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Manuskript (PDF) - Jean-Claude Kuner

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WDR 3 ARTMusikfeatureRed: Dagmar TöpferKT: 1 132 510KSt: 20 31 00Spiel mit den GrenzenAlte Musik zwischen Improvisation und Crossoverein MusikfeatureVon<strong>Jean</strong>-<strong>Claude</strong> <strong>Kuner</strong>Donnerstag, 31.03.2005, 22.00-23.00 UhrTechnik:Peter KainzRegie:<strong>Jean</strong>-<strong>Claude</strong> <strong>Kuner</strong>Sprecher/in: Imogen KoggeHeiner Take<strong>Jean</strong>-<strong>Claude</strong> <strong>Kuner</strong>Aufnahme: 14. – 18.03.2005Studio: Berlin „Hörspiel 2“Band-Nr:Länge:© Dieses <strong>Manuskript</strong> ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Genehmigung nichtverwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügenabgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darfdas <strong>Manuskript</strong> nur mit Genehmigung des Westdeutschen Rundfunks Köln benutztwerden.


Musik: RavenO-Ton: Kathleen DineenÜbersetzerin:Wenn ich traditionelle Lieder singe, empfinde ich alsSängerin eine große Freiheit - weil ich sie mein Leben langgekannt habe und sie mir in Fleisch und Blutübergegangen sind. Ich brauche keine Noten. Nur michselbst und meine Stimme.In Konzerten entsteht das Gefühl der völligenÜbereinstimmung mit dem, was ich tue und dervollkommenen Freiheit des Gesangs.Ich dachte immer, wenn ich doch nur auch die Musik desMittelalters auf diese Weise singen könnte.Musik: FerraraO-Ton: Jesper ChristensenAlso so was hat man immer gemacht in derMusikgeschichte. Etwas aus der Vergangenheit oder ausanderen Stilen angenommen und versucht das in dereigenen Sprache zu integrieren. Das ist überhaupt nichtsNeues und darüber sollte man sich überhaupt nichtaufregen. Überhaupt nicht.Wie die grossen romantischen Pianisten, denen wäre dasnicht eingefallen, Bach auf dem Klavier so zu spielen, wiees in den Noten steht. Weil jetzt hat man plötzlich einKlavier mit sieben Oktaven und Pedalen, und dann spieltman natürlich wie Busoni in seinen Bachtranskriptionen,oder Liszt in seinen Orgeltranskriptionen. Das finde ichwunderbar und vollkommen natürlich.Ich stehe überhaupt nicht auf der puritanischen Seite.Musik: Time WaveAtmo: Flur Schola Cantorum, dazu wie von Ferne Wenzinger(darüber:)2


Autor:Als vor siebzig Jahren der Dirigent Paul Sacher und derGambist August Wenzinger in Basel die Schola CantorumBasiliensis gründeten, war das Wissen um das Spiel derhistorischen Instrumente verloren, die Literatur zumgrößten Teil vergessen. Man wälzte zunächst die altenTraktate, baute historische Instrumente nach und gewannallmählich die Fertigkeiten vergangener Zeiten auf ihnenwieder zurück.O-Ton: Drescher (1.39.17)Die Arbeit, die wir hier machen, bewegt sich jetzt ineine Richtung weg vom Quellenlesen undUmsetzung der Quellen hin zu einem freierenUmgang mit der Alten Musik.Autor:Der Musikwissenschaftler und stellvertretende Direktor derSchola Cantorum, Dr. Thomas Drescher.Da ist etwas im Kommen, was die Praxis der AltenMusik in Zukunft enorm bereichern und bestimmenkönnte.Das erfordert Spezialisten, die bereit sind, sich ineinen Stil, in eine große zeitliche Distanz und mitsehr viel Energie hinein zu vertiefen und dasausschließlich machen, um sich darin frei bewegenzu können.Autor:Der heutige Wissensstand, die Qualität und Virtuosität derMusiker ermöglichen den Schritt auf freiere und kreativereInterpretationen der Alten Musik.Verstärkt wird heute Improvisation unterrichtet - einwesentlicher Teil der Musikpraxis früherer Zeiten.O-Ton: Drescher (1.39.17)Wir haben vor zwei Jahren mit Crawford Young und3


K. E. Schröder eine Lauten-CD mit Lautenduosaufgenommen, die sich für das unvoreingenommeneOhr unspektakulär anhört, aber im Grunde eineWiederbelebung einer nicht schriftlich fixiertenEnsemblepraxis aus der Zeit um 1500 darstellt.O-Ton: Crawford YoungAm liebsten vermeide ich das Wort improvisieren. Esheißt also im historischen Stil etwas spielen undsich ausdrücken. Da geht es nicht so sehr umSachen, die zum ersten Mal gespielt werden. Daging es eher um selbst komponierte Fassungen vonbekannten Liedmelodien oder Tenören. Auf dieserCD, die ich mit Schröder gemacht habe, ging esdarum, ein Repertoire zu rekonstruieren, das heuteverloren gegangen ist.Musik: Amours, Lautenduos um 1500, K: Alexander Agricola/Haynevan Ghizeghem; I: Karl-Ernst Schröder & Crawford Young (HMC905253, LC 7045)Autor:Von der Improvisation ist der Weg zum musikalischenCrossover nicht weit.Zur Beschäftigung mit musikalischen Welten, in denen sichdie Improvisation gehalten hat.Improvisation, Crossover, Weltmusik – das sind Begriffe,die auch vor der Alten Musik nicht halt machen. Dersaturierte Musikmarkt auf der Suche nach neuen Nischenwill gefällig Gemischtes.Die Musiker selbst interessiert anderes: an den nochimmer lebendigen Musiktraditionen – die Volksmusik oderMusik fremder Kulturen – können Ähnlichkeiten inAufführungspraxis und Spieltechnik beobachtet werden,die unter anderem Rückschlüsse auf die bei uns verlorengegangene modale Welt des Mittelalters zulassen.4


Musik: Zwei WeltenO-Ton: ZuckermanIn alter Musik brauchen wir Inspiration. Besonders inmittelalterlicher Musik, wo soviel geschriebenesMaterial fehlt. Von Liedbegleitung, von Notation, wieman improvisiert hat. So viele Sachen sind in denQuellen nicht anzuschauen. Wir müssen einbisschen neugierig sein.Mit klassischen Musikern ist es anders, denn dort istalles ganz notiert, fixiert, es ist alles gegeben.Autor:Ken Zuckerman, Amerikaner aus Neptun, New Jersey,unterrichtet in Basel Lautenmusik des Mittelalters undImprovisation, sowie das Sarod-Spiel und die klassischeMusik Nordindiens.(Musik 2 Welten unter Text Wechsel zur indischen Musik)Musik: Andalus /CantigasO-Ton: ZuckermanWir suchen im Osten Inspiration für rhythmischeElemente. Eine Tradition, die im frühen Westen garnicht notiert wurde. Man hat viele Instrumentegesehen. Wir haben aber fast keine Ahnung, was diegespielt haben und was für rhythmischeBegleitungen man gemacht hat. Diese Instrumentesind teilweise noch im Osten zu sehen und deshalbist es ein reiches Feld für Forschung.(Musik: Cantigas hoch)Autor:Bereits in den 1960er Jahren unternahm Thomas Binkleyeine Erkundungsreise nach Marokko. Auf den Spurenglobaler Musikverbindungen: Die andalusisch-islamischeMusik, die sich in Nordafrika - nach der Vertreibung derMauren von der iberischen Halbinsel - erhalten hat.5


Sie zeugt von einer längst vergangenen Epoche, woMuslime, Christen und Juden in Eintracht nebeneinanderlebten. Zu sehen in der Handschrift der Cantigas de SantaMaria, entstanden im 13. Jahrhundert am Hofe Alfonsos X.Musik: CantigasO-Ton: ZuckermanUnd dort sieht man auf den Miniaturen viele Musiker,die zusammen gespielt haben. Christliche, jüdische,islamische Musiker mit ihren Kostümen und eigenenInstrumenten. Das war ein sehr reicher Treffpunkt fürTraditionen.Musik: Cantigas hochAutor:Die endgültige Rückeroberung der iberischen Halbinsel imJahre 1492 setzte dieser Welt ein Ende. Nicht nur dieMuslime wurden vertrieben, man jagte auch die Juden ausdem Land. Die Vertreibung versprengte sie über denganzen Mittelmeerraum bis zu den osmanisch besetztenGebieten Europas, darunter der Balkan. Mit im Gepäckführten sie ihre spanisch-sefardische Musiktradition, die -ohne sich den Einflüssen der fremden Kultur zu versperren– sich in vielen Teilen erhalten hat. Im bulgarischen Sofiawie in Nordafrika.Crossover – längst keine Erfindung der Neuzeit.O-Ton: ZuckermanSeit Musiker reisen, hat es Crossover gegeben. Nichtnur die großen Crossovers zwischen Persien undEuropa zum Beispiel, sondern auch von Spaniennach Italien und von Spanien nach Deutschland.Auch diese Musiktraditionen waren ganzverschieden. Und man sieht klar, dass es durchCrossover war, dass die ganze Entwicklung derwestlichen Musik stattgefunden hat.6


Musik: SefardiAutor:Der Begriff Crossover geistert seit geraumer Zeit durch dieWelt der Musik. Eine diffuse Kategorie, unter der sichunterschiedlichste Musik einordnen lässt - nicht zuletztkommerzieller Erwägungen wegen. Die Krise derSchallplattenindustrie glaubt, im Crossover, in derVerbindung verschiedener Genres, ein Erfolgsrezeptgefunden zu haben, wie ein größeres Publikum zuerreichen ist.Crossover bedeutet Vermischung verschiedener Stile,Genres oder Kulturen.Als Crossover bezeichnet man aber auch, wenn einklassisches Werk bei Liebhabern populärer Musik Zugangfindet.Oder, wenn auf Alte Musik spezialisierte Musiker inanderen Genres tätig werden.In der Volksmusik oder im Jazz.Musik: Zwei Welten, Vellard und Zuckerman(darüber:)Autor:Der französische Sänger Dominique Vellard lebt ganz inder Welt des Mittelalters. Seit seiner Kindheit im Chor vonNotre-Dame de Versailles fühlt er sich im gregorianischenGesang zu Hause. Sein Ensemble Gilles Binchois gehörtzu den erfolgreichsten Gruppen Frankreichs, diespezialisiert sind auf die Musik des Mittelalters und desFrühbarock.O-Ton: VellardÜbersetzer:7


Fünfzehn Jahre lang habe ich mich nur mit der Musik desMittelalters beschäftigt. Dann begann ich mich zu fragen,welchen Sinn das hat? Ich war an eine Grenze gekommen.Seit Harnoncourt bemühen wir uns, unter Verwendungschriftlicher Quellen, um historisch genaueInterpretationen. Aber ich bin kein Archäologe. Ich binMusiker und es sind die musikalischen Phänomene, diemich interessieren.Deshalb begann ich für meine Interpretation der Musik desMittelalters in mündlich überlieferten traditionellenMusikformen nach Ähnlichkeiten und technischenMöglichkeiten zu suchen, die weit entfernt von derwestlichen Kunstmusik sind.Ich hatte immer ein aufmerksames Ohr für die traditionelleMusik, auch um Archetypen herauszufinden: DasTiefliegende, Universelle, Wahre an der Musik.Wenn ich mich derart für den gregorianischen Gesanginteressiere, für Modalität, für Musik fremder Kulturen undVolksmusik, und sogar mit Sängern von dort zusammensinge, dann kommt das alles, so dachte ich, auf dasGleiche heraus: es ist nicht mehr die historische Musik, diemich interessiert, sondern die auf tieferer Ebeneauthentische, älteste und wahrhaftigste Musik, die derganzen Menschheit gehört.Musik: Sources, dann PerotinusO-Ton: VellardÜbersetzer:Es gibt Archetypen, die sich reproduzieren und kulturelleGrenzen überschreiten. Wenn ich zum Beispiel mit derindischen Sängerin Aruna Sairam zusammen singe, dannbemerken wir, dass die ältesten Elemente der Musik sehr8


ähnlich sind. Aus dieser gemeinsamen Zelle, diesem tiefenGesang der Menschheit, machen die verschiedenenKulturen Unterschiedliches.Die indische Musik entwickelte sich zu einer vollkommenenModalität, mit immer komplizierteren Ragas, einerraffinierten melodischen Entwicklung, einem Spiel derRhythmen, um diese Melodien zu begleiten. Während diewestliche Musik sich mehr zur Polyphonie und zumKontrapunkt hin entwickelt hat.Wenn ein indischer Sänger einen Bhajan singt, habe ichkeinerlei kulturelle Schwierigkeiten, dabei ganz ähnlicheEmotionen zu empfinden wie er.Plötzlich sagte ich mir, wenn ich gregorianischen Gesangoder die Polyphonie des 12. und 13. Jahrhundertsinterpretiere, dann mache ich eigentlich keine alte Musik,sondern ich singe eine Musik der Menschheit. Es hat dannkeinerlei Bedeutung mehr zu wissen, dass diese Musiketwa aus dem 4. oder 19. Jahrhundert stammt.Das ist dann vollkommen bedeutungslos.Musik: Perotinus, dann Vox(auf die Musik:)Autor:Joachim-Ernst Berendt: Das Dritte Ohr.Übersetzerin:Das Wort „Weltmusik“ ist modisch, aber doch nur, weilder Westen es plötzlich entdeckt hat. Die Musik, diedamit bezeichnet wird, ist so alt wie die Welt – dieeinzige, die sich Moden entzieht; es ist eine wahrhaftzeit-lose Musik, die im Grunde aller Musik ist.Karl Berger, einer der bekanntesten „Weltmusiker“von heute sagt:Übersetzer:9


„Das tun wir eigentlich: wir hören hindurch – auf das,was allen Kulturen gemeinsam ist. Wir imitieren nichts.Wir entdecken das allen Gemeinsame auch in uns.Eben deshalb ist es ja allen gemeinsam, weil wir esauch in uns selber tragen.“Übersetzerin:Stockhausen:Übersetzer:„Jeder Mensch trägt die ganze Menschheit in sich.“Musik:O-Ton: VellardÜbersetzer:Der rumänische Musikwissenschaftler Constantin Brailoiuhat das auf dem Gebiet der volkstümlichen Musikwissenschaftlich aufgearbeitet. Er nannte einen Gesangstilden Grossen Gesang, in dem mit voller Stimme,Verzierungen und einem bestimmten Zeitkonzeptgesungen wird; etwas, was auf der ganzen Welt existiert.Wenn man diese Erkenntnis auf den gregorianischenGesang überträgt - und nicht den sonst angewandtenSolemnes-Stil, der eher einer Ästethik des 19.Jahrhunderts entspricht - dann erkennt man plötzlichGemeinsamkeiten.Die Analyse dieser anderen Welten ermöglicht es mirmehr, die Musik des Mittelalters so wiederzugeben, wie siein den alten Schriften beschrieben wird, als nur historischeSchriften und Quellen zu studieren.Das allein lässt einen nicht die tiefer liegenden Wahrheitenfinden.10


Musik: VoxMusik: Zwei WeltenO-Ton: Improvisationsklasse Ken Zuckerman(darüber:)Four times ... ta ... ta ... ta.... ta .... takita ..... etc.And back to one!O-Ton: ZuckermanWir wissen, dass Musiker improvisiert haben. Aber es gibtfast keine Indikationen darüber, wie man Improvisationgelernt hat. Diese Kunst ist verloren gegangen. In spätererMusik ist das nicht mehr unterrichtet worden. Es gibt füreinen klassischen Musiker dafür gar keinen Platz mehr unddeshalb gibt es auch keine Pädagogik für klassischeImprovisation.Man sieht manchmal an Musikschulen freieImprovisationskurse. Aber was macht man damit? Manversucht keinen Regeln zu folgen, aber nicht etwas zuentwickeln mit einer Verbindung zu einer klassischenStruktur. Da hat man eine Chance in der alten Musikweltnach Improvisationen zu forschen, weil man weiß, dass esim Mittelalter, Renaissance und im Barock wichtig war.Deshalb ist das ein Teil unserer Aufgaben an der ScholaCantorum gewesen, das wieder ins Leben zu bringen.Ich hatte schon eine Ausbildung aus Indien, wie manmodale Musik improvisiert. Ich habe Elemente aus demindischen Klassenzimmer genommen und insmittelalterliche Klassenzimmer gebracht.O-Ton: Improvisationsklasse Ken Zuckerman hoch(darüber:)O-Ton: ZuckermanIch lege großen Wert auf Modus. Und ich unterrichtehauptsächlich oral. Weil lernen durch Zuhören anstattdurch Lesen eine der wichtigsten Sachen ist für einenMusiker, der improvisieren will.O-Ton: Lutz (er sitzt am Cembalo)Mein Name ist Rudolf Lutz. Ich arbeite schon seit 15 Jahrenan der Schola Cantorum Basiliensis alsImprovisationslehrer. Das, was ich oftmals in kirchlichenBereichen selber praktiziert habe, self-made bearbeitet, auf11


den Gottesdienst bezogen, das konnte ich dannmethodologisch aufarbeiten. Und dann haben wir mit denKollegen untersucht, wie man das lehren könnte.Ich möchte da Jesper Christensen nennen. Er istGeneralbasslehrer und kennt sich sehr gut aus mit denQuellen und hat mir ein paar alte Quellen über dieImprovisation genannt. Dann haben wir das ausprobiert, diePartimento-Methode entwickelt. D.h. die Bassführung alsGrundlage eines harmonischen Ablaufs. Wie das LeadSheet beim Jazz.Ich könnte hier vielleicht ein kleines Beispiel spielen, dasman sich das vorstellen kann.(spielt)Wenn ich das mit Generalbassakkorden versehe .....(spielt)Dann kann ich zum Beispiel Lagenwechsel machen ....(spielt)Andere Möglichkeiten sind Arpeggien ...(spielt)Solche Sachen gehen in die Harmonielehre, in dieTonsatzlehre, in den Generalbass, und auch in dieKomposition. Hier könnte ein Fehler passieren ....(spielt)Und dann werden solche falsche Noten untersucht. Wasmacht man da?Ich habe also diesen Bass, diese Ziffern, diese Akkorde undkann dann eigentlich eine ganze Passacaglia auf Grunddieser Sache improvisieren. Und wenn man denkt, waseigentlich Jazz ist, hat das sehr viel miteinander zu tun.Dort ist es nicht das Partimento, sondern das Lead Sheet,da stehen die Melodie drauf und die Akkorde.(spielt)Das ist jetzt das Partimento des Generalbass. Wenn ichjetzt das mit dem berühmten Standard Autumn Leavesvergleiche, habe ich eigentlich die ganz gleichen Akkorde.(spielt und singt)Und wenn ich jetzt hier einen Bass lege ....(spielt und singt)Heißt walking bass, im Barock Andante Basso .... alsogenau gleich. Die beiden Wörter entsprechen sich.Und was ein Jazzpianist jetzt macht ...(spielt)Diese Akkordtechnik, wo die Pianisten ja auch immer sehrstolz darauf sind und sagen: Yeah, my voicing is great. Unddie Generalbassisten sagen auch: Yeah, my voicing isgreat.Musik: BonportiO-Ton: ChristensenBis 1800 könnte man sagen, ist Improvisation eigentlichunentbehrlich. Wenn man die Musik einigermaßen so12


darstellen möchte, wie sie gemeint war.Autor:Der dänische Musiker Jesper Christensen ist ein Spezialistdes Generalbass-Spiels.Die instrumentale Bass-Stimme in der mehrstimmigenMusik des späten 16. – 18. Jahrhunderts, nur mit Ziffernund Versetzungszeichen verkürzt notiert, mussteimprovisatorisch wiedergegeben werden.Christensen gilt als der Initiator einer neuen Schule desGeneralbass-Spiels, der den Forderungen der altenTraktate wieder gerecht werden möchte, um diereichhaltige und stilistisch differenzierte Kultur desGeneralbasses wieder zu beleben.Neben der Barockmusik musiziert er zusammen mit seinerdänischen Gruppe Time Wave auch anderes.Mit Cembalo, Gitarre, Harfe und Schlaginstrumenten.Musik: Time WaveO-Ton: ChristensenDazu hat auch gehört, dass die Solisten improvisierenkonnten. Man hat auch die komponierten Notenausgeschmückt.Die frühesten Quellen, die wir haben zu so etwas wieDiminutionen, wie man in der Renaissancezeit gesagt hätte,die sind sehr aufwendig. In einem aufwendigen Diminuierenvon den vorgeschriebenen, relativ langsamen Tönen, freiumgesetzt beim Spielen. Die früheste Quelle ist eineBlockflötenschule aus 1535. Wenn man jetzt denkt, es ist solange her und die haben da nur ein paar Trillerchengemacht. Das merkwürdige ist, es ist die aufwendigsteSchule, die es überhaupt gibt. Und es ist die älteste.Ich gebe nur ein Beispiel, eine melodische Kadenz wie mandas in jeder Motette von Palästrina sehen könnte (singt).Nur für eine Kadenz gibt es über 170 verschiedene Artendies zu diminuieren. Und jede Diminution ist eine ganzeZeile. Diese Kadenz kann man in einem Takt schreiben.Und diese Tradition läuft weiter bis zu Corelli. Da sieht manwieder extrem aufwendige Koloraturen in den langsamenSätzen, wo halbe, ganze Noten in Sechzehntel und 32-stelumgesetzt werden. Ein halbes Jahrhundert später bei13


Tartini, da werden Sie sehen können, dass es Passagen mit32-stel gibt, wo auf jedem zweiten Ton ein Triller ist. Das istvollkommen abstrus. Und irrsinnig virtuos.Man sollte nicht denken, dass es in der Musikgeschichte soeine Art darwinistische Evolution der Virtuosität gegebenhätte. Das ist vollkommen falsch. Den Eindruck bekommtman nur, wenn man die gedruckten Noten liest.Musik: BonportiO-Ton: ChristensenWas man bei den größten Jazzmusikern heute manchmalhört, ist wie schwarze Magie. Wie kriegen sie das hin? Mitder Schnelligkeit, mit der sie spielen, der harmonischenKomplexität und wie das unwahrscheinlich gutzusammenpasst. Man könnte es als Kompositionaufschreiben. Und man wird sehen, es passt alles perfekt indas Gerüst. Ich stell mir vor, die großen Namen damalswaren nicht soviel, die großen Jazzmusiker sind auch nichtsoviel.Hätte man einen Scarlatti, Bach oder Händel gehört, hätteman etwas ähnliches gehört. Auch improvisieren. Das istbestens nachgewiesen. Sie konnten alle improvisieren. Alle.Und waren in vielen Fällen auch deshalb bekannt.Das sollte man nie vergessen.O-Ton: Improkonzert der StudentenAutor:Gerade stürmen die letzten Studenten derImprovisationsklasse von Markus Schwenkreis und RudolfLutz in den Seminarraum, wo ein kleinesImprovisationskonzert stattfinden soll.Den Cembalostudenten Marc Mesel erwischt es kalt.O-Ton: ImprokonzertAls nächster Programmpunkt wäre wieder eine Giacona ....deshalb darf ich Marc bitten, als kleine Entlastung direktaus dem Anorak zu steigen und ans Cembalo zu eilen füreine Toccata!14


O-Ton: Improkonzert Toccata(über den Applaus:)Autor:Eine fünfsätzige Suite für zwei Cembali haben dienächsten Studenten vorbereitet.O-Ton: Improkonzert, Suite(darüber:)Damit es nicht so langweilig wird, werden wir Euch beijedem Satz eine andere Tonart zurufen ....F-Dur!O-Ton: ChristensenDie Musiker waren so gebildet im Kontrapunkt. Das istanders geworden in der klassischen Musik. Die meistenMusikstudenten sind nicht begeistert, dass sieMusiktheorie lernen sollen. Das wäre unvorstellbargewesen im 17. oder 18. Jahrhundert. Keiner konnteMusiker werden, ohne das alles zu können - alsselbstverständlich.Deshalb musste man auch nicht alles aufschreiben. Wennman die Sprache ausreichend kann, dann kann man es sichziemlich ausrechnen, wie es sein sollte. Auch innerhalbdieser stilistischen Grenzen, was jeder dann individuellmachen kann.Ein Jazzmusiker spielt auch nicht irgendwas. Die spielen jamit Standardphrasen. Mit hunderten, ja tausendenStandardphrasen, womit man spricht. Es ist eher die Frage,wie man sie spielt und kombiniert.Wir reden ja auch zusammen, weil wir dieselben Wörterverwenden. Und das war genau so.Das versuchen wir hier, das sich das wieder umkehrt. Dassjeder Musiker wieder so etwas kann.(Musik hoch)O-Ton: Studenten1: Das war ein gegebener Bass mit Generalbass-Bezifferung und dann haben wir die verschiedenen Tänzedaraus gemacht. Man hat diesen Bass als Gerüst, den kannman auch ein bisschen verlassen.2: Beim Improvisieren gibt es immer Überraschungen, wasder andere macht und was man selber macht. Und .... esgab früher viel Improvisation. Man braucht das, um dieMusik zu verstehen.15


O-Ton: ChristensenAlso die Improvisation haben wir versucht hier an derSchola sehr aufzubauen. Herr Lutz, dessen Klasse Siesoeben gehört haben, also die reine Improvisation, nichtnur auf Generalbass, sondern auch Fugen - undSonatenimprovisationen, dass man wirklich ganze Stückeimprovisieren kann.Er ist ein phänomenaler Improvisator. Wirklich. Der istabsolut einmalig.O-Ton: Konzert Rudi Lutz: „Dickdarmoperation in E-Moll“Nun zum letzten Teil des Konzertes. Improvisationen nachAnsagen.„Dickdarmoperation in E-Moll! Mit gutem Ausgang.“(er spielt)O-Ton: ChristensenWir können mit Stolz sagen, dass es keinAusbildungsinstitut gibt, wo man so intensiv Improvisationunterrichtet wie hier. Ich denke, da sind wir die Pionieredafür.O-Ton: Orgelimprovisationen PredigerkircheO-Ton: Orgelimprovisation: Lutz sprichtWir sind die Mastergroup könnte man sagen. Wir spieleneinander vor, wir geben einander Aufgaben ....Autor:Einmal im Monat findet das Treffen der Organisten statt,bei dem im historischen Stil improvisiert wird undErfahrungen ausgetauscht werden. Rudolf Lutz mit seinenehemaligen Studenten Markus Schwenkreis, EmmanuelLe Divellec und David Blunden, der an diesem Tag neu inden verschworenen Kreis aufgenommen wird.O-Ton: Orgelimprovisation: Lutz spricht1: Wer beginnt?2: Das Greenhorn, würde ich sagen. Du möchtest einThema haben. Willst Du es prima vista machen?3: Würde es gerne 10 Minuten lang ansehen.2: Oh, das geht aber leider ....16


3: Ok! Ok! Ich mache es! Ist der Schlüssel oben?O-Ton: Orgelimprovisation(darüber:)O-Ton: Orgelimprovisation: Le Divellec sprichtEs ist ein bisschen so wie eine Fremdsprache zu lernen.Wie man die lernt? Wenn man Englisch lernen will, sollman die ganze Zeit BBC hören.Stile, die für uns nicht zum Alltag gehören, muss man vielspielen und hören. Dann kommen die Sachen. Dann kommtsozusagen der Akzent.O-Ton: Orgelimprovisation: Lutz sprichtDie Improvisation ermöglicht das Ausbilden spontanerkreativer Energien. Wenn man nur interpretiert, dannverlangt man dort: ‚Spiel doch das Stück so, als hättest Dues selber geschrieben’. Das ist ein netter Ratschlag.Wenn ich sage, ich probiere mal eine Passacaglia selbst zumachen, dann überleg ich, wie soll ich die Themen ordnen.Wenn ich dann nachher bei Froberger oder Bach nachsehe,dann sehe ich viel eher wie eine Groß-Struktur funktioniert.Es ist eine Art Nachvollziehen einer Komposition.O-Ton: Orgelimprovisation: Blunden sprichtWas sehr interessant hier auch in der Arbeit mit Rudi ist,dass man ein System aufbauen kann. Wie kann manimprovisieren üben? Wenn ich ein neues Stück lernenmuss, dann kommt es jetzt viel schneller. Man hat dieKomposition schneller im Griff, weil man sie vorne imBewusstsein hat und nicht nur im Hinterkopf.O-Ton: Orgelimprovisation: Lutz sprichtDie Improvisation in der Alten Musik würde ich als sehrzentral betrachten. Dazumal konnten alle Musikerimprovisieren. Sie haben es gelernt. Die Ausbildung zuBachszeiten verlief so, dass sie sich einen Kappellmeisteraussuchten und um eine Stellung baten und lebten dannzusammen mit ihm und der Familie.Man lernte, man schrieb ab, man spielte Generalbass,improvisierte im Gottesdienst. Man lernte die Kompositionüber den Generalbass. So war die Improvisation eigentlicheine Art von Fantasia. Man probiert Sachen aus, nachherschreibt man es, und probiert es im Kopf aus und dannnimmt man wie beim Komponieren die Komponenten undsetzt sie zusammen.17


O-Ton: ZuckermanMit indischer Musik ist es eine lebendige Tradition. EineTradition, wo man zu einem Lehrer geht und Musik von Ohrvom Instrument des Lehrers lernen kann.Musik: 2 Welten(darüber:)Autor:Meeting – Zwei Welten modaler Musik.Der Lautenist und Sarod-Spieler Ken Zuckermanzusammen mit dem Sänger Dominique Vellard.Kompositionen aus dem Mittelalter im Wechsel mit derklassischen Musik Nordindiens.Eine Gegenüberstellung zweier modaler Welten. Diewieder ins Leben zurückgerufene Musik des Mittelaltersmit ihren klar erkennbaren nahöstlichen Wurzeln und dienoch immer lebendige Tradition der nordindischen Musik,die zu ihren Anfängen bis ins Altertum zurückverfolgtwerden kann.O-Ton: ZuckermanDas Publikum hat gespürt, es sind zwar andere Formen undInstrumente, aber irgendetwas in den Melodien ist ähnlich.Da haben wir uns gefragt, können wir zusammen spielen?Kann ich Dich in einem gregorianischem Choral mit einemSarod begleiten?Am Anfang war das tabu. Vor zehn Jahren wäre esundenkbar gewesen. Vielleicht ist es eine Mode. Aber es istauch eine Öffnung. Wenn man sieht, dass die Welt nicht sosehr in Ost und West gespalten ist. Was dieMusikwissenschaftler seit Jahren wissen, dass dieEinflüsse da sind, aber in der Welt derKonzertveranstaltung wollte man das nicht so gerne zeigen.Musik: 2 WeltenO-Ton: DrescherDer Freiraum für Musiker in der alten Musik ist sehr vielgrößer. Und deshalb hat er keine Mühe, sich andere18


Musiktraditionen anzueignen, die ihm auch Freiräumebieten; andere, aber in vergleichbarer Weise.Was ich nicht sehr gern höre, sind Interpretationen ältererMusik, die auf fatale Weise an Produktionen der heutigenPopmusik erinnern. Die reduziert werden auf eingängigeRhythmen und eine Stimmungslage, die durch ein ganzesStück gehen. Das ist dieser Crossover, den ich nichtbesonders schätze und wo wir uns selbst aufgeben mit deralten Musik.Musik: PluharMusik: Raven (Thomas Moore)O-Ton: DineenÜbersetzerin:Ich war überzeugt, dass diese Lieder von Thomas Moorevon der Schlichtheit irischer Volksmusik profitierenkonnten. Ohne Orchesterbegleitung.(Musik: Raven (Thomas Moore) hoch)O-Ton: DineenÜbersetzerin:Die Musiker reisten schon damals. Sie tauschten ihreInformationen aus, wie wir das heute noch in Irland tun.Die englischen Komponisten arbeiteten damals alle inFrankreich, die französischen in Italien.Vielleicht ist unsere heutige Sicht der Musik der desMittelalters viel näher: Das große Interesse an anderenKulturen und der Austausch mit ihnen.Musik: SefardiAutor:Crossover – ein Begriff der vielen Bedeutungen:19


Ein Spiel mit den Grenzen - ein kreativer Austausch mitanderen Kulturen und Stilen, eine Suche nach einemglobalen, kulturübergreifenden Ausdruck der Musik.Crossover aber auch als Zeitreise moderner Musiker in dieVergangenheit. Oder in umgekehrter Richtung: die Reisevon historischen Instrumenten in die Werkstattzeitgenössischer Komponisten.Neue Musik für die Gambe – das Instrument, das laut <strong>Jean</strong>Rousseau der menschlichen Stimme am nächsten kam, im17. und 18. Jahrhundert enorm beliebt war, später aber -wie viele andere historische Instrumente auch – verlorenging, und erst im 20. Jahrhundert wieder belebt wurde. Biszur Wiedererlangung der Virtuosität vergangener Zeitendurch Musiker wie Jordi Savall oder Paolo Pandolfo.Musik: Travel NotesO-Ton: PandolfoMusik kann nicht gesperrte Fenster um sich haben. Manbraucht den Austausch, um lebendig zu bleiben. Wenn dasunter dem Wort Crossover läuft, dieser Austauschzwischen den Stilen, dann fände ich das durchaus positiv.Autor:In Travel Notes, eine 2004 erschienene CD, schlägtPandolfo auf dem historischen Instrument ganz andere,modernere Töne an. So als hätte die Gambe nur kurzzeitiggeschlummert, um eines Tages die neue Musik mit ihremwarmen Klang wieder neu zu überraschen und zubereichern.O-Ton: PandolfoDie Erfahrungen und Wege verschiedener Musiker habensich auf dieser CD gekreuzt. Ein Jazz-Trompetist, eineVolkssängerin und ein Gambist haben zusammen musiziert.Vielleicht ist die ganze Haltung eher so gewesen wie manJazz oder Popmusik manchmal zustande bringt. In der20


Zusammenarbeit. Jeder hat eine Idee und es entwickeltsich. Das Problem ist, dass der Markt der Musik vielgeschlossener ist als die Musiker selber.Autor:Der Gambist Pandolfo gehört zu den vielen Musikern, diewie David Toop in seinem Buch Ocean of Sound schreibt„schon immer Einflüsse gestohlen, geliehen, getauschtoder umgesetzt haben“.Ruhelos und gierig. Immer auf der Suche nach denbegehrten „Transfer-Geschenken“, die schon seit derFrühzeit der Musik Erneuerung und Entwicklungbedeuteten.Und so Vitalität und Weiterleben jeder Kultur garantierten.O-Ton: PandolfoEs ist unglaublich bereichernd, andere Stile und Klänge zuhören. Es ist eine große Begrenzung unserer klassischenMusik, dass sehr viel notiert und aufgeschrieben ist, wasdie Kreativität der einzelnen Musiker begrenzt.Natürlich ist Interpretation eine fantastische Welt. Aber esexistiert auch keine Interpretation, wenn man nicht selbereine eigene Kreativität pflegt. Man ist nicht ein Computer,der nur liest, was da steht. Wenn man nicht selber auch wasähnliches schreiben könnte. Zu Bachszeiten konnte jederMusiker eine kleine Suite schreiben. Dieser Riesenbruchzwischen Interpretation und Komposition ist Gift für unsereKultur und unsere musikalische Kunst.Unsere westliche klassische Tradition braucht dringendneue Anregungen. Es wird sonst nur eine Wiederholungvon dem, was war.Dann würde das heißen, dass unsere Welt, unsereZivilisation wirklich zu einem Ende gekommen ist.Musik: Travel Notes21

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