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EDITHS VERSTECK

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<strong>EDITHS</strong><strong>VERSTECK</strong>


<strong>EDITHS</strong><strong>VERSTECK</strong>KathyKacerDie Geschichte des jüdischenMädchens EDITH SCHWALBDeutsch von Marlies RußBloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher


Die deutsche Übersetzung wurde ermöglichtdurch die freundliche Unterstützung desCanada Council for the Arts.Für Edith Schwalb Gelbard, eine mutige undbewundernswerte Frau.Für Gabi und Jake, wie immer in Liebe.Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Hiding Edith.A True Story bei Second Story Press, Toronto© 2006 Kathy KacerFür die deutsche Ausgabe© 2008 Berlin Verlag GmbH, BerlinBloomsbury Kinderbücher & JugendbücherAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgTypografie & Gestaltung: Renate Stefan, BerlinGesetzt aus der Filosofia durch Greiner & Reichel, KölnDruck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany 2008ISBN 978-3-8270-5340-4www.berlinverlage.de


Edith war sich nicht sicher, ob sie von dieserFremden hinter dem großen, schweren Schreibtisch»Schätzchen« genannt werden wollte. Shatta Simonwar eine junge Frau Anfang dreißig. Sie hatte dunkles,welliges Haar und dunkle Augen. Sie war korpulentund wirkte ziemlich imposant, doch sie besaß auchein gütiges Lächeln, und so hatte Edith keine Angstvor ihr.»Meist kommen Kinder zu uns, weil ihre Elternverhaftet und ins Gefängnis oder in ein Konzentrationslagergebracht wurden. In vielen Fällen wissenwir nicht einmal, was mit ihnen geschehen ist. Oderaber Eltern wie Sie, Frau Schwalb, die eine Verhaftungfürchten, bringen ihre Kinder hierher, um sie inSicherheit zu wissen.«Edith wandte sich ab. Es war schon schlimm genug,dass sie Vati abgeholt hatten. Den Gedanken,auch ihre Mutter könnte fortgebracht werden, ertrugsie einfach nicht. Außerdem musste Mutti sie dochhier wieder wegholen. Das musste sie einfach!»Wir erhalten Geld von den jüdischen Pfadfindernin Frankreich«, fuhr Shatta fort, »und wir folgender Philosophie der Pfadfinderbewegung: Sei allzeitbereit und hilf deinem Nächsten.«Edith wusste nicht viel über die Pfadfinder.In Österreich gab es auch welche, aber die waren sogarnoch älter als Therese. Und von jüdischen Pfadfindernhatte sie noch nie gehört.Shatta undBouli Simon»Trotz aller Maßnahmen der Nazis sind die jüdischenPfadfinder immer noch eine starke Organisation«,erklärte Shatta. »Ohne ihre Hilfe könnten wirdas hier nicht leisten. Aber noch wichtiger ist wohl,dass wir zu den Einwohnern von Moissac ein gutesVerhältnis aufgebaut haben.« Shatta beugte sich vorund lächelte Edith an. »Der Bürgermeister ist unserFreund. Er beschützt uns, genau wie die Leute in derStadt.«War das denn möglich? Riskierten die Einwohnervon Moissac, ja sogar der Bürgermeister, ihrLeben, um ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen?Das war erstaunlich – die meisten Menschen hattenviel zu viel Angst, um Juden zu helfen. Sollte Edith4647


sich nun erleichtert fühlen, oder sich besorgt fragen,ob Shatta ihr wohl die Wahrheit sagte?»Vertrau mir«, fuhr Shatta fort, als könne sieEdiths Gedanken lesen. Doch Edith wusste allmählichnicht mehr, wem sie noch vertrauen sollte: Muttischickte sie fort, was ihr wie der größte Vertrauensbruchvon allen vorkam. Und Shatta war für sie eineFremde, die das Geheimnis der Kinder all den anderenFremden in dieser Stadt erzählt hatte. Konnteman denen denn trauen? Und selbst den Kindern vonMoissac – würden sie auch bestimmt nichts verraten?Das ergab alles keinen Sinn.»Kommt, Edith und Gaston«, sagte Shatta. »Eswird Zeit, sich zu verabschieden. Unsere Betreuerbringen euch auf eure Zimmer.«Gaston klammerte sich an Muttis Hals und versuchtetapfer, nicht zu weinen, während sie ihm etwasins Ohr flüsterte und ihm das Haar streichelte. Dannküsste Mutti Edith auf beide Wangen. »Ich werde euchbesuchen, sobald ich kann«, sagte sie und rang dabeium eine feste Stimme. »Sei ein braves Mädchen.«Edith brachte kein Wort heraus. Was hätte sieauch sagen sollen? Sie war in Tränen aufgelöst, alsihre Mutter sie umarmte. Ihr Kopf verstand, warumMutti sie hier zurückließ, doch ihr Herz brach mittenentzwei. Schließlich löste sich Mutti sanft von Edithund schaute ihr tief in die Augen. »Vergiss nie, wer dubist«, sagte sie. Und dann war sie fort.Edith wischte sich mit dem Handrücken die Tränenaus den Augen. Sie wollte nicht, dass Shatta sieweinen sah. Sie musste jetzt stark sein. Doch Shattahatte diese Abschiede schon unzählige Male mit angesehenund verstand, wie schmerzhaft dies sowohlfür die Eltern als auch für die Kinder war. Sie reichteEdith ein Taschentuch und sagte: »Es wird ein Weilchendauern, bis du dich daran gewöhnt hast, bei unszu leben, Edith. Ich will dir nicht verschweigen, dasses am Anfang nicht leicht sein wird. Aber mit der Zeitwerden die Kinder in unserer Obhut stark und kräftig,wie richtige Pfadfinder. Du bist hier in Sicherheit,und du wirst dich eingewöhnen. Und ich hoffe, duwirst das Beste daraus machen.« Und damit führteShatta Edith zur Tür hinaus.4849


KAPITEL 6SarahEdith trug ihren kleinen Koffer hinter Shatta her eineTreppe hinauf, dann einen langen Korridor entlangund in einen großen, hellen Schlafsaal mit zehn Betten,die in zwei fein säuberlichen Reihen aufgestelltwaren.»Das hier ist deins«, sagte Shatta und deutete dabeiauf ein Bett nahe am Fenster. »Pack deine Sachenaus und leg sie in das Fach dort. Die Mädchen sindgerade noch bei ihren Abendaktivitäten, werden aberbald zurück sein. Dusche und Toilette befinden sicham Ende des Gangs. Wenn du irgendetwas brauchst,findest du mich in meinem Büro. Ansonsten wünscheich dir eine gute Nacht, Edith. Wir sehen unsdann morgen früh.«Edith ließ sich auf ihr Bett sinken. Sie biss sichauf die zitternde Unterlippe, hielt jedoch ihre Tränenzurück. In den letzten Tagen hatte sie so viel geweint,dass es fast schien, als hätte sie keine Tränen mehrübrig.Edith hob ihren Koffer aufs Bett und öffnete ihn.In Augenblicken wie diesen sehnte sie sich ganz besondersnach Sophie, doch die Puppe war bei einemder vielen Umzüge in den letzten Jahren verloren gegangen.Mutti hatte angeboten, ihr eine andere Puppezu kaufen, doch das wäre nicht dasselbe gewesen. Undaußerdem fand Edith nach wie vor Trost darin, sichmit Sophie zu unterhalten.»Du bist die Einzige, die weiß, wie es mir wirklichgeht«, sagte Edith leise und stellte sich vor, wiesie ihre Puppe fest an sich drückte. »Ich hab solcheAngst, Sophie. Es ist niemand da, mit dem ich redenkann, und niemand, der meine Erinnerungen mitmir teilt.« Sie schloss die Augen und versuchte, sichan Wien zu erinnern, und wie Vati sie von der Schuleabholte. Sie strengte sich an, um sich das Gesichtihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen, und diesesLächeln, das er nur ihr schenkte. Sie sehnte sich danach,wieder in Brüssel zu sein, oder selbst in Beaumont-de-Lomagne,und mit Therese zusammen Geschichtenzu lesen oder der Musik zu lauschen, dieihre Mutter auf dem Grammofon aufgelegt hatte. Sieversuchte, Erinnerungsfetzen zu vollständigen Bildernzu ergänzen: Wie sah Vati in seinem Fußballtrikotaus? Wie hatte dieses Kleid von Mutti ausgesehen,das sie immer in die Oper anzog? Wie hatten allihre Puppen geheißen? Doch die Verbindungen warenzu brüchig und rissen wie ein abgewetzter Faden.5051


Edith hatte gerade ihren Pullover in ihr Fach gelegt,als sie vom Gang Stimmen und Schritte näherkommenhörte. Eine Gruppe von Mädchen stürmtezur Tür herein. Sie kicherten und rempelten sich imSpaß gegenseitig an. Als sie Edith sahen, blieben siestehen.»Hallo.« Eins der Mädchen kam auf Edith zu undstreckte ihr die Hand hin. Edith schüttelte sie feierlich.»Ich heiße Sarah Kupfer«, sagte das Mädchen.»Du musst Edith Schwalb sein. Shatta hat uns gesagt,dass du heute kommst. Du hast das Bett neben meinem.«Sarah hatte hübsche blaue Augen und langeblonde Zöpfe. Außerdem besaß sie ein warmherziges,freundliches Lächeln. Edith war erleichtert darüber,dass die Mädchen schon wussten, wer sie war,als sie sich nun eine nach der anderen vorstellten. Sieschienen nett zu sein, zum Glück, und dazu auch nochfröhlich. Das ergab keinen Sinn: All diese Mädchenwaren von ihren Familien getrennt worden, und dochwirkten sie so heiter!»Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist«, erzählteSarah, während sie Edith half, ihren Koffer untermBett zu verstauen. »Sie hat sich mit meinem Bruderzusammen versteckt, irgendwo weiter im Osten. MeinenVater haben die Nazis mitgenommen. Wir wissennicht, wohin.«»Das ist fast genau wie bei mir!«, rief Edith aus.»Nur dass sich meine Mutter mit meiner Schwesterzusammen versteckt. Mein kleiner Bruder ist auchhier.«Sarah nickte. »Alle hier haben mehr oder wenigerdie gleiche Geschichte. Deswegen fühlen wir unsauch wie eine Familie.«»Das hat Shatta auch gesagt.«»Shatta ist wunderbar«, sagte Sarah begeistert.»Sie ist ziemlich streng, ein bisschen wie ein General,der aufpasst, dass wir nicht aus der Reihe tanzen.Aber sie ist sehr nett und sehr schlau. Sie leitet dasHaus und organisiert das ganze Programm. Warte, bisdu ihren Mann Bouli kennen lernst. Der ist für allehier wie ein Vater. Aber pass bloß auf – er will einemimmer Nasentropfen verabreichen, damit wir keineBazillen kriegen.« Sarah rümpfte die Nase und lachte.»Und wenn er sieht, dass beim Essen jemand die Ellbogenauf dem Tisch hat, dann klopft er laut auf denTisch, um einem Manieren beizubringen. Aber keineSorge«, fügte sie rasch hinzu, als ihr Ediths ängstlicheMiene auffiel. »In Wirklichkeit ist er ganz lieb.«In einer anderen Ecke des Saals fingen ein paarMädchen an zu singen. Ihre Stimmen verschmolzenzu einem lieblichen Klang. »Einen Chor haben wirauch«, fuhr Sarah fort. »Unseren Chorleiter, Henri,wirst du bald kennen lernen. Er will bestimmt, dassdumitsingst.UnddanngibtesnochGermaine,unsereBetreuerin.«Edith druckste ein wenig herum. »Alle wirken5253


Eine Gruppe jüdischer Pfadfindderinnen aus demHaus in Moissacso … so fröhlich«, sagte sie schließlich. »Wie kanndas denn sein?«»Als wir hier ankamen, haben wir erst auch nichtgelacht«, antwortete Sarah. »Ich habe mich in derersten Woche jeden Abend in den Schlaf geweint.Aber denk doch bloß, wie es da draußen ist! Das hierist der beste Platz, den du dir wünschen kannst.«Edith nickte. Da draußen gab es Verhaftungen,Verbote, Gefängnisse und Menschen, die sie hassten.Aber konnte hier tatsächlich alles anders sein? WarMoissac wirklich vom Krieg unberührt geblieben?»Hat dir Shatta erzählt, dass die Leute in Moissacüber uns Bescheid wissen?«, fragte Sarah. »Alle – dieKinder, die Erwachsenen und die Leute bei den Behörden.Sie alle wissen, dass wir Juden sind. Ist dasnicht unglaublich? Wenn die Nazis das herausfän-den, dann wäre die ganze Stadt in Gefahr, nicht nurwir. Deswegen kann uns auch niemand verraten!Die Leute aus Moissac sind wundervoll. Alle hütenunser Geheimnis.« Dabei strahlte Sarah übers ganzeGesicht vor lauter Freude über diese wunderbareVerschwörung. Edith brachte nur ein fassungslosesKopfschütteln zustande.Nachdem die Mädchen sich zum Schlafengehenfertig gemacht hatten, erschien Germaine, ihre Betreuerin.»Ich bin gekommen, um das Licht auszumachenund um unser neues Familienmitglied zu begrüßen.Willkommen bei uns, Edith«, sagte sie herzlich. »Bestimmthast du das Wichtigste schon von Sarah erfahren.«Sarah grinste. »Ich bin die Betreuerin fürdiesen Schlafsaal. Ich kümmere mich darum, dass dudich hier wohlfühlst und alles hast, was du brauchst.«Doch das Einzige, was Edith brauchte, war ihreFamilie, und die konnte ihr auch die junge Frau, diekaum älter als Therese sein mochte, nicht geben.Edith brachte nur ein Nicken zustande. Sie war zuerschöpft, um etwas zu sagen. Sie kroch unter ihreBettdecke, umschlang ihr Kopfkissen und klammertesich an die eine winzige Hoffnung: Allen hier geht esgenauso wie mir. Vielleicht können sie ja auch für micheine Familie werden? Es war noch zu früh, um das mitGewissheit sagen zu können. Doch irgendwie fühltesich Edith selbst in der Dunkelheit dieses noch so5455


fremden Ortes sicher. Sie hoffte und betete, dass diesso bleiben würde, und dass die ständigen Umzügenun ein Ende hätten. Sie dachte an ihre Eltern undhoffte, dass auch sie in Sicherheit waren. Das war ihrletzter Gedanke, bevor ihr in dieser Nacht die Augenzufielen.KAPITEL 7Das Haus in MoissacDie ersten Sonnenstrahlen fielen durch die hohenFenster herein, und als das morgendliche Signal zumAufstehen ertönte, öffnete Edith die Augen, strecktesich und setzte sich auf. So gut hatte sie schon seiteiner Ewigkeit nicht mehr geschlafen! Ihre Gedankenwanderten zu Mutti, doch Edith fing sie raschwieder ein: Sie musste sich jetzt auf die Gegenwartkonzentrieren.Sarah machte bereits ihr Bett, steckte sorgfältigdie Decke über dem Laken fest und schüttelte dasKopfkissen auf. »Guten Morgen«, sagte sie. »Machdein Bett, und dann zeig ich dir, wo der Waschraumist.«Eine Reihe von Waschbecken säumte die eineWand des Waschraums. Über jedem hing ein Handtuch,und darüber befand sich eine kleine Ablage ander Wand. Edith legte ihre Zahnbürste und ihrenKamm auf ein leeres Bord. Sie spritzte sich warmesWasser ins Gesicht und wusch sich mit Seife und5657

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