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Konrad Lorenz 1963 Die Hoffnung auf Einsicht in das Wirken der ...

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<strong>Konrad</strong> <strong>Lorenz</strong> <strong>1963</strong><strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> NaturIn: K. Jaspers (Hrsg.) <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong>en unserer Zeit. München: Piper. pp. 143-159.[OCR by <strong>Konrad</strong> <strong>Lorenz</strong> Haus Altenberg – http://klha.at]Seitenumbrüche und -zahlen wie im Orig<strong>in</strong>al.


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 143 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> NaturKann die nach Ursachen forschende Naturwissenschaft etwas dazu beitragen, dieMenschheit aus den schweren Gefahren zu retten, <strong>in</strong> denen sie heute so offensichtlichschwebt? Man wirft <strong>der</strong> Wissenschaft vor, dem Menschen ke<strong>in</strong> Glück, son<strong>der</strong>n nurUnglück gebracht zu haben. Sche<strong>in</strong>bar mit Recht, denn sie war es ja zweifellos, die ihnlehrte, <strong>das</strong> Atom zu spalten. In Wirklichkeit aber liegt <strong>das</strong> Übel nicht daran, daß uns dieNaturforschung zu viel Macht über unsere äußere Umwelt verliehen hat, son<strong>der</strong>n daran,daß sie uns - wenigstens bisher - zu wenig Macht über uns selbst gegeben hat. Derklügste Befehl, den je e<strong>in</strong> weiser Mann den Menschen gegeben hat, war <strong>das</strong> berühmte»Erkenne dich selbst« des Sokrates. Es ist deshalb bisher ungehört verhallt, weilgewisse allgeme<strong>in</strong> verbreitete psychologische Reaktionen des Menschen ihm zweiGrundtatsachen unannehmbar machen. <strong>Die</strong> erste davon ist die ursächliche Bestimmtheitunseres eigenen Handelns, die - zwar nur fälschlicherweise, aber doch sehr schmerzlich- mit <strong>der</strong> Existenz unseres freien Willens unvere<strong>in</strong>bar sche<strong>in</strong>t. <strong>Die</strong> zweite ist <strong>das</strong>historische stammesgeschichtliche Gewordense<strong>in</strong> des Menschen, dessen Anerkennungdie für viele offenbar sehr bittere <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> mit sich br<strong>in</strong>gt, daß auch <strong>der</strong>Erkenntnisapparat des Menschen, die Gesetze se<strong>in</strong>es Denkens und Fühlens, nichtsabsolut und a priori Gegebenes seien. Außerdem schließt dies jene an<strong>der</strong>e <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong>sich, daß unser stammesgeschichtliches


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 144 Werden die Stufe des anthropoiden Affen durchl<strong>auf</strong>en hat. Und <strong>das</strong> treibt bekanntlichviele, sonst sehr vernünftige Bürger <strong>auf</strong> die Barrikaden. Der stark affektbetonteWi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> meisten Menschen gegen die erste <strong>der</strong> beiden Grundtatsachen entspr<strong>in</strong>gtsicher dem alten idealistischen Irrtum, daß etwas ursächlich Erklärbaresnotwendigerweise jedes Wertes und vor allem je<strong>der</strong> höheren Zielsetzung entbehre.<strong>Die</strong>ser Irrtum gebar, wie falsche Dogmen es zu tun pflegen, e<strong>in</strong>e ganze Reihe vonsogenannten »Ismen«, darunter den Vitalismus, <strong>der</strong> es ablehnt, auch nur den Versuchzur physikalischchemischen Erklärung von Lebensvorgängen zu machen. Es ist hiernicht <strong>der</strong> Ort, <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Kritik des Vitalismus, <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Diskussion des freien Willenso<strong>der</strong> gar des Leib-Seele-Problems e<strong>in</strong>zugehen. Dagegen halte ich e<strong>in</strong>e Ehrenrettung desNaturforschers für nötig. We<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e unermüdliche Suche nach Ursachen, noch se<strong>in</strong>unerschütterlicher Glaube an die natürliche Erklärbarbeit schlechterd<strong>in</strong>gs aller D<strong>in</strong>ge,bedeutet e<strong>in</strong> Bekenntnis zu wertbl<strong>in</strong>dem Materialismus. Beides ist durchaus vere<strong>in</strong>barmit dem Streben nach höchsten Zielen. Das wahre Verhältnis zwischen f<strong>in</strong>aler undkausaler Naturbetrachtung pflege ich an folgendem Gleichnis me<strong>in</strong>en Studenten zuillustrieren: Ich fahre <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em guten alten Wagen über Land, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fernen Stadte<strong>in</strong>en Vortrag zu halten; ich schwelge <strong>in</strong> Betrachtungen darüber, wie zweckmäßig me<strong>in</strong>Auto doch konstruiert sei und wie schön se<strong>in</strong> Bau den Zielen dient, die me<strong>in</strong>eVortragsreise verfolgt. Da niest <strong>der</strong> Motor und bleibt stehen. In diesem Augenblickwerde ich schmerzlichst <strong>in</strong>ne werden, daß die hohen Ziele me<strong>in</strong>er Reise <strong>das</strong> Auto nichtfahren machen, daß die F<strong>in</strong>alität nicht <strong>auf</strong> Zug beanspruchbar ist. Daß ich unbed<strong>in</strong>gtnach jener Stadt soll, ja muß, überbrückt nicht die kle<strong>in</strong>ste Lücke <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kette desnatürlichen Geschehens, <strong>das</strong> me<strong>in</strong>en uralten Mercedes vorwärtstreibt, und ich werde gutdaran tun, <strong>das</strong> Ziel me<strong>in</strong>er Reise für den Augenblick völlig zu vergessen, um michausschließlich <strong>auf</strong> die Ursachenkette <strong>der</strong> Motorfunktion zu konzentrieren, um ihreLücke <strong>auf</strong>zuspüren. In genau <strong>der</strong>selben Lage bef<strong>in</strong>det sich <strong>auf</strong> Schritt


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 145 und Tritt die König<strong>in</strong> aller angewandten Wissenschaften, die Mediz<strong>in</strong>. Ke<strong>in</strong>ganzmachen<strong>der</strong> Faktor, ke<strong>in</strong> Elan vital, ke<strong>in</strong>e noch so wichtigen unerfülltenLebenspflichten und Leistungen retten den armen Kranken, <strong>in</strong> dessen Wurmfortsatz e<strong>in</strong>eEntzündung ausgebrochen ist. Aber <strong>der</strong> jüngste und unerfahrenste Operationszögl<strong>in</strong>g<strong>der</strong> Chirurgischen Kl<strong>in</strong>ik kann <strong>das</strong>, sofern er kausale <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> die Natur <strong>der</strong>Erkrankung besitzt. Es kann unmöglich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß <strong>auf</strong> unsere E<strong>in</strong>schätzung desWertes haben, den wir dem Patienten als Mann, Familienvater o<strong>der</strong> großemWissenschaftler o<strong>der</strong> Künstler und unentbehrlichem Glied <strong>der</strong> menschlichenGesellschaft zuerkennen, wenn wir e<strong>in</strong>gestehen, daß er an Bauchfellentzündung stirbtund zu e<strong>in</strong>em wertlosen Leichnam wird, wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ursachenverkettung se<strong>in</strong>erVerdauung e<strong>in</strong>e Unterbrechung e<strong>in</strong>tritt. Wenn wir es gelernt haben, e<strong>in</strong>e Appendizitismit Erfolg zu kurieren, so verdanken wir dies nicht zuletzt dem Umstand, daß wir dieLeistungen unseres Darmtraktes ohne Scheuklappen zu betrachten und daher auchursächlich zu verstehen imstande s<strong>in</strong>d, während dies bei den Leistungen unseresGehirnes, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei den stark gefühlsbetonten Funktionen unserer sozialenInst<strong>in</strong>kte, durch die schon erwähnten psychologischen Hemmungen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird.Überall dort, wo Leistungen unseres zentralen Nervensystems mit subjektivenErsche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>hergehen, stellt sich <strong>der</strong> Selbsterkenntnis als schier unüberw<strong>in</strong>dlichesH<strong>in</strong><strong>der</strong>nis unser Stolz mit all se<strong>in</strong>en affektbesetzten Wi<strong>der</strong>ständen <strong>in</strong> den Weg undleugnet verbissen, daß irgend etwas, was nur im entferntesten mit unseremhochgeschätzten Innenleben zu tun hat, den Gesetzen natürlicher Verursachungunterworfen se<strong>in</strong> könne. Wie wir an den Beispielen <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> soebengesehen haben, ist es nur die <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> kausale Zusammenhänge, die uns die Machtverleiht, ursächlich verbundene Ketten von Vorgängen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e von uns gewünschteRichtung zu lenken, beziehungsweise diese Richtung wie<strong>der</strong> herzustellen, wenn etwasim buchstäblichen S<strong>in</strong>ne des Wortes schiefgegangen ist. Schon daß ich me<strong>in</strong>en Wagenwie<strong>der</strong> zum L<strong>auf</strong>en br<strong>in</strong>ge, wenn ich ohne diese <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong>


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 146 zufallsverteilte Maßnahmen treffe, ist außerordentlich unwahrsche<strong>in</strong>lich, und dieseUnwahrsche<strong>in</strong>lichkeit steigt <strong>in</strong> geometrischer Progression mit <strong>der</strong> Komplikation desSystems, <strong>das</strong> gestört ist und dessen Störung wir zu beseitigen trachten. Das komplexesteSystemganze aber, <strong>das</strong> es <strong>auf</strong> unserem Planeten überhaupt gibt und je gegeben hat, istdie menschliche Gesellschaft; daß dieses System im gegenwärtigen Zeitpunkt bis an denRand <strong>der</strong> Vernichtung gestört ist, wird ke<strong>in</strong> Vernünftiger leugnen. <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong>e<strong>in</strong>e mögliche Reparatur dieses stockenden Rä<strong>der</strong>werkes hängt ausschließlich anunserer Fähigkeit, den Befehl des Sokrates zu befolgen und uns selbst <strong>in</strong> echterHumilitas als Teile des natürlichen Geschehens im All zu erkennen. Nur so können wirhoffen, die Ursachen <strong>der</strong> Störung zu durchschauen und diese zu beheben. Allesnaturwissenschaftliche Erkenntnisstreben hat letzten Endes diesen S<strong>in</strong>n. Es wäres<strong>in</strong>nlos, wenn die Menschen ke<strong>in</strong>e Werte kennten und nicht nach hohen Zielen strebten.Doch würde ohne <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> ursächliche Zusammenhänge jedes <strong>der</strong>artige Streben, undwäre es vom besten und edelsten Willen getragen, jeglicher Macht entbehren, <strong>das</strong>Weltgeschehen nach jenen Zielen h<strong>in</strong>zulenken. Ursachenbezogene und zweckbezogeneNaturbetrachtung s<strong>in</strong>d also nicht nur ke<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>sprüche, son<strong>der</strong>n überhaupt nurmite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>nvoll. Nun steht 1. die Erforschung <strong>der</strong> Inst<strong>in</strong>kte, <strong>der</strong> angeborenenTriebe, im Zentrum des Interesses mo<strong>der</strong>ner Verhaltensphysiologie, 2. aber bedeutet e<strong>in</strong>Inst<strong>in</strong>kt, nämlich <strong>der</strong> Aggressionstrieb, ganz offensichtlich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten Quellen<strong>der</strong> die Menschheit heute bedrohenden Gefahren. Daher liegt die Frage nahe, ob <strong>das</strong>,was wir über die natürliche Verursachung <strong>der</strong> Aggression wissen, uns etwa dazuverhelfen kann, den aus ihr entspr<strong>in</strong>genden Gefahren zu begegnen. Viele von uns s<strong>in</strong>dgewohnt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aggression, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>traspezifischen Aggression, <strong>das</strong> heißt <strong>in</strong> dem <strong>auf</strong>den Artgenossen, <strong>auf</strong> den Mitmenschen gerichteten Angriffsverhalten, etwas an sichBöses, ja Pathologisches zu sehen. Deshalb muß ich zunächst e<strong>in</strong>mal hier feststellen,daß <strong>das</strong> Bekämpfen von Artgenossen unter natürlichen


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 147 Umständen e<strong>in</strong>em ebenso lebens- und arterhaltenden Trieb entspr<strong>in</strong>gt wieNahrungs<strong>auf</strong>nahme, Fortpflanzung o<strong>der</strong> sonst was. <strong>Die</strong> wichtigste Leistung <strong>der</strong>Aggression ist es ganz sicher, zwischen den Individuen e<strong>in</strong>er Tierart e<strong>in</strong>e abstoßendeWirkung zu erzeugen, die sie, gleichsam wie elektrische Ladungen über e<strong>in</strong>enkugelförmigen Leiter, möglichst gleichmäßig über den zur Verfügung stehendenLebensraum verteilt. So wird dessen optimale Ausnützung garantiert. E<strong>in</strong> Buchf<strong>in</strong>k o<strong>der</strong>e<strong>in</strong>e Amsel bekämpfen ja immer nur e<strong>in</strong>en Artgenossen und nicht e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, weilBuchf<strong>in</strong>k und Amsel und umgekehrt ke<strong>in</strong>e Nahrungskonkurrenten s<strong>in</strong>d. Weiterewichtige Leistungen <strong>der</strong> Aggression s<strong>in</strong>d die Auswahl <strong>der</strong> Stärksten und Besten zurFortpflanzung, <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Nachkommenschaft und nicht zuletzt die Herstellunge<strong>in</strong>er Rangordnung <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft sozialer Tiere. <strong>Die</strong>s ist beson<strong>der</strong>s beisehr lernfähigen, klugen Tieren von Wichtigkeit. Meist geht nämlich <strong>das</strong> Alter e<strong>in</strong>esTieres mit se<strong>in</strong>er Rangstufe parallel, so daß - man möchte es kaum glauben - <strong>in</strong> <strong>der</strong>Geme<strong>in</strong>schaft höherer Tiere sehr häufig die klügsten herrschen. Niemals ist unternatürlichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>das</strong> Ziel <strong>der</strong> Aggression die Vernichtung von Artgenossen,wenn auch selbstverständlich bei e<strong>in</strong>em Revier-, Rivalen- o<strong>der</strong> Rangordnungskampfe<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Horn <strong>in</strong>s Auge o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Zahn <strong>in</strong> die Halsschlaga<strong>der</strong> gehen kann.<strong>Die</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong>, daß die Aggression nur e<strong>in</strong> Inst<strong>in</strong>kt wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e und nicht vonvornhere<strong>in</strong> e<strong>in</strong> lebensfe<strong>in</strong>dliches Pr<strong>in</strong>zip verkörpert, soll ke<strong>in</strong>eswegs zur optimistischenBeurteilung <strong>der</strong> gegenwärtigen Lage <strong>der</strong> Menschheit verleiten. Im Gegenteil. Es gehörtzu den Eigenschaften <strong>der</strong> Inst<strong>in</strong>kte schlechth<strong>in</strong>, daß sie durch verhältnismäßig ger<strong>in</strong>geStörungen <strong>in</strong> den äußeren Bed<strong>in</strong>gungen völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Und dieÄn<strong>der</strong>ungen, die die Menschheit <strong>in</strong> ihrer eigenen Umgebung durch ihre kulturelleEntwicklung selbst bewirkt hat, s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs nur ger<strong>in</strong>gfügig. Sähe man als e<strong>in</strong>voraussetzungsloser, von e<strong>in</strong>em fernen Planeten kommen<strong>der</strong>, Beobachter denMenschen, wie er heute da steht, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand die


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 148 Wasserstoffbombe, die ihm se<strong>in</strong>e Vernunft bescherte, im Herzen den von se<strong>in</strong>enanthropoiden Ahnen ererbten Aggressionstrieb, den die besagte Vernunft nicht zumeistern vermag - fürwahr, man möchte ihm ke<strong>in</strong> langes Leben voraussagen.Wenn, wie viele Soziologen und Psychologen, auch manche Psychoanalytikerme<strong>in</strong>en, die Aggression e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> reaktives Geschehen wäre, so wäre sie nicht halb sogefährlich, wie sie tatsächlich ist, denn man könnte ja mit e<strong>in</strong>iger Umsicht diereaktionsauslösenden Faktoren ausschalten. E<strong>in</strong>e dieser Annahme entspr<strong>in</strong>gendeamerikanische Erziehungsmethode lieferte lei<strong>der</strong> den ungewollten Beweis, daß dieAggression, wie so viele an<strong>der</strong>e Inst<strong>in</strong>kte auch, spontan aus dem Inneren des Menschenquillt. Der Beweis bestand <strong>in</strong> unzähligen ganz unerträglich frechen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die allesan<strong>der</strong>e als unaggressiv waren, obwohl man ihnen sorgfältig alle aggressionsauslösendenFaktoren aus dem Wege geräumt hatte. <strong>Die</strong> Tatsache, daß <strong>das</strong> zentrale Nervensystemnicht nur wie e<strong>in</strong>e elektrische Kl<strong>in</strong>gel mit Druckknopf <strong>auf</strong> Reize warten muß, ehe ese<strong>in</strong>e Antwort gibt, son<strong>der</strong>n von sich aus Reize produziert, die e<strong>in</strong>e physiologischenatürliche Erklärung für <strong>das</strong> spontane Verhalten von Tieren und Menschen geben, haterst <strong>in</strong> den letzten Dezennien durch die Ergebnisse von Adrian, Paul Weiß und vor allemvon Erich von Holst allgeme<strong>in</strong>e Anerkennung gefunden.In <strong>der</strong> Verhaltensforschung war es vor allem Wallace Craig, <strong>der</strong> dieErsche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Spontaneität zum Gegenstand experimenteller Untersuchungenmachte. Er hat mit männlichen Lachtauben Serien von Versuchen angestellt, <strong>in</strong> denen erdiesen Vögeln ihr Weibchen <strong>in</strong> abgestufter Folge für immer längere Zeiträume entzogund nachher experimentell untersuchte, welche Objekte dann eben noch im Standewaren, <strong>das</strong> Balzen des Taubers auszulösen. Wenige Tage nach Verschw<strong>in</strong>den desartgleichen Weibchens war e<strong>in</strong> solcher Vogel bereit, e<strong>in</strong>e weiße Haustaube anzubalzen,die er vorher völlig ignoriert hatte. E<strong>in</strong>ige Tage später ließ er sich herbei, vor e<strong>in</strong>erausgestopften Taube se<strong>in</strong>e Verbeugungen zu vollführen, noch später vor


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 149 e<strong>in</strong>em zusammengeknüllten Tuch und schließlich nach Wochen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelhaft richteteer se<strong>in</strong>e Balzbewegungen <strong>in</strong> die leere Raumecke se<strong>in</strong>es Kistenkäfigs, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>das</strong>Zusammenl<strong>auf</strong>en <strong>der</strong> geraden Kanten wenigstens e<strong>in</strong>en optischen Anhaltspunkt bot. Indie Sprache <strong>der</strong> Physiologie übersetzt besagen diese Beobachtungen, daß bei längeremStilliegen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Verhaltensweise - im geschil<strong>der</strong>ten Falle eben des Balzens -<strong>der</strong> Schwellenwert <strong>der</strong> auslösendenReize abs<strong>in</strong>kt.<strong>Die</strong> Schwellenerniedrigung auslösen<strong>der</strong> Reize kann <strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fällengewissermaßen den Grenzwert Null erreichen, <strong>in</strong>sofern nämlich, als unter Umständendie betreffende Inst<strong>in</strong>ktbewegung ohne nachweisbaren Außenreiz losgehen kann. <strong>Die</strong>Schwellenerniedrigung und alle Ersche<strong>in</strong>ungen, die sie im Gefolge hat, s<strong>in</strong>d nun - lei<strong>der</strong>muß es gesagt werden - bei wenigen <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktmäßigen Verhaltensweisen so deutlichausgeprägt wie gerade bei <strong>der</strong> Aggression, und zwar lei<strong>der</strong> Gottes auch beim Menschen.Hierfür e<strong>in</strong> tragikomisches Beispiel: In <strong>der</strong> guten alten Zeit, da es noch <strong>Die</strong>nstboten gab,habe ich an me<strong>in</strong>er alten Tante folgendes gesetzmäßige und völlig voraussagbareVerhalten beobachtet. Sie hatte e<strong>in</strong> <strong>Die</strong>nstmädchen nie länger als etwa acht Monate. Von<strong>der</strong> neu e<strong>in</strong>gestellten Gehilf<strong>in</strong> war sie jedesmal <strong>auf</strong>s höchste entzückt, lobte sie als e<strong>in</strong>esogenannte Perle und schwur, jetzt endlich die richtige gefunden zu haben. Im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong>nächsten Monate kühlte ihr Urteil ab, sie fand erst kle<strong>in</strong>e Mängel, dann Tadelnswertesund gegen <strong>das</strong> Ende <strong>der</strong> erwähnten Periode ausgesprochen hassenswerte Eigenschaftenan dem armen Mädchen, <strong>das</strong> dann schließlich regelmäßig unter großem Krach fristlosentlassen wurde. Nach dieser Entladung war die Dame wie<strong>der</strong> bereit, <strong>in</strong> dem nächsten<strong>Die</strong>nstmädchen e<strong>in</strong>en wahren Engel zu sehen. Ich b<strong>in</strong> weit davon entfernt, mich überme<strong>in</strong>e längst verstorbene und im übrigen sehr liebe Tante lustig zu machen. Ich habe anernsten und aller nur denkbaren Selbstbeherrschung fähigen Männern und an mir selbstgenau die gleichen Vorgänge beobachten können o<strong>der</strong> besser gesagt beobachten müssen,und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kriegs-


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 150 gefangenschaft. Aus dem Gesagten wird bereits verständlich se<strong>in</strong>, daß die Stauung <strong>der</strong>Aggression um so gefährlicher werden muß, je besser die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> betreffendenGruppe mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> befreundet s<strong>in</strong>d. In solcher Lage unterliegen - wie ich aus eigenerErfahrung versichern kann - alle Aggression und <strong>in</strong>nerartlichen Kampf auslösendenReize e<strong>in</strong>er extremen Erniedrigung ihrer Schwellenwerte. Subjektiv drückt sich diesdar<strong>in</strong> aus, daß man <strong>auf</strong> kle<strong>in</strong>ste Ausdrucksbewegungen se<strong>in</strong>er besten Freunde, dar<strong>auf</strong>,wie sich e<strong>in</strong>er räuspert o<strong>der</strong> wie er sich schneuzt, mit Reaktionen anspricht, die adäquatwären, wenn e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong> besoffener Rohl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Ohrfeige h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gehauen hätte. <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong><strong>in</strong> die physiologische Gesetzmäßigkeit dieses äußerst quälenden Phänomens verh<strong>in</strong><strong>der</strong>tzwar den Freundesmord, verhilft aber ke<strong>in</strong>eswegs zur L<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Qual.Der Ausweg, den <strong>der</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong>ige schließlich f<strong>in</strong>det, besteht dar<strong>in</strong>, daß er still aus<strong>der</strong> Baracke beziehungsweise dem Expeditionszelt, o<strong>der</strong> was es sonst ist, h<strong>in</strong>ausläuftund e<strong>in</strong>en nicht zu teuren, aber mit möglichst s<strong>in</strong>nfälligem Krach <strong>in</strong> Stücke spr<strong>in</strong>gendenGegenstand zu Schanden haut. Das hilft e<strong>in</strong> wenig und heißt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong>Verhaltensphysiologie e<strong>in</strong>e umorientierte o<strong>der</strong> neu orientierte Bewegung.<strong>Die</strong> Ergiebigkeit <strong>der</strong> dauernd Erregung produzierenden Quelle jedes <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktivenAntriebes ist <strong>auf</strong> den Bedarf zugeschnitten. <strong>Die</strong>s gilt auch für die Aggression, und mankann mit Sicherheit behaupten, daß unsere Ahnen noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> nachstammesgeschichtlichem Gesichtspunkt allerjüngsten Vergangenheit, etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühenSte<strong>in</strong>zeit, viel mehr Aggression brauchten, sehr viel mehr Wutanfälle pro Zeite<strong>in</strong>heitbekommen mußten als wir heute abreagieren können. Nach allem, was man über dieGeschichte und Vorgeschichte <strong>der</strong> Menschheit weiß, ist es geradezu voraussagbar, daße<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> sich unserem heutigen Gesellschaftsleben e<strong>in</strong>ordnen muß, anunausgelebter Aggression zu leiden hat. Gibt es doch kaum e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Trieb, <strong>der</strong><strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> für unsere Historie e<strong>in</strong>igermaßen erfaßbaren Zeiträume zuerst e<strong>in</strong>en hohenpositiven Arterhaltungswert


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 151 besessen hat und, geologisch gesehen fast unmittelbar dar<strong>auf</strong>, e<strong>in</strong>en ebenso starkennegativen entwickelt. In <strong>der</strong> frühen Ste<strong>in</strong>zeit müssen alle kriegerischen Tugenden unde<strong>in</strong>e Fähigkeit zu maßlosem Parteihaß von größter Bedeutung für <strong>das</strong> Überleben e<strong>in</strong>esStammes von Menschen gewesen se<strong>in</strong>.Das atemberaubende Tempo unserer Kulturentwicklung hat aber die sozialeUmwelt des Menschen so verän<strong>der</strong>t, daß se<strong>in</strong>e Inst<strong>in</strong>kte, die zu ihrer Anpassung an neueVerhältnisse geologischer Zeiträume bedürfen würden, ganz e<strong>in</strong>fach nicht mitkommen,nicht mehr passen. Sie hat aber noch etwas an<strong>der</strong>es, beson<strong>der</strong>s Gefährliches bewirkt.Schon mit <strong>der</strong> ersten materiellen Schöpfung menschlicher Vernunft, mit <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dungdes Faustkeiles, kam e<strong>in</strong>e gefährliche Gleichgewichtsstörung zwischen <strong>der</strong>Tötungsfähigkeit <strong>der</strong> Menschen und den ihr entgegenwirkenden <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktivenHemmungen <strong>in</strong> die Welt. Wer forschend den Faustkeil erfand, war auch verantwortlichfür se<strong>in</strong>en Gebrauch. Und wenn die Waffe die Menschheit nicht sofort zugrun<strong>der</strong>ichtete, so ist dies ausschließlich <strong>das</strong> Verdienst e<strong>in</strong>fachster, aber echt menschlicherMoral. Damals <strong>in</strong> grauer Vorzeit hat die verantwortliche Moral die Gefahr, die denMenschen aus ihren Erf<strong>in</strong>dungen erwuchs, offensichtlich gemeistert, sonst gäbe eske<strong>in</strong>e mehr. Wird sie aber auch die uns gegenwärtig drohenden Gefahren meisternkönnen? <strong>Die</strong> Moral ist es, die uns Ziele steckt. In bezug <strong>auf</strong> <strong>das</strong>, was wir sollten,bestehen ke<strong>in</strong>erlei Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten zwischen dem Naturforscher und demMoralphilosophen. Ich möchte den schönen Satz »Der Geist ist willig, aber <strong>das</strong> Fleischist schwach« paraphrasieren und sagen »Der Geist ist willig, aber <strong>das</strong> Fleisch ist zustark«.Doch ist die wesentliche Botschaft <strong>der</strong> Naturforschung, die ich hier zuvermitteln trachte, daß die <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> die ursächlichen Zusammenhänge des Fleisches,<strong>der</strong> Physiologie, dem Geiste vermehrte Macht verleiht. Unser Wissen über diePhysiologie im allgeme<strong>in</strong>en und über die Aggression im beson<strong>der</strong>en reicht immerh<strong>in</strong>schon aus, um e<strong>in</strong>ige praktische Vorschläge zu Maßnahmen, die durchführbar


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 152 s<strong>in</strong>d, zu machen. Zum m<strong>in</strong>desten aber genügt es, um mit Sicherheit sagen zu können,welche Maßnahmen aussichtslos wären. Völlig aussichtslos wäre zum Beispiel <strong>der</strong>Versuch, die Aggressivität des Menschen dadurch herabzusetzen, daß man dieReizsituationen vermeidet, die sie auslösen, wie ich schon bezüglich des merkwürdigenErziehungsexperimentes <strong>der</strong> Amerikaner erwähnt habe.E<strong>in</strong>e zweite negative Aussage, zu <strong>der</strong> wir heute schon fähig s<strong>in</strong>d, ist diefolgende: Unsere Vernunft und die aus ihr entspr<strong>in</strong>gende verantwortliche Moral hatzwar die unter den Lebensbed<strong>in</strong>gungen mo<strong>der</strong>ner Zivilisation notwendigerweise<strong>auf</strong>tretenden Fehlfunktionen ererbter Inst<strong>in</strong>kte bisher zu meistern vermocht, wenn auchnur mit knapper Not und <strong>in</strong> nicht ganz harmonischer Weise, aber doch immerh<strong>in</strong> gutgenug, um die Menschheit bisher vor dem Untergange zu bewahren. Nun wird dieseKompensationsleistung, die <strong>der</strong> verantwortlichen Moral durch die überstürzteEntwicklung des menschlichen Gesellschaftslebens <strong>auf</strong>gebürdet wird, immer größer. Eskann und wird <strong>der</strong> Fall e<strong>in</strong>treten, wo <strong>der</strong> kategorische Befehl nicht mehr imstande ist,den Bruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verhaltensphysiologischen Ursachenkette zu überbrücken, wo <strong>das</strong> ansich völlig richtige »Du sollst!« ebenso wirkungslos verhallt, als hätte ich damalsme<strong>in</strong>em an Düsenverstopfung steckengebliebenen Wagen zugerufen: »Du sollst aberfahren!«Dennoch aber verleiht tatsächlich die <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> die ursächlichen Verkettungenunseres <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Verhaltens unserer Vernunft und unserer Moral die Macht, dortlenkend e<strong>in</strong>zugreifen, wo <strong>der</strong> Imperativ, <strong>auf</strong> sich gestellt, scheitern würde. Wenn ichdamals <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft trotz schwerster Polarkrankheit nicht me<strong>in</strong>enFreund geschlagen, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>en leeren Karbidkanister zerstampft habe, so brachte ichdiese Neuorientierung me<strong>in</strong>er Aggression sicher nur deshalb fertig, weil ich um dieSymptome <strong>der</strong> Inst<strong>in</strong>ktstauung wußte. Und wenn me<strong>in</strong>e geschil<strong>der</strong>te Tante <strong>in</strong> demHausmädchen e<strong>in</strong>en wahren Teufel sah, so tat sie es nur deshalb, weil sie nichts von den<strong>in</strong> Rede stehenden physiologischen Vorgängen ahnte.


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 153 <strong>Die</strong> Neuorientierung o<strong>der</strong> Umorientierung <strong>in</strong>traspezifischer Aggression istüberhaupt <strong>der</strong> nächstliegende und hoffnungsvollste Weg, sie unschädlich zu machen.<strong>Die</strong> Aggression nimmt leichter als viele an<strong>der</strong>e Inst<strong>in</strong>kte mit Ersatzobjekten vorlieb, undschon die alten Griechen kannten den Begriff <strong>der</strong> Katharsis, des re<strong>in</strong>igendenAbreagierens, und die Psychoanalyse weiß sehr genau, wie viele durchaus lobenswerteHandlungen ihren Antrieb aus sublimierter Aggression gew<strong>in</strong>nen und durch ihreM<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> doppelter Weise Segen stiften. Beson<strong>der</strong>s zur Entschärfung <strong>der</strong>gefährlichen sozialen Aggression, die mit <strong>der</strong> später noch zu besprechendenBegeisterung e<strong>in</strong>hergeht, kann <strong>das</strong> Abreagieren <strong>in</strong> Ersatzsituationen Wertvolles leisten.<strong>Die</strong> unvergleichliche Wichtigkeit des Sports liegt ja gerade dar<strong>in</strong>, daß er e<strong>in</strong>eAuse<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zwischen über<strong>in</strong>dividuellen Geme<strong>in</strong>schaften ermöglicht, <strong>in</strong>dem ernicht nur e<strong>in</strong> ausgezeichnetes Ventil für gestaute Aggression <strong>in</strong> ihren gröberenAuswirkungsformen öffnet, son<strong>der</strong>n auch für ihre differenzierteren Son<strong>der</strong>formen wieKampf um die Rangordnung, geme<strong>in</strong>samen harten E<strong>in</strong>satz für gleiche begeisterndeZiele, Lebensgefahr, gegenseitiges Sichbeistehen usw., wie sie beim Bergsteigen o<strong>der</strong>beim Tauchen an <strong>der</strong> Tagesordnung s<strong>in</strong>d. Wettkämpfe zwischen Nationen gestatten e<strong>in</strong>volles Ausleben nationaler Begeisterung und verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n dabei doch nationalen Haßdurch <strong>das</strong> persönliche Sichkennenlernen <strong>der</strong> Parteien. <strong>Die</strong> Suche nach weiterenmöglichst <strong>in</strong>ternationalen und möglichst gefährlichen sportähnlichen Wettbewerben istnach Anschauung Erich von Holsts auch <strong>das</strong> Hauptmotiv <strong>der</strong> Raumflüge, die ebendeshalb heute so sehr im Vor<strong>der</strong>grund des <strong>in</strong>ternationalen Interesses stehen. Mögen siees weiterh<strong>in</strong> tun. Ich b<strong>in</strong> überzeugt, daß sie schon unnennbaren Segen gestiftet haben.Man könnte nun me<strong>in</strong>en, daß unter diesen Umständen e<strong>in</strong> völliges Verschw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Aggression aus <strong>der</strong> erblichen Veranlagung des mo<strong>der</strong>nen Menschen wünschenswertsei. Ich glaube <strong>das</strong> nicht. Das Gefühlsmäßige, <strong>das</strong> Inst<strong>in</strong>ktive im Menschen wird ganzsicher nicht - wie Kant me<strong>in</strong>t - durch die Herrschaft <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 154 überflüssig gemacht. Es liegt für mich sogar etwas Rührendes <strong>in</strong> <strong>der</strong> viel zu hohenMe<strong>in</strong>ung, die <strong>der</strong> Philosoph vom Durchschnittsmenschen bekundet, <strong>in</strong>dem er annimmt,er könne von irgende<strong>in</strong>er Tat, zu <strong>der</strong> natürliche Neigung ihn drängt, durch die re<strong>in</strong>vernunftmäßige Erkenntnis zurückgehalten werden, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Maxime se<strong>in</strong>es Handelnse<strong>in</strong> logischer Wi<strong>der</strong>spruch stecke. In Wirklichkeit bedarf es stets e<strong>in</strong>es nicht Vernunftson<strong>der</strong>ngefühlsmäßigen Faktors, um e<strong>in</strong>e vernunftmäßige Erkenntnis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enImperativ zu verwandeln. Wenn wir aus unserem Erleben die gefühlsmäßigenWertempf<strong>in</strong>dungen wegdenken, wenn für uns e<strong>in</strong> Mensch, e<strong>in</strong> Menschenleben undMenschlichkeit ke<strong>in</strong>e Werte bedeuten, so bleibt <strong>der</strong> <strong>in</strong> sich restlos stimmige Apparat <strong>der</strong>Vernunft e<strong>in</strong> leerl<strong>auf</strong>endes Rä<strong>der</strong>werk ohne Motor. Auf sich gestellt, wäre es nurimstande, uns Mittel zur Erreichung sonstwie bestimmter Ziele an die Hand zu geben,nicht aber solche Ziele zu setzen o<strong>der</strong> uns Befehle zu erteilen. Wenn wir Nihilisten vomTypus des Mephistopheles wären und damit <strong>der</strong> Ansicht: »Drum besser wär's, daß nichtsentstünde«, so wäre <strong>in</strong> <strong>der</strong> Maxime unseres Handelns ke<strong>in</strong>erlei vernunftmäßigerWi<strong>der</strong>spruch enthalten, wenn wir <strong>auf</strong> den Auslöseknopf <strong>der</strong> Wasserstoffbombedrückten. Der alles sogenannten »Tierischen« entkleidete Mensch, <strong>der</strong> Mensch alsre<strong>in</strong>es Vernunftwesen, wäre ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Engel, es wäre weit eher <strong>das</strong> Gegenteil.Was den Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> Aggression betrifft, so können wir heute noch nichtwissen, <strong>in</strong> wie viele unentbehrliche soziale Verhaltensweisen des Menschen dieAggression als motivieren<strong>der</strong> Faktor mit e<strong>in</strong>geht. Ich vermute, daß <strong>der</strong>en sehr viele s<strong>in</strong>d.Aggre<strong>der</strong>e im ursprünglichen, im weitesten S<strong>in</strong>ne heißt <strong>das</strong> Anpacken e<strong>in</strong>er Aufgabeo<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Problems. Von <strong>der</strong> Selbstachtung hängt so ziemlich alles ab, was e<strong>in</strong> Mannvon morgens bis abends tut, vom sublimsten Arbeitsantrieb bis herab zum täglichenRasieren. Alles was mit Ehrgeiz und sozialem Randordnungsstreben zu tun hat undunzähliges an<strong>der</strong>e Unentbehrliche würde höchstwahrsche<strong>in</strong>lich mit völligerUnterdrückung <strong>der</strong> aggressiven Triebe aus dem menschlichen Leben


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 155 verschw<strong>in</strong>den. Vor allem aber ist es mehr als fraglich, ob dem aggressionslosenMenschen noch die Fähigkeit zu persönlicher Liebe und Freundschaft verbleiben würde,die unzweifelhaft stammesgeschichtlich als Regulativ von Aggression entstanden ist,und <strong>in</strong> <strong>der</strong> sehr wahrsche<strong>in</strong>lich auch heute noch e<strong>in</strong> gewaltiges Maß aggressiverMotivation steckt. E<strong>in</strong> weiteres Beispiel, <strong>das</strong> besser als alles an<strong>der</strong>e geeignet ist, dieUnentbehrlichkeit und gleichzeitige Gefährlichkeit menschlicher Aggressionstriebe zuverdeutlichen, ist die Reaktion <strong>der</strong> sogenannten »Begeisterung«. Schon <strong>das</strong> Wort, <strong>das</strong>die deutsche Sprache für sie gefunden hat, drückt die Me<strong>in</strong>ung aus, daß <strong>der</strong> menschlicheGeist es sei, <strong>der</strong> den Menschen <strong>in</strong> diesem Zustande beherrsche, und dabei ist es die<strong>in</strong>traspezifische Aggression <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er echten, <strong>der</strong> Form nach durchaus nicht etwasublimierten Kampfreaktion, die den Begeisterten beherrscht. Sie wirddementsprechend auch mit geradezu reflexhafter Voraussagbarkeit durch solcheAußensituationen ausgelöst, die kämpferischen E<strong>in</strong>satz für soziale Werte erheischen,beson<strong>der</strong>s für solche, die durch kulturelle Tradition geheiligt s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong>se Werte könnenganz konkret durch die Familie, die alte Alma mater, den Sportvere<strong>in</strong> o<strong>der</strong> die Nationo<strong>der</strong> aber auch durch abstraktere Begriffe wie die alte Burschenherrlichkeit, dieUnbestechlichkeit künstlerischen o<strong>der</strong> wissenschaftlichen Schaffens o<strong>der</strong> durch ganzabstrakte D<strong>in</strong>ge wie politische Ideale usw. repräsentiert se<strong>in</strong>. Ich nenne dabei absichtlichim gleichen Atemzug D<strong>in</strong>ge, die mir als Werte ersche<strong>in</strong>en und solche, die es nicht tun.Eben diese Wahllosigkeit ist es ja, die für die gefährliche Seite <strong>der</strong> Begeisterung somaßgebend ist. Zu <strong>der</strong> optimal begeisterungsauslösenden Reizsituation, welche dieDemagogen <strong>in</strong> zweckdienlicher Weise herzustellen pflegen, gehört erstens e<strong>in</strong>eFe<strong>in</strong>dattrappe, <strong>auf</strong> die e<strong>in</strong>e Menge gehetzt werden kann. <strong>Die</strong>se Fe<strong>in</strong>dattrappe kann <strong>in</strong>ganz konkreter Weise <strong>in</strong> den Juden, boches, huns, Exploiteuren, Unterdrückern usw.bestehen, oft aber auch durch erstaunlich abstrakte Begriffe dargestellt werden wiedurch den Weltkapitalismus, Faschismus, Imperialismus, Bolschewismus


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 156 und an<strong>der</strong>e »Ismen«. Zweitens gehört zu <strong>der</strong> <strong>in</strong> Rede stehenden Reizsituation e<strong>in</strong>emöglichst mitreißende Führerfigur, <strong>der</strong>en bekanntlich auch die schärfstenantifaschistischen Demagogen nicht entraten können, wie überhaupt die Gleichheit <strong>der</strong>Methoden, die von den verschiedensten politischen Richtungen angewandt werden, e<strong>in</strong>überzeugendes Argument für die <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktive Natur <strong>der</strong> demagogisch ausnützbaren,menschlichen Begeisterungsreaktion ist. Als drittes und als be<strong>in</strong>ahe wichtigstes Momentgehört zur stärksten Auslösung <strong>der</strong> Begeisterung auch e<strong>in</strong>e möglichst große Zahl vonMitgerissenen. <strong>Die</strong> Gesetzlichkeiten <strong>der</strong> Begeisterung gleichen <strong>in</strong> diesem Punkte ganzdenjenigen <strong>der</strong> anonymen Scharbildung, <strong>der</strong> Herdenbildung bei Schafen. Je<strong>der</strong>e<strong>in</strong>igermaßen gefühlsstarke Mann kennt <strong>das</strong> subjektive Erleben, <strong>das</strong> mit Begeisterunge<strong>in</strong>hergeht. Es besteht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> <strong>der</strong> eben als Begeisterung bekanntenGefühlsqualität. Dabei läuft e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong> heiliger Schauer über den Rücken und, wie manbei genauer Beobachtung feststellt, auch über die Außenseite <strong>der</strong> Arme. Man fühlt sichaus allen B<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> alltäglichen Welt heraus- und emporgehoben; man ist bereit,alles liegen und stehen zu lassen, um dem Rufe <strong>der</strong> heiligen Pflicht zu folgen. AlleH<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse, die ihrer Erfüllung im Wege stehen, verlieren an Bedeutung undWichtigkeit. <strong>Die</strong> <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Hemmungen, Artgenossen zu beschädigen und gar zutöten, verlieren lei<strong>der</strong> gewaltig an Macht. Vernunftmäßige Erwägungen, alle Kritiksowohl wie die Gegengründe, die gegen <strong>das</strong> von <strong>der</strong> mitreißenden Begeisterungdiktierte Verhalten sprechen, werden dadurch zum Schweigen gebracht, daß e<strong>in</strong>emerkwürdige Umwertung aller Werte sie nicht nur als haltlos, son<strong>der</strong>n geradezu alsniedrig und entehrend ersche<strong>in</strong>en läßt. Kurz, wie e<strong>in</strong> ukra<strong>in</strong>isches Sprichwort sowun<strong>der</strong>schön sagt: »Wenn die Fahne fliegt, ist <strong>der</strong> Verstand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Trompete.« <strong>Die</strong>semErleben ist folgendes, objektiv beobachtbare Verhalten korreliert.Der Tonus <strong>der</strong> gesamten quergestreiften Muskulatur erhöht sich, dieKörperhaltung strafft sich, die Arme werden etwas seitlich


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 157 abgehoben und e<strong>in</strong> wenig nach <strong>in</strong>nen rotiert, so daß die Ellbogen nach außen zeigen.Der Kopf wird stolz angehoben, <strong>das</strong> K<strong>in</strong>n vorgestreckt und die Gesichtsmuskulaturbewirkt e<strong>in</strong>e ganz bestimmte Mimik, <strong>das</strong> Gesicht nimmt den typischen Ausdruck desHelden an. Auf dem Rücken und entlang <strong>der</strong> Außenseite <strong>der</strong> Arme sträuben sich dieKörperhaare, und eben dies ist die objektive Seite des sprichwörtlich gewordenen»heiligen Schauers«. An <strong>der</strong> Heiligkeit dieses Schauers sowie an <strong>der</strong> Geistigkeit <strong>der</strong>Begeisterung wird <strong>der</strong>jenige zweifeln, <strong>der</strong> je <strong>das</strong> entsprechende Verhalten e<strong>in</strong>esSchimpansen beobachtet hat, <strong>der</strong> mit beispiellosem Mute zur Verteidigung se<strong>in</strong>er Hordeo<strong>der</strong> Familie antritt. Auch er schiebt <strong>das</strong> K<strong>in</strong>n vor, strafft se<strong>in</strong>en Körper und hebt denEllbogen ab, auch ihm sträuben sich die Haare, was e<strong>in</strong>e gewaltige und sichere<strong>in</strong>schüchternd wirkende Vergrößerung se<strong>in</strong>er Körperkonturen bei Ansicht von vornebewirkt. Ich empf<strong>in</strong>de es nicht als ernüchternd, son<strong>der</strong>n als e<strong>in</strong>e ernste Mahnung zurSelbsterkenntnis, daß unser mutiges E<strong>in</strong>treten für <strong>das</strong>, was uns als <strong>das</strong> Höchsteersche<strong>in</strong>t, <strong>auf</strong> homologen Nervenbahnen verläuft wie die sozialenVerteidigungsreaktionen e<strong>in</strong>es anthropoiden Ahnen. E<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> ihrer entbehrt, iste<strong>in</strong> Inst<strong>in</strong>ktkrüppel, den ich nicht zum Freunde haben will. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> sich von <strong>der</strong>bl<strong>in</strong>den Reflexhaftigkeit ihres Ansprechens h<strong>in</strong>reißen läßt, ist e<strong>in</strong>e Gefahr für dieMenschheit, denn er ist e<strong>in</strong> leichtes Opfer für jeglichen Demagogen, <strong>der</strong> den Menschenkampfauslösende Reizsituationen so gut vorzugaukeln versteht wie wir unserenVersuchstieren. <strong>Die</strong> Begeisterung ist e<strong>in</strong> echter, autonomer Inst<strong>in</strong>kt des Menschen, siehat ihr eigenes Appetenz-Verhalten, ihre eigenen Auslösemechanismen und sie stellt,wie je<strong>der</strong>mann aus eigener Erfahrung weiß, e<strong>in</strong> so außerordentlich befriedigendesErlebnis dar, daß se<strong>in</strong>e verlockende Wirkung schier unwi<strong>der</strong>stehlich ist. Fürwahr, dieBegeisterung ist des Menschen schauerlich Symbol, erschüttern<strong>der</strong> noch als ChristianMorgensterns »Fuß aus schwarzem Le<strong>der</strong>«. <strong>Die</strong> Organisation, die alle<strong>in</strong> uns dazubefähigt, für <strong>das</strong> Gute e<strong>in</strong>zutreten und dem schöpferischen Pr<strong>in</strong>zip zu dienen, ist e<strong>in</strong><strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktives Erbe, <strong>das</strong>


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 158 <strong>in</strong> kaum verän<strong>der</strong>ter Form von unseren anthropoiden Vorfahren <strong>auf</strong> uns gekommen ist.Ihre Verlockung vermag uns <strong>in</strong> schrecklichere Abgründe zu stürzen als sämtlicheVerführungen aller Inst<strong>in</strong>kte, die allen sieben Hauptsünden zugrunde liegen. Das ist <strong>der</strong>Janus-Kopf des Menschen, des Wesens, <strong>das</strong> imstande ist, sich begeistert dem <strong>Die</strong>nstedes Höchsten zu weihen, dazu aber e<strong>in</strong>es verhaltensphysiologischen Mechanismusbedarf, dessen tierische Funktionseigenschaften die Gefahr mit sich br<strong>in</strong>gen, daß esse<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong> ermordet, und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehrlichen Überzeugung, es eben <strong>in</strong> dem<strong>Die</strong>nste des Höchsten tun zu müssen.Und dennoch b<strong>in</strong> ich Optimist. Ich glaube, kurz gesagt, an den Sieg <strong>der</strong>Wahrheit. Ich glaube, daß <strong>das</strong> Wissen um die Natur und ihre Gesetze mehr und mehrzum Allgeme<strong>in</strong>gut <strong>der</strong> Menschen werden wird, ja ich b<strong>in</strong> überzeugt, daß es heute schon<strong>auf</strong> dem besten Wege dazu ist. Ich glaube, daß zunehmendes Wissen den Menschenechte Ideale geben und die ebenfalls zunehmende Macht des Humors ihnen helfen wird,unechte zu verlachen. Ich glaube, daß beides zusammen schon h<strong>in</strong>reicht, um <strong>in</strong>wünschenswerter Richtung Selektion zu treiben. Manche Eigenschaften des Mannes,die vom Palaeolithikum bis <strong>in</strong> die jüngste Vergangenheit als höchste Tugenden galten,manche Wahlsprüche, wie »Wright or wrong, my country«, die eben noch <strong>in</strong> hohemMaße begeisterungsauslösend wirkten, sche<strong>in</strong>en heute schon dem Wissenden gefährlichund dem Humorbegabten komisch. <strong>Die</strong>s muß günstig wirken!Ich glaube ke<strong>in</strong>eswegs, daß die großen Konstrukteure des Artenwandels,Mutation und Selektion, <strong>das</strong> Problem <strong>der</strong> Menschheit dadurch lösen werden, daß sie<strong>der</strong>en <strong>in</strong>traspezifische Aggression ganz abbauen. <strong>Die</strong>s entspräche gar nicht ihrenbewährten Methoden. Wenn e<strong>in</strong> Trieb beg<strong>in</strong>nt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten, neu <strong>auf</strong>tretendenLebenslage Schaden zu stiften, so wird er nie als Ganzes beseitigt, dies hieße <strong>auf</strong> allese<strong>in</strong>e unentbehrlichen Leistungen verzichten. Es wird vielmehr stets e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>erHemmungsmechanismus geschaffen, <strong>der</strong>, an jene neue Situation angepaßt, dieschädliche


K. <strong>Lorenz</strong> 1953 <strong>Die</strong> <strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>E<strong>in</strong>sicht</strong> <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Wirken</strong> <strong>der</strong> Natur 159 Auswirkung des Triebes verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stammesgeschichte mancher Wesen dieAggression gehemmt werden mußte, um <strong>das</strong> friedliche Zusammenwirken zweier o<strong>der</strong>mehrerer Individuen zu ermöglichen, entstand <strong>das</strong> Band <strong>der</strong> persönlichen Liebe undFreundschaft, <strong>auf</strong> dem auch unsere menschliche Gesellschaftsordnung <strong>auf</strong>gebaut ist.<strong>Die</strong> heute neu <strong>auf</strong>tretende Lebenslage <strong>der</strong> Menschheit macht unbestreitbar e<strong>in</strong>enHemmungsmechanismus nötig, <strong>der</strong> tätliche Aggression nicht nur gegen unserepersönlichen Freunde, son<strong>der</strong>n gegen alle Menschen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Daraus leitet sich dieselbstverständliche, ja geradezu <strong>der</strong> Natur abgelauschte For<strong>der</strong>ung ab, alle unsereMenschenbrü<strong>der</strong>, ohne Ansehen <strong>der</strong> Person, zu lieben. <strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ung ist nicht neu,unsere Vernunft vermag ihre Notwendigkeit, unser Gefühl ihre hehre Schönheit voll zuerfassen, aber dennoch vermögen wir sie, so wie wir beschaffen s<strong>in</strong>d, nicht zu erfüllen.Das volle und warme Gefühl von Liebe und Freundschaft können wir nur fürE<strong>in</strong>zelmenschen empf<strong>in</strong>den, daran kann <strong>der</strong> beste und stärkste Wille nichts än<strong>der</strong>n!Doch die Evolution kann es! Ich glaube, daß sie es tun wird, denn ich glaube an dieMacht <strong>der</strong> menschlichen Vernunft, ich glaube an die Macht <strong>der</strong> Selektion und ichglaube, daß die Vernunft vernünftige Selektion treibt. Ich glaube, daß dies unserenNachkommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht allzufernen Zukunft die Fähigkeit verleihen wird, jenegrößte und schönste For<strong>der</strong>ung wahren Menschentums zu erfüllen.

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