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Der frohe Botschafter - Benoit et moi

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5. DEZEMBER 2013 DIE ZEIT N o 50DOSSIERGLAUBEN& ZWEIFELN<strong>Der</strong> BildermannHenri Nannen machte aus dem»stern« ein Weltmagazin. Zum100. Geburtstag ein Porträt deslegendären Journalisten S. 21Achtung, die Belgier!Am 6. Dezember werden dieVorrundengruppen der WMausgelost. Besuch bei einemGeheimfavoriten S. 2217Titel:Die Welt liebt ihn,aber ...Foto: Alessandro Bianchi/Reuters<strong>Der</strong> <strong>frohe</strong> <strong>Botschafter</strong>Papst Franziskus will die katholische Kirche erneuern, von Freudlosigkeit und Rechthaberei befreien. Nicht allen Kardinälen imVatikan kommt das gelegen – einige hoffen, dass ihm bald die Luft ausgeht VON EVELYN FINGER, CHRISTIANE FLORIN UND PATRIK SCHWARZEin Menschenfischer der Moderne? Papst Franziskus auf dem P<strong>et</strong>ersplatzSo ungemütlich war die Weihnachtszeitim Vatikan noch nie – jedenfallsfür einige jener Herren, die dort bislangdie Macht hatten und glaubten,die Pracht des P<strong>et</strong>ersdoms diene ihnenbloß als Kulisse. Nun, am erstenSamstag im Advent, predigte derlächelnde Papst »Barmherzigkeit«. Und um zu zeigen,dass für Christen allein der Dienst am Nächstenzählt, hatte er sich angezogen wie ein Dorfpfarrer:Anstatt des im Advent üblichen goldbesticktenMessgewandes trug Franziskus einen schlichtenChormantel in Viol<strong>et</strong>t, der Farbe, die der Kirchenkalenderfür den Dezember vorsieht. Das Prozessionskreuzwar aus Holz.Holz! Die Glamourfans in der Kurie, diesem gigantischenVerwaltungsapparat des Vatikans, warenents<strong>et</strong>zt. Wo soll das hinführen, flüstern manche,wenn wir auf die Insignien der Macht verzichten?Diese Flüsterer sind von Papst Franziskus schoneiniges gewöhnt: den matten Blechschmuck, alsgäbe es keinen kostbaren Kirchenschatz. Die speckig-schwarzeAktentasche, als sei der NachfolgerP<strong>et</strong>ri ein einfacher Angestellter. Die alten Schnürschuhe,als sei der Stellvertr<strong>et</strong>er Gottes auch nur einMensch. Vor einem Jahr noch – zur Adventsvesperunter dem Vorgänger Benedikt XVI. – funkelte derP<strong>et</strong>ersdom vor Brillanten, und der alte Papst wargeschmückt wie ein, nun ja: Weihnachtsbaum.Seit neun Monaten ist der Argentinier JorgeMario Bergoglio, 76, das geistliche Oberhaupt derKatholiken. Er ist der erste Papst seit Langem, derdie Welt irritiert. Jene kleine innerhalb der Mauerndes Vatikans. Und jene große außerhalb.Er hat ja nicht nur seine alten Schuhe anbehalten.Er hat Interviews gegeben, die auch Laien verstehen.Er ist zu den Bootsflüchtlingen nach Lampedusagereist, hinein in eine von vielen dringlichenGegenwarten. Er hat externe Experten eingestellt,um Licht ins Dunkel der Vatikanfinanzen zubringen. Er hat Fragebögen in alle Welt verschickt,um zu erfahren, was die Katholiken zu Liebe, Sexund Partnerschaft denken. Und er hat ZigtausendenMenschen auf dem P<strong>et</strong>ersplatz ein Medikamentverordn<strong>et</strong>. Als weiße Figur hoch oben imFenster des Apostolischen Palastes rief er neulichbeim Angelusgeb<strong>et</strong> in die Menge: »J<strong>et</strong>zt möchteich euch zu einer Medizin raten!« Dann hielt ereine Arzneischachtel hoch, darauf der Schriftzug:»Misericordia«. Kein neuer Markenname, sondernaltes Latein für Barmherzigkeit. Unten auf demPlatz verteilten Nonnen 25 000 dieser Schachteln,darin jeweils ein kleiner Rosenkranz. Die Mengelachte und applaudierte. Ein Papst mit Humor.Oder alles nur Mark<strong>et</strong>ing?Dagegen sprechen 256 Seiten, die der Papst geschriebenhat, ein Apostolischer Brief, ein neuesVatikanisches Manifest: Evangelii Gaudium, »Freudedes Evangeliums«. Nicht die zuständige Glaubenskongregationhat den Wälzer verfasst, sondernder Papst persönlich. Anstatt im August nach CastelGandolfo zu verschwinden, in seine waldumstandeneResidenz hoch über dem Albaner See, blieb derPapst im 35 Grad heißen Rom und schrieb an gegendie Gewissheit, dass eine zweitausend Jahre alte Kirchesich nicht ändern darf.J<strong>et</strong>zt lesen nicht nur die Gläubigen ungläubig,dass dem Papst eine »verbeulte Kirche, die verl<strong>et</strong>zt»Die große Gefahr der Weltvon heute ist eine individualistischeTraurigkeit, die auseinem bequemen, begehrlichenHerzen hervorgeht.«Auszug aus dem »Evangelii Gaudium«des Papstes (weitere Auszüge auf Seite 19)Forts<strong>et</strong>zung auf S. 18


GLAUBEN &18 DOSSIER Titel: Die Welt liebt ihn, aber ...ZWEIFELN5. DEZEMBER 2013 DIE ZEIT N o 50Päpste als ReformerFranziskus ist nicht der erste reformerischePapst. Eine Auswahl mutiger Vorgänger:Innozenz III.integrierte zwischen 1198 und 1216 Orden,die damals der Irrlehre bezichtigt wurden,<strong>et</strong>wa die Franziskaner. Unter ihm beschloss dieKirche die Lehre der Transsubstantiation:der Umwandlung von Brot und Wein in Leibund Blut Christi während der Messe.Pius V.war Papst von 1566 bis 1572 und erneuerteseine für Geldgier berüchtigte Kirche. Als ersterPapst trug er die schlichte weiße Soutane,ging barfuß und ohne Kopfbedeckung.Gregor VIII.brachte zwischen 1572 und 1585 Lehre undLeben einander näher. Vor allem reformierteer Julius Cäsars Kalender – der gegenüberdem astronomischen Kalender pro Jahr umelf Minuten und 14 Sekunden zu lang war.Johannes XXIII.war Papst von 1958 bis 1963 und berief dasZweite Vatikanische Konzil ein. Er bahntevolkssprachlichen Gottesdiensten den Weg,schaffte Fußkuss und dreifachen Kniefall beiPrivataudienzen ab und verließ als erster Papstden Vatikan für eine offizielle Reise.Johannes Paul I.amtierte nur 33 Tage. Vom 26. August bis29. September 1978 brach er alle Regeln, sagte»ich« statt »wir«, stand der Presse Rede undAntwort. Bei einem Mittagsgeb<strong>et</strong> auf demP<strong>et</strong>ersplatz meinte er, Gott sei Vater, »abernoch mehr Mutter«. Um seinen plötzlichenTod ranken sich bis heute Gerüchte.Eine Art Revolutionsrat: <strong>Der</strong> Papst und die neue Kardinalsrunde tagen im VatikanFotos: Osservatore Romano/Reuters (1.10.2013); Alessandra Bened<strong>et</strong>ti für DIE ZEIT (u.l.); Daniel Biskup für DIE ZEIT (u. r.)Forts<strong>et</strong>zung von S. 17<strong>Der</strong> <strong>frohe</strong> <strong>Botschafter</strong>und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangenist«, näher steht als eine Kirche, »dieaufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeitkrank ist«. Seine Kirche sei freudlosund lieblos geworden, so formuliert es Franziskus– Zeit für eine »unaufschiebbare Erneuerung«. Ausdem Grundgebot der Nächstenliebe leit<strong>et</strong> derPapst sozialrevolutionäre Maximen ab: Nein zurVergötterung des Geldes! Nein zur sozialen Ungleichheit!Nein zur Trägheit des Herzens! Vor allemaber sagt er der Hartherzigkeit den Kampf an,beginnend im eigenen Haus.Hier raunt j<strong>et</strong>zt mancher Kardinal: Dieser Papstwird die Kirche ruinieren! Er wirft dem Klerusmehr Sünden vor als der Welt da draußen. Erschmückt die Kirche mit dürrem Reisig. Er will siedurch Schwäche stärken. Im Vatikan, dem katholischenKreml, fallen die Namen »Franziskus« und»Gorbatschow« immer öfter in einem Atemzug.Die Revolution beginnt beim Frühstück imGästehaus Santa Marta, wo der Papst wohnt. ImGemeinschaftsraum hat er keinen festen Tisch, erholt sich sein Essen selbst und s<strong>et</strong>zt sich zu denanderen. Erst zum Arbeiten geht er in den ApostolischenPalast hinüber, ins Staatssekr<strong>et</strong>ariat eins,wo die großen Fresken sind, die alten Weltkarten,die einem den Eindruck vermitteln, sehr weit obenzu sein. Herrscher des Erdkreises.Er aber interessiert sich für die ganz unten.Viele Katholiken, deren Alltag zul<strong>et</strong>zt wenig damitzu tun hatte, was ein alter Mann in Rom sagt,können es kaum glauben: Endlich will ein Papst<strong>et</strong>was von ihrem Leben wissen. Endlich sagt einerauf dem Samtstuhl, dass Ausgrenzen, Denunzierenund Angsteinflößen keine christlichen Tugendensind. Endlich bricht das System aus Bestrafung derAndersdenkenden und Belohnung der strammenGefolgsleute zusammen. Keine Lehrverbote, keineSchreibverbote, keine Denkverbote.ANZEIGEDIE ZEIT mit »Christ & Welt«zeit.de/christundweltVerschenken SieDIE ZEIT mit»Christ & Welt«zu Weihnachten.J<strong>et</strong>ztAngebotsichern!Noch ist vieles nur Papier statt Praxis. Dochnach Jahren des Nichts reicht schon der Satz, zuviele Kleriker blickten in den Kirchen »wie beieiner Beerdigung«, um die Menschen zu euphorisieren.Ausgerechn<strong>et</strong> im Namen der <strong>frohe</strong>nBotschaft seien zu viele Kulturpessimisten, Nörgelfrommeund Jammertalbewohner unterwegs,meint der Papst. Ausgerechn<strong>et</strong> der Mann ganzoben verordn<strong>et</strong> j<strong>et</strong>zt ein befreiendes, anarchischesLachen.Das Lächeln in seinen Augen sei das Schwierigstean Franziskus, find<strong>et</strong> Cesare Bella. Er istMeister im Studio Mosaico, einer steinalten Werkstattdirekt neben dem Gästehaus Santa Marta.Bella und Franziskus sind Nachbarn, aber ihr Verhältnisist noch ungeklärt: Während der Papst indie Zukunft strebt, hat Bella eine Tradition zuschützen. Sein Job ist es, ein Mosaik vom neuenPapst zu machen, wie es seit 500 Jahren Brauchist. Das Bild ist fast fertig. Und Bella fragt sich:Wird es diesem Traditionszertrümmerer überhauptgefallen?Im Studio Mosaico sind sie zu acht. Ihre Vorgängerhaben die gewaltigen Wände des P<strong>et</strong>ersdomsausgeschmückt, all die Engel und die gigantischenHeiligenmosaiken bis hinauf in die Kuppel.Große Verklärung aus kleinen Steinchen. ImAtelier riecht es nach dem Staub der alten Fliesenbruchstücke,die sie in endlosen Schubkastenreihenaufbewahren.Wann immer ein neuer Papst gewählt ist, wirdim Studio Mosaico eine schwere Steinplatte aufdie Staffelei gehievt, rund, mit 136 Zentim<strong>et</strong>ernDurchmesser. Zuerst macht sich einer der Künstleran den goldenen Hintergrund. Dann an daspäpstliche Gewand mit dem roten Überwurf.Schließlich übernimmt einer der Meister das Gesicht.Für Franziskus’ Haut benutzte Bella zweihundertJahre alte, matte Mosaikstückchen, fasttausend Schattierungen. Und allein für die Pupillenbrauchte er 70 Farben. Dabei hatte er nur einunscharfes Foto als Vorlage. Denn dieser Papst –der keinen Personenkult will und ihn gerade dadurchbefördert – lässt sich nur widerwillig fotografieren.Erst zwei Termine hat er den Vatikanfotografengewährt. Jedes Mal sagte er nach einpaar Minuten: »J<strong>et</strong>zt ist es aber genug.«Im Mosaikstudio sagen sie, dass sie ihren neuenNachbarn mögen. Wegen der guten Laune, die erverbreit<strong>et</strong>. Weil er die Schweizergardisten mitHandschlag begrüßt, mit den Gendarmen plaudertund sich seinen Kaffee nicht kommen lässt,sondern aus dem Automaten holt. In dieser Wochewird der Papst sein Porträt in Augenschein nehmen,bevor es in Sankt Paul am Ende der Reiheseiner 265 Vorgänger eingefügt wird. Ein Fries vonGottesstellvertr<strong>et</strong>erköpfen. Eine Galerie, die ausder Vergangenheit in die Gegenwart ragt. Wofürwohl dieser Papst mit den lächelnden Augen einmalstehen wird?Das fragt sich auch Kardinal Gerhard LudwigMüller und lächelt dabei nicht. <strong>Der</strong> Bayer stammtaus dem Bistum Regensburg, ist der zweitmächtigsteMann der katholischen Kirche – und Franziskus’hartnäckigster Gegner.An einem Mittag der vergangenen Woche fährtder Wagen des Papstes an der Piazza della CittàLeonina direkt neben den Kolonnaden des P<strong>et</strong>ersdomesvor Müllers Privatwohnung vor. Wenigspäter sitzt Franziskus bei Müller am Esstisch, dieOrdensschwestern Huberta und Helgardis tragenSchnitzel und Kartoffelsalat auf. Als der Kaffeefolgen soll, sagt Jorge Mario Bergoglio aus Argentinienin schönstem Bayerisch: »I ko nimma.«<strong>Der</strong> Papst gibt auf, aber bloß beim Essen. SeinemGastgeber zu Ehren hatte er sich von Hubertaund Helgardis ein paar Brocken Bayerisch beibringenlassen. Dieser Mann, so scheint es, machtselbst seinem hartnäckigsten Gegner noch eineFreude. Lieb<strong>et</strong> eure Feinde.Franziskus und Müller, Papst und Präfekt derKongregation für die Glaubenslehre – die beidenunterscheiden sich nicht nur in der Länge ihrerTitel. Selten lag der oberste Hüter alter Glaubenslehren,also Müller, so sehr mit dem Verkünderebendieses Glaubens, dem Papst, über Kreuz. Ausder Warte des Deutschen reißt da ein Lateinamerikanergutmütig oder leichtfertig ein uraltes Gebäudeein. Was hat dieser Franziskus nicht alles anUnordnung und Unsicherheit über die geordn<strong>et</strong>eWelt der römisch-katholischen Dogmatik gebracht!Keine Ehrfurcht, noch nicht einmal Respektzeigt er für das Heilige Offizium, MüllersMachtbasis, einst Behörde der Inquisition, in dienoch unter Papst Johannes Paul II. die Abweichleraus aller Welt einbestellt wurden, um sich in einemaussichtslosen Ringen gegen den Entzug ihrerLehrbefugnisse zu wehren.Franziskus dagegen? Ri<strong>et</strong> neulich Besuchernaus seiner Heimat unverhohlen, sich nicht denKopf zu zerbrechen, falls ein Mahnschreiben ausFrancescaChaouqui berätden Papst inFinanzfragen –zuvor beri<strong>et</strong> sieLehman BrothersRom sie erreiche. Durchlesen, wegstecken, weitermachen,laut<strong>et</strong>e seine schelmische Empfehlung.Wo Franziskus eine arme Kirche will, wünschtsich Müller eine glanzvolle. Wo Franziskus Verbünd<strong>et</strong>esieht, bei Protestanten zum Beispiel, sieht MüllerRivalen oder Abtrünnige. Wo Franziskus Verständnispredigt, gegenüber Wiederverheirat<strong>et</strong>en oderSchwulen, pocht Müller auf die Verbote. Und währendFranziskus dem verschwenderischen deutschenBischof Tebartz-van Elst eine Auszeit verordn<strong>et</strong> hat,w<strong>et</strong>tert Müller gegen Medien, die einen redlichenWürdenträger niedermachen. Nirgends aber liegenChef und Chefideologe weiter auseinander als inihrem Blick auf die Millionen und AbermillionenKatholiken weltweit. Für Müller regiert die Kircheüber das Christenvolk, sie sagt ihm, was gut undschlecht, was zu tun und was zu lassen sei. Wie andersdagegen tritt der Papst auf. Für ihn beginnt die Kircheunten und muss sich oben bewähren – erst das Volk,dann die Fürsten. Nicht umgekehrt.Wieder und wieder hat Müller aufbegehrt, hatden Rest an Autorität aufgeboten, der ihm gebliebenist als spät berufener Präfekt, ernannt vombayerischen Papst in dessen Abendröte. Was hatMüller seit dem Konklave nicht alles versucht:Umarmung erst, Herablassung dann, schließlichIntrige. So hat er Franziskus von oben herab »pastorales«Talent bescheinigt – was so viel heißt wie:<strong>Der</strong> neue Mann ist ein braver Hirte, aber gegen dieWölfe der Welt lasst besser mich zu Werke gehen.Doch der Mann aus Buenos Aires, mutiger alserwart<strong>et</strong>, will sich die Welt nicht vergällen lassenvon jemandem, der überall nur Feinde wittert. Undso prallen sie immer wieder aufeinander, hier der»Papst des Tangos und des Kinos« – und dort derdeutsche Glaubenswächter aus dem Stall Ratzinger,ein harter Knochen mit weichem Händedruck.Kardinal ReinhardMarx aus München– er gehörtzum neuen Zirkel,mit dem sich derPapst austauschtFast schon verzweifelt pocht Ratzingers Ziehsohnauf die Einhaltung der Regeln. Lässt <strong>et</strong>waFranziskus erkennen, dass ihm Barmherzigkeit fürwiederverheirat<strong>et</strong>e Geschiedene ein Anliegen sei,schießt Müller mit einem Beitrag im L’OsservatoreRomano, der Prawda des Vatikans, zurück: Ausgeschlossensei, dass Wiederverheirat<strong>et</strong>e jemals dieKommunion erhalten könnten. Roma locuta, causafinita: Rom hat gesprochen, der Fall ist erledigt.In früheren Jahren hätte ein solcher Bannstrahljedes Aufmucken unterbunden. J<strong>et</strong>zt kommt dasAufmucken von ganz oben. Und Kardinäle, die nur<strong>et</strong>was unterhalb dieses Ganz-oben angesiedelt sind,stellen Müllers Macht infrage. Als Erster widersprachder deutsche Kardinal Reinhard Marx ausMünchen. Keine Gnade für Wiederverheirat<strong>et</strong>e?»<strong>Der</strong> Präfekt der Glaubenskongregation kann dieDebatte nicht beenden.« Wenig später trauten sichschon kleinere Lichter wie <strong>et</strong>wa der Bischof vonTrier mit ähnlichen Äußerungen hervor.Es ist in dieser Kirchen-Perestroika nicht ganzklar, wer im Machtspiel nur ein wortgewandterWendehals ist und wer nun frei sagt, wovon er jahrelangüberzeugt war. Klar ist nur: So läuft es, wennein Reich ins Rutschen gerät.Während der Inquisitor Müller noch um seinenEinfluss auf den Kurs der Kirche kämpft, hat Franziskuslängst eine Neben-, nein eine Überregierunggeschaffen. Sie besteht aus mehreren neu installiertenGremien.Regelmäßig ruft er acht Kardinäle aus allenKontinenten zusammen, ein katholisches G 8,kaum weniger international als das Gipfeltreffenvon Regierungschefs aus aller Welt. Diese Wochefind<strong>et</strong> bereits die zweite Sitzung statt, KardinalMarx, der einzige Deutsche in der Runde, mussteim Eiltempo sein rudimentäres Italienisch auffrischen.Es sitzt kein Simultan-Dolm<strong>et</strong>scher undauch kein Sekr<strong>et</strong>är mit am Tisch, die Gesprächsthemensind zu brisant.Die Szenerie hat den Charakter einer Verschwörung,bloß dass der Boss dabei ist: Da steht– irgendwo im Vatikan – ein Tisch. Daran sitzenGäste und Hausherr. Neun Köpfe, mehr brauchtes anscheinend nicht, um eine Milliarde Katholikenzu regieren. Was undenkbar war in der RegierungszentraleVatikan mit all ihren Dikasterien,Eminenzen, Exzellenzen, Ehrenprälaten und Protonotaren,hier passiert es einfach. St<strong>et</strong>s galt dieabsolutistische Verfassung des Kirchenstaats – mitdem Papst als Legislative, Exekutive und Judikativein Personalunion – als Inbegriff der Fortschrittsverweigerung.J<strong>et</strong>zt zeigt sich: Aufbruch im Absolutismuskann erfrischend einfach sein.Erzbischof Müller – fast überflüssig, es zu erwähnen– ist nicht mit von der Partie. Währendder Papst seine Revolte plant, bleibt Müller nur derSpaziergang die Via della Conciliazione hinunterzum Hotel Columbus. Die Via ist eine breiteStadtschneise, die 500 M<strong>et</strong>er vom P<strong>et</strong>ersplatz hinabzum Tiber führt, eine fernsehberühmte Straßenflucht.Im Gehen versucht Müller, vertrauteJournalisten von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen,von seinem Beharren.An keinem anderen Ort der Welt sind Freundeund Feinde im Kampf um die Macht in einerWeltorganisation auf derart wenigen Quadratm<strong>et</strong>ernversammelt. Das macht die Sache für Zuschauerso spannend. Und für Kombattanten sogefährlich.Die Sessel im Apostolischen Palast haben nochimmer goldene Lehnen, und an den Wändenprunkt roter Damast. Doch der Mann, der hierempfängt, spricht von einem Leben, das ihn in derMitte durchschneide. Georg Gänswein führt eineExistenz, die ihm bis zum Rücktritt von Papst Benediktso unvorstellbar war, wie sie j<strong>et</strong>zt quälendsein muss: Tagsüber dient er dem neuen Papst,abends dem alten – und es sind zwei Herren, wiesie sich ein Diener kaum unterschiedlicher ausmalenkönnte.»Eine Amputation« sei Benedikts Rücktritt fürihn gewesen – und noch in weiteren Sprachbildernfließt Blut, wenn Gänswein beschreibt, wie seinLeben sich geändert hat, seit sein einstiger Herr inden Ruhestand ging.Acht Jahre lang war Gänswein der berühmtesteMonsignore des Apostolischen Palastes: Als Sekr<strong>et</strong>ärdes Papstes regelte er den Zugang zu und die Geschäftevon Benedikt XVI. Als »George Clooney desVatikans« bezeichnen ihn Verehrer wie Spötter, dieKombination aus männlichem Zug ums Kinn undbubenhaftem Schalk in den Augen verhalf ihm aufdas Cover der italienischen Vanity Fair. Vor allem aberwar Gänswein der Intendant des Benedikt-Ensembles.Joseph Ratzinger sollte mit Gänsweins Hilfe dasPapsttum zu einer neuen intellektuellen und ästh<strong>et</strong>ischenBlüte bringen – ein Gegenentwurf zu Egalitarismusund Relativismus. Von 2005 bis 2013 hatGänswein alles gegeben – und viel bekommen: »Ichhabe acht Jahre Blut gelassen und auch Blut geleckt,manchmal«, sagt er.In vita <strong>et</strong> in morte, Treue in Leben und Tod, hatteGänswein Ratzinger einst geschworen. J<strong>et</strong>zt sagt er:»Ich habe den Eindruck, in zwei Welten zu leben. Ichmuss da ehrlich sein mit mir selbst: Das ist einSchmerz, das Sichabfinden mit der neuen Rolle.«Die neue Rolle – das sind auch kritische Fragen.Gänsweins Gegner sagen, dass der Sekr<strong>et</strong>ärselbst Benedikt am meisten geschwächt habe, weiler über seine Machtbefugnisse hinausgegangen seiund »im Sinne des Papstes« entschieden habe,ohne dessen formale Zustimmung abzuwarten.Was für eine Absurdität: Am chaotischsten ging esim Vatikan zu, als er noch straff geführt wurde.Günstlingswirtschaft, Intrigantentum und Machtkämpfegipfelten in einem Durcheinander, dasBenedikt die l<strong>et</strong>zte Kraft raubte. Er signalisierte:Auch ein Papst kann kapitulieren. Womöglich öffn<strong>et</strong>eer damit die Tür zur Veränderung.Kurz bevor es zu Ende ging, hat Benedikt seinenPrälaten Gänswein noch zum Erzbischof und Präfektendes päpstlichen Hauses befördert. Franziskushat ihn geb<strong>et</strong>en, das zeremonielle Amt weiterzuführen,das ihm Auftritte an der Seite des Papstes beschert.»Wenn das Ihr Wille ist, dann nehme ich dasin Gehorsam an«, hat Gänswein erwidert. Er sitztj<strong>et</strong>zt auf zwei Ämtern und doch zwischen allen Stühlen.Und kein Titel kann ihn täuschen oder tröstenüber den Verlust der Stellung im Zentrum des römisch-katholischenWeltreichs. Sein Leben, »es istnicht mehr ständig am Herzpuls«.


5. DEZEMBER 2013 DIE ZEIT N o 50Titel: Die Welt liebt ihn, aber ...GLAUBEN &ZWEIFELNDOSSIER 19Papst FranziskusFotos: Lucca Zennaro/Ansa/Reuters (22.7.2013); Lennart Preiss/dapd (u.l.); Massimiliano Miglorato/CPP/Polaris (u.r.)Viele Kleriker blickten in den Kirchen »wie bei einer Beerdigung«, beklagt sich der Papst. Er verordn<strong>et</strong> ihnen gute Launewurde am 17. Dezember 1936 in BuenosAires, Argentinien, geboren. Sein Vater, einEisenbahner, war von Italien nach Südamerikaausgewandert, ebenso die Großeltern mütterlicherseits.Bergoglio hat vier Geschwister.Nach der Schule wurde er Chemi<strong>et</strong>echniker,1958 trat er dem Jesuitenorden bei.Bergoglio studierte Geisteswissenschaften inChile, dann Theologie in Argentinien. 1969wurde er zum Priester geweiht, 1973 stieg erzum Leiter der argentinischen Jesuiten auf.Bis heute umstritten und ungeklärt ist seinWirken während der Militärdiktatur von1976 bis 1983, insbesondere die Frage, ob ergenug g<strong>et</strong>an hat, um oppositionelle Geistlichevor den Folterern des Regimes zu schützen.1992 ernannte Papst Johannes Paul II.Bergoglio zum Weihbischof von Buenos Aires,1998 stieg er zum Erzbischof auf. Beliebtwurde er in der Bevölkerung dadurch, dass erPriester in die Elendsviertel der argentinischenHauptstadt entsandte, dort oft selbstunangemeld<strong>et</strong> erschien und Hilfsprojekte fürDrogenabhängige und Prostituierteanschob. Während der Wirtschaftskrise zuBeginn des neuen Jahrtausends, als vieleArgentinier verarmten, stellte Bergogliozunehmend die freie Marktwirtschaft in Frage.2012 unterstützte Bergoglio die MaßnahmenBenedikts gegen Kleriker, die sexuellenMissbrauch begangen hatten. Wie Benediktlehnte er die bloße Vers<strong>et</strong>zung der Täter abund forderte ein Verbot ihrer Amtsausübung.2001 war Bergoglio von Johannes Paul II.zum Kardinal ernannt worden. Nach dessenTod soll er beim Konklave 2005 neben JosephRatzinger der mächtigste Kandidat gewesensein und im dritten Wahlgang 40 Stimmenerhalten haben. Nach Benedikts Rücktrittwurde er am 13. März 2013 zum 266. Papstder römisch-katholischen Kirche gewählt.<strong>Der</strong> Neue im Haus, nun, er macht vor allemvieles neu. Gänswein kann das kaum gefallen.Mehr noch vielleicht als sein Herr selbst war derSekr<strong>et</strong>är ein Hohepriester der Tradition, sah in ihrnicht ein Diktat der Form, sondern ein Kondensatkirchlicher Weisheit. Dass Franziskus partoutnicht aus dem Gästehaus in den ApostolischenPalast ziehen will, weil er »unter Leuten« lebenmöchte, weil ihn der dunkle Schlauch, der in diepäpstlichen Gemächer führt, »trübsinnig« mache,all das hat Gänswein aufgebracht.Er hat darin nicht nur einen Bruch mit derTradition gesehen, sondern auch einen Affrontgegen den Vorgänger, gegen alle Vorgänger. WarBenedikt <strong>et</strong>wa kein bescheidender Mann? Er hatdoch die Papsträume nicht aus Selbstsucht beansprucht,sie drücken die Stellung des Heiligen Vatersin der Kirche aus. Doch die Kontroverse seibeigelegt, sagt Gänswein, gelegentlich scherzen derneue Papst und der ehemalige Sekr<strong>et</strong>är j<strong>et</strong>zt überdie seelischen Motive, die Franziskus gegen seinenEinzug in den Palast ins Feld führte. Ein Rest anUnruhe aber beherrscht noch immer das Verhältnisder beiden. »Ich warte jeden Tag von Neuem,was heute anders sein wird«, sagt Gänswein.Gebunden fühlt der Sekr<strong>et</strong>är sich an sein altesVersprechen: Er steht zu Benedikt. Nach 21 Uhrkümmert sich Gänswein um ihn, erledigt Post, regeltLiegengebliebenes, ist da für den alten Mann,den Gänswein weiter »Heiliger Vater« nennt.»Es gibt nur einen Papst«, sagt Gänswein. Undes klingt wie ein Ordnungsruf an sich selbst.Auch Pi<strong>et</strong>ro Zander, der Chefarchäologe derDombauhütte, ist freundlich zum emeritiertenPapst. Gegenüber Journalisten will er den neuerdingserheblichen Besucherzuwachs bei Generalaudienzenauf dem P<strong>et</strong>ersplatz nicht beziffern.Dabei sind die Menschenmassen im MomentZanders größtes Problem. Die Gläubigen rennendem neuen Papst die Bude ein.Früher war der P<strong>et</strong>ersplatz halb voll, heute drängensich die Leute bis weit hinunter in die Via dellaConciliazione. Sie ist j<strong>et</strong>zt eine Art Überlaufbeckenfür mehr oder weniger Religiöse, die einen Blickauf den Papst werfen wollen. Die Menschen stehenauch unten auf der Straße vor Erzbischof MüllersWohnung. Dabei drehen sie ihm den Rücken zu.Die Generalaudienz find<strong>et</strong> immer mittwochsstatt. Zanders Leute sperren die Zufahrtsstraßenfür Autos j<strong>et</strong>zt schon am frühen Dienstagabend,und die Absperrgitter auf dem Platz räumen sieüberhaupt nicht mehr weg.Wenn Zander von »erschütterten Fundamenten«spricht, meint er echte Steine und keine Gewissheiten.Seine Sorge gilt den Massen, die nachden Audienzen in den P<strong>et</strong>ersdom drängen. DieBasilika verträgt höchstens 30 000 Menschen amTag, schon ihr Atem sei eine »konservatorische Katastrophe«,sagt Zander. Trotzdem kann er die Portaleder Kirche über dem Grab P<strong>et</strong>ri nicht schließen.Ein verriegelter Dom wäre ein fatales Signal.Was also tun? Zander lächelt. Sie hätten erwogen,die Generalaudienz an einen anderen Ort zu verlegen,in ein Stadion vielleicht, den Gedanken aberschnell verworfen. Stattdessen werden sie eine zweiteAudienz einführen, immer samstags. Wahrscheinlichb<strong>et</strong>en sie schon j<strong>et</strong>zt, dass das genügt.Das Kirchenvolk liebt Franziskus, und er liebt eszurück. Seitdem er beschlossen hat, seine Gläubigenzu befragen, und zwar ausgerechn<strong>et</strong> zu Ehe, Familieund Sexualmoral, ist sein Reformeifer bis ins l<strong>et</strong>zteDorf vorgedrungen. Ein Kirchenvolksbegehren, vonoben angez<strong>et</strong>telt – so viel Plebiszit war nie. <strong>Der</strong> Papstwill beispielsweise wissen, was Gläubige »in schwierigenEhesituationen« von der Kirche erwarten, welche»pastorale Aufmerksamkeit« für Menschen in gleichgeschlechtlichenPartnerschaften möglich sein könnte,ob sich jemand von der Kirche »verl<strong>et</strong>zt« fühle.Über die Antworten auf Franziskus’ Fragenwerden mehrere Hundert – nach eigenen Angaben– keusche Männer im Herbst nächsten Jahres beieiner Bischofssynode reden. In den deutschen Bischofsordinariatenstöhnen die Oberen schon übereine Idee, die dem Papst zwar Schlagzeilen bringe,aber den Bistümern nur Arbeit mache. Wer wirdsich da aus welchem Winkel der Kirche mit wasfür Meinungen melden? Wer soll die Erkenntnissebündeln? Wie kann die Bischofskonferenz zu einemeinheitlichen Ergebnis kommen?Eher lieblos haben die meisten deutschen Bistümerdas römische Herzensanliegen ins Intern<strong>et</strong>gestellt, die Rücklauffrist end<strong>et</strong> oft schon in dieseroder der nächsten Woche.Wann Sex mit wem zu welchem Zweck erlaubtist, regelt die katholische Kirche bisher ganz genau.ErzbischofGerhard LudwigMüller ist einTraditionalist –und ein Gegnerder ReformenHöchste Hierarchen, Päpste und Präfekten habensich am Unterleib ihres Volkes abgearbeit<strong>et</strong>. Genützthat alles nichts: In Deutschland leben Umfragenzufolge mehr als 90 Prozent der Katholikenanders, als der Vatikan es erlaubt. Jene zehn Prozent,die vorgeben, sich an die Regeln zu halten,werden als Freaks zu Talkshows eingeladen. <strong>Der</strong>Papst selbst hat sich zu Keuschheit verpflicht<strong>et</strong>,doch er zweifelt offenkundig daran, dass enthaltsamlebende Männer die besten Ratgeber für alle Lebenslagensind, besonders in Liebesdingen.Dass Franziskus seine Lehre demnächst an Umfrageergebnissenausrichten wird, ist unwahrscheinlich– und birgt Enttäuschungspotenzial in Obama-Dimension. Ein Papst ist kein Dienstleister und dasChristentum kein Buff<strong>et</strong>, das man sich selbst zusammenstellt.Doch Franziskus’ Umfrage zeigt, dasser viel vom Volk hält und wenig vom hohen Klerus.Die Kurie hat er einmal als »Lepra« bezeichn<strong>et</strong>.In den Schriften der Glaubenskongregationkommen leibhaftige Menschen kaum vor. Franziskusaber preist in seinen Predigten die einfachenMenschen aus dem Volk. Selten vergisst er, seineOma Rosa zu erwähnen. Wenn er von Barmherzigkeitspricht, erzählt er von barmherzigen Menschen,denen er selbst begegn<strong>et</strong> ist. Meist sind esMütter. <strong>Der</strong> Mann hat nicht nur eine Kirchenkarriere,sondern eine Biografie. Und er hat keineAngst vor Frauen, nicht mal vor jungen, hübschen.Seine revolutionärste Erfindung ist ein Beratergremium,bestehend aus sieben Laien und einemPriester, das ständig mit ihm arbeit<strong>et</strong> – und die reformerischeG-8-Kardinalsrunde ihrerseits beunruhigt.Die klerusfernen Berater sollen die Finanzen desVatikans ordnen und nach der VatiLeaks-Affäre auchdie Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Intransparenzund Machtgerangel hatten den Skandal ausgelöst,der l<strong>et</strong>ztlich zum Rücktritt des alten Papstes führte.Geheime Dokumente waren gestohlen worden, direktvom Schreibtisch Benedikts. Nun müssen sie denLaden transparent machen.Wer mit dieser Arbeit anfängt, land<strong>et</strong> schnell beiden Machtfragen: vor allem bei der Entscheidung,ob die Kirche arm oder reich sein will, ob sie nehmensoll oder doch geben. Und darf man Gutes tun mitschlechtem Geld? Die Quellen des katholischenReichtums sind manchmal trübe, das Geschäftsgebarender Vatikanbank ist alles andere als heilig.Zu Franziskus’ Finanzexperten gehören ein spanischerWirtschaftsprüfer, ein deutscher Versicherungsfachmann,ein französischer Manager, einehemaliger Außenminister von Singapur und einejunge Frau: die italienische KommunikationsspezialistinFrancesca Immacolata Chaouqui, ausgeliehenvon der Unternehmensberatung Ernst & Young.Dass selbst Kirchenhierarchen nicht im D<strong>et</strong>ailwissen, wonach Francesca in den Bilanzen des Kirchenstaatessucht, und dass sie außerdem attraktivist, hat im Vatikan, in der Presse und im Intern<strong>et</strong>allerlei Geraune provoziert.Georg Gänsweinwar BenediktsSekr<strong>et</strong>är – unterFranziskus suchter noch nachseiner RolleFrüher waren Frauen, die in die Nähe des Papsteskamen, bestenfalls Köchinnen oder Sekr<strong>et</strong>ärinnen.Chaouqui, 30, ist studierte Juristin und trägtRegierungsverantwortung im Schattenkabin<strong>et</strong>t desPapstes. Ihre Aufgabe wie die der anderen Laien istes, dem Papst den Kapitalismus der eigenen Institutionzu erklären. Francesca ist da sicher komp<strong>et</strong>ent.Während der Finanzkrise beri<strong>et</strong> sie als Kommunikationsexpertinder Beraterfirma Orrick, Herrington& Sutcliffe die Lehman Brothers Bank.Einst brauchte es für eine Karriere im Vatikanweniger Komp<strong>et</strong>enzen als vor allem Kadavergehorsam.J<strong>et</strong>zt kontrollieren Laien, die sich durch ihrenSachverstand qualifizieren, die alten Mächtigen.Seine revolutionären Pläne hat Franziskus imVorkonklave dargelegt. Dafür ist er gewählt worden.Unruhig fragen sich seine Anhänger nun:Wie viel Zeit bleibt diesem Papst?Franziskus hat nur noch einen Lungenflügel,noch vor Weihnachten wird er 77. Manche Männerin den stillgelegten Büros des Vatikans wartennur darauf, dass ihm die Luft ausgeht. Die Traditionalistenverspotten ihn dafür, dass er auf Lampedusaein altes Boot zum Altar umwidm<strong>et</strong>e – undfürchten ihn zugleich. Ihren Goldkantenkatholizismushat er kritisiert. J<strong>et</strong>zt überwintern die Liebhabervon Glanz und Gloria in ihren Nischen undwarten darauf, dass ihre Stunde kommt.Schon früh kursierte in Rom das Gerücht,Franziskus lebe gefährlich. Er riskiere viel, wenn erlinke Basisgruppen mehr pflege als rechte Zirkel inRom. Und es sei geradezu verwegen, bei der Vatikanbankaufzuräumen. Wird man ihn eines Tagesvergift<strong>et</strong> im Gästehaus Santa Marta finden? Odertot im Tiber?Vom möglicherweise unnatürlichen Ende desPapstes ist in diesen Tagen im Vatikan auffällig oftdie Rede – wenn auch meist in der Negation. »Ichsag j<strong>et</strong>zt nicht, dass ihm morgens jemand was inden Tee tut …«, sagt ein hochrangiger Ordensmann,um anschließend umso länger über dieVielzahl der Gegner, der Beleidigten und derjenigenzu sprechen, die sich zurückges<strong>et</strong>zt fühlen.Und drängen sich nicht Parallelen zu JohannesPaul I. auf? Auch diesen undogmatischen Pontifex,der auf den steifen Paul VI. gefolgt war, nanntensie den »lächelnden Papst«. Auch Johannes Paul I.soll sich – kaum im Amt, aber mangels Medienpräsenznoch weitgehend ungeschützt – angeschickthaben, aufzuräumen mit Kurie und Vatikanbank,bis alles jäh end<strong>et</strong>e. 33 Tage nach Amtsantrittwar der neue Papst tot.35 Jahre später bewegt sich wieder ein Papstmit fast schlafwandlerischer Unschuld durch diesenhöfischen Apparat. Allerdings, sagt ein Vatikan-Insider:»Giftmord ist nicht mehr nötig. SeitBenedikt kann man einem Papst auch den Rücktrittnahelegen …«Franziskus verströmt noch die Energie desNeuanfangs, von Amtsmüdigkeit keine Spur. Allerdingskonnte er bisher auch nichts Bleibendesschaffen. <strong>Der</strong> Papst hat ein zartes Band zu seinemKirchenvolk geknüpft, aber in Zeiten der Ungeduldkann seine Liebenswürdigkeit schnell unterShow-Verdacht geraten. Bald wird es nicht mehrreichen, dass er Fragen stellt, er wird Antwortengeben, Neuerungen durchs<strong>et</strong>zen müssen. Schlussmit der Diskriminierung von Frauen, Homosexuellenund Protestanten! Wagt er da nichts, dannwird ein großes Gefühl rasch klein.Ein paar praktische Projekte hat der Papst schongestart<strong>et</strong>. Zum Beispiel schafft er gerade einenpäpstlichen Hilfsfonds für Katastrophenopfer, »Misericordia«soll er heißen. Franziskus will, dass dieKirche nicht mehr l<strong>et</strong>zte, sondern erste Zufluchtfür Arme ist. Kirchen und Klöster sollen ihre Pfortenfür Flüchtlinge öffnen, ihnen Schutz gewähren– auch vor dem europäischen Asylrecht. Und füreinen Mann namens Konrad Krajewski hat sich derPapst einen besonderen Auftrag ausgedacht.Krajewski ist der Neue im Amt des päpstlichenAlmosengebers, ein hoher Beamter. Sein Büro liegtim Schatten des P<strong>et</strong>ersdoms. Vom Schreibtisch aushaben Krajewskis Vorgänger Gelder für Bedürftigeangewiesen. <strong>Der</strong> 50-jährige Pole nun soll nichtdrinnen warten, denn draußen ist das Leben, draußenist die Armut. Nachts liegen die Obdachlosenvon Rom unter den frisch renovierten Kolonnaden,die den P<strong>et</strong>ersplatz umschließen.Abends, so will es der Papst, fährt Krajewski ineinem kleinen weißen Fiat durch die Stadt, zu denArmen und Obdachlosen, begleit<strong>et</strong> von vierSchweizergardisten, die vier Sprachen sprechen.Er verteilt Geld vom Papst. Und weil Rom zugroß ist, um mit einem einzigen Auto alle Straßenabzufahren, schickt er j<strong>et</strong>zt jede Woche mehr alseinhundert Schecks über maximal tausend Euroan die Pfarrer der Stadt, damit auch sie denArmen helfen.»<strong>Der</strong> Papst will, dass wir nicht auf die Leutewarten, sondern zu ihnen gehen«, erzählt Krajewski.»Er hat mir gesagt, mein Konto ist in Ordnung,wenn es leer ist.«Franziskus will die Kirche wieder glaubwürdigmachen. Das leere Konto – für den Papst ist es seinKapital.Mitarbeit: MARCO ANSALDO UNDWOLFGANG THIELMANNAuszüge aus dem »Evangelii Gaudium«»Ebenso wie das Gebot ›Dusollst nicht töten‹ eineGrenze s<strong>et</strong>zt, um den Wertdes menschlichen Lebens zusichern, müssen wir heuteNein sagen zu einer Wirtschaftder Ausschließung.Diese Wirtschaft töt<strong>et</strong>«»Die Ethik wird mitspöttischer Verachtungb<strong>et</strong>racht<strong>et</strong>, weil sie die Machtund das Geld relativiert.«»Wenn ein Pfarrer währenddes liturgischen Jahres zehnmalüber die Enthaltsamkeitund nur dreimal über dieLiebe spricht, entsteht einMissverhältnis.«»Ich glaube nicht, dass manvom päpstlichen Lehramt eineendgültige Aussage zu allenFragen erwarten muss,die die Kirche und die Weltb<strong>et</strong>reffen.«»Die Priester erinnere ichdaran, dass der Beichtstuhlkeine Folterkammer seindarf, sondern ein Ort derBarmherzigkeit des Herrn.«»<strong>Der</strong> Mensch wird wieein Konsumgut b<strong>et</strong>racht<strong>et</strong>,das man gebrauchenund wegwerfen kann.«

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