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Vorwort - Residenz Verlag

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VOrWOrt<br />

Dieses Buch versteht sich nicht als Künstler-Biographie. Es will<br />

vielmehr anhand bisher – nicht erschlossener Quellen – Briefentwürfen,<br />

Notizen und Aufzeichnungen des Komponisten und<br />

seiner Familie – die Zeit- und Lebensumstände beleuchten, das<br />

private, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umfeld,<br />

in dem sich Alban Bergs Persönlichkeit und sein Künstlertum<br />

entfalteten. Die aufgearbeiteten Quellen betreffen Alban Berg,<br />

seine Familie und die Familie seiner Frau, Helene Nahowski.<br />

Die stärksten Familienbande fesselten Alban an seine Mutter<br />

Johanna und seine Schwester Smaragda; namentlich ihr ist deshalb<br />

im Folgenden viel Platz gewidmet. Ebenso dem finanziellen<br />

Belangen, die sich wie ein roter Faden durch Bergs persönliche<br />

Aufzeichnungen ziehen und die realistische Schlaglichter<br />

auf die Lebensumstände werfen.<br />

Viele bisher weitgehend unbekannte Bild-Dokumente ergänzen<br />

die Briefe und Briefentwürfe zu anschaulichen, authentischen<br />

Charakterbildern fast aller »handelnden Personen«.<br />

Auf Werkinterpretationen wurde – bis auf eine begründete Ausnahme<br />

– ebenso verzichtet wie auf die Wiederholung längst<br />

vorliegender und wiederholt publizierter Fakten zu Leben und<br />

Werk Alban Bergs. Diese finden sich in chronologischer Ordnung<br />

am Ende des Bandes in einer biographischen Skizze, die –<br />

wie die fortlaufenden Jahreszahlen auf jeder Seite – zur raschen<br />

Orientierung dient.<br />

Das Buch spricht vor allem durch Original-Texte. Subjektive<br />

Auslegungen oder Kommentare der Autoren gelangen nur sehr<br />

spärlich in die verbindenden Worte. Wo die Quellenlage nicht<br />

eindeutige Schlüsse nahelegt, wird der Konjunktiv verwendet.<br />

7


VOrWOrt<br />

Alle anderen Aussagen sind durch Primärquellen abgesichert.<br />

Zugunsten des Leseflusses wird jedoch in der Regel auf belegende<br />

Fußnoten – sie wären in die Hunderte gegangen – verzichtet:<br />

Der Text soll, wiewohl wissenschaftlich fundiert, angenehm<br />

lesbar bleiben. Präzise Auskunft über alle zwecks Aufrechterhaltung<br />

des Leseflusses vorgenommenen Korrekturen in<br />

den Zitaten geben die »Quellenkatalogen zur Musikgeschichte«,<br />

Bd. 29, 34 und 35, die sämtliche Dokumente unredigiert, inklusive<br />

getreulicher Übertragung sämtlicher Streichungen und Verweise<br />

enthalten.<br />

An Stelle eines Registers beschließt ein Personenverzeichnis in<br />

informativer Auswahl das Buch.<br />

Die Autoren haben vielen Helfern zu danken: Frau Professor<br />

Dagmar Schilling, der Großnichte Alban Bergs, der Österreichischen<br />

Nationalbibliothek, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek,<br />

der Wiener Stadtbibliothek und last but not least<br />

Frau Mag. Inge Haberler, der ersten kritischen Leserin.<br />

KnaSin<br />

8<br />

p AlbAn berg<br />

Zeitumstände – lebenslinien<br />

Jugend<br />

Alban Berg: Aquarellierte Karte mit seinem Gedicht »Faulheit«<br />

O! himmlische Faulheit<br />

Ewig verkannte<br />

Schimpfwort benannte<br />

Tochter der Zeit<br />

Ich würde was dichten<br />

Doch bin ich zu faul<br />

Du mußt d’rauf verzichten<br />

Denn ich halt’ jetzt mein M…l!<br />

AB!<br />

9


10<br />

1900<br />

Faul, das ist er vielleicht tatsächlich, faul, aber poetisch, der 15jährige<br />

Alban Berg, der seinem Schulkameraden Johannes Huber<br />

seine sehr persönliche Paraphrase von Lessings Lob der Faulheit<br />

sendet. Jenes offenkundige Gefühl für Sprache und Form, das<br />

sich in der Korrespondenz des Realschülers wiederholt in spontanen<br />

literarischen Vignetten äußert, bewahrt ihn keineswegs<br />

vor schlechten Zensuren in der Schule. Den Lehrern der Zeit<br />

um 1900 ist mit lyrischen Ergüssen nicht zu imponieren. Die<br />

Realität in der siebenklassigen k. k. Staats-Realschule in Wien<br />

I., Schottenbastei 7, nimmt sich in einem Brief mit lebendigen<br />

Schilderungen von Szenen des Klassen-Lebens recht profan aus;<br />

nicht viel anders als etwa der Schulalltag ein Jahrhundert später,<br />

sieht man vom damals gebräuchlichen Siezen der Schüler ab.<br />

Lieber Hannes! Du wirst gewiß schon böse sein daß ich<br />

Dir noch gar nichts geschrieben habe; aber 1. war ich zu<br />

faul und als ich 2. schreiben wollte hatte ich keine Zeit<br />

mehr (wegen des Lernens) Wozu aber soviel Entschuldigungen!!<br />

Denk Dir lieber Hans, ich habe im I. Semester Zeugnis<br />

in Deutsch eine 5. Welche Demüthigung einem Dichter<br />

wie ich bin. Das bin ich aber sicher daß ich in der nächsten<br />

Censur mindestens ein genügend haben<br />

Diesen Montag war mathematische Schularbeit es waren<br />

6 Aufgaben, 5 habe ich richtig. Während derselben<br />

schaute der Bing immer zu mir herein. Als das der Director<br />

sah sprach er zum Bing: »Bing Sie werden doch<br />

nicht vom Berg abschauen. Da muß es Ihnen schon sehr<br />

schlecht gehen, übrigens werden Sie nicht viel finden«<br />

Am Mittwoch las er die Noten vor und sagte »Berg 3,<br />

Bing 4. Jetzt versteh’ ich auch warum Sie sich immer an<br />

den Berg gewendet haben.« Du kannst Dir denken daß<br />

das den Director sehr geärgert hat. – – – Gestern trug<br />

der Sebald die Geographie Italiens in seiner gewöhnlich<br />

dummen Weise vor. Er sagte auch: »Wer das die nächste<br />

Stunde nicht weiß der bekommt einen Schinkwe 1 « und<br />

als ein Bub sagt der Zögernitz sagt er möchte die Thüre<br />

schließen da es zieht sagte Sebald: »Es wäre das beste sie<br />

kaufen sich Zugstiefletten.« Doch genug von der Schule!<br />

– Wie geht es denn Dir lieber Hannes? Hast Du schönes<br />

Wetter? Bei uns war es am Mittwoch so warm u schön<br />

daß man sich vornahm den nächsten Tag mit Sommermantel<br />

auszugehen. Doch siehe da!!!–!!!<br />

»Blickend heraus aus dem Fenster am schönen<br />

nächsten Tag des Donnerstags<br />

Lagen die Dächer beschneit mit weithin<br />

leuchtendem Schnee<br />

Hiehin und dorthin fielen die Flocken die<br />

Ströme die Winde<br />

Also weht von Winter den Nord die glizernden<br />

Flocken<br />

Jetzt stürmte der Süd ihn den Nordsturm hin<br />

zum Verfolger<br />

Jetzt sandte der Ost ihn den brausenden Weste<br />

zum Spiel<br />

Doch die Seite beschrieben vollende den Brief<br />

ich<br />

Gleich dem Versmass der schönen und nie<br />

vergessenen Ilias«<br />

All Heil! Dein Berg<br />

1900<br />

Bemerkenswert ist weniger der damals in der Jugendbewegung<br />

übliche »Heil«-Gruß, sondern eher, daß derselbe Schüler,<br />

11


1900<br />

der in Deutsch soeben ein »nicht genügend« eingeheimst hat,<br />

seinen Brief in Hexametern beschließt! Die Homerische Ilias<br />

steht gar nicht auf dem Lehrplan einer Realschule im Wien der<br />

Jahrhundertwende, doch gehört anspruchsvolle Lektüre dieses<br />

Zuschnitts ganz offenkundig noch zu den Selbstverständlichkeiten.<br />

Etwa drei Wochen nach dem unbeschwerten Brief, am 30. März<br />

1900, stirbt Alban Bergs Vater Conrad an Herzversagen. Conrad<br />

Berg ist als Leiter der Wiener Filiale des New Yorker Import-<br />

und Exporthauses Georg Borgfeldt & Co ein tüchtiger<br />

Geschäftsmann und kunstliebender Mensch gewesen. Eine <strong>Verlag</strong>sbuchhandlung<br />

und später eine Devotionalienhandlung in der<br />

Wiener Innenstadt bildeten seinen finanziellen Rückhalt. Conrad<br />

Berg war auch Freimaurer. Er wurde am 7. 5. 1876 in die im<br />

Jahr davor gegründete Grenzloge »Schiller« (Matrikelnummer<br />

20) aufgenommen. In Österreich verboten, arbeitete diese Loge<br />

nach dem schottischen Ritus in Preßburg. In Wien gründete sie<br />

den humanitären Verein »Bildung«. Conrad Berg wurden am<br />

Tag seiner Aufnahme sofort alle drei Grade der Freimaurerei<br />

verliehen, das heißt, er wurde als Lehrling aufgenommen, am<br />

selben Abend zum Gesellen befördert und hernach zum Meister<br />

erhoben. Er dürfte ein sehr rühriges Mitglied gewesen sein,<br />

denn er bekleidete in seiner Loge als »Beamter« mehrere für das<br />

Logenleben wesentliche Positionen.<br />

12<br />

Conrad Berg<br />

1900<br />

Nach Conrads Tod muß seine Frau Johanna über Nacht die Leitung<br />

aller finanziellen und privaten Angelegenheiten der Familie<br />

übernehmen. Zum Vormund des halbwüchsigen Alban wird<br />

dessen ältester Bruder, Hermann, bestellt, der seit Jahren erfolgreich<br />

bei der Firma Borgfeldt & Co. in New York arbeitet.<br />

Nur zwei der vier Kinder Johanna und Conrad Bergs sind<br />

zu jenem Zeitpunkt bereits selbständig. Charly, der zweite ältere<br />

Bruder, ist in der Firma Borgfeldt kaufmännisch tätig. Smaragda,<br />

die jüngere Schwester, steht jedoch noch unter der Aufsicht<br />

ihrer Gouvernante und Klavierlehrerin Ernestine Götzlik. Musisch<br />

wie Bruder Alban, scheint sie auf dem besten Weg, eine<br />

zumindest routinierte Pianistin zu werden.<br />

13


1900<br />

14<br />

Smaragda Berg mit ihrer Gouvernante Ernestine Götzlik<br />

Doch die finanzielle Lage der Familie ist alles andere als rosig.<br />

Johanna Berg ist lediglich imstande, die Devotionalienhandlung<br />

ihres Mannes weiterzuführen, nicht aber die lukrativen Geschäftsverbindungen<br />

aufrechtzuerhalten. Zumindest für Alban<br />

scheinen die Tage in der Realschule daher gezählt. Vielleicht<br />

sollte er zu seinem Bruder und Vormund nach New York übersiedeln<br />

und als Lehrling bei der Firma Borgfeldt beginnen?<br />

Smaragda schwingt die US-Flagge nebst Borgfeldt-Plakat<br />

1900<br />

Maria Bareis, Edle von Barnhelm, die Tante Johanna Bergs, will<br />

ihren Großneffen davor bewahren. Sie setzt zur Vollendung seiner<br />

Schulbildung ein entsprechendes Legat aus. Das ermöglicht<br />

dem jungen Mann zwar, in Wien zu bleiben, doch ist sein seelischer<br />

Zustand in jener Zeit labil. Halt verschafft ihm zuweilen<br />

der Kontakt mit Hermann Watznauer, einem Freund der Familie,<br />

den noch Conrad Berg, der um seine Krankheit wußte,<br />

in einer Unterredung auf dem Familiengut, dem am »Heiligen<br />

Gestade« am Ossiachersee in Kärnten gelegenen »Berghof«,<br />

gebeten hat, seinem jüngsten Sohn ein väterlicher Freund zu<br />

sein. Der nachmalige Baumeister und Ingenieur Watznauer,<br />

zehn Jahre älter als Alban, leitet in Wien und in Drosendorf<br />

im nördlichen Niederösterreich den sogenannten »Verein junger<br />

Männer«, dessen Mitgliedern soziales Gewissen sowie geistige<br />

und künstlerische Bildung vermittelt werden sollen. Im Rahmen<br />

der gemeinsamen Wanderungen und sportlichen Betätigungen<br />

wie dem Tennisspiel hält Watznauer, von den Mitgliedern der<br />

Jugendgruppe mit »Meister« angesprochen, nicht nur mit Alban<br />

Berg, sondern auch mit dessen Klassenkameraden Hans Huber<br />

Kontakt. Eine Grußkarte – vielleicht die Einladung zu einer<br />

Radpartie? – beweist das.<br />

Alban im Alter von 16 Jahren Smaragda im Alter von 14 Jahren<br />

15


1900 1901/02<br />

Radpartien mit seinen »Wandervögeln« dürfte Watznauer geliebt<br />

haben. Noch elf Jahre später schwärmt er auf einer Postkarte:<br />

16<br />

Der letzte Sonntag des vergangenen Monats schien uns<br />

bereits als Einzugstag des heißersehnten Frühlings zu<br />

gelten, und ich benützte diesen Tag natürlich um eine<br />

Morgenradparthie in den Prater zu machen. Der Nachmittag<br />

führte mich wieder denselben Weg, nur war mein<br />

junger Freund Alban der liebliche Begleiter, dessen weitere<br />

Charakterisierung unnöthig erscheint, da ich ihn ja<br />

»Freund« nenne. – – –<br />

Wie es genau um die »liebliche« Freundschaft bestellt ist, bleibt<br />

im dunkeln. Doch ist die Einstellung mancher der jungen Männer<br />

aus Watznauers Gruppe zum weiblichen Geschlecht in einem<br />

bemerkenswerten Diktum eines der Freunde überliefert:<br />

Herbert Strutz, der mit 15 Jahren den Wandervögeln beigetreten<br />

ist, urteilt: »Die Schönheit bestimmt die Sinnlichkeit … Der<br />

Körper eines Mädchens ist nicht schön, er ist anmutig; der Körper<br />

eines Knaben ist schön, heiter, frei.«<br />

1901/02<br />

Die väterliche Fürsorge Watznauers kann Alban Berg nicht vor<br />

schulischem Versagen bewahren. Im Jahr nach dem Tod des<br />

Vaters unterbricht er vor dem Abschluß des zweiten Semesters<br />

seine Schulzeit. Die sechste Klasse muß er im folgenden Jahr<br />

wiederholen. Dasselbe Schicksal wird ihn im Jahr darauf noch<br />

einmal ereilen, obwohl Klassenkamerad Paul Hohenberg Aufsätze<br />

für ihn verfaßt, die dem Geschmack des Deutschprofessors<br />

entsprechen. Auch die siebente und letzte Klasse absolviert Berg<br />

zweimal, ehe er am Ende des Schuljahres 1903/04 sein Reifeprü-<br />

fungszeugnis erhält. Die schlechten Leistungen, die Berg zum<br />

Repetenten machen, haben verschiedene Ursachen. Seine Gesundheit<br />

ist von jeher labil. Und die Irritationen in jener Zeit<br />

sind mannigfaltig: Der schmerzliche Verlust des Vaters einerseits,<br />

andererseits aber erste Versuche persönlichen künstlerischen<br />

Ausdrucks, Kompositionsversuche im Frühjahr 1901, wohl<br />

angeregt durch den singenden Bruder Charly und die Schwester<br />

Smaragda, die ihn auf dem Klavier begleitet.<br />

Die Familie Berg um 1898: Smaragda, Alban, Johanna, Hermann, Charly (v. li.)<br />

Das geschwisterliche Leben am Berghof wird durch Einladungen<br />

aus dem Freundeskreis der drei bereichert, nicht nur durch<br />

Hermanns amerikanische Geschäftsfreunde der Firma Borgfeldt,<br />

sondern auch durch junge Männer wie Adolf von Eger,<br />

»Pips« genannt, den Sohn des Präsidenten der Südbahngesellschaft,<br />

Smaragdas späteren Gemahl.<br />

Aus der Bahn geworfen wird der junge Alban jedoch nicht durch<br />

seine erwachende schöpferische Tätigkeit, sondern vor allem<br />

17


1901/02<br />

durch die sexuelle Beziehung zum Küchenmädchen der Familie<br />

Berg. Eine solche Liaison ist zur damaligen Zeit zwar keineswegs<br />

ungewöhnlich, Eltern gehobener Gesellschaftsschicht führen sie<br />

regelrecht herbei, um ihren Söhnen die Gelegenheit zu geben,<br />

erste Erfahrungen »unter Aufsicht« zu sammeln. Doch Alban<br />

Bergs Debüt als Liebhaber zeitigt Folgen: Marie Scheuchl, seit<br />

einiger Zeit im Bergschen Haushalt tätig, wird – wahrscheinlich<br />

während der Osterferien zwischen 7. und 16. März 1901 –<br />

schwanger. Sobald es nicht mehr möglich ist, Maries Zustand<br />

zu verbergen, entläßt Johanna Berg sie und schickt sie zurück ins<br />

heimatliche Linz. Möglicherweise findet man die junge Mutter<br />

mit einem Geldbetrag ab, um Albans Vaterschaft nicht publik<br />

werden zu lassen. Das entspräche den Usancen der Zeit.<br />

Das Kind, ein Mädchen, kommt jedoch am 4. Dezember<br />

1901 nicht in Linz, sondern in einem Wiener Krankenhaus<br />

zur Welt. Die Bindung Maries an den Kindesvater ist emotional,<br />

stärker jedenfalls, als die Familie Berg wahrhaben möchte:<br />

Zum Zeichen der innigen Verbindung wird das Mädchen<br />

auf den Namen Albine getauft! Alban erhält – wann, ist nicht<br />

mehr auszumachen – nicht nur ein Bild seiner Tochter, sondern<br />

auch Maries Tagebuch aus der Zeit ihrer Schwangerschaft und<br />

Niederkunft. Aus seinem Antwortbrief wird deutlich, daß er<br />

von Maries Schwangerschaft wußte, nicht aber von der Geburt<br />

seiner Tochter. Von Gefühlen hin und her gerissen, schreibt er<br />

zunächst aufgewühlt und durchaus pathetisch:<br />

18<br />

… Du trugst im Leibe ein Wesen − − und das Wesen wird<br />

Dich der ganzen Welt verraten, daß Du einmal schwach<br />

gewesen − Du offenbartest nun dieses Neue Leben dem<br />

Vater desselben − − − den ersten Moment sahst Du wie<br />

es ihn erschütterte − − − − da sah ich Deinen neuen Kummer<br />

− − Deine neue Angst – daß ich mich − der ich all<br />

dies Unglück über Dich gebracht – kränken möchte − −<br />

Du batst mich um Gleichgültigkeit − − Und ich − − ich<br />

1901/02<br />

Narr − nur um Dir darin Ruhe zu verschaffen − − stellte<br />

mich gleichgültig − − ja herzlos − − und ich ahnte nicht,<br />

wie noch weher Dir das tun mußte tat. Erst jetzt, wie ich<br />

Dein Tagebuch las merkte ich wie unrecht ich auch darin<br />

gehandelt hatte.<br />

Einen Tag später wird der Brief in weit nüchternem Ton vollendet.<br />

Berg berichtet Marie, Watznauer habe einen Bildhauer beauftragt,<br />

einen Gipsabguss von seinem Gesicht zu machen: »Es<br />

ist ziemlich gut getroffen – – !!«, gerät aber offenbar während des<br />

Schreibens wieder in Verzweiflung über »Schuld und Sünde«:<br />

Und ich habe nicht den Muth mich zu reinigen − − nein<br />

ich bleibe stecken in diesem Unrath meiner Sünden. Anstatt<br />

daß ich hinaustrete in die Welt und laut verkünde<br />

»Seht das ist mein Kind − das ich gezeugt − es ist mein<br />

2tes Ich!« anstatt dessen verberge ich alles hinter einem<br />

lügnerischen Schleier − − und bin vor der Welt der liebe<br />

unschuldige Alban …<br />

Er unterzeichnet dieses Schreiben nicht mit seinem Namen,<br />

sondern mit sieben Punkten. Ein Postskript lautet:<br />

Sollte irgend etwas vorkommen, was von Wichtigkeit für<br />

mich ist (z. Bsp. etwas Gerichtliches, od. Binchen u. Deine<br />

Gesundheit) dann schicke mir irgend eine anonyme<br />

Postkarte mit einem Fragezeichen darauf, das bedeutet<br />

für mich daß auf der Post unter Nummer 7272 ein Brief<br />

für mich liegt.<br />

Marie Scheuchl hat die Verbindung zu Alban Berg von sich aus<br />

gelöst und die Familie Berg nie wieder mit ihren Problemen<br />

konfrontiert. Dem Sittenbild Wiens um 1900 entspricht diese<br />

Handlungsweise durchaus. Berg hätte als Sohn einer wohlsitu-<br />

19


1901/02<br />

ierten bürgerlichen Familie niemals eine offizielle Verbindung<br />

mit einem Küchenmädchen eingehen können.<br />

Erstaunlicherweise ist dieser Brief an Marie Scheuchl in<br />

Bergs Nachlaß erhalten geblieben. Entweder – aber danach sieht<br />

es nicht aus – ist das überlieferte Dokument nur der Entwurf<br />

zu einem Schreiben, das nicht abgeschickt wurde. Oder es kam,<br />

was wahrscheinlicher ist, über Umwege wieder in Bergs Besitz.<br />

In diesem Nachlaß findet sich auch der Entwurf einer Vaterschaftsbestätigung<br />

vom 8. 12. 1903. »Daß ich mich den damit verbundenen<br />

Pflichten nie entziehen werde«, schreibt der Vater der<br />

gerade zweijährigen Albine. Ist eine solche Bestätigung, von der<br />

nur der Entwurf erhalten ist, doch notwendig geworden?<br />

Albine wird später jedoch Verbindung mit ihrem Vater aufnehmen.<br />

Sehr wahrscheinlich war sie die Benutzerin der entwerteten<br />

Karte für die Wozzeck-Aufführung in Wien am 30. März<br />

1930. Das Billett für einen Platz auf der IV. Galerie zum Preis<br />

von zwei Schilling hat sich im Nachlaß des Komponisten erhalten.<br />

Soma Morgenstern berichtet, daß Albine diese Karte »wie<br />

ein Heiligtum« aufbewahrte. Möglicherweise kamen der Brief,<br />

die Vaterschaftsbestätigung und das Opernbillett deshalb in den<br />

Nachlaß, weil Albine – nach dem Tod ihres Vaters – anläßlich<br />

eines Besuchs Helene diese Unterlagen zur Einsicht übergab, sie<br />

aber nicht mehr zurückerhielt.<br />

Im Tonfall sinnlichster Romantik entstehen Alban Bergs erste<br />

Lieder. Er versieht sie alle mit Opuszahlen. Freund Watznauer<br />

schreibt – aus welchen Gründen immer – einige dieser frühen<br />

Werke in kalligraphischer Notenschrift ab.<br />

Unter »Frühe Lieder« fällt auch Opus 10 – »Am Abend«,<br />

ein Lied nach einem Text von Emanuel Geibel. Diese Abschrift<br />

stammt von Hermann Watznauer.<br />

20<br />

Watznauers Abschrift von Alban Bergs Jugendlied »Am Abend«<br />

1901/02<br />

Die Komposition besitzt keine Vorzeichen, sie beginnt in F-Dur<br />

und endet in c-Moll. Ihre Modulationen und die Melodieführung<br />

sind genau dem Textgehalt angepasst. Die Singstimme wird<br />

immer durch die Oberstimme des Klaviers unterstützt, was vielleicht<br />

auf die leichtere Ausführung hinzielt. Sehr geschickt wird<br />

die formale Struktur behandelt. Das Gedicht beginnt mit einer<br />

Abendstimmung, die sich durch den Veilchenduft der zweiten<br />

Strophe von der Natur weg zum Betrachter hin konkretisiert. Er<br />

kann aber den »Klang nicht finden, so dunkel, mild und weich«.<br />

Bei dem durchkomponierten Lied, das in seiner Vertonung ganz<br />

auf den Text eingeht, berücksichtigt Berg dennoch die Strophenteilung;<br />

durch die mehrfache Textwiederholung in der zweiten<br />

Strophe wird deren Aussage so stark betont, daß nur durch die<br />

Wiederholung des Anfangstaktes zu Beginn der dritten Strophe<br />

ein dreiteiliges Gebilde entsteht.<br />

21

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