GROSSER HIRSCHGRABEN - Institut für Stadtgeschichte
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<strong>GROSSER</strong> <strong>HIRSCHGRABEN</strong><br />
Geschichte und Geschichten einer Straße
Oben: Weißer Hirsch, Großer Hirschgraben 3, vor dem Abbruch. Aquarell von Reiffenstein,<br />
1870 (Ausschnitt). Unten: Großer Hirschgraben 3-11/13 (15) nach Süden. Mylius, um 1870.<br />
Titelseite: Frankfurt aus der Vogelschau. Kupferstich von M. Merian d.Ä., 1628 (Ausschnitt).<br />
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Hans-Otto Schembs �� Helmut Nordmeyer<br />
<strong>GROSSER</strong> <strong>HIRSCHGRABEN</strong><br />
Geschichte und Geschichten einer Straße<br />
Von der Hirschweide zur Wohnstraße<br />
Begonnen hat alles mit einem einzigen Hirsch zu Beginn des 15. Jahrhunderts.<br />
Im Jahre 1400 schenkte der Jude Gottschalk von Kreuznach<br />
dem Frankfurter Rat eine Hirschkuh. Diese blieb nicht lange allein.<br />
Schon 1403 ist von mehreren Hirschen und Hirschkühen die Rede. Die<br />
Tiere wurden in einem vom Katharinenkloster zum Karmeliterkloster<br />
verlaufenden Graben, einem Überrest der staufischen Befestigungsanlagen,<br />
gehalten.<br />
Hirschfleisch war eine Delikatesse, die nur bei besonderen Anlässen<br />
serviert wurde. Einer dieser Anlässe war das seit 1438 einmal jährlich<br />
stattfindende Hirschessen, zu dem sich die Ratsherren an einem schönen<br />
Sommertag mit den städtischen Beamten zusammensetzten. Bezahlt<br />
wurde das Ganze zunächst aus einer Bußgeldkasse des Rats.<br />
Später mußten zunehmend auch Steuergelder herangezogen werden,<br />
da sich das Mahl immer üppiger gestaltete. Zum Fest erschienen auch<br />
die zahlreichen Prostituierten der Stadt. Sie überreichten Blumensträuße<br />
und durften da<strong>für</strong> am Essen teilnehmen. 1529 änderte man diese Sitte.<br />
Die Damen des Dienstleistungsgewerbes wurden von der Festtafel verbannt;<br />
Essen und Getränke wurden ihnen nun nach Hause gebracht.<br />
Zehn Jahre später wurde das Hirschessen ganz abgeschafft.<br />
Um das Jahr 1580 beschloß der Rat der Stadt Frankfurt, den ehemaligen<br />
Hirschgraben in Bauland umzuwandeln. Die Überreste der staufischen<br />
Stadtmauer wurden abgerissen, der Graben zugeschüttet, das entstandene<br />
Terrain parzelliert, verkauft und schließlich bebaut. 1594 waren fast<br />
alle Plätze im Hirschgraben aufgeteilt.<br />
Der große Wandel des Hirschgrabens vom Wildgehege zur dichtbesiedelten<br />
Straße zeigt sich deutlich, wenn man den Faberschen Belagerungsplan<br />
von 1552/55 mit dem Merianplan von 1628 vergleicht. Auf<br />
dem einen äsen im Graben noch Hirsche und Rehe; auf dem anderen<br />
reiht sich schon ein Haus an das andere.<br />
Die Häuser auf der östlichen Seite des Hirschgrabens wurden anstelle<br />
der alten Stadtmauer errichtet und lagen innerhalb des alten Siedlungskerns.<br />
Folglich zählten sie zur Altstadt. Die Häuser auf der gegenüberliegenden<br />
westlichen Seite dagegen erhoben sich über dem zugeschütteten<br />
Graben und lagen damit außerhalb des alten Siedlungskerns. Sie<br />
zählten zur Neustadt.<br />
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Die Mehrzahl der Häuser im Großen Hirschgraben besaß keinen Garten,<br />
sehr zum Bedauern so mancher Bewohner. Dennoch waren die Häuser<br />
und ihre Wohnungen begehrt. Der freie Blick, den man aus den rückwärtigen<br />
Fenstern der Häuser auf der Westseite des Hirschgrabens über die<br />
Gärten und Häuser der Gallusgasse hinweg auf die Mainebene und den<br />
westlichen Taunus hatte, war überaus reizvoll und entschädigte <strong>für</strong> die<br />
fehlenden Gärten.<br />
Attraktiv war der Große Hirschgraben auch durch eine hygienische Einrichtung.<br />
Unter den Häusern der nahen Schüppengasse verlief die Antauche,<br />
ein Abwasserkanal, der einst die Begrenzung der vorstaufischen<br />
Ansiedlung gebildet hatte. Auch die Häuser im Hirschgraben profitierten<br />
von diesem Kanal und nutzten ihn zur Ableitung ihrer Abwässer. Johann<br />
Kaspar Goethe entrichtete <strong>für</strong> die Nutzung des Kanals eine jährliche Abgabe.<br />
Auch das dem Goethehaus benachbarte Haus Zum grünen Laub<br />
zahlte dem Rechneiamt jährlich zwei Gulden <strong>für</strong> zwei in die Antauche<br />
gehende Privatsitze (Privets).<br />
Weißer Hirsch<br />
Zu den wenigen Häusern im Hirschgraben, die über einen Garten verfügten<br />
und dazu auch noch über ein recht großen, gehörte der Weiße<br />
Hirsch, der 1592 als Gasthof erstmals erwähnt wird. 1753 gelangte das<br />
Haus nebst Garten in den Besitz des Handelsmanns Jakob Friedrich<br />
Gontard, Sohn des aus Grenoble stammenden Glaubensflüchtlings Peter<br />
Gontard. Der neue Besitzer bewohnte den Weißen Hirsch jedoch<br />
nicht selbst, sondern vermietete ihn an den kaiserlichen Gesandten Johann<br />
Nepomuk Graf von Neipperg.<br />
Nach dem Tode Jakob Friedrich Gontards fiel das Haus 1773 an seinen<br />
jüngsten Sohn Johann Heinrich. Dieser vermietete den Weißen Hirsch<br />
1786 an seinen Neffen Jakob Friedrich Gontard und dessen Ehefrau Susanna<br />
geb. Borkenstein. Für das junge Paar wurde der Weiße Hirsch<br />
zum prächtigsten Haus im Hirschgraben umgestaltet.<br />
Jakob, genannt Cobus, Friedrich Gontard (1764-1843) und seine Frau<br />
Susanne, genannt Susette, (1769-1802) hatten vier Kinder: Henry, Henriette,<br />
Helene umd Amalie. Für den 1787 geborenen Sohn Henry engagierte<br />
man als Hofmeister den von Freunden empfohlenen Friedrich Hölderlin<br />
(1770-1843), dessen Dichtertalent damals schon allgemein aufgefallen<br />
war. Hölderlin traf am 28. Dezember 1795 in Frankfurt ein. Er<br />
entsprach voll und ganz den Erwartungen der Familie. Der Hausherr war<br />
zufrieden. Als vielbeschäftigter Bankier bekannte er: „Den Börsencours<br />
verstehe ich aufs Haar, aber wie die Kinder geleitet werden sollen oder<br />
was sie lernen müssen, das ist nicht meine Sache; da<strong>für</strong> muß die Mutter<br />
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sorgen.“ Und auch dieser gefiel der junge Hauslehrer auf den ersten<br />
Blick, erinnerte er sie doch an ihren Bruder.<br />
Susette galt als junge Frau mit ihrer griechischen Gestalt, ihrem langen<br />
schwarzen Haar und ihren schwarzen Augen als vollendete Schönheit.<br />
Von ihrer Mutter war sie sorgfältig erzogen worden: Sprachen, Musik,<br />
Literatur, aber auch Handarbeiten waren ihr vertraut. Bei aller Bildung<br />
war sie von natürlicher Einfachheit geblieben.<br />
ette Gontard und Friedrich Hölderlin.<br />
Für Friedrich Hölderlin war Susette Gontard mehr als nur eine vollendete<br />
Schönheit. Er fand in ihr ein verwandtes Wesen – und sie in ihm. Sie<br />
kamen zum Vorlesen der neuesten Bücher zusammen, und sie musizierten<br />
gemeinsam. Zum Ideal gesteigert ging Susette in seine Dichtungen<br />
ein: in den in Frankfurt entstandenen Entwurf zum Drama Empedokles,<br />
vor allem aber in den Roman Hyperion mit der Gestalt der Diotima<br />
oder auch in Gedichte, die gleichfalls Diotima gewidmet sind: „Nun!<br />
ich habe dich gefunden / Schöner als ich ahndend sah / In der Liebe<br />
Feierstunden, / Hohe! Gute! bist du da; / O der armen Phantasien! / Dieses<br />
Eine bildest nur / Du, in ewgen Harmonien / Frohvollendete Natur!“<br />
Die enge Verbundenheit zwischen Hölderlin und Susette führte in der<br />
Stadt zunehmend zu Gerede. Auch im Hause Gontard blieben Spannungen<br />
nicht aus. Schließlich kam es zum Bruch mit Jakob Friedrich Gontard.<br />
Hölderlin verließ Frankfurt im September 1798 und ging nach Bad<br />
Homburg. In der Folgezeit konnten er und Susette sich nur noch heimlich<br />
treffen. Das letzte Treffen der beiden fand im Mai 1800 auf dem Adlerflychthof,<br />
dem Sommersitz der Gontards am Oederweg, statt. Susette<br />
starb 1802 während einer Ruhrepidemie. In der gleichen Zeit ver-<br />
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schlechterte sich auch Hölderlins Gesundheitszustand. Wegen seiner<br />
zunehmenden geistigen Verwirrung wurde er 1806 in das Autenrietsche<br />
Klinikum nach Tübingen überführt.<br />
Jakob Friedrich Gontard blieb nicht lange Witwer. Er heiratete 1806 ein<br />
zweites und 1815 ein drittes Mal. Seit dieser Zeit weilte er häufig in Paris.<br />
Später wohnte er am Roßmarkt, wo er 1843 starb.<br />
Nach dem Tode Susettes 1802 und dem Umzug Jakobs an den Roßmarkt<br />
vermieteten die Gontards Teile des Weißen Hirsch an das Bankhaus<br />
Gebrüder Hauck. Später unterhielt der Pädagoge Ludwig Hadermann,<br />
der zeitweise auch die Gontardschen Kinder unterrichtet hatte,<br />
dort eine Privatschule. Ihm folgte Karoline Hergenhahn mit ihrem Mädchenpensionat.<br />
Mitte der 1860er Jahre verkauften die Gontards den<br />
Weißen Hirsch an Heinrich Bernhard Karl Küchler, den Mitinhaber einer<br />
Exportfirma auf dem Großen Kornmarkt. In dieser Zeit waren mehrere<br />
kleine Geschäfte und Gewerbebetriebe in dem Gebäudekomplex untergebracht<br />
wie z.B. das Auswanderungs-Bureau Heinrich Bernhard, die<br />
Fabrik <strong>für</strong> Zinkindustrie Camozzi & Schlösser und die Damenkleidermacherin<br />
Schmincke.<br />
1872 wurde der Weiße Hirsch in Zusammenhang mit dem Straßendurchbruch<br />
von der Innenstadt zu den Westbahnhöfen an der Gallusbzw.<br />
Taunusanlage abgerissen. Auf dem freigeräumten Areal entstanden<br />
wenig später Kaiserplatz, Kirchnerstraße, Bethmannstraße und das<br />
Grandhotel Frankfurter Hof.<br />
Von Straßendurchbrüchen und anderen Veränderungen<br />
Der Große Hirschgraben reichte ursprünglich von der Münzgasse vor<br />
dem Karmeliterkloster bis zum Salzhaus bzw. zur Weißadlergasse. Im<br />
späten 19. und im 20. Jahrhundert haben dann Straßendurchbrüche das<br />
Gesicht und den Verlauf der Straße stark verändert. Bereits 1866 hatte<br />
die Stadt <strong>für</strong> das Areal nördlich des Großen Hirschgrabens umfassende<br />
Straßenbaupläne ausgearbeitet, die der hohen Kosten wegen zunächst<br />
auf Eis gelegt, sechs Jahre später dann aber doch realisiert wurden.<br />
Grund <strong>für</strong> die Umbauten war die rasche Zunahme des Verkehrs zwischen<br />
der Innenstadt und den an Gallus- und Taunusanlage gelegenen<br />
Westbahnhöfen. So entstand ab 1872 nicht nur die Kaiserstraße, sondern<br />
auch ein erster, von der Kaiserstraße bis zum Hirschgraben reichender<br />
Abschnitt der Bethmannstraße. Von dem Straßenneubau waren<br />
außer dem Weißen Hirsch auch die benachbarten Häuser betroffen. Sie<br />
wurden ebenfalls abgerissen bzw. zu Eckhäusern umgebaut. Einige Jahre<br />
später fielen die Häuser Großer Hirschgraben 2 und 4 dem Ausbau<br />
der Bethmannstraße bis zum Römer zum Opfer.<br />
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Der Straßenneubau und der Umbau einzelner Häuser machten eine<br />
Neunummerierung der Häuser notwendig. Der Weiße Hirsch hatte die<br />
Hausnummer 3 gehabt. Nach seinem Abriß ging die Hausnummer 3 zunächst<br />
auf das neu entstandene linke Eckhaus zur Bethmannstraße<br />
über. Nach dem Umbau des Eckhauses zur Weißfrauenstraße zu einem<br />
Doppelhaus verschob sich die Nummerierung erneut. Die Häuser zwischen<br />
Weißfrauen- und Bethmannstraße erhielten nun die Hausnummern<br />
1, 3 und 5. Damit verschob sich aber auch die Nummerierung der<br />
Häuser zwischen Bethmannstraße und Salzhaus. Das rechte Eckhaus<br />
zur Bethmannstraße, der Spitznagel, vormals Hausnummer 5, erhielt<br />
nun die Hausnummer 7. Aus den Hausnummern 7 und 9 wurden die<br />
Hausnummern 9 und 11. Der 1865 anstelle der Andreaeschen Waisenhäuser<br />
errichtete Neubau der Providentia, Hausnummer 11/13, erhielt<br />
die Hausnummer 15. Die Hausnummer 13 entfiel. Das zu einem Haus<br />
zusammengezogene Doppelhaus Großer Hirschgraben 15/17, der Zimmerhof,<br />
erhielt die Hausnummer 17. Das Goethehaus und das benachbarte<br />
Haus Zum grünen Laub behielten die Hausnummern 23 und 25.<br />
Das vormals Kochsche Palais, das zunächst nur unter der Adresse Am<br />
Salzhaus 1 geführt worden war, wurde in die Nummerierung des Großen<br />
Hirschgrabens einbezogen und erhielt die Hausnummer 27.<br />
Zum Spitznagel<br />
Im rechts neben dem Weißen Hirsch gelegenen Haus Zum Spitznagel<br />
wurden fast zwei Jahrhunderte lang Stoffe eingefärbt. Begonnen hatte es<br />
1603 mit dem Färber Simon Gebhard und drei Siedekesseln. 1644 erwarb<br />
der Seidenfärber Matthias Beydahl das Haus <strong>für</strong> 2.800 Gulden. Um<br />
die Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte der Spitznagel dem Bremer Handelsmann<br />
Johann Wilckens, später dann dem Seidenfärber Johann von<br />
Franck. Bei einer Schätzung des Anwesens im Jahre 1773 durch acht<br />
Meister des Zimmer- und Maurerhandwerks wurde der Wert der Gebäude<br />
mit 12.500 Gulden angegeben. Von etwa 1840 bis 1870 befand sich<br />
das Haus im Besitz der Familie Gwinner.<br />
Philipp Friedrich Gwinner (1796-1868), Nachkomme einer aus Württemberg<br />
stammenden Familie, hatte als sechzehnjähriger Freiwilliger am<br />
Feldzug gegen Frankreich teilgenommen und dann Jura studiert. Er war<br />
zu bescheidenem Wohlstand gelangt und konnte <strong>für</strong> sich und seine Familie<br />
ein Haus erwerben. Zur Wahl standen ein Grundstück an der Neuen<br />
Mainzer Straße sowie das Goethehaus und das Haus Zum Spitznagel<br />
im Großen Hirschgraben. Man entschied sich <strong>für</strong> den Hirschgraben, der<br />
zu jener Zeit noch immer eine begehrte Wohnstraße war, und den Spitznagel,<br />
der im Gegensatz zum Goethehaus über einen kleinen Garten<br />
verfügte.<br />
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Gwinner war zunächst Richter und wurde dann Senator und Syndikus<br />
der Stadt Frankfurt. Nach zwölfmaligem vergeblichen Anlauf gelang ihm<br />
1864 die Wahl zum Älteren Bürgermeister. Er war das letzte Oberhaupt<br />
Frankfurts, das seine volle Amtszeit von einem Jahr ausüben konnte.<br />
Sein Nachfolger Carl Constanz Victor Fellner mußte die Freie Stadt<br />
Frankfurt während seiner Amtszeit 1866 an Preußen ausliefern.<br />
Philipp Friedrich Gwinner. Lithografie von Valentin Schertle, um 1860.<br />
Wie viele Juristen des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Gwinner nicht<br />
nur mit der Jurisprudenz. Er war auch ein Kunstliebhaber und Kunstkenner.<br />
Neben zahlreichen kleineren Aufsätzen zur Kunstgeschichte veröffentlichte<br />
er 1862 das Werk Kunst und Künstler in Frankfurt am Main<br />
vom 13. Jahrhundert bis zur Eröffnung des Städelschen <strong>Institut</strong>s 1862.<br />
Wilhelm (von) Gwinner (1825-1917) trat in vielem in die Fußstapfen seines<br />
Vaters. Mit 19 Jahren promoviert, wurde er Advokat, Sekretär am<br />
Appellationsgericht in Frankfurt und Stadtgerichtsdirektor. Wie sein Vater<br />
wirkte auch er über seinen Beruf hinaus. Viele Jahre war im Vorstand<br />
der Weißfrauengemeinde und als Direktor des lutherischen Konsistoriums<br />
tätig. Vor allem aber wurde er bekannt durch seine schriftstellerische<br />
Arbeit. Unter dem Pseudonym Natalis Victor erschien der Roman<br />
Diana und Endymion und – unter seinem richtigen Namen – 1892 Goethes<br />
Faustidee. Darüber hinaus verfaßte er eine Biographie Schopen-<br />
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hauers, dem er und seine Frau freundschaftlich verbunden gewesen waren.<br />
Durch die Anlage der Bethmannstraße wurde der Spitznagel 1872 zu einem<br />
Eckhaus und verlor seinen Garten. Später gehörte das Haus Rudolf<br />
G. Burnitz sowie Karl Schneider. Als Mieter begegnen uns um 1900 die<br />
Kupfer- und Steindruckerei Siedentopf, Glaswaren Krepp & Schappel,<br />
das Tuchwarenlager von Apitzsch und die Vogelhandlung Winkler. In<br />
den 20er Jahren war hier kurzzeitig auch die Kunst- und Antiquitätenhandlung<br />
von Julius Bienes und Carl Müller-Ruzika untergebracht. Letzterer<br />
gehörte zur hochangesehenen Gilde der Frankfurter Kunsthändler<br />
und war <strong>für</strong> seine Gastfreundschaft bekannt. Schauspieler, Schriftsteller,<br />
Journalisten und Künstler gingen bei ihm ein und aus. Mit einem Maler<br />
meinte er es ganz besonders gut. Um ihn zu unterstützen, kaufte er ihm<br />
ab und zu ein Bild ab. Sein Mitinhaber war damit gar nicht einverstanden.<br />
Er meinte: „Wenn der mit den Eselsköpfen noch einmal hier auftaucht,<br />
fliegt er hochkant hinaus.“ Der Maler mit den Eselsköpfen war<br />
später auf keine Unterstützung mehr angewiesen, es war Marc Chagall.<br />
Zwischen Weißfrauen- und Bethmannstraße<br />
Zwischen dem Weißen Hirsch und der späteren Weißfrauenstraße waren<br />
schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts anstelle des Weißfrauengartens<br />
Gebäude entstanden. An der Ecke befand sich bis zur Jahreswende<br />
1864/65 die Rauch- und Schnupftabakfabrik Gebrüder Stern. Nach dem<br />
Wegzug der Firma nach Cannstadt erwarb der Hotelier Konrad Wagener<br />
das Haus. Als Mieter zogen die Herberge zur Heimat, vormals im Großen<br />
Hirschgraben 15 (17), ein Tapezierer und die Metzgerei von Christian<br />
Peter Leonhard Cress, später Wilhelm Remmele, ein. Nach dem Umbau<br />
des Gebäudes in den 80er Jahren erscheint Remmele als Besitzer<br />
der rechten Hälfte des nun entstandenen Doppelhauses. Das dritte Haus<br />
in diesem Block, ab 1872 das Eckhaus zur Bethmannstraße, gehörte<br />
gegen Ende des 19. Jahrhunderts Louise von Rothschild, der Gründerin<br />
des Clementine-Mädchen-Hospitals. Im 20. Jahrhundert befand sich das<br />
Haus zunächst im Besitz von Oswald Ranft, dem Inhaber des Tuch- und<br />
Buckskin-Versandgeschäfts Paul Knaur, bevor es von einer Versicherungsgesellschaft<br />
und in den 30er Jahren dann von der Elektrobaufirma<br />
Neyer & Lorenz erworben wurde.<br />
Ein Seitenbau des Weißen Hirsch war 1865 an Friedrich Wilhelm Breidenstein,<br />
den Inhaber der Druckerei Brönner verkauft worden. Dieses<br />
Gebäude, das als Hinterhaus von Haus Nr. 1, später von Haus Nr. 3<br />
geführt wurde, mußte 1872 nicht abgerissen werden. Die Brönnersche<br />
Druckerei blieb hier bis zu ihrem Umzug in die Niddastraße 1898 bestehen.<br />
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Hirschgrabenhof<br />
Folgte man der westlichen Häuserzeile des Großen Hirschgrabens<br />
nordwärts in Richtung auf die Straße Am Salzhaus zu, so kam nach<br />
Weißem Hirsch und Spitznagel zunächst das Haus Nr. 7 (9), das gegen<br />
Ende des 19. Jahrhunderts dem Kaufmann Schweitzer und später seiner<br />
in Genua lebenden Witwe gehörte. Auf das Haus Nr. 9 (11), den Hirschgrabenhof,<br />
den Rudolf Passavant 1745 anstelle eines älteren Hauses im<br />
spätbarocken Stil hatte errichten lassen, folgten die Häuser Nr. 11/13<br />
(15), die Andreaeschen Waisenhäuser bzw. ab 1865 das Providentia-<br />
Haus.<br />
Der Hirschgrabenhof, Großer Hirschgraben 9 (11), war 1745 von dem<br />
Handelsmann Rudolf Passavant anstelle eines älteren Hauses errichtet<br />
worden. Rudolf Passavant war der Nachkomme einer altadeligen hugenottischen<br />
Familie aus der Nähe von Luxeuil (Burgund), die nach der<br />
Aufhebung des Edikts von Nantes aus Frankreich geflohen und über Basel<br />
und Hanau nach Frankfurt gelangt war.<br />
Den Gästen seines Hauses zeigte Passavant gern eine antike Sehenswürdigkeit:<br />
Es war ein römischer Grabstein, den man in Frankfurt gefunden<br />
hatte. Der Stein zeigte das Brustbild des Ehepaares Vegisonius<br />
Primus und Melonia Junia aus einer angesehenen Familie im römischkeltischen<br />
Grenzland am Taunus. Jahre nach Passavants Tod verschwand<br />
der Stein, als das Haus 1792 von seinem neuen Besitzer Johann<br />
Jakob Hollweg (1748-1808), dem Teilhaber des Bankhauses<br />
Bethmann und Ehemann von Johann Philipp Bethmanns Tochter Susanne<br />
Elisabeth, umgebaut und neu ausgestattet wurde.<br />
Im Jahre 1794 floh die Familie Hollweg (später Hollweg gen. Bethmann,<br />
dann Bethmann-Hollweg) wie manche andere Frankfurter Familien auch<br />
vor den Franzosen. In Gotha lernte Johann Jakob Hollweg Karl Ritter<br />
(1779-1859), einen Zögling der Salzmannschen Erziehungsanstalt in<br />
Schnepfenthal kennen. Hollweg fand Gefallen an dem jungen Mann, finanzierte<br />
ihm ein zweijähriges Studium in Halle und stellte ihn danach<br />
<strong>für</strong> seine Söhne Philipp und August als Erzieher und Hauslehrer ein.<br />
1798 kam Ritter nach Frankfurt und bezog Quartier im Hirschgrabenhof.<br />
Er gehörte schon bald zur Familie, nahm an deren Mahlzeiten teil und<br />
begleitete sie auf Reisen. Nach Abschluß seiner Erziehertätigkeit im<br />
Hause Hollweg war Ritter noch einige Jahre als Gymnasiallehrer in<br />
Frankfurt tätig, bevor er 1820 als Professor <strong>für</strong> Statistik und Geographie<br />
nach Berlin berufen wurde. Hier wurde er zum Begründer der modernen<br />
Geographie und tat sich als Reformer des Geographieunterrichts hervor.<br />
Philipp Bethmann-Hollweg war nur ein kurzes Leben beschieden. In<br />
Rußland und Holland ausgebildet, trat er 1807 in die väterliche Firma<br />
ein. Nach dem Tod des Vaters ruhten die Hoffnungen der Familie auf<br />
ihm. Doch 1812 zog sich Philipp bei der Bekämpfung eines Brandes eine<br />
10
schwere Krankheit zu. Im Dezember des gleichen Jahres ist er auf einer<br />
Erholungsreise in Florenz in den Armen Karl Ritters gestorben. Sein jüngerer<br />
Bruder Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795-1877) wurde<br />
mit 25 Jahren Professor der Rechte und lehrte in Berlin und Bonn. 1840<br />
erhob ihn der preußische König in den Adelsstand. 1858-1862 war er<br />
preußischer Kultusminister, dann zog er sich als Privatgelehrter auf seine<br />
Burg Rheineck zurück. Sein Enkel Theobald von Bethmann-Hollweg,<br />
1856 geboren, durchlief eine mustergültige Karriere als preußischer<br />
Staatsbeamter. Er begann als Landrat und wurde 1909 Reichskanzler.<br />
Links: Moritz August von Bethmann-Hollweg, 1864. Rechts: Karl Ritter. Fotografie nach einer<br />
Zeichnung von ca. 1850, 1861.<br />
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ging der Hirschgrabenhof in den Besitz<br />
des Schreinermeisters Peter Friedrich Ditmar über. Ditmar hatte sich<br />
nach einem Aufenthalt in Paris auf die Herstellung von Kunstmöbeln<br />
spezialisiert. Gemeinsam mit seinem Vater richtete er die Häuser hochgestellter<br />
Familien und Persönlichkeiten ein und gelangte so zu Wohlstand.<br />
Ditmar lebte später im Westend. Das Haus im Großen Hirschgraben<br />
ging nach seinem Tod an seine Erben über, die es bzw. dessen<br />
Ruine nach dem Zweiten Weltkrieg an die Steigenberger Hotelaktiengesellschaft<br />
verkauften.<br />
11
Von der Andreaeschen Waisenstiftung bis zum Farbenhaus<br />
Jenisch<br />
Magdalena Margaretha Burgk (1707-1787), Tochter des Goldarbeiters<br />
und Juweliers Martin Burgk aus Holzhausen v.d.H. und der Maria Philippine<br />
Merian, heiratete 1744 ihren Cousin, den Farbwarenhändler Ehrenfried<br />
Klotz aus dem Haus Zur grünen Hand im Großen Hirschgraben.<br />
Das junge Paar blieb im Hirschgraben wohnen. Es zog in das Haus neben<br />
Rudolf Passavant.<br />
Magdalena Margaretha Andreae.<br />
Als Klotz 1763 starb, war Magdalena Margaretha eine reiche Witwe. Außer<br />
dem Haus besaß sie 180.753 Gulden in Schuldverschreibungen und<br />
verschiedenen anderen Anlagen, 14 Kirchensitzplätze, Schmuck und ein<br />
Sparschwein mit 4.000 Gulden in bar. Ein Lakai, zwei Mägde und ein<br />
Kutscher standen ihr als dienstbare Geister zur Verfügung. Nach zweijährigem<br />
Witwendasein heiratete sie Johann Benjamin Andreae, der<br />
Buchdrucker in der Alten Mainzer Gasse und erster Vorsteher der Buchdruckergesellschaft<br />
gewesen war, sich aber 1765 aus seinem Geschäft<br />
zurückgezogen hatte. Andreae widmete sich fortan nur noch der Politik.<br />
Bereits seit 1754 gehörte er dem Rat an, zunächst als Mitglied der<br />
Handwerkerbank, später dann als Mitglied der Senatorenbank. 1765<br />
wurde er zum Bürgermeister und 1771 nach dem Tode Textors zum<br />
Schöffen gewählt. Andreae starb 1778. Kurz nach seinem Tod machte<br />
Magdalena Margaretha, die nun eine noch reichere Witwe war, ihr Te-<br />
12
stament. Die Andreaeschen und Klotzschen Verwandten gingen nahezu<br />
leer aus, die Burgkschen Verwandten dagegen wurden reichlich bedacht;<br />
etwa die Hälfte ihres Vermögens aber setzte die Witwe Andreae<br />
zu Vermächtnissen aus. Ihr Haus im Großen Hirschgraben vermachte<br />
sie der Niederländischen Gemeinde Augsburgischer Konfession zum<br />
Zweck der Einrichtung eines Waiseninstituts <strong>für</strong> die Ernährung und Erziehung<br />
elternloser unbemittelter Kinder von Gemeindemitgliedern.<br />
Andreaesche Waisenstiftung, Großer Hirschgraben 11/13 (15). Mylius, 1864.<br />
Seit 1787 tollten in dem Haus verwaiste Kinder umher, zunächst Mädchen<br />
und Knaben, später dann nur noch Knaben. Die Mädchen gab man<br />
gegen Unterhaltszahlung in Kost und Logis zu verschiedenen Familien.<br />
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Jeweils zwischen zehn und zwanzig Knaben lebten fortan im Andreaeschen<br />
Haus und in dem von der Gemeinde hinzugekauften Nachbarhaus.<br />
Ihre uniforme Kleidung, ihr täglicher Gang zum Unterricht in die<br />
Weißfrauenschule gehörten <strong>für</strong> viele Jahrzehnte zum Bild des Großen<br />
Hirschgrabens. Im Jahr 1865 verlegte die Gemeinde das Waisenhaus in<br />
die Seilerstraße. Die beiden Häuser im Hirschgraben, inzwischen recht<br />
baufällig geworden, wurden <strong>für</strong> 78.500 Gulden an die Frankfurter Feuerversicherungsgesellschaft<br />
Providentia verkauft, die unverzüglich mit dem<br />
Abriß begann und sich vom Architekten Adolf Hänle und der Firma Philipp<br />
Holzmann einen Neubau errichten ließ.<br />
Providentia- bzw. Jenisch-Haus, Großer Hirschgraben 11/13 (15). Um 1925.<br />
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Das anstelle der Andreaeschen Waisenstiftung errichtete Providentia-<br />
Haus brachte architektonisch eine neue Note in den Großen Hirschgraben.<br />
Seine im klassischen Stil gehaltene rote Sandsteinfassade galt damals<br />
als eine der schönsten Häuserfronten Frankfurts.<br />
Die Providentia nutzte nur einen Teil des Hauses selbst. Die übrigen<br />
Räume waren vermietet an die Buchdruckerei Honsack (im Hinterhaus),<br />
an eine Fabrik künstlicher Blumen, an eine Bank, an die Papierhandlung<br />
Grosse Nachfolger und an den Rechtsanwalt Schmidt-Polex. 1905 zog<br />
die Providentia in ihren Neubau an der Taunusanlage um; das Haus im<br />
Großen Hirschgraben verkaufte sie 1919 an Hans Jenisch, den Inhaber<br />
der Firma Farben Jenisch. 1925 verlegte die Familie Jenisch Geschäft<br />
und Wohnung in das neu erworbene Haus.<br />
Hans und Mary Jenisch, 1938.<br />
Hans Jenisch (1864-1947) hatte 1904 im Haus Großer Hirschgraben 14<br />
das erste Farbenfachgeschäft eingerichtet. Die Jenischs gehörten zum<br />
Hirschgraben wie kaum eine andere Familie. Dies galt insbesondere <strong>für</strong><br />
Mary Jenisch, die aufgrund ihrer stattlichen Erscheinung und ihres vornehmen<br />
Auftretens die Zarin vom Hirschgraben genannt wurde. Viel be-<br />
15
achtet waren die wöchentlichen Ausfahrten ins Grüne, an denen man<br />
sogar während des Zweiten Weltkriegs festhielt. Da das eigene Auto <strong>für</strong><br />
Kriegszwecke beschlagnahmt war, mußte man mit einer gemieteten<br />
Pferdedroschke vorliebnehmen. Das Ganze war jedesmal ein Schauspiel.<br />
Erst stieg Hans Jenisch ein. Dann halfen kräftige Männer Mary Jenisch<br />
hinauf, während auf der anderen Seite des Wagens der Kutscher<br />
als Gegengewicht hing.<br />
Kurt Jenisch (1895-1941), der Sohn von Hans und Mary Jenisch, war ein<br />
bekannter Wassersportler. 1919 wurde er mit seiner Mannschaft, dem<br />
Ersten Frankfurter Schwimmclub, Meister im Wasserball. Im Schwimmclub<br />
lernte Kurt Jenisch auch seine spätere Frau kenne, Christel von der<br />
Emden, die Tochter des Glasermeisters Karl von der Emden aus der<br />
Großen Bockenheimer Gasse.<br />
Mitte der 20er Jahre zog die Familie in das kurz zuvor erworbene Providentia-Haus<br />
um. Der Firmengründer bewohnte den ersten Stock, Sohn<br />
und Schwiegertochter den zweiten. Im Parterre befand sich das Ladengeschäft.<br />
Kleiner Zimmerhof und Nachbarhäuser<br />
Rechts neben dem Providentia-Haus befand sich bis zum Zweiten Weltkrieg<br />
der Kleine Zimmerhof, Großer Hirschgraben 17 (vormals 15/17).<br />
Der Zimmerhof war 1869 vom Evangelischen Verein zur Förderung<br />
christlicher Erkenntnis und christlichen Lebens durch Zusammenlegung<br />
zweier älterer Häuser entstanden, von denen das eine, das auch schon<br />
vor dem Neubau Zimmerhof geheißen hatte, sehr geräumig gewesen<br />
muß. Allein in seinem Hinterhaus sollen um 1800 zwanzig Handwerkerfamilien<br />
gewohnt haben. Im 18. Jahrhundert befand sich der Zimmerhof<br />
im Besitz der Tuchbereiter Jakob und Johann Friedrich Mappes.<br />
Das rechte der beiden Häuser, die 1869 <strong>für</strong> den Neubau des Zimmerhofs<br />
abgerissen wurden, gehörte im 17. Jahrhundert dem Ratsherrn Reinold,<br />
dann den Handelsleuten Nikolaus und Johann Gerhard Ruland und<br />
später Johannes Crafft. 1809 ging das Haus in den Besitz des Kanzleidirektors<br />
Karl Ludwig Böhmer über, der sich hier 1792 mit seiner Familie<br />
eingemietet hatte.<br />
Karl Ludwig Böhmer, zunächst Advokat in Zweibrücken, dann wild- und<br />
rheingräflicher Hofrat, war auf der Flucht vor der französischen Revolutionsarmee<br />
nach Wetzlar und schließlich nach Frankfurt gelangt. Am 22.<br />
April 1795 gebar seine Frau, die Tochter des Wetzlarer Reichskammergerichtsprokuratoren<br />
von Hofmann, einen Sohn, der auf den Namen Johann<br />
Friedrich getauft wurde. Es folgten noch drei weitere Kinder: Charlotte<br />
Friederike (1796), Friederike (1798) und Johann Friedrich Georg<br />
(1799).<br />
16
Großer Hirschgraben 15-27 mit Goethehaus nach Norden. Um 1930.<br />
Nach dem Besuch einer Privatschule und des städtischen Gymnasiums<br />
studierte Johann Friedrich Böhmer dem Wunsch seines Vaters folgend<br />
in Heidelberg und Göttingen Jura. Neben dem Pflichtstudium beschäftigte<br />
er sich auch mit Kunstgeschichte und alten Sprachen. Enttäuscht<br />
von der politischen Entwicklung in Deutschland und Frankfurt nach 1815<br />
17
kehrte der schüchterne, ängstliche, in Abgeschlossenheit aufgewachsene<br />
Johann Friedrich der Jurisprudenz den Rücken und wandte sich, beeinflußt<br />
von der Mittelalterschwärmerei der Romantik, der Geschichte zu.<br />
Die finanzielle Unabhängigkeit nach dem Tode des Vaters (1817) ermöglichte<br />
es ihm, seine berufliche Tätigkeit nach Neigung auszuwählen.<br />
Neben seiner vorübergehenden Tätigkeit als Mitadministrator des Städelschen<br />
Kunstinstituts (1822-1834), als Stadtbibliothekar (1830-1863)<br />
und als Stadtarchivar (1825-1836) hat ihn vor allem seine Tätigkeit <strong>für</strong><br />
die 1819 vom Freiherrn vom Stein gegründete Gesellschaft <strong>für</strong> ältere<br />
deutsche Geschichte bekannt gemacht, <strong>für</strong> die er ab 1823 zunächst als<br />
Sekretär und nach dem Tode Steins ab 1831 als Mitdirektor wirkte.<br />
Böhmer wurde die Edition der deutschen Kaiserurkunden des Mittelalters<br />
übertragen. In deren Vorbereitung entstand die Reihe Regesten des Kaiserreichs,<br />
mit der er 1829 begann. Böhmers bedeutendste Leistung <strong>für</strong><br />
Frankfurt ist die Herausgabe des Frankfurter Urkundenbuchs, des Codex<br />
Diplomaticus Moeno-Francofurtanus. Johann Friedrich Böhmer starb am<br />
22. Oktober 1863 in seinem Elternhaus im Großen Hirschgraben.<br />
Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren im Kleinen Zimmerhof der<br />
Evangelische Jünglingsverein, der Frauenverein, eine Tonöfenfabrik, die<br />
evangelische Buchhandlung Elsiepen & Lange, die Wäscherei Kunz als<br />
Mieter zu finden. Später residierten hier die Union-Druckerei, seit 1907<br />
auch Besitzerin des Zimmerhofs, und die von ihr produzierte sozialdemokratische<br />
Zeitung Volksstimme. Nach Umzug in ein größeres Gebäude<br />
an der Bockenheimer Warte verkaufte die Union-Druckerei ihr Haus<br />
im Großen Hirschgraben 1929 an eine Berliner Aktiengesellschaft.<br />
Über die beiden Häuser zwischen Zimmerhof und Goethehaus läßt sich<br />
nur wenig berichten. Das Haus Großer Hirschgraben 19 gehörte um die<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts dem Gastronomen Georg Wilhelm Schünemann,<br />
der als Küchenchef im Weißen Schwan am Steinweg zu Ruhm<br />
und Ehren gelangt war. Schünemann galt als kulinarische Autorität von<br />
internationalem Rang.<br />
Das Haus Großer Hirschgraben 21, im 18. Jahrhundert im Besitz des<br />
Handelsmanns Christoph Wegelin, wechselte häufig seinen Besitzer, bis<br />
es schließlich von der Stadtkämmerei erworben wurde. Bekanntester<br />
Name unter den Mietern des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist der des<br />
Juristen und Kommunalpolitikers Gustav Adolf Humser.<br />
Humser (1836-1918) war Schüler des Frankfurter Gymnasiums gewesen,<br />
hatte in Heidelberg, Berlin und Göttingen Jura studiert und sich<br />
1862 in seiner Heimatstadt als Rechtsanwalt niedergelassen. Er war<br />
Rechtskonsulent der Waisenhausstiftung und Senior der Frankfurter Anwaltschaft.<br />
Von 1873 bis 1908 gehörter er als Vertreter der Nationalliberalen<br />
Partei der Stadtverordnetenversammlung an, von 1880 bis 1904<br />
als deren Vorsitzender. Darüber hinaus war er lange Jahre Mitglied des<br />
Kommunallandtags in Wiesbaden und des Provinziallandtags in Kassel.<br />
18
Goethehaus<br />
Im Jahre 1733 kaufte Cornelia Goethe (1668-1754) im Großen Hirschgraben<br />
ein um 1600 von dem flämischen Goldschmied van Hinsberg erbautes<br />
Haus nebst einem kleinen Anbau, der ehemaligen Malzdarre des<br />
benachbarten Brauhauses Zum grünen Laub. Mit seinen tiefen Kellern,<br />
seinem steinernen Erdgeschoß, den beiden überhängenden Fachwerkstöcken,<br />
vor allem mit seiner reichen Wasserversorgung durch zwei<br />
Pumpen in der Küche und im Hof war dieses Haus ganz nach dem<br />
Wunsch der Gasthalterswitwe.<br />
Drei Jahre bevor sie sich zusammen mit ihrem Sohn Johann Kaspar im<br />
Hirschgraben niederließ, war Cornelia Goethe zum zweiten Mal Witwe<br />
geworden. 1703 hatte sie, die Tochter des Schneidermeisters Walther<br />
aus Frankfurt, im Alter von 35 Jahren ihren ersten Mann, den Gasthalter<br />
Zum Weidenhof auf der Zeil, Johann Schellhorn, verloren. Die Ehe mit<br />
Schellhorn war kinderlos geblieben. 1730 war ihr zweiter Mann, der 1657<br />
in Artern in Thüringen geborene Schneider Friedrich Georg Goethe, gestorben.<br />
Cornelia und Friedrich Georg Goethes Sohn Johann Kaspar, geboren<br />
am 31. Juli 1710, studierte nach dem Besuch des Gymnasium in Gießen<br />
und Leipzig Jura. Nach seiner Promotion unternahm er 1740 eine Bildungsreise<br />
nach Italien. Ende 1741 nach Frankfurt zurückgekehrt, kaufte<br />
er 1742 von Kaiser Karl VII. den Titel eines Kaiserlichen Rats und wurde<br />
dadurch zum Rechtsbeirat und Geschäftsträger von Reichsständen und<br />
städtischen Körperschaften. Ein Sitz im Rat blieb ihm verwehrt, da dort<br />
bereits sein Halbbruder, der Zinngießermeister Hermann Jakob Goethe,<br />
ein Sohn aus der ersten Ehe seines Vaters mit Anna Elisabeth Lutz, saß;<br />
Verwandschaft war im Rat Ausschließungsgrund.<br />
1748 heiratete Johann Kaspar Goethe die einundzwanzig Jahre jüngere<br />
Katharina Elisabeth Textor. Das Paar blieb bei Cornelia Goethe im<br />
Hirschgraben wohnen. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Am 28.<br />
August 1749 wurde der Sohn Johann Wolfgang, am 7. Dezember 1750<br />
die Tochter Cornelia geboren; vier weitere Kinder starben früh.<br />
Nach dem Tode seiner Mutter ließ Johann Kaspar Goethe die beiden<br />
alten, nur notdürftig miteinander verbundenen Häuser im Hirschgraben<br />
1755/56 nach und nach abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Um<br />
die <strong>für</strong> einen Neubau gültigen Bauvorschriften zu umgehen, wurde der<br />
Neubau offiziell als Umbau deklariert.<br />
Johann Kaspar Goethe wurde als steif und zeremoniös charakterisiert.<br />
Doch bei aller Starrheit und Pedanterie war er doch auch Kunst- und Literaturliebhaber.<br />
Da ihm die Teilhabe am politisch-öffentlichen Leben der<br />
Stadt weitgehend versperrt war, galt sein Interesse vor allem seinen<br />
Sammlungen und der Erziehung der Kinder. An erster Stelle der Sammlungen<br />
stand die Bibliothek, die im Laufe der Jahre auf die <strong>für</strong> die dama-<br />
19
lige Zeit stattliche Zahl von rund 2000 Büchern anwuchs und neben<br />
Werken der Jurisprudenz und Geschichte auch antike und europäische<br />
Literatur bis zur Gegenwart umfaßte. Insbesondere der heranwachsende<br />
Johann Wolfgang Goethe hat von dieser Wissenssammlung profitiert.<br />
Johann Kaspar Goethe.<br />
Neben der Bibliothek zeugten auch die immer größer werdenden<br />
Sammlungen von Gemälden zeitgenössischer Frankfurter Maler, die<br />
Sammlung alter Gewehre, Landkarten, venezianischer Gläser, Elfenbeinarbeiten<br />
und Naturalien von Johann Kaspars weitgefächerten Interessen.<br />
Bei der Erziehung sah Johann Kaspar auf Disziplin. Sein umfangreicher<br />
Erziehungsplan mußte eingehalten werden. So hat er seinen Kindern<br />
viel, manchmal zuviel abgefordert. Johann Wolfgang wurde mit einer<br />
Vielzahl von Wissensgebieten bekannt gemacht: mit der französischen,<br />
der englischen, der italienischen, der hebräischen, der lateinischen und<br />
griechischen Sprache, mit Schönschreiben, Fechten, Reiten, Klavierspielen<br />
und Zeichnen. Für jedes Gebiet wurde ein anderer Lehrer ausgesucht.<br />
Darüber hinaus unternahm Johann Kaspar mit Johann Wolf-<br />
20
gang und Cornelia Ausflüge in Frankfurts Umgebung. Gleichwohl blieb<br />
das Verhältnis der Kinder zum überstrengen Vater gespannt. Katharina<br />
Elisabeth Goethe mußte hier oft ausgleichend wirken. Vom Sohn später<br />
als Frohnatur stilisiert, besaß sie trotz mangelnder Bildung eine bemerkenswerte<br />
Souveränität, die sie im Umgang mit ihrem Mann, den Freunden<br />
ihres Sohnes und auch mit hochgestellten Persönlichkeiten immer<br />
wieder unter Beweis stellte.<br />
Katharina Elisabeth Goethe, geb. Textor.<br />
Mit 16 Jahren wurde Johann Wolfgang gegen seinen Willen zum Jurastudium<br />
nach Leipzig geschickt. 1768 kehrte er krank von dort zurück.<br />
Ende März 1770 reiste er zur Fortsetzung des Studiums nach Straßburg,<br />
das er 1771 als Lizentiat, aber ohne Promotion abschloß. Danach kehrte<br />
er nach Frankfurt zurück und erhielt hier die Zulassung als Advokat.<br />
1772 war er <strong>für</strong> einige Monate als Praktikant am Reichskammergericht in<br />
Wetzlar tätig und verliebte sich unglücklich in Charlotte Buff. Bereits in<br />
seiner Studienzeit literarisch produktiv, wurde der 23jährige 1773 mit der<br />
Veröffentlichung einer überarbeiteten Fassung des im Herbst 1771 entstandenen<br />
Götz von Berlichingen schlagartig in Deutschland bekannt. Zu<br />
den weiteren Werken der Frankfurter Zeit gehörten neben Gedichten die<br />
21
Dramen Stella, Clavigo und der Urfaust. Schließlich machte der 1774 erschienene<br />
Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, in dem Goethe<br />
seine Wetzlarer Erlebnisse verarbeitete, den 25jährigen zu einer europäischen<br />
Berühmtheit.<br />
Johann Wolfgang Goethe.<br />
Anfang 1775 lernte Goethe Lili Schönemann, die Tochter eines Frankfurter<br />
Bankiers, kennen und verlobte sich zu Ostern mit ihr. Doch schon<br />
im Mai entzog er sich dieser Beziehung durch eine Reise in die Schweiz.<br />
Nach Frankfurt zurückgekehrt löste er die Verlobung wenig später und<br />
trat auf Drängen des Vaters am 30. Oktober eine Italienreise an. In Heidelberg<br />
erreichte ihn eine Botschaft Karl Augusts von Sachsen-Weimar,<br />
den er kurz zuvor kennengelernt und der ihn zu einem Besuch in Weimar<br />
eingeladen hatte. Karl August erneuerte sein Angebot. Goethe brach<br />
22
seine Reise ab und traf Anfang November in Weimar ein. Aus dem geplanten<br />
Besuch wurde ein Daueraufenthalt.<br />
Im Haus im Großen Hirschgraben blieben die Eltern allein zurück. Cornelia<br />
Goethe hatte bereits 1773 Johann Georg Schlosser geheiratet und<br />
war mit diesem 1774 nach Emmendingen gezogen. Cornelia litt zeitlebens<br />
unter ihrem Aussehen. Ihr Minderwertigkeitsgefühl führte zu Depressionen,<br />
die ihr Leben verdüsterten. Auch die Ehe mit Schlosser<br />
konnte hieran nichts mehr ändern. Fernab der Heimat begann sie zunehmend<br />
zu vereinsamen. Dabei scheint sie die räumliche und geistige<br />
Trennung von ihrem Bruder als besonders schmerzlich empfunden zu<br />
haben. Schon lange kränkelnd ist sie 1777 nach der Geburt ihrer zweiten<br />
Tochter in Emmendingen gestorben.<br />
Nur wenige Jahre nach dem Umbau wurde der Friede im Hause des<br />
Kaiserlichen Rats Goethe und seiner Familie empfindlich gestört. Schuld<br />
war der Siebenjährige Krieg (1756-1763), der auch an Frankfurt nicht<br />
spurlos vorüberging. Obwohl in Teilen preußisch gesinnt, hatte die Stadt<br />
ihre militärischen Verpflichtungen im Reichskrieg gegen Preußen korrekt,<br />
wenn auch ohne übertriebene Tapferkeit erfüllt. Als sie dann trotzdem<br />
durch die nominell mit ihr verbündeten Franzosen, die sich wohl der<br />
Loyalität der Frankfurter Bürger nicht ganz sicher waren, besetzt wurde,<br />
schlugen die Wellen der Empörung hoch.<br />
Am 2. Januar 1759 marschierten französische Truppen in Frankfurt ein,<br />
entwaffenten die Stadtsoldaten und besetzten alle militärisch wichtigen<br />
Punkte in der Stadt. Die Rückwirkungen auf das tägliche Leben waren<br />
beträchtlich. Zunächst einmal mußten <strong>für</strong> die Besatzungstruppen kostenlose<br />
Quartiere bereitgestellt werden. Darüber hinaus wurde Frankfurt<br />
nach der Schlacht bei Bergen am Karfreitag 1759 zu einem großen Lazarett,<br />
was sich auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung nachteilig<br />
auswirkte.<br />
Auch Johann Kaspar Goethe mußte <strong>für</strong> 2 ½ Jahre Einquartierung in seinem<br />
Haus erdulden, mit dem unvermeidlichen Kommen und Gehen,<br />
dem Gepolter auf der Treppe und den erregten Diskussionen. Im ersten<br />
Stock wohnte der französische Besatzungsoffizier Königsleutnant Graf<br />
de Thoranc. Mit ihm hätte die Familie Goethe eigentlich zufrieden sein<br />
können, denn der Graf war überaus liebenswürdig und umgänglich. Er<br />
liebte die bildende Kunst und erteilte Aufträge an die auch <strong>für</strong> Johann<br />
Kaspar Goethe malenden Künstler, an Schütz, Juncker, Trautmann und<br />
vor allem an Johann Konrad Seekatz.<br />
Frankfurt hatte dem Grafen und den Franzosen einiges zu verdanken.<br />
Sie veranlaßten die Nummerierung der Häuser und die Anlage der Trottoirs;<br />
sie regelten die Straßenreinigung und die Abfuhr des Kehrrichts;<br />
sie führten die Straßenbeleuchtung durch Öllaternen ein, und sie machten<br />
die Frankfurter – darunter auch den kleinen Johann Wolfgang – mit<br />
dem französischen Theater bekannt.<br />
23
Gleichwohl blieb das Verhältnis Johann Kaspars, der ein Bewunderer<br />
Friedrichs II. von Preußen war, zu Thoranc gespannt. Als die Franzosen<br />
nach der Schlacht bei Bergen als Sieger zurückkehrten, begrüßte er den<br />
Grafen mit Beschimpfungen. Daß er in diesem Moment einer Verhaftung<br />
entging, hatte er nur der Fürsprache seiner Frau und des Dolmetschers<br />
zu danken. Ende Mai 1761 verließ Thoranc Frankfurt. Die französischen<br />
Truppen zogen erst im Februar 1763 ab. Um einer neuerlichen Einquartierung<br />
zu entgehen, nahm Johann Kaspar den Kanzleidirektor Moritz mit<br />
seiner Familie als Mieter in sein Haus auf.<br />
Durch den Umbau von 1755/56 hatte das Goethehaus ein völlig neues<br />
Aussehen erhalten. Im Inneren wurde die alten Wendeltreppe durch ein<br />
prächtiges Treppenhaus mit schmiedeeisernem Geländer ersetzt. Die<br />
Kellereingänge wurden geändert, die Abortanlage in einen Anbau verlegt,<br />
die Küche in den hinteren Teil des Hauses, wo einst die Goldschmiedewerkstatt<br />
des ersten Hausbesitzers gewesen war. Neu gestaltet<br />
wurde auch der Eingang mit seinem Gitter am Oberlicht, geziert von<br />
den Initialen J.C.G., mit dem oberen steinernen Türbalken und dem von<br />
Johann Kaspar neue geschaffenen Wappen Halbiertes Schild unter drei<br />
Leiern.<br />
Im Erdgeschoß lag links das Blaue Zimmer, das Empfangs- und Speisezimmer,<br />
im ersten Stock das Staatszimmer, in dem Besucher einquartiert<br />
wurden, und nach hinten das Musikzimmer. Im zweiten Stock lagen die<br />
Zimmer des Hausherrn, seiner Frau und der Tochter Cornelia sowie der<br />
vielgeliebte Gartenzimmervorplatz mit Pflanzen und dem Fenster mit<br />
Ausblick auf die Stadtmauer und die Ebene vor Höchst. Im Mansardenstock,<br />
nach der Straße hin, lag Johann Wolfgangs Zimmer. 30 Jahre<br />
lang wohnte dort auch noch der seit Ende seines Studiums geistig umnachtete<br />
Dr. Johann David Balthasar Clauer, <strong>für</strong> den Johann Kaspar <strong>für</strong><br />
ein tägliches Kostgeld von einem Taler die Vormundschaft übernommen<br />
hatte. Und im Speicher des Hauses befanden sich die Kammern der<br />
Mägde und Diener sowie ein Lagerraum <strong>für</strong> das Korn.<br />
Das Haus der Goethes war ein offenes, ein geselliges Haus. Johann<br />
Kaspar pflegte den Kontakt zu seinen zahlreichen gelehrten Freunden,<br />
Katharina Elisabeth veranstaltete regelmäßig pietistische Zusammenkünfte.<br />
Dabei wurde nicht nur diskutiert, gebetet, gesungen und musiziert,<br />
sondern – wie die Haushaltsbücher Johann Kaspars zeigen – häufig<br />
auch gut gegessen und gut getrunken. Später gingen die Freunde<br />
und Bewunderer Johann Wolfgangs ein und aus. Diese Besuche hielten<br />
auch nach dessen Wegzug nach Weimar an. Zu den Gästen der Zeit<br />
nach 1775 gehörten die Dichter Lenz und Wieland, der Komponist<br />
Kranz, der Schauspieler und Theaterdirektor Grossmann, Herzogin Anna<br />
Amalia von Sachsen-Weimar und andere mehr.<br />
Nachdem Johann Kaspar durch Krankheit und später auch durch<br />
Schlaganfälle zunehmend apathischer und schließlich zum Pflegefall<br />
24
wurde, fiel Katharina Elisabeth die führende Rolle im Haus zu. Das gesellige<br />
Leben ging auch nach dem Tod Johann Kaspars 1782 weiter. Der<br />
wachsende Ruhm Goethes ließ die Kette der Besucher, die die Mutter<br />
des Weimarer Dichter<strong>für</strong>sten kennenlernen wollten, nicht abreißen. 1795<br />
jedoch verkaufte Katharina Elisabeth das Haus im Hirschgraben einschließlich<br />
der Bibliothek und der übrigen Sammlungen ihres Mannes<br />
und zog in eine Wohnung am Roßmarkt um, von der aus sie das Treiben<br />
auf der Zeil und an der Hauptwache verfolgen konnte. Auch hier empfing<br />
sie weiterhin Gäste und genoß ihren Ruhm. Die letzten Lebensjahre<br />
wurden ihr zudem durch die Freundschaft mit Bettine Brentano verschönt.<br />
Katharina Elisabeth Goethe starb 1808 nach kurzer Krankheit.<br />
Großer Hirschgraben 11-23 mit Goethehaus. Mylius, ca. 1868/69.<br />
25
Das Goethehaus wurde 1795 <strong>für</strong> einen Kaufpreis von 22.000 Gulden von<br />
dem Weinhändler Johann Gerhard Blum erworben. Doch schon im folgenden<br />
Jahr verkaufte es dieser an Anna Katharina Roessing. Nach deren<br />
Tod ging das Haus zunächst in den Besitz einer Verwandten gleichen<br />
Namens über, bis es schließlich 1861 an den Tapezierer Johann<br />
Georg Clauer gelangte.<br />
Etwa ein Jahr nach Goethes Tod 1832 klopfte der erste Besucher an, um<br />
das Geburtshaus des Dichters zu besichtigen. Viele folgten. Die Roessings<br />
statteten <strong>für</strong> diesen Zweck das Mansardenzimmer mit einigen Möbeln<br />
und Blumen aus. Das von ihnen ausgelegte Fremdenbuch nennt <strong>für</strong><br />
das Jahr 1841 98 Besucher, davon viele aus dem Ausland. 1844 brachte<br />
man anläßlich der Einweihung des Goethedenkmals eine Gedenktafel<br />
am Haus an, und alljährlich zu Goethes Geburtstag wurde das Haus mit<br />
Girlanden geschmückt. Außer dem Treppenhaus und dem vorgezeigten<br />
Mansardenzimmer sahen die Räume allerdings kläglich aus. Im Erdgeschoß<br />
hatte man Läden und in den Obergeschossen Küchen eingebaut.<br />
Der Geist der bewegenden und bewegten Jahre um die Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts, der Zeit der Nationalversammlung in der Paulskirche, veränderte<br />
auch das Goethehaus. Otto Volger nämlich, 1822 in Lüneburg<br />
geboren, gelernter Wasserbauingenieur, 1856 als Lehrer am Senckenbergmuseum<br />
engagiert, rief im Schillerjahr 1859 das Freie Deutsche<br />
Hochstift ins Leben. Die Ideen von Freiheit und Einheit, die sich politisch<br />
nicht hatten verwirklichen lassen, sollten wenigstens im kulturellen Bereich<br />
umgesetzt werden. Vier Jahre später erwarb Volger <strong>für</strong> „sein“<br />
Hochstift das Goethehaus.<br />
1880 kam es zwischen Volger und den Mitgliedern des Verwaltungsrats<br />
des Stifts zu Streitigkeiten über die Annahme einer Erbschaft und wegen<br />
Volgers autoritärem Führungsstil. Der Streit eskalierte und endete<br />
schließlich 1882 mit dem völligen Ausschluß Volgers aus dem von ihm<br />
gegründeten <strong>Institut</strong>. Volger zog sich nach Bad Soden bzw. Sulzbach im<br />
Taunus zurück, wo er 1897 starb, ohne daß es noch einmal zu einer Annäherung<br />
zwischen ihm und dem Hochstift gekommen wäre.<br />
Haus Zum grünen Laub und Kochsches Stadtpalais<br />
In dem rechts neben dem Goethehaus gelegenen Haus Zum grünen<br />
Laub, Großer Hirschgraben 25, wurde noch zu Goethes Zeiten Bier gebraut.<br />
Das Haus, eines von drei Häusern, die dort am Ende der westlichen<br />
Seite des Hirschgrabens errichtet worden waren, gehörte 1716<br />
dem Bürger und Bierbrauer Philipp Bernhard Feiner. Zwischen der Familie<br />
Feiner und den Goethes wurden mehrfach Verhandlungen wegen Erweiterung<br />
und Umbau der Brauerei geführt. 1755 mußte sich Johann<br />
26
Kaspar Goethe wegen des geplanten Umbaus seines Hauses mit seinem<br />
Nachbarn J.W. Siegener, seit 1748 neuer Besitzer des Hauses Zum<br />
grünen Laub, über Einzelheiten der Bauausführung verständigen. Auch<br />
unter Siegener und seinem Nachfolger dem Bierbrauer Schumann wurde<br />
Bier gebraut. Erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Braukessel<br />
stillgelegt.<br />
Nach mehrfachem Besitzerwechsel kam das Haus 1871 an Louise und<br />
Johann Philipp Haag (Mercerie en gros) und wurde im Stil der Gründerjahre<br />
zu einem Geschäftshaus umgebaut. Als Mieter finden wir in der<br />
Folgezeit Handlungen mit Spiel- und Modewaren, eine Kunstwäscherei,<br />
einen Arzt sowie die Landwirtschaftliche Kreditkasse. 1888 erwarb die<br />
Merceriewaren-Handelsgesellschaft Gebr. Hamburg die Liegenschaft.<br />
Kurz nach 1900 ging das ehemalige Haus Zum grünen Laub in den Besitz<br />
der Stadtkämmerei über und 30 Jahre später ans Freie Deutsche<br />
Hochstift.<br />
Das folgende Haus an der Ecke zum Salzhaus wurde erst im späten 19.<br />
Jahrhundert in die Nummerierung des Großen Hirschgrabens miteinbezogen.<br />
Vorher hatte man es zu den Häusern in der Straße Am Salzhaus<br />
gezählt. Dieses Haus war 1782 <strong>für</strong> 11.300 Gulden von der Witwe Maria<br />
Elisabeth Fingerlin, der Inhaberin der Englischwollwaren- und Bankfirma<br />
Fingerlin & Schaaf, erworben worden. Maria Elisabeth Fingerlin hatte<br />
das Haus gewählt, um ihrer Tochter nahe zu sein, die mit dem Bankier<br />
Johann Friedrich Metzler verheiratet war und im Nebenhaus, dem Haus<br />
der späteren Rosenapotheke, wohnte. Die neue Besitzerin ließ sich ihr<br />
Haus im Louis-Seize-Stil umbauen. Nach ihrem Tod fiel das Haus 1804<br />
an ihren Sohn Marx Christoph Fingerlin, Teilhaber des Bankhauses<br />
Metzler. Dieser vererbte es 1815 seiner Nichte Marie Elisabeth Koch-<br />
Metzler. 1840 zog deren Sohn Robert, der Juniorchef des Handelshauses<br />
Gogel, Koch & Co. und englischer Konsul, mit seiner Frau Clotilde<br />
ein, einer geborenen Gontard, die er auf einem Ball im Palais Thurn und<br />
Taxis kennengelernt und 1833 geheiratet hatte.<br />
Clotilde Koch-Gontard (1813-1869), die von 1840 bis 1850 Hausherrin<br />
im Großen Hirschgraben 27 war, widmete sich nicht nur ihrem Ehemann<br />
und ihren vier Kindern, sondern auch der Politik. Durch Geschäftsreisen<br />
mit ihrem Mann in die Pfalz hatte sie die Vertreter des rheinischsüdwestdeutschen<br />
Liberalismus und der deutschen Einheitsbewegung<br />
kennengelernt – Heinrich von Gagern, Franz Peter Buhl, Ludwig Andreas<br />
Jordan – und sich selbst <strong>für</strong> deren Ideen begeistert. Sie stand mit ihnen<br />
im Briefwechsel und versammelte sie schließlich um sich, als 1848<br />
in der Paulskirche die Nationalversammlung tagte, deren Verhandlungen<br />
und Schicksal sie mit großem Interesse verfolgte.<br />
Clotilde war von erstaunlicher Vielseitigkeit. Sie war nicht nur sprachbegabt<br />
und gesellschaftlich gewandt, sondern besaß auch musikalisches<br />
Talent. Sie unterhielt freundschaftliche Kontakte zu vielen namhaften<br />
27
Künstlern ihrer Zeit. Zu ihren Bekannten zählten die als Schwedische<br />
Nachtigall berühmt gewordene Sängerin Jenny Lind, Felix Mendelssohn,<br />
Clara Schumann, Eduard Schmidt von der Launitz und Karl Theodor<br />
Reiffenstein. Ihr Haus war ein Sammelplatz bedeutender Persönlichkeiten.<br />
Auf ihren Empfängen und Gesellschaften waren nicht selten mehr<br />
als hundert Personen zugegen.<br />
Die Familie Koch benutzte das Haus im Großen Hirschgraben in der Regel<br />
nur als Winterquartier und wohnte ansonsten auf ihrem Landsitz an<br />
der Mainzer Landstraße. 1850 zog sie sogar ganz dorthin um. Das<br />
Stadthaus wurde 1852 <strong>für</strong> 45.000 Gulden an die Kolonialwarenhändlerin<br />
Tempel aus der Fahrgasse verkauft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
ging das Kochsche Stadtpalais wie bereits das Haus Zum grünen Laub<br />
an die Stadtkämmerei und schließlich an das Freie Deutsche Hochstift<br />
über.<br />
Der Rote Engel des Herrn Ochs von Ochsenstein<br />
Auf der östlichen Seite des Großen Hirschgrabens folgten auf das Eckhaus<br />
zur Weißadlergasse, in dem sich im 20. Jahrhundert jahrzehntelang<br />
die Bäckerei und Konditorei Gross befand, zunächst zwei schmale<br />
Häuser und dann das dem Goethehaus gegenüber gelegene Haus Zum<br />
roten Engel, besser bekannt unter dem Namen Haus Ochsenstein, Großer<br />
Hirschgraben 20 (vormals 18).<br />
Der Rote Engel existierte bereits seit 1601. Er besaß damals sogar, was<br />
<strong>für</strong> diese Seite des Hirschgrabens die Ausnahme war, einen Garten.<br />
1712 wurde der Rote Engel von dem Ratsherrn Dr. jur. Johann Christoph<br />
Ochs erworben. Ochs ließ das alte Haus abreißen und an seiner Stelle<br />
ein neues erbauen. 1717 kaufte er außerdem einen Hof hinzu, den hinteren<br />
Teil des Schwarzenberger Höfchens, das von der Westseite der Rosengasse<br />
bis in den Großen Hirschgraben reichte. Auch diese Gebäude<br />
ließ Ochs abreißen und durch einen Neubau im gleichen Stil wie der<br />
Rote Engel ersetzen, so daß jenes bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg<br />
charakteristische zweigiebelige Haus entstand. Da das Haus Roter<br />
Engel hieß, ließ Ochs es durch den damals bekannten Maler Konrad<br />
Unsinn <strong>für</strong> 34 Gulden rot anstreichen und mit Gemälden verzieren. Die<br />
Drachenköpfe aus Blech, die das Wasser von den Dächern auf die Straße<br />
leiteten, und die Knäufe der beiden Wetterfahnen wurden vergoldet.<br />
Johann Christoph Ochs (1674-1747) war seit 1704 Ratherr und 1714<br />
und 1725 Bürgermeister. In den Jahren 1726/27 und 1729/32 weilte er<br />
als Gesandter Frankfurts in Wien, wo er im Streit um die Frankfurter<br />
Verfassung verhandelte. Es galt dabei, zwischen drei Interessengruppen<br />
zu vermitteln: dem Rat der Stadt, der Bürgerschaft, die sich gegen den<br />
28
selbstherrlich regierenden und oft hochmütigen Rat aufgelehnt hatte, und<br />
dem Kaiser, der sich als oberster Herr der Stadt die letzte Entscheidungsgewalt<br />
zu sichern strebte und mit dem Einsatz eines Inspektors<br />
drohte.<br />
Großer Hirschgraben 20-28 mit Rotem Engel bzw. Haus Ochsenstein (Gasthaus Goethe-<br />
Halle) nach Norden. Vömel, 1904.<br />
29
Der erste Besuch in Wien war ein Mißerfolg. Anders der zweite: Frankfurt<br />
wurde kein kaiserlicher Kommissar vor die Nase gesetzt, und die<br />
Bürgerschaft bekam schließlich mit dem Einundfünfzigerkolleg ihre gewünschte<br />
Vertretung. 1731 wurde Ochs geadelt und hieß fortan Ochs<br />
von Ochsenstein. Zehn Jahre später wurde er Stadtschultheiß und hatte<br />
damit das Höchste erreicht, was man in der Stadtregierung werden<br />
konnte. 1747 richtete Ochs ein Abschiedsschreiben an den Rat mit der<br />
Bitte um Bewilligung einer Begräbnisstätte in der Nikolaikirche, wo er<br />
dann wenig später beigesetzt wurde.<br />
Johann Christoph Ochs war seit 1699 mit Elisabeth Clemm verheiratet.<br />
Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor, sechs Söhne und zwei Töchter.<br />
Dichtung und Wahrheit zufolge sollen seine Söhne den kleinen Goethe<br />
dazu angestiftet haben, das häusliche Geschirr auf die Straße zu werfen.<br />
Der älteste Sohn, Johann Sebastian Ochs (1700-1756), der nach dem<br />
Tod des Vaters mit zweien seiner Brüder im Roten Engel wohnen blieb,<br />
galt als Sonderling. Er hatte wie sein Vater Jura studiert. Nach dessen<br />
Tod verbat er sich in einem groben Brief an den Bürgermeister von<br />
Lersner eine etwaige Wahl in den Rat. Bei seinem Tod verfügte er, daß<br />
sein Leichnam morgens früh, in aller Stille und ohne großes Gefolge von<br />
Handwerksleuten zu Grabe getragen werden sollte. Ein grober Stilbruch<br />
in einer Stadt, die prunkvolle Beisetzungen gewohnt war. Fortan wurden<br />
Leichenbegängnisse, die auf übertriebenen Aufwand verzichteten, spöttisch<br />
Ochsenleichen genannt.<br />
In der Mitte des 18. Jahrhunderts ging der Rote Engel in den Besitz der<br />
Familie de Bary über. Die eine Hälfte des Hauses, das ehemalige<br />
Schwarzenberger Höfchen, wurde dabei abgetrennt und als selbständiges<br />
Haus geführt. In den eigentlichen Roten Engel zog im Jahre 1786<br />
die Firma in Wechsel, Kommission und Spedition Johann Mertens, deren<br />
Teilhaber und seit 1798 Alleininhaber Johann David de Bary war. Die<br />
Familie de Bary und ihre Nachkommen bewohnten das Haus noch in der<br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Später befand sich im Roten Engel<br />
das Gasthaus Goethe-Halle bzw. Zum Ochsenstein.<br />
Von der Goldfedergasse bis zur Münzgasse<br />
An das Haus Ochsenstein schlossen sich nach Süden die Häuser Großer<br />
Hirschgraben 18 und 16 (vormals 16 und 14) an. Dabei war das<br />
Haus Nr. 18 durch eine Toreinfahrt mit sich anschließenden Hinterhof<br />
vom Haus Ochsenstein getrennt. Im Haus Nr. 16, dem Eckhaus zur<br />
Goldfedergasse, betrieb die Familie Siedentopf zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
eine Kupferdruckerei. Fünfzig Jahre später war die Druckerei<br />
Siedentopf in den Großen Hirschgraben 5 umgezogen und das Haus in<br />
zwei Hälften geteilt worden, von denen die eine dem Möbelfabrikanten<br />
30
Fritz Eck gehörte. Nach der Geschäftsaufgabe Ecks zog 1891 die Möbelhandlung<br />
Heinrich Hasenpflug in dem Haus ein. Zu den Mietern des<br />
Hauses gehörte seit etwa 1911 auch der Möbel- und Rahmenvergolder<br />
Heinrich Hiebel.<br />
Hiebel, seine Frau Anna Maria und seine beiden Töchter waren um das<br />
Jahr 1909 nach Frankfurt gekommen und hatten sich vor ihrem Umzug<br />
in den Hirschgraben zunächst in der Rotkreuzgasse niedergelassen. Eine<br />
der Töchter Hiebels, Henriette, geboren am 24. Februar 1905 in<br />
Mauer bei Wien, war musisch veranlagt. Sie ließ sich beim Ballett des<br />
Frankfurter Opernhauses ausbilden und trat bereits als achtjährige im<br />
Kinderballett auf. Ihren ersten größeren Erfolg hatte sie in Dresden, dann<br />
wurde sie Revuetänzerin in Paris, Stockholm, London und Berlin. Auch<br />
im Kino war sie präsent. Sie erschien in Stummfilmen wie Der Mann mit<br />
dem Monokel (Schweden, 1925) oder Zwei rote Rosen (Deutschland,<br />
1928). In den 30er Jahren wirkte sie als Tänzerin in acht Tonfilmen mit.<br />
Unter ihrem Künstlernamen La Jana war sie nun in aller Munde. Es entstanden<br />
Filme wie Die Warschauer Zitadelle, Der Tiger von Eschnapur<br />
und Das indische Grabmal. Wenige Tage vor der Uraufführung des Films<br />
Der Stern von Rio ist Henriette Hiebel am 13. März 1940 an den Folgen<br />
einer Lungenentzündung in Berlin gestorben.<br />
Zwischen Goldfedergasse und Schüppengasse, der späteren Bethmannstraße,<br />
folgten die Häuser Großer Hirschgraben 12, 10, 8 und 6.<br />
Die Nummer 14 wurde in der Zählung seit Ende des 19. Jahrhunderts<br />
ausgelassen.<br />
Das Haus Großer Hirschgraben 12, gelegentlich auch Haus Zum Apfel<br />
oder Zum großen goldenen Apfel genannt, gehörte im 18. Jahrhundert<br />
dem Handelsmann Jakob Friedrich du Fay. Dieser verkaufte es 1758 an<br />
den Handelsmann und Bankier Jakob Philipp Leerse. Leerse ließ das<br />
Haus abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Im späten 19. Jahrhundert<br />
gehörte das Haus Zum Apfel der Bank <strong>für</strong> Handel und Industrie,<br />
wurde geteilt und schließlich von dem Möbelfabrikanten Wilhelm Lehr<br />
erworben, dem Besitzer des Nachbarhauses Großer Hirschgraben 10.<br />
Im Großen Hirschgraben 12 erblickte 1911 als jüngster Sohn des<br />
Schneiders Georg Gradel und seiner Ehefrau Margarethe Kurt Gradel<br />
das Licht der Welt. Kurt Gradel spielte bei Richard Weichert am Frankfurter<br />
Schauspielhaus die Kinderrollen, den Sohn des Tell, den Sohn des<br />
Götz und andere Söhne. Ansonsten ergriff er zunächst einmal einen soliden<br />
Handwerksberuf und wurde Dachdecker. Als er einmal während<br />
der Arbeit auf einem Haus in der Taunusstraße das Wolgalied ertönen<br />
ließ, hörte ihn der Produzent einer dort ansässigen Schallplattenfirma<br />
und schickte ihn zum Vorsingen ins Hochsche Konservatorium. Bei K.E.<br />
Jaroschek wurde er dann zum Sänger ausgebildet. Im September 1937<br />
stellte er sich zum ersten Mal dem Publikum vor. Elf Jahre lang sang<br />
Kurt Gradel an den Opernbühnen vieler deutscher Städte die Partien des<br />
31
lyrischen Tenors – doch nie in Frankfurt. Die Frankfurter konnten seine<br />
Stimme nur im Radio hören. 1948 kehrte Gradel der Bühne den Rücken<br />
und eröffnete in seiner Heimatstadt eine Dachdecker- und Gerüstbaufirma.<br />
Er starb 1983.<br />
Das Haus Großer Hirschgraben 8, das Haus Zur grünen Hand, wird<br />
1602 erstmals urkundlich erwähnt. 1677 zog hier der Kunst- und Schönfärber<br />
Gottfried Klotz aus Reichenbach im Vogtland ein. Sein Enkel Ehrenfried<br />
heiratete später die bereits an anderer Stelle erwähnte Madgalena<br />
Margaretha Burgk. Das Eckhaus zur Schüppengasse bzw. späteren<br />
Bethmannstraße, das Kleine Schöneck, Großer Hirschgraben 6, gehörte<br />
am Ausgang des 17. Jahrhunderts dem Weißbinder Johann Martin<br />
Spättle. Im 19. Jahrhundert zählte der Kaufmann Karl Friedrich Behagel,<br />
der Miteigentümer der bekannten Porzellanwarenhandlung, zu seinen<br />
Mietern. Um 1890 wurde das Haus von Karl Groll erworben, der dort das<br />
Hotel Zu den drei Kaisern einrichtete.<br />
Das Gebäude zwischen Schüppengasse und Münzgasse, die sogenannte<br />
Schappelburg bestand schon lange, bevor man den alten Hirschgraben<br />
zugeschüttet hatte. Es gehörte also gar nicht zur Ende des 16.<br />
Jahrhunderts entstandenen Straße Großer Hirschgraben, wurde jedoch<br />
in neuerer Zeit stets dazugezählt und erhielt auch die Nummern 4 und 2.<br />
In das an die Schappelburg angrenzende Haus Zum Turm zog im 16.<br />
Jahrhundert die städtische Münzstätte ein, die der vorbeiführenden Straße<br />
ihren Namen, Münzgasse, gab. Die Schappelburg, im ausgehenden<br />
18. und im 19. Jahrhundert lange im Besitz der Gebrüder Stern, die auf<br />
der gegenüberliegenden Straßenseite an der Ecke zur Weißfrauenstraße<br />
ihre Tabakfabrik betrieben, wurde wie der Weiße Hirsch ein Opfer der<br />
Straßendurchbrüche und kurz nach der Jahrhundertwende abgerissen.<br />
Auf dem verbliebenen, sehr viel schmaleren Grundstück, das nun zur<br />
Bethmannstraße gerechnet wurde, entstand der Bau der Ortskrankenkasse.<br />
Die Hausnummer Großer Hirschgraben 2 und 4 entfielen seither.<br />
Zerstörung und Wiederaufbau<br />
Im Zweiten Weltkrieg blieb Frankfurt zunächst von Bombardierungen<br />
weitgehend verschont. Vom Herbst 1943 an begannen Zahl und Schwere<br />
der Luftangriffe dann jedoch schnell zuzunehmen. Immer häufiger<br />
wurden die Frankfurter durch Sirenengeheul aufgeschreckt und mußten<br />
in die Bunker und Schutzräume flüchten. Die schwersten Angriffe erfolgten<br />
schließlich im März 1944. Bei dem ersten dieser Angriffe wurden<br />
421 Menschen getötet und zahlreiche Gebäude zerstört oder schwer beschädigt.<br />
Auch im Hirschgraben waren Bomben niedergegangen, hatten<br />
jedoch nur begrenzten Schaden angerichtet. Trotzdem sah man weiteren<br />
Luftangriffe mit Sorge entgegen. Dies galt auch <strong>für</strong> die wenigen noch<br />
32
Großer Hirschgraben 23-27 mit zerstörtem Goethehaus nach Norden. Wolff-Tritschler, 1946.<br />
verbliebenen Bewohner des Hauses Großer Hirschgraben 15. Als am<br />
Abend des 22. März 1944 die Sirenen Voralarm gaben, warteten sie<br />
nicht bis zum Hauptalarm, sondern flüchteten alsbald in die schützenden<br />
Kellergewölbe. Man ahnte das drohende Unheil. Doch wie schnell und<br />
33
schrecklich es kommen und sich ausbreiten sollte, vermochte man sich<br />
nicht vorzustellen. Der folgende fünfzigminütige Angriff der 1.000 Flugzeuge,<br />
die 1.200.000 Stabbrandbomben abwarfen, vernichtete über<br />
4.000 Wohngebäude und beschädigte annähernd 6.000 mehr oder weniger<br />
schwer. 120.000 Menschen wurden obdachlos, 1.001 getötet.<br />
Die Bewohner des Hauses Großer Hirschgraben 15 überlebten. Auch ihr<br />
Haus stand noch. Als der Angriff vorüber war, kletterte man auf den<br />
Dachboden. Von dort aus bot sich ein erschütterndes Bild. Ringsum loderten<br />
Flammen, die sich, vom starken Westwind geschürt, zu einem<br />
einzigen Feuer zu vereinen schienen. Man mußte zusehen, wie große<br />
Teile der Frankfurter Alt- und Innenstadt in einem Inferno untergingen.<br />
Auch das eigene Haus fing nun Feuer und brannte in wenigen Stunden<br />
völlig aus. Die Häuser und Straßenzüge, die der Feuersturm in dieser<br />
Nacht verschonte, wurden zwei Tage später durch einen weiteren Luftangriff<br />
in Schutt und Asche gelegt.<br />
Die Luftangriffe vom 18., 22. und 24. März 1944 verwandelten die einstige<br />
Wahl- und Krönungsstadt der deutschen Könige und Kaiser in eine<br />
Trümmerwüste. Wer kurz nach Kriegsende durch die Stadt zog, mußte<br />
über riesige Schuttberge klettern. Kaum eine Straße in der Alt- und Innenstadt,<br />
die nicht unter zusammengestürzten Häusern begraben war.<br />
Auch im Areal rund um den Großen Hirschgraben bot sich ein Bild des<br />
Schreckens. Von all den Häusern mit ihrer reichen Geschichte, all den<br />
Stätten, mit denen sich so viele Erinnerungen verbanden, waren selten<br />
mehr als ausgebrannte Ruinen übriggeblieben. Für die kulturelle Welt<br />
war die Zerstörung von Goethes Geburtshaus besonders schmerzlich.<br />
Das Goethehaus war bereits am 26. November 1943 leicht beschädigt<br />
worden. Ein Brand im zweiten Stock am 18. März 1944 hatte gerade<br />
noch gelöscht werden können. Doch am 22. März 1944 war eine Rettung<br />
nicht mehr möglich gewesen. Das Haus fing Feuer und brannte nieder,<br />
zwar nicht so lichterloh wie der angrenzende Museumsbau, sondern –<br />
weil es zu feucht und bereits von allem leicht Brennbaren befreit worden<br />
war – nur langsam, dennoch unerbittlich.<br />
Es dauerte eine Weile, bis sich das Leben nach dem Krieg wieder zu<br />
normalisieren begann. Da viele Häuser und Wohnungen zerstört oder<br />
unbewohnbar geworden waren, richteten sich die Frankfurter in den Ruinen<br />
ein. Man lernte, mit dem Mangel zu leben. Und bevor an einen Wiederaufbau<br />
zu denken war, mußten zunächst einmal die Straßen freigeräumt,<br />
einsturzgefährdete Ruinen abgerissen und die Unmengen von<br />
Schutt beiseite geschafft werden. Erste Aufräumungsarbeiten hatte es in<br />
der Stadt bereits unmittelbar nach Kriegsende gegeben. Die planmäßige<br />
und durchgreifende Trümmerbeseitigung begann jedoch erst 1946 mit<br />
einer publikumswirksam inszenierten Aktion des Magistrats und der<br />
Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Walter Kolb auf dem Römerberg.<br />
Auch der Große Hirschgraben wurde nach und nach enttrümmert.<br />
34
Zwischen den Ruinen regte sich erstes Leben. Der Wiederaufbau wurde<br />
angepackt.<br />
Zu den Wiederaufbauleistungen mit symbolischer Bedeutung zählte neben<br />
dem Wiederaufbau der Paulskirche vor allem auch der Wiederaufbau<br />
des Goethehauses. So wie die Paulskirche <strong>für</strong> die Anfänge der<br />
Wiederaufbau des Goethehauses, Richtfest. 1949.<br />
35
deutschen Demokratie stand, so stand das Goethehaus <strong>für</strong> die deutsche<br />
Kultur. Beide verwiesen darauf, daß es ein Deutschland jenseits des<br />
nationalsozialistischen Terrors gab. Gegen den Wiederaufbau des Goethehauses<br />
regte sich jedoch auch Widerstand. Bildende Künstler sprachen<br />
im Hinblick auf die geplante originalgetreue Rekonstruktion von einer<br />
Imitation. Andere meinten, daß der Ruhm und die Bedeutung eines<br />
Dichters nicht an seinem Geburtshaus festzumachen wären, sondern<br />
von seinem Werk ausgingen. Doch gerade die Schriftsteller waren es,<br />
die sich <strong>für</strong> einen Wiederaufbau ausprachen und den Frankfurter Magistrat<br />
unter Oberbürgermeister Walter Kolb in diesem Vorhaben unterstützten.<br />
Am 5. Juli 1947 wurde der Grundstein zur Rekonstruktion des Hauses<br />
gelegt. Bei der Grundsteinlegung sagte Kolb: „Niemand denkt daran, das<br />
alte Frankfurt wieder aufzubauen. Eine neue Zeit wird <strong>für</strong> eine neue<br />
Stadt neue Formen zu suchen und zu finden haben. Für das Haus im<br />
Hirschgraben aber gibt es keine neue Form!“ Neben zahlreichen anderen<br />
Gästen aus dem In- und Ausland, darunter vielen Jugenddelegationen,<br />
war auch der französische Schriftsteller André Gide an der Grundsteinlegung<br />
beteiligt, „stolz darauf, <strong>für</strong> Frankreich und die französische<br />
Jugend an der Feier dieses Aufbaus teilhaben zu können!“ Nach knapp<br />
zweijähriger Bauzeit konnte am 21. März 1949 Richtfest gefeiert und am<br />
Tag darauf im Gartensaal und in den schon fertiggestellten Räumen des<br />
Hochstifts eine Ausstellung zum 200. Geburtstag Goethes eröffnet werden.<br />
Am 10. Mai 1951 fand im Beisein des Bundespräsidenten Heuss und der<br />
Hohen Kommissare der besetzten Zonen die festliche Wiedereröffnung<br />
von Goethehaus und Goethemuseum statt, an der Thomas Mann, Hermann<br />
Hesse, Albert Schweitzer, Thornton Wilder und die ganze literarische<br />
Welt herzlichen Anteil nahmen. Am 15. Mai 1951 schrieb die<br />
Frankfurter Rundschau: „Am Donnerstag wurde das getreue Abbild von<br />
Goethes Geburtshaus eingeweiht und am Montagmorgen (Pfingsten)<br />
hatte die Zahl der Besucher die 2.000 bereits überschritten. Die attraktive<br />
Wirkung der Kopie steht hinter der des Originals nicht zurück.“<br />
Auch an anderer Stelle im Großen Hirschgraben wurde angepackt. Nach<br />
Kriegsende waren die Mitarbeiter der Firma Farben Jenisch <strong>für</strong> vier Monate<br />
die einzigen Bewohner der Straße. Eigenhändig begannen sie, auf<br />
dem Grundstück Großer Hirschgraben 15 die Trümmer zu beseitigen. In<br />
diesen Jahren führte Heinrich Josef Imig, Teilhaber des Farbenhauses,<br />
das Unternehmen allein. Der Firmengründer Hans Jenisch starb 1947,<br />
dessen Sohn war 1941 verstorben und sein Enkel, Hans Carl Jenisch,<br />
der heutige Inhaber, in Gefangenschaft. Zunächst einmal richtete man<br />
sich im Keller des Hauses ein. Hier befanden sich dicht nebeneinander<br />
Lager, Büro, Verkauf, Fabrikation und Küche. Auf Trampelpfaden fand<br />
man hinter Schuttbergen die mit Eisenplatten verschlossene Kellertreppe<br />
36
des Nachbarhauses Großer Hirschgraben 11, von dem aus man in die<br />
eigenen Gewölbe gelangte. Nachts wurde alles mit Trümmersteinen getarnt.<br />
So bald als möglich wurde der Verkauf wieder aufgenommen, sofern<br />
es denn überhaupt etwas zu verkaufen gab. Der Warennachschub<br />
wurde durch Zonengrenzen zusätzlich erschwert.<br />
Der Wiederaufbau der Firma Farben Jenisch wurde von Heinrich Josef<br />
Imig und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen rasch vorangetrieben.<br />
Zunächst einmal räumte man mit Hilfe einer Lore, einem Kippwagen auf<br />
Schienen, und einem Förderband, die man von Philipp Holzmann bzw.<br />
Wayss-Freytag geliehen hatte, den Schutt weg. Dabei wurden noch<br />
brauchbare Steine abgeklopft und ebenso wie alte Eisenträger, die sich<br />
noch geradebiegen ließen, <strong>für</strong> den Wiederaufbau verwandt. So entstand<br />
in wenigen Monaten ein neues Geschäfts- und Lagerhaus. 1947 konnte<br />
hier das erste Richtfest im Großen Hirschgraben nach dem Krieg gefeiert<br />
werden.<br />
Überall begann sich nun neues Leben zu regen. Im Eckhaus Großer<br />
Hirschgraben 5/Bethmannstraße 21 wurde das Erdgeschoß wieder hergerichtet<br />
und zu einem Vergnügungslokal, dem Sport Café, ausgebaut,<br />
das sich schnell zu einem Treffpunkt der Halb- und Unterwelt entwickelte.<br />
Auf dem Trümmergrundstück Großer Hirschgraben 9 entstand vorübergehend<br />
eine Holzhütte, in der eine Blondine mittleren Alters ein Vergnügungslokal<br />
der besonderen Art unterhielt.<br />
Obwohl der Krieg nahezu alle Häuser im Großen Hirschgraben dem<br />
Erdboden gleichgemacht und damit das Band zur Vergangenheit zerschnitten<br />
hatte, blieb doch der alte Verlauf der Straße noch einige Jahre<br />
zu erkennen. Erst mit Anlage der Berliner Straße Anfang der 50 Jahre<br />
ging auch dieser letzte Hinweis auf die Zeit vor der Zerstörung verloren.<br />
Der Große Hirschgraben begann nun auf der westlichen Seite mit der<br />
Hausnummer 15 und auf der östlichen Seite mit der Hausnummer 20.<br />
Die Grundstücke Großer Hirschgraben 1-11 und 6-18 gingen beim Straßenneubau<br />
entweder gänzlich unter oder wurden nunmehr zur neuen<br />
Straße gezählt. Der Blick von der Berliner Straße in den übriggebliebenen<br />
Teil des Großen Hirschgrabens wurde zudem 1970 durch den Neubau<br />
des Jenisch-Hauses verstellt, das weit über den alten Gehsteig des<br />
Hirschgrabens hinausragte.<br />
Nach der Wiedereröffnung des Goethehauses wurden auch die Grundstücke<br />
in der Nachbarschaft in rascher Folge bebaut. Im Jahre 1953<br />
wurde das Haus des Deutschen Buchhandels, Großer Hirschgraben 17-<br />
19, eingeweiht, das der Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändlerverbände<br />
bezog. Dieser Verein war 1825 als Börsenverein der<br />
Deutschen Buchhändler in Leipzig gegründet worden. Damals hatte sich<br />
der Brauch entwickelt, daß die Buchhändler jährlich in der Woche Cantate<br />
zur Abrechnung, zur Börse gingen. In Erinnerung an diese Tradition<br />
wurde daher auch in dem Haus Großer Hirschgraben 19 bzw. in dem<br />
37
später angefügten Haus Großer Hirschgraben 21 ein Cantatesaal eingerichtet.<br />
Etliche Jahre später hat hier das von Liesel Christ gegründete<br />
Volkstheater sein Domizil bezogen.<br />
Großer Hirschgraben 17-27 nach Norden. Kirschner, 1975.<br />
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite errichtete der Volks-, Bauund<br />
Sparverein den langgezogenen Bau Großer Hirschgraben 20-26, in<br />
den die Gaststätte Zum Ochsenstein einzog, die jedoch schon bald in<br />
Tessiner Stuben und danach in St. John´s Inn umbenannt wurde. In den<br />
Räumen neben der Gaststätte befindet sich heute die Büchergilde Gutenberg.<br />
Zur Berliner Straße hin folgen auf den Gebäudekomplex des<br />
Bauvereins die Graf-de-Thoranc-Passage und der eingeschossige<br />
Flachbau der Firma Landkarten-Schwarz. Den Abschluß auf der östlichen<br />
Straßenseite bildet auf der ehemaligen Liegenschaft Großer<br />
Hirschgraben 16 das Büro- und Geschäftshaus Berliner Straße 72. Mit<br />
der Errichtung des Jenisch-Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenecke<br />
wurde 1970 die letzte Baulücke im Großen Hirschgraben geschlossen.<br />
Hauptattraktion des Großen Hirschgrabens ist seit seinem Wiederaufbau<br />
das Goethehaus mit dem angeschlossenen Goethemuseum. Der Umbau<br />
des Museums vor einigen Jahren ist nicht bei allen Frankfurter auf Gegenliebe<br />
gestoßen. Vielen schien das ganze Unternehmen zu moderni-<br />
38
stisch. Man mochte sich nicht so recht anfreunden mit dem Nebeneinander<br />
von Alt und Neu, das da entstand. Dabei übersah man häufig, daß<br />
das Goethehaus selbst nichts anderes war und ist als eine detailgetreue<br />
Reproduktion des im Krieg auf immer vernichteten Originals. Vergessen<br />
wurde auch, daß selbst dieses Original der Vorkriegszeit – von seinem<br />
Äußeren einmal abgesehen – bereits ein Konstrukt war, das im ausgehenden<br />
19. Jahrhundert nach Jahrzehnten anderweitiger Nutzung des<br />
Hauses mühsam hatte wiederhergestellt werden müssen.<br />
Die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs, die Anlage der Berliner Straße<br />
und der Wiederaufbau der 50er Jahre haben das Gesicht des Großen<br />
Hirschgraben in einer Weise verändert, daß es einem heutigen Beobachter<br />
schwerfällt, sich vorzustellen, wie die Straße früher ausgesehen<br />
hat. Die einstige Wohn- und Geschäftsstraße mit ihrer in Jahrhunderten<br />
gewachsenen Bausubstanz, ihren markanten Einzelbauten hat sich in<br />
eine Allerweltsstraße verwandelt, die kaum noch zum Verweilen einlädt.<br />
Hieran haben weder der Umbau des Goethemuseums noch die Neugestaltung<br />
der Straße seit Mitte der 90er Jahre etwas ändern können. Häufig<br />
wirkt die Straße wie ausgestorben. Wie vielerorts in der Innenstadt<br />
findet man in der Straße kaum noch Wohnungen. Wer die Namen der<br />
Mieter in den einzelnen Häusern liest, stößt fast ausnahmslos auf die<br />
Namen von Rechtsanwälten, Ärzten und Firmen. Von den vielen Geschäfte<br />
(Juwelen Klebe, Optiker Weiß, Zigarren Firschung & Opitz, Kolonialwarenhandlung<br />
Fröhling, Metzgerei Remmele, Café Maurer, Café<br />
Hofmann, Feinkost-Härdtner, Konditorei Gross u.v.m.), die hier in der<br />
Vergangenheit zu finden waren, ist kaum etwas übriggeblieben. Nur die<br />
Bäckerei und Konditorei mit angeschlossenem Café an der Ecke zur<br />
Weißadlergasse, ein Nachfolgeunternehmen der traditionsreichen Konditorei<br />
Gross, die Büchergilde Gutenberg und die Firma Landkarten-<br />
Schwarz ziehen noch Kunden an. Von den Unternehmen der Vorkriegszeit<br />
hat sich nur die Firma Farben Jenisch erhalten, deren Haupteingang<br />
jedoch nunmehr zur Berliner Straße hin liegt. Folgerichtig wird ihre<br />
Adresse auch nicht mehr Großer Hirschgraben 15, sondern mit Berliner<br />
Straße 72 angegeben.<br />
Rückseite: Großer Hirschgraben 15-25 mit Goethehaus, Goethemuseum und Jenisch-Haus<br />
nach Süden. Schmidt, 2000.<br />
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<strong>GROSSER</strong> <strong>HIRSCHGRABEN</strong><br />
Geschichte und Geschichten einer Straße<br />
25. Januar bis 2. April 2000<br />
<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtgeschichte</strong><br />
Karmeliterkloster – Dormitorium<br />
Münzgasse 9, 60311 Frankfurt am Main<br />
Der Eintritt ist frei.<br />
Öffnungszeiten:<br />
Mo – Fr 8.30 – 17 Uhr, Sa & So 10 – 17 Uhr<br />
Ausstellung und Begleitheft basieren auf der Broschüre von<br />
Hans-Otto Schembs<br />
„Großer Hirschgraben. Vergangenheit einer Frankfurter Straße.<br />
Herausgegeben von der Firma Farben Jenisch aus Anlaß ihres<br />
75jährigen Geschäftsjubiläums 1979“ und einer von<br />
Hans Carl Jenisch<br />
1989 zusammengestellten Ausstellung zum gleichen Thema.<br />
Impressum<br />
© <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtgeschichte</strong> Frankfurt am Main 2000.<br />
Text: Hans-Otto Schembs, Helmut Nordmeyer.<br />
Gestaltung, Redaktion: Helmut Nordmeyer.<br />
Illustrationen/Fotos: <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Stadtgeschichte</strong>, HMF.<br />
Repros: Michael Schmidt.<br />
Druck: W. Kramer & Co., Druckerei GmbH,<br />
Frankfurt am Main.<br />
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