheitspolitik.<br />

75 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; Gründungs-Schlussakte vom<br />

1.8.1975; vgl. Kremp/Maeder-Metcalf in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 376 ff.<br />

32


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

unregelmäßiger Konferenzen ein wichtiges Forum in der Zeit des „kalten<br />

Kriegs“ für den Dialog zwischen Ost und West. Heute gehören der OSZE alle<br />

europäischen Staaten, die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion,<br />

Kanada und auch die USA an. Mit derzeit 55 Vertragsstaaten ist die OSZE<br />

damit die größte Sicherheitsorganisation in Europa, die regionale operative<br />

Aufgaben im Bereich der Konflikt- und Krisenprävention übernimmt. Wichtigstes<br />

Instrumentarium hierfür sind die seit 1992 eingerichteten OSZE-<br />

Missionen, die mit Zustimmung des betreffenden Staates in Krisenregionen<br />

entsandt bzw. eingerichtet werden 76 . Auch werden immer wieder hochrangige<br />

Persönliche Beauftragte des Amtierenden OSZE-Vorsitzenden als direkte<br />

Vermittler eingesetzt 77 . Der 1992 konstituierte Hohe Kommissar für Nationale<br />

Minderheiten befasst sich mit dem Abbau von die politische Stabilität gefährdendem<br />

Konfliktpotential in Zusammenhang mit Minderheitensituationen.<br />

Zur Überwachung der OSZE-Standards im Menschenrechtsbereich finden<br />

seit 1993 alle zwei Jahre Implementierungstreffen statt und es wurde das<br />

OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau<br />

eingerichtet. Ergänzend wurde 1998 das Amt des OSZE-Beauftragten<br />

für Medienfreiheit geschaffen. Nach In-Kraft-Treten eines entsprechenden<br />

Übereinkommens wurde zudem 1995 der OSZE-Vergleichs- und Schiedsgerichtshof<br />

mit Sitz in Genf konstituiert 78 . Höchstes Gremium der OSZE aber ist<br />

das grundsätzlich alle zwei Jahre stattfindende Gipfeltreffen der Staats- und<br />

Regierungschefs. Jährlich trifft sich der OSZE-Ministerrat auf der Ebene der<br />

Außenminister; daneben besteht ein mit Diplomaten besetzter Hoher Rat sowie<br />

ein Ständiger Rat als politisches Zentrum. Das OSZE-Sekretariat unter<br />

der Leitung des Generalsekretärs befindet sich in Wien. Zwar arbeitet die<br />

OSZE überwiegend mit völkerrechtlichem „soft-law“; sie hat dennoch im Laufe<br />

der Jahre hohe politische Standards gesetzt, deren Einhaltung nunmehr<br />

nicht mehr nur als innere Angelegenheit eines Vertragsstaates angesehen<br />

wird.<br />

Nun aber zu den direkt als „Schritte“ zur Europäischen Union zu wertenden<br />

Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />

76 Im Jahr 2001 gab es 12 Missionen; die größte hat ihren Sitz in Bosnien-Herzegowina und<br />

übernimmt die Abwicklung des Dayton-Abkommens (insbes. Wahlüberwachung, Menschenrechtsschutz,<br />

Aufbau demokratischer Institutionen, Rüstungskontrollvereinbarungen).<br />

77 Etwa die Gonzalez-Mission in Jugoslawien 1996 oder die Vranitzky-Mission 1997 in Albanien.<br />

78 Ab 1995 Präsident: Robert Badinter; Vizepräsident: Hans-Dietrich Genscher.<br />

33<br />

41


42<br />

43<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Weitgehend unabhängig von den dargestellten Zusammenschlüssen im Bereich<br />

von Wirtschaft, Politik und Verteidigung trat am 9. Mai 1950 die französische<br />

Regierung mit dem Schuman-Plan an die Öffentlichkeit. Der Plan des<br />

damaligen französischen Außenministers Robert Schuman 79 sowie des französischen<br />

Politikers Jean Monnet 80 sah vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen<br />

Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame oberste<br />

Behörde zu stellen. Dies war der entscheidende Schritt zur Gründung der Europäischen<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion),<br />

die schließlich am 18.4.1951 von den sechs Gründerstaaten Frankreich, Italien,<br />

Deutschland und BeNeLux in Paris unterzeichnet wurde. Der<br />

EGKS-Vertrag trat am 23.7.1952 in Kraft und wird gemäß Art. 97 nach 50<br />

Jahren, d.h. am 23. Juli 2002 auslaufen. Die EGKS war weltweit die erste supranationale<br />

Organisation überhaupt und – aus heutiger Sicht – der historische<br />

Auftakt zur Europäischen Union.<br />

Wie bei keiner der anderen Europäischen Gemeinschaften steht bei der Montanunion<br />

– auch verbal – der Gedanke der Friedenssicherung im Vordergrund.<br />

Ohne Kohle und insbesondere ohne Stahl kann keine Aufrüstung<br />

durchgeführt, kein Panzer gebaut werden. Dementsprechend beginnt die<br />

Präambel des EGKS-Vertrags mit der Erwägung, dass der Weltfriede nur<br />

durch schöpferische, den drohenden Gefahren angemessene Anstrengungen<br />

gesichert werden kann. Weiter heißt es in der Präambel (Absatz 5), dass<br />

die Gründungsmitglieder entschlossen sind, an die Stelle der jahrhundertealten<br />

Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu<br />

setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten<br />

Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter den Völkern zu<br />

legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren,<br />

und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen<br />

Schicksal die Richtung weisen können.<br />

79 Der deutsch erzogene Lothringer Robert Schuman (1886–1963) war von 1947–1948 französischer<br />

Premierminister und von 1948–1952 Außenminister. 1958 wurde er zum ersten<br />

Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt, das damals noch „Parlamentarische<br />

Versammlung“ hieß. Neben Adenauer und de Gasperi ist er nach dem Zweiten Weltkrieg zu<br />

den stärksten Befürwortern der europäischen Integration Westeuropas zu zählen.<br />

80 Jean Monnet (1888–1979) war von 1919–1923 stellvertretender Generalsekretär des Völkerbunds<br />

gewesen, von 1950–1952 Präsident der Schuman-Plan-Konferenz und schließlich<br />

von 1952–1955 Präsident der Hohen Behörde der EGKS. Monnet wurde 1976 von den<br />

EWG-Staats-und Regierungschefs zum ersten „Ehrenbürger von Europa“ ernannt.<br />

34


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Mit Gründung der Montanunion hatten sich faktisch die Funktionalisten gegen<br />

die Föderalisten durchgesetzt. Die Anhänger der föderalistischen Integrationstheorie<br />

setzten sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dafür ein,<br />

nunmehr die Umstände für einen einmaligen politischen Verfassungsakt zur<br />

Schaffung eines geeinten Europas zu nutzen. Sie plädierten für die direkte<br />

Gründung der Vereinigten Staaten von Europa. Die Anhänger der funktionalistischen<br />

Integrationstheorie setzten dagegen von Anfang an auf die Vergemeinschaftung<br />

eines Teilbereichs des öffentlichen Lebens nach dem anderen.<br />

Durch den sukzessiven Zusammenschluss in verschiedenen Politikfeldern<br />

und die damit einhergehende, sich vertiefende administrative und technische<br />

Kooperation wurde auf einen allmählichen Wandel der einzelstaatlichen<br />

Handlungsparameter gesetzt. Die Funktionalisten vertrauten mithin von<br />

Anfang an auf eine selbständig entstehende Eigendynamik, die schließlich<br />

als „Krönung“ vieler sektoraler Vergemeinschaftungen die Vereinigten Staaten<br />

von Europa im Wege eines „Spill-over-Effekts“ durchsetzen soll.<br />

Entsprechend dieser Programmatik der Funktionalisten handelten die sechs<br />

Gründerstaaten der Montanunion: Nach der Vergemeinschaftung der Bereiche<br />

Kohle und Stahl folgte der Zusammenschluss in den Bereichen der Atomindustrie<br />

sowie der allgemeinen Wirtschaft und Landwirtschaft. Am 25. März 1957<br />

wurden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(EWG-Vertrag) und der Europäischen Atomgemeinschaft<br />

(EAG-Vertrag) unterzeichnet; beide Verträge traten am 1. Januar 1958 in Kraft.<br />

Seit diesem Datum bestehen die drei europäischen Gemeinschaften – in juristisch<br />

zu trennenden „Verfassungsurkunden“ – nebeneinander.<br />

Gewissermaßen als Antwort und Konsequenz auf die weitgreifenden – sehr<br />

französisch geprägten 81 – Römischen Verträge gründeten die Staaten Großbritannien,<br />

Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die<br />

Schweiz am 4. Januar 1960 in Stockholm die European Free Trade Association<br />

(EFTA) 82 ; Island wurde 1970 Mitglied; Finnland, seit 1961 assoziiert,<br />

81 Die französischen Einflüsse auf Gestalt und Wesen der EU sind nach wie enorm. Noch heute<br />

prägt die französische Organisation die Rechtsetzung, Rechtsprechung und auch den<br />

bürokratischen Alltag. Die Gemeinschaften haben etwa – aus deutscher Sicht undenkbar –<br />

keine Zentralregistratur, kein echtes Zentralarchiv und kein Netz dezentraler Registraturen.<br />

Die Akten werden nach französischer Verwaltungsphilosophie dort hingestellt, „wo Platz<br />

ist“. Ist der Platz erschöpft, schlägt die Stunde des Reißwolfs; vgl. Schäfer, Studienbuch Europarecht,<br />

2000, S. 52.<br />

82 In Kraft seit 3.5.1960; vgl. im Österreichischen BGBl. 1960 S. 893.<br />

35<br />

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1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

wurde 1986 Vollmitglied; Liechtenstein, zunächst von der Schweiz vertreten,<br />

ist seit 1991 Mitglied. Hintergrund der EFTA-Gründung war, dass Großbritannien<br />

damals – insbesondere aus Rücksicht auf seine engen Bindungen an<br />

die Commonwealth-Partner – nicht Mitglied der EWG werden wollte. Österreich<br />

durfte wegen der im Staatsvertrag von 1955 mit den vier Siegermächten<br />

des Zweiten Weltkriegs enthaltenen Neutralitätsklausel nicht der EWG beitreten.<br />

Schweden und die Schweiz fürchteten, durch einen EWG-Beitritt ihr<br />

traditionelles Neutralitätsprinzip zu verletzen. Andere Gründungsmitglieder<br />

der EFTA waren wegen ihrer engen wirtschaftlichen Bindungen an Großbritannien<br />

von dessen Verhalten abhängig 83 .<br />

Zentrale Bestimmung des EFTA-Übereinkommens ist Artikel 3, in dem vereinbart<br />

wurde, dass die EFTA-Staaten untereinander keine Einfuhrzölle mehr<br />

erheben. Anders als die EWG 84 ist die EFTA „nur“ eine Freihandelszone; sie<br />

ist insbesondere keine Zollunion. Dies bedeutet vor allem, dass sie keinen<br />

gemeinsamen Außenzolltarif kennt. Die Handelspolitik gegenüber Drittländern<br />

liegt bei der EFTA mithin weiterhin in der Hand jedes einzelnen Vertragsstaats,<br />

der Zölle und Mengenbeschränkungen individuell festlegen kann.<br />

Nachdem von 1973 bis 1995 alle Vertragsstaaten – außer der Schweiz (7,1<br />

Mio. Einwohner), Norwegen (4,74 Mio.), Island (0,27 Mio.) und Liechtenstein<br />

(0,03 Mio.) – aus der EFTA aus- und in die Europäische Union eingetreten<br />

sind, hat die Europäische Freihandelszone heute stark an Bedeutung verloren.<br />

Für neue Staaten hat sie keine erkennbare Attraktivität mehr entfalten<br />

können.<br />

Dies insbesondere, nach dem Norwegen, Island und Liechtenstein am 2. Mai<br />

1992 mit der E(W)G und der EGKS das Abkommen über den Europäischen<br />

Wirtschaftsraum geschlossen hatten (EWR-Abkommen) 85 . Nach Artikel 1<br />

des EWR-Abkommens wird zwischen den Vertragsparteien im Wege der Assoziation<br />

ein homogener Europäischer Wirtschaftsraum geschaffen, indem<br />

der EG-Binnenmarkt auch auf die drei Nicht-EG-Staaten erstreckt wird. Die<br />

83 Ausführlich Steppacher in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 151 ff.<br />

84 Art. 23 Abs. 1 EG: Grundlage der Gemeinschaft ist eine Zollunion, die sich auf den gesamten<br />

Warenaustausch erstreckt; sie umfasst das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Einund<br />

Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben, sowie die Einführung eines<br />

Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) gegenüber dritten Ländern.<br />

85 In Kraft getreten am 1.1.1994, BGBl. 1993 II, S. 266.<br />

36


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Assoziation umfasst dementsprechend insbesondere die Personenfreizügigkeit<br />

sowie den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Neben der<br />

Gemeinsamen Agrarpolitik waren diese – nunmehr ohnehin gewährleisteten<br />

Binnenmarkt-Rechte des EWR – ein Grund für die Norweger, 1995 nicht<br />

auch noch der Europäischen Union beizutreten.<br />

Die Schweizer dagegen haben sogar den EWR-Beitritt abgelehnt 86 , allerdings<br />

nunmehr am 21. Juni 1999 mit der EG und den Mitgliedstaaten ein Paket von<br />

sieben sektoriellen Verträgen unterzeichnet. Neben einem – besonders praxisrelevanten<br />

– Abkommen über die Personenfreizügigkeit (APF-EU/CH) 87 beziehen<br />

sich die Verträge auf die Bereiche Forschung, technische Handelshemmnisse,<br />

landwirtschaftliche Produkte, Land- und Luftverkehr sowie das öffentliche<br />

Auftragswesen. Nachdem die Abkommen am 21. Mai 2000 in der<br />

Schweiz erfolgreich ein Referendum passiert hatten, werden sie voraussichtlich<br />

2002 in Kraft treten 88 . Diskutiert wird in der Schweiz zudem darüber, ob<br />

nicht etwa die Flexibilitätsinstrumentarien der verstärkten Zusammenarbeit<br />

neue Möglichkeiten einer Annäherung an die Europäische Union beinhalten 89 .<br />

Auf eine detaillierte Zeittafel der europäischen Integration wird hier verzichtet<br />

90 . Genannt seien nur einige „Meilensteine“: Gleichzeitig mit den Römischen<br />

Verträgen trat am 1. Januar 1958 das Abkommen über gemeinsame<br />

Organe für die Europäischen Gemeinschaften in Kraft 91 , in dem nur eine Versammlung<br />

(Vorläufer des Europäischen Parlaments) und ein Europäischer<br />

Gerichtshof für alle drei Europäischen Gemeinschaften eingesetzt wurde.<br />

Durch den Fusionsvertrag, der am 1. Juli 1967 in Kraft trat 92 , wurde darüber<br />

hinaus ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission eingesetzt.<br />

86 Volksabstimmung vom 6.12.1992.<br />

87 Vgl. Schaffhauser/Schürer, Die Durchführung des Abkommens EU/CH über die Personenfreizügigkeit<br />

in der Schweiz, Schriftenreihe des Instituts für Rechtswissenschaft und<br />

Rechtspraxis der Universität St. Gallen, 2001.<br />

88 Ausführlich hierzu Kahil-Wolff in: EuZW 2000, S. 387 ff. und EuZW 2001, S. 5 ff.<br />

89 Vgl. hierzu die interessante Studie von Bieber/Kahil-Wolff/Kallmayer, Differenzierte Integration<br />

in Europa – Handlungsspielräume für die Schweiz ?, Chur/Zürich 2000. Hier (S. 28)<br />

wird zutreffend auch aus Schweizer Perspektive darauf hingewiesen, dass die wirtschaftliche,<br />

politische, soziale und historische Nähe der Schweiz zu den EU-Mitgliedstaaten das<br />

Verständnis deren Völker für schweizer Sonderwege „vermindert“. In einer Volksabstimmung<br />

im März 2001 lehnten allerdings ganze 77% der Eidgenossen die Aufnahme schneller<br />

Beitrittsverhandlungen mit der EU ab.<br />

90 Vgl. Schmitz in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, XLIII ff.<br />

91 Abkommen vom 25.3.1957, BGBl. II S. 1156.<br />

92 Vertrag vom 8.4.1965, BGBl. II S. 1454.<br />

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1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Damit war eine einheitliche institutionelle Struktur der bis dahin getrennt operierenden<br />

Organe der drei Europäischen Gemeinschaften geschaffen und<br />

damit eine der wichtigsten Grundlagen für die spätere Gründung der Europäischen<br />

Union 93 . Auf dem Pariser Gipfeltreffen im Jahre 1972 beschlossen die<br />

Mitgliedstaaten zudem, ab 10. Dezember 1974 einen „Europäischen Rat“ zu<br />

errichten. Der Europäische Rat ist die Vereinigung der Staats- und Regierungschefs<br />

der Mitgliedstaaten sowie des Kommissionspräsidenten und für<br />

die Erörterung und Entscheidung von Grundsatzfragen im Sinne einer<br />

„EU-Richtlinienkompetenz“ zuständig 94 .<br />

Am 1. Januar 1973 traten Großbritannien, Irland und Dänemark den Gemeinschaften<br />

bei (Norderweiterung). 1975 wurden die ehemaligen Kolonien der<br />

Mitgliedstaaten in Afrika, der Karibik und dem Pazifik (AKP-Staaten) im ersten<br />

Lomé-Abkommen an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft assoziiert,<br />

d.h. es wurde diesen Staaten ein Zugang zum europäischen Markt verschafft.<br />

Im Juni 1979 fand die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments<br />

statt, durch die die demokratische Legitimation der Gemeinschaften maßgeblich<br />

verstärkt wurde. Am 1. Januar 1981 trat Griechenland und am 1. Januar<br />

1986 Portugal und Spanien den Europäischen Gemeinschaften bei<br />

(Süderweiterung).<br />

Am 1. Juli 1987 trat die Einheitliche Europäische Akte (EEA) in Kraft 95 . Die<br />

EEA kann als die erste inhaltlich tiefgreifende Reform der Europäischen Gemeinschaften<br />

bezeichnet werden. Initiiert wurde sie von dem damaligen<br />

Kommissionspräsidenten Delors 96 , der mit der EEA u.a. das Binnenmarkt-<br />

93 Art. 3 Abs. 1 EU: Die Union verfügt über einen einheitlichen institutionellen Rahmen, der die<br />

Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele unter gleichzeitiger<br />

Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstands sicherstellt.<br />

94 Art. 4 EU (Abs. 1:) Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen<br />

Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung<br />

fest. (Abs. 2:) Im Europäische Rat kommen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten<br />

sowie der Präsident der Kommission zusammen. Sie werden von den Ministern für<br />

auswärtige Angelegenheiten der Mitgliedstaaten und einem Mitglied der Kommission unterstützt.<br />

Der Europäische Rat tritt mindestens zweimal jährlich unter dem Vorsitz des Staatsoder<br />

Regierungschefs des Mitgliedstaats zusammen, der im Rat den Vorsitz innehat. (Abs.<br />

3:) Der Europäische Rat erstattet dem Europäischen Parlament nach jeder Tagung Bericht<br />

und legt ihm alljährlich einen schriftlichen Bericht über die Fortschritte der Union vor. // Der<br />

Europäische Rat darf natürlich nicht mit dem Europarat, der Straßburger Internationalen Organisation,<br />

verwechselt werden!<br />

95 EEA vom 28.2.1986, BGBl. II S. 1102.<br />

96 Jacques Delors (geb. 1925) war zunächst von 1981–1984 französischer Wirtschafts-, Finanz-<br />

und später Budgetminister. Von 1985–1994 war er dann Präsident der Europäischen<br />

38


1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

Projekt auf den Weg brachte und eine Europäische Politische Zusammenarbeit<br />

(EPZ), d.h. den konkreten Beginn einer Gemeinsamen Außenpolitik in<br />

den Verträgen normierte 97 .<br />

Die zweite tiefgreifende Fortentwicklung der Gemeinschaften brachte der<br />

Maastricht-Vertrag 98 , der am 1. November 1993 – insbesondere nach Billigung<br />

durch das deutsche Bundesverfassungsgericht 99 – in Kraft treten konnte.<br />

Der Maastrichter Vertrag brachte nicht nur die Wirtschafts- und Währungsunion,<br />

sondern schuf darüber hinaus auch noch die Europäische Union als<br />

politische „Dach“-Organisation über den drei weiter bestehenden Europäischen<br />

Gemeinschaften.<br />

Am 1. Januar 1995 traten Österreich, Finnland und Schweden der Union bei<br />

(„EFTA-Erweiterung“). Norwegen lehnte wie schon 1973 nunmehr ein zweites<br />

Mal den Beitritt ab, so dass es beim Europa der 15 verblieb. Am 16. Juli<br />

1997 stellte die Kommission die Vorschläge der Agenda 2000 vor, die die EU<br />

durch Änderung der wesentlichen Gemeinschaftspolitiken auf die anstehende<br />

Osterweiterung vorbereitet. Am 30. März 1998 begannen die Beitrittsverhandlungen<br />

mit 5 bzw. im Jahre 2000 mit weiteren 5 mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten sowie Zypern und Malta.<br />

Am 1. Januar 1999 trat die Europäische Währungsunion in (zunächst nur) 11<br />

Mitgliedstaaten 100 in Kraft. Ein Euro (100 Cent) wurde endgültig mit einem<br />

Umrechnungskurs von 1,95583 Deutsche Mark festgelegt. Ab 1. Januar<br />

2002 werden die Euro-Banknoten und Münzen in den Umlauf gebracht; der<br />

Geldaustausch soll bis spätestens März 2002 abgeschlossen sein.<br />

Am 1. Mai 1999 trat dann der Amsterdamer-Vertrag in Kraft 101 , der die dritte tiefgreifende<br />

Fortentwicklung der Europäischen Union herbeiführte. Als Maas-<br />

Kommission und brachte hier die Europäische Integration ganz entscheidend etwa durch<br />

konkrete Vorschläge zur Währungsunion und weitere Reform-Pakete voran.<br />

97 Die EPZ begann schon ab 1970; ausführlich Bußmann in: Mickel, Handlexikon der EU, 2.<br />

Aufl. 1998, S. 171 ff.<br />

98 Vom 7.2.1992, BGBl. II S. 1253.<br />

99 Maastricht-Urteil vom 12.10.1993, BVerfG E 89, 155 = NJW 1993, S. 3047 ff.<br />

100 Sämtliche EU-Mitgliedstaaten außer Großbritannien, Dänemark, Schweden und Griechenland;<br />

Griechenland gehört jedoch seit 1.1.2001 zur Eurogruppe.<br />

101 Vertrag vom 2.10.1997, vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7437 vom 1.4.1999, S. 3; vgl.<br />

Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag - Eine Kommentierung der Neuerungen des<br />

EU- und EG-Vertrags, 1998.<br />

39<br />

54<br />

55<br />

56<br />

57


58<br />

1.1.2- Hauptdaten der Europäischen Integration<br />

tricht-Nachfolgevertrag liegen seine Schwerpunkte insbesondere in einer Stärkung<br />

der Rolle des Europäischen Parlaments sowie einer Überführung intergouvernementaler<br />

Instrumente in das Gemeinschaftsrecht, insbesondere im Bereich<br />

der reformierten Justiz- und Innenpolitik. Die im Hinblick auf die anstehende<br />

Osterweiterung erforderliche große institutionelle Reform sowie die weitere<br />

Überführung von Politikfeldern von der Einstimmigkeit in den Bereich der Mehrheitsbeschlüsse<br />

wurden vom Amsterdamer Vertrag nicht geleistet.<br />

Diese weiteren Integrationsschritte sollen nunmehr durch den Vertrag von<br />

Nizza nachgeholt werden, der am 26. Februar 2001 von den EU-Außenministern<br />

unterzeichnet wurde und – trotz der Ablehnung durch die Iren in deren<br />

(ersten) Volksabstimmung vom 7. Juni 2001 102 – möglicherweise im Laufe<br />

des Jahres 2002 in Kraft treten wird. Der Vertrag von Nizza will insbesondere<br />

Parlament, Rat, Kommission und EuGH umstrukturieren, für weitere 27<br />

Bestimmungen die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit einführen 103<br />

und ganz erheblich die sog. „Verstärkte Zusammenarbeit“ ausbauen, mit deren<br />

Instrumentarium dann möglicherweise – nach der Vision vieler Europapolitiker<br />

– mittelfristig die Neugründung einer bundesstaatsähnlichen „Klein-<br />

EU“ in der Union im Sinne eines „Kerneuropas“ bzw. einer „Avantgarde-<br />

Föderation“ durchgeführt werden könnte.<br />

102 Der Vertrag von Nizza bedarf zum In-Kraft-Treten nach Art. 48 Abs. 3 EU der Ratifikation<br />

von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften; nur in Irland ist<br />

diesmal hierfür eine Volksabstimmung erforderlich. An der Volksabstimmung vom 7.6.2001<br />

beteiligten sich lediglich 32% der Stimmberechtigten, von denen 54% mit Nein („Níl“) stimmten.<br />

Dies entsprach gerade einmal 529.478 Stimmen, d.h. weniger Bürgern, als etwa Stuttgart<br />

Einwohner hat. Die Haupt-Neingründe waren offenbar (1) die Angst um die irische<br />

Neutralität, (2) die Angst vor einer Steuerharmonisierung und (3) die Angst, nach der Osterweiterung<br />

zu Nettozahlern zu werden; vgl. Le Figaro v. 9.6.2001. Der Europäische Rat hat<br />

die irische Volksabstimmung auf dem Gipfeltreffen in Göteburg am 15./16.6.2001 nicht<br />

etwa als fundamentale Kritik an seinem „Konferenz- und Vertragstheater“ (Helmut Schmidt)<br />

oder gar als „Nein des Volkes zur Osterweiterung“ interpretiert, sondern gewissermaßen als<br />

„kleinen, reparablen Betriebsunfall“ eingestuft und dennoch – doch ein wenig heuchlerisch<br />

– die „zügige Erweiterung“ angekündigt, d.h. den Abschluss der ersten Beitrittsverhandlungen<br />

„voraussichtlich bis Ende 2002“. Die irische Regierung werde „nach Kräften bei der Suche<br />

nach einer Lösung unterstützt“. Man werde ggf. in einem neuen Protokoll noch einmal<br />

die fortbestehende Neutralität Irlands bekräftigen. Im Frühjahr 2002 solle dann (nach dem<br />

dänischen Muster bzgl. Maastricht 1992 = so lange abstimmen lassen, bis das Volk Ja sagt)<br />

eine zweite Volksabstimmung die Zustimmung Irlands sichern; im Notfall könnten weite Teile<br />

des Vertrags von Nizza technisch auch über den Weg der Beitrittsverträge in Kraft gesetzt<br />

werden.<br />

103 Ausdrücklich in der Einstimmigkeit verblieben sind jedoch insbesondere – auf Wunsch<br />

Deutschlands – in wesentlichen Bereichen die Asylpolitik und – auf Drängen vor allem von<br />

Großbritannien und gegen den Wunsch Deutschlands – der gesamte Bereich der Steuern.<br />

40


1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

Wer den Europäischen Integrationsverbund anschaulich erläutern will, bedient<br />

sich – auch auf Grund der hierin enthaltenen „antiken Komponente“ –<br />

gerne des Bilds eines Tempels. Ein solches Bild ist zwar eine eigentlich unzulässige<br />

Schematisierung und Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit, legt<br />

aber die EU-Grundstrukturen für jedermann verständlich offen. Und ganz<br />

falsch ist ein solches Bild zudem nicht. Zwar sind die verschiedenen „Bauteile“<br />

spätestens seit dem Amsterdamer Vertrag juristisch nicht mehr klar voneinander<br />

zu trennen; eine scharfe Trennlinie etwa zwischen EU und EG entspricht<br />

immer weniger der Vertragsrealität 104 . Dennoch verbleiben auch hier<br />

strukturelle Unterschiede, die es rechtfertigen, weiterhin von dem „Tempeldach“<br />

der EU zu sprechen, das auf drei politisch und juristisch zu trennenden<br />

„Pfeilern“ bzw. „Säulen“ ruht.<br />

Als „erste Säule“ werden gemeinhin die drei Europäischen Gemeinschaften<br />

bezeichnet. Nach wie vor sind die Gemeinschaften in drei eigenständigen<br />

Verträgen geregelt, d.h. auch weiterhin gibt es den EGKS-Vertrag (Montanunion)<br />

und den EAG-Vertrag (Euratom), die als „Verwaltungsgemeinschaften“<br />

105 inhaltlich begrenzte sektorale Bereiche regeln. Daneben besteht der<br />

EG-Vertrag, der bis zum In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrags am<br />

1.11.1993 EWG-Vertrag hieß und der den gesamten „Rest“ der einzelnen<br />

Wirtschaftsbereiche und Politiken abdeckt. Der EG-Vertrag hat eine umfassende,<br />

d.h. nicht sektoral begrenzte Gemeinschaft geschaffen 106 . Die EG ist<br />

der mit Abstand wichtigste Teil der ersten Säule, auf der die EU im Bilde des<br />

„Tempeldaches“ ruht; sie wurde und wird mit jeder Vertragsrevision weiter<br />

ausgebaut. Die Montanunion dagegen verliert ihre tragende Funktion immer<br />

weiter; anders als alle anderen Verträge wurde der EGKS-Vertrag nur auf 50<br />

Jahre geschlossen 107 , so dass die Montanunion demnächst ausläuft 108 .Abnehmende<br />

Bedeutung hat schließlich auch die Europäische Atomgemein-<br />

41<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

104 Vgl. v. Bogdandy, Die EU als supranationale Föderation, in: integration 2/1999, S. 95 ff.<br />

105 So genannte Traités Loi.<br />

106 Rahmenvertrag: sog. Traité Cadre.<br />

107 Vgl. Art. 97 EGKS: Die Geltungsdauer dieses Vertrags endet am 23. Juli 2002.<br />

108 Voraussichtlich soll hernach der Handel mit Stahlerzeugnissen vollständig in die Gemeinsame<br />

Handelspolitik des EG eingebunden werden. Daneben sollen EGKS-Entscheidungen<br />

zur Stahlpreispolitik stufenweise außer Kraft gesetzt und die Rechtsgrundlagen für Zusammenschlüsse<br />

im Montanbereich mit denjenigen europarechtlichen Vorschriften abgestimmt<br />

werden, die in anderen Wirtschaftszweigen gelten; vgl. NJW 1999, Heft 45, XLIX.<br />

59<br />

60


61<br />

62<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

schaft. Schon bislang konnten wegen der nationalen Alleingänge einiger Mitgliedstaaten<br />

insbesondere die als Integrationsfaktor wichtigen Ziele der<br />

Schaffung einer koordinierten europäischen Atomindustrie und eines diesbezüglichen<br />

Gemeinsamen Marktes nicht wirklich erfüllt werden; bis heute nutzen<br />

überhaupt nur acht EU-Mitgliedstaaten die Kernenergie 109 . Vor diesem<br />

Hintergrund kann über die Zukunft der EAG nur spekuliert werden. Zwar gilt<br />

der EAG-Vertrag gemäß Artikel 208 auf unbegrenzte Zeit. Seit der Katastrophe<br />

von Tschernobyl und den erheblichen Risiken im Bereich der Atomwirtschaft<br />

der osteuropäischen Staaten scheint aber klar zu sein, dass das ursprüngliche<br />

„Aufbauprogramm“ von EURATOM kaum jemals wie vorgesehen<br />

realisiert wird. In einer Reihe von Mitgliedstaaten verdichtet sich zudem<br />

eine Anti-Haltung gegenüber Atomkraft. Auch scheinen die kernkraftnutzenden<br />

Mitgliedstaaten bislang nicht bereit zu sein, auf ihre nationalen Sonderwege<br />

zu verzichten. Somit dürfte auch dieser Teil der ersten Säule in zunehmendem<br />

Maße an Bedeutung zu verlieren.<br />

Als „zweite Säule“, auf der der Europäische Integrationsverbund ruht, wird<br />

gemeinhin die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bezeichnet,<br />

die insbesondere in den Artikeln 11 bis 28 des EU-Vertrags geregelt ist.<br />

Die GASP stellt im Wesentlichen die Fortentwicklung der „Europäischen Politischen<br />

Zusammenarbeit“ (EPZ) dar, die auf das Haager Gipfeltreffen von<br />

1969 und den Luxemburger Bericht vom Oktober 1970 sowie die Einheitliche<br />

Europäische Akte von 1986 zurückgeht 110 .<br />

Als „dritte Säule“ wird heute die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen (PJZS) bezeichnet, die insbesondere in den Artikeln 29 bis 42<br />

EU geregelt ist. Die dritte Säule wurde durch den Amsterdamer Vertrag umfassend<br />

neu gegliedert. Im Maastrichter Vertrag hieß sie noch „Zusammenarbeit<br />

in den Bereichen Justiz und Inneres“ 111 und war mithin inhaltlich sehr viel<br />

umfassender konzipiert als die heutige PJZS. Dies hat seine Ursache in dem<br />

Umstand, dass wesentliche Teile der europäischen Justiz- und Innenpolitik<br />

durch den Amsterdamer Vertrag in den EG-Vertrag und also in die erste Säu-<br />

109 Anteil an der Stromerzeugung: Frankreich 75,3%, Belgien 55,8%, Schweden 51%, Spanien<br />

35%, Finnland 31%, Deutschland 29,3%, Großbritannien 25,8%, Niederlande 4,9%; vgl.<br />

Kohl/Bergmann, Europäischer Finanzausgleich?, 1998, S. 194.<br />

110 Ausführlich Schumann in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 12 RdNr.<br />

5 ff.<br />

111 Die sog. ZBJI; vgl. Art. K, K.1 bis K.9 EU-Vertrag a.F.<br />

42


le überführt wurden 112 . Historisch geht die dritte Säule auf die bi- und multinationale<br />

Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten im Bereich der Justiz zurück,<br />

die in den 70er Jahren unter dem Titel „TREVI-Gruppe“ 113 begonnen<br />

wurde.<br />

Die drei Säulen des Europäischen Integrationsverbundes sind sowohl europarechtlich,<br />

als auch europapolitisch voneinander zu unterscheiden. Europarechtlich<br />

ist nur die erste Säule als wirklich supranationaler Bereich zu bezeichnen,<br />

in dem also auch mit Mehrheitsbeschlüssen gearbeitet wird und<br />

Recht entsteht, das direkt an die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger adressiert<br />

ist und mithin – ohne nationalen Transformationsakt – auf sie „durchgreift“.<br />

Nur im Bereich der ersten Säule kann man tatsächlich davon sprechen,<br />

dass Politikbereiche „vergemeinschaftet“ und also zur ureigensten Sache der<br />

EU gemacht wurden. Nur hier wurde tatsächlich die Souveränität der Mitgliedstaaten<br />

stark eingeschränkt und echte europäische „Integration“ geleistet.<br />

Im Bereich der zweiten und dritten Säule dagegen findet weitgehend internationale<br />

bzw. intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />

statt, d.h. es gilt das Prinzip der Einstimmigkeit, was natürlich bedeutet, dass<br />

jeder Mitgliedstaat grundsätzlich ein Veto-Recht besitzt. Hier wird auf internationaler<br />

Ebene überwiegend im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts zusammengearbeitet.<br />

Wie sich allerdings im Bereich der dritten Säule durch die<br />

Fortentwicklung von Maastricht zu Amsterdam gezeigt hat, ist diese völkerrechtliche<br />

Zusammenarbeit gegebenenfalls eine Vorstufe für die Überführung<br />

eines Politikfelds in den Kernbereich der europäischen Integration, und<br />

also in die erste Säule. Möglicherweise wird etwa durch den Jugoslawien-Konflikt<br />

im Laufe der nächsten Jahre auch die zweite Säule einen solchen<br />

„europarechtlichen Schub“ erhalten, sodass zukünftig einige von deren<br />

Teilbereichen in die erste Säule herüber wandern, d.h. supranationalen Regeln<br />

unterliegen könnten. Auf Dauer wird auf diese Weise dann eventuell die<br />

gesamte Trennung in drei Säulen verschwinden und eine vertragliche Verschmelzung<br />

zu einer Einheit stattfinden. Als Perspektive wird insoweit oftmals<br />

an die Schaffung der viel diskutierten einheitlichen EU-Verfassung gedacht 114 .<br />

43<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

112 Vgl. das neue Kapitel über: Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den<br />

freien Personenverkehr; Art. 61 bis 69 EG.<br />

113 TREVI = Action contre Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale;<br />

ausführlich Winkler in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 2 RdNr. 1 ff.<br />

114 Vgl. hierzu unter 4.3.3- Finalität und europapolitische Visionen.<br />

63<br />

64


65<br />

66<br />

67<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

Derzeit jedenfalls aber ist nicht nur europarechtlich, sondern auch europapolitisch<br />

noch zu unterscheiden. Stark vereinfacht ausgedrückt ist es politisches<br />

Ziel der ersten EU-Säule, den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern<br />

Wohlstand zu bringen; Ziel der zweiten und dritten Säule ist es, diesen Wohlstand<br />

zu sichern. Im Rahmen der zweiten Säule insbesondere vor kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen, d.h. gegenüber Drittstaaten und also „nach<br />

außen“. Im Rahmen der dritten Säule schließlich insbesondere vor Kriminalität,<br />

d.h. durchaus auch untereinander und bezogen auf Gefahren aus den<br />

einzelnen Mitgliedstaaten bzw. „nach innen“.<br />

Diese verschiedenen europapolitischen Zielsetzungen lassen sich auch mit<br />

den Worten der Verträge ausdrücken: Gemäß Art. 2 des EG-Vertrages ist es<br />

politisches Ziel der EG, d.h. des mit Abstand wichtigsten Bereichs der ersten<br />

Säule, „durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts-<br />

und Währungsunion sowie durch die Durchführung der gemeinsamen<br />

Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische,<br />

ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein<br />

hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die<br />

Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nicht inflationäres<br />

Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz<br />

der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung<br />

der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität,<br />

den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen<br />

den Mitgliedstaaten zu fördern“. Bereits hierin zeigt sich, dass im Rahmen<br />

der ersten Säule neben der Wirtschafts- und Währungsunion insbesondere<br />

der Gemeinsame Markt bzw. der Binnenmarkt das Hauptinstrument zur<br />

Wohlstandshebung ist. Hier zeigt sich auch der marktwirtschaftliche Ansatz<br />

der EG 115 .<br />

Europapolitisches Ziel der zweiten Säule, die sich auf sämtliche Bereiche der<br />

Außen- und Sicherheitspolitik erstrecken soll, ist nach Art. 11 EU „die Wahrung<br />

der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit<br />

und der Unversehrtheit der Union im Einklang mit den Grundsätzen<br />

der Charta der Vereinten Nationen; die Stärkung der Sicherheit der Union in<br />

allen ihren Formen; die Wahrung des Friedens und die Stärkung der interna-<br />

115 Art. 4 Abs. 1 EG spricht von einer Verpflichtung auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft<br />

mit freiem Wettbewerb.<br />

44


tionalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten<br />

Nationen sowie den Prinzipien der Schlussakte von Helsinki und den Zielen<br />

der Charta von Paris, einschließlich derjenigen, welche die Außengrenzen<br />

betreffen; die Förderung der internationalen Zusammenarbeit; die Entwicklung<br />

von Stärkung und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung<br />

der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Auch in diesen vertraglichen<br />

Zielsetzungen spiegeln sich die europäischen Hauptgedanken der Friedenssicherung,<br />

der Machterhaltung Europas und der Gedanke vom Europa als<br />

Wertegemeinschaft deutlich wider.<br />

Die europapolitischen Ziele der dritten Säule finden sich schließlich in Art. 29<br />

EU. Hiernach verfolgt die Union mit der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen das Ziel, „den Bürgern in einem Raum der Freiheit,<br />

der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten, in dem<br />

sie ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen<br />

und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen entwickelt sowie Rassismus<br />

und Fremdenfeindlichkeit verhütet und bekämpft. Dieses Ziel wird erreicht<br />

durch die Verhütung und Bekämpfung der – organisierten oder nichtorganisierten<br />

– Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels<br />

und der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels,<br />

der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs im Wege<br />

einer engeren Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll und anderer zuständiger<br />

Behörden in den Mitgliedstaaten, sowohl unmittelbar als auch unter Einschaltung<br />

des Europäischen Polizeiamts (EUROPOL) ...; im Wege einer engeren<br />

Zusammenarbeit insbesondere der Justizbehörden ... sowie im Wege einer<br />

Annäherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten ..., soweit dies erforderlich<br />

ist“.<br />

Die aufgeführten Zielsetzungen finden sich übergreifend für die gesamte<br />

Union in Art. 2 EU. Dort wird noch einmal insbesondere die Förderung des<br />

wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts (erste Säule), die Behauptung der<br />

Identität der EU auf internationaler Ebene, wozu auch neben der Gemeinsamen<br />

Außenpolitik eine Gemeinsame Sicherheitspolitik gehört, die zu einer<br />

gemeinsamen Verteidigung führen könnte (zweite Säule), sowie die Erhaltung<br />

und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts betont, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in<br />

Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung<br />

45<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

68<br />

69


70<br />

71<br />

72<br />

1.1.3- EU-Tempelstruktur<br />

sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr<br />

gewährleistet ist (dritte Säule).<br />

Die EU verklammert als „politische Dachorganisation“ alle drei Säulen gemäß<br />

Art. 3 Abs. 1 EU in erster Linie durch „einen einheitlichen institutionellen<br />

Rahmen, der die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung<br />

ihrer Ziele unter gleichzeitiger Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen<br />

Besitzstandes sicherstellt“. Ausgangspunkt dieses einheitlichen<br />

institutionellen Rahmens waren das Abkommen über gemeinsame Organe<br />

für die Europäischen Gemeinschaften vom 25.3.1957 / 1.1.1958 und der Fusionsvertrag<br />

vom 8.4.1965 / 1.7.1967. Die dem Europäischen Integrationsverbund<br />

zugewiesenen Aufgaben werden seither insbesondere wahrgenommen<br />

durch den (Fachminister-) Rat, dem europäischen Haupt-Legislativorgan,<br />

der Kommission, dem Haupt-Exekutivorgan, dem Europäischen Parlament,<br />

dem inzwischen recht kraftvollen Mit-Gesetzgeber 116 , dem Europäischen<br />

Gerichtshof, der vielfach die Rolle des „Integrations-Motors“ ausübt,<br />

sowie dem Rechnungshof, der alle Ausgaben und Einnahmen des EU-Haushalts<br />

überprüft.<br />

Weiter heißt es in Art. 3 Abs. 2 EU, dass die Union insbesondere auf die Kohärenz<br />

aller von ihr ergriffener außenpolitischen Maßnahmen im Rahmen ihrer<br />

Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik achtet. Verantwortlich<br />

für diese Kohärenz ist nach dem Vertragstext der Rat und die Kommission;<br />

sie arbeiten zu diesem Zweck zusammen und stellen jeweils in ihrem<br />

Zuständigkeitsbereich die Durchführung der betreffenden Politiken sicher.<br />

Eine weitere Verklammerung der drei Säulen des Europäischen Integrationsverbundes<br />

ergibt sich durch die Stellung des Europäischen Rates, d.h. der<br />

Versammlung der Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten und des<br />

Kommissionspräsidenten. Der Europäische Rat gibt der Union gemäß Art. 4<br />

EU die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen<br />

politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest. Er bildet damit als<br />

politisches Leitorgan der Europäischen Union das gemeinsame Forum der<br />

116 In Anbetracht der Tatsache, dass heute wohl an die ¾ aller Rechtsakte im Kodezisionsverfahren<br />

nach Art. 251 EG – und also unter entscheidendem Einfluss des Parlaments – erlassen<br />

werden, könnte man dem Rat sogar die Bezeichnung „Haupt“-Legislativorgan absprechen.<br />

46


Staatslenker zur Bündelung des europapolitischen Willens der Mitgliedstaaten<br />

117 .<br />

Wesentlicher Bestandteil der „EU-Tempelkonstruktion“ ist schließlich die säulenübergreifende<br />

Unionsbürgerschaft und der gemeinschaftliche Besitzstand;<br />

beide Rechtsinstitute stehen nach Art. 2 EU im Zentrum der Unionsziele.<br />

Durch Einführung einer Unionsbürgerschaft soll die Stärkung des<br />

Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen der EU-Mitgliedstaaten<br />

sichergestellt werden. Des Weiteren setzt sich die Union das Ziel der<br />

vollen Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands 118 und seine Weiterentwicklung,<br />

wobei geprüft werden soll, inwieweit die durch den EU-Vertrag eingeführten<br />

Politiken und Formen der Zusammenarbeit mit dem Ziel zu revidieren<br />

sind, die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Gemeinschaft<br />

sicher zu stellen. Hier wird zugleich die vertragliche Verflechtung der EU mit<br />

der EG deutlich, da zum einen die Unionsbürgerschaft mit ihren besonderen<br />

Rechten und Pflichten in Art. 17 bis 22 des EG-Vertrags geregelt und zum anderen<br />

der gemeinschaftliche Besitzstand der Union insbesondere auf das gesamte<br />

Gemeinschaftsrecht, d.h. die Verträge und alle hierauf beruhenden<br />

Rechtsakte, die überwiegend im Rahmen der EG geschaffen wurden, bezogen<br />

ist.<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

Die Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Maastrichter Vertrag vom<br />

7.2.1992 / 1.11.1993 sollte dazu beitragen, den Wanderarbeitnehmer im<br />

fremden Mitgliedstaat nicht länger nur als „Marktbürger“ wahrzunehmen,<br />

sondern vielmehr als vollwertigen „Mitbürger“. Die Unionsbürgerschaft soll<br />

mithin, ergänzend zur Gleichstellung im beruflichen Bereich, die allgemeine<br />

Integration des EU-Ausländers auf gesellschaftlichem und politischem Ge-<br />

117 Vgl. Herdegen, Europarecht, 2. Aufl., 1999, § 5 RdNr. 66.<br />

118 Der so genannte acquis communautaire.<br />

47<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

73<br />

74


75<br />

76<br />

77<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

biet sicherstellen. Dahinter steht die Idee des „Europas der Bürger“ 119 .<br />

Nach Artikel 17 des EG-Vertrags ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit<br />

eines Mitgliedstaats besitzt. Ausdrücklich ergänzt die Unionsbürgerschaft<br />

hiernach die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht. Hieraus<br />

wird teilweise gefolgert, die Unionsbürgerschaft sei gegenüber einer nationalen<br />

Staatsangehörigkeit „wesensverschieden“. Sie beinhalte keine<br />

vergleichbar enge Rechts- und Pflichtenbeziehung zwischen dem Einzelnen<br />

und dem Europäischen Integrationsverbund, wie sie für die Staatsbürgerschaft<br />

kennzeichnend sei. Aus diesem Grund bilde auch die Gesamtheit der<br />

Unionsbürger keine politische Willenseinheit. Dies zeige sich etwa auch bei<br />

der Wahl zum Europäischen Parlament, bei der die Unionsbürgerinnen und<br />

Unionsbürger durch die Zuordnung zu einem der Mitgliedstaaten im Rahmen<br />

des für die einzelnen Staaten geltenden Verteilungsschlüssels „mediatisiert“<br />

seien. Auch kenne das Unionsrecht nicht einmal Mindeststandards für die<br />

Verleihung einer Staatsangehörigkeit, die ihrerseits die Unionsbürgerschaft<br />

vermittelt 120 .<br />

Diese juristisch zweifellos vertretbare Einschätzung (genauer: Geringschätzung)<br />

der Unionsbürgerschaft unterbewertet deren Symbolcharakter. Da die<br />

EU kein Staat ist, sondern ein Integrationsverbund, muss auch die Unionsbürgerschaft<br />

rechtlich nicht ebenso eng binden wie eine Staatsbürgerschaft. Sie<br />

kann – parallel zu den herrschenden Begrifflichkeiten bei der rechtlichen Charakterisierung<br />

der EU selbst – als Band „sui generis“ zwischen den Unionsbürgern<br />

begriffen werden, das nicht mit überkommenen staatsrechtlichen Konstruktionen<br />

identisch sein muß und trotzdem „wesensgleich“ ist. Anknüpfend<br />

an wohl kaum abstreitbare äußere und innere Verbundenheiten der Unionsbürger<br />

(erinnert sei an Europafahne, -hymne, -pass oder auch „Europäerstolz“)<br />

in Zusammenschau mit den aus der Unionsbürgerschaft folgenden<br />

Rechtspositionen des Einzelnen lässt sich die Gesamtheit der Unionsbürger<br />

durchaus als politische Willenseinheit, als „europäisches Volk“ begreifen 121 .<br />

119 Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, § 23 RdNr. 1548 ff.; aus dieser ideellen Konzeption<br />

heraus ist wohl auch zu erklären, dass auffallenderweise im EG-Vertrag eigentlich nur<br />

Rechte, nicht aber Pflichten der Unionsbürger normiert sind. Vgl. auch Hatje in: Schwarze,<br />

EU-Kommentar, 2000, Art. 18 EGV, RdNr. 2 ff.<br />

120 So etwa Herdegen, Europarecht, 2. Aufl. 1999, § 13 RdNr. 266.<br />

121 S. auch oben unter 1- Grundlagen („Staat“).<br />

48


Beinhaltete die Einführung der Unionsbürgerschaft neben der psychologischen<br />

Komponente doch auch einen wesentlichen Zugewinn an Rechten für<br />

den „Citoyen“, insbesondere durch die Gewährleistung einer allgemeinen<br />

Freizügigkeit, den Zugang zur politischen Willensbildung auf kommunaler<br />

Ebene und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, durch die Europäisierung<br />

des diplomatischen Schutzes sowie etwa auch durch die Einräumung<br />

eines Petitionsrechts beim Europäischen Parlament. Fundamental für<br />

den Unionsbürgerstatus ist zudem das in Art. 12 EG normierte Verbot jeglicher<br />

Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.<br />

Im einzelnen: Nach Art. 18 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet<br />

der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den<br />

Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen<br />

frei zu bewegen und aufzuhalten. Konkretisiert wird dieses allgemeine<br />

Freizügigkeitsrecht im Wesentlichen durch drei Richtlinien; die Richtlinie<br />

über das Aufenthaltsrecht 122 , die Richtlinie über die aus dem Erwerbsleben<br />

ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständigen Erwerbstätigen 123 sowie<br />

die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht der Studenten 124 . In den Freizügigkeitsrichtlinien<br />

wird den Mitgliedstaaten allerdings insbesondere erlaubt, dieses<br />

Unionsbürgerrecht vom Vorhandensein ausreichender Existenzmittel<br />

und dem Bestehen einer Krankenversicherung abhängig zu machen 125 . Hierdurch<br />

soll verhindert werden, dass durch die Freizügigkeitsrechte eine Art<br />

„Sozialhilfe-Tourismus“ stattfindet bzw. der EU-Ausländer dem Wohnortstaat<br />

sozialrechtlich zur Last fällt.<br />

Der Vertrag von Nizza vom 26.02.2001 will nunmehr das Freizügigkeitsrecht<br />

der Unionsbürger weiter in der Praxis durchsetzen. Dazu ist vorgesehen, das<br />

Einstimmigkeitserfordernis des bisherigen Art. 18 Abs. 2 EG für Liberalisierungsmaßnahmen<br />

aufzugeben und diesen Absatz wie folgt neu zu fassen:<br />

Erscheint zur Erreichung dieses Ziels (Freizügigkeit) ein Tätigwerden der Gemeinschaft<br />

erforderlich und sieht der EG-Vertrag hierfür keine Befugnisse vor,<br />

so kann der Rat Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung der Rechte<br />

nach Absatz 1 erleichtert wird. Er beschließt gemäß dem Verfahren des Art.<br />

251 EG. Allerdings fügt Nizza vorsichtshalber eine „Negativklausel“ im neuen<br />

49<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

122 Richtlinie 90/364/EWG, ABl. 1990 Nr. L 180/26.<br />

123 Richtlinie 90/365/EWG, ABl. 1990 Nr. L 180/28.<br />

124 Richtlinie 93/96/EWG, ABl. 1993 Nr. L 317/59.<br />

125 Vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht.<br />

78<br />

79


80<br />

81<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

Art. 18 Abs. 3 EG an: Absatz 2 gilt nicht für Vorschriften betreffend Pässe, Personalausweise,<br />

Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente und<br />

auch nicht für Vorschriften betreffend die soziale Sicherheit oder den sozialen<br />

Schutz. Inwieweit trotz dieser – doch erheblichen – Einschränkung substantielle<br />

Liberalisierungsmaßnahmen möglich bleiben, wird die Zukunft zeigen.<br />

Die Wahrnehmung der Freizügigkeitsrechte wird in praktischer Hinsicht durch<br />

den weitgehenden Wegfall der Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen<br />

wesentlich erleichtert. Im Hinblick auf den Aufenthalt einer großen Zahl von<br />

Drittstaatsangehörigen in der EU und dem Gesichtspunkt der Kriminalitätsbekämpfung<br />

berühren diese Maßnahmen allerdings durchaus elementare nationale<br />

Sicherheitsinteressen. Sie gehen darum einher mit einer verstärkten Kooperation<br />

der Polizeibehörden zwischen den Mitgliedstaaten. Hierbei stehen<br />

sensible Bereiche einzelstaatlicher Souveränität auf dem Spiel, so dass gemeinsame<br />

Regelungen oftmals schwierig zu erreichen sind. Solche gemeinsamen<br />

Regelungen wurden etwa im Rahmen der Schengener Verträge 126 getroffen,<br />

deren zentraler Inhalt das Prinzip ist, dass die Binnengrenzen einerseits<br />

überall ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen, die Kontrolle<br />

an den Außengrenzen andererseits eine gemeinsame Angelegenheit der<br />

Beteiligten nach einheitlichen Grundsätzen darstellt. Zur besseren Durchführung<br />

der Außenkontrollen wurde zudem in Straßburg eine zentrale polizeiliche<br />

EDV-Datei eingerichtet, das so genannte Schengener Informationssystem<br />

(SIS) 127 . Ergänzt werden diese Maßnahmen des Weiteren durch das Übereinkommen<br />

über ein Europäisches Polizeiamt, das so genannte EUROPOL 128 .<br />

Dieses Den Haager Institut hat bezüglich der Drogenkontrollen bereits seit<br />

1994 die Arbeit aufgenommen und wurde insbesondere durch den Amsterdamer<br />

Vertrag erheblich ausgebaut 129 .<br />

Nach Art. 19 EG besitzt jeder Unionsbürger grundsätzlich das aktive und pas-<br />

126 Schengener Übereinkommen vom 14.06.1985 und 19.06.1990. Durch den Amsterdamer<br />

Vertrag (EUV-Protokoll Nr. 2) wurde „der Schengen-Besitzstand“ als verstärkte Zusammenarbeit<br />

in den Rahmen der EU einbezogen; Sonderregelungen galten allerdings für u.a.<br />

Dänemark (Art. 3 Prot.) und – „durch den Schengen-Besitzstand nicht gebunden“ – Großbritannien<br />

und Irland (Art. 4 Prot.). Seit 25. März 2001 sind die Schengener Verträge auch<br />

für die Staaten der Nordischen Pass- und Zoll-Union verbindlich geworden (seit 1954: Dänemark,<br />

Schweden, Finnland, Norwegen und Island). Damit gilt der freie Schengener<br />

Grenzverkehr heute – mit Ausnahme der Inselstaaten Großbritannien und Irland – für alle<br />

EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen und Island.<br />

127 Vgl. Scheller, JZ 1992, S. 904 ff.<br />

128 Vgl. ABl. 1995 Nr. C 316/1.<br />

129 Vgl. etwa Art. 30 Abs. 2 EU.<br />

50


sive Wahlrecht in seinem Wohnsitzstaat bei Kommunalwahlen sowie bei<br />

den Wahlen zum Europäischen Parlament. Insbesondere das<br />

EU-Kommunalwahlrecht verdeutlicht, dass die Unionsbürgerschaft nicht nur<br />

auf wirtschaftliche, sondern ebenso auf umfassende soziale und politische<br />

Integration abzielt. Allerdings muss festgestellt werden, dass diese Wahlrechte<br />

in der Praxis nur zögerlich ausgeübt werden. Dies dürfte sich jedoch<br />

nicht nur auf politisches Desinteresse zurückführen lassen, sondern auch auf<br />

bürokratische Hürden, die die Mitgliedstaaten gelegentlich aufgebaut haben.<br />

In Deutschland musste bislang etwa gemäß § 17 a Abs. 2 Europawahlordnung<br />

bei jeder Europawahl erneut ein Antrag auf Eintragung in das Wählerverzeichnis<br />

gestellt werden und dies auch noch bis spätestens zum 34. Tag<br />

vor der Wahl bei der zuständigen Gemeindebehörde. Diese Frist wurde damit<br />

begründet, dass in Zweifelsfällen im Herkunftsmitgliedstaat zur Vermeidung<br />

einer Doppelwahl über den internationalen Behördenverkehr Auskünfte<br />

eingeholt werden müßten 130 . Die Bekanntmachung dieser frühen Frist wurde<br />

meist über Zeitungen versucht und erreichte so in der Praxis die große Mehrheit<br />

der ausländischen Unionsbürger offenbar nicht. Über die Rechtmäßigkeit<br />

einer solchen „faktischen Wahl-Verhinderungsfrist“ kann deshalb trefflich<br />

gestritten werden 131 .<br />

Nach Art. 20 EG genießt jeder Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines dritten<br />

Landes, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt,<br />

nicht vertreten ist, den diplomatischen und konsularischen Schutz eines jeden<br />

Mitgliedstaates unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses<br />

Staates. Durch diese Regelung wird der diplomatische Schutz europäisiert<br />

132 . Der europäisierte diplomatische Schutz umfasst insbesondere Hilfe<br />

bei Todesfällen, Unfällen, Krankheit, Festnahme, Gewaltverbrechen oder<br />

sonstigen Notfällen von Unionsbürgern.<br />

51<br />

1.1.4- Die Unionsbürgerschaft<br />

130 Offenbar wird Unionsbürgern insoweit nicht getraut, obwohl die Doppelwahl strafbewehrt ist.<br />

131 Hierzu wurde anlässlich der Europawahl 1999 vom Verwaltungsgericht Stuttgart ein<br />

Rechtsstreit entschieden: Der britische Antragsteller hatte die Antragsfrist versäumt und<br />

trug entsprechend sinngemäß vor, es handele sich um eine europarechtswidrige (RL<br />

93/109/EG) „Wahl-Verhinderungsfrist“. Das VG folgte dieser Argumentation jedoch nicht<br />

und wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurück (Beschl. v. 10.6.1999<br />

- 9 K 2702/99 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 11.6.1999 - 1 S 1392/99 -). Dies hätte durchaus<br />

auch entgegengesetzt entschieden werden können. Derzeit prüft die Kommission die Frist;<br />

sie soll voraussichtlich bis zur nächsten EP-Wahl 2004 umgestaltet werden.<br />

132 Vgl. die Einzelheiten im Rats-Beschluss vom 19.12.1995, ABl. 1995 Nr. L 314/73.<br />

82<br />

83


84<br />

85<br />

1.1.5- Acquis communautaire<br />

Schließlich besitzt jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger nach Art. 21<br />

EG das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und kann sich an den<br />

Bürgerbeauftragten des Europäischen Parlaments 133 wenden. Des Weiteren<br />

kann sich jeder Unionsbürger schriftlich in seiner Sprache an jedes Organ<br />

oder an jede Einrichtung der EU wenden und hat Anspruch auf Antwort in<br />

derselben Sprache; nach der von der Regierungskonferenz in Nizza angenommenen<br />

Erklärung Nr. 4 heißt es darüber hinaus: Die Konferenz fordert<br />

die ... Organe und Einrichtungen auf, dafür Sorge zu tragen, dass jede schriftliche<br />

Eingabe eines Unionsbürgers innerhalb einer vertretbaren Frist beantwortet<br />

wird. Dies entspricht dem in der EU-Grundrechtecharta enthaltenen<br />

„Recht auf eine gute Verwaltung“. 134<br />

Nach Artikel 255 EG hat jeder Unionsbürger schließlich grundsätzlich das<br />

Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates<br />

und der Kommission. Diese Komponenten der Unionsbürgerschaft, die in<br />

der Praxis zunehmend genutzt werden, sind Ausfluss des allgemeinen<br />

Transparenzgrundsatzes, nach dem alle Entscheidungen in der EU möglichst<br />

offen und bürgernah getroffen werden sollen 135 .<br />

133 Postanschrift: Der Europäische Bürgerbeauftragte, Av. du Président Robert Schuman 1,<br />

B.P. 403, F-67001 Strasbourg Cedex / E-Mail: euro-ombudsman@europarl.eu.int / Internet:<br />

http://www.euro-ombudsman.eu.int<br />

134 Artikel 41 der Grundrechtecharta lautet: (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten<br />

von den Organen und Einrichtungen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb<br />

einer angemessenen Frist behandelt werden. (2) Dieses Recht umfasst insbesondere<br />

– das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie<br />

nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, – das Recht einer jeden Person auf Zugang<br />

zu den sie betreffenden Akten unter Wahrung des legitimen Interesses der Vertraulichkeit<br />

sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses, – die Verpflichtung der Verwaltung,<br />

ihre Entscheidungen zu begründen. (3) Jede Person hat Anspruch darauf, dass die Gemeinschaft<br />

den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten<br />

Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ersetzt, die den Rechtsordnungen<br />

der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. (4) Jede Person kann sich in einer der Sprachen<br />

der Verträge an die Organe der Union wenden und muss eine Antwort in derselben<br />

Sprache erhalten.<br />

135 Vgl. Lenz in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 10 RdNr. 8 ff. Am<br />

25.4.2001 haben sich Rat und Parlament mit einer neuen Transparenzverordnung auf den<br />

weitgehenden Zugang der Unionsbürger zu fast allen Dokumenten der Institutionen Rat,<br />

Kommission und Parlament verständigt. Ausnahmen gelten (insbesondere auch – noch –<br />

gegenüber den Europaabgeordneten) für Unterlagen zur öffentlichen Sicherheit, zu Verteidigungs-<br />

und militärischen Fragen sowie für Informationen zu Unternehmen. Auf Druck der<br />

außenpolitischen EP-Experten soll eine Sonderregelung bzgl. ESVP-Dokumenten geschaffen<br />

werden; vgl. Handelsblatt v. 26.4.2001.<br />

52


1.1.5- Acquis communautaire<br />

In Artikel 2 EU wird als eines der zentralen Ziele der Europäischen Union die<br />

volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und seine Weiterentwicklung<br />

genannt. Hierdurch wird zum Ausdruck gebracht, dass im Rahmen<br />

der europäischen Integration Rückschritte politisch nicht gewollt sind. Als gemeinschaftlicher<br />

Besitzstand – der so genannte „acquis communautaire“ –<br />

kann definiert werden: der gesamte vorhandene, geschriebene und ungeschriebene<br />

Bestand des Gemeinschaftsrechts zusammen mit den politischen<br />

Zielsetzungen und Aufgaben der Union sowie allen sonstigen unionsbezogenen<br />

rechtlichen und nichtrechtlichen Bindungen, jeweils in der Auslegung<br />

und Fortbildung durch den Europäischen Gerichtshof; in knappen Worten:<br />

eigentlich alles Recht und alle Politiken der EU 136 . Der gemeinschaftliche<br />

Besitzstand umfasst zwischenzeitlich viele Tausende von Regelungen,<br />

die seit Gründung der Montanunion in den Jahren 1951/1952 entstanden<br />

sind. Zur Vorbereitung der Osterweiterung wurden diese von der Kommission<br />

in einem in 31 Kapitel unterteilten und sage und schreibe rund 80.000<br />

Druckseiten umfassenden Werk zusammengefasst.<br />

Jeder neue Mitgliedstaat muss als Grundvoraussetzung für einen Beitritt<br />

diesen gesamten gemeinschaftlichen Besitzstand in sein nationales Recht<br />

übernehmen 137 ; die Möglichkeit des „Herauspickens“ von einerseits „Rosinen“,<br />

andererseits „Steinen“ ist ausgeschlossen 138 . Diese „Vogel friss oder<br />

53<br />

1.1.5- Acquis communautaire<br />

136 Teilweise findet man die engere Auffassung, mit dem Begriff acquis seien nur „alle Rechtsakte“<br />

gemeint, die von den Organen der Gemeinschaften in den vorgesehenen Verfahren<br />

geschaffen wurden bzw. jedenfalls nicht dasjenige Recht, das nicht von allen Mitgliedstaaten<br />

gleichzeitig – etwa im Rahmen von verstärkten Zusammenarbeiten – d.h. gewissermaßen<br />

„außerhalb“ der EU geschaffen wurde.<br />

137 Ganz herrschende Meinung und Praxis, auch wenn dies nicht ausdrücklich in Art. 49 EU<br />

normiert ist; vgl. Cremer in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, 1999, Art. 49 EU<br />

RdNr. 4.<br />

138 Die Kommission erläuterte: „Mit seiner Mitgliedschaft in den Gemeinschaften akzeptiert der<br />

antragstellende Staat vorbehaltlos die Verträge und ihre politischen Zielsetzungen, die seit<br />

Inkrafttreten der Verträge gefassten Beschlüsse jeglicher Art sowie die hinsichtlich des Ausbaus<br />

und der Stärkung der Gemeinschaften getroffenen Optionen. Insbesondere ist die mit<br />

den Verträgen zur Gründung der Gemeinschaften geschaffene Rechtsordnung im Wesentlichen<br />

gekennzeichnet durch die unmittelbare Anwendbarkeit einiger ihrer Bestimmungen<br />

und bestimmter von den Organen der Gemeinschaften erlassenen Rechtsakte, durch den<br />

Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber ihm etwa entgegenstehenden einzelstaatlichen<br />

Bestimmungen und durch das Bestehen von Verfahren, die geeignet sind, die einheitliche<br />

Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern. Der Beitritt zu den Gemeinschaften<br />

schließt die Anerkennung des zwingenden Charakters dieser Vorschriften ein, deren Einhaltung<br />

unerlässlich ist, um die Wirksamkeit und Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts<br />

86


87<br />

88<br />

1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

stirb“-Grundregel macht den Beitritt neuer Staaten in der Praxis außerordentlich<br />

schwierig und nur mit Hilfe von oft auf lange Dauer angelegten Übergangsabkommen<br />

durchführbar. Dennoch hat die EU bislang eisern an der<br />

Regel festgehalten, dass jeder neue Mitgliedstaat alles Bisherige akzeptieren<br />

muss; die EU-Erweiterung soll nicht zu einer „Verwässerung“ des gemeinschaftlichen<br />

Besitzstands führen.<br />

Eine gewisse Aufweichung des Grundprinzips, dass alles Europarecht in<br />

der „Europäischen Rechtsgemeinschaft“ immer für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen<br />

gilt, wurde allerdings bereits im Bereich der Sozialpolitik sowie<br />

der Währungsunion praktiziert. Auf Grund des erbitterten Widerstands Großbritanniens<br />

bezüglich des Maastrichter Sozialprotokolls Nr. 14 zum EGV bekam<br />

das Vereinigte Königreich damals die Möglichkeit des diesbezüglichen<br />

„opt outs“. Durch den Amsterdamer Vertrag, der das Sozialprotokoll nun in<br />

den EG-Vertrag integriert 139 und damit auch für Großbritannien verbindlich<br />

macht, ist diese Ausnahme seit 1.5.1999 wieder behoben. Die Ausnahme im<br />

Bereich der Währungsunion, dass Großbritannien und Dänemark bzw.<br />

Schweden ggf. trotz Erfüllung der Konvergenzkriterien nicht an der Währungsunion<br />

teilnehmen müssen, dauert dagegen (noch) an; voraussichtlich<br />

werden diese Mitgliedstaaten jedoch mittelfristig der Euro-Zone beitreten.<br />

Eine grundsätzliche Aufweichung des EU-Strukturprinzips des gemeinschaftlichen<br />

Besitzstands könnte allerdings das neue Konzept der „Flexibilität“, d.h.<br />

die Regelung über die verstärkte Zusammenarbeit bringen.<br />

1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

Angestoßen von der bevorstehenden EU-Osterweiterung, d.h. der Aufnahme<br />

von Staaten, die sowohl volkswirtschaftlich als auch juristisch (noch) nicht<br />

auf dem Stand der bisherigen Mitgliedstaaten sind, wird im Rahmen der Europäischen<br />

Union die Diskussion „Vertiefung versus Erweiterung“ geführt 140 .<br />

Um insoweit eine gewisse „Gleichzeitigkeit“ der beiden verschieden gelagerten<br />

europäischen Integrationsprozesse zu ermöglichen, fügte der Amsterda-<br />

zu gewährleisten.“; zit. nach Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, 2. Auflage 1998,<br />

RdNr. 451.<br />

139 Vgl. Art. 136–145 EG; Langer in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 4<br />

RdNr. 8 ff.<br />

140 Siehe hierzu auch unter 4.2- Osterweiterung.<br />

54


1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

mer Vertrag erstmals Regelungen über die so genannte Verstärkte Zusammenarbeit<br />

in die Verträge ein, die es ermöglichen, dass in Zukunft nicht mehr<br />

alle Mitgliedstaaten sämtliche Integrationsschritte gemeinsam und gleichzeitig<br />

tun müssen. Dies kann nach der bisherigen Europarechtsdogmatik des<br />

dargestellten gemeinschaftlichen Besitzstandes durchaus als „Paukenschlag“<br />

bewertet werden 141 .<br />

Die Regeln der verstärkten Zusammenarbeit des Vertrags von Amsterdam<br />

erlaubten es einer Reihe von Mitgliedstaaten, „flexibel“ nur für sich gültige<br />

Rechtsakte und Beschlüsse zu erlassen. Die Mitgliedstaaten, die die europäische<br />

Integration für sich vorantreiben wollen, sollten mithin nicht länger<br />

durch blockierende Mitgliedstaaten „ausgebremst“ werden können. Nach<br />

den allgemeinen Regelungen der Artikel 43 bis 45 EU konnten deshalb die<br />

Mitgliedstaaten, „die beabsichtigen, untereinander eine solche verstärkte Zusammenarbeit<br />

zu begründen, grundsätzlich die im EU- und EG-Vertrag vorgesehenen<br />

Organe, Verfahren und Mechanismen hierfür in Anspruch nehmen“.<br />

Die verstärkte Zusammenarbeit durfte allerdings insbesondere keinen Rückschritt<br />

bedeuten, d.h. den gemeinschaftlichen Besitzstand grundsätzlich<br />

nicht beeinträchtigen 142 , und nur als letztes Mittel herangezogen werden,<br />

wenn die Ziele des EU- und EG-Vertrags mit den darin festgelegten einschlägigen<br />

Verfahren nicht erreicht werden konnten. Des Weiteren mussten mindestens<br />

eine Mehrheit der Mitgliedstaaten aktiv werden („in“-Staaten), und<br />

die Interessen der nichtbeteiligten Mitgliedstaaten durften nicht verletzt werden.<br />

Diesen „out“-Staaten musste es zudem offen stehen, sich der verstärkten<br />

Zusammenarbeit jederzeit später anzuschließen 143 . Aufgrund dieser Voraussetzungen<br />

wurde die verstärkte Zusammenarbeit als „Dynamik in der<br />

141 Hall in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 20 RdNr. 39 ff.; vgl. auch<br />

Wessels in: Jopp/Maurer/Schmuck, Die Europäische Union nach Amsterdam, 1998, S. 187<br />

ff.<br />

142 Eigentlich lebt der gemeinschaftliche Besitzstand von seiner Idee her durch die<br />

EU-einheitliche Geltung; insoweit ist der acquis eigentlich durch jede verstärkte Zusammenarbeit<br />

notwendig „beeinträchtigt“. Formal wird dieses Problem durch den Vertrag von<br />

Nizza dahingehend gelöst, dass gemäß dem neuen Art. 44 Abs. 1 S. 5 EU Rechtsakte und<br />

Beschlüsse für die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht Bestandteile des<br />

Besitzstands der Union werden.<br />

143 Vgl. auch Ruffert in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, 1999, Art. 43 EU RdNr.<br />

11 ff.<br />

55<br />

89<br />

90


91<br />

92<br />

93<br />

1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

Zwangsjacke“ bezeichnet 144 .<br />

Spezielle Regelungen sah der mit dem Amsterdamer Vertrag neu eingefügte<br />

Art. 11 EG für den Bereich der Europäischen Gemeinschaft (1. Säule) und<br />

Art. 40 EU für den Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen (3. Säule) vor; auch die „konstruktive Enthaltung“ eines Mitgliedstaats<br />

in Artikel 23 Abs. 1 EU für den Bereich der Gemeinsamen Außenund<br />

Sicherheitspolitik konnte in diesem Zusammenhang – gewissermaßen<br />

als „Ersatz“ für bislang fehlende Regelungen zur verstärkten Zusammenarbeit<br />

im Bereich der 2. Säule – genannt werden.<br />

Der Vertrag von Nizza vom 26.02.2001 sieht vor, die Bestimmungen über<br />

die verstärkte Zusammenarbeit umfassend neu zu fassen. Es lässt sich sagen,<br />

dass dieser Teil des Vertrags einer der wenigen echten Fortschritte von<br />

Nizza ist. Tritt Nizza in Kraft, wird möglicherweise die neue – deutlich erleichterte<br />

– Flexibilität dazu beitragen, mittelfristig im Rahmen der Europäischen<br />

Union die vielzitierte „variable Geometrie“ zu realisieren 145 , auch wenn die<br />

verstärkte Zusammenarbeit nach den Vorstellungen des Europäischen Rates<br />

ausdrücklich nicht als Faktor der Spaltung, sondern als Faktor der Integration<br />

begriffen werden soll 146 . Die Flexibilitäts-Grundregelungen nach Nizza<br />

finden sich in völlig um- bzw. neugestalteten Artikeln 43, 43a, 43b, 44 und<br />

44a EU. Im Bereich der 1. Säule werden entsprechend die Artikel 11 und 11a<br />

EG neu gefasst 147 . Im Bereich der 2. Säule werden erstmals für die GASP<br />

neue Spezialartikel unter 27a – 27e EU eingefügt. Im Bereich der 3. Säule<br />

werden für die PJZS die neuen Artikel 40, 40a und 40b EU geschaffen.<br />

Die Grundregelungen des durch den Vertrag von Nizza neu gefassten<br />

EU-Vertrags seien im vollen Wortlaut zitiert, da sich hieraus ihre Konzeption<br />

am plastischsten verdeutlicht. Artikel 43 EU n.F. soll lauten: Die Mitgliedstaaten,<br />

die beabsichtigen, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen,<br />

können die in diesem Vertrag und im Vertrag zur Gründung der Euro-<br />

144 Vgl. Janning in: integration 4/1997, S. 285 ff. In Bezug auf Nizza vertreten Giering/Janning<br />

nun die Ansicht, der neue Vertrag werde „die Zwangsjacke abnehmen“; die Türen des Gestaltungsraumes,<br />

in dem die verstärkte Zusammenarbeit effektiv eingesetzt werden könnte,<br />

blieben allerdings weiterhin verschlossen, offenbar „damit das gefährliche Wesen der Differenzierung<br />

innerhalb des Vertragsgebäudes keinen Schaden anrichtet“; in: integration<br />

2/2001, S. 146 ff.<br />

145 Vgl. hierzu unter 4.3.3- Finalität und europapolitische Visionen.<br />

146 Vgl. Fischer, Der Vertrag von Nizza, 2001, S. 104 ff.<br />

147 Vergleichbare Regelungen gibt es in der Montanunion oder im Euratom-Vertrag nicht.<br />

56


1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

päischen Gemeinschaft vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen<br />

in Anspruch nehmen, sofern die Zusammenarbeit a) darauf ausgerichtet ist,<br />

die Ziele der Union und der Gemeinschaft zu fördern, ihre Interessen zu schützen<br />

und diesen zu dienen und ihren Integrationsprozess zu stärken; b) die genannten<br />

Verträge und den einheitlichen institutionellen Rahmen der Union beachtet;<br />

c) den Besitzstand der Gemeinschaft und die nach Maßgabe der sonstigen<br />

Bestimmungen der genannten Verträge getroffenen Maßnahmen beachtet;<br />

d) im Rahmen der Zuständigkeit der Union oder der Gemeinschaft bleibt<br />

und sich nicht auf die Bereiche erstreckt, die unter die ausschließliche Zuständigkeit<br />

der Gemeinschaft fallen; e) den Binnenmarkt im Sinne des Art. 14 Abs.<br />

2 EG und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt nach Titel XVII des<br />

EG-Vertrags nicht beeinträchtigt; f) keine Behinderung oder Diskriminierung<br />

des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellt und die Wettbewerbsbedingungen<br />

zwischen diesen nicht verzerrt; g) mindestens acht Mitgliedstaaten<br />

umfasst; h) die Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der nicht an der Zusammenarbeit<br />

beteiligten Mitgliedstaaten beachtet; i) die Bestimmungen des Protokolls<br />

zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der EU<br />

unberührt lässt; j) allen Mitgliedstaaten gemäß Art. 43b EU offen steht.<br />

Nach Artikel 43a EU n.F. kann eine verstärkte Zusammenarbeit „nur als letztes<br />

Mittel aufgenommen werden, wenn der Rat zu dem Schluss gelangt ist,<br />

dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele unter Anwendung<br />

der einschlägigen Bestimmungen der Verträge nicht in einem vertretbaren<br />

Zeitraum verwirklicht werden können“. Nach Artikel 43b EU n.F. steht eine<br />

verstärkte Zusammenarbeit bei ihrer Begründung allen Mitgliedstaaten offen<br />

und es soll von Kommission und den beteiligten Mitgliedstaaten dafür Sorge<br />

getragen werden, dass eine möglichst große Zahl von Mitgliedstaaten zur<br />

Beteiligung angeregt wird.<br />

Es zeigt sich mithin, dass zwar die wesentlichen Merkmale des Amsterdamer<br />

Flexibilitätskonzeptes beibehalten, jedoch auch wichtige Änderungen vereinbart<br />

wurden. Die vielleicht einschneidendste Neuerung dürfte die Mindestzahl<br />

von – auch bei einer Union mit bis zu 27 Ländern – nur noch acht Mitgliedstaaten<br />

sein. Im Laufe der Ost-Erweiterung könnten somit ggf. nur bzw.<br />

weniger als ein Drittel der Mitgliedstaaten eine verstärkte Zusammenarbeit<br />

miteinander durchführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich acht an weiteren<br />

Integrationsschritten Interessierte zusammenfinden, scheint hoch.<br />

57<br />

94<br />

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1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

Wichtigste Neuerung im Bereich der 1. Säule ist der vorgesehene Wegfall<br />

der bisherigen „Blockademöglichkeit“, d.h. des Rechts jedes Mitgliedstaats,<br />

sich schon der Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit durch andere<br />

Mitgliedstaaten zu widersetzen. Dies ist entscheidend, denn seit Amsterdam<br />

ist noch jeder Versuch der verstärkten Zusammenarbeit auf der Grundlage<br />

von Artikel 11 EG hieran gescheitert 148 . Die diesbezüglichen Regelungen in<br />

Art. 11 Abs. 1 EG 149 sollen durch Nizza nun dahingehend neu gefasst werden,<br />

dass zwar noch immer ein Mitglied des Rates verlangen kann, dass der Europäische<br />

Rat befasst wird. Nach dieser „Befassung“ – im Sinne eines bloßen<br />

Anhörungsrechts – kann der Rat aber dennoch die verstärkte Zusammenarbeit,<br />

in Zusammenarbeit mit der Kommission und ggf. nach Zustimmung des<br />

Parlaments, mit qualifizierter Mehrheit beschließen 150 .<br />

148 Teilweise haben Mitgliedstaaten ihr Vetorecht gewissermaßen zur „Erpressung“ eingesetzt;<br />

bspw. Spanien widersetzte sich einmal einer verstärkten Zusammenarbeit mit dem sachwidrigen<br />

Argument, solange die Gibraltar-Frage nicht zu seiner Zufriedenheit geklärt sei,<br />

könne es keiner Flexibilität zustimmen.<br />

149 Seit Amsterdam galt folgende Fassung von Art. 11 Abs. 2 EG: Die Ermächtigung nach Absatz<br />

1 (...zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit...) wird vom Rat mit qualifizierter<br />

Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments<br />

erteilt. Erklärt ein Mitglied des Rates, dass es aus wichtigen Gründen der nationalen<br />

Politik, die es auch nennen muss, die Absicht hat, eine mit qualifizierter Mehrheit zu erteilende<br />

Ermächtigung abzulehnen, so erfolgt keine Abstimmung. Der Rat kann mit qualifizierter<br />

Mehrheit verlangen, dass die Frage zur einstimmigen Beschlussfassung an den in der Zusammensetzung<br />

der Staats- und Regierungschefs tagenden Rat verwiesen wird.<br />

150 Der neue Artikel 11 EG soll lauten: (1) Die Mitgliedstaaten, die beabsichtigen, untereinander<br />

eine verstärkte Zusammenarbeit in einem der unter diesen Vertrag fallenden Bereiche zu<br />

begründen, richten einen Antrag an die Kommission, die dem Rat einen entsprechenden<br />

Vorschlag vorlegen kann. Legt die Kommission keinen Vorschlag vor, so teilt sie den betroffenen<br />

Mitgliedstaaten ihre Gründe dafür mit. (2) Die Ermächtigung zur Aufnahme einer verstärkten<br />

Zusammenarbeit nach Absatz 1 wird nach Maßgabe der Art. 43 bis 45 EU vom Rat<br />

mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen<br />

Parlaments erteilt. Betrifft die verstärkte Zusammenarbeit einen Bereich, für den das<br />

Verfahren nach Artikel 251 EG gilt, so ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich.<br />

Ein Mitglied des Rates kann verlangen, dass der Europäische Rat befasst wird.<br />

Nach dieser Befassung kann der Rat gemäß Unterabsatz 1 beschließen. (3) Die für die<br />

Durchführung der Tätigkeiten im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit erforderlichen<br />

Rechtsakte und Beschlüsse unterliegen allen einschlägingen Bestimmungen dieses Vertrags,<br />

sofern in diesem Artikel und in den Artikeln 43 bis 45 EU nichts anderes bestimmt ist.<br />

Artikel 11 a EG n.F. lautet: Jeder Mitgliedstaat, der sich einer nach Artikel 11 EG begründeten<br />

verstärkten Zusammenarbeit anschließen will, teilt dem Rat und der Kommission seine<br />

Absicht mit; die Kommission legt dem Rat binnen drei Monaten nach Eingang der Mitteilung<br />

eine Stellungnahme dazu vor. Binnen vier Monaten nach Eingang der Mitteilung beschließt<br />

die Kommission über den Antrag und über eventuelle spezifische Regelungen, die sie für<br />

notwendig hält.<br />

58


Vollständig neu ist die vorgesehene Einführung der Flexibilität im Bereich der<br />

GASP, „um die Werte der Union zu wahren und ihren Interessen zu dienen,<br />

unter Behauptung der Identität der Union als kohärente Kraft auf internationaler<br />

Ebene“. Etwa zur Umsetzung einer gemeinsamen Aktion oder eines<br />

gemeinsamen Standpunktes könnte nun also mittels der Spezialartikel 27a –<br />

27e EU n.F. eine verstärkte Zusammenarbeit auch in der 2. Säule begründet<br />

werden. Allerdings darf diese nicht den militärischen bzw. verteidigungspolitischen<br />

Bereich betreffen. Die Ermächtigung zur Einleitung einer verstärkten<br />

Zusammenarbeit wird den hieran interessierten Staaten vom Rat nach – bloßer<br />

– Stellungnahme der Kommission (das Parlament wird sogar nur unterrichtet)<br />

mit qualifizierter Mehrheit erteilt. Allerdings gibt es hier die im Bereich<br />

der 1. Säule abgeschaffte „Blockademöglichkeit“, d.h. nach dem anwendbaren<br />

Art. 23 Abs. 2 Unterabsatz 2 EU erfolgt keine Abstimmung, wenn ein Mitglied<br />

des Rates erklärt, dass es aus wichtigen Gründen der nationalen Politik,<br />

die es auch nennen muss, die Absicht hat, die verstärkte Zusammenarbeit<br />

abzulehnen. In diesem Fall kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit verlangen,<br />

dass die Frage zur – einstimmigen – Beschlussfassung an den Europäischen<br />

Rat verwiesen wird. Diese effektive „Bremse“ könnte in der Praxis<br />

dazu führen, dass im Bereich der GASP kaum je eine verstärkte Zusammenarbeit<br />

zustande kommt.<br />

Im Bereich der PJZS werden die neuen Artikel 40, 40a und 40b EU den Regelungen<br />

der 1. Säule nachgebildet. Wie dort wird nun also auch in der 3.<br />

Säule die „Blockademöglichkeit“ 151 abgeschafft, damit sich die Union rascher<br />

zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickeln kann.<br />

Auf Vorschlag der Kommission oder – und das ist besonders – auf Initiative<br />

von mindestens acht Mitgliedstaaten (und nach Anhörung des Parlaments)<br />

ermächtigt der Rat – ggf. nach „Befassung“ des Europäischen Rates – mit<br />

qualifizierter Mehrheit die interessierten Mitgliedstaaten zur Durchführung einer<br />

verstärkten Zusammenarbeit.<br />

Die Zukunft wird zeigen, was die bald wohl recht zahlreichen EU-Mitgliedstaaten<br />

aus diesem Nizzaer Flexibilitätskonzept machen werden. Die dargestellten<br />

vertraglichen Voraussetzungen machen deutlich, dass die verstärkte<br />

Zusammenarbeit – auch in der neuen Fassung nach Nizza – wohl in jedem<br />

Fall eine zeitraubende und schwerfällige Alternative zum normalen Verfahren<br />

151 Bisheriger Artikel 40 Abs. 2 Unterabsatz 2 EU.<br />

1.1.6- Flexibilität oder Verstärkte Zusammenarbeit<br />

59<br />

98<br />

99


100<br />

1.1.7- Die Montanunion<br />

sein dürfte, d.h. man sie wohl nur als Ultima ratio wird nutzen können. Andererseits<br />

könnte auch die verstärkte Zusammenarbeit nach eventuell negativen<br />

praktischen Erfahrungen durch Blockadekoalitionen im Rat durchaus im<br />

Rahmen des Post-Nizza-Prozesses erneut umgestaltet und noch weiter vereinfacht<br />

werden. Auf diesem Weg könnte dann möglicherweise eines Tages<br />

tatsächlich eine neue „Klein“-Union in der Union gegründet werden, was<br />

den europapolitischen Konzepten der „Avantgarde-Föderation“ (Delors), des<br />

„Gravitationszentrums“ (Fischer) oder auch des „Kerneuropas“ (Schäuble/Lamers)<br />

152 entspräche. Würde sich eine solche Klein-Union nicht als „reiches<br />

und arrogantes“ Europa abkapseln und verfügte sie über hinreichende<br />

„Magnetkraft“, müsste eine solche Entwicklung keinen Schaden bedeuten.<br />

1.1.7- Die Montanunion<br />

Nunmehr sei vom „Dach des EU-Tempels“ herabgestiegen und ein genauerer<br />

Blick auf die mächtige „erste Säule“ – die EGKS, EAG und EWG/EG – geworfen.<br />

Wie dargestellt ist die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />

von 18.4.1951 / 23.7.1952 153 das historische Kernstück der europäischen Integration.<br />

Anders als alle anderen Verträge wurde der EGKS-Vertrag auf<br />

Zeit, d.h. nur auf 50 Jahre geschlossen, so dass die Montanunion auch die<br />

erste Europäische Gemeinschaft sein wird, die am 23.7.2002 wieder ausläuft.<br />

Voraussichtlich werden einige EGKS-Kompetenzen dann in den<br />

EG-Vertrag aufgenommen 154 . Der Vertrag von Nizza vom 26.02.2001, der<br />

auch die Montanunion im institutionellen Bereich an die ausgehandelten<br />

Neuerungen anpassen will 155 , bestimmt vor allem die finanziellen Folgen des<br />

Endes dieser Gemeinschaft. Aus Gründen der Rechtssicherheit regelte man<br />

den Übergang des Vermögens auf die Europäische Gemeinschaft in einem<br />

eigenständigen Protokoll über die finanziellen Folgen des Ablaufs des<br />

EGKS-Vertrags und über den Forschungsfonds für Kohle und Stahl 156 . Nach<br />

152 Hiervor warnte im Übrigen bereits der damalige britische Premierminister Major; vgl. Hall,in<br />

Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 20 RdNr. 3.<br />

153 Das erste Datum bezieht sich auf den Vertragsschluss, das zweite auf das In-Kraft-Treten.<br />

154 Es soll wohl jedenfalls der Handel mit Stahlerzeugnissen vollständig in die Gemeinsame<br />

Handelspolitik des EG-Vertrags eingebunden werden. Daneben sollen EGKS-Entscheidungen<br />

zur Stahlpreispolitik stufenweise außer Kraft gesetzt und die Rechtsgrundlagen für<br />

Zusammenschlüsse im Montanbereich mit denjenigen europarechtlichen Vorschriften abgestimmt<br />

werden, die in anderen Wirtschaftszweigen gelten; vgl. NJW 1999, Heft 45, XLIX.<br />

155 Siehe hierzu die vielfältigen Regelungen in Artikel 4 des Vertrags von Nizza.<br />

156 Dieses hat folgenden Wortlaut: DIE HOHEN VERTRAGSPARTEIEN – IN DEM<br />

60


dem 23.7.2002 soll das System der EGKS-Statistiken noch bis zum 31.12.<br />

2002 weitergeführt werden 157 , danach ist die Montanunion endgültig Rechtsgeschichte.<br />

Der historische Ursprung der Europäischen Gemeinschaften im allgemeinen<br />

Völkerrecht lässt sich sehr schön an den alten Begrifflichkeiten des<br />

EGKS-Vertrags ablesen. Dort wurde bis zum In-Kraft-Treten des Amsterdamer<br />

Vertrags am 1.5.1999 158 etwa die Kommission nach wie vor „Hohe Behörde“<br />

genannt. Das Europäische Parlament hatte in Art. 7 EGKSV noch den<br />

Titel „Gemeinsame Versammlung“ und der Rat hieß dort „Besonderer Ministerrat“.<br />

Anders als der EG-Vertrag enthält die Montanunion zudem bis heute<br />

Regelungen, die die Bewältigungen von Krisen auf dem Stahl- und Kohle-<br />

61<br />

1.1.7- Die Montanunion<br />

BESTREBEN, eine Reihe von Fragen zu regeln, die sich im Zusammenhang mit dem Ablauf<br />

des EGKS-Vertrags stellen, MIT DEM ZIEL, die Eigentumsrechte an den EGKS-Mitteln<br />

auf die EG zu übertragen, EINGEDENK der Tatsache, dass diese Mittel für die Forschung in<br />

Sektoren verwendet werden sollten, die mit der Kohle- und Stahlindustrie zusammenhängen,<br />

und der sich daraus ergebenden Notwendigkeiten, hierfür eine Reihe besonderer Vorschriften<br />

vorzusehen – HABEN die folgenden Bestimmungen ERLASSEN, die dem<br />

EG-Vertrag beigefügt werden: ARTIKEL 1: (1) Das gesamte Vermögen und alle Verbindlichkeiten<br />

der EGKS zum Stand vom 23. Juli 2002 gehen am 24. Juli 2002 auf die EG über.<br />

(2) Der Nettowert dieses Vermögens und dieser Verbindlichkeiten gemäß der Bilanz der<br />

EGKS vom 23. Juli 2002, vorbehaltich etwaiger Erhöhungen oder Minderungen infolge der<br />

Abwicklungsvorgänge, gilt als Vermögen für Forschung in Sektoren, die die Kohle- und<br />

Stahlindustrie betreffen, und erhält die Bezeichnung „EGKS in Abwicklung“. Nach Abschluss<br />

der Abwicklung wird dieses Vermögen als „Vermögen des Forschungsfonds für<br />

Kohle und Stahl“ bezeichnet. (3) Die Erträge aus diesem Vermögen, die als „Forschungsfonds<br />

für Kohle und Stahl“ bezeichnet werden, werden im Einklang mit diesem Protokoll und<br />

den auf dieser Grundlage erlassenen Rechtsakten ausschließlich für die außerhalb des<br />

Forschungsrahmenprogramms durchgeführten Forschungsarbeiten in Sektoren, die mit<br />

der Kohle- und Stahindustrie zusammenhängen, verwendet. ARTIKEL 2: Der Rat erlässt<br />

durch einstimmigen Beschluss auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen<br />

Parlaments alle für die Durchführung dieses Protokolls erforderlichen Bestimmungen,<br />

einschließlich der wesentlichen Grundsätze und angemessenen Beschlussfassungsverfahren,<br />

insbesondere im Hinblick auf die Annahme mehrjähriger Finanzleitlinien<br />

für die Verwaltung des Vermögens des Forschungsfonds für Kohle und Stahl sowie technischer<br />

Leitlinien für das Forschungsprogramm des Fonds. ARTIKEL 3: Soweit in diesem<br />

Protokoll und in den auf der Grundlage dieses Protokolls erlassenen Rechtsakten nichts anderes<br />

vorgesehen ist, findet der EG-Vertrag Anwendung. ARTIKEL 4: Dieses Protokoll gilt<br />

ab dem 24. Juli 2002.<br />

157 In der von der Regierungskonferenz von Nizza angenommenen Erklärung Nr. 24 heißt es:<br />

Die Konferenz fordert den Rat auf, im Rahmen des Art. 2 des EGKS-Protokolls dafür Sorge<br />

zu tragen, dass nach dem Ablauf der Geltungsdauer des EGKS-Vertrags das System der<br />

EGKS-Statistiken bis zum 31. Dezember 2002 weitergeführt wird, und ersucht die Kommission,<br />

entsprechende Empfehlungen zu unterbreiten.<br />

158 Entsprechend der neuen Zitierweise (vgl. EuGH-Tätigkeitsbericht Nr. 21/99, S. 35 = NJW<br />

2000, S. 52) wird der EGKS-Vertrag, wenn die veränderte Fassung ab 1.5.1999 (Amsterdamer<br />

Vertrag) gemeint ist, mit „KS“ – statt EGKSV – abgekürzt.<br />

101


102<br />

1.1.7- Die Montanunion<br />

markt gestatten sollen (Marktregulierung bzw. Krisenmanagement). Krisen<br />

können hierbei zum einen in einem Mangel an Kohle- und Stahlprodukten<br />

bestehen und zum anderen – was seit langem tatsächlich der Fall ist –<br />

durch ein Überangebot an solchen Produkten verursacht worden sein. Als<br />

Reaktion auf solche Krisen gestattet Art. 57 KS zunächst das Ergreifen indirekter<br />

Maßnahmen, d.h. etwa die Zusammenarbeit mit den Regierungen,um<br />

den allgemeinen Verbrauch, insbesondere den der öffentlichen Dienste,<br />

gleichmäßiger zu gestalten oder zu beeinflussen, bzw. das Eingreifen auf<br />

dem Gebiet der Preise durch Festsetzung von Höchst- und Mindestpreisen<br />

nach Art. 61 KS sowie durch Regelung der Ein- und Ausfuhrzölle bzw. der<br />

Ein- und Ausfuhrlizenzen nach Art. 72 und 73 KS. Genügen diese „indirekten<br />

Maßnahmen“ zur Bewältigung einer Kohle- oder Stahl-Krise nicht, kann die<br />

Kommission nach Art. 58 KS sogar ein Quotensystem festlegen, in dessen<br />

Rahmen jedes Unternehmen nur eine bestimmte Menge Kohle und Stahl erzeugen<br />

darf. Umgekehrt kann die Kommission bzw. der Ministerrat nach Art.<br />

59 KS bei einer Mangellage auch durch ein Verteilungssystem die Verteilung<br />

der Kohle- und Stahlprodukte regeln.<br />

Neben den skizzierten Maßnahmen der Marktregulierung kann die Kommission<br />

nach den Artikeln 54 bis 56 KS auch durch Gewährung von finanzieller<br />

Hilfe die Durchführung von Investitionsprogrammen erleichtern, die Forschung<br />

im Bereich Kohle und Stahl fördern und sogar direkte Hilfe bei Entlassungen,<br />

d.h. etwa auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen leisten. Schließlich<br />

beinhaltet die Montanunion insbesondere in den Artikeln 60 ff. KS ein<br />

spezifisches Kartell- und Wettbewerbsrecht, das in besonderem Maße die<br />

Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen ermöglichen soll. Im Gegensatz<br />

zur EG ist es der „Hohen Behörde“ im Rahmen der Montanunion in breitem<br />

Umfang gestattet, die Unternehmer durch selbstgesetzte Kommissions-Vorschriften<br />

zu binden und Verstöße gegen diese Regeln durch Geldbußen zu<br />

sanktionieren. Von den aufgeführten Lenkungsmaßnahmen hat die Kommission<br />

in der Vergangenheit auch in erheblichem Umfang Gebrauch gemacht.<br />

Zwischen 1976 und 1989 wurden beispielsweise für 660.000 Arbeiter im<br />

Kohle- und Stahlsektor nicht rückzahlungspflichtige Anpassungsbeihilfen gewährt<br />

159 . Die Finanzierung erfolgte durch Umlagen der Unternehmen. In<br />

159 Z.B. Umschulungen, Vorruhestands-, Überbrückungsgelder, Förderung der Mobilität, Bau<br />

von 200.000 Sozialwohnungen; Margedant in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S.<br />

162.<br />

62


neuerer Zeit bemüht sich die Kommission nunmehr, ihre Politik weniger interventionistisch<br />

zu gestalten, um die Kohle- und Stahlindustrie im „Zeitalter der<br />

Globalisierung“ bis zum Auslaufen der Montanunion im Jahre 2002 wettbewerbsfähig<br />

zu gestalten 160 .<br />

Aus den aufgeführten Regelungen des EGKS-Vertrags wird deutlich, dass<br />

die Kommission im Rahmen der Montanunion die zentrale Sonderstellung<br />

hat. Als supranationales Organ kann sie hier insbesondere eigenständig<br />

Rechtsakte mit bindender Wirkung für die Adressaten erlassen. Die EU-Mitgliedstaaten<br />

haben mithin im Rahmen der Montanunion weitgehend auf ihre<br />

Souveränität verzichtet. Allerdings hat die Montanindustrie durch den Strukturwandel<br />

auf dem Energiesektor sowie die Stahlkrisen seit den 70er Jahren<br />

gesamtwirtschaftlich erheblich an Bedeutung verloren. Nach Auslaufen der<br />

Montanunion werden deren Finanzmittel voraussichtlich auch in einen Forschungsfonds<br />

zu Gunsten des Montansektors fließen 161 .<br />

1.1.8- Die Atomgemeinschaft<br />

Den zweiten „Nebenbereich“ im Rahmen der ersten Säule bildet die Europäische<br />

Atomgemeinschaft (EURATOM bzw. EAG), die durch die Römischen<br />

Verträge vom 25.3.1957 / 1.1.1958 gegründet wurde. So wie die Montanunion<br />

allein für die Sektoren Kohle und Stahl zuständig ist, ist EURATOM<br />

ausschließlich für die friedliche Nutzung der Kernenergie geschaffen worden.<br />

Im Zeitpunkt der Gründung ging man davon aus, dass insbesondere in<br />

der Atomkraft Europas energiepolitische Zukunft liegt. Dies spiegelt sich in<br />

dem – weder durch den Vertrag von Amsterdam noch den Vertrag von Nizza<br />

162 geänderten – Artikel 1 EA 163 wider, nachdem es Aufgabe der Atomgemeinschaft<br />

ist, „durch die Schaffung der durch die schnelle Bildung und Entwicklung<br />

von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der<br />

Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen<br />

63<br />

1.1.8- Die Atomgemeinschaft<br />

160 Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, § 41 RdNr. 2946.<br />

161 Entschließung über Wachstum und Beschäftigung des Europäischen Rates vom 16. Juni<br />

1997; zitiert nach Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 162.<br />

162 Der Vertrag von Nizza vom 26.02.2001 (Artikel 3) will die EAG lediglich an die allgemeinen<br />

Neuerungen im institutionellen Bereich anpassen.<br />

163 Entsprechend der neuen Zitierweise (vgl. EuGH-Tätigkeitsbericht Nr. 21/99, S. 35 = NJW<br />

2000, S. 52) wird der EAG-Vertrag, wenn die veränderte Fassung ab 1.5.1999 (Amsterdamer<br />

Vertrag) gemeint ist, mit „EA“ – statt EAGV – abgekürzt.<br />

103<br />

104<br />

105


106<br />

1.1.8- Die Atomgemeinschaft<br />

mit den anderen Ländern beizutragen“. Hier wird zudem noch einmal der zentrale<br />

Gedanke der Wohlstandsschaffung im Bereich der ersten Säule deutlich.<br />

Der ganze EAG-Vertrag ist als „Aufbau“-Vertrag konzipiert, d.h. man ging<br />

1957/1958 davon aus, dass mit seiner Hilfe Stück um Stück eine europaweit<br />

einheitliche Atomindustrie entstehen wird. Dementsprechend sollte<br />

EURATOM nach Art. 2 EA insbesondere die Forschung entwickeln und die<br />

Verbreitung der technischen Kenntnisse sicherstellen, einheitliche Sicherheitsnormen<br />

für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte aufstellen<br />

und für ihre Anwendung sorgen, die Investitionen erleichtern und, insbesondere<br />

durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die Schaffung der<br />

wesentlichen Anlagen sicherstellen, die für die Entwicklung der Kernenergie in<br />

der Gemeinschaft notwendig sind, für regelmäßige und gerechte Versorgung<br />

aller Benutzer der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen Sorge tragen,<br />

durch geeignete Überwachung gewährleisten, dass die Kernbrennstoffe<br />

nicht anderen als den vorgesehenen Zwecken zugeführt werden, das zuerkannte<br />

Eigentumsrecht an besonderen spaltbaren Stoffen ausüben, ausgedehnte<br />

Absatzmärkte und den Zugang zu den besten technischen Mitteln sicherstellen,<br />

und zwar durch die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für<br />

die besonderen auf dem Kerngebiet verwendeten Stoffe und Ausrüstungen,<br />

durch den freien Kapitalverkehr für Investitionen auf dem Kerngebiet und durch<br />

die Freiheit der Beschäftigung für die Fachkräfte innerhalb der Gemeinschaft,<br />

und schließlich zu den anderen Ländern und den zwischenstaatlichen Einrichtungen<br />

alle Verbindungen herstellen, die geeignet sind, den Fortschritt bei der<br />

friedlichen Verwendung der Kernenergie zu fördern.<br />

Tatsächlich konnten diese Aufgaben der EURATOM nur zu einem geringen<br />

Teil realisiert werden. Wegen der nationalen Alleingänge einiger Mitgliedstaaten<br />

wurden insbesondere die als Integrationsfaktor wichtigen Ziele der<br />

Schaffung einer europäischen Atomindustrie und eines diesbezüglichen Gemeinsamen<br />

Marktes nicht erfüllt. Bis heute nutzen nur acht Mitgliedstaaten<br />

die Kernenergie 164 . Atomkraftwerke, das notwendige Zubehör und Brennelemente<br />

werden bis heute unter Ausschaltung des innergemeinschaftlichen<br />

Wettbewerbs weitgehend von den nationalen Produzenten gehandelt. Selbst<br />

164 Anteil an der Stromerzeugung: Frankreich 75,3%, Belgien 55,8%, Schweden 51%, Spanien<br />

35%, Finnland 31%, Deutschland 29,3%, Großbritannien 25,8%, Niederlande 4,9%; vgl.<br />

Kohl/Bergmann, Europäischer Finanzausgleich?, 1998, S. 194.<br />

64


eine gemeinschaftliche Regelung der Entsorgung der Atomanlagen der Mitgliedstaaten<br />

ist bisher nicht zu Stande gekommen. Trotz der diesbezüglichen<br />

rechtlichen Voraussetzungen im EAG-Vertrag hat sich das Europäische Parlament<br />

mit seiner Forderung, die Entsorgung radioaktiver Abfälle gemeinschaftlich<br />

zu regeln, gegenüber nationalen Sonderinteressen und Alleingängen<br />

bisher nicht durchsetzen können.<br />

Im Rahmen der EAG ist als eigene Behörde nur die EURATOM-Versorgungsagentur<br />

erhalten geblieben, die gemäß Art. 52 EA u.a. über ein Bezugsrecht<br />

für Erze, Ausgangsstoffe und besondere spaltbare Stoffe, die im<br />

Gebiet der Mitgliedstaaten erzeugt werden, sowie über das ausschließliche<br />

Recht verfügt, Verträge über die Lieferung von Erzen, Ausgangsstoffen oder<br />

besonderen spaltbaren Stoffen aus Ländern innerhalb und außerhalb der<br />

Gemeinschaft abzuschließen. Die besonderen spaltbaren Stoffe 165 sind gemäß<br />

Art. 86 EA Eigentum der Gemeinschaft. Des Weiteren unterliegen der<br />

Bestand und die Verwendung von Kernmaterialien strengen Sicherheitskontrollen<br />

durch Inspektoren der Europäischen Kommission, insbesondere um<br />

der missbräuchlichen Nutzung für den Bau von Kernwaffen vorzubeugen.<br />

Um die Atom-Forschungsaktivitäten durch Koordinierung zu optimieren, wurde<br />

weiter eine Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) eingerichtet, die<br />

heute fünf Forschungszentren in Karlsruhe, Geel (Belgien), Ispra (Italien),<br />

Peten (Niederlande) und Sevilla (Spanien) betreibt.<br />

Anders als der EG-Vertrag enthält der EAG-Vertrag bis ins Detail gehende<br />

Vorschriften über die gemeinsame Forschung, die Verteilung der wissenschaftlichen<br />

Kenntnisse, die Verleihung von Zwangslizenzen, den Gesundheitsschutz,<br />

die Gründung von gemeinsamen Unternehmen und die gemeinsame<br />

Versorgungspolitik im Bereich Kernenergie sowie über die diesbezüglichen<br />

Außenbeziehungen der Atomgemeinschaft. Wie im Rahmen der Montanunion<br />

hat auch bei EURATOM die Kommission eine relativ starke Stellung,<br />

was die Bezeichnung als „Verwaltungsgemeinschaft“ rechtfertigt 166 .<br />

Was die Zukunft der Europäischen Atomgemeinschaft betrifft, kann nur spekuliert<br />

werden. Zum einen stellt die Kernenergie unter dem Aspekt der<br />

Schadstoffemissionen eine „saubere“ Technologie dar; aus Kernkraftwerken<br />

65<br />

1.1.8- Die Atomgemeinschaft<br />

165 Vgl. Art. 197 Abs. 1 EA: Plutonium 239, Uran 233 sowie mit Uran 235 oder 233 angereichertes<br />

Uran.<br />

166 Vgl. den Überblick der Sonderregelungen des EAG-Vertrags bei Bleckmann, Europarecht,<br />

6. Aufl. 1997, § 41 RdNr. 2951 ff.<br />

107<br />

108<br />

109


110<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

werden keine Treibhausgase emittiert. Zum anderen stellt sich bei der Kernenergie<br />

die Frage der umweltspezifischen und sozialen Folgekosten bekanntlich<br />

in brisanter Form: Der radioaktive Abfall des Kernbrennstoffkreislaufes<br />

muss entsorgt und Kernkraftwerke müssen nach ihrer begrenzten Lebensdauer<br />

abgebaut werden. Zwar gilt der EAG-Vertrag gemäß Artikel 208<br />

EA auf unbegrenzte Zeit. Seit der Katastrophe von Tschernobyl und dem Offenbarwerden<br />

der erheblichen Risiken im Bereich der Atomwirtschaft der osteuropäischen<br />

Staaten dürfte aber klar sein, dass das „Aufbauprogramm“ des<br />

EURATOM kaum jemals im ursprünglich vorgesehenen Umfang realisiert<br />

werden wird. In einer Reihe von Mitgliedstaaten verdichtet sich zudem eine<br />

Anti-Haltung gegenüber Atomkraft. Auch scheinen die kernkraftnutzenden<br />

Mitgliedstaaten bislang nicht bereit zu sein, auf ihre nationalen Sonderwege<br />

zu verzichten. EURATOM kommt mithin auch in Zukunft im Bereich der europäischen<br />

Energiepolitik eine wohl nur untergeordnete Bedeutung zu. Sinnvoll<br />

wäre es deshalb, auch den EAG-Vertrag in einem gesonderten „Energie-<br />

Kapitel“ im EU- bzw. EG-Vertrag neu zu fassen und so die zersplitterten<br />

Energie-Kompetenzen der EU zu bündeln 167 . Auf Dauer erscheint es wenig<br />

sinnvoll, den gemeinschaftlichen Umgang mit Kohle im EGKS-Vertrag, mit<br />

Kernenergie im EAG-Vertrag sowie mit Öl und Gas im EG-Vertrag (doch<br />

recht unterschiedlich) geregelt zu haben. Durch die Bündelung der vielfältigen<br />

Regelung im Rahmen eines „Energie-Kapitels“ könnte zudem die erste<br />

EU-Säule vereinheitlicht werden.<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

Nach Gründung und Inkraftsetzung der Montanunion (1951/1952) sowie<br />

nach dem Scheitern der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ und der<br />

hiermit verknüpften weitreichenden „Europäischen Politischen Gemeinschaft“<br />

(1954) setzte sich die Einsicht durch, dass der europäische Integrationsprozess<br />

– entsprechend dem Ansatz der Funktionalisten – wohl nur<br />

Schritt für Schritt voranzutreiben ist. Dies blieb freilich mit der Hoffnung verbunden,<br />

dass ein solcher Ausbau des Gemeinschaftssystems letztlich die<br />

politische Integration zur Konsequenz haben werde (sog. „spill over-Effekt“).<br />

Insbesondere die Mitte der 50er Jahre aufkommende Bestrebung, Energieprobleme<br />

gesamteuropäisch durch Kernenergie zu lösen, führte dement-<br />

167 Vgl. Engelhard in: Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 141 ff.<br />

66


sprechend zur Gründung der sektoralen „Aufbaugemeinschaft“ EURATOM.<br />

Auf Grund des Weltwirtschaftsrechts, genauer, der so genannten Meistbegünstigungsklausel<br />

des GATT, nach der Zollzugeständnisse zwischen einzelnen<br />

GATT-Mitgliedern automatisch allen anderen Vertragsstaaten zu<br />

Gute kommen, konnte auf europäischer Ebene eine wirtschaftliche Liberalisierung<br />

nur über eine Zollunion erreicht werden. Nach Art. XXIV Abs. 8 des<br />

GATT sind nämlich Zollunionen, wenn sie grundsätzlich alle Produkte umfassen,<br />

als regionale Referenzzonen unter Befreiung von der Meistbegünstigungsklausel<br />

erlaubt 168 .<br />

Titel I des EG-Vertrags beginnt in Artikel 23 dementsprechend mit der Aussage,<br />

dass Grundlage der Gemeinschaft eine Zollunion ist, die sich auf den gesamten<br />

Warenaustausch erstreckt; „sie umfasst das Verbot, zwischen den<br />

Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben<br />

sowie die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) gegenüber<br />

dritten Ländern“. Die Freihandelszone und die gemeinsame Außenzollpolitik<br />

in Verbindung mit den „Marktfreiheiten“, d.h. dem freien Verkehr von Waren,<br />

Personen, Dienstleistungen und Kapital, verschmolzen die sechs Gründungsmitglieder<br />

169 ab In-Kraft-Treten des EWG-Vertrags am 1.1.1958 zu einem<br />

„Gemeinsamen Markt“. Die EWG war von Anfang an als Rahmenvertrag<br />

170 und nicht – wie die Montanunion oder Euratom – als bloße sektorelle<br />

Verwaltungsgemeinschaft konzipiert. Dementsprechend lag das Schwergewicht<br />

der Willensbildung von Anfang an nicht wie bei den anderen Gemeinschaften<br />

bei der Kommission, sondern beim Rat, über den die einzelnen Mitgliedstaaten<br />

die politische und rechtliche Entwicklung der EWG beeinflussten.<br />

Durch stete Aufwertung des Europäischen Parlaments ist dieser Einfluss<br />

allerdings bis zum heutigen Tag stark abgeschwächt worden.<br />

Tiefgreifende Fortentwicklungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

brachten die Einheitliche Europäische Akte (1986/1987), der Maastrichter<br />

Unionsvertrag (1992/1993) sowie der Vertrag von Amsterdam (1997/1999).<br />

Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) vom 28.2.1986 / 1.7.1987 ist für den<br />

Bereich der EWG insbesondere von Bedeutung, da sie den Gemeinsamen<br />

Markt zu einem „Binnenmarkt“ ausbaute. Nach Art. 14 Abs. 2 EG umfasst der<br />

67<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

168 Für die sektoral begrenzte Montanunion dagegen hatte es einer speziellen Freistellung<br />

(„waiver“) bedurft.<br />

169 Wie bei der Montanunion: Deutschland, Frankreich, Italien und BeNeLux.<br />

170 Sog. „traité cadre“.<br />

111<br />

112<br />

113


114<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von<br />

Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen<br />

des EG-Vertrags gewährleistet ist.<br />

Geleitet von der Einsicht, dass solche Vertragsbestimmungen noch nicht die<br />

vielfältigen Hemmnisse der Wirklichkeit beseitigen, verabschiedete die Kommission<br />

parallel zur EEA das berühmte „Binnenmarkt-Weißbuch 171 ”. Dieses<br />

Weißbuch 172 legte im Einzelnen die notwendigen Folgen der Annahme der<br />

Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung des Gemeinsamen<br />

Marktes bzw. Binnenmarktes, zusammen mit einem Aktionsprogramm<br />

für die Verwirklichung dieses Zieles dar. Die Kommission listete detailliert Binnenmarkthindernisse<br />

auf, machte Vorschläge zu deren Beseitigung und legte<br />

einen konkreten Zeitplan für die Durchsetzung des Binnenmarktes vor. Das<br />

Weißbuch war in drei Teile gegliedert: Beseitigung der so genannten materiellen<br />

Schranken (Warenkontrolle, Personenkontrolle), Beseitigung der<br />

technischen Schranken (nichttarifäre Handelshemmnisse für den freien Warenverkehr,<br />

öffentliches Auftragswesen, Freizügigkeit für abhängig Beschäftigte<br />

und Selbständige, gemeinsamer Dienstleistungsmarkt, Kapitalverkehr,<br />

industrielle Zusammenarbeit, Anwendung des Gemeinschaftsrechts), sowie<br />

Beseitigung der Steuerschranken (Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern). Insgesamt<br />

umfasste das Binnenmarkt-Weißbuch rund 300 Maßnahmen zur Beseitigung<br />

dieser Schranken zwischen den Mitgliedstaaten; Programmkern<br />

war eine Serie von Richtlinien zur Rechtsangleichung, die im wesentlichen<br />

bis 31. Dezember 1992 von der Gemeinschaft erlassen und zwischenzeitlich<br />

ganz überwiegend in nationales Recht umgesetzt wurden 173 .<br />

Das Binnenmarkt-Konzept verdeutlicht, dass die EWG schon nach der Einheitlichen<br />

Europäischen Akte keine bloß sektoral begrenzte „Wirtschaftsgemeinschaft“<br />

mehr war. Die EEA hatte der EWG darüber hinaus einen beachtlichen<br />

allgemeinen Kompetenzzuwachs beschert, insbesondere in den Bereichen<br />

von Forschung und Technologie, Umweltschutz und Wirtschaftsent-<br />

171 „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes“ vom 14.6.1985, Dok. KOM (85) 310.<br />

172 Ein „Weißbuch“ stellt die amtliche Ausarbeitung der Kommission zu bestimmten Fragen<br />

dar, die in der Regel ein Gesamtkonzept enthält, sowie – in dessen Rahmen – konkrete<br />

Realisierungsvorschläge. Als Diskussionsgrundlage gehen oftmals so genannte „Grünbücher“<br />

voraus.<br />

173 Umsetzungsdefizite gibt es insbesondere noch in Frankreich, Portugal und vor allem in<br />

Griechenland; vgl. im Internet unter<br />

http://europa.eu.int/comm/internal_market/de/update/score/score7.htm.<br />

68


wicklung. Zudem wurde der Integrationsprozess auf eine Europäische Union<br />

ausgerichtet; auch durch die vertragliche Regelung der bis dahin mehr informellen<br />

„Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) auf dem Gebiet<br />

der Außenpolitik. Zunehmend wurde daraufhin in den Medien und der Bevölkerung<br />

von der neuen „Europäischen Gemeinschaft“ gesprochen. Die Mitgliedstaaten<br />

reagierten hierauf mit dem Vertrag von Maastricht (7.2.1992 /<br />

1.11.1993). Der Maastrichter Vertrag schuf nicht nur die Europäische Union<br />

mit ihrer zweiten und dritten Säule 174 . Darüber hinaus benannte sie die EWG<br />

in „Europäische Gemeinschaft“ (EG) um. Juristisch gibt es mithin erst seit In-<br />

Kraft-Treten des Maastrichter Vertrags am 1. November 1993 eine EG 175 .<br />

Neben der sprachlichen Umbenennung brachte der Maastrichter Vertrag für<br />

die neue EG insbesondere die Wirtschafts- und Währungsunion, die in<br />

Wirklichkeit eine bloße Europäische Währungsunion (EWU) ist. Nach Art. 99<br />

EG betrachten die Mitgliedstaaten zwar ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit<br />

von gemeinsamem Interesse; juristisch werden die Wirtschaftspolitiken<br />

der Mitgliedstaaten jedoch nur koordiniert. Allein die Währungspolitik<br />

wurde mit der Einführung des EURO und des Europäischen Systems der<br />

Zentralbanken (ESZB) vergemeinschaftet und also zur alleinigen Aufgabe<br />

der EG gemacht. Abgeschlossen ist die Währungsunion, wenn ab 1.1.2002<br />

zunächst in allen zwölf EWU-Staaten der EURO als gesetzliches Zahlungsmittel<br />

bzw. bis (spätestens) Juli 2002 Euro und Cent als Bargeld eingeführt<br />

und später auch die verbliebenen Mitgliedstaaten 176 so genannte „In’s“ geworden<br />

sind.<br />

Dass die neue EG mit dem Maastrichter Vertrag nicht auf viele weitere Politikfelder<br />

ausgedehnt wurde, liegt insbesondere am scharfen Widerstand Großbritanniens.<br />

Exemplarisch lässt sich dies am „Abkommen über die Sozialpolitik“<br />

(Sozialprotokoll Nr. 14) aufzeigen. Großbritannien war 1973 nur widerwillig<br />

den drei Europäischen Gemeinschaften beigetreten, als klar wurde,<br />

dass die EFTA tatsächlich kein wirtschaftliches Gegengewicht zur EWG bilden<br />

konnte. Großbritannien verstand die EWG jedoch immer als bloße Wirt-<br />

69<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

174 Allerdings hatte man bereits nach der EEA vom „2-Säulen-Modell“ gesprochen.<br />

175 Sprachlich hatte die gleichzeitige Gründung der „Europäischen Union“ freilich zur Folge,<br />

dass die Medien und die Öffentlichkeit nunmehr weitgehend von der EU sprechen, wenn eigentlich<br />

die EG gemeint ist. Insoweit gilt juristisch der nette Merksatz von Schäfer: „Nichts<br />

tut so weh wie EU = EG“; vgl. Studienbuch Europarecht, 2000, S.38.<br />

176 Großbritannien, Dänemark und Schweden.<br />

115<br />

116


117<br />

1.1.9- Von der EWG zur EG<br />

schaftsgemeinschaft und wehrt sich vehement gegen jede kompetenzrechtliche<br />

Ausdehnung. Als im Rahmen der Maastrichter Verhandlungen klar wurde,<br />

dass alle anderen Mitgliedstaaten die neue Europäische Gemeinschaft<br />

nun auch durch eine weitergehende Vergemeinschaftung der Sozialpolitik<br />

mit einer sozialen Dimension ausstatten wollten, sperrte sich Großbritannien.<br />

Die anderen (damals) 11 Mitgliedstaaten ließen sich jedoch nicht von ihrem<br />

Weg abbringen und schlossen untereinander das Sozialabkommen ab. Faktisch<br />

wurde damit eine zunächst weitgehend eigenständige „Sozial-Sondergemeinschaft“<br />

begründet, der am 1. Januar 1995 auch Österreich, Schweden<br />

und Finnland beitraten. Erstmals entstand auf diese Weise mithin in großem<br />

Stile partikuläres Gemeinschaftsrecht und eine erste „verstärkte Zusammenarbeit“<br />

177 . Das Sozial-Sondergemeinschaftsrecht sah die umfassende<br />

Angleichung sozialer Standards vor, formal zwar außerhalb des EG-<br />

Vertrags, tatsächlich jedoch unter Nutzung des institutionellen Systems der<br />

Europäischen Gemeinschaft (Einschaltung von Rat, Kommission, Parlament<br />

und Gerichtshof). Juristisch wurde damit ein Berg vielfältigster Probleme aufgetürmt.<br />

Diese wurden schließlich durch den Amsterdamer Vertrag gelöst,<br />

nachdem Großbritannien – nach dem Regierungswechsel – das Sozialabkommen<br />

akzeptierte. Mit In-Kraft-Treten des Amsterdamer Vertrags am 1.<br />

Mai 1999 wurde das Sozialprotokoll Nr. 14 in die Artikel 136 bis 145 EG eingearbeitet<br />

178 . Die „Sozial-Sondergemeinschaft“ hatte damit nach rund<br />

5-jähriger Dauer ihr Ende gefunden.<br />

Der Amsterdamer Vertrag (2.10.1997 / 1.5.1999) brachte eine Fülle weiterer<br />

Neuerungen für die Europäische Gemeinschaft. Formal zählte er zunächst<br />

alle Vertragsartikel des EU- und EG-Vertrags neu durch (Umnummerierung).<br />

Die ehemaligen Artikel A bis S EUV heißen nunmehr Artikel 1 bis 53<br />

EU. Die ehemaligen Artikel 1 bis 248 EWGV bzw. EGV, mit vielen durch die<br />

EEA und Maastricht eingeführten Unterartikeln a, b, c etc., lauten seit 1.5.<br />

1999 Artikel 1 bis 314 EG. Zur Benutzung alter Rechtstexte muss damit in einer<br />

Vergleichstabelle nach der ehemaligen Bezeichnung gesehen werden.<br />

Auch inhaltlich brachte der Amsterdamer Vertrag für die EG vielfältige Neuerungen,<br />

die allerdings nicht mit einem spektakulären Schlagwort wie „Binnenmarkt“<br />

(EEA) oder „Währungsunion“ (Maastricht) auf einen Punkt gebracht<br />

werden können. Der Amsterdamer Vertrag brachte praktisch in allen Politik-<br />

177 S.o. unter 1.1.6- sowie Herdegen, Europarecht, 2. Auflage 1998, § 4 RdNr. 52.<br />

178 Vgl. Langer in: Bergmann/Lenz, der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 4 RdNr. 8 ff.<br />

70


ereichen verschiedene Neuerungen und vergemeinschaftete zudem wesentliche<br />

Teile der bisherigen dritten Säule, die nunmehr im Rahmen der ersten<br />

Säule in den EG-Vertrag eingefügt wurden. Die dritte Säule heißt dementsprechend<br />

seit Amsterdam auch nicht mehr „Zusammenarbeit in den Bereichen<br />

Justiz und Inneres“ (ZBJI), sondern entsprechend der verbliebenen<br />

Restkompetenzen nur noch „Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in<br />

Strafsachen“ (PJZS). Auch durch die Amsterdamer Vertragsrevision wurden<br />

wiederum vielfältige Kompetenzen „zur Sache der EG“ gemacht und damit in<br />

den supranationalen Kernbereich der europäischen Integration überführt.<br />

Die im Hinblick auf die anstehende Osterweiterung erforderliche große institutionelle<br />

Reform sowie die weitere Überführung von Politikfeldern von der<br />

Einstimmigkeit in den Bereich der Mehrheitsbeschlüsse wurden vom Amsterdamer<br />

Vertrag allerdings nicht geleistet. Diese weiteren Integrationsschritte<br />

sollen nunmehr durch den Vertrag von Nizza nachgeholt werden, der am 26.<br />

Februar 2001 von den EU-Außenministern unterschrieben wurde und möglicherweise<br />

– insbesondere nach einer zweiten Volksabstimmung in Irland –<br />

im Laufe des Jahres 2002 in Kraft treten wird. Der Vertrag von Nizza will vor<br />

allem – wie in diesem Buch in den jeweiligen Fachkapiteln dargestellt – Parlament,<br />

Rat, Kommission und EuGH umstrukturieren, für weitere 27 Bestimmungen<br />

die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit einführen und ganz<br />

erheblich die sog. „Verstärkte Zusammenarbeit“ ausbauen. Besonders die in<br />

Nizza beschlossene Reform der Institutionen scheint unumgänglich. Strukturen,<br />

die ursprünglich für 6 Mitgliedstaaten 179 gedacht waren, sind schon bei<br />

den heutigen 15 Staaten oft nur begrenzt tauglich. Auch der Vertrag von Nizza<br />

kann die Europäische Gemeinschaft mithin wiederum maßgeblich neu gestalten.<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

Die aufgezeigte Entwicklung der EWG zur EG illustriert, wie Integrationsprozesse<br />

in Europa funktionieren. Aus Sicht der Mitgliedstaaten können diese<br />

natürlich auch als „Geschichte vom Verlust nationaler Souveränität“ darge-<br />

71<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

179 Die 6 Gründerstaaten: D/F/I/BeNeLux; Norderweiterung 1973: DK / GB / Irl.; Süderweiterungen<br />

1981: GR und 1986: Port. / Span.; EFTA-Erweiterung 1995: Österreich / Schweden<br />

/ Finnland. Zur geplanten Osterweiterung ausführlich: Bergmann in: ZRP 2001, S. 18 ff.<br />

118<br />

119


120<br />

121<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

stellt werden. Ein Blickwinkel, der insbesondere in Großbritannien und Dänemark<br />

verbreitet ist, und der neuerdings auch in anderen Mitgliedstaaten verstärkt<br />

um sich greift. Er ist Ausdruck dafür, dass mehr und mehr von der Bevölkerung<br />

realisiert wird, dass die EU längst kein bloßer Papiertiger mehr ist,<br />

sondern ein Integrationsverbund, der die Mitgliedstaaten zwar nicht in ihrem<br />

Bestand bedroht, ihnen jedoch tatsächlich immer mehr Kompetenzen „wegnimmt“.<br />

Dies führt vielerorts verständlicherweise zu „nationalen Unwohlgefühlen“.<br />

Öl in dieses Feuer goss der damalige Kommissionspräsident Delors,<br />

als er vortrug 180 , dass bislang bereits nahezu 80% aller Regelungen im Bereich<br />

des Wirtschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt und<br />

nahezu 50% aller sonstigen nationalen Gesetze durch das Gemeinschaftsrecht<br />

veranlasst seien 181 . Ob diese Zahlen statistisch zutreffen, mag dahingestellt<br />

bleiben. Klar ist, dass die EU mittlerweile „Souveränitäten“ übertragen<br />

erhalten hat, die sie zu einem machtvollen Faktor in Europa machen. Die Jugoslawienkonflikte<br />

und die anstehende Osterweiterung werden diesen Prozess<br />

weiter vorantreiben. Ob am Ende die „Integrierten Staaten von Europa“<br />

stehen werden, und, falls ja, in welcher genauen Form, bleibt vorerst offen 182 .<br />

Der europäische Integrationsprozess – von der nationalen über die internationale<br />

bis auf die supranationale Ebene – lässt sich in (theoretische) Integrationsschritte<br />

schematisch zergliedern: Zunächst besteht bezüglich eines<br />

Politikfelds auf Grund der staatlichen Allzuständigkeit vollumfängliche<br />

nationale Souveränität (Ausgangspunkt). Grenzüberschreitende Probleme<br />

führen dazu, dass einige Staaten auf internationaler Ebene mit dem Instrumentarium<br />

des allgemeinen Völkerrechts bi- oder multilaterale Abkommen<br />

schließen (1. Schritt). Damit wird die nationale Souveränität erstmals eingeengt.<br />

Weitergehende Probleme bzw. der Wille zur engeren Zusammenarbeit<br />

führen daran anknüpfend dazu, dass die völkerrechtlichen Abkommen etwa<br />

in die Bereiche der zweiten oder dritten EU-Säule integriert werden, d.h. es<br />

beginnt eine intergouvernementale Kooperation (2. Schritt). Damit wird der<br />

Politikbereich auch der politischen Leitkompetenz des Europäischen Rates<br />

180 In seiner Rede im Europäischen Parlament am 4.7.1988, Bulletin EG 1988, Nr. 7/8, S. 124.<br />

181 Zur Überprüfung der Delors-These auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts führte das Verwaltungsgericht<br />

Stuttgart unter der Schirmherrschaft seines Präsidenten Dr. Bosch im Rahmen<br />

der EU-Aktion Robert Schuman ein Fortbildungsprojekt 2000/2001 „Europarecht im<br />

deutschen Verwaltungsprozess“ durch, in dem sämtliche Bereiche des deutschen Verwaltungsrechts<br />

auf ihren europarechtlichen Gehalt hin durchleuchtet wurden; vgl. VBlBW<br />

1/2000, S. III sowie 5/2000, S. 169.<br />

182 Vgl. unter 4.3.3- Finalität und europapolitische Visionen.<br />

72


unterworfen.<br />

Der Wille zur engeren Zusammenarbeit führt weiter zum Erlass von supranationalen<br />

Rechtsakten, die mithin nunmehr auch – neben den Mitgliedstaaten<br />

– die Unionsbürger mit Rechten und Pflichten ausstatten. Ein beliebtes Instrumentarium<br />

hierfür ist Artikel 308 (ex-Art. 235) EG. Nach Artikel 308 EG erlässt<br />

der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung<br />

des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften, wenn ein Tätigwerden<br />

der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen<br />

Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und wenn in den Verträgen<br />

die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind (3.<br />

Schritt). Über diese „catch-all-clause“ des Artikels 308 EG wird ein Politikfeld<br />

mithin erstmals in den supranationalen Bereich überführt und damit auch von<br />

den Voten der Kommission und des Europäischen Parlaments abhängig gemacht.<br />

Für die Regierungen der Mitgliedstaaten ist dies meist nicht weiter<br />

problematisch, da der Rat im Rahmen des Artikel 308 EG einstimmig agiert<br />

und also kein Mitgliedstaat gegen seinen Willen zu Integrationsschritten gezwungen<br />

werden kann.<br />

Nachdem über den Hebel des Artikel 308 EG (oder beispielsweise mit Hilfe<br />

des Instrumentariums der Rechtsangleichung in den Artikeln 94 bis 97 EG)<br />

das Politikfeld Stück für Stück weiter europäisch ausgestaltet wurde, kann es<br />

bei der nächsten Vertragsrevision in einem eigenen Kapitel im EG-Vertrag<br />

zusammengefasst werden (4. Schritt). Meist findet dieser „Sprung in die erste<br />

Säule“ aber unter der Voraussetzung statt, dass weiterhin Einstimmigkeit im<br />

Rat gilt und dass das Europäische Parlament nur angehört wird. Bei der<br />

nächsten Vertragsrevision bleibt es dann oftmals zwar noch bei der Einstimmigkeit<br />

im Rat, das Politikfeld wird jedoch dem Kodezisionsverfahren des Artikel<br />

251 EG unterworfen, d.h. das Europäische Parlament bekommt mit Hilfe<br />

eines echten Vetorechts das Recht zur Mitentscheidung (5. Schritt). Schließlich<br />

fällt bei einer weiteren Vertragsrevision zuletzt das Einstimmigkeitsprinzip<br />

und das Politikfeld ist damit vollumfänglich vergemeinschaftet und also<br />

zur eigenen Sache der EG gemacht (Endpunkt). Nunmehr können die Mitgliedstaaten<br />

im Bereich dieses Politikfelds nur noch das europäische Recht<br />

ausführen bzw. umsetzen und meist nur noch – wenn nicht sogar eine volle<br />

Sperrwirkung eingetreten ist – ergänzende nationale Maßnahmen vornehmen,<br />

die nach Artikel 10 Abs. 2 EG aber natürlich nicht die Verwirklichung der<br />

73<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

122<br />

123


124<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

Ziele der Europäischen Gemeinschaft gefährden dürfen. Damit ist die nationale<br />

Souveränität weitestgehend verloren gegangen und die Europäische Integration<br />

einen großen Schritt vorangekommen.<br />

In der Realität findet sich dieser (theoretische) „Schritt-für-Schritt“-Integrationsprozess<br />

natürlich nirgendwo in Reinform. Viele Politikbereiche wurden<br />

jedoch in ähnlichen Schritten vergemeinschaftet bzw. befinden sich noch auf<br />

dem Weg dorthin. Als geeignetes Beispiel kann die Umweltpolitik genutzt<br />

werden 183 . Die Umweltpolitik gehörte neben den kulturellen Bereichen zu den<br />

Aktionsfeldern, in denen die Gemeinschaft erst spät tätig wurde. Bei Abschluss<br />

der Gemeinschaftsverträge in den 50er Jahren war die Notwendigkeit<br />

eines umfassenden Umweltschutzes noch nicht im allgemeinen Bewusstsein.<br />

Die Mitgliedstaaten agierten in diesem Politikfeld national vollumfänglich<br />

souverän (Ausgangspunkt). Als Ende der 60er Jahre Umweltschäden<br />

auf Grund der industriell-technologischen Wirtschaftsaktivitäten insbesondere<br />

in West-Europa zu einem Politikum wurden, fanden sich im Rahmen<br />

der EWG Mitgliedstaaten, die diesen Gefahren mit Hilfe einer Gemeinsamen<br />

Politik entgegensteuern wollten. Im Rahmen der 1. UN-Umweltkonferenz im<br />

Jahre 1972 in Stockholm verpflichteten sich diese Mitgliedstaaten völkerrechtlich<br />

insbesondere in der Schlusserklärung zur Schaffung angemessener<br />

Umweltbedingungen für jeden Menschen (1. Schritt).<br />

Inspiriert von diesen Aktivitäten schlug 1973 anlässlich der Pariser Gipfelkonferenz<br />

die Geburtstunde einer europäischen Umweltpolitik. Gemeinsam wurde<br />

im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit die Ausarbeitung<br />

umweltpolitischer Aktionsprogramme vereinbart (2. Schritt). Seit dem 1.<br />

Aktionsprogramm von 1973 wurde zudem eine Übereinstimmung darüber<br />

herbeigeführt, dass die sinngemäße Auslegung der EWGV-Präambel 184 sowie<br />

des Artikels 2 EWGV 185 auch den Umweltschutz als wesentliches europäisches<br />

Politikziel umfasst. Ohne eine wirksame Bekämpfung der Umweltverschmutzung<br />

und der Umweltbelastungen seien die Lebensbedingungen<br />

183 Vgl. ausführlich bei Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, § 29 RdNr. 1993 ff.<br />

184 Die damals u.a. lautete: (Abs. 3) ... Vorsatz, die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen<br />

ihrer Völker ... anzustreben; ( Abs. 5) ... Bestreben, ihre Volkswirtschaften<br />

zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern.<br />

185 Aufgabe der Gemeinschaft ist es, ... eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens<br />

innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweigung zu<br />

fördern.<br />

74


nicht zu verbessern und die EWGV-Ziele nicht umsetzbar 186 . Nachdem nunmehr<br />

der Umweltschutz als EWG-Ziel „aus dem Hut gezaubert wurde“, war<br />

der Weg für die supranationale Rechtsetzung offen. Über den damaligen Artikel<br />

235 EWGV (Artikel 308 EG) und auch die Rechtsangleichungszuständigkeiten<br />

des alten Artikels 100 EWGV (Artikel 94 EG) wurden Stück für Stück<br />

zahlreiche Umweltrichtlinien einstimmig erlassen (3. Schritt). Bis 1986 war<br />

diese umfangreiche Rechtsetzungstätigkeit im Bereich von allgemeinen<br />

Maßnahmen, der Beseitigung und Verhinderung von Umweltbelastungen,<br />

des Schutzes des Lebensraums und natürlicher Ressourcen sowie internationaler<br />

Maßnahmen dahin gediehen, dass über 200 verbindliche Rechtsakte<br />

vorlagen. Es war ein zergliedertes, aber bedeutsames EWG-Umweltrecht<br />

entstanden.<br />

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986/87 wurde der „Sprung in die<br />

erste Säule“ vollzogen. Die Umweltpolitik wurde mit einem gesonderten Kapitel<br />

als Titel XV in den EG-Vertrag eingefügt (Artikel 130 r bis 130 t EWGV).<br />

Erstmals wurde damit in den Verträgen, d.h. im Primärrecht, die europäische<br />

Umweltpolitik sichtbar gemacht (4. Schritt). In weiten Bereichen galt jedoch<br />

noch das Prinzip der Einstimmigkeit. Mit dem Maastrichter Vertrag von<br />

1992/93 wurde die umweltrelevante Kompetenz der Gemeinschaft ausgeweitet<br />

187 und die Mehrheitsentscheidung für die Verabschiedung von Umweltrechtsakten<br />

eingeführt bzw. ausgedehnt. Dabei wurde auch das Parlament<br />

im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens mit weiteren Kompetenzen bedacht<br />

(5. Schritt).<br />

Der Amsterdamer Vertrag von 1997/99 vollendete die Überführung der Umweltpolitik<br />

in die „Souveränität“ der EG. Das parlamentarische Mitentscheidungsverfahren<br />

gilt seither nach dem neu gefassten Artikel 175 EG bei allen<br />

wesentlichen Umweltkompetenzen. Darüber hinaus wurde in Artikel 6 EG<br />

eine Querschnittsklausel und das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung<br />

(„sustainable development“) in den EG-Vertrag eingefügt. Nach Artikel 6 EG<br />

müssen die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und<br />

Durchführung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen insbesondere<br />

zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. Die Mit-<br />

75<br />

1.1.10- Integrationsprozesse<br />

186 Erkärung des Rates und der im Rat vereinigten Regierungsvertreter vom 22.11.1973, ABl.<br />

1973 Nr. C 112/1 ff.; vgl. auch EuGH, Slg. 1985, 531ff. – Umweltschutz als „wesentliches<br />

Ziel“ der Gemeinschaft.<br />

187 Z.B. in Artikel 130 s Abs. 2 EGV auf Maßnahmen im Bereich der Raumordnung.<br />

125<br />

126


127<br />

1.1.11- Integrationskritik<br />

gliedstaaten tragen nach Artikel 175 Abs. 4 EG grundsätzlich für die Finanzierung<br />

und Durchführung der EG-Umweltpolitik Sorge. Nach Artikel 176 EG<br />

dürfen die Mitgliedstaaten allerdings verstärkte Schutzmaßnahmen beibehalten<br />

oder ergreifen. Solche nationalen Alleingänge müssen jedoch mit dem<br />

Vertrag vereinbar sein und der Kommission notifiziert werden 188 . Damit ist der<br />

europäische Integrationsprozess im Bereich der Umweltpolitik zu einem vorläufigen<br />

Endpunkt gekommen.<br />

1.1.11- Integrationskritik<br />

Das dargestellte Integrationsverfahren hat insbesondere bezüglich der extensiven<br />

Nutzung des „Integrationshebels“ des Artikel 235 EWGV/Artikel 308<br />

EG in den Mitgliedstaaten heftige Kritik hervorgerufen. Kompetenzen, die der<br />

Gemeinschaft nicht zustünden, dürften auch nicht auf diesem Weg – an den<br />

nationalen Parlamenten vorbei – auf europäischer Ebene begründet werden.<br />

Am weitesten ging diesbezüglich das deutsche Bundesverfassungsgericht in<br />

seinem berühmt-berüchtigten Maastricht-Urteil. Zwar wies das Bundesverfassungsgericht<br />

im Urteil vom 12.10.1993 189 die gegen den EU-Vertrag gerichteten<br />

Verfassungsbeschwerden zurück und ermöglichte so dessen In-<br />

Kraft-Treten zum 1. November 1993. In den Urteilsgründen wurde aber insbesondere<br />

auf die Achtung der nationalen Souveränität gepocht. Der<br />

EU-Vertrag verdeutliche durch ausdrückliche Hinweise auf das Erfordernis<br />

einer Vertragsänderung oder einer Vertragserweiterung die Trennlinie zwischen<br />

einer Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer deren Grenze<br />

sprengenden, vom geltenden deutschen Verfassungsrecht nicht gedeckten<br />

Rechtsetzung. Indem die Gründungsverträge den Europäischen Gemeinschaften<br />

einerseits in umgrenzten Tatbeständen Hoheitsrechte einräumen,<br />

andererseits die Vertragsänderung regeln, habe diese Unterscheidung<br />

auch Bedeutung für die zukünftige Handhabung der Einzelermächtigungen:<br />

Wenn eine dynamische Erweiterung der bestehenden Verträge sich bisher<br />

auf eine großzügige Handhabung des Artikels 235 EWGV im Sinne einer<br />

„Vertragsabrundungskompetenz“, auf deren Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten<br />

der europäischen Gemeinschaften („implied powers“) und auf<br />

188 Vgl. auch Artikel 95 Abs. 3 bis 7 EG; Kienle in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag,<br />

1998, Kap. 5 RdNr. 45 ff; Bergmann, „Principle of Preemption“ versus „nationaler Alleingang“<br />

– Eine Erörterung am Beispiel der Umweltpolitik –, Europa-Institut Saarbrücken, 1993.<br />

189 BVerfG E 89, 155 = NJW 1993, S. 3047.<br />

76


eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der<br />

Gemeinschaftsbefugnisse („effet utile“) gestützt hat, so wird in Zukunft bei<br />

der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der<br />

Gemeinschaften zu beachten sein, dass der EU-Vertrag grundsätzlich zwischen<br />

der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und<br />

der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis<br />

nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf.<br />

Das Bundesverfassungsgericht ging sogar noch einen Schritt weiter und führte<br />

aus, dass eine solche Auslegung von Befugnisnormen für Deutschland keine<br />

Bindungswirkung entfalten würde. In einem Kooperationsverhältnis zum Europäischen<br />

Gerichtshof werde das Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls<br />

prüfen, ob sich das sekundäre Gemeinschaftsrecht insoweit in den eingeräumten<br />

Grenzen halte oder aus ihnen ausbreche 190 . Mit anderen Worten will das<br />

Bundesverfassungsgericht in Zukunft dafür Sorge tragen, dass sich die EG<br />

keine nicht ausdrücklich eingeräumten Kompetenzen anmaßt.<br />

77<br />

1.1.11- Integrationskritik<br />

190 Das BVerfG will die EG mit seiner Erfindung des „Kooperationsverhältnisses“ offenbar – im<br />

gewählten Bilde bleibend – gerne in „einen Käfig einsperren“. National- und machtpsychologisch<br />

ist es verständlich, dass sich das BVerfG selbst über den EuGH zu erhöhen versucht.<br />

Rechtstechnisch geht dies freilich nur mit dem fragwürdigen, völkerrechtlich geprägten<br />

Konstrukt, im offenen Europa neue rechtliche Grenzen hochzuziehen und also die deutsche<br />

Rechtsordnung dezidiert als „closed shop“, d.h. als grundsätzlich „verschlossenes System“<br />

zu begreifen, das nur über die „Brücke“ der deutschen Zustimmungsgesetze spältchenweise<br />

gen Europa „geöffnet“ werden könne. Und an diese Brücke will sich – auf deutscher Seite<br />

– das BVerfG setzen und permantent prüfen, ob sie den gerade nach Deutschland kommenden<br />

EG-Rechtsakt noch trägt, d.h. ob dieser sich im „europäischen Kompetenzrahmen“<br />

halte und auch nicht gegen die „Essentialia der deutschen Grundrechte“ verstoße. Anderenfalls<br />

würden die Zustimmungsgesetze nachträglich hin und wieder verfassungswidrig<br />

und der deutsche Gesetzgeber könne zur „Vertragsänderung“ oder sogar „Kündigung“ (!)<br />

verpflichtet sein, was ihm im Einzelfall dann das BVerfG aufgebe. Wer versucht, dieses<br />

neuartige „Kooperationsverhältnis“ umzusetzen (instruktiv Paehlke-Gärtner, Gerichtlicher<br />

Grundrechtsschutz gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht, VBlBW 2000, S. 13), kommt<br />

allerdings zu kompliziertesten Verfahrensarten, die sich (schon auf Grund der dann unverzichtbaren<br />

häufigen Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG) alles andere als praxistauglich erweisen<br />

dürften. Wenn überhaupt, kann das Brückenhäuschen nur auf europäischer Seite<br />

stehen und der EuGH in ihm Platz nehmen (so zu Recht Hirsch, EuGH und BVerfG, NJW<br />

1996, S. 2457); anderenfalls droht der EU – würden auch andere nationale Gerichte faktisch<br />

Europarecht für ihren Staat verwerfen – die „Balkanisierung“, d.h. die Zerplitterung der<br />

europäischen Rechtseinheit, auf die der Europa-Art. 23 GG ganz sicher nicht abzielt. Die<br />

Prüfungszuständigkeit des BVerfG erstreckt sich grundsätzlich nicht auf sekundäres Gemeinschaftsrecht,<br />

auch nicht über den „Trick“ der Zustimmungsgesetze. Der EuGH prüft<br />

selbst (abschließend), ob ein Rechtsakt EU-Kompetenzen überschreitet oder Grundrechte<br />

der Unionsbürger verletzt. Wie der Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Art. 23 Abs. 1 S. 3<br />

GG nahelegen, kommt dem BVerfG allenfalls i.S.d. „Solange II – Technik“ (vgl. BVerfGE 73,<br />

339) insoweit nur noch eine „Not-Zuständigkeit“ bei „offenkundiger“ Verfassungswidrigkeit,<br />

insbesondere unter dem Blickwinkel des Art. 79 Abs. 3 GG zu.<br />

128<br />

129


130<br />

131<br />

1.1.11- Integrationskritik<br />

Insoweit darf darauf hingewiesen werden, dass das Bundesverfassungsgericht<br />

auf europäischer Ebene eine Entwicklung zu verhindern sucht, die es –<br />

durchaus parallel – auf nationaler Ebene selbst tatkräftig mit herbeigeführt<br />

hat. Artikel 74 Nr. 11 des Grundgesetzes legt fest, dass sich die konkurrierende<br />

Gesetzgebung des Bundes in Deutschland auch auf das Recht der Wirtschaft<br />

erstreckt, d.h. die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung auf diesem<br />

Sektor nur noch haben, so lange und so weit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht<br />

keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. Art. 72 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat den Begriff „Recht der Wirtschaft“ nun von Anfang<br />

an extrem weit ausgelegt; sämtliche Normen, „die das wirtschaftliche Leben<br />

und die wirtschaftliche Betätigung als solche regeln“, könnten hierunter subsumiert<br />

werden 191 . Durch diese bundesfreundliche Auslegung aber hatte das<br />

Bundesverfassungsgericht dem Bund – gewissermaßen im Wege einer extensiven<br />

Rechtsfortbildung – außerordentlich weitreichende Kompetenzbereiche<br />

zugebilligt und erheblich zum Bedeutungsverlust der Länder beigetragen.<br />

Natürlich ist die Europäische Union (noch) kein Bundesstaat und die<br />

EU-Mitgliedstaaten sind keine Bundesländer. Dennoch erscheint es auf diesem<br />

Hintergrund zweifelhaft, ob gerade das Bundesverfassungsgericht in<br />

Europa der geeignete Hüter nationaler Kompetenzen ist, wenn sämtliche Regierungen<br />

der Mitgliedstaaten im Einvernehmen und einstimmig das „Recht<br />

der Wirtschaftsgemeinschaft“ – die längst nicht mehr nur eine solche ist – vergleichbar<br />

extensiv interpretieren und dadurch die europäische Integration<br />

vorantreiben.<br />

Das wichtigste Argument gegen eine „schleichende Kompetenzverschiebung“<br />

zu Gunsten der EU im Wege der extensiven Rechtsfortbildung – die unzureichende<br />

demokratische Beteiligung der nationalen Parlamente – kann nur<br />

begrenzt überzeugen, da im Rahmen der europäischen Rechtsetzung stattdessen<br />

zwischenzeitlich das Europäische Parlament regelmäßig als mächtiger<br />

Mit-Gesetzgeber am Verfahren beteiligt ist und so die demokratische Kontrolle<br />

ausreichend sicherstellt. Selbst wo das Europäische Parlament formell<br />

bislang nur etwa angehört wird, wird es in der Praxis darüber hinaus dann umfassend<br />

im Rahmen eines Konzertierungsverfahrens beteiligt, wenn es um<br />

„gemeinschaftliche Rechtsakte von allgemeiner Tragweite“ geht 192 .<br />

191 Vgl. BVerfGE 5, 28; 8, 149; 28, 146; 29, 409; 41, 352; 55, 308.<br />

192 Beispielsweise bei Rechtsakten mit ins Gewicht fallenden finanziellen Auswirkungen; vgl.<br />

Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 4.3.1975;<br />

ABl. 1975 Nr. C 89/1 und Art. 63 GeschO EP.<br />

78


Zudem bedeutet der Versuch der stärkeren Beteiligung der nationalen Parlamente<br />

an der europäischen Rechtsetzung „Eulen nach Athen zu tragen“, da<br />

die nationalen Parlamente vorhandene Beteiligungsmöglichkeiten möglicherweise<br />

doch nicht nutzen. Es trifft zu, dass heute ein großer Teil des nationalen<br />

Rechts seinen Ursprung im Europarecht findet und die EU damit zur<br />

„faktischen Entmachtung“ der mitgliedstaatlichen Parlamente geführt hat.<br />

Bereits in den (alten) Erklärungen Nr. 13 und 14 zur Schlussakte des Maastrichter<br />

Vertrags wurde aus diesem Grund 1992 ein stärkerer Informationsaustausch<br />

zwischen den mitgliedstaatlichen Parlamenten und dem Europäischen<br />

Parlament geregelt. Diese Erklärungen wurden von der Praxis aber<br />

weitgehend ignoriert. Zudem interessieren sich viele nationalen Parlamentarier<br />

offenbar kaum für die europäische Ebene. Dennoch wurde im<br />

EU-Protokoll Nr. 9 zum Amsterdamer Vertrag über die Rolle der einzelstaatlichen<br />

Parlamente in der Europäischen Union erstmals primärrechtlich 193 festgelegt,<br />

dass die einzelstaatlichen Parlamente möglichst frühzeitig und umfassend<br />

informiert werden sollen, um auf diese Weise die verfassungsmäßigen<br />

Kontrollmöglichkeiten ihrer Regierungen, d.h. der Ratsmitglieder, ausschöpfen<br />

zu können. Zudem wird der vorhandenen Konferenz der Europa-Ausschüsse<br />

(COSAC) eine allgemeine Diskussions- und Anregungsfunktion<br />

zugedacht 194 . Die Zukunft wird zeigen, ob die nationalen Parlamente eines<br />

Tages europapolitisch deutlicher „erwachen“ bzw. mit verstärkter Wachsamkeit<br />

den europäischen Einigungsprozess begleiten wollen. Demokratische<br />

Kontrollmöglichkeiten der europäischen Rechtsetzung sind jedenfalls<br />

juristisch hinreichend sichergestellt.<br />

1.1.12- Integrationstheorie<br />

Der europäische Integrationsprozess wird insbesondere von der Politikwissenschaft<br />

theoretisch aufgearbeitet und begleitet. Hierbei haben sich im Laufe<br />

der Jahre verschiedene Selektions-, Ordnungs- und Erklärungsansätze<br />

entwickelt, die im Wesentlichen komplementär zueinander, d.h. nicht eigentlich<br />

miteinander konkurrierend zu verstehen sind. Zu verschiedenen Zeiten<br />

79<br />

1.1.12- Integrationstheorie<br />

193 Vgl. Art. 311 EG: Die in diesem Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten<br />

beigefügten Protokolle sind Bestandteil dieses Vertrags.<br />

194 Vgl. Wirtz in: Bergmann/Lenz, Der Amsterdamer Vertrag, 1998, Kap. 19 RdNr. 2 f. sowie unter<br />

1.3.12- Demokratiedefizit.<br />

132


133<br />

134<br />

1.1.12- Integrationstheorie<br />

haben sie verschiedene Forschungsgegenstände schlüssig analysiert; auch<br />

heute lassen sich die verschiedenen Theorieelemente auf unterschiedlichen<br />

Ebenen im Integrationsprozess gleichzeitig bestätigen 195 .<br />

Die für den Bereich der Europäischen Union heute wohl wichtigsten Integrationstheorien<br />

sind die Ansätze des „Neofunktionalistischen Institutionalismus“<br />

sowie des „Neorealistischen Intergouvernementalismus“, die in zunehmendem<br />

Maße durch den Ansatz der „Globalen Märkte“ überlagert werden<br />

196 . Die erstgenannte Theorie baut auf der Grundthese des Funktionalismus<br />

auf, d.h. der Annahme, dass aus dem Zusammenschluss sektoraler<br />

Funktionsbereiche (z.B. Wirtschaft, Politik, Kultur) – und der damit verbundenen<br />

technischen und administrativen Kooperation – ein allmählicher Wandel<br />

der einzelstaatlichen Handlungsparameter eintritt. Ursprünglich wurde sogar<br />

angenommen, dass sich die so verlaufende europäische Integration auf<br />

Grund von „Spill-over-Effekten“ mehr oder weniger automatisch bzw.<br />

zwangsläufig ergeben werde; nachdem ein „Point of no return“ überschritten<br />

sei, würden die integrativen Sachzwänge gewissermaßen den Rest besorgen.<br />

Die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre hat allerdings gezeigt, dass ein<br />

so weitgehendes Vertrauen in „automatische Integration“ nicht gerechtfertigt<br />

ist, sondern der immer wieder erneuerte politische Wille der Mitgliedstaaten –<br />

in Verbindung mit dem günstigen, meist nicht planbaren Zeitpunkt 197 – in vielen<br />

Bereichen den Ausschlag für weitergehende Integrationsschritte gibt.<br />

Der Neofunktionalismus hält dementsprechend eine solche Entwicklung<br />

auch nicht mehr für zwangsläufig, allerdings durchaus für wahrscheinlich.<br />

Auch gewichtet er den „Integrationsmotor“ anders: In den Vordergrund stellt<br />

er nicht die sektoralen Funktionsbereiche, sondern die konfliktregelnden Institutionen,<br />

einschließlich der in ihnen arbeitenden Menschen. Spezifische integrationsfördernde<br />

Variablen werden berücksichtigt und zu Hintergrundund<br />

Prozessvariablen gebündelt; als wichtigste Variable gelten hierbei nationale<br />

Interessenverbände, die sich zu regionalen Interessenverbänden mit ei-<br />

195 Vgl. Reh, Integrationstheorie: Aus dem Elend zur Synthese?, in: integration 1/00, S. 63 ff.<br />

sowie ausführlich: Druwe/Hahlbohm/Singer, Internationale Politik, 1995, S. 84 ff., die im<br />

Wesentlichen unterscheiden zwischen: (Neo-) Realismus, Interdependenz, Integration und<br />

Dependenz/Imperialismus.<br />

196 Vgl. (mit zahlreichen Nachweisen) Schirm, Globale Märkte, nationale Politik und regionale<br />

Kooperation, 1999, S. 14 ff.<br />

197 Vgl. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, § 29 RdNr. 1900, der insoweit vom „Kairos“<br />

spricht.<br />

80


genständigen Entscheidungsstrukturen zusammenschließen und durch politischen<br />

Druck auf mehr Integration hinarbeiten 198 . Der Neofunktionalismus<br />

baut auf der allgemeinen These auf, dass Integration aus Gründen funktionaler<br />

Effizienz stattfindet, sich regionale Kooperation mithin dann durchsetzt,<br />

wenn bestimmte Staatsfunktionen durch Zusammenarbeit effizienter zu bewältigen<br />

sind als im nationalen Alleingang.<br />

Einen anders gelagerten Theorieansatz europäischer Integration bietet die<br />

neorealistische Argumentationslinie. Sie geht – entsprechend prägender<br />

Erfahrungen im Laufe der letzten fünfzig Jahre – von der Grundannahme<br />

aus, dass auch im Rahmen der EU immer der Staat der entscheidende „Integrationsmotor“<br />

sei; jeder Mitgliedstaat handele letztlich machtorientiert nach<br />

seinen nationalen Interessen in einem prinzipiell anarchischen internationalen<br />

System. Erst wenn sich gleichlaufende nationale Interessen auf diese<br />

Weise bündeln lassen, würden sich die Mitgliedstaaten souverän zu regionaler<br />

Integration „entschließen“. Je nach der jeweiligen Machtfülle könnten dabei<br />

auch „Interdependenzen“ zu nicht-staatlichen internationalen Akteuren<br />

oder Organisationen entstehen. Im Sinne eines Intergouvernementalismus<br />

wird ergänzend davon ausgegangen, dass regionale Integration durchaus<br />

auch eine Folge des Bestrebens der beteiligten Regierungen ist, eine Stärkung<br />

ihrer Handlungsfähigkeit „nach innen“ zu erzielen. Europapolitisches<br />

Verhalten nationaler Regierungen sei mithin immer auch Reaktion auf innenpolitischen<br />

Druck bzw. ein Versuch, ein Mehr an nationalem Wohlstand über<br />

den Weg regionaler Integration zu erreichen.<br />

Wer Europäische Integration im Zeitalter weltumspannender Unternehmensfusionen,<br />

von Shareholder-Value, Internet und e-business einerseits, struktureller<br />

Massenarbeitslosigkeit andererseits, schlüssig analysieren will, wird<br />

um eine Ergänzung der Integrationstheorien durch liberale Konzepte nicht<br />

umhin kommen. Diese Konzepte beruhen auf der Grundthese, dass sich nationale<br />

Interessen insbesondere auf der Basis eines prinzipiell freiheitsverbürgenden<br />

und wohlfahrtsoptimierenden Marktmechanismus herausbilden,<br />

ökonomische Prozesse mithin im Zentrum – in „der neuen Mitte“ – allen nationalpolitischen<br />

Handelns stehen.<br />

Fundiert wird dieses Phänomen durch den Ansatz der Globalen Märkte, d.h.<br />

die stärkere theoretische Berücksichtigung des Prozesses wachsender<br />

198 Vgl. Mickel, Handlexikon der EU, 2. Aufl. 1998, S. 309.<br />

81<br />

1.1.12- Integrationstheorie<br />

135<br />

136<br />

137


1.1.12- Integrationstheorie<br />

transnationaler Mobilität gewinnorientierter privatwirtschaftlicher Aktivitäten<br />

199 . Dem liegt folgende Beobachtung zugrunde: Je stärker die Verflechtung<br />

nationaler Ökonomien mit globalen Märkten die einzelstaatliche Binnensteuerung<br />

mit Kosten belegt, desto größer wird die Präferenz nationaler<br />

Regierungen für (liberalisierende) regionale Integration. Nachweisen lässt<br />

sich dies etwa im Rahmen der europäischen Binnenmarktentwicklung 200 . Die<br />

Theorie der Globalen Märkte dürfte aber auch verdeutlichen, warum die Mitgliedstaaten<br />

in immer stärkerer Weise nationale Souveränität an die Europäischen<br />

Gemeinschaften abgeben in den Bereichen Landwirtschaft, Wettbewerb,<br />

Währung, Handel, Sozialpolitik, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz,<br />

Infrastruktur, Industrie, Strukturpolitik, Forschung, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit<br />

und Energie (Politikfelder der ersten EU-<br />

Säule) 201 . Unter Berücksichtigung der erheblichen nationalen Kosten und internationalen<br />

Vernetzungen etwa des Sicherheits- und Verteidigungssektors<br />

oder des europäischen Flüchtlingsproblems dürfte der Ansatz der Globalen<br />

Märkte selbst dazu taugen, spezifische Antriebskräfte konkreter europapolitischer<br />

Entwicklungen im Bereich der zweiten und dritten Säule des Europäischen<br />

Integrationsverbundes mit zu erklären und treffend zu prognostizieren.<br />

199 Siehe hierzu die Forschungen von Schirm, Globale Märkte, nationale Politik und regionale<br />

Kooperation, 1999.<br />

200 Vgl. im Einzelnen bei Schirm, a.a.O., S. 74 ff.<br />

201 Vgl. die EG-Politikfelder in Art. 32 bis 181 EG sowie die Montanunion und Euratom.<br />

82


1.1.12- Integrationstheorie<br />

transnationaler Mobilität gewinnorientierter privatwirtschaftlicher Aktivitäten<br />

199 . Dem liegt folgende Beobachtung zugrunde: Je stärker die Verflechtung<br />

nationaler Ökonomien mit globalen Märkten die einzelstaatliche Binnensteuerung<br />

mit Kosten belegt, desto größer wird die Präferenz nationaler<br />

Regierungen für (liberalisierende) regionale Integration. Nachweisen lässt<br />

sich dies etwa im Rahmen der europäischen Binnenmarktentwicklung 200 . Die<br />

Theorie der Globalen Märkte dürfte aber auch verdeutlichen, warum die Mitgliedstaaten<br />

in immer stärkerer Weise nationale Souveränität an die Europäischen<br />

Gemeinschaften abgeben in den Bereichen Landwirtschaft, Wettbewerb,<br />

Währung, Handel, Sozialpolitik, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz,<br />

Infrastruktur, Industrie, Strukturpolitik, Forschung, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit<br />

und Energie (Politikfelder der ersten EU-<br />

Säule) 201 . Unter Berücksichtigung der erheblichen nationalen Kosten und internationalen<br />

Vernetzungen etwa des Sicherheits- und Verteidigungssektors<br />

oder des europäischen Flüchtlingsproblems dürfte der Ansatz der Globalen<br />

Märkte selbst dazu taugen, spezifische Antriebskräfte konkreter europapolitischer<br />

Entwicklungen im Bereich der zweiten und dritten Säule des Europäischen<br />

Integrationsverbundes mit zu erklären und treffend zu prognostizieren.<br />

199 Siehe hierzu die Forschungen von Schirm, Globale Märkte, nationale Politik und regionale<br />

Kooperation, 1999.<br />

200 Vgl. im Einzelnen bei Schirm, a.a.O., S. 74 ff.<br />

201 Vgl. die EG-Politikfelder in Art. 32 bis 181 EG sowie die Montanunion und Euratom.<br />

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