KAPITEL 6SarahEdith trug ihren kleinen Koffer hinter Shatta her eineTreppe hinauf, dann einen langen Korridor entlangund in einen großen, hellen Schlafsaal mit zehn Betten,die in zwei fein säuberlichen Reihen aufgestelltwaren.»Das hier ist deins«, sagte Shatta und deutete dabeiauf ein Bett nahe am Fenster. »Pack deine Sachenaus und leg sie in das Fach dort. Die Mädchen sindgerade noch bei ihren Abendaktivitäten, werden aberbald zurück sein. Dusche und Toilette befinden sicham Ende des Gangs. Wenn du irgendetwas brauchst,findest du mich in meinem Büro. Ansonsten wünscheich dir eine gute Nacht, Edith. Wir sehen unsdann morgen früh.«Edith ließ sich auf ihr Bett sinken. Sie biss sichauf die zitternde Unterlippe, hielt jedoch ihre Tränenzurück. In den letzten Tagen hatte sie so viel geweint,dass es fast schien, als hätte sie keine Tränen mehrübrig.Edith hob ihren Koffer aufs Bett und öffnete ihn.In Augenblicken wie diesen sehnte sie sich ganz besondersnach Sophie, doch die Puppe war bei einemder vielen Umzüge in den letzten Jahren verloren gegangen.Mutti hatte angeboten, ihr eine andere Puppezu kaufen, doch das wäre nicht dasselbe gewesen. Undaußerdem fand Edith nach wie vor Trost darin, sichmit Sophie zu unterhalten.»Du bist die Einzige, die weiß, wie es mir wirklichgeht«, sagte Edith leise und stellte sich vor, wiesie ihre Puppe fest an sich drückte. »Ich hab solcheAngst, Sophie. Es ist niemand da, mit dem ich redenkann, und niemand, der meine Erinnerungen mitmir teilt.« Sie schloss die Augen und versuchte, sichan Wien zu erinnern, und wie Vati sie von der Schuleabholte. Sie strengte sich an, um sich das Gesichtihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen, und diesesLächeln, das er nur ihr schenkte. Sie sehnte sich danach,wieder in Brüssel zu sein, oder selbst in Beaumont-de-Lomagne,und mit Therese zusammen Geschichtenzu lesen oder der Musik zu lauschen, dieihre Mutter auf dem Grammofon aufgelegt hatte. Sieversuchte, Erinnerungsfetzen zu vollständigen Bildernzu ergänzen: Wie sah Vati in seinem Fußballtrikotaus? Wie hatte dieses Kleid von Mutti ausgesehen,das sie immer in die Oper anzog? Wie hatten allihre Puppen geheißen? Doch die Verbindungen warenzu brüchig und rissen wie ein abgewetzter Faden.5051
Edith hatte gerade ihren Pullover in ihr Fach gelegt,als sie vom Gang Stimmen und Schritte näherkommenhörte. Eine Gruppe von Mädchen stürmtezur Tür herein. Sie kicherten und rempelten sich imSpaß gegenseitig an. Als sie Edith sahen, blieben siestehen.»Hallo.« Eins der Mädchen kam auf Edith zu undstreckte ihr die Hand hin. Edith schüttelte sie feierlich.»Ich heiße Sarah Kupfer«, sagte das Mädchen.»Du musst Edith Schwalb sein. Shatta hat uns gesagt,dass du heute kommst. Du hast das Bett neben meinem.«Sarah hatte hübsche blaue Augen und langeblonde Zöpfe. Außerdem besaß sie ein warmherziges,freundliches Lächeln. Edith war erleichtert darüber,dass die Mädchen schon wussten, wer sie war,als sie sich nun eine nach der anderen vorstellten. Sieschienen nett zu sein, zum Glück, und dazu auch nochfröhlich. Das ergab keinen Sinn: All diese Mädchenwaren von ihren Familien getrennt worden, und dochwirkten sie so heiter!»Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist«, erzählteSarah, während sie Edith half, ihren Koffer untermBett zu verstauen. »Sie hat sich mit meinem Bruderzusammen versteckt, irgendwo weiter im Osten. MeinenVater haben die Nazis mitgenommen. Wir wissennicht, wohin.«»Das ist fast genau wie bei mir!«, rief Edith aus.»Nur dass sich meine Mutter mit meiner Schwesterzusammen versteckt. Mein kleiner Bruder ist auchhier.«Sarah nickte. »Alle hier haben mehr oder wenigerdie gleiche Geschichte. Deswegen fühlen wir unsauch wie eine Familie.«»Das hat Shatta auch gesagt.«»Shatta ist wunderbar«, sagte Sarah begeistert.»Sie ist ziemlich streng, ein bisschen wie ein General,der aufpasst, dass wir nicht aus der Reihe tanzen.Aber sie ist sehr nett und sehr schlau. Sie leitet dasHaus und organisiert das ganze Programm. Warte, bisdu ihren Mann Bouli kennen lernst. Der ist für allehier wie ein Vater. Aber pass bloß auf – er will einemimmer Nasentropfen verabreichen, damit wir keineBazillen kriegen.« Sarah rümpfte die Nase und lachte.»Und wenn er sieht, dass beim Essen jemand die Ellbogenauf dem Tisch hat, dann klopft er laut auf denTisch, um einem Manieren beizubringen. Aber keineSorge«, fügte sie rasch hinzu, als ihr Ediths ängstlicheMiene auffiel. »In Wirklichkeit ist er ganz lieb.«In einer anderen Ecke des Saals fingen ein paarMädchen an zu singen. Ihre Stimmen verschmolzenzu einem lieblichen Klang. »Einen Chor haben wirauch«, fuhr Sarah fort. »Unseren Chorleiter, Henri,wirst du bald kennen lernen. Er will bestimmt, dassdumitsingst.UnddanngibtesnochGermaine,unsereBetreuerin.«Edith druckste ein wenig herum. »Alle wirken5253