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François Michel CroissantTelevisionäre SelbstreferenzialitätNormative Muster SchlingensiefscherFernsehkritikZu den Fernsehbezogenen Projekten„Talk 2000“ und „Ausländer Raus - Bitte liebtÖsterreich - die Wiener Containershow“von Christoph SchlingensiefUniversität Augsburg


VorwortPraktischer Teil dieser Magisterarbeit ist ein schriftliches Interview mit demTheater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief, über dessen fernsehkritischeAnsätze diese Arbeit und somit auch das Interview selbst Aufschluss geben sollen.Ursprünglich hatte ich die Absicht, ein persönliches Interview zu führen, das ichzusätzlich visuell-auditiv aufnehmen wollte. In einem solchen Rahmen wäre eswahrscheinlicher gewesen, spontane Antworten und auch dementsprechendeFragen zu erhalten bzw. zu stellen. Leider konnte Schlingensief trotz intensiverBemühungen meinerseits dieser meiner Bitte um ein persönliches Interview auszeitlichen und organisatorischen Gründen nicht nachkommen. Auf diesemHintergrund bin ich Herrn Schlingensief jedoch überaus dankbar, dass er mirmeine Fragen letztendlich schriftlich beantwortet hat. Aufgrund meiner Skepsiseinem rein schriftlichen Interview gegenüber, konzipierte ich den Fragenkatalogungewöhnlich ausführlich, um ein ausreichendes und AufschlussgebendesErgebnis zu erlangen.Da einige Projekte von Herrn Schlingensief in kooperativer Zusammenarbeit mitder „Bundeszentrale für politische Bildung“ in Bonn realisiert wurden, führte ichzusätzlich auch ein kleines, ebenfalls schriftliches „Experteninterview“ mit demzuständigen Ansprechpartner Herrn Ehmke vom „Bundesamt für politischeBildung“ (bpb), weil ich den Blick einer öffentlicheren Instanz mit medienethischenund bildungspolitischen Interessen an der Arbeit von Christoph Schlingensief inmeine Überlegungen bereichernd mit einfügen wollte. Somit gilt auch Herrn Ehmkemein besonderer Dank.Auch wenn sich diese Arbeit den normativen Vorgehensweisen schlingensiefscherFernsehkritik widmet und sich dadurch mit dem Werke dieses MehrfachbegabtenKünstlers generell und im Speziellen seinen Fernsehbezogenen Projektenauseinandersetzt, hegt die vorliegende Arbeit jedoch keine Ansprüche aufVollständigkeit bezüglich des ganzen Schaffens des Theatermanns, sondern gibt2


nur einen für meine Zwecke ausreichenden Einblick in die Fernseharbeit unddessen Muster der Medienkritik.Im Folgenden werden die Zuschauerinnen und Zuschauer der Einfachheit halber inihrer Gesamtheit als „Rezipienten“ bzw. „Zuschauer“ bezeichnet, ohne dass diesegeschlechtsindefiniten Substantiva als diskriminierend zu verstehen wären.Augsburg, Juni 2003François Michel Croissant3


InhaltsverzeichnisVorwort…………………………………………………………………………………..2Einleitung.............................................................................................................7I. Normative Muster schlingensiefscher Arbeit und ihrerpraktischen und theoretischen Vorgehensweise………......................111.1 Zur Vorgeschichte und <strong>zum</strong> Werdegang….…...……………………………...111.2 Einflüsse ………………..……………………………………………….............131.2.1 Berthold Brecht und Heiner Müller.……………………………………..131.2.2 Joseph Beuys.…………………………………………………………….151.3 Projekte von Christoph Schlingensief.........................................…………...181.3.1 „Passion Impossible“………………………………………...................181.3.2 „Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 StundenÜberleben für Deutschland …………………………………………….181.3.3 „Chance 2000“..……………………………………………………….....191.3.4 „U 3000“..…………………………………………………......................201.3.5 „Quiz 3000“...…………………………………………………….............221.3.6 „Freakstars 3000“.……………………………………………….............244


II. Zum „performativen Realitätsfernsehen“………………………..........282.1 Zum Phänomen des „performativen Realitätsfernsehens“………………....282.2 Talkshows………………………………………………………………………...312.2.1 Zur Klassifizierung der Talk-Formate.………………………………….332.2.2 Zu den Merkmalen der Talkshow………………………………………352.2.3 Zu den Talkshowthemen...……………………………………..............372.2.4 Zu den Talkshowgästen.………………………………………………...382.2.5 Zu den Rezipienten der Talkshow……………………………………...422.3 Reality-Soap.……………………………………………………………………..462.3.1 Zum Begriff Reality-Soap und <strong>zum</strong> Konzept von „Big Brother“..……462.3.2 Zum Phänomen „Big Brother“ und <strong>zum</strong> öffentlichen Diskurs.……….482.3.3 Zu den Rezipienten und zur Einordnung von „Big Brother“.…………482.3.4 „Big Brother“ - Zwischen Realität und Inszenierung..…………….....512.4 Zur Frage der Verantwortung in den Medien..………………………............522.5. Zum Phänomen der „Televisionären Selbstreferenzialität“………………...56III. Schriftliches Leitfadeninterview mitChristoph Schlingensief .……………………………………………….593.1 Zur Forschungsfrage und zur Idee des Interviews .………………………...593.2 Das Interview selbst..…………………………………………………………..603.3 Kurze Auswertung des Interviews…………………………………………….715


IV. Zu den Fernsehprojekten und Formatpersiflagen vonChristoph Schlingensief………………………………………………………..784.1 „Talk 2000“.……………………………………………………………..............784.1.1 Zum Setting von „Talk 2000“.…………………………………………...784.1.2 „Talk 2000“ als Gegenmodell.…………………………………………..794.1.3 „Talk 2000“, die einzelnen Sendungen und ihre Themen .................854.1.4 Kurze Analyse von „Talk 2000“..……...............................................894.1.5 Politische Ansätze bei „Talk 2000“.…………………………...............914.2 „Ausländer raus – Bitte liebt Österreich- die Wiener Containershow“….....934.2.1 Zur Konzeption von „Ausländer Raus“...…………….………..............934.2.2 Muster der „Fluxus“- Bewegung .………….…………………………...994.2.3 Reaktionen und Resümee……………………………....……............1004.2.4 „Reality-Soap“ – Zur Unterhaltung im Fernsehen..………………….103V. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung………………………107VI. Literatur- und Quellenverzeichnis..………........................................1206


Einleitung„Babysitter der Moderne“, „Tröster der Einsamen“, „Volkskrankheit Nr.1“ bis hin<strong>zum</strong> Begriff des seriösen Aufklärungsmediums und Hauptlieferant fürInformationen – alle diese Bezeichnungen stehen für ein und dasselbe, dasFernsehen. Es gibt viele Begriffe für das, was uns alle vereint, unterhält, täglichinformiert, was uns alle entspannen lässt, aber auch was uns alle ablenkt,entzweit, abstumpft und „verblödet“. Ist Fernsehen nun „Verdummung oder nurSündenbock“? 1Viele sprechen von dem Verfall der Moral, von hochbedenklichen Auswirkungen,die von der Nutzung des erfolgreichsten Mediums unserer Zeit ausgehen. Ebensogibt es viele Stimmen, die die Chancen, die Möglichkeiten und Anregungen, dievon unser aller „Flimmerkiste“ ausgehen, preisen. Die Mehrheit will ihr alltägliches„Entspannungsmittel“ jedoch nicht missen wollen.Jeder einzelne Mensch, der fernsieht, hat eine ganz eigene individuelle Beziehungzu eben diesem Medium und besitzt eine ganz persönliche Meinung dazu. Dochnichtsdestotrotz gehört ein jeder der großen Gemeinde an, die längst weiß, dassdas Fernsehen den Alltag bestimmt, die Kunst und Kultur wie auch die Politik unddie Gesellschaft beeinflusst und überall präsent ist. Das Fernsehen alsMassenmedium richtet sich nach dem Massengeschmack und kreiert gleichzeitigdie Richtlinien, wie der Massengeschmack zu sein hat.Aufgrund der Tatsache, dass ich der Theater- und Filmregisseur, Politprovokateurund Künstler Christoph Schlingensief in all seinen Fernsehbezogenen undtelevisionären Projekten mit den erfolgreichen Fernsehformaten des „Reality TV“auseinander setzte, gilt ihm mein Hauptaugenmerk in dieser Arbeit. Schlingensief,der jahrelang als Filmemacher tätig war und nun schon seit mehreren Jahren alsrenommierter Theaterregisseur an der Berliner Volksbühne wirkt, betrat erstmals1 vgl. Pressemitteilung für die Kunstausstellung „Televisions – Kunst sieht fern“ in der KunsthalleWien vom 18. Oktober bis 6. Januar auf der Homepage www.KUNSTHALLEwien.de vom 26.08.027


1997 mit einer Selbstgestalteten Talk Show - „Talk 2000“ auf RTL - dieFernsehlandschaft. Seither hat er sich als „TV-Terrorist“ („Die Zeit“, 7.12.2000)einen Namen gemacht und lässt so gut wie keine Sendeform aus, die er nichtkritisiert, persifliert oder auf seine Art und Weise verändert.In dieser Arbeit werde ich mich bezüglich der schlingensiefschen Projekte denErfolgsrezepten des mittlerweile schon wieder abflauenden Reality TV- Formatssowie den kontroversen Kompetenzen und Tendenzen im Fernsehen seit den 90erJahren widmen. Natürlich hat sich das Deutsche Fernsehen innerhalb der knapp50 Jahre seines Bestehens sehr verändert, und doch gab es nie einen soeinheitlichen, konsensartigen Trend bzw. Wandel wie seit Beginn der 90er Jahre.Diese neue Richtung hat das Fernsehprogramm bis heute stark geprägt und warimmer wieder Anlass für Diskussionen.In meinem ersten Kapitel werde ich auf die Vorgeschichte und den Werdegang vonChristoph Schlingensief eingehen und versuchen, die Tradition, in der er steht, obes sich um das politische Theater von Berthold Brecht und Heiner Müller oder etwaum die politische Kunst eines Joseph Beuys handelt, aufzuzeigen. Schlingensiefzeigt immer wieder offen, welchen Vorbildern er sein Werk widmet und von wem ersich inspirieren lässt; manchmal sind diese ein Schauspieler, ein Politiker, einPädagoge oder eben auch populäre Fernsehakteure. Ich werde eine Reihe vonProjekten von Christoph Schlingensief kurz vorstellen, um seine methodischenVorgehensweisen deutlich zu machen. Auf jeden Fall kann man ihn und seineArbeit als provokant und zugleich sozial engagiert bezeichnen.Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich das Format des performativenRealitätsfernsehens erklären und mich speziell dem „Talk“ und seiner Geschichtewie auch der seit „Big Brother“ neu entstandenen Sendeform der „Reality-Soap“widmen. Diese neue Art der Unterhaltung mit Spielcharakter startete mitimmensem Erfolg am 1.3.2000 auf RTL2.8


Seit der ersten richtigen Talkshow von 1992 mit Hans Meiser auf RTL nachamerikanischem Vorbild hat eine neue Idee Einzug ins Deutsche Fernsehengehalten. Plötzlich wollten alle Realität ins Fernsehen bringen, der Begriff „desperformativen Realitätsfernsehens“ etablierte sich. Doch was ist „performativesRealitätsfernsehen“? Mittlerweile gab und gibt es zahlreiche Ableger und etlicheneue Formate, die diesem Boom und dieser vermeintlichen Gier nach Echtheit imFernsehen gerecht werden wollen. Damit einher ging auch, dass die Intimität imTV-Geschäft enttabuisiert wurde und dies bis heute den Sendern hoheEinschaltquoten verschafft.Seit dem Zeitalter der Talk- und der Reality-Show steht die Diskussion um Werte,Normen, Moral und Medienethik mehr denn je im Mittelpunkt derMedienwissenschaft und so werde ich mich in diesem Teil kurz mit der Frage derVerantwortung in den Medien beschäftigen.Da Schlingensief genau genommen Selbstbezogenes Fernsehen macht, werde ichauch auf den relativ neu aufgekommenen Aspekt der televisionärenSelbstreferenzialität eingehen. Immer öfter wurden das Fernsehen, seine Akteure,die jeweiligen Formate und Themen, die Konzept und Inhalte <strong>zum</strong> Gegenstandanderer TV-Sendungen. Es wurden im Fernsehen Sendungen entwickelt, die überdas Fernsehen berichten. Dieses Phänomen kann man in allen Programmenbeobachten, egal ob es auf humoristische, wissenschaftliche oder rein informativeArt und Weise geschieht.In den mittlerweile 5 Fernsehbezogenen Projekten von Schlingensief werdenimmer wieder existierende TV- Formate angesprochen und kritisch durchleuchtetoder <strong>zum</strong>indest als Plattform und Oberfläche benutzt, um daraus bzw. daraufetwas Neues zu kreieren. Er hinterfragt die deutsche Medienlandschaft und spieltmit ihr das Spiel von Gut und Böse, von Sinn und Unsinn, von Sein und Schein. Sowerde ich versuchen, mittels der Durchführung eines schriftlichenLeitfrageninterviews mit Christoph Schlingensief selbst seine konkreten Ziele, diefernsehkritischen Ansätze sowie die normativen Muster seiner TV-Arbeit9


herauszufinden. Welche Ideologien und Normvorstellungen liegen seiner Arbeitzugrunde, welche Ansprüche und Erwartungen hat er an das Fernsehen? DiesemInterview widmet sich der dritte Teil meiner Arbeit.In meinem vierten Kapitel werde ich die Fernsehbezogenen ProjekteSchlingensiefs im Speziellen - davon zwei detailliert - untersuchen. Die schonerwähnte Talkshow „Talk 2000“ begann in der ersten Folge mit dem Motto: „Jederkann in Deutschland Talkmaster werden. Ich will beweisen dass das möglich ist.Jeder hat das Recht dazu, denn ich glaube: Jeder Mensch ist im Moment besserals alle Talkmaster, die wir in Deutschland im Fernsehen sehen“ (Schlingensief,1997). Anhand dieser Sendung, die sich eher dem „Promitalk“ zuordnen lässt,werde ich aufzeigen, dass Christoph Schlingensief eine fernseh- und kulturkritischeSendung macht, die andere nachfolgende einläutet, welche allesamt verschiedeneSendeansätze- und Formate persiflieren oder <strong>zum</strong>indest adaptieren. Zudem istdieses Kapitel dem Projekt „Ausländer raus - Bitte liebt Österreich, die WienerContainer Show“ von Christoph Schlingensief gewidmet. Hier handelt es sich nichtum eine Fernsehsendung, sondern um eine Art „Polithappening“, welchesSchlingensief im Jahre 2000 in Anlehnung an die Erfolgsshow „Big Brother“ imRahmen der Wiener Theaterfestwochen veranstaltete. Auch hier widmete er sicheinem televisionären Format mit Realitätsansprüchen und entwickelt daraus seineeigene Variante, eine politisch mediale Installation gegen Xenophobie mit denMitteln eines televisionären Erfolgsrezepts.Die Frage stellt sich, was Schlingensief neben den politischen undgesellschaftskritischen Aspekten, die sich durch seine ganze Arbeit ziehen,televisionär verändern will und was seine kritischen Ansätze wirklich sind. Geht esihm um die Zuschauer insgesamt, speziell um eine Zielgruppe, wenn denn einebesteht oder vielmehr um die Medienmacher bzw. –Akteure? Geht es beiSchlingensief womöglich nur um eine Inszenierung seines Selbst mit möglichstgroßem öffentlichem Aufsehen oder will er wirklich etwas ausdrücken, denZuschauern vermitteln und etwas in der Fernsehwelt aufzeigen oder reformieren?Diese Fragen werde ich in meiner Arbeit versuchen zu beantworten.10


I. Normative Muster schlingensiefscher Arbeitund ihrer praktischen und theoretischenVorgehensweise„Unglaublich aber wahr, vierzig Jahre nachBerthold Brecht[…]und mitten in der schönstenPostmoderne müssen wir erkennen: Kunst undWelt sind doch nicht zwei getrennte Dinge.“(Lochte et al., 1998 nach Christiane Kühl, „taz“)1.1 Zur Vorgeschichte und <strong>zum</strong> WerdegangChristoph Maria Schlingensief, geboren am 24. Oktober 1960 in Oberhausen,wuchs in einer - wie er selbst sagt - „kleinbürgerlichen“, katholischen Familie auf.Sein Vater war Apotheker und seine Mutter Kinderkrankenschwester. DasSchicksal, Einzelkind zu sein, spricht Schlingensief in seiner Talkshow „Talk2000“quasi als „running gag“ in jeder Folge an. Er beschreibt, dass seine Elterneigentlich 6 Kinder haben wollten und er, der erst nach längerer Zeit als einzigesKind auf die Welt kam, somit nun 6 Kinder verkörpert, was für ihn ein unheimlicherDruck bedeute, der auf ihm laste. Der Glaube und die Auseinandersetzung mitGott sind für Schlingensief seit 1966 wichtiger Bestandteil in seinem Leben undseinem Schaffen, nach dem er, damals sechsjährig seinen Dienst als Messdienerin der Herz Jesu Kirche in Oberhausen antrat.Schon mit 8 Jahren erkannte Schlingensief seine große Leidenschaft <strong>zum</strong> Film,sodass er bis zu seinem 22. Lebensjahr bereits über 12 Filmproduktionenabschließen konnte, von kurzen Kriminalgeschichten bis zu kleinerenDokumentationen. Nach dem Abitur bewarb er sich zweimal an der Münchener11


Filmhochschule, jedoch ohne Erfolg. Frei nach dem Motto „Scheitern als Chance“,ließ er sich durch diesen Misserfolg nicht vom Filmemachen abbringen ließ.Bezeichnenderweise wird dieses Motto im Rahmen seiner späterenParteigründung „Chance 2000“ eine bedeutsame Rolle spielen. Während er ab1981 in München fünf Semester Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichtestudierte, um das Studium dann doch frühzeitig abzubrechen, widmete er sichweiteren eigenen Kurzfilmproduktionen. Ende 1982 kehrte er ins Ruhrgebietzurück und arbeitete dort zunächst als Assistent des Experimentalfilmers WernerNekes. In den darauf folgenden Jahren drehte Schlingensief eine Trilogie zurFilmkritik mit dem Untertitel „Film als Neurose“, nämlich „Phantasus muss anderswerden“, „What happened to Magdalena Jung“ und „Tunguska- die Kisten sind da“.Der letzter dieser drei Filme ist zugleich der erste abendfüllende FilmSchlingensiefs, der mit seiner filmischen Ästhetik absichtlich ein Spiel mit demAuge des Zuschauers treibt; er bricht mit den Sehgewohnheiten und will betontlustvoll alle Möglichkeiten des Sehens freisetzen und ansprechen. Beispielsweiseverbrennt im Film der Film, also die scheinbare Filmrolle, das Filmmaterial, was ineinigen Filmtheatern durchaus für Irritation sorgte – ein gewollter überausrealistischer Neben-Effekt. Es handelte sich um einen assoziativ inszenierten Film,„ein Vergeltungsschlag gegen den tödlichen Ernst, mit dem die realenAvantgardeforscher dem Publikum die neuen Sehweisen einzubleuen suchten.“ 2(Dietrich Kuhlbrodt) Schlingensief versucht ein Bild zu kreieren, das dieHilflosigkeit, die Unerfahrenheit, die Verletzlichkeit und die unmündige Position desZuschauers aufgreift. Auch in seinem Film „Menu Total“ von 1985/86 bricht er mitden üblichen Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums.Um zu erfahren, wie es beim kommerziellen Fernsehen wirklich zugeht, arbeiteteSchlingensief von Oktober 1986 bis März 1987 als Aufnahmeleiter und später alsRegie - Assistent bei der TV-Serie „Lindenstrasse“, und erkannte dabei recht bald,dass diese Art von Filmarbeit nicht seinen Vorstellungen entsprach. In seinem Film„Mutters Maske“ von 1987/88 beschreibt er ein im Ruhr-Adel angesiedeltesFamiliendrama. Zweifellos beeinflusst von seinen Erfahrungen bei der2 Entnommen der Internetseite: http://www.schlingensief.com/Biografie/kuhlbrodt00.htm, 20.03.0312


„Lindenstrasse“, die er als <strong>zum</strong> Teil erschreckend bezeichnet, geht es bei diesemWerk um Geld und Liebe, Macht und Tod. Diese Persiflage einer „Soap Opera“ istim Stil eines Erzählkinos gehandhabt und spielt mit den üblichen Schemata einerSerie. Zwischen belangloser Ernsthaftigkeit, übertriebenen Gefühlen undfloskelhaften Dialogen, treibt er mit Hilfe seines beliebten Mittels der Übertreibungdas Format der deutschen Serie ins Absurde.Im Zusammenhang mit der Theateraufführung seines Stückes „Quiz 3000“ ausdem Jahre 2002 an der Volksbühne in Berlin, bei dem es sich um eine Persiflageder Sendung „Wer wird Millionär“ mit Günther Jauch handelte, äußerte sichSchlingensief mit folgenden Worten, die gewissermaßen sein ganzes Schaffencharakterisieren: „Die Gesellschaft interessiert sich schon immer nur für denGewinner[…] und mich interessiert immer schon der, der auf der Strecke bleibt.“(vgl. André Schäfer, „Quizboom“, 2002, ZDF,)1.2 Einflüsse1.2.1 Berthold Brecht und Heiner MüllerChristoph Schlingensief steht mehr denn je in der Tradition des politischenTheaters eines Bert Brecht (1898 – 1956) oder eines Heiner Müller (1929-1995),die beide prägend waren für die Berliner Theaterszene und das moderne Theaterschlechthin. Schlingensief, der schon als Erfinder medialer Installationen(„Süddeutsche Zeitung“, 15.3.2002), als „Theater- Terminator“ („SüddeutscheZeitung“, 4.3.2002) oder als „Berufsrebell“ („Der Standard“, 19.3 2002) bezeichnetwurde, orientiert sich ganz an der Sentenz Bert Brechts: „Das Publikum denkt nichtohne Grund, man muss ihm Grund dafür geben.“ 3 Brecht versuchte, für das Volkrelevante Stücke zu schreiben, in denen er oftmals deren Lebensverhältnisseaufzeigte, das Kämpfen der kleinen Leute gegen unmenschliche Machtstrukturen3 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , am 01.05.0313


und politischer Marginalisierung. Sein Theaterbricht mit den bürgerlichen Konventionen undversucht den Inhalt auch in der Formwiderzuspiegeln, die so genannte „Form-Inhalt-Dialektik“. Brecht wollte das Theater an den„Mann bringen“, er wollte es entschleiern undverständlicher machen, er wollte es realistischergestalten und vielleicht auch entmystifizieren. Sein„episches Theater“ verfolgte ganz neue Konzepteder Theater- Aufführung. Die Theaterbühne sollestets ein heller Raum sein, damit die Zuschauer alles sehen und wahrnehmenkönnen, auf der sich die Schauspieler offen umziehen, damit diese erst gar nichtals Charaktere eines Stückes, sondern als echte Menschen begriffen werden, dienur darstellen und verkörpern. Beispielsweise wurden zwischen einzelnen Szenendem Publikum auch erklärende Schilder gezeigt, Lieder oder auch Projektionenunterbrachen oft die Theaterinszenierungen. Seine kommunistische Absicht, deneinfachen Bürger ins Theater zu bringen und das Theater zu reformieren, damit esnicht länger vornehmliche Freizeitbeschäftigung des Bildungsbürgertums und derReichen bliebe, sondern von jedermann genutzt werden könne, ist auf der einenSeite das Revolutionäre bei Brecht, doch auf der anderen Seite verstanden dieeigentlich Angesprochenen die Ideen Brechts nicht und die Massen blieben aus.Die Verfremdungseffekte sollten das Publikum zu einem kritischen Lern- undBewusstseinsprozess anregen, er wollte die Zuschauer durch diesenErkenntnisprozess <strong>zum</strong> eigenständigen Denken erziehen. Mit den so genannten„Lehrstücken“, die Brecht zwischen 1930 und 1932 schrieb, versucht er dieNormalbürger zu ermutigen, über sich und ihr politisches Umfeld zu reflektierenund sich für das Theater zu interessieren. Leider jedoch gingen zu dieser Zeit diewenigsten wirklich ins Theater. (Berg & Jeske, 1998)Ich denke dadurch ist Schlingensief und seine Arbeit teilweise eine FortführungBrechtschen Theatergedankens, ganz abgesehen von der Tatsache, dass auchSchlingensief damit zu kämpfen hat, dass sich eine Vielzahl von Menschen für14


seine Theaterstücke und Filme interessieren und diese wirklich verstehen. Auch erwill soziale Gerechtigkeit und spricht die Verantwortung des Einzelnen an, er willnichts verschleiern, sondern gnadenlos offen legen. Seine „Verfremdungseffekte“sind Provokation, Irritation, Tabubrüche und Widersprüchlichkeit. Um eine gewisseAnzahl von Menschen zu erreichen, geht er zusätzlich aus dem Theater heraus,auf die Strasse und darüber hinaus ins Massenmedium Fernsehen. Zumindestnehmen ihn dort die Feuilletonisten sowie die Kunst- und Kulturkritiker wahr, wennauch nicht die Mehrheit der Fernsehzuschauer.Auch der vor 8 Jahren verstorbene Theaterregisseur Heiner Müller zeigte gernedie unbeschönigte Realität und ist fürSchlingensief ein erklärtes Idol, den er inseiner Talkshow „Talk 2000“, auf die ichspäter zusprechen komme, <strong>zum</strong> Lebenerweckt, in dem er seinen Freund AchimPaczensky immer mal wieder als HeinerMüller- Verschnitt in die Talkrunde miteinbezieht und ihn auch als Heiner Müller,„einer der größten deutschen Literaten“ demPublikum vorstellt. Er war ebenfallsregimekritisch und seine Theaterstückeprangerten die Korruption in der DDR an oder verarbeiteten die vergangenenTraumata des Stalinismus und des Faschismus. Er wollte in seinen Werkenverschlüsselt, Zeitkritik üben. Wie auch Schlingensief ging es Müller immer um deneinfachen Menschen, den Arbeiter, um Ungerechtigkeiten, um trostlose Realitätenoder um Ausbeuter und Ausgebeutete. (Eke, 1999)1.2.2. Joseph BeuysSchlingensief ist nicht nur von Berthold Brecht oder Heiner Müller beeinflusst,sondern lässt sich auch von Joseph Beuys (1921-1986) inspirieren. Dierevolutionären Ideen des deutschen Künstlers Beuys`, wie die der „sozialen15


Plastik“ und des „erweiterten Kunstbegriffs“, lassen sich problemlos auch aufSchlingensiefs Werk übertragen. Beuys, der für die moderne Kunst der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts sehr bestimmend war, widmete sich sehr stark in derKunst unkonventionellen, neuen Materialien, wie Filz, Fett und Honig, wobei ernicht nur stilrevolutionär, sondern auch sinnrevolutionär war. Er, der auch eingroßes naturwissenschaftliches Interesse hatte, stürzte als Pilot im zweitenWeltkrieg 1943 über der Krim ab, was sein späteres Schaffen stark beeinflussteund sein ganzes Leben prägte. Da er von Nomaden schwer verletzt geborgenwurde, die ihn mit Fett einrieben und in Filzkleidern wickelten, wodurch sie ihmschließlich das Leben retteten, galt diesen beiden Materialien fortan dasHauptaugenmerk in seinem künstlerisch bildhauerischen Werk. Die ThemenKrankheit und Verletzung ziehen sich durch sein ganzes Schaffen, wobei er sie ineinem metaphorischen Sinne verwendet, die Gesellschaft, die sich vor Krankheitenschützen muss und die Menschheit wie auch das Individuum, die sich ihrerVerletzlichkeit gewahr werden soll, sind immer wieder Bildinhalte. Er war auch einVertreter der Performance- und der Happeningkunst und genau wie Schlingensiefverband Beuys Kunst und Leben, sowie auch Kunst und Politik (vgl. Diwo, 1993).Er plädierte für die Volksabstimmung der direkten Demokratie und war als aktivumweltbewusster Mensch Gründungsmitglied der Partei der „Grünen“. Beuyswollte nicht nur die Realität in der Kunst widerspiegeln, sondern diese dadurchauch verändern. Er beschreitet als Künstler die Wege, die ihm am bestenerscheinen, um zu agieren und zu reformieren: Öffentliche Happenings,Ausstellungen und Performances auf der Dokumenta in Kassel sowieverschiedene Reden und Kundgebungen. Schlingensief beschreitet einenähnlichen Weg und geht noch einen Schritt weiter, der in unserer heutigen Zeiteine klare Konsequenz hat; er geht ins Fernsehen, ganz nach Moderatorin SabineChristiansen, die sagte: „Nur wer in den Medien stattfindet, wird im neuen Jahrtausendtatsächlich wahrgenommen.4 “ Schlingensief widmet sich auch demBeuysschen Begriff der „Sozialen Plastik“, bei der die Gesellschaft als einKunstwerk angesehen wird und jeder einzelne Mensch ein Künstler ist.4 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de, 01.05.0316


Er lässt aus mehreren Personen einKunstwerk entstehen. Das offene,interagierende, lebende Kunstwerk, dassich immer mit zwischen- menschlichenBeziehungen, mit der Gesellschaft undgegenwartsnahen Lebensumständenbefasst, ist eine anthroposophischePlastik, die keinen Rahmen und somitauch kein Ende hat und darüber hinaus zueiner neuen Erkenntnis führen soll. Darausresultiert natürlich auch die Idee des„erweiterten Kunstbegriffs“, der dieLebenswelt in den kreativen Prozess einesKünstlers mit einbeziehen will. Beuyswollte politisch tätig sein und sah, fast marxistisch seine Kunst als sein Kapital an,um damit etwas zu verändern. Er gründete die Partei der Nichtwähler (Diwo, 1993)und Schlingensief „Chance 2000“, die Partei der Arbeitslosen. Beide sehen denwahren Künstler im Überlebenskünstler, also der einfache Mensch der imnormalen Alltag versucht nicht unterzugehen, der in den sogenanntenRandgruppen unserer Gesellschaft zu finden ist. Beide sind immer am Puls derZeit, sie wollen durch soziale Gestaltungsmethoden „Wärme“ erzeugen, die ihrerMeinung nach die Menschheit unbedingt braucht. Beuys sagte, dass seine KunstBefreiungspolitik sei und so wollte er dem Menschen als Naturwesen undGesellschaftswesen dabei helfen auch ein freies Wesen zu sein: „Die einzigrevolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität“.5Dadurchunterstreicht Beuys die Notwendigkeit der Kunst als einzige wegweisendeaufklärerische Kraft.5 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de, 20.05. 0317


1.3 Projekte von Christoph Schlingensief1.3.1 „Passion Impossible“Menschen in den Mittelpunkt kultureller und öffentlicher Diskussionen zu stellen,die dort sonst nie Erwähnung finden, ist Schlingensiefs Anliegen in allen seinenProjekte. Zum einen widmet sich Schlingensief den Obdachlosen und den Junkiesbeispielsweise in „Passion Impossible – 7 Tage Notruf in Deutschland“, einerTheateraktion bei der er 1997 eine verlassene Polizeistation in eine Art HamburgerBahnhofsmission verwandelt. 7 Tage lang wird diese Lokalität, in der sich frühervermutlich eine Ausnüchterungszelle befand, unter dem Motto „leidenschaftlicheMission unmöglich“, in Anlehnung zu der Hollywood Produktion „MissionImpossible“, um eine Brücke <strong>zum</strong> Film und TV herzustellen, zu einem ZufluchtsundBegegnungsort für bestimmte Randgruppen unserer Gesellschaft. Sie erhalteneine warme Suppe und zusätzlich steht ihnen ein Mikrofon zur Verfügung, dassihnen Gehör verschafft und ihnen die Möglichkeit bietet laut einmal zu sagen wasihnen auf der Seele brennt. Bewusst wird dabei auf den Titel „Mission Impossible“einer amerikanischen TV-Serie Bezug genommen.1.3.2 „Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben fürDeutschland“Die Kunstaktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben fürDeutschland“, ein politisch-künstlerischer Akt, der das Anprangern einer fürSchlingensief verfehlten Politik der CDU- Regierung <strong>zum</strong> Inhalt hatte, fand auf der„Dokumenta X“ im Jahre 1997 in Kassel statt.Die Bezeichnung dieser Aktion, eine Anlehnung an den Künstler Joseph Beuys, fürden die „Dokumenta“ eine wichtige Wirkungsstätte war, ist auch als Hommage anBeuys zu verstehen, in dessen künstlerischen Werk - wie schon erwähnt - dieMaterialien Fett und Filz einen großen Stellenwert einnahmen. Auch das Bild desHasen findet sich in etlichen seiner Zeichnungen und wurde von Beuys als18


„Friedenshase“ bezeichnet. Schlingensief, der von einigen sogar als legitimer ErbeBeuys´ angesehen wird, setzt sein „Happening“ von 1997 direkt mit demBeuysschen „Happening“ auf der „Dokumenta 7“ von 1982 in Beziehung. DessenMotto, „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ greift Schlingensief auf, wenn er imRahmen seines Happenings formuliert: „Was sind schon 7000 Eichen gegen 6Millionen Arbeitslose“ (Lochte & Schulz, 1998). Ansonsten ähnelte diese Aktioneinem Kommunenhaften Sit-in à la John Lennon und Yoko Ono, bei demSchlingensief mit seinen Freunden 48 Stunden lang vor der Orangerie trinkt, isst,wohnt und liebt und unter anderem für den Weltfrieden demonstriert. Dabei wurdeauch die Frage nach dem Kunstbegriff gestellt; so blockierte Schlingensief mitmehreren Sandsäcken den Weg zur Orangerie und beschimpfte einige Besucherder Dokumenta, die auf dem Weg <strong>zum</strong> Café die Sandsäcke betraten, sie machtennicht einmal vor Kunstwerken halt. Sicherlich war der Höhepunkt dieser Aktionjedoch, der durch entsprechende Plakate unterstützte Aufruf „Tötet Helmut Kohl“,wofür Schlingensief und seine Anhänger vorübergehend auch verhaftet wurden.Wie seine Vorbilder verbindet Christoph Schlingensief das Leben mit der Kunstund die Kunst mit dem Leben. Frei nach der Auffassung, dass man als Künstlerauch Politiker sei, zieht Schlingensief gerne den Schutzmantel des Künstlers an,um in dieser Tarnung um so leichter mit seinen politischen Waffen hantieren zukönnen. Er weiß sie gut zu gebrauchen, um die in seinen Augen lediglichsimulierenden „Schaufensterpolitiker“ zu kritisieren. (vgl. „Nachtstudio“, 2002,Volker Panzer)1.3.3 „Chance 2000“Die Gründung der Partei „Chance 2000 - Partei der letzten Chance“ sowie dasdamit zusammenhängende Theaterstück „Chance 2000 - Wahlkampfzirkus 98´“und die Polit-Aktion „Baden im Wolfgangsee“ im Ferienort des Altkanzlers HelmutKohl waren den Arbeitslosen gewidmet und stellten sozusagen eine Weiterführungdes Happenings auf der Dokumenta X in Kassel dar. Flugblätter warben mitSlogans wie „Chance 2000 macht Unsichtbares sichtbar“, „Chance 2000 managt19


Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung“ oder „Erobert die Medien“(Schlingensief, 1998, S.18). Dem Gefühl dieser vielen Menschen, nicht mehrgebraucht zu werden und austauschbar zu sein, wollte Schlingensief Ausdruckverleihen. Dieser negativen Selbsteinschätzung wollte er entgegen arbeiten, indemer die Betroffenen aufforderte, sich zu zeigen und der Öffentlichkeit damit klar <strong>zum</strong>achen, dass sie da sind und eine Stimme haben. Dabei beabsichtigte er, dieArbeitslosen zu motivieren sich selbst zu wählen und sich so ihre Stimmen selbstzu geben, anstatt sich von Politikern für deren Zwecke missbrauchen zu lassen.Sie sollten damit einen Wert verkörpern, als der sie in der Öffentlichkeit bislangnicht wahrgenommen wurden. „Chance 2000“ wollte die Akzeptanz derArbeitslosen in der Gesellschaft fördern und rief sie – damals fast 6 Millionen – auf,gemeinsam mit Schlingensief in den Wolfgangssee zu springen, um ihn <strong>zum</strong>Überlaufen zu bringen und Altkanzler Kohl „nasse Füße“ zu verschaffen.1.3.4 „U 3000“Im November 2000 veranstaltet Schlingensief eine neue Show auf MTV, eineMischung aus „Trash-Show“, Unterhaltungs- und Spielshow und wie üblich einemkünstlerischen Happening. Die Sendung ist auf nur 8 Folgen konzipiert. Diesmal istder Schauplatz eine U-Bahn die durch das nächtliche Berlin rast, so auch derName „U3000“. Es sind jede Menge Gäste geladen, Prominente wie auchUnprominente, normale Fahrgäste, Freunde und Schauspieler des Gastgebers undausgewählte Musikgruppen. Vertreter der seichten Unterhaltung treffen aufSozialhilfe empfangende Familien, die ihr Privatleben vor der Öffentlichkeitausbreiten sollen. Das Publikum hat dann die Aufgabe darüber abzustimmen, obdie so geschilderten Familienschicksale mit der Wirklichkeit übereinstimmen odernicht. In jeder Folge wird außerdem eine sinnlose Wette à la „Wetten dass“veranstaltet, in der ein alter Mann, der den Kultursenator Berlins verkörpern soll, inder eiskalten Spree gegen eine Familie schwimmt, die - Gäste der nächstenSendung - versuchen muss, ihr Auto mit einem Vorschlaghammer total zudemolieren, bevor der Schwimmer am Ziel ist.20


Mit diesem Format versucht Schlingensief den Zug derMedien- und Spaßgesellschaft, wenn er nicht ohnehinschon entgleist ist, jetzt endgültig entgleisen zulassen. So predigt er die TV - Revolution und feiert mitseiner medialen Untergrundgemeinde in jeder Folgesymbolisch die Kreuzigung Jesu zur Vergebung derSünden, welche er sowohl sich selber als auch demMedienbetrieb zuspricht. In „U 3000“ wird versucht, als das zusammenzubringen,was im richtigen Leben nicht zusammen findet. Die Familie, die im Mittelpunktsteht muss Punkte sammeln und kann am Ende bares Geld mit nach Hausenehmen. Die Absicht Schlingensiefs, Einzelschicksale ins Fernsehen zu bringen,zielt nicht auf bloße Unterhaltung, und er möchte auch nicht mit derIdentifikationsbereitschaft der Zuschauer spielen, sondern der Welt eineWirklichkeit zeigen, der abgeholfen werden muss.Schlingensief benutzt den Begriff des neuen„Verbundsystems“, in dem er innerhalb der Sendunggegensätzliche Kulturen und Religionen, konträreLebensauffassungen wie auch unterschiedlichsteMenschen und verschiedene Gesellschaftsschichtenzusammen bringt. Marion D. G. Diwo schreibt mitBlick auf Joseph Beuys der Kunst folgende Aufgabezu, wie sie meines Erachtens auch Schlingensief der Kunst attribuiert, nämlich,„die Teilhabe an und Realisation von gesellschaftlicher Entwicklung beigleichzeitiger kritischer, analytischer Distanz zu ihr“ (Diwo et al. S. 7). Dabei ist fürden Künstler der Schritt ins Fernsehen und seine inhaltliche Verarbeitungunumgänglich. Peter Kümmel schreibt im Hinblick auf U3000 über Schlingensief:„Er hat Irrwitz als Funktion von Zivilcourage definiert!“ (Die Zeit, 21.3.2002) DasFernsehen und die Gesellschaftsstrukturen werden durch Schlingensief entzaubertund als fehlbar dargestellt.21


Seine so genannte „Katharsis - Maschine“ (Frankfurter Rundschau 20.5.2002)setzt Schlingensief immer erst bei sich selbst und erst dann bei anderen ein undfordert die Nachahmung. Dabei überfordert er sich bewusst und bedient sich einesnicht alltäglichen Kommunikationsstils, mit dem er sich und andere überrascht undmit unter auch vergrault.Schlingensiefs Projekt „versucht die Konventionender öffentlichen Arena auszuhebeln […] es war eineseltsame, vielleicht sogar in sich widersprüchlicheMischform, die Popkultur und Sozialaktionismus fürein Fernsehpublikum verband.“ (Mackert, 2001, S.177)1.3.5 „Quiz 3000“Bei dem schon angesprochenen Theaterstück „Quiz 3000“ ging es Schlingensiefnicht um ein möglichst spannendes Ratespiel zu Fragen des Allgemeinwissensund um mutige Zocker, sondern um eine schockierende Realität in Zahlen undFakten gegen das Vergessen und gegen sinnlose Unterhaltung. Günther Jauchräumt selbst ein, durch seine Quizsendung „Wer wird Millionär“ werde keineBildung, sondern allenfalls zusammenhangloses Faktenwissen vermittelt(„Quizboom“, 7.11.2002).Nach Schlingensiefs Auffassung lenken solcheShows von den wirklich wichtigen Fragensystematisch ab, um diese schließlich demVergessen preiszugeben: „Die Gesellschaft hat soviele Fragen im Moment, die nicht beantwortbarsind, deshalb freut sie sich darüber, dass sieirgendeinen Bullshit raten kann, der in so einemLexikon steht“. (ebd.)22


Mit Argwohn betrachtet Schlingensief denVorgang des schlichten Abfragens von Quiz -Kandidaten, die am eigentlichen Medienprozessnicht wirklich beteiligt sind. Da er vehementgegen jegliche Verdrängung vorgehen will,spricht er in seinem Format „Quiz 3000“vorwiegend ernste Themen an und unterscheidetsich dadurch von der Jauchschen Vorlage deutlich, obgleich er dessen Settinggekonnt nachahmt. 6 In seinen Quizfragen kommen Themen wie z. B. die deutscheAsylpolitik, der überall existierende Fremdenhass, die florierende Rüstungsindustrieund die US amerikanische Außenpolitik vor. Einige Fragen behandelnauch die sinnlose Verschwendung von Steuergeldern, die Ungerechtigkeiten in derGesetzgebung, die NS – Vergangenheit Deutschlands oder beispielsweise dieaktuelle Suizidrate in der Bevölkerung. Auch die Korruption in der Politik und dieIntrigen der Mächtigen sind Themen beim schlingensiefschen Millionenquiz.Vereinzelt wurden Kandidaten - einfache Menschen – gebeten, auch persönlicheFragen zu äußern, die sie gegebenenfalls immer schon beschäftigten oder quälten.Johannes Gawerts Gedanken über die Unterhaltungsindustrie machenSchlingensiefs Absichten und seine Sorgen über die Gesellschaft sehr deutlich undanschaulich: „Die platte Lustigkeit verdrängt, ignoriert oder vergisst einfach alles,was jenseits des Hier und Jetzt liegt, besonders alles Negative. […] Dass sie (dieLustigkeit im Fernsehen und die Spaßgesellschaft) trotzdem florieren, verdankensie einem anthropologischen Alzheimer, dessen fatalen Segnungen sich kaumjemand entziehen kann. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“(Johannes Gawert, 2000, S.2). Schlingensief weiß, dass auch er daran womöglichnichts verändern wird, doch will er dennoch vehement gegen dieses schleichendeVergessen vorgehen.6 „Quiz 3000“ wurde am 15. und 16. März 2002 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt.23


1.3.6 „Freakstars 3000“Das schlingensiefsche Fernsehprojekt „Freakstars 3000“ für das die Casting- bzw.Talentshow „Popstars“ auf dem Sender RTL2 Pate stand und zugleich persifliertund kritisch in Frage gestellt wurde, widmet sich der Randgruppe der Behinderten.Die Bezeichnung „Freak“, die im Englischen auch Missgeburt bedeutet, wirdheutzutage leider allzu oft als herablassende Chiffre missbraucht, die genausoeinen Menschen mit körperlichen und geistigen Defiziten meint als auch einensolchen, der nicht den gesellschaftlich anerkannten Normen oder dem Idealbildeines erfolgreichen, unabhängigen und schönen Menschen entspricht.Schlingensief transportiert das Konzept - „Casting“, Trainingslager, Showauftritte,Jury - in ein Behindertenwohnheim. Es werden, gemäß der Vorlage, die einzelnenKandidaten auch in ihrer gewohnten Umgebung gefilmt und <strong>zum</strong> Schluss wird eineBand mit dem Namen „Mutter sucht Schrauben“ (siehe Abbildung S.25) formiert,die schließlich auch eine gemeinsame CD produziert. Die sechsteilige Sendung,die im Juni 2002 auf VIVA Plus ausgestrahlt wurde, verstand sich alsAufklärungsshow bzw. als Behindertenmagazin. Behinderte Menschen, dieansonsten immer übergangen werden, wurden bewusst in den kreativen Prozessmit einbezogen. Die Frage, „Wer ist hier eigentlich krank“, war für Schlingensiefwohl eine der zentralsten in diesem Projekt. Eine andere Frage, die sich ergibt unddie Schlingensief sicherlich gestellt wissen wollte, ist die nach denAuswahlkriterien. Geht es bei „Popstars“ wirklich darum, Talenten ein Forum zubieten oder, geht es nicht eher um Quoten-Kriterien? Schlingensief setzt demKünstlichen und dem Erfolg Heuchelnden im Fernsehen die Echtheit undWahrhaftigkeit von behinderten Menschen entgegen, die sich nicht verstellen undnicht auf Profit aus sind, sondern – unabhängig von ihrem Talent - Spaß an Musikhaben. Er gibt ihnen die Möglichkeit einmal im Mittelpunkt zu stehen. Ein Castingan einem Ort, in den die Gesellschaft die vermeintlich Talent- und Hoffnungslosensteckt, in einem Behindertenwohnheim. Wenn man sich zusätzlich noch dieSendung „Deutschland sucht den Superstar“ vor Augen hält, könnte man sichfragen, ob nicht auch bei der Sendung „Popstars“ eher die Macher als dieGemachten die eigentlichen Superstars sind.24


Zudem beinhaltet „Freakstars 3000“ noch andere Persiflagen von bekanntenSendungen, die er mit Behinderten aufgleiche Art und Weise durchspielt. Es gibteinen Presseclub, einen Homeshopping-Kanal, die volkstümliche Hitparade,„Friedmann“ wird zu „Freakmann“, wobeirechtsextreme Themen besprochen werden.Ebenfalls Bestandteil dieser Sendung ist einaufklärerisches Behindertenmagazin mitThemen wie „Wie funktioniert eine Schnabeltasse?“oder „Wie badet man einenBehinderten?“.Natürlich stellt Schlingensief durch seine Vorgehensweise die Aussagekraft unddie Kompetenzen dieser einzelnen Sendungen und nicht zuletzt die Produkte von„Popstars“ wie „Bro´Sis“ und „No Angel“ komplett in Frage. In England heißt dieVergleichsshow von Popstars, „Pop Idol“. Idole, die in der Öffentlichkeit verehrtwerden, die sich jedoch nicht durch besonders ehrenhafte, menschliche oderwissenschaftliche Verdienste hervorgetan haben geschweige denn durch eigensentwickelte Musik oder Texte, sondern, die – unabhängig von ihremgegebenenfalls vorhandenen musikalischen Talent - das Glück hatten bestimmtenQuotenbezogenen Kriterien zu entsprechen. Zudem haben die künstlichaufgebauten Idole notwendigerweise eine nur kurze Halbwertszeit, weil dieKurzlebigkeit in der heutigen Medienbranche, die in Abhängigkeit undUnselbstständigkeit gehaltenen „Stars“ jederzeit austauschbar macht.Auch bei „Freakstars 3000“sind neben den Bewohnern des Behindertenheimswieder einige Schauspieler dabei, die Schlingensief schon länger bei diversenAktionen zur Seite stehen und schon in verschiedensten Rollen auftraten, wiebeispielsweise Mario Garzaner, Werner Brecht, Helga Stöwhase und Achim vonPaczensky. Anzunehmen ist, dass es sich hierbei um Schauspieler handelt, dieauch selbst leicht behindert sind. Schlingensief äußerte sich zu seinen langjährigen25


„behinderten“ Darstellern wie folgt: „Die Behinderten geben mir eine große Ruhe,aber nicht das Gefühl von Überlegenheit. Ich muss mich da selber nicht verstellen.Die sind teilweise genialer, ganz cool und sind in ihrem eigenen System drin, dasnicht unbedingt meines ist. Zum Beispiel Mario Garzaner, der schafft es, denRaum total <strong>zum</strong> Leuchten zu bringen. Da kannst du machen, was du willst, derschafft, dass alles hell ist.“ (Seeßlen 1998, S.70/71).Der Journalist Nils Minkmar wirft Schlingensiefvor, die Themen, die er anspreche, nie wirklichzu vertiefen; die einzige Botschaft, die in seinenProjekten transportiert werde, sei er selber –immer nur „Schlingensief“ („Die Zeit“, 7.12.2000).Minkmar erkennt bei Schlingensief nur denWillen zur Selbstdarstellung; er wolle stets selbst im Bild sein, um dann dochimmer wieder zu scheitern. Da in der Tat Schlingensief so gut wie immer imMittelpunkt steht, im Zentrum der Peinlichkeiten und des provokativen „Geschreis“seiner Projekte, kann man ihm den Vorwurf der gewollten Selbstinszenierung unddes egoistischen Drangs, Hauptperson in seinem eigenen politischen,gesellschaftskritischen und lebensweltlichen Theater sein zu wollen, nichtersparen. Bernhard Schütz, Schauspieler und „Kampfgenosse“ Schlingensiefs inetlichen Aktionen, sagte dazu einmal: „Er ist unbedingt ein Regisseur, weil er einThema auf der Bühne in eine Form bringen will. Sein Bedürfnis nach Deutlichkeitist so groß, dass er in seinen Inszenierungen selber mitspielt, um jeden Abend vonder Bühne herab sagen zu können, was er meint“ (Carp, 1998 S. 79). ImGegensatz dazu blieb Schlingensief, der sonst so gerne als Agitator auf der Bühnesteht, bei „Freakstars 3000“ als Initiator und Jurymitglied völlig im Hintergrund.Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale fürpolitische Bildung, sagt dem schlingensiefschen TV-Projekt "Freakstars 3000" welches in der Volksbühneam Rosa-Luxemburg-Platz Berlin produziert wurdeund am 8. Juni 2002 bei VIVA PLUS startete, mit26


folgenden Worten seine Unterstützung zu: „Der Zustand jedes sozialen Gefüges,auch jeder Gesellschaft, zeigt sich am Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern.Christoph Schlingensief stellt mit seinen Freakstars die Vorstellung der Normalitätin Frage und zeigt humorvoll und menschenzugewandt die Stärken derSchwachen“ (www.vivamediaag.de, 30.05.03).27


II. Zum „Performativen Realitätsfernsehen“„Postmoderne Identität entsteht durch MedienvermittelteInszenierungen des Authentischen, in denen Ereignisse imRaum zwischen Realität und Fiktion produziert werden“.(Altmeyer, 2000, S 73)2.1 Zum Phänomen des „performativenRealitätsfernsehens“„Echtheit“, „Realität“, „Wirklichkeit“ - diese Begriffe gewinnen im Fernsehen in den90er Jahren an Bedeutung. Sie sind fester Bestandteil im deutschenFernsehprogramm geworden. Die TV-Anstalten legen immer mehr Wert daraufauthentische Menschen, echte Probleme und wahre Charaktere wurden insFernsehen zu holen, also Realität zu zeigen und auch aufs Neue zu reproduzieren.In einem an sich inszenatorischen, schauspielerischen und künstlichen Medium,eine nicht leichte Aufgabe oder vielleicht sogar eine niemals „wirklich“durchführbare.Neben der Attraktivität, die von „Fantasy“ und „Science Fiktion“ sowie von Comic-Figuren und von literarisch fiktionalen Phantasiegestalten - also von irrealen„Realitäten“ - ausgeht, kann sich die Talkshow im Fernsehen hingegen, „höchstattraktiv“ auf ihre Fahnen schreiben. In diesen Sendeformaten sollen authentischePersonen miteinander diskutieren und einfache Menschen eine Chance <strong>zum</strong> Erfolgbekommen; Alltag wird in Szene gesetzt und dadurch dem Zuschauer dieMöglichkeit offeriert einmal selbst im Fernsehen aufzutreten.Unter dem Begriff „performatives Realitätsfernsehen“ fallen nach Bettina Frommfolgende TV-Shows: „Talkshow“, „Quiz- oder Spielshow“, die „Talent- bzw.28


Castingshow“ sowie „Beziehungs- oder Heiratsshow“ und auch die„Suchsendungen“ und „Reality-Soaps“ (Fromm, 1999).Dieses TV-Format mit Realitätsansprüchen hat seinen Ursprung um dieJahrhundertwende; damals entwickelte sich in den USA ein neuer Nachrichtentyp,die „Tabloid News“, wobei es sich um „bulletinähnliche, kurze und konzentrierteZusammenfassungen der besonders berichtenswerten Aspekte von Ereignissen“(Winterhoff- Spurk, 1994, S.16) handelte. Dieser Begriff, der eigentlich aus derMedizin stammt, bezeichnet ein stark komprimiertes Medikament. Der so genannte„Tabloid Journalism“ beschäftigte sich meist mit skandalösen und tragischenThemen wie beispielsweise mit Kriminalität, Gewalt und menschlichenEinzelschicksalen sowie auch mit Sexualität. Besonders charakteristisch waren injener Berichterstattung Überdramatisierung, Personalisierung, Emotionalisierungund Sensationalismus. Wie in den heutigen „Reality - Formaten“ drehte sich auchdamals schon alles um die „Human Interest Stories“ (ebd.).Ein ebenfalls geschichtsträchtiges Ereignis war das im Jahre 1938 in den USAausgestrahlte Hörspiel „The War of the Worlds“ von Orson Welles. Dieses Hörspielnach dem gleichnamigen Roman von H.G. Wells löste eine Massenpanik in derBevölkerung aus, da aufgrund der medialen Umsetzung die Zuhörer dieGeschichte als real bzw. als eine wirklichkeitsgetreue Dokumentation ansahenoder eher anhörten. Die Sciencefiction- Vorlage berichtet von einer Invasion vomMars - Außerirdische kommen mit Raumschiffen aus dem All auf die Erdehernieder. Auch hier kann man von einem Anfang oder eher Vorreiter des„performativen Realitätsfernsehens“ sprechen. Es trieb ebenfalls ein Spiel mit derRealität und hatte eine nicht minder große Wirkung auf die Rezipienten. Dabeiwurden verschiedene Stilmittel verwendet wie z.B. Augenzeugeninterviews, dieden Bericht möglichst real wirken ließen. Diese Art der Personalisierung und somitauch der Emotionalisierung, was eine gesteigerte Identifikationsmöglichkeithervorruft, machen die Wirkung und die Beliebtheit des „performativenRealitätsfernsehens“ aus. Mit entsprechendem Effekt veränderte sich auch dieRolle des Reporters und Interviewers und später auch des Moderators, von einem29


distanziert berichtenden und vom Geschehenen emotional getrennten Journalistenzu einem Anteilnehmenden Berichterstatter, der Emotionen zeigt. Als diesesFormat begann, sich in den Medien zu etablieren, „trat die Persönlichkeit desReporters in den Vordergrund, um Glaubwürdigkeit, Identifikation undWiedererkennen zu sichern“ (ebd. S. 17). So übernimmt er auch oftmals heutenoch die Rolle von denen, über die er berichtet. Man kann hierbei von einerpersönlichen, subjektiveren Herangehensweise des Reporters sprechen, also einerPersonalisierung in beiden Richtungen. Daraus folgt: „Diese starke Präsenz desErzählers evoziert den Eindruck von unmittelbarer und dichter Anteilnahme,Involviertheit und Besorgnis, [...]die es dem Zuschauer leicht macht, sich mit demGezeigten zu identifizieren“ (ebd. S.19).Ein weiterer wichtiger Aspekt des „performativen Realitätsfernsehens, der auch imamerikanischen „Tabloid-TV“ zu erkennen war, ist der der Popularität. Man willdem Fernsehnutzer das Leben des einfachen Volkes in ihrer Natürlichkeit undeinem realistischen Stil zeigen. Der „kleine Bürger“, dem eventuell bürokratisches,gesellschaftliches oder aber familiäres und physisches Unrecht zugefügt wurde,steht im Mittelpunkt der Fernsehaufmerksamkeit - er besitzt vornehmlich die Rolledes Opfers.Durch historische Vorläufer aus verschiedenen medialen Sparten und durchtechnische Fortschritte, die ermöglichten, dass das Fernsehen noch näher undflexibler an der Bevölkerung agiert, hat sich das Reality TV längst als eigenesGenre entwickelt, wobei man dabei anmerken muss, das die privaten Sender dasGenre sozusagen als komplettes Sendepaket nach Deutschland geholt haben.In diesem Zusammenhang muss vielleicht nochmals danach gefragt werden, ob esüberhaupt möglich ist, Realität in einem medialen Raum zu zeigen. Zum„performativen Realitätsfernsehen“ zählt man in der Kommunikationswissenschaftauch das Format des „Reality TV“, dem man z.B. die Sendung „Notruf“ auf RTLzuordnet. Nach Gerd Hallenberger tritt das Format „Reality-TV“ mit dem Anspruchauf, „Realitäten im Sinne der alltäglichen Lebenswelt anhand von Ereignissen30


darzustellen, die das Gewohnte der Alltagsroutine durchbrechen.[…] Reality TV istdaher Alltag im Ausnahmezustand, der zwar eine Teilwirklichkeit, keineswegsjedoch Wirklichkeit als Ganzes repräsentiert (Hallenberger, 1995, S.81).Ebenefalls lassen sich die Sendeformen „Talkshow“ und „Reality Soap“ alseigenes TV-Format zur Gattung des „performativen Realitätsfernsehens“ zählen,die der Diplom Psychologe Dr. Martin Altmeyer folgendermaßen charakterisiert:„Reality-soaps und Daily Talkshows kommen einem tiefsitzenden Bedürfnis nachöffentlicher Spiegelung entgegen, in der sich das Private reflektieren kann“(Altmeyer, 2000, S.70). Mit dieser Einschätzung Altmeiers gehe ich <strong>zum</strong> nächstenKapitel meiner Arbeit über, in dem ich die Formate der „Talkshow“ und der „RealitySoap“ erkläre.2.2 Talkshows„Es ist schon alles gesagt worden – nur noch nicht von allen“(Jutta Kürtz, Präsidentin der Anstaltsversammlung der ULR nach Karl Valentin) 7Das „Gespräch unter vier Augen“ wird heute scheinbar durch die medialeEntwicklung zu einem Gespräch unter mehreren Millionen Augen - die Talkshowals der öffentlich gewordene intime Dialog. Die Intimsphäre des heimischenelterlichen Wohnzimmers, der Arztpraxis oder des Psychologen-Sessels und vorallem des partnerschaftlichen Schlafzimmers wird zur Dauersendung bei der dieganze Fernsehnation mithört und zuschaut.„Gesprächsrunden“ bzw. „Diskussionssendungen“ gibt es schon seit über 30Jahren im deutschen Fernsehen - die Talkshow als Klassiker des Infotainments.Doch zu so einer Vielzahl dieses Sendeformats kam es erst gegen Ende der 90er7 Medientreff der „Unabhängigen Landesanstalt für das Rundfunkwesen“(ULR), unter dem Motto„Talkshows – Tabuverletzung oder Therapie?“, am 5. Februar 1998 in Kiel, S.3731


Jahre. Der Höhepunkt war 1999 mit 13 „Daily Talkshows“ erreicht. Heute sind esimmerhin noch 9 Shows mit einer wöchentlichen Sendezeit von über 50 Stunden(Büsch /Hermsen, 2003).Ausgehend von Rundfunk-Talksendungen wurde die erste eigentliche deutscheTV-Talkshow „Je später der Abend“ mit Dietmar Schönherr 1973 ausgestrahlt.Dieser Prototyp der Talkshow sollte laut Redaktionskonzept seine Gäste dazubringen, sie möglichst bis an die Grenze des seelischen Striptease zu entblättern(Steinbrecher/Weiske, 1992). Nach großem Erfolg dieser Sendung folgten weiterenach dem ähnlichen Prinzip, unter anderen auch die Talkshow „III nach 9“, die1974 begann und auch heute noch existiert (N3). „III nach 9“ kam - durch ihreAbsicht keine Künstlichkeit zeigen zu wollen - den heutigen Nachmittagstalkshowsin ihrem Konzept schon näher. Dabei unterhielten sich drei Moderatoren anverschiedenen Tischen mit den Gästen, welche nie wussten, wen die Kamera, diemehr oder weniger per Zufall zugeschaltet wurde, gerade aufnimmt. So nahm manauf die üblicherweise vorhandene Aufregung der Gäste bei FernsehgesprächenRücksicht (Selg, 1998).In den 80er Jahren wurde dann auch langsam versucht zu provozieren, in demman bei den TV-Talks beispielsweise das Thema „Sex“ mit einbezog odervereinzelt Pornostars einlud wie Illona Staller, alias Cicciolina 1987 durch AlfredBiolek. In diesem Jahrzehnt kann man vielleicht noch eine andere Sendungherausgreifen, bevor man dann Anfang der 90er zu den Daily Talks kommt, wie wirsie heute noch kennen. In der Sendung „Dall-As“ von 1985 auf RTL Plus mit KarlDall war das Provozieren und Verletzen der Gäste, um sie aus der Reserve zulocken, Programm.Im folgenden Jahrzehnt etablierte sich die tägliche Nachmittagstalkshow, in derverbale Angriffe und Provokationen nicht nur geduldet, sondern deutlich gewünschtwaren - die so genannte „Daily Talkshow“. Ein möglichst preiswertes und nicht zuanspruchsvolles Programm zu machen, das den normalen einfachen Zuschauerauch am Nachmittag vor den Bildschirm lockt, war das beabsichtigte Konzept.32


2.2.1 Zur Klassifizierung der „Talk- Formate“Das Fernsehformat „Talkshow“ lässt keine eindeutige Bestimmung zu; WolfgangScheidt jedoch versucht sich an einer Klassifizierung der einzelnen Talkformate(Scheidt, 2000). Er unterscheidet dabei <strong>zum</strong> einen den „Prominententalk“, denKlassiker, den es seit den 70er Jahren gibt. Hierbei stehen die prominentenPersonen im Mittelpunkt und die jeweiligen Themen sind meist auf diesePersönlichkeiten zugeschnitten. Dieses so genannte „Promitalk“ ähnelt <strong>zum</strong>eisteinem Smalltalk mit Studiopublikum - hierzu gehören beispielsweise „BoulevardBio“ (ARD) oder auch „Beckmann“ (ARD).Als weitere Klassifizierung wird der „Thementalk“ genannt, der sich auf ein Themaspezialisiert und dazu prominente wie auch unprominente Gäste einlädt. Somitkann man in diesem Zusammenhang auch von einer Expertenrunde sprechen wiees z.B. bei den Talksendungen „Christiansen“ (ARD) oder „Talk im Turm“ (DieterBöhme, SAT1) der Fall ist, die ferner unter dem Namen „Polittalk“ laufen. Die Rolledes Moderators kann dabei auch eine untergeordnete Rolle einnehmen, wobei dasFormat mit auch ohne Studiopublikum denkbar ist.Als nächste Kategorie ist der „Portrait-Talk“ zu nennen, ein eher unterhaltendespersonenbezogenes Einzelgespräch, in dem bestimmte Prominente vorgestelltwerden wie auch unbekannte mit ausgefallenen Hobbys. Beispiele hierzu sind„Maischberger“ (N-TV) oder „Wat is?“ (WDR) mit Jürgen von der Lippe.Ebenfalls ist der „Konfrontationstalk“ zu unterscheiden, der sich Anfang der 90eretablierte und mittlerweile mehr oder weniger abgesetzt wurde. Die Themenwurden sehr emotionalisiert dargebracht und die Gäste wurden diesen, <strong>zum</strong>eistsehr kontroversen Themen entsprechend eingeladen. Dabei sollten konträrePersonen und Meinungen aufeinander treffen, damit ein Streitgespräch mitverbaler Konfrontation entstehe. Vertreter dieses Typus waren „Explosiv – derheiße Stuhl“ auf RTL oder die Sendung „Einspruch“ auf SAT1. Die jeweiligenGäste saßen sich bei diesen Formaten direkt gegenüber und warfen sich im33


übertragenen Sinne Vorwürfe und Meinungsverschiedenheiten an den Kopf. Zueinem gewissen Teil ist diese Vorgehensweise in vielen Talkshows vorhanden.Mittlerweile scheint der Begriff „Konfrotalk“ auch auf die Art und Weise einesGesprächs zwischen Talkgast und Moderator zuzutreffen, wenn man sich z.B. dieSendung „Friedmann“ (ARD) mit Michel Friedmann vor Augen hält.Der so genannte „Affekt-Talk“ (Fromm, 1999), der auf die emotionalenSpannungen zwischen den einzelnen Studiogäste abzielt, ist wohl dererfolgreichste bzw. bekannteste Talk-Typus. In diesem Format unterhalten sichunprominente Menschen mittels des Fernsehens mit anderen Mitmenschen überPrivates und Intimes. Der Moderator steht im Mittelpunkt und leitet die Diskussion,die sich stets auf ein Thema konzentriert. Ein Studiopublikum und eventuelle <strong>zum</strong>Thema eingeladenen Experten vervollständigen das „Setting“. Wie ich in derEinleitung schon erwähnte, machte die „Hans Meiser“ (RTL) den Anfang diesesTalk-Formats, die <strong>zum</strong> ersten Mal am 14. September 1992 ausgestrahlt wurde -andere Beispiele wären „Arabella“(Pro 7), „Andreas Türck“ (Pro7) oder „BärbelSchäfer“ (RTL).Außerdem kann man den „Meta-Talk“ als eigene Talkkategorie herausfiltern. Diesebesitzt einen ironischen und satirischen Charakter. Die Absicht das Format „Talk“zu karikieren steht hierbei im Vordergrund. Medienwirksame undaußergewöhnliche Szenen werden beim „Meta-Talk“ neu dargebracht, z.B. „TV-Kaiser“ mit Martin Zuhr auf Super RTL und in der Manier des Affekt Talksnachgespielt - mit Publikum, mit individuellen Studiogästen, verkörpert durchSchauspieler, mit zentralem Thema und natürlich einem Moderator.An dieser Stelle will ich noch einen anderen Sendetypus ansprechen, der nicht alseigentlicher „Talk“ anzusehen ist, aber mit seinen Absichten meines Erachtens mitdem „Meta-Talk“ verwandt ist. Die Sendungen „Talk, Talk, Talk“ mit Sonya Kraussauf Pro7 und „Voll Total“ mit Dirk Penkwitz auf Super RTL, setzen sich ebenso mitTalkshows auseinander, während hier nur Originalausschnitte aus schongelaufenen Shows gezeigt werden. Diese sind Highlights der Peinlichkeiten, der34


Pannen, der lustigsten Auftritte und der überraschendsten Gespräche der „DailyTalks“, welche zusammengeschnitten und eventuell kommentiert für denZuschauer neu aufbereitet werden. Bei dieser Form des „Meta-Talks“ handelt essich um einen Prototyp einer „selbstreferenziellen Fernsehrecyclingshow“, vondenen es mittlerweile viele gibt, über die ich später noch im Zusammenhang mitSelbstreferenzialität im Fernsehen allgemein sprechen werde.Als letzte Gruppierung kann man meiner Meinung nach auch noch die „Call-In-Show“ als zusätzliche Kategorie anfügen, in welcher der Studiogast alsTelefonanrufer nur durch seine Stimme wahrgenommen werden kann. Allein derModerator und Anrufer stellen die ganze Sendung. Für dieses Format würde ichden Begriff „Psychotalk“ oder „Therapietalk“ wählen, wobei kein Studiopublikumzugegen ist und das Studio an sich eine eher zweitrangige Rolle spielt. DieGesprächspartner des Moderators stehen hier mit ihren geschilderten Problemenim Rampenlicht eventueller Studioscheinwerfer und sind dadurch nicht sovoyeuristisch angreifbar wie in anderen Talkshows, bleiben also anonym. ImVordergrund stehen die Alltagsschwierigkeiten und Pathologien einzelnerMenschen und nicht die Betroffenen, wobei die Kompetenzen der Moderatoren imZentrum der Sendungen stehen und im Besonderen gefragt sind. Ursprünglich ludder Moderator als Gastgeber einen Experten ein, der vom Studiopublikum zueinem bestimmten Thema befragt werden konnte. Hier jedoch ist der ModeratorGesprächspartners und Experte (Wulff, 1998) - Beispiele hierfür sind „Lämmle live“mit Barbara Lämmle im SWR oder auch „Domian“ mit Jürgen Domian auf WDR.2.2.2 Zu den Merkmalen der TalkshowWenn man sich die Talkshows und insbesondere die Daily- Talkshows im Hinblickder gesellschaftlichen Veränderungen - die Orientierungssuche und die allgemeineIndividualisierung - speziell seit den 90er Jahren betrachtet, lassen sich einigeGesetzmäßigkeiten und Tendenzen erkennen, die dieses Format und seineBeliebtheit ausmachen. Die regelmäßige Ausstrahlung der Talkshows sichzwischen täglich und wöchentlich. Den Zuschauern liefert diese Regelmäßigkeit35


gewisse Sicherheit und Routine in ihrem Alltag. Die monothematische Ausrichtungist genauso charakteristisch für dieses Format wie auch wie auch die Möglichkeit,dass sich das Studiopublikum aktiv in das Talk-Geschehen mit einbringen kann.Identifikation ist im Fernsehen um die Jahrtausendwende das Thema, ja dasZauberwort schlechthin. Die Attraktivität liegt wohl vornehmlich in dem Umstand,dass die Talkgäste in der Regel normale Alltagsmenschen mit mehr oder wenigeralltäglichen Problemen sind. „Im Vordergrund stehen nicht die Reichen undSchönen[...], sondern die ganz normalen Menschen mit ihren ganz normalenProblemen und Sorgen[...]. Für mich ist eine Talkshow kaum etwas anderes alsder Schwatz am Gartenzaun über Themen, die gerade die Nachbarschaft oder dieStadt bewegen“, äußert sich der Geschäftsführer Fred Kogel von SAT.1 (Kogel,1998, S 29). Somit kann sich jeder Zuschauer in diesen Menschen widergespiegeltsehen und sich mit ihnen identifizieren - Authentizität zu zeigen ist in diesenFormaten Hauptziel.Man spricht bei der „Daily-Talkshow“ auch von „Daytime-Talk“, um vermutlich dieInnovation deutlich <strong>zum</strong>achen, dass der Talk als Sendeformat über die Jahrehinweg zeitlich immer früher angesetzt wurde – von einem nächtlichen odermitternächtlichen Sendeplatz hin zu einem nachmittäglichen oder sogarmittäglichen. In der Konzeption, der Terminierung und der Themenauswahl derverschiedenen Talkshows scheint ein Konsens der verschiedenen Sendervorzuliegen – sehr Privates wird noch öffentlicher und mehr Gäste in noch wenigerZeit –, da sich die einzelnen Formate in Form und Struktur fast völlig gleichen.Die gemeinsamen Merkmale der „Dailys“ sind nicht nur die halbkreisförmigeAnordnung der sitzenden oder auch stehenden Studiogäste, die gegenüber desPublikums platziert ist und das Emotionalisieren durch Kameraeinstellungen,sondern auch der Moderationsstil, der beim Zuschauer Neugierde hervorrufen sollsowie das Einladen von Überraschungsgästen (Scheidt, 2000). Der Sendeablauf,der wie gesagt bei den meisten Daily Talkshows identische Muster aufweist,beginnt mit dem Einführen konträrer Standpunkte durch verschiedene Gäste zueinem klar definierten Thema. Das dadurch hervorgerufene und beabsichtigte36


Streitgespräch wird durch eventuelle Expertenaussagen undStudiopublikumsfragen bzw. –Statements ergänzt. Zumeist schließt eine Talkshowmit einem gegen Ende formulierten Resümee ab. Alles wird zwischenzeitlich durchWerbung unterbrochen. Durch so genannte „Cliffhanger“, die entweder einbesonderes Ereignis in der Show voraussagen oder beispielsweise einenprovokanten Satz eines Gastes vorwegnehmen, versucht man jedoch denZuschauer an der Sendung zu binden.Das Phänomen, dass die heutigen „Talks“ den Namen ihrer Moderatoren in ihrenTiteln tragen ist ein weiteres Indiz für die voranschreitende Personalisierung derdeutschen Fernsehlandschaft. Auch wenn die verschiedenen Talkshows <strong>zum</strong> Teilden gleichen Mustern folgen, ist der persönliche Touch des Moderators für dieZuschauerbindung ausschlaggebend und von vornherein einkalkuliert. Als sogenannter „Anchor-man“ ist der Moderator für die Zuschauer Anhalts- bzw.Orientierungspunkt – er steht mit seinem Namen Pate wie z.B. „Johannes B.Kerner“ (ZDF), „Vera am Mittag“ (SAT1), „Boulevard Bio“ (ARD) oder WilhemsensWoche“ (ZDF).2.2.3 Zu den TalkshowthemenWenn man das Fernsehformat „Talkshow“ einzuordnen versucht, drängt sich dieFrage nach den Talkshowthemen. „Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinungsteht bei Talkshows nicht das Thema „Sex“ an erster Stelle, auch wenn vielleichtgerade diese Sendungen in der Öffentlichkeit große Beachtung finden“, (FredKogel, 1998, S.29) lautet ein Statement aus der Sicht eines Programmmachers.Die Talkshowinhalte besitzen eine gewisse Bandbreite, die sich durchaus inThemenkomplexe untergliedern lassen - viele Medienwissenschaftler haben sich inverschiedensten Studien dieser Vielfalt gewidmet.Jürgen Grimm kommt in seiner „Daily Talk Studie“ 8 an der Uni Mannheim zu demErgebnis, dass das Thema „Partnerschaft“ mit 28,5% am häufigsten Thema einer8 Ergebnisse der Studie „Irritation und Orientierung – Empirische Befunde zur Wirkung von DailyTalks“ im Rahmen des Workshops des Talkshow-Projekts der Universität Mannheim im AirportCenter, Flughafen Frankfurt von Jürgen Grimm, 12. Januar 200137


Talksendung ist, gefolgt von „Familie“ mit 18,2%. (Grimm, 2001) In einer anderenUntersuchung von Stefano Semeria 9 steht die Kategorie„Charakter und Lebensart“ mit 12,3% an zweiter Stelle. „Körper, Schönheit undMode“ stellte dort mit 11,3% die nächste Kategorie (Semeria, 1999). Ein leichtdiskrepantes Ergebnis dazu ergab die Auswertung von 428 Talkshows von SvenSchneider 10 In dieser inhaltlichen Analyse stehen die „sozialen Konflikte“ mit 23%im Vordergrund. Demnach unterhalten sich die Menschen am liebsten über diezwischenmenschlichen, partnerschaftlichen und familiären Probleme desZusammenlebens. Knapp darunter auf Platz 2. ist Sexualität zu 20% das Themaüber das sich die Menschen gerne auslassen - „Fremdgehen“, „Fetisch“, „KäuflicheLiebe“ oder „Homosexualität“ sind hier die Hauptthemen. Als weitere Inhalte führtSchneider die Themen „Aussehen“ und „Lebenskrisen“ mit jeweils 7% an.Oft besprochene Themenkomplexe in Talkshows sind zudem „Lebensarbeit“,„Schwangerschaft“ und „Intoleranz/ Vorurteile“ sowie „Aggression/Gewalt“ und„Süchte“ (Büsch /Hermsen, 2003). Die Themenagenda insgesamt betrachtet, lässteine Dominanz interpersonaler Dissonanzen bei deutschen Talkshows erkennen.Generell kann festgehalten werden, dass für den Unterhaltungswert vonTalkshows Konflikte, Disharmonien, soziale Krisen und Diskontinuitätenausschlaggebend sind: „Negative Normabweichungen überwiegen, Übereinstimmungenund Kontinuitäten sind nicht unterhaltsam“ (ebd. S.63).2.2.4 Zu den TalkshowgästenDie Gäste, die die Talkshow am Leben halten, sind sehr vielgestaltig und könnenin Typengruppen gegliedert werden. Bettina Fromm widmete sich den Fernseh-9 Semeria begutachtete von März bis August´98 die Talkshows „Ilona Christen“, „Arabella“, „Fliege“,„Jörg Pilawa“, „Bärbel Schäfer“, „Hans Meiser“, „Andreas Türck“, „Vera am Mittag“, „Sonja“.10 Sven Schneider untersuchte von März bis Mai 1998 die Inhalte von 428 Talkshowsendungen ausden Formaten „Arabella“, „Bärbel Schäfer“, „Ilona Christen“, „Jörg Pilawa“, „Vera am Mittag“,„Sonja“ und „Hans Meiser“. Schneider, Sven (2000): „Die Bedeutung des Medienkonsums für dieSozialisation von Kinder am Beispiel bundesdeutscher Talkshows – eine empirische Analyse“,www.socionet.de/talkshows.shtml38


auftritten aus psychologisch-soziologischer Perspektive und schlussfolgerteaufgrund ihrer Studie, dass die Bedeutung des Fernsehauftrittes eines Gastesmehr als nur eine individuell-subjektive, sondern vielmehr eine kollektivgesellschaftlichbedeutsame Handlung ist: „Demgemäß existieren kollektiveSinnmuster, die der Veröffentlichung privater Belange im Fernsehen eineüberindividuelle quasi-institutionelle Bedeutung verleihen.“ (Fromm, 1999, S. 310)Hierbei werden acht verschiedene Typenkonstruktionen mit ihren jeweiligenkollektiven Handlungsmustern und Motivstrukturen aufgestellt.Frei nach Andy Warhol – jeder kann für einen kurzen Augenblick Berühmtheiterlangen - will der Typ „Fernseh-Star“ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen,auch wenn es nur für die kurze Zeit einer Talkshowsendung ist. Seinen TV-Auftrittsieht er als eine Möglichkeit kurzfristig aus seinem alltäglichen Lebenauszubrechen und sich vor Publikum in Szene zu setzen. DieseSelbstinszenierung verspürt der Einzelne als eine Aufwertung seiner Person. Daman im Fernsehen davon ausgehen kann, die Aufmerksamkeit mehrerer MillionenZuschauer auf sich zu ziehen, ist ein Auftritt in einer Talkshow für narzisstischeund exhibitionistisch veranlagte Profilneurotiker ein beliebter Ort, sich in derÖffentlichkeit zu zeigen.Der Typ „Patient“ hingegen sieht das Fernsehen als eine Art soziale Einrichtungan, in der Bedürftige und Kranke Hilfe finden. Die Talkshow erreicht für die„Patienten“ den Status einer traditionellen Institution, wie dies die Kirche, der Staatoder die Familie darstellen. Diese Zuschauergruppe erhofft sich Hilfe und Heilungund meint durch das Mitwirken der Experten und durch das erhoffte Verständnisbzw. die Anteilnahme des Zuschauers ihre seelischen und körperlichen Defizitebesiegen zu können – dies motiviert sie vor ein Millionenpublikum ins Rampenlichteiner Talkshow zu treten. Im Zuge der Individualisierung der Gesellschaft undsomit auch der Pluralisierung ist eine Suche nach Sinnorientierung festzustellen,die die Betroffenen in mediale TV-Formate suchen, weil sie andernorts scheinbarkeine Stabilisierung und Hilfe mehr finden.39


Ihrer nächsten Typenkonstruktion gab Bettina Fromm den Namen „Verehrer undKontaktanbahner“. Für diesen Personenkreis bietet das Fernsehen die MöglichkeitKontakte zu knüpfen. Er versteht die Talkshow als Partnerbörse und Singletreff,mit der Hoffnung viele potenzielle Partner ansprechen zu können bzw. von ihnengesehen zu werden. Der „Verehrer“ nutzt das Fernsehen, um in aller Öffentlichkeitder Ernsthaftigkeit seiner Absichten jemandem seine Liebe zu offenbarenAusdruck zu verleihen, selbst wenn er dabei auf Ablehnung stößt. Die Zuschauernehmen hierbei die Rolle der Zeugen bzw. Zeuginnen ein. Liebesbeweise,eventuellen Geständnisse oder „Coming-outs“ werden dadurch bedeutsamer undgewichtiger, <strong>zum</strong>indest in den Augen der „Verehrer“ selbst. Dieses Bedürfnis vonbestimmten Menschen sich der Öffentlichkeit in solcher Weise mitzuteilen wurdeim Zuge der Intimisierung medialer Inhalte gleich in die Konzeption vonSendeformate mit einbezogen (vgl. Fromm). In diesem Zusammenhang kann mandie Fernsehformate „Nur die Liebe zählt“ (Sat1), „Die Traumhochzeit“ (RTL) oderauch „Herzblatt“ (ARD) erwähnen, wobei man den Spielcharakter dieserSendungen nicht außer Acht lassen darf.Die Kategorie „Rächer“ beinhaltet Talkshowgäste, die das Fernsehen als Forumbenutzen, um darin Vergeltung zu üben. Sie wollen Rache und wählen daher diewirkungsvolle Variante Studiogast in einer Talkshow zu sein. Der Wunsch nachUnterstützung veranlasst diese Menschen intime Streitereien mit Mitmenschenoder Lebenspartnern in der medialen Öffentlichkeit auszutragen. In diesemRahmen bekommen Vorwürfe und Anschuldigungen größeres Gewicht und der„Rächer“ fühlt sich eher ermutigt andere zur Verantwortung zu ziehen, wobei erversucht, die eigene Schuld von sich zu weisen.Um in der Öffentlichkeit auf Ungerechtigkeiten und rücksichtslose Methodenbestimmter Einrichtungen bzw. Gesetzesgeber aufmerksam zu machen, begibtsich der „Anwalt in eigener Sache“ ins Fernsehen. Er will über die Medien Druckauf Machthabende Institutionen wie Staat, Ämter oder Firmen ausüben und siehtnur so eine Chance sein versehrtes Selbstbild wieder aufzubessern. Hier geht esebenfalls wieder um Schuldzuweisung mit dem Ziel Verantwortungen anderen,40


höheren Instanzen zu zusprechen. Der „Anwalt in eigener Sache“ nutzt diesetelevisionäre Plattform um Interessen durchzusetzen, was im privaten Rahmenbzw. im einzelkämpferischen Dasein oft keinen wesentlichen Erfolg mit sich bringt.Studiogast die unbedingt ihre Weltanschauungen dem „Talkshowvolk“ offerierenwollen, zählt man zur Kategorie der „Ideologen“. Sie wollen beim ZuschauerInteresse für ihre persönlichen Lebensentwürfe bzw. eventuellen religiösenAnsichten wecken und hoffen auf gesellschaftliche Anerkennung ihrerIndividualität: „Gleichzeitig ist die Veröffentlichung der privaten Ideologien alsSelbstbekenntnis zur Sicherung der eigenen Identität zu verstehen“ (Fromm, S.347). Der Ideologe will durch seine „ausgestellte“ Lebensweise andere ein Vorbildsein oder <strong>zum</strong>indest <strong>zum</strong> Denken auffordern.Mit der Hoffnung auf lukrativen Gewinn nutzt der „Propagandist“ denFernsehauftritt als Werbekampagne, in dem er beispielsweise ein eigenes Buch,seine individuelle Erfindung oder aber sein Gewerbe vorstellt. Er „promotet“sozusagen sich und sein Geschäft, um dabei aus rein wirtschaftlichem InteresseKunden zu werben – wenn auch allein die Teilnahme an einer Show schon seinefinanziellen Bedürfnisse befriedigt.Das letzte Motiv das Menschen veranlasst Talkshowgast zu werden, ist nachFromm das des „Dabei- Gewesen-Seins oder des „Hinter die Kulissen schauenWollens.“ Bei dieser Typenform des so genannten „Zaungastes“ handelt es sichum Studiogäste, die aus reiner Wissbegierde an der Machart von Talkshows insFernsehen gehen und die Studioatmosphäre live miterleben wollen. Die jeweiligenTalkshowthemen sind für die „Zaungäste“ nicht wirklich relevant, vielmehr stehtErfahrungserweiterung und generelles Interesse am Medium Fernsehen imVordergrund. Daily -Talkshows stehen immer wieder in der öffentlichen Kritik, nichtnur ihres Inhalts wegen, sondern auch bezüglich des möglichen Voyeurismus ihrerZuschauer. Mit den Worten von Andreas Weiß, „Wer sieht sich das nur an“ (Weiß,1999), komme ich jetzt auf die Rezipienten der „Talks“ zu sprechen.41


2.2.5 Zu den Rezipienten der „Talkshows“Während die Moralsysteme wie Kirche und Staat in der heutigen Gesellschaftzunehmend an Bedeutung verlieren, werden die Moralbilder des Fernsehens fürseine nutzer immer wichtiger. Jürgen Grimm resümiert, dass die Daily-Talks„Orientierungslandschaften“ beinhalten, die aus „verallgemeinernden Meinungspositionen“und „beispielhaften Einzelfällen“ bestehen (Grimm, 2001); sie dienen inerster Linie der Orientierung in der alltäglichen Lebenswelt sowie in Fragen derPolitik und der Gesellschaft: „Talkshows sind daher als ein UnterhaltungsbasierterOrientierungsservice mit spezifischen kognitiven und emotionalenLeistungsaspekten anzusehen“ (Grimm, 2001, S. 34). Demnach bezeichnet maneine kleine Gruppe von Rezipienten als Orientierungssuchende, denen dieTalkshow Information und Identifikation bieten. Sie schätzen die Themenvielfaltund sind meist auch de Nutzergruppe der „Vielseher“ zu zurechnen.Ein typisches Sehmotiv von Rezipienten hat einen kognitiv-reflexiven Charakter -die Zuschauer vergleichen sich mit den Talkshowgästen und deren Erfahrungenwerden mit den eigenen in Bezug gesetzt. Wie schon erwähnt ist die Popularitätder Talkshow gekoppelt mit ihrem Alltagsbezug, aber auch der Darstellung vonAbnormalitäten. Beides, Herkömmliches und Normabweichendes spielen für denProzess des Zuschauers sich selbst einzuschätzen und sich in seiner alltäglichenUmwelt einzuordnen eine immense Rolle, sowie sich dabei eventuell als normaleinzustufen und dies als Wert anzuerkennen. Talkshows besitzen durchauseskapistische Ansätze, dennoch sind sie keine reinen Fluchträume, um den Alltagzu vergessen, vielmehr können sie diesen Alltag in außergewöhnlichenPerspektiven zeigen (ebd.).Weiterhin macht Jürgen Grimm deutlich, dass Talkshows generell zurKontaktfähigkeit anregen und Modellcharakter besitzen - die Zuschauer fühlen sichermutigt und motiviert selbst in eine Gesprächsituation zu kommen, um Kontaktezu knüpfen.42


Die aktive Vermittlung einer einzigen Botschaft ohne die Gegenpositionenaufzuzeigen, stößt automatisch auf Widerstand und Gegenreaktionen desPublikums. Wie auch im „Code of Conduct“ 11 der Privaten Sender festgehalten,erfolgt erst dann eine Orientierungshilfe, wenn mehrere Optionen bzw. Meinungenmiteinander konkurrieren. Der Rezipient will sich seine eigene Meinung bildenkönnen und lehnt im Allgemeinen „manipulative Meinungsvorgaben“ und„pädagogisch motivierte Beeinflussungsabsichten“ ab (vgl. Grimm, 2001). DieOrientierungsleistung der Talkshow bietet dem Zuschauer durch positiv wie auchnegativ gekennzeichnete Verhaltensmuster die Möglichkeit sich von diesenabzugrenzen oder diese nachzuahmen – der Rezipient bekommt gezeigt, wie„man“ sich benehmen sollte und wie nicht (vgl. Grimm).Ein wesentliches Ergebnis der Grimm-Studie betrifft den Aspekt derEmotionalisierung. Als Gewinn betrachtet der Zuschauer das Ansprechen und dasdaraus entstehende Kontrollieren seines Gefühlshaushalts, doch nur so langedieser nicht überreizt wird und der Rezipient daraufhin alles Weitere abblockt.Daher muss immer für Gefühlsverarbeitende Momente gesorgt werden.Generell kann noch unter weiteren Rezipiententypen- bzw. Gruppen unterschiedenwerden - was sind die einzelnen Gratifikationen bzw. Zuwendungsmotive, waserwartet man sich vom Konsumieren einer Talkshow und ziehen einige daraus denangesprochenen Nutzwert oder geht es den Zuschauern um Ablenkung undUnterhaltung? Eine wesentliche Rezipientengruppe nutzt die „Dailys“ alsNebenher-Medium und widmet sich also parallel anderen Dingen. Sie schätzenden Unterhaltungswert und die „Real-life-Erlebnisse“ dieses Formats (Büsch/Hermsen). Eine andere Gruppe, die so genannten „Distanzierten Beobachter“(ebd.) sind an den Emotionen der Gäste interessiert. Der Informationsgehalt derShows ist ihnen eher unwichtig und der Wille zur Identifikation fremd.11 Der „Code of Conduct“ ist ein Regelkatalog, den die Privaten Sender 1998 freiwillig festlegten, umeiner gesetzlichen Regelung vorzubeugen und damit die öffentlich umstrittene Diskussion um dieTalkshows zu dämpfen. Hierbei ging es um verbindliche Vorschriften bezüglich der Konzeption undder Themenauswahl mit Augenmerk auf die mögliche Wirkung auf Jugendliche und Kinder. Essollte darauf geachtet werden, dass Werte wie Meinungsfreiheit, Wertepluralismus, Toleranz undDiskriminierungsverbot wichtiger Bestandteil der Talkshowproduktionen werden. Zudem wurdeverfügt, dass bei Themen im Bereich Gewalt, Sexualität und Straftaten derJugendschutzbeauftragte des Senders hinzuzuziehen ist. (www.vprt.de)43


Der Typ „Gelegenheitszuschauer“ wendet sich in der Regel dem öffentlichrechtlichenProgramm zu und achtet dabei auf die Professionalität derModeratoren und die Machart der Show – sie werden als Moralisten betitelt, die anzivilisierten Gesprächen interessiert sind.Andreas Weiß teilt die Rezipienten in einer Studie 12 in vier Nutzer-Gruppen ein(Weiß, 1999). Die erste kleinere Gruppe ist die der „Sozialen Deprivations-Rezipienten.“ Für diesen Zuschauertyp wird die Talkshow <strong>zum</strong> Ersatz einer realensozialen Beziehung – diese Rezipienten besitzen also eine parasozialeBeziehung 13 <strong>zum</strong> Medium Fernsehen. Ihr Nutzungsverhalten ist durch ein hochfrequentiertes Einschalten gekennzeichnet, während sein einen konservativen undkultivierten Moderationsstil bevorzugen. Diese Gruppe setzt sich <strong>zum</strong> Großteil ausälteren allein stehenden Frauen zusammen, die <strong>zum</strong>eist einen geringenBildungsstand besitzen und sich schon im Ruhestand befinden. Für sie spielt derInhalt der jeweiligen Sendung keine große Rolle, vielmehr ist der Moderator dereinzig wichtige Bezugspunkt.Die „Sozialen Vergleichs- Rezipienten“ als zweite größere Fraktion von Nutzernschätzen den Geselligkeitseffekt und widmen sich ebenfalls eher denkonservativeren Shows, wobei diese den unkonventionellen Talkformatengegenüber nicht abgeneigt sind. Sie besitzen im Gegensatz zur vorigen Gruppe<strong>zum</strong>eist reale soziale Kontakte und sehen die Attraktivität in der Möglichkeit dessozialen Vergleichs und der damit verbundenen Gelegenheit eventuelle Problemezu bewältigen. Somit nehmen die Identifikation mit den Gästen und die Inhalte derSendungen für die „Sozialen Vergleichs Rezipienten“ einen zentralen Stellenwertein. Festzustellen ist bei diesen Nutzern, dass sich <strong>zum</strong>eist um ältere Menschenmit einer geringen formalen Bildung handelt. Den vielen Zuschauern, denen es nurum Ablenkung durch das Fernsehen geht, wird der Name „Zeitvertreibs- und12 Andreas Weiß führte 1997 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Publizistik der JohannesGutenberg Universität Mainz eine Rezipientenbefragung durch.13 Der Begriff „Parasoziale Beziehung“ ist auf Donald Horton und Richard Wohl zurückzuführen undbezeichnet den Umstand der Erzeugung der Illusion einer sozialen, persönlichen Beziehungzwischen Medienakteur und Zuschauer, wenn sich es auch nur um eine nicht reale, einseitigeBeziehung handelt. (Horton/Wohl, 1956)44


Gewohnheits-Seher“ zuweisen. Es geht ihnen beim Talkshowschauen weder umdie Gesprächsstoffe noch um den Moderator, sondern einzig und allein um dieMöglichkeit die Talkshow als Zeitfüller und Nebenher- Medium zu gebrauchen –darum Zeit „totzuschlagen“. Die Talkshows lassen sich auch nur auditiv sehr gutkonsumieren. Diese „Zeitvertreibs- und Gewohnheits-Seher“ sind meist jünger,eher weiblichen Geschlechts und erwerbstätig. Sie weisen eine höhere Bildung aufund werden in Bezug das Konsumieren der „Daily Talks“ als „Allesseher“bezeichnet.Die letzte Einteilung widmet sich der größten Gruppe, den „InfotainmentRezipienten.“ Diesen sind die unterhaltsame, manchmal auch extremePräsentationsform der Gäste und Inhalte wichtig. Da hier die Lust an der optischenund akustischen Darstellungsweise der Talkshowgäste überwiegt, könnte man beiden „Infotainment Rezipienten“ am ehesten Voyeure vermuten. Die thematischenInformationen einer Talkshow scheinen für sie durchaus eine gewisse eine Rollezu spielen, auch wenn diese von ihnen nicht in Bezug <strong>zum</strong> eigenen Leben gesetztwerden. Diese relativ alten Nutzer besitzen den größten Männeranteil und eineneher niedrigen Bildungsgrad. „Dem Moderierenden kommt hier eher dieAnchorman-Rolle zu, der sein Publikum durch ein Kabinett von Kuriositäten führt“(Weiß, 1999, S. 170), wobei hier den Kuriositäten eindeutig mehr Aufmerksamkeitentgegen gebracht wird.Generell ist festzuhalten, dass das Sendeformat der Talkshow bzw. Daily-Talkshow vorwiegend von älteren und nicht von jüngeren Menschen genutzt wird:34% der weiblichen Mehrheit von Talksehern sind Frauen über 50 Jahre, 22% sindFrauen zwischen 30 und 49 Jahren sowie ein Fünftel der einschaltenden Männerebenfalls über 50 Jahre sind (Hoffmann/Obersteiner, 2001).Altmeier spricht von einem medialen Narzissmus im heutigen Fernsehen, welcherüber die Daily Talkshow nun mit der Reality-Soap ihren Höhepunkt fand - eineBanalisierung des Fernsehens und eine Theatralisierung des Alltags (Altmeyer,2000).45


2.3 Reality Soap„Videor, ergo sum – ich werde gesehen also bin ich“(nach Altmeyer)2.3.1 Zum Begriff Reality-Soap und <strong>zum</strong> Konzept von „Big Brother“Die Menschen hatten schon immer das Bedürfnis andere Menschen zubeobachten, gleich ob es sich dabei um unschuldige Neugierde oder eifersüchtigeund Vorurteilbehaftete Absichten handelte. Mittlerweile ist es Gang und Gebe,dass Menschen in den Städten nicht einmal ihre Nachbarn kennen, ganz imGegensatz <strong>zum</strong> ursprünglichen Leben auf dem Dorf. Die Sendung „Big Brother“befriedigt genau genommen den Drang einzelner Menschen durch dasSchlüsselloch des Nachbarn zu schauen.Der Begriff „Reality-Soap“ hat sich wohl seit der ersten Folge von „Big Brother“ aufRTL2 am 1.3.2000 in unser aller Gedächtnis gebrannt. Die Anfänge dieses neuenTV-Typs - eine Mischung aus Dokumentation und Serie - mit dem Anspruch pureRealität zu zeigen, kann bei der auf MTV seit 1993 gesendeten Serie „The RealWorld“ konstatiert werden. Dort wohnen bis zu sieben junge Menschen, die sichvorher nicht kennen in einer Wohngemeinschaft, deren alltäglichesZusammenleben teilweise mitgefilmt wird. Das Konzept beinhaltet regelmäßigeInterviews mit den Bewohnern sowie wöchentliche Besuche der „Real-WorldWohnung“ durch die Kamera. Die Macher dieses Sendeformats wollen nur bedingtden Alltag der Insassen filmen, vielmehr sind sie an den Meinungen undStatements der Kandidaten über ihre Mitbewohner interessiert. Das offene Systemdieser Reality-Soap besitzt keinerlei Live-Charakter und die pro Staffel sichwechselnde Stadt in der sich die TV-WG befindet ist von besonderer Bedeutung.Wie auch bei Big Brother steht der soziale Umgang der Bewohner untereinanderim Vordergrund der Aufmerksamkeit - ob sich Freundschaften, Liebschaften oderFeindschaften entwickeln. Jedoch ist der Spielcharakter hier nicht gegeben.46


Der Erfinder der Reality-Soap „Big Brother“, John de Mol brachte dieses Format<strong>zum</strong> ersten Mal im September 1999 ins holländische Fernsehen. Dort feierte dieSendung mit der neuen Serienidee - Kandidaten unter Kameraaufsicht in ein Hauszu sperren - einen vollen Erfolg. So errichteten die Produktionsfirma „Endemol“und RTL 2 im Jahre 2000 auf dem NOB- Gelände in Köln/Hürth eine kleineContainerstadt, das „Big Brother Haus“. Diese neue Form der Unterhaltung gingdurch ganz Europa und fand etliche Ableger. Der Name der Sendung basiert aufden Roman von George Orwell „Nineteen-Eighty-Four“ von 1949. In diesemZukunftsroman beschreibt Orwell eine gleichgeschaltete, manipulierte Gesellschaft- die Bevölkerung lebt in einem totalitären Staat und wird umfassend überwacht.Der Staatsbürger besitzt in diesem Roman keine geschützte Privatsphäre mehr –„Big Brother is watching you.“ Orwell beschert uns mit „1984“ eine pessimistischeZukunftsprognose, die sich <strong>zum</strong> Glück nicht komplett bestätigt hat, abernichtsdestotrotz in unserem heutigen Medienzeitalter und mit Blick auf diemomentane politische Entwicklung hoch aktuell erscheint. (Orwell, 1949)Rainer Laux, Redaktionschef der niederländischen Firma Endemol leitete dieSendung und äußerte sich folgendermaßen über das Konzept „Big Brother: „Dasist ja kein Experiment für Menschenforschung.“ 14 - zehn gecastete Kandidatenleben auf 153 qm 100 Tage lang zusammen. Nach jeweils zwei Wochen mussimmer ein Kandidat, den „Big Brother“-Container verlassen, der von denZuschauern abgewählt wurde. Zudem geben die Einwohner wöchentlich selbst jeeine Stimme ab, um zu zeigen mit wem sie nicht länger zusammen wohnenmöchten - das so genannte Nominieren. In den über drei Monaten besteht keinKontakt zwischen der Außenwelt und dem Container. Dieses Spiel geht solange,bis am Schluss nur noch eine Person im Container übrig bleibt und damit denGewinn – damals 250.000 DM – mit nach Hause nehmen darf. Während dieserknapp 15 Wochen werden die Insassen des Containers von über 40 Kamerastäglich 24 Stunden lang gefilmt. RTL 2 sendete nicht nur jeden Abend eineZusammenfassung der wichtigsten Ereignisse eines „Big Brother“-Tages, sondern14 Interview mit Rainer Laux im „Focus“ Heft 19/2000 über Big Brother, „Chef und großer Bruder“47


der Zuschauer konnte zusätzlich über Internet die Live-Übertragung aus dem BigBrother Haus ansehen.2.3.2. Zum Phänomen „Big Brother“ und <strong>zum</strong> öffentlichen DiskursIm Vorfeld der Ausstrahlung meldeten sich viele zu Wort, so auch viele Politiker,die die Würde des Menschen durch diese Sendung verletzt sahen. Die Tatsache,dass Menschen sich einem umfassenden Überwachungssystem ausliefern, rief beivielen Menschen Gefühle des Erschreckens und Bedrücktseins hervor, speziellaus der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit heraus. Doch diese ganzenBedenken bescherten der Sendung nur noch mehr „Publicity“ und erweckten nochmehr öffentliches Interesse.Das Phänomen „Big Brother“ lässt sich nach Lothar Mikos durch allgemeine,gesellschaftliche Entwicklungen wie auch durch die Veränderungen vonUnterhaltungsformen im deutschen Fernsehen generell erklären. Die„fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in pluralisierte Lebensstile und–formen“(Mikos et al., 2000, S.206), führte zur „Reality-Soap“; Mikos spricht hierbeivon der „reflexiven Moderne“.Die seit Jahren fortschreitende Individualisierung und damit einhergehendePluralisierung in der Gesellschaft bewirkt eine Orientierungslosigkeit derMenschen, die sich früher stärker an Institutionen wie Kirche, Staat und Familieorientierten. „In der pluralisierten Gesellschaft können die traditionellenInstitutionen keine allgemein gültige Werte und Normen sowie Sinnvorgaben mehrbereit stellen, so dass die Menschen zunehmend gezwungen sind, die Arbeit ansubjektiver Sinnsuche zu leisten“ (Mikos, 2000, S.206).2.3.3 Zu den Rezipienten und zur Einordnung von „Big Brother“Die lebensweltliche Orientierung in der Ausrichtung der Fernsehinhalte, die Grimmherausstellt, führt somit zu neuen Fernsehformaten, die wie Big Brother eine48


Mischung fiktionaler und dokumentarischer Elemente darstellt. Die so genannte„Docusoap“ ähnelt der Dramaturgie und der Darstellungskonvention zu Folge einerSerie und enthält zusätzlich dokumentarische Komponenten.Mit dem gegenspielerischen Nominieren ist der seriellen Wochenaufgabe, die dieBewohner zu erfüllen haben, ist Big Brother eine Spielshow mit Seriencharakter,wobei die verhaltens- und Persönlichkeitsorientierten Spiele, durchausEigenschaften einer Dokumentation aufweisen. Das serienmäßige,zukunftsorientierte Wesen dieser Show wird durch das Verwenden von„Cliffhängern“ und „Teasern“ unterstrichen, wobei das inszenierte Spiel mitauthentischen Kandidaten einer Soap Opera-Dramaturgie folgt.Wie auch die Talkshow bietet „Big Brother“ und vergleichbare Real-Life-Soaps denZuschauern in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und der allgemeinen Sinnsuchesicheren Halt und die Möglichkeit sich in der Pluralität der Lebensweisen undNormen verlässlich zu Recht zu finden. Das Medium Fernsehen übernimmt dabeidurch seine alltägliche und überall verfügbare Ausstrahlung zwischen denheteronomen Lebensbereichen der Menschen eine Vermittlerfunktion und trägtsomit zur sozialen Aufklärung bei.Lothar Mikos spricht dem heutigen Fernsehen die Rolle eines „Identitätsmarktes“zu. Die Zuschauer können sich daran orientieren, um sich in ihrer sozialen Realitätzu behaupten. Ebenso stellt das Format „Big Brother“ den Rezipienten dieMöglichkeit bereit sich selbst auf diesem Markt zu präsentieren und „ihrenMarktwert für die soziale Wirklichkeit zu erhöhen.“ (ebd. S.206)Während der 100 Tage wurden in sonntäglichen Sondersendungen - den sogenannten Studio-Live-Talks -, die einer pseudowissenschaftlichen Expertenrundeähnelten die vergangene Big Brother-Woche von Soziologen, Verwandten derKandidaten und Astrologen nochmals unter die Lupe genommen. Die einzelnenBewohner und ihr Handeln in Typen und Kategorien einzustufen wie auch dieKonfliktsituationen und Beziehungskonstellationen im Einzelnen durchzusprechen49


war der Sendeinhalt dieser Studio-Live-Talks. Somit glich Big Brother einerfiktionalen Geschichte mit Drehbuch: „Die Bewohner werden innerhalb derErzählung als Charaktere mit narrativen Funktionen festgeschrieben und könnensomit als fiktionale Figuren funktionieren.“ (ebd. S.207)Die Show besitzt eine selbstreferenzielle Ebene – Big Brother macht sich selbst<strong>zum</strong> Kult und die Kandidaten zu Stars -, wobei das „Selbsthervorgebrachte“innerhalb der Sendung erneut in Szene gesetzt und interdisziplinär undintradisziplinär präsentiert wird. Das mehr oder weniger selbst auf die Weltgebrachte „Medienkind“ wird gleich nach der Geburt weitervermarktet. Auch inanderen Reality-Formaten ist diese kommerziell lukrative Konzeption mittlerweileGang und Gebe.Die unprominenten Kandidaten werden durch Big Brother zu Helden, die in derheutigen Zeit nicht mehr mit moralischen Prinzipien oder sozialem Engagement inVerbindung gebracht werden, sondern im Zuge der allgemeinen Verunsicherungbzw. dem Verschwinden normativer Wertevorgaben zu Idolen. Ein weiteres Motivfür dieses Phänomen ist nach Trimborn (1999) der schleichende Verlust derEinheit der Familie als wichtigen Ansprechpartner. Die Container-Bewohnerwerden von den Big Brother-Nutzern bewundert und allein durch die Tatsache,dass sie im Fernsehen auftreten und dort alltägliche Dinge tun öffentlich gefeiert.Ethik und Moral nehmen als Themenbereiche bei den Big Brother-Zuschauernkaum noch einen festen Platz ein: „Auch bei den Nichtsehern spielt das moralischeArgument bei der Entscheidung Big Brother nicht zu sehen, keine große Rolle“(Mikos et al., 2000, S.211).Jürgen Grimm macht in seiner Untersuchung deutlich, dass die Big BrotherTV- Intensivnutzer auch am ehesten die Internet-Live-Übertragung in Anspruchnehmen, wobei die Internetnutzung im Allgemeinen betrachtet nicht wesentlich insGewicht fällt, obgleich diese dem Authentizitätsaspekt am ehesten gerecht wird.Dafür kann man das Internet als ideale Kommunikationsplattform, welche von Fansund Gegnern gleichermaßen genutzt wird im Besonderen herausstellen. Diesmacht zudem deutlich, dass die Zuschauer nicht die Darstellung des Alltäglichen50


wie Essen, Waschen und Aufstehen fasziniert, sondern vielmehr die Tatsache, dases sich um das echte Leben handelt. Viele Rezipienten - vornehmlichSchülerinnen (Mikos, 2000) - begrüßten aus diesem Grund die von RTLallabendliche vorgenommenen Big Brother-Zusammenschnitte, die ihren Angabenzu Folge für hohe Spannung sorgten.Die Veränderung in der Gesellschaft, die ein hohes Maß an Flexibilität fordert undan speziell jüngere Menschen bis 30 Jahre immense Anforderungen stellt, erklärt,dass gerade bei dieser Altersgruppe Big Brother besonders beliebt ist. JürgenGrimm setzt die Altersgrenze der Big Brotherfans sogar noch niedriger an.2.3.4 „Big Brother“ - Zwischen Realität und InszenierungIm Zuge der Dualisierung des Rundfunks etablierte sich bei den privatkommerziellenTV-Anbietern das Sendeformate des „performativenRealitätsfernsehen“ - wahrhafte Menschen agieren in einem vom Fernsehenentwickelten und virtuell inszenierten Raum.Lothar Mikos spricht von einer „Echtzeit -Inszenierung“ bei Big Brother und sprichtdiesem Format die Zugehörigkeit zur Docu- oder Real Life Soap ab, womit er BigBrother neu einzuordnen versucht: „In diesem Sinn ist es keine Docu- oder Real-Life- Soap, sondern ein um die Inszenierung von Authentizität bemühtes, auf dieAlltagswelt von Zuschauern und Kandidaten Bezug nehmendes Format, das <strong>zum</strong>performativen Realitätsfernsehen gezählt werden kann“ (ebd. S.205).Spannend ist bei Big Brother auch das Rätseln um die jeweilige Rezeption derZuschauer bezüglich der Hausbewohner, die möglicherweise ihr Verhalten je nachSituation selbst verändern. Indes ist nicht nur eine steigende Medienkompetenzder Fans, sondern auch der Kandidaten zu erkennen. Was ist ihr echtes oderinszeniertes Verhalten, wie wirken sich ihre Handlungsweisen auf das Spiel unddie Gewinnchancen, wie auf das Zusammenleben innerhalb des Containers undnicht zuletzt auf das Leben nach Big Brother aus? „Generell ist festzuhalten, dassmediale Fernsehrealität immer mehr Teil von Alltagswirklichkeit sein kann und51


eide Bereiche sich osmotisch durchdringen, ohne prinzipiell ununterscheidbar zuwerden“ (ebd. S.208).So gleicht Big Brother eher einer Inszenierung von Realität als einer purenDarstellung. Nichtsdestotrotz machen der Wirklichkeitsbezug oder vielmehr die„Wirklichkeitssplitter“ wie Grimm es formuliert, die Attraktivität des Formats aus.Die Suche nach den Resten der Realität, jenseits der Manipulation ergibt für dieZuschauer die gewisse Spannung, die sich in so genannten „missglücktenInszenierungen“ (Grimm, 2000) zeigen. Der Zuschauer ist sehr wohl im Standezwischen dem Simulierten, Inszenierten und dem Realen bei Big Brother zuunterscheiden. Doch darf davon ausgegangen werden, dass das Durchbrechender inszenatorischen Steuerung - also die nicht vorhersehbaren Unfälle - selbst zurGesamtinszenierung gehört, die mehr oder weniger ohne Regisseur funktioniert.2.4. Zur Frage der Verantwortung in den Medien„Wo mehr Macht, da mehr Verantwortung“Im Zuge der Wertediskussion in der Medienethik bezüglich des Fernsehens undauch mit Blick auf diese meine Untersuchung, will ich noch einmal kurz auf den“Code of Conduct” der privatrechtlichen Sender eingehen, ein Reglement von1998, das einige Hauptkriterien bezüglich der Programmgestaltung, speziell derTalksshows festlegte. Hierbei handelt es sich um verbindliche Regeln für dieKonzeption und die Themenauswahl der Talkshows, im Besonderen hinsichtlichder möglichen Wirkung auf Kinder und Jugendliche.Im Einzelnen soll auf eine ausreichende Pluralität geachtet werden, dass eineMeinung geachtet werden, was heißt, dass sich das Pro und das Kontra derStandpunkte in einer Sendung wieder finden müssen, damit der Zuschauer mitHilfe dieser ausgeglichenen Information sich ein eigenes Urteil bilden kann.Ebenso soll darauf geachtet werden, dass extreme Anschauungen nicht52


unkommentiert dargeboten werden, sondern dass der Moderator derartigeÄußerungen mit entsprechender Schärfe in den normativen Kontext einordnet.Sozialethisch desorientierende Wirkungen sollen verhindert werden, und beifragwürdigen Meinungsäußerungen innerhalb einer Talkshow soll die Sendung alsGanzes ein Gegengewicht dazu schaffen. Außerdem sollen die einzelnen Senderdarauf achten, bei der Auswahl der Gäste den Aspekt ihres Alters, gemäß derjeweils gewählten Thematik zu berücksichtigen und dabei auch deren Belastbarkeitund gegebenenfalls deren Unerfahrenheit mit in den Blick zu nehmen. Wennnotwendig muss auch die Erlaubnis der Erziehungsberechtigten eingeholt und füreine Nachbetreuung gesorgt werden. Mit besonderer Sensibilität im Hinblick aufJugendliche sollten die Themen Gewalt, Sexualität und der Umgang mitMitmenschen behandelt werden. Es sollten bei all den zwischenmenschlichenKonflikten und angesprochenen Problemen immer auch Lösungsvorschläge undAuswege artikuliert und nicht bei einer rein pessimistischen Darstellung derSachverhalte verblieben werden. Generell ist darauf zu achten, was bei derDarstellung visueller Inhalte als außergewöhnlich und abweichend oder aber alsdurchschnittlich und normal zu gelten hat. Zugleich sollte auf den Gebrauch vonVulgärsprache verzichtet werden, unbeschadet dessen, dass Eigenheiten derJugendsprache durchaus Berücksichtigung finden sollen. Der Moderator alswichtige Identifikationsfigur darf sich nicht mit Positionen identifizieren, die imeklatanten Widerspruch <strong>zum</strong> gesellschaftlichen Konsens stehen. Dabei fällt ihmebenfalls die Rolle zu aus gegebenem Anlass einzelne Gäste entweder in Schutzzu nehmen oder sie in ihre Schranken zu weisen; er muss darauf achten, dieHerabsetzung der Menschenwürde von Teilnehmern zu verhindern und etwaigeEskalationen zu vermeiden. Zusätzlich wurde be- schlossen, dass bei Sendungen,die die Themenbereiche Sexualität, Gewalt und Straftaten ansprechen, derJugendschutzbeauftragte des Senders hinzuzuziehen ist. Zu diesem Zweckwurden auch Schulungen für die verantwortlichen Moderatoren angesetzt, um siefür die Vorschriften des oben genannten Verhaltenskodex zu sensibilisieren ( vgl.www.vprt.de ).53


So haben die Medien über den Bereich der Talkshows hinaus eine großeVerantwortung den Rezipienten gegenüber; leider stehen die journalistischaufklärerischenIdeale der Objektivität und der Wahrhaftigkeit als ethischePrinzipien nicht selten zur Berufsrealität in und zu den institutionellenHandlungsspielräumen in bedauerlichen Kontrast. Doch auch an die Rezipientenwerden medienethische Anforderungen gestellt. Eine allgemeine staatsbürgerlicheMitverantwortung wie auch die Verantwortung in der Erziehungsarbeit und bei derdamit verbundenen kritischen Mediennutzung stehen dem Bedürfnis nachUnterhaltung in der Regel entgegen, wobei der Rezipient vom medialenProduktionsprozess und seiner Beeinflussung ohnehin ausgeschlossen bleibt.Umso wichtiger ist es, die Erziehung der Rezipienten zu kritischer Urteilskraft beider Mediennutzung voranzutreiben, damit ihre Medien- und Vermittlungs-Kompetenz, sie dazu befähigt, gesellschaftliche Veränderungen und deren medialeInterpretation adäquat zu begreifen und angemessen zu hinterfragen. So istMedienkritik auch als regulatives Element innerhalb einer verantwortungsvollenRezeption zu verstehen.Wenn Journalisten ihre spezifische Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeitimmer wieder nur begrenzt wahrnehmen, so liegt das unter anderem auch daran,dass sie mit Selektionsmechanismen, mit Zeitdruck und nicht selten auch mitAbhängigkeiten innerhalb der Medienhierarchie zu kämpfen haben. Bei den privat,d.h. kommerziellen TV Anbietern, die nicht in erster Linie einem Bildungsauftragverpflichtet sind und auch Objektivität bzw. Wahrhaftigkeit nicht als primäre Zielebetrachten, ist die Frage nach normativen Werten und nach der Medienverantwortungbesonders aktuell: Denn sie verfolgen in erster Linie kapitalistisched.h. auf Gewinnmaximierung gerichtete Absichten und setzen daher auf optimaleEinschaltquoten und auf Massengeschmack, im Regelfalle also auf pureUnterhaltung.Auch Jürgen Trimborn sieht das Fernsehen interessanterweise eher alsUnterhaltungsmedium an, und für ihn ist daher die Entwicklung im TV-Geschäftseit den 90er Jahren nur konsequent: „Fernsehen hat damit in Deutschland54


endgültig seinen ursprünglichen, letztlich nicht fernsehgerechten Kulturauftragverloren, das Fernsehen der Neunziger orientiert sich einzig und allein amZuschauer und am Werbekunden“ (1999, S.200). Weiterhin vertritt er dieAuffassung, die Entwicklung des Fernsehens hin zur Unterhaltungsorientiertheitkönne als Produkt grenzenloser Kommerzialisierung bei gleichzeitigen Kulturverfallinterpretiert werden oder aber die allgemeine Orientierung an der Einschaltquoteund an den darauf bezogenen Präsentationsformen und -Themen als eine logischeund folgerichtige Entwicklung anerkennen. Daher könne man, so Trimborn,Fernsehen als das begreifen, was es letztlich sei, nämlich als Marktfaktor. DieThese, seit der Einführung des Dualen Systems sei es in der TV-Landschaft zueinem deutlichen Niveauverlust gekommen, kontert Trimborn mit dem Vorwurf,dass die öffentlich- rechtlichen Sender davor viel zu lange auf elitäreProgrammangebote gesetzt und somit an den eigentlichen Bedürfnissen derZuschauer vorbei produziert hätten. Erst jetzt stünden daher die tatsächlichenInteressen der Zuschauer im Mittelpunkt (Trimborn, 1999).Doch ob diese Einschätzung letztlich zutreffend und die daraus abgeleiteten Zielewirklich erstrebenswert und förderlich für das Fernsehen und seine Zuschauerförderlich sind, scheint mehr als zweifelhaft.Nach einer Studie von Maria Gerhards strahlen die Deutschen Fernsehanstaltenalltäglich zu 85% reine Unterhaltung und Werbung aus, nämlich genau 176Stunden, und nur 32 Stunden (15%) sind den Themenbereichen Information undWissen vorbehalten (Gerhards, Maria u. a., 2000). Das führt dazu, dass „ diverseGruppen von Zuschauern - insbesondere jüngere, mit geringerer Bildung undschwachem politischem Interesse - Fernsehen nur noch als Entertainmentwahrnehmen.“ (Kübler, Hans-Dieter, 2000, S. 4)Doch alles, was nicht in erster Linie Unterhaltung ist, scheint in einem derartigenvom Quotendruck beherrschten Fernsehmarkt keine Chance mehr zu haben. Auchjene Nischen, die früher bei den Fernsehanstalten öffentlichen Rechts bestandenund Raum für Experimente boten, wurden in den letzten Jahren unter dem55


wachsenden Konkurrenzdruck des Dualen Systems immer mehr reduziert.Erstaunlich nun, so scheint es, dass Christoph Schlingensief ausgerechnet beiden Privaten solche Nischen entdeckt, sie gegebenenfalls auch neu etabliert undsie mit neuen Unterhaltungsformaten ausfüllt.Auch so ein „ausgewiesener“ Medienwissenschaftler wie Knut Hickethier istskeptisch , wenn er die Entwicklung des Mediums Fernsehen der letzten Jahreeiner kritischen Beurteilung unterzieht: „Die Vervielfachung des Angebots in[…]den neunziger Jahren brachte für das Fernsehen eine tendenzielle Entwertungder einzelnen Programminhalte (Hickethier 1998, S. 491. Eben dieser Aspekt derVervielfachung, des Kopierens ist es, den ich im Folgenden bei meinenAusführungen <strong>zum</strong> Phänomen der televisionären Selbstreferenzialität wiederaufgreifen werde.2.5 Zum Phänomen der „TelevisionärenSelbstreferenzialität“Vermutlich setzte sich das Fernsehen schon von Beginn an immer wieder mit sichselbst auseinander, doch konnte sich erst in den 90er Jahren selbstbezogenesFernsehen als eigenes Format fest etablieren. Ob es nun „Kalkofes Mattscheibe“(Pro7) ist, bei der Oliver Kalkofe anfänglich auf Premiere über die Peinlichkeitenunterschiedlicher Sendungen und Formate des deutschen Fernsehens reflektiert,ob es die Sendung „Switch“ auf Pro7 ist, die ähnlich schauspielerisch das Gleichetut oder ob es Stefan Raab mit seinem weniger anspruchsvollen Format „TV-Total“(Pro 7) ist - allesamt widmen sich ihrerseits anderen Fernsehsendungen, alsodem TV-Geschehen selbst. Entsprechendes gilt beispielsweise auch für Sendeformatewie die bereits angesprochene Sendung „TV-Kaiser“, die dasTalkgeschehen meisterlich persifliert, für die erfolgreiche Sendung Bully-Paradeauf Pro 7 oder für das Format „Zapping“ auf Premiere, das ausschließlich undkommentarlos die täglichen Fernsehpannen und –Lächerlichkeiten auflistet. DerBeginn der „televisionären Selbstreferenzialität“ als Teil einer Sendung bzw. als56


Hauptgegenstand wurde mit der Sendung „Samstag Nacht“ eingeläutet. Dieseerfolgreichste Comedy-Show der Neunziger auf RTL, die eine ironischeSelbstbespiegelung des Fernsehprogramms darstellte, widmete sich fastausschließlich dem eigenen Sender und war wie so vieles nach amerikanischemVorbild konzipiert worden. Auf humorvolle Art und Weise wurden die Inhalte, diePräsentationsformen und auch die Protagonisten des Fernsehprogramms karikiert.Dies hatte allerdings für den Sender RTL auch den Effekt der Werbung in eigenerSache und die eventuell geübte Kritik am Sender konnte dadurch entschärftwerden (Trimborn, 1999).Ein anderes Format der Selbstreferenzialität im Fernsehen, welches nichthumoristische, sondern eher informative Interessen verfolgt ist die Sendung „Zapp– Das Medienmagazin“ auf 3Sat. Caren Miosga präsentiert Neuigkeiten aus derMedienwelt und blickt hinter die Kulissen – aufschlussreich, informativ, kritisch,aber auch unterhaltsam.Diesem Aufschwung der Selbstreflexion ist aber nicht nur die meist humoristischeInterpretation der Fernsehwelt zuzuordnen, sondern auch das ebenfalls in den90er Jahren immer beliebter gewordene Adaptieren von Sendungen und Filmen –geradezu ein Zeitalter der „Coverversionen“ und der „Remakes“, gleich obQuizsendung oder Talkshow, ob „Reality Soap“ oder „Doku Soap“. Das „Sichselbst-Kopieren“gewann also in den 90er Jahren eine große televisionäreAttraktivität, und bis heute scheint vorzugsweise Gleiches, Vergleichbaresangeboten zu werden, ein „virtueller Einheitsbrei“ mit leichten geschmacklichenUnterschieden. Dabei wollen die Medienkopisten Geld sparen und setzen deshalbunter anderem auf den vorhersehbaren Erfolg der Originale. Diese offensichtlicheSelbstreferenzialität und die Gleichförmigkeit der Sendeformate, wurzeln also aufdem Boden rein ökonomisch-orientierter Programmgestaltung, gehen zugleich miteiner allgemeinen Amerikanisierung deutscher Fernsehprogramme einher, welcheim Grunde schon von Beginn an zu registrieren ist. Gleich wo man ansetzt, sei esbeim Format der Talksshow eines Jerry Springer, sei es bei der „Late Night Show“eines David Latterman oder bei der amerikanischen Talentshow „Starsearch“, die57


nun auch in unsere Fernsehlandschaft vorgedrungen ist – der Trend zurAmerikanisierung boomt.Doch bei all dieser Selbstreferenzialität fehlt allzu oft die wirklich kritische und ernstgemeinte televisionäre Selbstreflexion im Fernsehen. Christoph Schlingensief undseine Formate bzw. Fernsehsendungen sind somit natürlich auch televisionärselbstreferenziell, haben aber keinerlei finanzielle Hintergedanken; sie setzenzwar auch auf die Erfolge der Originale, aber nur, um diesen zu negieren und inFrage zustellen. Er verwendet die Vorlagen nicht, um ein weiteres gleiches Formatzu präsentieren, sondern um unter ihrer Oberfläche etwas Neues zu kreieren, nichtum zu unterhalten und humoristisch tätig zu sein, sondern um zu schockieren undzu persiflieren.58


III.Schriftliches Leitfadeninterviewmit Christoph Schlingensief„Die unerträgliche Geschäftigkeit deskünstlerisch, medienkritischen Seins“3.1 Zur Forschungsfrage und zur Idee des InterviewsIn Verfolgung meines Forschungsansatzes bzw. meiner Grundthese muss danachgefragt werden, ob es sich bei Schlingensief und seinen Fernsehprojekten wirklichum Fernsehkritik handelt und nach welchen normativen Mustern undWertevorstellungen Schlingensief vorgeht. Meine These lautet, dass trotz derpolitischen und gesellschaftskritischen Aspekte schlingensiefscher Arbeit - auchspeziell in den zu untersuchenden Formaten - die Fernsehkritik letztlich imVordergrund steht und sie die Attraktivität seiner Fernsehbezogenen Projekte beimZuschauer ausmacht. Zur Klärung dieses Sachverhaltes führte ich das folgendeschriftliche Leitfadeninterview mit dem Künstler, welcher mir seine Antworten am8.06.03 zukommen ließ, nach dem ich bereits ab April 2003 telefonisch, brieflichund auch per Internet Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. Die ursprünglicheAbsicht ein persönliches qualitatives Interview mit Christoph Schlingensief zuführen, bei dem die Chance auf spontane, unmittelbare Reaktion auf die Fragenbestanden hätte, musste aufgrund der immensen Geschäftigkeit Schlingensiefsleider aufgeben werden. Schlingensief, der zweifelsohne ein sehr beschäftigterMann ist, fand - trotz anfänglicher Zusage - nicht einmal Zeit mir ein telefonischesInterview zu gewähren. Durch meine Fragen wollte ich herausfinden, wie HerrSchlingensief wirklich <strong>zum</strong> Medium Fernsehen steht und ob er, selbst einbegeisterter Filmemacher das Fernsehen als Sinn entleerte Unterhaltung ansiehtoder eher als Inspiration begreift. Wen oder was kritisiert er und wie nutzt er dasFernsehen, was wird durch ihn instrumentalisiert und wie sieht er die Entwicklung59


Realität und Authentizität im Fernsehen, um nur einige meiner Fragen anzureißen.Ist seine Arbeit, wie es Carl Hegemann ausdrückte, postkaritativ, (Hegemann,1998) oder ist Schlingensief auch nur ein weiterer Entertainer und Selbstdarstellerunter vielen, wie es seine Kritiker behaupten. Wie sind auf diesem Hintergrund undspeziell die beiden televisionären Gegenmodelle „Talk 2000“ und „Ausländer raus– die Wiener Containershow“ einzuordnen? Die Beantwortung auch dieser Fragenwar das Anliegen meines Interviews.3.2 Das Interview selbstSehr geehrter Herr Christoph Schlingensief…1. …was für ein Einfluss hatte das Fernsehen auf Sie in Ihrer Kindheit und ihrerJugendzeit?Was meine Eltern in keinster Weise mit dem kleinen Christoph getan haben,hat das Fernsehen getan: es hat mich missbraucht. Und manchmal zahle iches ihm heim.2. Sie haben zweimal die Aufnahmeprüfung in München auf der Filmhochschule nichtbestanden, wie hat dies ihre weitere Zukunftsplanung beeinflusst, Stichwort hierwäre vielleicht „Scheitern als Chance“?Ich habe den akademischen Weg immer gehasst, ähnlich wieSchauspielschulen. Da wird Wissen und Handeln in kleine Förmchengegossen, die in freier Wildbahn einfach nur noch zermalmt werden, weil siekeine Anbindung besitzen. Hier handelt es sich ja um verordnetes Scheitern,das ist nicht unbedingt das Scheitern, an dem man sich hochzieht.Mittlerweile habe ich meine Abneigung in dieser Hinsicht jedoch vielfachbestätigt gefunden.60


3. Sagen Sie mir kurz etwas zu ihren Erfahrungen bei der Erfolgsserie„Lindenstrasse“?Ich habe Anfang der 80er Jahre als 1. Aufnahmeleiter bei der „Lindenstraße“gearbeitet, um eigene Filmarbeiten zu finanzieren. Aus Kostengründen habeich zeitweise im Studio- Wohnzimmer der damals noch glücklichen FamilieBeimer übernachtet und habe gerade in diesen Nächten meine Antipathiegegen das Wirklichkeiten permanent nur vortäuschende Medium Fernsehenexzessiv entwickelt.4. Nun zu Ihren eigenen Fernseharbeit allgemein, Sie sagten einst „Das Faszinosumfinde ich immer, wenn jemand seine Umgebung, den Standpunkt, der für ihn imMoment wichtig ist, spürbar werden lässt.“ (EXZESS, 1993) Sie widmen sich invielen ihrer Projekten gängigen und einschlägig erfolgreichen Fernsehformaten, ineiner Zeit in der alles nur noch aus Remakes, Coverversionen und Ablegernbesteht und in einer Zeit, da selbstbezogenes Fernsehen boomt, warum und wassteckt dahinter?Was dahinter steckt ist eine Frage, die ich – mit Verlaub – nicht mehr hörenkann. Fester Bestandteil meiner Arbeiten ist die Verweigerung vonLösungsangeboten. Inmitten dieser Verweigerung kann es ganz automatischauch zu einer Produktion, von mir aus auch Überproduktion von Unsinnkommen. Warum Leute, die sich meinen Projekten aussetzen, dann von mirhören wollen, (warum ich das tue,) ist für mich nicht nachvollziehbar. Ichhabe ein Thema und spiegele meine Sichtweise zu diesem Thema wieder.Wieso also soll ich anderen da den letztlich nur für mich verbindlichen Sinnerklären. Wieso soll ich gerade meine TV-Projekte Leuten verständlichmachen wollen, die den genannten Fernsehboom selbst auslösen durch Ihrepermanente Lügen- und Simulationsbeschau von Kerner bis Maischberger.U3ooo und Freakstars erklärt sich für mich aus dem, was ich da sehe,genauso.61


5. „Die schlingensiefsche Kunst besteht ja vorzüglich darin, einen Stein in trübesGewässer zu werfen, um dann zu sehen, wie sich die Wellen bewegen“, sagteGeorg Seeßlen, sehen Sie das auch so und was wäre der Stein und was das trübeGewässer?Der Stein bin ich selbst, weil ich niemals einen Vorwand, eine Schimäre aufdie Bühne stellen, bzw. ins Wasser werfen würde, sondern immer einenauthentischen Teil von mir. Das trübe Gewässer ist alles Mögliche,manchmal auch ich selbst.6. Sehen Sie einen Werteverlust im dt. Fernsehen und welche Werte sind Ihnenpersönlich denn wichtig?Um einen Werteverlust festzustellen, müssen zunächst einmal Wertefeststellbar sein. Wo sind die denn? Nutzen Sie doch bitte die nächste sichbietende Möglichkeit, einen Blick hinter den TV-Apparat zu werfen und Siewerden Ihre Frage beschämt oder schockiert zurückziehen. Wahrscheinlichschockiert...7. Nach welchen Kriterien haben Sie bei „Talk 2000“ die Talkshowgäste und diejeweiligen Talkshowthemen ausgewählt?Nach den Kriterien, nach denen alle Talkshows Ihre Gäste auswählen: wer istverständlich, eher seicht, genug, um ein möglichst großes Publikum zuakquirieren. Uns kam es dabei nicht auf Namen und Taten an, sonderndarum, die Namen und ihre Taten zu demaskieren – zu Nichtnamen undNichttaten –, zu Produkten ohne Inhalt, die man behandelt wie Ware mitabgelaufenem Verfallsdatum. So tat und tut es das Fernsehen, das unser„VorBILD“ zur Sendung gewesen ist.62


8. „Er bringt Inszenierung in den Alltag und Alltag in die Inszenierung“ sagt GeorgSeeßlen (1998) über Sie. Was meinen Sie zu diesem Boom desRealitätsfernsehens und sehe ich das richtig, dass Sie dieses Format auch in ihrenProjekten des Öfteren verarbeiten?Ich verarbeite überhaupt nicht. Ich stelle zur Disposition und mich – denRezipienten – gleich mit. Die Verarbeitung dessen, was ich auf die Bühneoder ins Fernsehen stelle, überlasse ich dem Zuschauer. Die Pflicht desZuschauers, endlich mal was für sein Eintrittsgeld, seine Rundfunkgebührenzu tun, ist seit Artaud sträflich missachtet worden. Zum vermeintlichen Boommeine ich, dass es niemand leichter haben dürfte als die Geschlossenen TV-Anstalten, sich diesen Boom selbst zu vermelden.9. Bei Ihrer Containershow setzten Sie der Banalität des Alltags, die bei Big Brotherzu einem Fernsehereignis hochstilisiert wurde, die Schrecken des Alltags einesAsylbewerbers entgegen, um auf die Ausländerpolitik Österreichs aufmerksam <strong>zum</strong>achen. Warum wählten Sie diese Form mit diesem Background?Weil es <strong>zum</strong> damaligen Zeitpunkt ein umfassender aber auch einfacherDurchspül- und Durchspielmechanismus gewesen ist. Allerorts explodiertedie Spaßgesellschaft und arbeitete sich politisch am gesellschaftlichen Randab. Hier wurde der Rand ins Zentrum der Spaßmacher verschoben. Das warbestimmt brachial, aber brachial war die Realvorlage – und sie ist es noch.10. Sie haben ein Stamm von Schauspielern, die Sie schon Jahre begleiten und jenachdem etwas anderes spielen, in wieweit ist dabei noch Authentizität undSpontaneität da, wenn diese doch nur nach ihrer „Regiepfeife“ tanzen?Sie tanzen ja gar nicht! Improvisation ist ein Begriff, den ich nur ungernverwende, auch wenn er niemals zu vermeiden sein wird. Improvisation ist jaletztlich nichts anderes als ein bewusstes Umgehen von Inszenierung, damitalso selbst schon wieder inszeniert. Eher geht es um Authentizität, umHyperrealität, um Paradoxe, die unseren Alltag, philosophisch: DAS LEBENausmachen. Wenn ein Schauspieler am Abend nicht spielen will, habe ich63


nichts dagegen; wenn er nicht spielen will und trotzdem zur Vorstellungkommt, ist das noch besser. Regiepfeifen haben, glaube ich zu wissen,andere in der Tasche.11. Heiner Müller sagte einmal, „Optimismus ist nur Mangel an Information.“ Ist ihrAnliegen und ihr Antrieb ihre Sendungen zu machen, dass sie die Menscheninformieren wollen und auf Dinge aufmerksam machen, die diese womöglich beiihren „Popstars“, „Daily Talks“, „Zlatkos“ und selbst bei Günther Jauch nichterfahren werden, auf die Gefahr hin ihren Optimismus zu trüben?Wer bei Beschau all solcher Formate noch Optimismus verspürt, der istselber schuld – oder schon tot, ohne dass er es gemerkt hätte. Fernsehengenerell ist ein Nullmedium; wenn Enzensberger jemals Recht hatte, danndamit. Mein telegenes Mittel ist die Affirmation, das Durchspielen derFormate, so wie sind, wenn auf der aufnehmenden Kamera das Rotlichtexplodiert. Auch hier gilt es nicht, zu schockieren, zu moralisieren, sondernsich und andere zu fragen: Warum seid Ihr schockiert, wenn Ihr Euch das,was Ihr ohnehin täglich seht, und ich in Reinform zeige, anschaut?12. Ist Irritation, Widersprüchlichkeit, Provokation, Tabubrüche und betonteKörperlichkeit, wie in ihren Arbeiten, das einzige Mittel, um die Leute <strong>zum</strong> Denkenund Nachdenken zu bringen?Meinen Arbeiten Provokation anzudichten ist ein Mechanismus jener Leute,die nicht hinter die Projekte gucken wollen, weil ihnen die Oberfläche zuunästhetisch, zu trivial, zu peinlich ist. Dabei ist das Leben trivial, peinlich –und macht trotzdem Spaß. Provozieren kann sich – vor dem Hintergrundseines eigenen Horizonts – jeder nur selbst. Selbstprovokation ist Teilmeiner Arbeit; widersprüchlich ist sie, weil wir selbst Widersprüche sind,jeden Tag, auf jeder Bühne.64


13. Ist bei Ihnen die oft existierende Methode der Übertreibung aus Gründen derKritikübenden Gegenbewegung <strong>zum</strong> gängigen Fernsehen zu verstehen oder eheraus Gründen der Klarstellung, was Wahrheit wirklich ist? Oder anders gefragt, sindSie reaktionär oder revolutionär?Reaktionär und Revolutionär – beides Begriffe für Dumme. Robespierre warRevolutionär und wäre heute trotzdem in der CDU, oder noch weiter rechts.Und was sollte ich klarstellen wollen? Meine Meinung <strong>zum</strong> Fernsehen, <strong>zum</strong>Theater? Was hat das mit den Meinungen derer zu tun, die sich meineSendungen angucken oder in eine Vorstellung gehen? Ich bin doch keinLehrer, ich bin Schüler, wie alle anderen auch, der sein Referat abarbeitet.14. „Mein Problem ist, dass ich ernst genommen werden möchte“, (KölnerStadtanzeiger, 15.3.2002) äußerten Sie einmal, machen Sie seriöses Fernsehenund ist es nicht eher vielleicht das Problem, dass Sie nicht verstanden werden?Komische Frage. Wie soll man seriöses Fernsehen machen, wenn Inhaltmeines Fernsehens unseriöses, unaufrichtiges, einfach unwahres Fernsehenist? Wenn ich von „meinem Problem“ spreche, fordere ich damit nicht dasPublikum auf, mich kollektiv zu begreifen, sondern ich geißele mich selbst,weil ich weiß, dass Antrieb meiner Arbeit selbst Unverständnis ist.15. Sehen Sie eine Diskrepanz zwischen dem gewollten Zielpublikum ihrerFernseharbeit und dem wirklich erreichten?Ich habe keine Zielgruppe. Ich kann mit diesem Begriff auch nicht allzu vielanfangen. Zielgruppen sind interessant für die Auftraggebenden Sender vonU3000 oder Freakstars 3000, für mich aber nicht.65


16. Man könnte ihre Arbeit auch mit den Worten „Pseudoengagement für Außenseiteroder Weiterführung des sozialen Engagement mit den Mitteln des Establishments“betitelten, sind Sie der „Robin Hood der Moderne“ und was sagen sie zu diesenWorten?Pseudo-xy ist einer der Lieblingsetiketten von Journalisten, die inhaltlicheAuseinandersetzung scheuen und nur gerne ihre Zeilenvorgaben erfüllen,Pseudoschlaumeier. Etiketten wie „Enfant terrible“ und „Provokateur“hängen mir an, seitdem ich in Oberhausen kleine Filmchen mitSchulfreunden gedreht habe. Hätte ich mich damit längere Zeit aufgehalten,säße ich heute wahrscheinlich immer noch da. Interessant wirdjournalistische Auseinandersetzung erst dann, wenn sie sich inhaltlichauseinandersetzt. Dann ist Kritik, auch harte Kritik jederzeit willkommen, weilsie in der Regel auch Teil der Projekte ist. Doch den Nachweis dieserAuseinandersetzung fähig zu sein, sind viele Journalisten, <strong>zum</strong>alFeuilletonisten, in schlechter Beständigkeit schuldig geblieben.17. Welchen Stellenwert haben ihr religiöser, katholischer Glaube und ihre jahrelangeTätigkeit als Messdiener in ihrer Fernseharbeit?Mein Blick hinter die Kulissen des Glaubens hat mich gelehrt, nicht alles zuglauben. Meinen Glauben selbst hab ich mir allerdings erhalten. Als Mitgliedder CHURCH of FEAR lerne ich jetzt, auch meinen Nicht-Glauben brauchbarzu verwalten.18. In der Zeit der Individualisierung und Personalisierung, will sich jeder nur profilierenund selbst darstellen, was sagen Sie den Leuten, die meinen, dass der einzigeInhalt ihrer Projekte nur Sie und ihre Selbstinszenierung ist?Übersehen wird in der Regel, dass der Christoph Schlingensief, der auf derBühne oder sonst wo rumsteht, eine Art Kunstfigur ist, ein alter Ego, in demich all meine Gedanken, meine Ängste, meinen Hass zusammenfasse.Zuhause trage ich auch Schlappen und putze mir zweimal täglich die Zähne.Die Möglichkeit, sich medial darzustellen, heißt dabei immer auch, sich66


selbst dar zu stellen. Deshalb ist die Meinung dieser Leute in gewisserHinsicht nicht falsch, aber nicht konsequent zu Ende gedacht.19. Sehen sie in unserer Gesellschaft eine „Kritikverdrossenheit“ und einenschleichenden Konsensvirus, der alle und alles ansteckt?Es gibt eine allgemeine Depression, eine Bequemlichkeit, die sich natürlichniemand gerne nachsagen lässt. Kritik zu artikulieren ist in Deutschlandebenso unbeliebt, wie Kritik erfahren zu müssen. Kritik ist dabei einwertvolles Energiefeld, auch Ratlosigkeit, auch Angst. Konsens um desFriedens Willen ist der Anfang vom Ende, Dissens um der Aufruhr Willenauch. Das ist was für die Vorschule, für Günter Jauch oder Campino.20. Wen und was finden Sie im momentanen Fernsehen wirklich gut und wer oder wasmuss unbedingt abgesetzt werden und welchen Anspruch haben sie an dasFernsehen allgemein?N-TV ist gut, weil es Unmittelbarkeit ausdrückt, in Ausschnitten <strong>zum</strong>indest.Das ist fürs Fernsehen unserer Tage schon ganz schön viel. An sich aber istdas Fernsehen tot; genauer gesagt, weil es sich aus dem permanentenSchein täglich reproduziert. Da muss man nichts mehr gesondert benennen.21. Sie sind ja überzeugter Bildstörer, welche Bilder muss man heutzutage unbedingtstören?Das Eigenbild, die Bildzeitung, das Fernsehbild, das Museumsbild...22. Bei U 3000 stand das Thema der Revolution im Vordergrund, kann man mit und imFernsehen Revolution machen?Nein, dazu ist der Apparat zu mächtig. Ein ancien regime, in dem täglichKöpfe rollen. Vielmehr muss man wie eine Erscheinung auftreten, die da ist,dann wieder weg, zu der im Nachhinein viele hinpilgern möchten, dann abernur noch Relikte vorfinden.67


23. Als was würden Sie sich am ehesten bezeichnen, wenn es umSie als Fernsehakteur geht?Als Fernsehvirus, sofern es um eigene Produktionen geht.24. Sie sagten einmal „Idealismus ist doch die stärkste Droge!“, wie sieht ihrIdealismus in Bezug <strong>zum</strong> dt. Fernsehen aus?Mein Idealismus hinsichtlich des Fernsehens gipfelt im Kappen aller Kabelund der Aufforderung an die Leute, sich ihr Programm selbst zu machen, mitsich selbst als Hauptdarsteller im Alltag, nicht im Fernsehstudio.25. Sind Sie mit ihrer Manier nicht selbst erfolgreiches Kind eben dieses Fernsehens,dass Sie womöglich kritisieren; sind Sie nicht auch nur ein Sklave desFernsehens?Das Fernsehen hat mich lange ignoriert, insofern bin ich ihm nichts schuldig,außer dem offenen Bekenntnis, dass ich es verabscheue. Sklave desFernsehens sagt mir nichts, klingt wie ein Metaphorikkurs amGermanistischen Institut.26. Sie sagten auch einmal „Für mich ist es immer wichtig zu wissen, dass Herr Kohloder Herr Engholm abends auf dem Klo ein paar Minuten sitzen und die gleichenProbleme mit dem Klopapier haben, wie ich auch“(EXZESS 1993), welchenStellenwert und welche Aufgabe haben Prominente in ihren Werken?Prominenz an sich ist uninteressant, langweilig. Prominenz wird danninteressant, wenn sie instrumentalisiert wird. Wenn Promis sich nichtaufgrund wirklicher Verdienste öffentlich machen – in Wort oder Bild -, dannbetrachte ich sie als <strong>zum</strong> Abschuss freigegeben. Dann interessieren siemich, weil sie mich ärgern, weil sie Arbeitsfläche bieten.68


27. Manchmal scheinen Ihre Projekte einem gefährlichen „Insidertum“ zu verfallen,meinen Sie nicht auch?Das beantworte ich DANN uneingeschränkt mit ja, wenn Sie mir sagen, wasbitteschön „gefährliches Insidertum“ heißen soll.28. Inwieweit haben ihre Arbeiten immer mit ihren persönlichen Erfahrungen zu tun?In sehr weit, hier schon mehrmals <strong>zum</strong> Ausdruck gebracht.29. Warum diese Fixierung auf Nummern bzw. Jahreszahlen bei all ihren Projekten?Um auch mir selbst anzuzeigen, dass alles im Fluss stattfindet, dass nichtsals abgeschlossenes Projekt betrachtet werden kann und dass man sichehrgeizige Ziele setzen soll.30. Sie wurden oft als letzter deutsche Heimatfilmer betitelt, braucht Deutschlandeinen Christoph Schlingensief, um Deutsch zu bleiben?Deutschland braucht keinen Schlingensief, ich brauche Deutschland. Ich binnicht missionarisch unterwegs. Aber Auseinandersetzung mit Heimat schafftdoch erst die Möglichkeit, sich heimisch zu fühlen, so wie man seinenWohnzimmerteppich ausklopft, damit man nicht im Staub erstickt.31. Sie wurden vor 10 Jahren schon mal nach ihrer Meinung über den Wenders-Spruch “Wir müssen die Bilder der Welt verbessern und dadurch können wir dieWelt verbessern“ gefragt, was sagen sie aus heutiger Sicht dazu und müsste derSpruch nicht eher lauten: „Wir müssen die wahren Bilder der Welt zeigen unddadurch können wir die Welt verbessern“?Wim Wenders ist durch und durch Artist. Ihm und anderen geht es eben ummöglichst schöne Bilder. Dagegen habe ich nichts, ich sehe auch gernschöne Bilder – vielleicht nicht die von Wenders... Um Weltverbesserunggeht es doch heute auch nicht mehr. Wenn überhaupt, geht es darum, dem69


Bösen, der Lüge in die Augen zu schauen, ihm die Eingeweiderauszunehmen; im eigenen Rücken aber braut sich dann bestimmt schonwieder das nächste Unheil zusammen. Die Welt ist viel zu kompliziert, umvon Gut oder Böse zu schwätzen.32. Ein Zitat Ihrerseits lautete, „Der Prozess ist wichtig, das Machen…der Weg ist dasZiel“(EXZESS, 1993), einige Stimmen sagen, dass alles nur Protest bei Ihnen ist,aber wo bleibt das Konstruktive, die eventuellen Lösungsvorschläge?Seltsam ist doch, dass gerade die Leute von MIR Lösungen verlangen, diemich andererseits als Selbstdarsteller ablehnen. Das sind sehr bequeme,denkfaule, unselbständige Herrschaften, deren Abneigung ich mit Dank zurKenntnis nehme. Es gibt keine Lösungen, weil das Leben keine Lösung hat.Vieles geht gut, vieles geht schlecht, vieles geht gar nicht. Lösungen sindwas für Politiker und Philosophen – und selbst die simulieren Lösungen nur.33. Können Sie sich vorstellen regelmäßig im TV eine Sendung zu haben?Nein, das kann ich nicht, weil die Formate, die ich senden würde, nachspätestens 8 Folgen abgesetzt würden.34. Sind sie manchmal verzweifelt und glauben, dass ihre Arbeit gar nichts bewirkt?Verzweifelt bin ich genauso regelmäßigunregelmäßig, wie jeder andere auch. Dassdie Arbeit etwas bewirkt, ist zwischenzeitlichimmer mal wieder feststellbar,genauso wie die Feststellung, dass manmanches in den Sand setzt. Aber auch daskann <strong>zum</strong>indest für mich dann ein großerErfolg sein.Vielen Dank Herr Schlingensief70


3.3 Kurze Auswertung des InterviewsDas Fernsehen täusche nur Wirklichkeit, so Schlingensief, das Medium simulierenur die Realität, um die Zuschauer zu binden und sie zu unterhalten. Unabhängigdavon, ob die Rezipienten sich dieser Simulation bewusst sind oder nicht, wird„Reality TV“ vom Publikum lebhaft nachgefragt. Schlingensiefs Arbeit bietet keinenkein Katalog mit Lösungsvorschlägen, vielmehr zeigt sie lediglich seine Sichtweisezu bestimmten Themen, die von aktuellem Interesse sind. Wie er einräumt,könnten solche Sichtweisen durchaus auch einmal zur Produktion von Unsinnführen.Seine TV- Projekte sprechen für sich, vor allem auf dem Hintergrund desFernsehbooms, auf den sie sich immer wieder beziehen. Aus diesem Grundbenötigen sie nicht immer auch noch eine spezielle Erläuterung, so Schlingensief,wobei seine Projekte ohnehin nicht immer zu Ende gedacht seien. Dabei überlässter vieles dem Publikum, das letztlich sowieso darüber entscheidet, was es siehtund sehen will. Er spiegele nur wider, er präsentiere nur das, was ohnehin schonvon allen gesehen werde. Schlingensief bietet demnach Massenkultur in Reinformund wirkt gerade dadurch erst provokativ. Die so zu Stande kommendeProvokation erweist sich beim näheren Hinsehen als eine Produktion derProvokateure selber.Schlingensief, der den Fernsehanstalten am liebsten „den Saft abdrehen“ würde,spricht davon, das Fernsehen habe ihn als Kind missbraucht. Ist dieseEinschätzung zutreffend, so darf vermutet werden, dass Schlingensief seinerseitsdas Medium Fernsehen für seine Zwecke missbraucht.Er definiert die Fernsehwelt als einen Wertefreien Raum und markiert damit denpessimistischen Höhepunkt in der öffentlichen Diskussion um den Werteverfall imdeutschen Fernsehen. Jeglicher Optimismus scheint ihm hier fehl am Platze. Hierpflichte er dem deutschen Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bei, wenndieser formuliere, dass das Fernsehen längst schon <strong>zum</strong> „Nullmedium“ geworden71


sei – Fernsehen ist also nicht länger Lieferant von Bildung, Information undKulturgütern. Es geht nicht mehr darum, was gesendet wird, sondern wie, wann,wo und durch wen dies geschieht. Bei all der fortschreitenden Technisierung undVermarktung erreicht das Fernsehens einen Zustand der „Programmlosigkeit“, mitdem sich die „Fernsehteilnehmer“ offenbar zufrieden. Nach EnzensbergersEinschätzung geht es im Fernsehen nicht mehr um die Produktion vonBedeutungen, sondern um eine Programmillusion, sowohl was dieInformationsvielfalt, die Objektivität und die Menschlichkeit als auch die kulturelleBildung betrifft. Andererseits hält Enzensberger fest, dass das Fernsehenmittlerweile von den meisten Nutzern angeschaltet wird, um abzuschalten, was fürihn heißt sich einer Sinnlosigkeit hinzugeben, die zugleich einer befreiendenPsychotherapie nahe kommt, in der man aus einer „vollkommenen Leere“ Kraftschöpft. (Enzensberger, 1988)Prominente Gäste werden bei Schlingensief instrumentalisiert, sie werdenausgewählt, um ein möglichst großes Publikum zu akquirieren, und zugleichwerden sie negieren und gleichzeitig ihrer Masken beraubt. Schlingensiefmissbraucht sie für seine Zwecke, wie dies die Manier der Daily Talk Shows ist,mit dem einzigen Unterschied, dass es sich dort vorwiegend um unbekannte Gästehandelt und nicht um Prominente. Schlingensief spricht ein Problem in unsererGesellschaft an und sucht sich dementsprechend Menschen, die dieses Problemverkörpern. Dem herkömmlichen Fernsehbetrieb lastet er an, das dort mitprominenten wie mit unbekannten Gästen umgegangen wird wie mit Waren undProdukten, zugleich aber verfährt er selber so, indem er das, was er hier kritisiert,in seinem eigenen Formaten bewusst kopiert. Ausnahmen macht er offensichtlichdort, wo es sich bei seinen Gästen, um persönliche Freunde oder um solcheProminente handelt, die seiner Wertschätzung sicher sein könne oder ihn in seinerArbeit unterstützen.Oft ist es eher das Ästhetisch-Formale schlingensiefscher Projekte und nicht sosehr der Inhalt bzw. die Thematik, was die Rezipienten als provokativ empfinden,denn inhaltlich spiegelt Schlingensief ohnehin nur die virtuelle Realität wider, zitiert72


sie nur, und gibt ihr aber eine neue Form und einen neuen Namen frei nach demMotto, dass ein kommentarloses Zitieren die beste Kritik sei: „Mein telegenes Mittelist die Affirmation.“ 15 Im Grunde sei es gar nicht seine Absicht zu provozieren oderzu schockieren, vielmehr sei es der Zuschauer selbst, der im Zuge der innerenVerarbeitung des Gesehenen die Provokation erst konstituiere. In diesem Sinnefordert Schlingensief den Zuschauer auf, selbst aktiv zu werden und bewusst zuverarbeiten, was er tagtäglich sehe. Zugleich komme es für den Rezipienten daraufan, im Prozess der Verarbeitung immer wieder auch sich selbst in den Blick zunehmen. Er, Schlingensief, biete hierbei stets nur seine eigenen Interpretationenan; inwieweit diese für die Rezipienten dann <strong>zum</strong> Denken angeregten, sei derenSache. Wenn Schlingensief so dann sich zu dem französischen TheatertheoretikerAntonin Artaud (1896 – 1948) als einem seiner Vorbilder bekennt, so offensichtlichdeswegen, weil dieser wie er selber die Distanz zwischen Bühnengeschehen undPublikum prinzipiell aufheben möchte. Artaud, der in seinem „Théâtre de lacruauté“ - „dem Theater der Grausamkeit“ – diese räumliche Distanz tatsächlichaufzuheben vermochte, involvierte mit Hilfe aller nur erdenklichen Bühneneffekte,den Betrachter derart in das Dramengeschehen, dass dieser - vornehmliche durchDarstellung des Schrecklichen – zu einer quasireligiösen Selbstentblößungprovoziert wurde.Bei all dem ist Schlingensief ein Medienmacher, der sich überall gerne einmischtund der Öffentlichkeit immer aufs Neue seine Meinung kundtun möchte. Er räteinem jeden, nie mit dem zufrieden zu sein, was andere vorlegen, sofern er nichtselbst an der Erarbeitung beteiligt war und nicht auch seine Interessenberücksichtigt sind. In eben diesem Sinne setzte sich Joseph Beuys mit Nachdruckfür die Gleichberechtigung und für gerechte Lebensverhältnisse ein und prägte denBegriff der „direkten Demokratie“, die er im Rahmen einer Volksabstimmung zurealisieren versuchte.Christoph Schlingensief, der sich selbst als noch lernenden Schüler bezeichnet,und seine Motivation <strong>zum</strong> Lernen wie <strong>zum</strong> kreativen Arbeiten mit einem bei ihm15 vgl. Christoph Schlingensief , Interview, Frage 1173


vorhandenen Unverständnis begründet, verlangt von den Rezipienten keinkollektives Verständnis für seine Arbeit, auch wenn er von Zeit zu Zeitoffensichtlich gerne als aufklärerischer, schulmeisterlicher Prediger auftritt. Danach seiner Auffassung das Medium Fernsehen über keinerlei Seriosität verfügt,können auch seine Spiegelung und die kritische Auseinandersetzung mit ihm nichtseriös sein. Nichtsdestotrotz ist es für Schlingensief wichtig, seine Arbeit in einembestimmten Kontext zu präsentieren, der seine Aussagen verdeutlicht und sie füreine größere Zuschauerschar an Bedeutung gewinnen lässt. Schlingensief, derden Begriff der Zielgruppe für sich ablehnt, da er seine TV-Arbeit nicht unterkapitalistischen Gesichtspunkten betreiben wolle, spricht dennoch immer wiederbestimmte gesellschaftliche Gruppen gezielt an, seien dies die direkt adressiertenArbeitslosen, die Politiker, die Kulturkritiker oder die Medienmacher selber. Vonihnen allen verlangt er, sich der ästhetisch-formalen Oberfläche seiner Formateund seiner medialen Projekte erst einmal frei hinzugeben, sich ihr ganzauszuliefern, um dann zu erkennen und wahrzunehmen, was sich dahinterverbirgt. Nur so sei eine journalistisch- inhaltliche Auseinandersetzung wirklichmöglich, erst dann sei eine qualitative Kritik denkbar und womöglich könne manerst dann wiederum auch die Oberfläche verstehen.Bei seinen Projekten schlüpft Schlingensief in wechselnde Rollen, tritt mitunter alsKunstfigur und wird zur Verkörperung eigener und fremder Gefühle und Ängste.Darüber hinaus agiert er auch als Talkmaster, und doch verbirgt sich hinter alldiesen Rollen er selbst, der einfache Bürger, den alltägliche Sorgen bewegen undsich dadurch nicht vom Rest der Menschheit unterscheidet. Immer geht es daherum ihn selbst, um Wahrhaftigkeit und Authentizität, die folgerichtig in denkünstlerisch-medienkritischen Prozess einfließen und nicht um eine rein fiktiveInszenierung.Hinzu kommt: Schlingensief will inkommodieren und dem herkömmlichenFernsehen sozusagen dazwischenfunken. Seine Absicht ist die allgemeine„Bildstörung“, die er durch die Verwendung gängiger wie unbekannter Symbole74


vorantreibt und hierdurch die Rezipienten tendenziell verwirrt oder gar von derRezeption ausschließt – bewusster Bestandteil schlingensiefscher Konzeption.Der schauende und betrachtende Mensch erfasst nicht die Wirklichkeit an sich,sondern wird sich ihrer bewusst und begreift sie mit Hilfe von Symbolen, d.h. vonSinnbildern etwa der Sprache, der Mythologie, der Kunst oder letztlich auch dermedialen Welt. Bettina Fromm schreibt: „Ausgehend vom Paradigma desSymbolischen Interaktionismus und von der in dessen Tradition stehenden Theorieder Wissenssoziologie wird Kommunikation als grundlegende Voraussetzung fürmenschliche Existenz aufgefasst“(Fromm, 1999, S.39). Also ist die Vermittlung vonSymbolen wie auch das Aufnehmen und Verstehen - also der gesamteKommunikationsprozess - für das menschliche Leben von existenziellerBedeutung. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit solchen Sinnbildernfür das menschliche Zusammenleben konstitutiv.Der „symbolische Interaktionismus” bedient sich eines relativ weit gefasstenSymbolbegriffs, wobei alles, was auch nur im Entferntesten sinnbildlicheBedeutung hat, Symbol ist. Die jeweils tiefere Bedeutung erschließt sich aus derInteraktion von Mensch und Sache von Verhalten und Situation. Darin liegt nachGeorge Herbert Mead - Hauptvertreter des „symbolischen Interaktionismus“ - derUrsprung des Geistes, des Selbst und der Gesellschaft, indes psychologischsoziologischeAspekte dominieren. Alles habe eine Bedeutung, die letztendlich derMensch selber zuschreibe – eine Interaktion mittels Symbolen. Auch für ChristophSchlingensief ist das bewusste Hantieren mit Symbolen Voraussetzung derInteraktion mit Menschen und der Kommunikation über welche „Kanäle“ auchimmer (Brumlik, 1973).Will der Rezipient das schlingensiefsche Oeuvre in seinen wesentlichenDimensionen entschlüsseln, werden ihm eine rasche Auffassungsgabe, ein breitgefächertes Wissen und insbesondere ein tiefes Verständnis für seineSymbolsprache abverlangt.75


Da Selbstdarstellung wie Selbstinszenierung als charakteristische Merkmalemedialen Seins gelten dürfen, kann ein entsprechender Vorwurf einem jedenMedienakteur gemacht werden. D.h. aber, dass eine solche Vorhaltung im Grundenicht wirklich gerechtfertigt ist. Wer auf de Ebene öffentlicher Medien agiert, stehtvon Anbeginn unweigerlich im Zentrum öffentlichen Interesses und wird – ob erdas bewusst fördert oder nicht – <strong>zum</strong> Selbstdarsteller. Die einzig relevante Frage,die in diesem Kontext aufkommt ist die nach dem Ausmaß und dem Motiv einersolchen Darstellung.Kritik zu üben ist für Schlingensief ein permanentes Bedürfnis, das sich ausRatlosigkeit, ja gar Angst speist, die die für ihn aus der gegenwärtigengesellschaftlichen und medialen Entwicklung resultiert Vor diesem Hintergrundverurteilt er die sich ausbreitende Kritiklosigkeit der Deutschen und zugleich ihreUnfähigkeit, Kritik konstruktiv anzunehmen Solchen Rezipienten attribuiert erdeswegen, im Grunde seien sie bereits abgestumpft und abgestorben.Nichtsdestoweniger ermutigt er sie <strong>zum</strong> Gestalter eines eigenen Programms zuwerden und die Rollen der Hauptdarsteller selbst zu übernehmen, sozusagen ineiner „Serie des Alltags“ bzw. in einem „Krimi“ wie ihn das wirklich Leben schreibt.Die in der Medienbranche vorherrschende Gleich-Gültigkeit und Gleichförmigkeithält Schlingensief für mehr als bedenklich wie auch solche Dissensen, die um ihrerselbst willen konstruiert werden, ohne dass ihnen eine wirklich Bedeutungzukommt. Einer derartigen Entmystifizierung der Fernsehinhalte – so ein GedankeTrimborns (Trimborn, 1999) – setzt Schlingensief in die Welt der „ televisionärenKonditionierung“ bewusst sein Konzept der Mystifizierung.Prominenz an sich ist für Schlingensief uninteressant. Interessant für ihn wird sieerst dann, wenn Prominente ohne „wirklichen Verdienst“, sich ins öffentlicheRampenlicht drängen. Dieses Phänomen treffen wir nicht nur bei so genanntenProminenten, sondern immer häufiger auch bei Unbekannten an, die allein ihrerBanalität, Oberflächlichkeit und Unbedeutendheit doch zu Stars auserkorenwerden. Auch das erregt Schlingensiefs Ärger und bietet seiner Kritik die geeigneteAngriffsfläche. Dabei bestehen seine diesbezüglichen Sendeformate nicht selten76


aus kurzen Projekten, die finanziell nicht rentabel sein müssen und lediglich derjeweiligen Idee verpflichtet sind.Deren Entwürfe sind schon im Vorfeld auf das absehbare Ende und einerbestimmten Zahl von Sendefolgen hin konzipiert. So droht nie Langweile, stetsgeschieht Unerwartetes und die Gefahr von Warte- und Endlosschleife kommt garnicht erst auf. Durch solche Variabilität bewahrt sich Schlingensief davor, zu eineruniformen Identifikationsfigur zu degenerieren, und verweigert sich zugleich demDiktat von Einschaltquoten und Programmdirektoren. In seiner Zeit als Messdienerhat Schlingensief unter anderem auch gelernt, dass der Glaube denkendverantwortet werden muss, und von daher hat seine Arbeit stets einen subversivenCharakter, die Subversivität eines Christen.Wenn Bert Brecht recht hat, dass die Dimension von Dummheit nur groß genugseien müsse, um nicht mehr wahrgenommen zu werden 16 , so bedarf es geradedann subversiver Kräfte, sie wieder sichtbar zu machen. In diesem Sinne verstehtsich Schlingensief in der herkömmlichen Fernsehwelt geradezu als gefährlichen„Fernsehvirus“, der mit seinen Projekten für eine Neuprogrammierung und einemLöschen jeglichen „Flachsinns“ sorgen möchte.Hier nehme er eine Verantwortung wahr, die - so seine These - im Grunde auchjedem anderen Medienmacher und -nutzer zukomme (www.Main-Rheiner.de, vom21.5.2002).16 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , 20.05 200377


IV.Zu den Fernsehprojekten undFormatpersiflagen Christoph Schlingensiefs4.1 „Talk 2000“„Das Medium muss sich selber in Frage stellen“(Lilo Wanders in „Talk 2000“)4.1.1 Zum Setting bei „Talk 2000“In der Kantine der Volksbühne am Rosa- Luxemburg- Platz in Berlin veranstaltetChristoph Schlingensief im September 1997 eine Talkshow, „Talk 2000.“ Dieachtteilige Sendung - von Kanal 4 produziert - wurde auf RTL wie auch einenMonat später auf SAT1 und bei ORF um die Mitternachtsstunde ausgestrahlt. DasMotto lautete: „Jeder kann in Deutschland Talkmaster werden. Ich will beweisen,dass das möglich ist. Jeder hat das Recht dazu, denn ich glaube, jeder Mensch istim Moment besser als alle Talkmaster, die wir in Deutschland im Fernsehensehen“.Dieser schlingensiefsche „Selbstversuch“ <strong>zum</strong> ersten Mal die Moderatorenrolle ineiner Talkshow zu übernehmen, war zugleich auch sein erster Fernsehauftrittüberhaupt. „Talk 2000“ weist im Formellen wie auch in der Strukturierungklassische und gleichzeitig unkonventionelle Aspekte einer Talkshow auf. Sofinden sich beispielsweise typische Elemente „Daily Talks“ und der „Late-NightShow“. In jede Folge werden <strong>zum</strong>eist zwei bis drei Prominente eingeladen -überwiegend aus der Theater- und Medienbranche - wie z. B. die Moderatorin LiloWanders oder der Theaterregisseur Walter Bockmeyer, auf die ich weiter unten78


nochmals eingehen werde. Jede Sendung steht unter einem übergeordnetenThema wie z. B., „Sind Tiere die bessere Menschen“ oder - konkreter -„Körperkult“. Der Moderator und seine Gäste sitzen auf einer kreisförmigen Bühne,welche sich um die eigene Achse dreht. Die Akteure befinden sich stets inAugenhöhe mit und inmitten des Publikums, bleiben also zugleich von allen Seiten.Die gewohnten Sehweisen werden somit relativiert, für die Zuschauer wie für dieAkteure, eine Chance, zu neuen Erfahrungen zu gelangen. Auch die Voyeurekommen auf ihre Kosten, wenn ihnen die Prominenz derart wie auf einem „Bühnen- Teller“ serviert wird. Die gewählteSitzordnung platziert den Moderatorim direkten Gegenüber zu denjeweiligen Gästen und erleichtert ihmso sie bei Bedarf jederzeit verbalkonfrontativzu attackieren. Natürlichdarf auch eine Band nicht fehlen. Bei„Talk 2000“ ist dies, eine russischeDrei-Mann-Formation, die den Auftrittder Gäste musikalisch umrahmt.Das zahlreich erscheinende Studiopublikum sitzt - um kleinere Tische versammelt– über die ganze Kantine verteilt; es kommt in jeder Sendung zu Wort - sei esetwa ein weit angereister Fan Rudolph Mooshammers oder ein Mann im Rollstuhl,der Witze über Behinderte reißt, frei nach dem Satz Herbert Feuersteins, jederhabe das Recht, verarscht zu werden. 17 Auch dergestalt bricht Schlingensiefbewusst alle Regeln einer herkömmlichen Talkshow.4.1.2 „Talk 2000“ - das GegenmodellEs gibt immer wieder Augenblicke, in denen Schlingensief offen zu erkennen gibt,überfordert und ohne Konzept zu sein. Im Gegensatz zu seinen Kollegen undKolleginnen im Fernsehbetrieb ist ihm unwichtig, ob und wie er bei seinen17 Nach Harald Schmidt in „Talk 2000“, eine Aussage seines langjährigen Kollegen HerbertFeuerstein79


Talkgästen ankommt. Er will nicht unbedingt gemocht werden oder sich garanbiedern. Bewusst setzt er die geladenen Gäste mit unangenehmen Fragen odergar Beleidigungen unter Druck. So bringt er beispielsweise eine Ingrid Steegerdazu, seine Sendung vorzeitig zu verlassen. Prominente überhöht er nicht,sondern er diskutiert mit ihnen wie mit Freunden und konfrontiert sie dabei mitmenschlich-all<strong>zum</strong>enschlichen Themen. Nicht selten wird er dann vertraulich undbringt Gästen wie Themen ein persönliches Interesse entgegen.In „Talk 2000“ werden Fragen gestellt, die noch kein anderer zu stellen gewagt hat.Schlingensief kommt es in seiner Rolle als Talkmaster auch nicht von entferntdarauf an, den guten Schein zu wahren, sondern er zeigt es nötigenfalls auch,wenn ihm Gäste nicht wichtig sind. So unterhält er sich zeitweise allein mit demPublikum und lässt seine eigentlichen Talkpartner sozusagen links liegen. Auf deranderen Seite zeigt er nicht nur seine – gegebenenfalls inszenierte Antipathie,sondern verströmt auch immer wieder Sympathie, wenn ihm danach ist. So fällt erbeispielsweise vor der Schauspielerin, Sophie Rois von der Berliner Volksbühneauf die Knie und offenbart ihr, dass er sie tendenziell liebe. DieBeziehungskonstellation zwischen dem Moderator und seinem Gast interessiertund beschäftigt ihn, sind es doch Distanz, Objektivität und Höflichkeit, die inherkömmlichen Talkformaten das Geschehen weitgehend bestimmen und vorallem dazu beitragen sollen, die Gäste nicht zu vergraulen. In „Talk 2000“ sprengtSchlingensief diese „Eti-Kette“, definiert sie neu und wirft alle Erwartungen überBord, die sich auf gängige und gewohnte Abläufe richten.Bevor die Gäste von sich erzählen, berichtet Schlingensief über seine Kindheit undsein Privatleben – ein Moderator, der persönlich wird und sich als Mensch in seinerIndividualität und in all seinem Problem-Behaftet-Sein präsentiert. So widersprichter dem gängigen Image des Moderators, als allseits beliebtem „Übermenschen.“Er macht sich angreifbar, und die üblichen fixierten Rollenkonturen von Moderatorund Gast werden aufgegeben.80


Individualität und Selbstbezogenheit sind Charaktermerkmale schlingensiefscherArbeit. So fragt er beispielsweise aus eigener ängstlicher Betroffenheit über dieGefährdung durch eine HIV-Infektion bei Beate Uhse an, wie es denn um dieInfektionsgefahr bei den Darstellerinnen und den Darstellern den von ihrproduzierten Pornofilme bestellt sei. In „Talk 2000“ fordert er sie auf, doch einmalvor laufenden Kameras einzuräumen, das diese spezifische Ansteckungsgefahrexistiere. Ein anderes Mal zeigt er den Fernsehöffentlichkeit eines seiner privatenFotoalben mit einem Bild seines mittlerweile verstorbenen Hundes und berichtetseinem Gast Rudolph Mooshammer von den näheren Umständen seines Todes.Ebenso sind jedoch auch soziale Themen von allgemeinem Interesse Gegenstandseiner Talkshow. So wie seine Partei „Chance 2000 - Partei der letzten Chance“ -gegründet 1998 – eine Partei der Arbeitslosen war, stehen die Arbeitslosen auch in„Talk 2000“ im Mittelpunkt. Er spricht in jeder Folge die verheerend große Zahl vonMenschen an, die ohne Arbeit sind und bittet seine prominenten Gäste, dieBetroffenen durch eine aufbauende Aussage aufzurichten – als eine MutgebendeHilfestellung durch Mitmenschen, deren Leben glücklicher und erfolgreicherverlaufe. Dabei macht er kein Geheimnis aus seiner Auffassung, dass diearbeitslosen Menschen unverschuldet unter die Räder der kapitalistisch-verfasstenGesellschaft geraten seien und mit ihren Nöten aus der öffentlich-politischenDiskussion längst ausgeklammert würden. So sieht er in Moderatoren auchMenschen mit politischen und sozialen Aufgaben und macht Prominentesozusagen zu politischen „Instrumententen“. Er will aufzeigen, dass Menschen, dieein mediales Dasein führen, dank ihres Bekanntheitsgrades die Macht undzugleich auch die Verantwortung besitzen, der Öffentlichkeit soziale Botschaftenzu vermitteln und sie zur Identifikation anzubieten. Laut Lew Kopelew, russischerGermanist und Schriftsteller ist die Politik viel zu wichtig, als dass man siePolitikern überlassen sollte. (Diwo, 1993) Deshalb stellt Schlingensief gerneKompetenzen in Frage, gleich ob es die der Politiker – von ihm oft als Simulantenbezeichnet - oder etwa die der Moderatoren sind. In „Talk 2000“ werden Zuschauerzwischenzeitlich jedenfalls kurzerhand zu Moderatoren erklärt und umgekehrt. InSituationen, in denen seine Unlust überhand nimmt verschwindet er einfach,81


eispielsweise in die Toilette um sich frisch zu machen und drückt seinenzurückbleibenden Zuschauern oder Gästen einfach das Mikrophon in die Hand, soim Falle Lilo Wanders´. Der einfache Pförtner der Volksbühne erhält eine tragendeRolle – gleich, ob er den Gästen Blumen erreicht, ihnen die angeblichenEinschaltquoten per Telefon durchsagt oder zu einem Statisten eines innerhalbder Sendung inszenierten Familiendramas.Bei Christoph Schlingensief bekommen Randgruppen und “einfache“ Menschenein Forum, in dem sie sich behaupten und gleichberechtigt auftreten können.Insofern kommt er dem aktuellen Trend des Mediums Fernsehen sich für seinediversen Sendeformate immer häufiger unbekannter Menschen zu bedienen, sehrnahe. Jedoch bedient Schlingensief damit nicht das drängende Bedürfnis vielerMenschen nach einem Fernsehauftritt und damit nach Ruhm und Geld, sondernmöchte die Stimmen derer, die im raschen Wandel der virtuellen Welt verstummtsind, wieder hörbar machen. Viele soziale Missstände verschwinden leicht ausdem kollektiven Gedächtnis, wenn über sie nicht immer wieder berichtet wird, auchwenn sie latent fortbestehen. Schlingensief aktualisiert diese Probleme in seinenSendungen dadurch, dass er sie gerade auch im Talk mit Prominenten akzentuiertanspricht.Selbst wenn Schlingensief einmal in „Talk 2000“ – wie im Falle Harald Schmidt –seinen Meister findet, dient dies der bewussten Inszenierung seines Sendeformatsals „Antitalkshow“. Der Studiogast und gewiefte Alleinunterhalter Harald Schmittist für Schlingensief zu schlagfertig und wortgewandt, als dass dieser nicht mitAnzeichen der Überforderung reagieren müsste: er wirkt aufgeregt, schwitztsichtlich und bekennt offen seine Sprachlosigkeit. Aber gerade so wirkt „Talk 2000“echt und deren Moderator authentisch. „Talk 2000“ soll sich nicht in den Kanon dervielen anderen Promi-Talks einreihen, Schlingensief will bewusst aus dem Formatausbrechen, und hier sollen die hier sollen die wahren Gefühle und Ängste sowohlder Gäste als auch des Moderators selbst zur Sprache kommen. Schlingensief willmit Dilettantismus dem Mainstream herkömmlicher Talkshows entgegenwirken undsie auf diese Weise entlarven und letztlich überflüssig machen.82


Die Gäste werden umarmt oder aber man prügelt einander, wie etwa im Falle desBodybuilders Jonny Pfeiffer, mit dem sich Schlingensief einen offensichtlicheingeplanten Kampf auf der Bühne liefert. Zugleich ist Schlingensief auch seineigener Animateur und Einheizer“, der seine Gäste lautstark auf die Bühne ruft undihre Namen mehrfach wiederholt und orgiastisch herausschreit. Spontaneität wirdbei „Talk 2000“ groß geschrieben, und so kann es durchaus vorkommen, dass einStudiogast sich plötzlich vor dem Publikum auszieht oder auch Schlingensief selbsteinmal die Hosen herunterlässt. Ein Moderator müsse bereit sein, quasi selbstdurch die Hölle zu gehen, nötigenfalls sich selber zu hassen, an sich zu zweifelnund letztlich auch zu verzweifeln, er dürfe noch nicht einmal sich selber glauben.Diese schlingensiefsche Forderung findet sich in seinem Projekt „U3000“ aus demJahre 2000 auf die oben bereits eingegangen wurde (siehe Kapitel 1.3.4).Schlingensief persifliert den für ihn pervertierten Drang der Sender und ihrenShowmastern nach möglichst hohen Marktanteilen, in dem er schon im Laufeseiner Sendung mehrfach Einschaltquoten vermelden lässt, deren Höhe erkennbarutopisch ist. Das Stilmittel der Persiflage verwendet er unter anderem auch dort,wo er zu einem allgemeinen Trauern und Wehklagen aufruft um den Verlust derFamilie, um zerplatzte Träume und auch um der vielen Ungerechtigkeiten in derWelt willen. Für Schlingensiefs Geschmack wird bei den Prominenten in unsererGesellschaft zu wenig geweint und getrauert, stattdessen werden solcheEmotionen von einer glitzernden Scheinwelt übertüncht. Andererseits prangertSchlingensief damit zugleich auch die Masche vieler Sender an, die bei ihren Talk-Formaten auf emotionale Entgleisungen ihrer Talkgäste geradezu bauen. WennGäste bei der Schilderung ihrer mitunter ausweglos erscheinendenLebenssituation in tränen ausbrechen, scheint dies die beste Garantie für hoheEinschaltquoten zu sein. Diese Attitüde belegt Schlingensief mit der Bezeichnung„Betroffenheitstalk“ und kritisiert damit diejenigen Moderatoren, die, wie PastorFliege mit einfühlsamer Stimme den betroffenen und mitleidsvollen Zuhörer geben,obwohl sie nicht selten eher an die Höhe der Werbeeinnahmen denken undweniger an Möglichkeiten konkreter Hilfe. In seiner eben schon erwähnten83


Sendung „U3000“ spricht er sich daher offen gegen eine Machart von fernsehenaus, die um der Gewinnmaximierung willen Gefühle von Betroffenen mit Kalkülmanipuliert. Schlingensief persifliert auch diesen Zusammenhang eindrücklich,wenn er in „U 3000“ eine von Krankheit heimgesuchte Familie, die von Sozialhilfelebt, auffordert vor der Kamera offen über ihr Schicksal zu sprechen, um imnächsten Augenblick das Interesse daran zu verlieren und sich von ihrabzuwenden.In „Talk 2000“ inszeniert Schlingensief innerhalb der Sendung ein einminütigesSchweigen, was nur als Konterkarierung, ja gar als eine besonders eindrücklicheVerneinung verstanden werden kann. Denn eine Talkshow definiert sich im Grundeausschließlich über „Talken“ und Diskutieren, während Schlingensief hingegenbeweisen möchte, dass eine solche Show auf die verbale Interaktion durchausverzichten kann. Überdies, viel zu früh werde im Fernsehen ein Thema abgehackt,ohne seine Dimensionen wirklich ausgelotet zu haben. Themen würden allzu oftnur gestreift, Probleme allenfalls flüchtig angerissen und niemals lange genug undmit angemessenem Tiefgang behandelt. Auch Schlingensief löst nicht immer diejeweils angesprochenen Probleme, verschafft ihnen aber mit seiner provokant –unverwechselbar persönlichen Art eine gewisse Ernsthaftigkeit, die sie in dersonstigen Talklandschaft nicht besitzen.Schlingensiefs „Antitalk“ findet 2 Jahre später in gewisser Hinsicht einenNachahmer. Am 8.5.1999 wurde auf ARD/WDR unter dem Titel „No Talk“ eineSendung ausgestrahlt, bei der sieben renommierte Talker - wortgewandteModeratoren wie Alfred Biolek, Jürgen Domian, Günther Jauch, ArabellaKiesbauer, Bärbel Schäfer und Roger Willemsen - für die Dauer einer halbenStunde das Gegenteil von dem unternahmen, was sonst ihre Aufgabe und wofürsie üblicherweise auch bezahlt werden: sie schwiegen.84


4.1.3 „Talk 2000“ - die einzelnen Sendungen und ihre ThemenTrotz des leicht seriellen Charakters von „Talk 2000“ ist jede Folge individuell undbesitzt eine „eigenwillige“ Gestaltung - Unvorhergesehenes wechselt sich mitabsichtlichem Ausbrechen der Norm ab, konzeptionell, optisch wie auch akustisch.Oberflächlich betrachtet scheinen die Titel der jeweiligen Talkshowthemen indiesem schlingensiefschen Format denen einer gewöhnlichen Daily-Talkshow zuähneln, denn auch hier werden Themen wie „Schönheitswahn“ und „Sex“besprochen und sich ausführlich mit persönlichen Schicksalsschlägen vonMenschen auseinandergesetzt. Doch bei Schlingensief sind es Prominente diesich den <strong>zum</strong>eist auf sie zugeschnittenen Talkthemen widmen.In der ersten Folge der 8 Sendungen werden die Schauspielerinnen Sophie Roisund Hildegard Knef zu dem Thema „Forever Young“ eingeladen. Sophie Rois, dieSchlingensief sehr gut kennt, steht sozusagen für das persönliche Schönheitsidealdes Moderators. Wohingegen Hildegard Knef, als filmhistorische Koryphäe mitBlick auf ihre Karriere - die sie unter anderem auch ihrer optischen Erscheinung zuverdanken hatte - für das allgemein anerkannte Schönheitsideal steht bzw. stand.Es wird kurz über Schönheitsoperationen geredet, um dann doch in erster Linie umvergangene Filmarbeit zu reden und um das nach Schlingensief überaus attraktiveÄußere von Sophie Rois.In der nächsten Folge mit dem Titel „Sind Tiere die besseren Menschen“ sind derTheatermacher Walter Bockmeyer und der Modezar Rudolph Mooshammereingeladen, denen Christoph Schlingensief, wie schon erwähnt, ein Bild seinesbereits verstorbenen Hundes zeigt, welcher sterben musste, weil er „aufs Worthörte“. Ein philosophischer Gedanken den Schlingensief hiermit aufgreift: DerHund wurde von einem Auto erfasst, als er, auf das Kommando „Sitz!“ horchend,direkt in der Mitte der Strasse Platz nahm. In diesem Zusammenhang stelltMosshammer die charakterliche Eigenwilligkeit seiner Hündin „Daisy“ heraus, umim nächsten Augenblick der Frage der eventuellen Faulheit der Arbeitslosennachzugehen.85


Die Überzeugungen eines Studiogastes, nichts über die Beziehung Mensch undTier erfahren zu haben und dadurch die Sendung als gescheitert anzusehen,bilden den Schluss dieser Folge.„Deutscher Humor“ ist der Titel der darauf folgenden Sendung mit Harald Schmidtals einziger Gast. Schlingensief fragt Schmidt nach Grenzen der Unterhaltunginnerhalb der deutschen Entertainment-Branche. Trotz des Versuchs Schlingensiefsgegen den TV-Zynismus seines Gasts anzukommen, kann Schmidt dieserseiner Vorliebe während der ganzen Folge frönen. Auch die Frage nach einemeventuellen Erfolgsdruck lässt Schmidt kalt. Er erscheint als eine Person, dienichts wirklich persönlich nimmt und sich durch nichts und niemanden aus derFassung bringen lässt. Seine „abgebrühte Überheblichkeit“, die fast schon einergenerellen Gleichgültigkeit ähnelt, macht Schlingensief Probleme, der seinerseitssein Fähnchen nie nach dem Wind hängen wolle. (Talk 2000)Die Schauspielerin Ingrid Steeger und der anerkannte Fälscher Konrad Kujau sinddie Geladenen der Folge <strong>zum</strong> Thema „Neuanfänge“. Das Leben besteht nebenSchicksalsschlägen und Niederlagen immer auch aus Neuanfängen, so auch beiKujau, der aufgrund seiner gefälschten Hitlertagebücher vorübergehend imGefängnis saß. Das Thema „Original und Fälschung“ stieß bei Schlingensief aufbesonderes Interesse - auch Ingrid Steeger wird aufgefordert ihre Echtheit zubeweisen. Die persönliche Frage nach ihrer Liaison mit Dieter Wedel, denSchlingensief als Schwein betitelt, veranlasst Steeger letztendlich dazu das Studioverärgert zu verlassen. Zum Schluss werden Zuschauer, die über SchlingensiefsModerationsstil empört sind, aufgefordert kurzerhand selbst die Moderation zuübernehmen.Die Frage nach dem Schein und dem Sein beschäftigt die Moderatorin LiloWanders und Rolf Eden, Frauenheld und Berliner Diskothekenbesitzer in dernächsten Folge mit dem Thema „Körperkult“, das sich gut in den Kanon derüblichen „Daily Talks“ einreiht. Schlingensief unterstellt dem ewig gut gelauntenEden, dass hinter seiner „Fassade“ auch ein deprimierter und einsamer Mann86


stehe, wie dies auch Schlingensief sich selbst zuschreibt. Nachdem kurz überKörperzugehörigkeit gesprochen wird und Rolf Eden Schlingensief einen Flirtkursanbietet, zeigt der Body Builder Jonny Pfeiffer, als Überraschungsgast demPublikum wie man auch im hohen Alter noch fit bleiben kann. Er liefert sich einenoffenen handfesten Kampf mit Schlingensief gleich einer Talkshow à la JerrySpringer.In der 6. Folge mit dem Titel „Leben mit Legenden“ wird neben Udo Kier -renommierter Schauspieler auch in etlichen Filmen Schlingensiefs -, PrinzAlexander von Hohenzollern und Achim Pacensky eingeladen. Udo Kier, alsBeispiel eines erfolgreichen Menschen - und für einige schon jetzt eine Legende -steht dem mittellosen Prinzen Alexander von Hohenzollern gegenüber, der nurseinen Namen als Reichtum vermerken kann. Achim Pacensky ein langjährigerFreund Schlingensiefs lässt den verstorbenen Literaten Heiner Müller wiederauferstehen – eine „lebende“ Legende. Die Sendung behandelt dieSchwierigkeiten des Lebens, die mit Erfolg und Misserfolg, mit Klischees undVorurteilen zusammen hängen.„Moral in Deutschland“ ist der Titel der nächsten Folge mit dem SchauspielerHelmut Berger, der den Begriff des Bisexuellen prägte und Beate Uhse, der„Grand Dame“ der deutschen Erotikindustrie. Die Dimensionen der Moral einerUhse, die des Papstes, der der Menschheit das Benutzen von Kondomen verbietetund letztlich die Moral eines jeden Einzelnen, werden hier diskutiert und kritischdurchleuchtet.Die letzte „Talk 2000“ Sendung hat den Titel „Auf Leben und Tod“. Hierbei wird derGesangsentertainer Gotthilf Fischer und die Erotik-Darstellerin Kitten Natividad, dieextra aus Amerika eingeflogen wird, eingeladen. Durch Filme aus den 60er und70er Jahren des amerikanischen Regisseurs Russ Meyer - überzeugterBusenfetischist - wurde die freizügige Natividad bekannt, die hier den fast schonklassischen Aspekt des Exhibitionismus in einer gängigen Talkshow erfüllt. BeideGäste wurden wegen ihres hohen Unterhaltungswertes eingeladen. Schlingensief87


eröffnet die Sendung mit seinem Geständnis, überaus froh zu sein, dass „Talk2000“ nun zu Ende gehe und er sich freue, diese Talkshow durchgestanden zuhaben: „Ich habe bewiesen, dass es sich nicht lohnt Talkmaster zu werden, ichhabe bewiesen, dass man mit seinen Themen, <strong>zum</strong>indest bei Prominentenüberhaupt nichts erreichen kann“. Nachdem Schlingensief damit seinenRessentiments dem Format Talkshow und auch den Prominenten gegenüberAusdruck verlieh, forderte er unter dem Motto „Gesang als Befreiung desSelbsthasses“ Gotthilf Fischer auf gemeinsam mit dem Publikum ein Liedanzustimmen. Bei allem Feiern will Schlingensief dennoch auf das eigentlicheThema nicht ganz verzichten, um es durch kurzes Anreißen „abhaken“ zu können.Fischer spricht über seine vergreisten Chöre und über den Tod als einzigeWahrheit des Menschen. Dagegen ist Kitten Natividad nur im Stande diesemThema ein Stöhnen und Lachen hinzuzufügen. Zum Schluss wird wieder einmaleine inszenierte Prügelei Bernhard Schütz <strong>zum</strong> Besten gegeben, bei der SchützSchlingensief vorwirft, sich verkauft und der medialen „Verblödungsmaschine“unterworfen sowie beim „Harald-Schmidtschen-Zynismus“ kein entsprechendesmoralisches Rückrat gezeigt zu haben.Schlingensief - der Talkmaster mit Überredungswillen - prägt das Affektfernsehen,wobei hier nicht die emotionale Beziehung der Gäste untereinander gemeint ist,sondern die Beziehung zwischen dem Moderator und seinen GästenSchlingensief kann und will nicht neutraler Moderator sein und klagt dadurch dieGleichgültigkeit und den Zynismus vieler Kollegen an. Er stellt den Begriff„Talkmaster“ in Frage, in dem er sich manchmal als „Talkniete“ zu erkenne gibt.Ganz nach den Prinzipien einer herkömmlichen Talkshowwerden auch bei „Talk 2000“ so genannte „Teaser“, die dieZuschauer auf die bevorstehende Talkshowfolge neugierigmachen sollen eingesetzt. Bei Schlingensief „teasert“ derjeweilige Prominente seinen kommenden Auftritt schon in derSendung davor selbst an.88


4.1.4 Kurze Analyse von „Talk 2000“Schlingensief bietet trotz einzelner wiederkehrenderAspekte in seiner Talksendung denRezipienten keine Möglichkeit sich mit ihm zuidentifizieren, ist also für das Publikum keingeeigneter „Anchor-man“, der es sicher durchdie Sendung führt, wie dies sonst beigewöhnlichen Talksendungen der Fall ist. Denner springt sowohl thematisch als auchrollenspezifisch und emotional innerhalb derSendung zu sehr hin und her, als das eine feste Zuschreibung möglich wäre,wiederum eine gewolltes Stilmittel der Widersprüchlichkeit zur Irritation undVerwirrung der Zuschauer.Wie in vielen seiner „Happenings“ und Fernsehwerken spielt Schlingensief auchbei „Talk 2000“ mit dem Betrachter, der sich fortwährend fragen muss, wo dieInszenierung aufhört und die Wirklichkeit beginnt. Auch die Verknüpfung vonAktion und Reaktion scheint bei „Talk 2000“ bedeutungslos zu werden, derZuschauer wird bewusst im Stich gelassen und ist beim Entschlüsseln auf sichallein gestellt. In Fällen, in denen Schlingensief Wirklichkeit unverändert undunkommentiert transportiert, wird besonders deutlich, wie sehr die Wirklichkeit imsonstigen medialen Kontext inszeniert ist.Man könnte auch dort von einer der vielen Widersprüchlichkeiten sprechen, woSchlingensief mit seiner provokanten Ästhetik eine eher abgehoben-intellektuellenManier die Fernsehöffentlichkeit zunächst eher abschreckt, um sie dann wiederummittels der ihm nicht weniger zur Verfügung stehenden populär-medialenTechniken in den Kreis der Eingeweihten zurückholen. So durchbricht er immerwieder die Mauern des Elitären, die ihn und seine Gesprächspartner nicht seltenumgeben, und bezieht - wie beispielsweise in „Talk 2000“ – die restlichenPublikumsgäste in das Gespräch mit ein.89


Während bei den gängigen Talkshows nur die Privatsphäre der Talksgäste –gleich ob prominent oder unprominent – gezielt offen gelegt wird, ist es beiSchlingensief der Moderator selber, der eigene Intimitäten preisgibt.Bei allem vordergründig revolutionär-provokativen Agieren geht es Schlingensiefdurchaus auch um traditionelle Themen – gegebenenfalls auch reaktionäre – wiedie Familie, die Heimat oder Dimensionen des Religiösen. Bereits nach der erstenFolge seiner Talksendung kommt er auf die Frage zu sprechen, welche Werte denZuschauern - jedem Einzelnen unter ihnen – noch wichtig seien. Um sein Anliegenzu erläutern, bezieht er sich hier ausdrücklich auf Joseph Beuys und dessenFormulierung „Mein Fett, mein Filz, mein Hase“, womit jener umriss, was für ihnvon großer, persönlicher Bedeutung war. Schlingensief kritisiert den Verlust desWertes „Familie“ in einer Gesellschaft, in dem Privatsphäre nur noch bedingtvorhanden ist: „Wir wollen wieder zurückfinden zu uns selber, wir wollen wiederprivat werden […], ich werde nicht übers Poppen reden, ich werde nicht überGeschlechtskrankheiten reden, sondern ich will einfach, dass es wieder familiärwird,[…]was sind meine privaten Dinge, die mir wirklich noch was wert sind?“ (Talk2000) Er propagiert eine Veränderung, eine Neuausrichtung von Talkshows, umsie im gleichen Augenblick wieder zu verwerfen – eine Dialektik, die letztlich dieNotwendigkeit des intendierten Veränderungsprozesses untermauert (auch erredet eben doch über „Sex“ und Geschlechtskrankheiten…). Das an einKreuzverhör erinnernde Gespräch mit Beate Uhse, von dem oben schon die Redewar, stellte in diesem Falle nicht auf Entertainment ab, sondern hatte einenaufklärerischen Impetus in Bezug auf Beate Uhse (vgl. Heinz / 2003) und dientezugleich auch der Demaskierung und Entschleierung von medialer Unterhaltung.Die von Schlingensief geäußerte Absicht, im Massenmedium Fernsehen wiederprivat zu werden, meint im Grunde ein nur schwerlich überbietbares Paradoxonund verschärft zugleich seine Anklage gegen die Daily Talkshows, die zu einemAbsterben familiärer Vertrautheit und zu einer Vernichtung privater Wertebeitrügen. Der traditionelle Orientierungsort „Familie“ mit seiner unschätzbarenKraft des Zusammenhalts scheint haltlos geworden und eben das wird von90


Schlingensief thematisiert. Das Familiengespräch scheint in unseren Tagen nichtmehr in den häuslichen vier Wänden, sondern nur noch auf der Bühne derTalkstudios statt zu finden.4.1.5 Politische Ansätze bei „Talk 2000“Schlingensiefs Kritik richtet sich nicht zuletzt auf dieFlüchtigkeit und Oberflächlichkeit mit der Fragen deszwischenmenschlichen Zusammenlebens einschließlichauch seiner politischen Dimension im herkömmlichenTalkgeschehen abgehandelt werden. Kurt Biedenkopfäußerte sich 1997 in Leipzig vor der Gesellschaft fürPublizistik und Kommunikationswissenschaft mit folgendenWorten: „Ich habe den Eindruck, dass das Interesse anausführlicher Darstellung politisch relevanter Sachverhaltezurückgetreten ist und der Unterhaltungszweck […] immer mehr in denVordergrund tritt“ (Meyn, 2001, S.285). Auch Peter Paul Kubitz sieht dieseTendenzen im heutigen Fernsehbetrieb ähnlich kritisch: „In den 90 er Jahren wirddie Kommerzialisierung des Programms Alltag. Fernsehen ist nicht mehr primärKulturmedium, Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung, sondern Forum derWerbung“ (1997, S.186).Schlingensief steht in Mitten der medialen Wechselwirkungen zwischen Bürgern,Journalisten, Politikern und den institutionalisierten Medien. „Idealtypischbetrachtet, befördern die Medien Themen, Bedürfnisse und Meinungen der Bürgerzu den politisch Handelnden, und diese machen ihrerseits ihre Planungen undEntscheidungen der Öffentlichkeit über die Medien zugänglich. In unsererMediengesellschaft wird Politik für die meisten erst über das Fernsehenwahrnehmbar“ (Meyn, 2001, S. 286-288). Man könnte im Zeitalter des immer mehraufkommenden „Politainments“ auch sagen, Politik könne heutzutage nur nochüber Unterhaltungsformate transportiert und wahrgenommen werden, so91


eispielsweise mittels einer Talkshow, einer Reality-Soap, einer Quizshow odereiner Castingshow, wie Schlingensief dies wirkungsvoll vorgeführt hat.Mittlerweile gibt es sogar eine Sendung, die sich ausschließlich dem ThemaArbeitslosigkeit widmet, mit der Absicht direkt den Arbeitslosen Jobs zuverschaffen. Der Sender „Neun Live“ versucht als erster Fernsehsender, Jobs imdeutschen Fernsehen zu vermitteln, und will Arbeitssuchenden den Wiedereinstiegins Berufsleben erleichtern. Der Moderator Thomas Wilsch will in seinerwöchentlichen Sendung „NEUN LIVE Job-Chance“, genau wie Schlingensief denBetroffenen Mut machen und Hilfe anbieten. Natürlich wird diese Sendung nichtdas Problem der Arbeitslosigkeit lösen können, doch verbindet sie - wie schon„Talk 2000“ - die Medienwelt mit den realen gesellschaftlichen Missständen derAlltagswelt, wobei sich hier Arbeitssuchende wie Arbeitgebende melden und in derSendung auftreten können.92


4.2. „Ausländer Raus - Bitte liebt Österreich - ersteeuropäische Koalitionswoche - die WienerContainershow“„Allerorts explodierte die Spaßgesellschaft undarbeitete sich politisch am gesellschaftlichen Randab. Hier wurde der Rand ins Zentrum der Spaßmacherverschoben. Das war bestimmt brachial, aber brachialwar die Realvorlage – und sie ist es noch.“(Christoph Schlingensief) 184.2.1 Zur Konzeption von „Ausländer Raus“Die Verunsicherung des Betrachters, das bewusste Changieren mit der Realitätund ihre Simulation sind konstitutive Elemente des Sendeformats „Big Brother“ aufRTL; und eben diese Elemente adaptiert auch Christoph Schlingensief, als erseine Wiener Containershow „Ausländer Raus – Bitte liebt Österreich – die ersteeuropäische Koalitionswoche“ konzipierte.Am 11.06.2000 errichtet er auf dem Herbert-von-Karajan-Platz vor der Staatsoperim Rahmen der Wiener Theater- Festwochen 2 Container, in denen - eine Wochelang - aus verschiedenen Ländern kommend und mit ihren unterschiedlichenBiographien 12 Asylbewerber wohnen. In dieser seiner eigenen Variante der„Reality-Soap“ wird der Vorgang des „Nominierens“ und „Herauswählens“ zueinem Abschiebevorgang von erschreckender Realität. Täglich werden 2Asylbewerber durch Publikumsentscheid über Telefon und Internet ausgewählt, ummit „Security-Geleit“ aus dem Container abgeführt und umgehend <strong>zum</strong> Flughafen18 Siehe Interview mit Christoph Schlingensief, Frage 993


gebracht zu werden. Auf den Asylbewerber aber, der zuletzt als „Gewinner“ übrigbleibt, wartet die rettende Heirat mit einer Österreicherin bzw. einem Österreicher.Auch wenn es sich bei den Container-Insassen umfreiwillige „Schauspieler“ handelt, die sich entweder noch ineinem schwebenden Asylverfahren befinden, schon imBesitz der Aufenthaltsgenehmigung sind oder aber gar keinAsyl suchen, ist dieses Eliminierungsspiel von einergeradezu grauenhaften Authentizität - „Big brother iswatching you“, im wahrsten Orwellschen Sinne: „Big Brother“, derÜberwachungsstaat in Gestalt der österreichischen Regierung erfasst Menschenauf einer Abschiebeliste und lässt sie nicht mehr aus den Augen. Die Bevölkerung,die mit der erregten Neugier von Voyeuren Insassen der Container beobachtet undbeurteilt, entscheidet schließlich, wer bleiben darf und wer zu gehen hat, und wirdauf diese Weise zu einer übermächtigenInstitution, die quasi über Leben und Todbefindet. So wird aus den Containern einAsylantenheim und aus den Fenstern machtSchlingensief kleine Schlitze, sodass dieZuschauer und Passanten wie durchSchlüssellöcher in die Container schauenkönnen. Schlingensief wählt für die kleine Containerstadt den Begriff „Lager“, einenBegriff, den schon Martin Altmeier auf die „Big Brother“- Originalversion angewandthat, wenn er dort von einem „Wohncontainer mit Lageratmosphäre“ spricht.(Altmeyer, 2000) Die „Big Brother“- Fanzeitschrift wird bei Schlingensief zur„Abhängigen Neuen Lagerzeitung“ mit Überschriften wie „Das Lager ist eröffnet –Ausländer in Todesangst“ und bringt Kurznachrichten über das Lagerleben,vermeldet täglich die jeweilige Containertemperatur und berichtet vonPressereaktionen (Lilienthal/Philipp). Die Parallelisierung zu den Konzentrationslagernund zur „Gettoisierung“ der Asylbewerber in Asylantenheime ist bei diesemschlingensiefschen Projekt permanent spürbar. Weiterhin lässt er an denAußenwänden der Container Spiegel anbringen, in denen sich die Voyeure beim94


Begaffen der Asylanten selbst beobachten können. In der Originalversion warendie Innenwände der Container verspiegelt und ließen keinen Blick nach draußenzu. Bei Schlingensief ist es genau umgekehrt, die Bewohner können durchaussehen, was in der Welt um sie herum vor sich geht.Ebenfalls an die Außenwände angeheftet sind die übergroßen Visitenkarten allerInsassen mit Bild und Biographie, leicht verändert und mit schwarzen Balken überden Augen. Diese Bilder wirken wie Fahndungsphotos und dadurch der Containerzuweilen wie ein Gefängnis.Bei all dem handelt es um ein politisches Happening gegen Fremdenhass undzugleich gegen die österreichische Regierungskoalition zwischen der ÖVP undFPÖ. Der rechtslastige Protagonist der „Freiheitlichen Partei Österreichs“, JörgHaider, ist dabei das Hauptangriffsziel, der durch Zitate wie „Jeder Asylant holtsofort seine Familie nach, auf Kosten der tüchtigen und fleißigen Österreicher“(Lilientahl & Philipp, S.91) klar gestellt hat, dass aus seiner Sicht Österreich keinals Einwanderungsland werden darf.Mit Slogans wie diesem lässt Schlingensief bei seiner Wiener Containershow denOpernplatz beschallen, nimmt dergestalt Haider beim Wort und errichtet über denContainern - für Passanten und Touristen weithin sichtbar - ein großes Transparentmit der Aufschrift „Ausländer Raus!“.So rückt er die „Big Brother“-Container und die Asylantenheime der Jetztzeit in dieNähe der Konzentrationslager einer noch nicht allzu lang zurückliegendenVergangenheit. Die schockierenden Parallelen sieht Schlingensief insbesondere inden Aspekten der Überwachung und der Kontrolle, der Willkür und derManipulation, der Unfreiheit und der existenziellen Bedrohung.95


Schlingensiefs Inszenierung ist in doppelter Hinsicht überzeugend: Die WienerZuschauer wissen nicht, ob sie daran glauben sollen, dass es sich hier um echteAsylbewerber und ihrer Abschiebung handelt, und sind zugleich im Zweifel, obdiese Aktion nicht doch von der Regierungskoalition veranlasst wurde diegehissten Flaggen echt sind.Die Fähigkeit zur friedlichen Koexistenz im Container scheint die einzige Chance,vor den Augen der „Big Brother“-Jury zu bestehen und nicht heraus gewählt zuwerden. So wird aus der Medienrealität eines Sendeformats „unversehens“ eineAlltagswirklichkeit, aus dem virtuellen Überleben die Chance für ein tatsächlichesÜberleben für die Asylbewerber.96


Paul Virilio bezeichnet in seinem 1993 veröffentlichten Buch „Die Eroberung desKörpers, vom Übermenschen <strong>zum</strong> überreizten Menschen“ die Massenmedien als„vierte Gewalt“ (Virilio, 1993). Bei Schlingensief wird dieser Gedanke gleichzweimal herausgestellt: Zum einen haben hier die Medien - das Internet wie auchdie Kameras im Container – die Macht über Einzelschicksale von Menschen zuentscheiden; andererseits hat nun auch Schlingensief die Möglichkeit mit seinerAktion - einem Anwalts gleich – auf Politik und Öffentlichkeit einzuwirken und einemediale Gegenoffensive zu mobilisieren.Es geht bei dem ursprünglichen „BigBrother“- Motiv um das ubiquitäre Bedürfnisder Menschen die Lebensverhältnisse desNachbarn auszuspähen, um über sieBescheid zu wissen. Zugleich befriedigtdas entsprechende Sendeformat die Lustan einem Experiment teilzunehmen, daserforschen möchte, wie die „Labor –Bewohner“ ihr Zusammenleben meistern, um den Testaufgaben in Bezug auf ihresozialen Kompetenzen bestehen.Beim schlingensiefschen Experiment sind nicht die Nachbarn im Blick, sondernwidmet sich ausländischen Asylbewerbern – „Fremde“, wie sie in bestimmtenKreisen apostrophiert werden -, und der Eindruck einer Laboruntersuchung wirdnoch dadurch verstärkt, dass der Politprovokateur die „exotischen Versuchsobjekte“mit hohen Holzwänden umgeben lässt.Zu seinem Wiener Happening lud Schlingensief lud eine Reihe von Prominentenund Politikern ein, von denen er sich Unterstützung seines Anliegens und eineFortführung der öffentlichen Diskussion versprach. Einer der Eingeladenen, derfranzösische Schauspieler Michel Piccoli, konnte der Einladung jedoch nicht Folgeleisten, hätte aber das schlingensiefsche Projekt mit Sicherheit gefördert, stammtvon ihm doch die geistesverwandte Sentenz: „Provokation ist ein Prinzip der97


Lebendigkeit.“ 19 Aber auch der gleichfalls eingeladene Kärntner LandeshauptmannJörg Haider, der gebeten worden war, sich den Fragen der Asylanten zu stellen,erschien nicht. Der Besuch von Prominenten im „Big Brother“- Originalformat - soetwa der des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle – diente dort nicht selten derreinen Publicity und ohne jeglichen politisch relevanten Kontext. Ganz anders inWien, wo die politisch-aufklärerischen Redeauftritte eines Daniel Cohn-Bendit odereines Gregor Gysi vom Dach der Container aus in ganz anderer Weise fürbeträchtliches Aufsehen sorgten.Auch der von RTL inszenierte Einzug einer Verona Feldbusch samt ihrer privatenDixi-Toilette in den „Big Brother“-Container, der seinen Höhepunkt in derVersteigerung dieser benutzten Toilette fand, erfährt eine Entsprechung in Wien,wo es die bedeutende österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek, geboren1946, ist, die den Asylanten-Container aufsucht, um dort Deutschunterricht zuerteilen und mit den Asylanten ein Kasperle-Theaterstück einstudiert, dass diebeklemmende Situation eines Asylsuchenden in Österreich <strong>zum</strong> Thema hat.Während die „Wertsteigerung“ des Originals der „Big Brother“-Show also mit demFeldbuschschen „Allerwertesten“ zu tun hat, setzt Schlingensief statt dessen aufeine Schriftsteller-Persönlichkeit, deren Werk sich unter anderem mit derFremdbestimmung des Einzelnen im Medienzeitalter auseinander setzt (Hoffmann,1999) und sich auch offen gegen Jörg Haider ausspricht.Die Bedenken auch vieler Politiker bezüglich Würde des Menschen in einemtelevisionären Raum à la „Big Brother“ teilt Schlingensief. Er bezieht jedoch imGegensatz dazu seine Bedenken auf den „Raum“ der Wirklichkeit, in dem allzuhäufig unwürdige und unmenschliche Bedingungen herrschen. Er konfrontiert dievirtuelle Welt mit den Eliminierungsmechanismen der Realität, einerEllenbogengesellschaft, die sich einen Überwachungsstaat <strong>zum</strong> Exekutieren ihrerAbschiebepolitik leistet. Zugleich verkehrt er die Richtung dieser Konfrontation insGegenteil, wenn er der erfahrbaren Wirklichkeit die virtuelle Realität gegenüberstellt,die nicht weniger durch die Merkmale der Überwachung, des19 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , am 01.05.0398


Voyeurismus und des „Herauswählens“ charakterisiert ist, wobei die Elimination jenach Sympathie und Antipathie der Rezipienten willkürlich vonstatten geht. Dabeibevorzugt Schlingensief die Stilmittel der Übertreibung und Überinszenierung, umhinter der Fassade einer konstruierten irrealen Welt die reale Welt sichtbar <strong>zum</strong>achen und sie einer kritischen Beobachtung zu unterziehen.4.2.2 Muster der „Fluxus“ - BewegungWie die Analyse des „Big Brother“-Projekts zeigen konnte, ist auch dieschlingensiefsche Containershow eine Inszenierung Realitätsanspruch; doch imUnterschied <strong>zum</strong> Originalformat verkörpert das Happening „Ausländer Raus“ eineRealität, die auch außerhalb der medialen Welt und unabhängig vonInszenierungen existiert. Während „Big Brother“ auf RTL die Zukunft derKandidatinnen und Kandidaten in privater wie in beruflicher Hinsicht nichtunwesentlich beeinflusst, nahm das Projekt „Ausländer Raus“ viel spürbarerEinfluss auf die Rezipienten, also auf Politik, Öffentlichkeit und selbst die Medien.So begann die der FPÖ nahe stehende Wiener „Kronenzeitung“, alsSchuldzuweisung empfundene Attacken Schlingensiefs zurückzuweisen, und inder österreichischen Bevölkerung kam es zu einer deutlichen Belebung derinnerpolitischen Diskussion. Insofern war die Wiener Containershow nicht nur einmediales Happening, sondern viel eher noch eine „Reality-Installation“.Schlingensief, der sich offenkundig –wie oben schon erwähnt (siehe Kapitel 1.2)gerne Beuysscher Stilmittel bedient, steht wie dieser in der Tradition derKunstrichtung des „Fluxus.“ Diese Künstlerbewegung, die in den späten 50erJahren ihren Anfang nahm, begreift die Wirklichkeit als einen aktivenWandlungsprozess. Als – auch als neodadaistisch bezeichnete – Kunstformdefiniert sich die „Fluxus“-Bewegung fast ausschließlich über Event- undVeranstaltungskunst. Sie ist dem „Happening“ und der „Performance-Kunst“verschwistert, wobei sie auf eine gewisse Dichotomie von Publikum und Künstlerwert legt.99


„Fluxus“ favorisiert das Gesamtkunstwerk, in dem Musik, Literatur, Objektkunstund Installation, Tanz und Pantomime, schließlich auch Videokunst zusammenfließen.So vermag eine Vielzahl von Künstlern zusammenzuwirken, alle Sinneanzusprechen und gegebenenfalls die Wirkung auf die Rezipienten zu verstärken.Diese - <strong>zum</strong>eist auch experimentelle - Aktionskunst, zu deren Vertretern unteranderen auch John Cage, George Maciunas und Yoko Ono zählen, ist nichteindeutig definierbar. Sie will bewusst unkonventionell bleiben und sich voll undganz der freien, lebensbejahenden menschlichen Kreativität hingeben. Somit ist„Fluxus“ auch eine Theaterkunst, die mit spontaner schauspielerischer Improvisationarbeitet (Becker, 1966).Schlingensief setzt ebenfalls auf einen aktiven Wandlungsprozess der Zuschauer,wobei er bei seinem „Containerhappening“ dieses ganz bewusst mit einbezieht. Erplatziert sein Event inmitten von Passanten und Touristen und macht sie 7 Tagelang zu seinem Publikum, ganz nach dem Motto Bert Brechts: „Das Theater darfnicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikumsbefriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag.“ 20 SpontanePublikumsreaktionen waren dabei gewollt, vorhersehbar und einkalkuliert undhielten das Geschehen im Fluss, sodass ganz im Sinne des „Fluxus“-Konzepts –gerade bei diesem schlingensiefschen Projekt – von einer offenen Inszenierunggesprochen werden kann.4.2.3 Reaktionen und ResümeeSchon bei den Kandidatinnen und Kandidaten der originären „Big Brother“-Showwaren das Bedürfnis nach Anerkennung, der Wunsch, Aufmerksamkeit zu erregen,und die Hoffnung auf irgendeinen Erfolg – auf welchen auch immer – diewesentlichen Motive für die Beteiligung an diesem TV-Spektakel. Möglicherweisekamen, wie einige vermuten auch exhibitionistische Beweggründe hinzu. In einergewissen Entsprechung konnte man, so Claus Philipp, auch bei dem Wiener Event20 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , Mai 2003100


den „Schrei nach Liebe aus dem Asylcontainer“ im übertragenen Sinne vernehmen(Lilienthal & Philipp, 2000, S. 48).Während aber „Big Brother“ sich zugute hält, mit unverfälschtem Leben zu werben,weitet Schlingensief hingegen den Blick für das Verfälschende dieses TV Formatsund zugleich für die gefährdete Existenz der Asylanten. Dass gewisse Rezipientenauf seine Sendeformate schockiert reagieren, stößt bei Schlingensief aufUnverständnis; seine Projekte zeigten im Grunde ja nur das auf, was die Nationohnehin tagtäglich mit Vorliebe sehe und was er lediglich in Reinform präsentiert. 21Bei dem schlingensiefschen Containerprojektbilde sich eine weitere Wirklichkeitsebene ab,so Mark Siemons: „Die Versuchsanordnungbesteht aus einer dritten Wirklichkeit, bestücktmit aus dem Zusammenhang gelöstenElementen der zweiten Wirklichkeit (Medien-Themen), die auf solche Weise in die ersteWirklichkeit (die Strasse) implantiert sind, dass sie den Implanteur selbst unterZugzwang setzen – ohne dass er vorher, bevor die Situation da ist, wissen könnte,wie er reagieren wird.“ (Siemons, 2000, S.123)In der zeitgenössischen medialen Welt des boomenden „performativenRealitätsfernsehens“ scheinen indes „unangenehme“ Realitäten eher ein Störfaktorzu sein, den Schlingensief jedoch bewusst in eben diesen Kontext einbaut. Beiallem Voyeurismus, welcher in der medialen Schaulust <strong>zum</strong> Ausdruck kommt undwohl <strong>zum</strong> Wesen des Fernsehens untrennbar dazugehört – und im Besonderenbei Sendungen nach dem Muster der „Big Brother“-Show – wird das Publikum derWiener Containershow selbst beobachtet und unter die schlingensiefsche Lupegenommen. Im Rahmen der Wiener Containershow fordert Schlingensief inAnlehnung an den „Big Brother“ – Song der zweiten Staffel: „Zeig´ mir deinGesicht. Zeig´ mir, wer du wirklich bist. Bleib dir treu, verstell´ dich nicht für mich“,21 Siehe Interview mit Schlingensief Frage 8101


während der Originaltext anstelle des „dir“ ein „mir“ enthält (Lilienthal & Philipp,2000, S.9).Die Reaktionen der diversen Schaulustigen, direkt vor dem Wiener Container fielenganz unterschiedlich aus. Dass das „Ausländer Raus - Projekt“ von einigen alsFPÖ-Veranstaltung gehalten wurde, entsprach ganz den Absichten Schlingensiefsund lockte gar FPÖ-Sympathisanten an. So erschien beispielsweise ein in eineösterreichische Uniform gekleideter älterer Mann, um – durch den Projekt-Slogananimiert – nun seinerseits seine rechtsradikalen und menschenverachtendenParolen beizusteuern (Siehe Abbildung S.104). Andererseits meldeten sich vieleÖsterreicher verärgert zu Wort, die Schlingensief klar machen wollten, dass inÖsterreich bislang noch keine Asylantenheime gebrannt hätten und es daherangemessener sei sich in Deutschland umzusehen. Wieder andere schlossen sicheiner Demonstration an und erklommen dabei die Container, um so dann dasTransparent „Ausländer raus“ gewaltsam runterzureisen. Nicht nur dieseÖsterreicher hatten Probleme damit genau unterscheiden zu können, was mitdiesem Happening wirklich beabsichtigt war: was war ernst gemeint, was warbloße Inszenierung, wessen Überzeugungen wurde vertreten und stand eineAbschiebung denn wirklich bevor? Angeblich habe sogar ein FPÖ PolitikerSchlingensief hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dessen Engagement gehevielleicht nun doch ein wenig zu weit, in der fälschlichen Meinung, einenParteigenossen vor sich zu haben. Eine Österreicherin wurde gar handgreiflichweil auch sie das Polit-Spektakel für eine offizielle FPÖ-Veranstaltung hielt undbefürchtete es könne tatsächlich zu ungerechtfertigten Abschiebungen kommen.Auch sie wollte damit demonstrieren, dass es in Österreich nicht nur Bürgerinnenund Bürger mit einer rechtskonservativen Gesinnung gebe (Lilienthal/Philipp,2000).Der dialektisch-paradoxe Ansatz einer möglichen Reinigung durch Beschmutzungbzw. Selbstbeschmutzung und der Entlarvung bzw. Selbstentlarvung ist eintypisches Muster schlingensiefscher Konzeptarbeit. Eine solche Konzeption findetsich auch in Schlingensiefs Arbeit für das Theater und das Medium Fernsehen.102


Seine sozialethischen Anliegen bindet er stets in den Prozess seineskünstlerischen Schaffens ein, so dass sich sein Bemühen um verantwortbareNormen des zwischenmenschlichen Verhaltens sowohl in seinen theatralen alsauch in seinen medialen Projekten wieder findet. Dieser Anspruch überträgt erfolgerichtig – und dies ist ein weiterer Verdienst seiner Fernsehkritik – auf diegesamte Unterhaltungsbranche. Dementsprechend unter in Anerkennung diesesBemühens unterstützt und fördert die Bundeszentrale für politische Bildung nichtnur sein Sendeformat „Freakstars 3000“, sondern auch sein Theaterstück„Hamlet“, nach Gustav Gründgens gleichnamiger Fassung und wollte damitunterstreichen, dass eine von politischer und ethischer Verantwortung freie „reine“Unterhaltung eine Gefahrdung der politischen Kultur hierzulande darstelle: „DasHamlet- Projekt in Zürich und an der Volksbühne war für die Bundeszentralewichtig, um gerade ein politisch sehr weit links stehendes junges Publikum (wie esdie Volksbühne hat) durch gezielte Provokation in einen Dialog mit rechtsextremenAuffassungen (in der gleichen Altersgruppe) zu bringen und um die beiderseitigenPositionen zu überprüfen. Dies ist auch in hohem Masse gelungen.“ 22 In seinemStück „Hamlet“ besetzt Schlingensief die Rollen nicht nur mit Berufsschauspielern,sondern bezieht junge und mehr oder weniger aussteigewillige Neonazis in dasBühnengeschehen mit ein; so wurden unter dem Motto „Nazis rein, Nazis raus“,ganz bewusst rechtsextreme Jugendliche in die neutrale Schweiz und nach Berlingebracht, um sie dort gegebenenfalls durch Theaterspielen zu resozialisieren.4.2.4 „Reality-Soap“ – Zur Unterhaltung im Fernsehen„Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltende Themenpräsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert“(Postman, 1988, S. 110), schrieb Neil Postmann in seinem Buch „Wir amüsierenuns zu Tode“ von 1988 im Blick auf die heutige Unterhaltungsindustrie.Schlingensief sieht dies wohl nur bedingt als Problem an; er fühlt sich vielmehr22 Äußert sich Herr Ehmke von der „bpb“ im Nachhinein über diesen provokanten Ansatz vonChristoph Schlingensief – siehe Interview im Anhang, Frage 3.103


herausgefordert diese Faktum bei seiner Arbeit zu berücksichtigen und in seineProjekte zu integrieren. So spricht er die an die übliche Unterhaltung und die damitverbundenen Sendeformate gewöhnten Rezipienten mit eben diesen Formen derUnterhaltung an, präsentiert ihnen in diesem Rahmen aber Themen, die gängigenFernseh-Entertainment gar nicht erst vorkommen.Wo noch bei „Big Brother“ die Zuschauerattraktivität im unerwarteten Verlauf derKandidaten-Gespräche lag oder auf deren unvorhersehbaren Handlungsabläufenberuhte, wurzelt die Attraktivität der Wiener Containershow auf den spontanenÄußerungen und überraschenden Reaktionen des Publikums.Eine ähnlich lebensnahe und traumatische Zukunftsvision, wie sie Schlingensief inWien thematisiert, verarbeitet auch der amerikanische Regisseur Ron Howard inseinem Film „Ed TV“ von 1999. Der Protagonist Ed Pekurney – dargestellt vonMathew McConaughey - verkörpert den typischen „Mr. Nobody“, einen normalenDurchschnittsbürger, der sich seinen Lebensunterhalt als Angestellter in einemVideoladen erarbeitet. Als eine Produktionsfirma für eine neue wirklichkeitsnaheFernsehshow einen Kandidaten sucht, der in der Manier einer „Reality-Soap“ 24Stunden lang gefilmt werden soll, meldet sich Ed aus der Überlegung heraus, dasser ja nichts zu verlieren habe und die Wahl fällt prompt auf ihn. Schnell wird jedochdie Sendung, die von einem Tag auf den anderen zu einem enormenPublikumserfolg wird, zu seinem Alptraum, der von nun an sein Privatlebenüberschatten und schließlich <strong>zum</strong> Verlust auch seiner Partnerin führen wird. Diezunehmende Berühmtheit mit ihren finanziellen Vorteilen schlägt bald in ein sehreinengendes „Beobachtet-Werden“ um und beraubt ihn immer mehr seinerDaseinsfreude. Der Gipfel der Überwachung ist dann erreicht, als Ed die Showverlassen will, aber mit dem Hinweis auf das Kleingedruckte in seinen Verträgenan diesem Abgang gehindert wird. Der Programmdirektor des so genannten „Ed-TV“, der dann auch noch damit beginnt die restlichen Mitglieder der Familie Edsgleichfalls zu filmen, warnt ihn vor dem Verlust seiner Würde, sollte er auf seineAbsicht bestehen und seinen Vertrag.104


Zu einer noch bedenklicheren und schockierenderen Vision im Blick auf dieEntwicklung der Reality-Soap kam der Regisseur Peter Weirs bereits 1998. Mitseinem Film „Die Truman Show“ setzte er sich mit dem Realitätsfernsehen und mitdem Kampf der TV-Anstalten um Einschaltquoten - mit welchen Mittel auch immer- auseinander. Diese „Truman Show“, die mehr als realitätsnah über die TV-Bühnegeht, konzentriert sich auf eine einzige Person, Truman Burbank. Verkörpert vonJim Carrey, weiß Burbank jedoch nicht, dass er die Hauptperson in einer Serie ist,geschweige denn, dass er seit seiner Geburt durch 5000 Kameras gefilmt wird undsein ganzes Leben auf eine gigantische Inszenierung beruht. Die Stadt auf derInsel Seehaven in der er von Beginn an wohnt, und die Natur, die ihm samt ihrerWitterungsveränderungen vertraut ist, entstammen einem übergroßenFernsehstudio. Jeder Mensch, dem er in seinem 10.909 Tage alten Leben jebegegnete, ist lediglich ein Akteur in diesem Schauspiel. Christof, der Erfinderdieser 24-Stunden-Life-Reality-Show – dargestellt von Ed Harris - spricht vonTruman, wie von seinem Baby, sozusagen über eine Mediennabelschnur versorgtund dank ihrer groß und kräftig geworden. Nichts ist gestellt, sondern nurkontrolliert. Für Christof ist die von ihm konzipierte „lebenslange“ Serie das besteBeispiel eines durchschnittlichen amerikanischen Lebens, welches er – inBüroräumen hoch über Trumans „Fernsehkäfig“ residierend und Gott gleich -Quoten gerecht manipuliert. Auch wenn es sich hierbei um eine besonderspervertierte Form einer „Reality-Soap“ handelt und um den krankhaften Drangeines Senders, absolut authentisches Unterhaltungsfernsehen zu bieten, schwingtbei diesem Hollywoodfilm eine klare fernsehkritische Grundstimmung mit, die dieGrundsätze aktueller Programmentwicklung als überaus bedenklich einstuft. ImFalle von Truman Burbank ist jedoch ein „Happy End“ zu verzeichnen, da er beimNachdenken über sich und sein Dasein der Inszenierung seines Lebens auf dieSchliche kommt und es letztendlich schafft, aus dieser Inszenierung und somit ausdem Fernsehstudio auszubrechen.Die Idee, das Konzept einer „Reality-Soap“ mit einem sozialen Aspekt, einer realengesellschaftlichen Notsituation zu verbinden, hatte drei Jahre nach Schlingensiefbezeichnenderweise auch die Produktionsfirma Endemol, die eigentlichen Erfinder105


der „Reality-Soap“. Die allgemeine Arbeitslosigkeit, genau genommen dieJobmisere in den neuen Bundesländern, ist Hauptinhalt dieser Sendung, die aufMDR vierzehntätig läuft. Am Beispiel der thüringischen Kleinstadt Artern, die fürihre sehr hohe Arbeitslosigkeit bekannt ist, kann der Zuschauer ablesen, wie dieArbeitslosen mit dem täglichen Frust, mit Enttäuschungen, mit Geldmangel und mitständig enttäuschten Hoffnungen umgehen und wie sie sich mit dem Arbeitsamt,mit Bewerbungen und mit Absagen herumärgern müssen. Der „Spiegel“ weistdarauf hin, man könne angesichts von vier Millionen Arbeitslosen auch mitHoffnungslosigkeit Fernsehen machen, Jedoch handele es sich laut Endemolhierbei nicht um einen Fall von Fernseh-Zynismus, sondern das „Arbeitslosen TV-Projekt“ solle einem Nutzen dienen und keine „schmierige Gefühlspatina“ besitzen.Dabei solle es ernst und anspruchsvoll zu gehen und mehr einer „Doku“ als einer„Soap“ entsprechen. Zu dieser neuen „Reality-Soap“, mit dem Namen „Artern -Stadt der Träume“ findet Endemol folgende Worte: „die Kameras […] sollen diegebeutelten Bewohner nicht bloßstellen oder gar ausbeuten. Nein, sie sollen ihnenhelfen“ (Der Spiegel Nr. 43, 21.10.02).Schlingensief jedenfalls hat mit seiner Aktion „AusländerRaus!“ sicherlich der Asylpolitik positive Impulse gegeben und<strong>zum</strong>indest vor Ort betroffenen Menschen konkrete Hilfe geleistet.Darüber hinaus hat er es verstanden mit diesemHappening in Österreich auch die Diskussion über dieproblematischen Seiten der Regierungskoalition neu zubeleben. In meinen Augen kann kein Zweifel daran bestehen,dass diese schlingensiefsche Aktion die bislang erfolgreichste war, ein sehr großesöffentliches Aufsehen hervorrief und sehr viele Menschen erreichte.106


V. Zusammenfassung und Schluss-BetrachtungSchlingensief, dessen Talkshow, seine öffentlichen Happenings und natürlich auchseine Containershow psychologischen Gruppentherapien zur Selbst- wie auch zurGemeinschaftserfahrung im größeren Stil ähneln, spricht davon, dass es in unsererGesellschaft heutzutage wahnsinnig schwierig ist authentisch zu sein, vor allem imMedium Fernsehen (vgl. Edda Baumann, ARTE, 2002).Für Schlingensief spiegelt sich die lebensweltliche Realität, mit der sich auch er inseinen Fernsehbezogenen Projekten immer wieder auseinandersetzt, nicht in dermedialen Welt des „Reality-TV“, geschweige denn wird sie ihr gerecht, obwohl diesdas Anliegen vieler Programmchefs zu sein scheint. Es existiert ein Drang derZuschauer nach Wirklichkeit, der das Fernsehen beherrscht, wobei diese sich aber<strong>zum</strong>eist doch nur mit der bloßen Inszenierung der Wirklichkeit begnügen.Schlingensiefs Inszenierungen funktionieren als ein offenes, selbst regulierendesSystem, in dem er sich beispielsweise als Talkmaster selbst hineinbegibt, umeinen Großteil der Inszenierung von außen kommen zu lassen. SeineSelbstinszenierung und die eventuelle Selbstdarstellung der Prominenten in seinenShows, werden von ihm selbst oder von seinen Schauspielern und Anhängernbehindert, von Zeit zu Zeit bewusst gestört oder ins Leere laufen gelassen. Es gehtsehr oft um eine ständige Beschmutzung und gewollte Veränderung dervorherrschenden Persönlichkeitsstrukturen spezifischer Personen, der Öffentlichkeitallgemein und verschiedener Institutionen. Alles muss in Bewegung bleiben,man darf sich nicht auf jedweder Lorbeeren ausruhen und einem eventuellenNarzissmus, von wem auch immer, wird strickt entgegen gearbeitet.Andererseits erkennt Schlingensief die Fernsehwelt als eigene Realität an, die er inseinen Prozess der Verbindung von Leben und Kunst bzw. Theater mit einbezieht.So steht Paul Virilios Gedanke vom Verschwinden des Wirklichen im Strudel dervirtuellen Realitäten (1993) paradoxerweise gegen das Vorhaben desperformativen Realitätsfernsehens, wobei Schlingensief in seinem „Reality-TV“107


eher von bestimmten, bedenklichen Realitäten ausgeht, die einer extravagantkünstlerischenwie auch provokativeren Darstellung benötigen. Diese versucht ermit den gleichen Mitteln des Fernsehens, doch mit einem sozial ambitioniertenCharakter, umzusetzen. Er versteht das Fernsehen eben nicht nur als Produzentreiner Unterhaltung und auch nicht die dort gezeigte Realität als angenehm undakzeptierbar, sondern er sieht darin ein Instrument, Realität zu offenbaren und zubenennen, um sie dann anzuprangern, zu verneinen und sie am liebsten zuverändern.Somit wird Fernsehen bei Schlingensief manchmal zu einem Gemeindehaus, indem er seiner sündigen oder auch unwissenden Fernsehgemeinde eine lautstarkePredigt hält. Die Presse betitelte ihn einmal als „Kinskiverschnitt mit Jesus –Programm“ (Süddeutsche Zeitung, 15.3.2002), ganz christlich, prophetisch undebenso expressiv-kämpferisch. Im Zeitalter der „säkularen Beichte“ in Talkshows(Moritz, 1997) ist Schlingensief derjenige, der sie <strong>zum</strong>indest abnimmt. Er ist der„Rosenkranz“, den wir beten sollen, wobei er sich z. B. in seiner Sendung U3000selbst erniedrigt und „mea culpa“ schreit.Schlingensief nutzt den Erfolg von anderen bzw. beobachtet sehr gut welcheFernsehformate zu welcher Zeit populär sind. In der Zeit des Talkshowboomsbringt er „Talk 2000“ ins Fernsehen, nach „Big Brother“ veranstaltet er „Ausländerraus“, passend zu „Wer wird Millionär“ schreibt er das Theaterstück „Ouiz 3000 –Du bist die Katastrophe“ und nach „Popstars“ läuft „Freakstars 3000“ über denBildschirm. Ohne diese Masche wäre er nicht so erfolgreich und ohne den immeröfter eingeschlagenen Weg über das Fernsehen nicht so bekannt.Da Schlingensief die Gesellschaft und ihre Politik kritisiert, kritisiert er auch denMenschen als potenziellen Nutzer und somit auch sich selbst. Diese Kritikbeinhaltet zwangsläufig auch das televisionäre Medium, wobei es Schlingensiefeben nicht um das Medium selbst und seinen Möglichkeiten geht, dessen Mittelner sich in vielerlei Hinsicht arriviert bedient, sondern um die Kultur- und108


Sozialpolitik in unserer für ihn zu unkritischen Gesellschaft, in der sich derGedanke des Wohlfahrtstaats und der Sozialfürsorge aufzulösen scheint.Roger Willemsen äußert sich dementsprechend über Politik im Fernsehen wiefolgt: „Der Privatsender weiß, je höher die Quote ist, umso höher ist dieWerbeeinnahme. Also hab ich ein Motiv, Politik so aufzubereiten, dass die Quotemöglichst hoch ist. Deshalb erreicht das Politische in einer politischen Sendungzwangsläufig seine Grenzen in dem Augenblick, in dem sie die Verkäuflichkeitnachweisen muss“ (Heinz, 2002, „30 Jahre Talkshow“).Schlingensief, der zwar seine Sendungen ohne kommerziellen Hintergedankenproduziert und sich durch seine Konzeption nicht um die Einschaltquoten kümmernmuss, macht politische Sendungen im Rahmen typischer quotenträchtigerUnterhaltungssendungen, in dem er eben diese Grenzen, von denen Willemsenspricht, bewusst überschreitet. Er erkennt den Trend, dass Politik in einempolitischen Talk bzw. im Fernsehen heutzutage generell so zubereitet werdenmuss, dass sie unterhaltungswert besitzt, und verwendet die dazu notwendigenMittel und schon vorhandenen Oberflächen, um Menschen zu erreichen, die sichansonsten nicht mit politischen Themen auseinandersetzen. Hierbei sind auch dieKanäle über die die schlingensiefschen Projekte laufen von Bedeutung, wie es dieBundeszentrale für politischen Bildung am Beispiel von Freakstars 3000, welchessie unterstützte, deutlich macht: „Bei dem Projekt Freakstars war esselbstverständlich wichtig, dass die Sendungen über VIVA ausgestrahlt wurden, daes für die „bpb“ um die Erreichung dieses Publikums mit Mitteln der politischenBildung ging“. 23Schlingensief sieht sich jedoch selbst nicht als Politiker, sondern eher als Mensch.Er fühlt sich auch nicht als Provokateur, sondern als eine Person, die über dieGesellschaft, in der sie lebt, reflektiert, und somit sind seine Arbeiten Reflexe undgeschehen aus sozialem Anlass.23 Herr Ehmke von der „bpb“ im Interview vom 28.5.03 siehe Anhang109


So wie eine „Illona Christen“ oder ein „Hans Meiser“ einfache, unprominente undSchicksalsgebeutelte Studiogäste mit ihren zielgerichteten, zugespitzten Fragendazu bringen, sich und ihr soziales Umfeld peinlich und beschämend darzulegen,um eben meistens doch nur eine entblößt- blamable Figur abzugeben, willSchlingensief dieses Konzept mit prominenten Leuten durchspielen, um diese zudemaskieren und bloßzustellen. Diese sind aber auch Identifikationsfiguren und inder Gesellschaft anerkannt und als solche will er sie auch desavouieren. BettinaFromm stellt die Frage, „ob dem Fernsehen als einer überpersönlichen Strukturmehr Vertrauen entgegengebracht werde als realen Bezugspersonen?“, (1999,S.13) und so verwendet Schlingensief das Medium Fernsehen nicht um desErfolges seiner Selbst Willen, sondern paradoxerweise, um der wahren Realitätmehr Glaubwürdigkeit, Ernsthaftigkeit und Deutlichkeit zu verleihen, aber auchzeitgleich dieses fast blinde Vertrauen der Fernsehnutzer in das Medium selbst zukritisieren.Schlingensief ist Voyeur, Kritiker und Sadist, aber auch Exhibitionist, Samariter undMasochist, gleich ob als Medienakteur, einfacher Rezipient oder als er Selbst. Alleseine Aktionen basieren auf einem von ihm vernommenen Notruf einer sozialenund politischen, realen Disharmonie, die sich für ihn auch in den Medienwiderspiegelt, entweder durch eine simulierte Harmonie in einer virtuellen Realitätoder durch einfaches Verschweigen verdrängter Probleme in einem Wust vonQuotenbedachten Shows und möglichst simpler Unterhaltung. Also geht es ihm umdie Verantwortung der Medien nicht um ihre Abschaffung. Er macht sich <strong>zum</strong>Notarzt, der mit seinem Operationsbesteck der Provokation eventuelleAmputationen in der Fernsehwelt vornehmen muss, um die erhoffte, aberunwahrscheinliche Heilung doch noch zu ermöglichen.Christoph Schlingensief reagiert auf den immer mehr aufkommenden Hedonismusin unserer Gesellschaft in einer Zeit, da Geld und Freizeit nur noch für das eigeneVergnügen ausgegeben und verwendet werden. Das Leben wird nur noch nachdem eigenen Lustprinzip ausgerichtet, gleichzeitig verbunden mit der Angst vorArbeitslosigkeit und sozialer Ächtung. Man kümmert sich im Gegensatz zu den110


vorigen Jahrzehnten, in denen die Berufschancen und die finanziellen Mittel desStaates besser waren und der Gemeinschaftssinn in der Gesellschaft noch eherexistierte, nur noch um sich und seine Zukunft. Schlingensief, der in den 70 Jahrenaufgewachsen ist, ruft in der heutigen Vergnügungs- bzw. Spaßgesellschaft <strong>zum</strong>sozialen Denken und Handeln auf. Er bedient sich durchaus der gängigen Mitteldes Humors, der Übertreibung und einer unterhaltenden Fernsehinszenierung,aber immer mit einem bitter ernsten Hintergrund.Sein Ausruf „Tötet Helmut Kohl“ auf der Dokumenta X, der in vielen anderenInszenierungen und Happenings auch auf andere Politiker übertragen wurde, istals Kunstform anzusehen, die Schlingensief von einer Bühne herunterschreit undsomit immer im Kontext zu verstehen ist, in einem entsprechenden Rahmen, indem er auch ganze Institutionen und gesellschaftlichen Entwicklungen kritisiert.Schlingensiefs Fernsehen ist keines, das man als „Nebenher- Medium“ nutzenkönnte, dafür ist er zu provokativ, zu alternativ und die jeweiligen Abläufe sind fürdie Zuschauer zu unvorhersehbar, abgesehen davon, dass er zusätzlich auchoftmals den Rezipienten direkt anspricht und mit einbeziehen will, dass in solcherArt und Weise bei anderen entsprechenden Formaten nicht unbedingt vorkommt.Schlingensief macht Kunst im Fernsehen, er überträgt Kunst auf Menschen, die erim Fernsehen darstellt, er gebraucht sie frei nach seinen Vorstellungen. Somitfunktionalisiert er auch Menschen für die Zwecke des Mediums, wie es auch inherkömmlichen Formaten der Fall ist, ob in einer Talkshow oder bei einer „Reality-Soap“, wobei er aber genauso das Medium für die Zwecke des Menschen und derMenschlichkeit funktionalisiert. Schlingensief weiß sehr wohl, dass seine kritischenProvokationen immer im Name der Kunst realisiert werden, also auch unter ihremsicheren Schutzmantel. Talkshows werden bei Schlingensief zu einem virtuellenHappening, wie auch das televisionäre „Big Brother“ zu einem lebensweltlichen,realen, 7 Tage andauernden Kunst- Event wird, ganz nach der Devise von JosephBeuys, Ideen bewegten sich nur durch Menschen fort, während sie in Kunstwerkennur erstarrten und am Ende zurückblieben (Diwo, 1993).111


Schlingensiefs Fernsehen ist „virtuelle Sozialarbeit“, quasi christlicheGruppenstunde und Ensemblespiel, entsprechend der heutigen ästhetischenDarstellungsmuster des Entertainment-TV.Grimm spricht von einer Orientierungshilfe, die das Fernsehen den Nutzernanbietet. Demgegenüber sprechen Medienmacher von Realitätserfahrungen, diedie Talkshows und auch „Big Brother“ liefern, was die Rezipienten schließlich ansolche Formate binden sollen. Für Schlingensief gehen eine solche Orientierungbzw. ein solcher Realitätsbegriff in die falsche Richtung. Nach seiner Auffassungwerden die Zuschauer nicht richtig sensibilisiert für das, auf was es im Lebenankommen sollte. Der amerikanische Sprachwissenschaftler Avram NoamChomsky äußert sich folgendermaßen: „Die Massenmedien im eigentlichen Sinne,haben im wesentlichen die Funktion, die Leute vom Wichtigsten fernzuhalten“ 24 .Nach Theodor Wiesengrund Adorno, dem bedeutenden Philosophen undSoziologen der Frankfurter Schule, habe das Publikum ein Recht darauf nichtangeschmiert zu werden, auch wenn es darauf bestehe angeschmiert zu werden 25 .Dieses Bonmot könnte auf die Arbeit von Schlingensief gemünzt sein undcharakterisiert zudem das heutige Konsum- und Medienzeitalter auf nahezuunnachahmliche Weise.Die Medienpädagogik fordert kritische und kompetente Mediennutzung, die Medienselbst sprechen von ihrer objektiven und kritischen Auseinandersetzung mit derRealität und dem Nutzer verspricht man, dem politisch-öffentlichen Auftrag gerechtzu werden und zur allgemeinen Aufklärung und Erziehung durchBildungsförderndes Fernsehen beizutragen. Schlingensief erscheint hier als „Mannmit der Moralkelle“, wie Ihn der Journalist Peter Kümmel („Die Zeit“, 21.3 2002)einmal nannte. Er fordert ebenfalls von jedem eine kritische Betrachtung derMedien, aber vor allem auch der zwischenmenschlichen, politischen undkulturellen Realität, die tendenziell nur noch über die Medien vermittelt werde.Letztlich will er mit seinen Beiträgen eine allgemein kritische, gegebenenfalls sogar24 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , 20.05. 200325 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de, 18.05.2003112


philanthropische Objektivität der Mediennutzer fördern. Die Medienethik sprichtvon einer Verantwortung im Medienprozess dem Individuum und dem Kollektivgegenüber und sieht die Medien als eine gesellschaftliche Institution an.Schlingensief erkennt diese große Verantwortung an und wählt die öffentlichenMöglichkeiten des Theaters, der Kunst und des Happenings und das populärstedavon - das Fernsehen – lässt ihn am ehesten den ihm anerzogenenGerechtigkeitswahn ausleben. 26 Er benutzt die Medienrealität eben nicht nur umdie lebensweltliche Realität abzubilden, sondern sie durch seine typischen Mittelder Übertreibung, der Widersprüchlichkeit, der Handgreiflichkeit, der degoutantenÄsthetik und dem stets beabsichtigten Irritationsspiel mit den Zuschauern zukritisieren, um so Denkprozesse in Gang zu setzen. Dabei bevorzugt er es ganzoffensichtlich, die Zuschauer spielerisch zu irritieren, wobei diese nie genauwissen, was nun echt, gespielt oder inszeniert ist. Man könnte also sagen, dass ersich der TV-typischen Instrumente nur bedient und die ErfolgsversprechendenWirkungen des Fernsehens ausnutzt, um damit und dadurch gesellschafts- undkulturkritische Politik zu machen. Politik ist immer auch der Versuch, dieKomplexität der Wirklichkeit zu durchschauen und diese Realität im Rahmen desMöglichen erträglicher zu gestalten, wobei es beim „sozialen schlingensiefschenPolitainment“, durchaus auch um einen „Rahmen des Unmöglichen“ in dem Sinne,wie dies der deutsch-schweizerische Schriftsteller Hermann Hesse formulierte:„Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“ 27Schlingensief vergleicht seine Fernseharbeit gerne mit der Arbeit seines Vaters,der als Apotheker seinen Kunden die Rezepturen stets in dem Bewusstseinaushändigte, dass bekanntlich „die Dosis das Gift“ macht, d.h. dass die in denMedikamenten enthaltenen giftigen Substanzen sich in niedriger Dosierung alsheilsam erweisen. So „vergiftet“ Schlingensief die Rezipienten ein wenig, damit sieeine endgültige Heilung erfahren. 2826 vgl. Interview von Thomas Neuhauser mit Christoph Schlingensief von ARTE- TV im April 2002auf der Homepage www.arte-tv.com, 10.06.0327 Entnommen der Internetseite www.aphorismen.de , 20.05 200328 vgl. Interview von Thomas Neuhauser mit Christoph Schlingensief von ARTE- TV im April 2002auf der Homepage www.arte-tv.com, 10.06.03113


In diesem Sinne vergleicht Peter Kümmel Schlingensief mit einem wohltätigen Gift,mit einer Person, die von einem „menschenfreundliches gerechten Anthrax“träumt, um es den Menschen zu verabreichen, damit diese zu Gutmenschenwerden („Die Zeit“, 21.3 2002).Diese Provokation ist oft eine Selbstprovokation, eine Selbstvergiftung unddadurch eine Selbstheilung. Er vergiftet das Fernsehen mit sich und seinen eigenshervorgebrachten Formaten, damit die Medienmacher unter dieserProvokationsdroge, umzudenken beginnen und ein soziales und sinnvollesProgramm machen.Wenn Schlingensief Aufmerksamkeit und Aufsehen erregen will, damit jemandseine Botschaften weitertransportiert und er gesellschaftlich anerkannt bzw.überhaupt registriert wird, muss er in der heutigen Bilderflut und der überhandnehmenden medialen Polarisierung 29 , eine besondere Ästhetik für seine Formateentwickeln und eine bestimmte Radikalität in der Darstellungsweise seines„Minderheitenfernsehens“ an den „virtuellen Tag“ legen. Auch wenn Schlingensiefim Prozess der allgemeinen Individualisierung, eher Individuen und weniger dieMassen anspricht, wählt er dennoch Themen, die von öffentlichem allgemeinemInteresse sind.„…Wozu also dann weiter grauenhafte Geschichten? Weil wir vor dem Grauen derRealität die Augen schließen, um sie überhaupt auszuhalten. Verdrängung heißtdie Erbsünde Nummer eins, im gesellschaftlichen wie im individuellen Bereich –gegen sie sind wir alle ziemlich machtlos. Vielleicht haben wir die Kunst erfunden,um wenigstens eine kleine Waffe gegen sie zu haben“, (Georg Seeßlen, 1998, S.75) äußert sich der deutsche Filmregisseur Michael Haneke über Kunst undRealität. Ich denke, mit dieser Bemerkung lässt sich die Idee von ChristophSchlingensiefs Werk einmal mehr erklären und auf den Punkt bringen.Schlingensief geht es um ein Ankämpfen gegen die allgemeine Verdrängung von29 Die Polarisierung in unserem Fernsehzeitalter manifestiert sich beispielsweise in den bis zuvierzig Fernsehkanälen und dem fast pathologischen Fernsehverhaltens des „Zappens“ derRezipienten.114


Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten und kollektivem Vergessen politischer,gesellschaftlicher, zwischenmenschlicher und kultureller Missstände in unseremAlltag, die sich seiner Meinung nach eben auch im Fernsehen sträflichwiderspiegelt.Bettina Fromm teilte die TV-Auftritte von Talkshowgästen in verschiedenekollektive Sinnmuster ein (siehe Teil III, 2.2.4), wobei Schlingensief mit untermehreren dieser angesprochenen Typengruppen entspricht – wie Patient, Rächer,Ideologe, Propagandist, Anwalt, Verehrer und Fernsehstar.Joseph Beuys ging es um die Erweiterung des tradierten Kunstbegriffs bis hin zueiner „anthropologischen Kunst“, einer Kunstauffassung, in der der Mensch MittelundAusgangspunkt ist. Schlingensief, der diese Auffassung teilt, führt diesesKonzept fort und wagt den Schritt hin zu einem „anthropologischen Fernsehen“. Ermacht Kunst im Fernsehen und humanes Fernsehen mit Menschen für Menschen.Das zeitgenössische Fernsehen besitzt nicht mehr wie früher den Charakter einesVollprogramms für die ganze Familie, sondern pflegt mit seinen Spartenkanälen,ein der Tendenz der Individualisierung des Fernsehverhaltens angepasstesZielgruppenprogramm. Schlingensief ist sich auch dessen bewusst und versuchtunter anderem im Rahmen verschiedener Zielgruppenprogramme wie MTV oderVIVA ein sozial-ambitioniertes Vollprogramm zu bringen. Er macht seineSendungen genau da, wo sie deplaziert erscheinen, um diejenigen ansprechen zukönnen, die sich diesen Themen normalerweise nicht widmen würden. „DasProjekt Freakstars 3000 bot die Möglichkeit, über ein von der Bundeszentraleselbst gestaltetes Laufband, Informationen über das Leben geistig behinderterMenschen an das junge - <strong>zum</strong> Themenkreis eher nicht besondersaufgeschlossene - VIVA -Publikum heranzutragen“ 30 , macht Herr Ehmke von der„bpb“ nochmals deutlich.Früher existierte die so genannte „Fernsehgemeinde“ noch, ein großeseinheitliches Fernsehpublikum. Alle sahen das gleiche, und man konnte davon30 Siehe Anhang Interview mit Herrn Ehmke, Frage 3115


ausgehen, dass man alle erreichte, wenn man etwas über das Medium Fernsehendarbot, <strong>zum</strong>indest diejenigen, die ein Fernsehgerät besaßen. Heute spricht mannicht mehr von einem großen Zielgruppenpublikum, sondern von vielen kleinenZielgruppen mit ganz individuellen Ausprägungen.Allgemeingültige Gesprächsthemen gibt es wohl kaum noch. Fernsehen ist längstnicht mehr ein Medium des Gemeinschaftserlebnisses, sondern vielmehr einMedium der Vereinzelung geworden (Trimborn, 1999).Somit liegt hier auch ein Problem oder vielmehr eine eventuelle Diskrepanzzwischen dem angesprochenen, gewollten Publikum und dem tatsächlicherreichten vor. Es ist mittlerweile fast undenkbar, eine Botschaft, die für dieAllgemeinheit oder für eine bestimmte „Gesellschaftsgruppe“ gedacht ist, mit demso beabsichtigten Effekt medial erfolgreich zu platzieren.Was in Wien erfolgreich funktionierte - nämlich mit einem medial inspirierten,öffentlichen Happening die Politiker, die Touristen, die Presse wie auch dienormalen Wiener und österreichischen Wähler anzusprechen und <strong>zum</strong> regenGedanken- bzw. lautstarken Wortaustausch zu veranlassen -, gelang sinngemäßbei „Talk 2000“ nur bedingt. 31 Da die bei jeder Sendung direkt angesprochenenArbeitslosen eher weniger der Rezipientengruppe dieser Sendung zu zuordnenwaren und diese Talkshow von der Öffentlichkeit ohnehin nur begrenztwahrgenommen wurde, blieb ihr von vornherein die öffentliche Resonanz versagt,die hingegen dem Wiener Happening auf einem belebten hauptstädtischen Platzmit seinen täglichen Presseberichten beschieden war. Vielmehr handelte es sichbei den Rezipienten der Talkshow um eine nur kleine Gruppe, die sich mit jenereher elitär anmutenden Talkshow wirklich auseinander setzte; wenn die Showdann doch noch aufgrund ihrer unkonventionellen und Energiegeladenen Machartvon der Presse aufgegriffen wurde, dann aber lediglich im Feuilleton- Teil einigerweniger Zeitungen.31Hier gelang es Schlingensief, sozusagen Täter und Opfer, Betroffene und nicht so Betroffene indas österreichische, aber auch europäische Bewusstsein des politischen undzwischenmenschlichen Seins zu bringen.116


Der Leitsatz vieler Medienmacher lautet schlicht „KISS“ (keep it simple and stupid).Das ist nicht schlingensiefs Devise, sondern fordert ganz im Gegenteil seine Kritikam Fernsehen geradezu heraus (vgl. Schäfer, André, 2002, „Quizboom“).Schlingensief macht aus der mittlerweile gängigen Intimität im Fernsehen und demallseits Privaten im „Daily Talk“ etwas Politisches.Es gibt verschiedene Gründe, die Künstler dazu veranlassen, ins Fernsehen zugehen bzw. sich diesem Medium zu zuwenden. Es sind dies entweder politischeund gesellschaftskritische Interessen oder das Bedürfnis nach Expression undSelbstdarstellung oder aber das Ziel die Kunst den Möglichkeiten dertechnologisch-medialen Entwicklung zu öffnen. Wenn man über Schlingensief alsKünstler spricht, scheinen alle drei Faktoren eine Rolle zu spielen, wobei diesozialen und gesellschaftskritischen Hintergründe eindeutig dominieren. DieTechnologie wurde schon immer als Chance zur Verbreitung von Wissen und zurVerbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse angesehen; auf diesemHintergrund interpretiert Schlingensief solche Ziele neu und will dieses ideellePotential voll ausschöpfen.Er will den Rezipienten dazu bewegen, über seine Rolle als Konsument und übersein Wesen als Mensch nachzudenken und auf das, was ihm alltäglich imFernsehen präsentiert wird, kritisch zu reagieren. Um dieses Zieles Willen mussSchlingensief im Zeitalter der totalen medialen Reizüberflutung in dem viele sichvielem unkritisch ausliefern und vielem abgebrüht und abgestumpftgegenüberstehen, radikal und querdenkerisch sein; er muss die Grenzen sowohldes Mediums als auch seiner Rezipienten neu ausloten und Tabus brechen. Dabeibedient sich Schlingensief nicht nur des verbalen, sondern auch des nonverbalenund paraverbalen Kommunikationsstils.Der Dramatiker Heiner Müller schreibt: „Das menschliche Bedürfnis nach Wertenist universell. Ohne Werte gibt es nur blinde Gewalt, reduziert sich Welt undGeschichte auf blinde Aktion und Kapitalbewegung. Mittlerweile ist Geld dereinzige Wert, auf den hin Orientierung realistisch oder sogar möglich ist. Der117


Ideenhimmel ist verbraucht. Es gibt nur noch Märkte, und dadurch entsteht eineungeheure Leere[…]Die Frage ist, ob der Mensch das aushält“ (Schlingensief,2000, „Chance 2000“, S.90). Heiner Müllers Warnung <strong>zum</strong> werteethischen Diskurskönnte auch die Bedenken meinen, die Christoph Schlingensief im Hinblick auf denaktuellen medienethischen Diskurs formuliert hat.Einem Hinweis Claudia Wegeners zufolge, sind es Personalisierung undSubjektivierung, die bei medialen Ereignissen Betroffenheit auszulösen vermögenund bei den Rezipienten für eine längerfristige Wahrnehmung sorgen (Wegener,1994). In diesem Sinne bringt Schlingensief Behinderte, Arbeitslose und Ausländerins Fernsehen und lässt sie dort zu Wort kommen, sofern er nicht selbst - wozu ergerne neigt – an ihrer Stelle das Wort ergreift. Zudem macht er sich den Umstandzu nutze, das das was das Fernsehen zeigt, automatisch zu einem öffentlichenThema wird und dadurch einen Bedeutungszuwachs erfährt.Spielcharakter, Konkurrenzkämpfe, Identifikationsmöglichkeit und Pseudorealitätenaller Arten und aller Orten, im Fernsehen unterliegt alles einer „Unterhaltungsbzw.Showzwangsjacke“ - von Entertainment und Edutainment über Infotainmentbis hin zu Politainment. Mittlerweile muss alles unterhalten, und da die Menschen -<strong>zum</strong>indest die meisten Fernsehnutzer - einen „TV-Spiegel“ vorgehalten bekommenwollen, in dem sie sich wieder erkennen, erfährt auch der Umstand, vor derKamera zu stehen einen Bedeutungswandel. In einer Zeit der Talküberflutungmuss eher von einem „vor der Kamera sitzen“ gesprochen werden und seit BigBrother kann man sogar durch Schlafen vor der Kamera Einschaltquoten undeinen Primetime-Platz im Fernsehprogramm erreichen.In einem Interview im Zuge der Ausstellung „Televisions – Kunst sieht fern“ in derWiener Kunsthalle, äußert Schlingensief, er wolle vorhandene Medienformenimitieren und lege sich auf, sie nicht nur zu parodieren: „Ich würde sie gerne wiederernster nehmen, als sie es sind“ (Mackert 2001, S.266). Im Fernsehen gibt eseinen Unterscheid zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit, auf den Schlingensiefimmer wieder hinweist; die Medien imitieren nur die Wirklichkeit. Schlingensief118


springt auf diesen „Medienzug“ auf, verlässt ihn indes immer wieder, um diemedialen Struktur mit dem wahren Leben schockierend zu konfrontieren.119


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Schlingensief, Christoph (2002): „Freakstars 3000”, VIVA PLUS (6 Folgen),Juni 2002Weirs, Peter: “Die Truman Show”, 1998, Kinofilm, USA, Produzent: ScottRudin, 99 min.Wilkes, Uli (2003): “No Talk“, 3SAT, 07.Januar. 2003(Erstsendung: 8.5.1999 ARD/WDR)AbbildungsverzeichnisDeckblatt: C. Schlingensief, http://www.schlingensief.com/index02.html, 3. Juni 03Abbildung 1, Seite 14: Berthold Brecht,http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BrechtBertolt/index.html, 5. Mai 03Abbildung 2, Seite 15: Heiner Müller,http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/MuellerHeiner/index.html, 5. Mai 03Abbildung 3, Seite 17: Joseph Beuys, Postkarte/Foto von Sander & Stenzel, FIUProduktionAbbildung 4, Seite 21: „U3000“, http://www.schlingensief.com/u3000/index.htm,3.Juni 03Abbildung 5, Seite 21: „U3000“, http://www.schlingensief.com/u3000/index.htm,3. Juni 03Abbildung 6, Seite 22: „U3000“, http://www.schlingensief.com/u3000/index.htm,3. Juni 03128


Abbildung 7, Seite 22: „Quiz 3000“, www.quiz3000.de, 28. April 03Abbildung 8, Seite 23: „Quiz 3000“, www.quiz3000.de, 28. April 03Abbildung 9, Seite 25: Die Freakstarsband „Mutter sucht Schraube“,www.freakstars.de, 28. April 03Abbildung 10, Seite 26: Jury bei „Freakstars“, www.freakstars.de, 28. April 03Abbildung 11, Seite 26: Showauftritt der Band „Freakstars“,www.freakstars.de, 28. April 03Abbildung 12, Seite 70: C. Schlingensief,http://www.schlingensief.com/index02.html, 3. Juni 03Abbildung 13, Seite 79: „Talk 2000“, C. Schlingensiefhttp://www.zonix.de/html40/arts/schling.html, 3. Juni 03Abbildung 14, Seite 88: „Quiz 3000“, www.quiz3000.de, 28. April 03Abbildung 15, Seite 89: C. Schlingensief,http://www.schlingensief.com/index02.html, 3. Juni 03Abbildung 16, Seite 91: „Quiz 3000“, www.quiz3000.de, 28. April 03Abbildung 17, Seite 94: Containershow - Abschiebunghttp://www.schlingensief.com/wien/auslaender_raus.htm, 28. April 03Abbildung 18, Seite 94: Containershowhttp://www.schlingensief.com/wien/auslaender_raus.htm, 28. April 03129


Abbildung 19, Seite 96: Internetseite von „Ausländer raus“,http://www.schlingensief.com/wien/auslaender_raus.htm, 28. April 03Abbildung 20, Seite 97:Containershowhttp://www.schlingensief.com/wien/auslaender_raus.htm, 28. April 03Abbildung 21, Seite 101: Containershowhttp://www.schlingensief.com/wien/auslaender_raus.htm, 28. April 03Abbildung 22, Seite 106: C. Schlingensief,http://www.schlingensief.com/index02.html, 3. Juni 03Verwendete Internetadressenwww.aphorismen.dewww.arte-tv.comwww.dhm.dewww.freakstars.dewww.KUNSTHALLEwien.dewww.quiz3000.dewww.schlingensief.comwww.socionet.de/talkshows.shtmlwww.vivamediaag.dewww.vprt.de130


Anhang:Schriftliches Leitfaden – Interview mit Herrn Ehmke vomBPB (Bundesamt für politische Bildung)Sehr geehrter Herr Ehmke,1. …meines Wissens haben sie den Regisseur und Künstler ChristophSchlingensief mehrmals unterstützt und gesponsert bzw. gefördert, ist dasrichtig?Ja, die Bundeszentrale für politische Bildung hat Arbeiten vonChristoph Schlingensief mehrmals unterstützt, wobei es sich jeweilsnicht um ein Sponsoring handelte, sondern um eine kooperativeZusammenarbeit.2. Wie kamen Sie auf C. Schlingensief und warum haben Sie Ihn unterstützt?Die Arbeit Schlingensiefs ist der Öffentlichkeit breit bekannt, zeichnetsich durch eine besonders große Kreativität aus und eine Struktur, diedarauf abzielt, insbesondere jüngere Menschen in politischeAuseinandersetzung zu verwickeln. Dies ist nicht zuletzt auch einesder vornehmsten Ziele politischer Bildungsarbeit.3. Warum war es Ihnen wichtig gerade diese Projekte zu unterstützen?a)Das Hamlet- Projekt in Zürich und an der Volksbühne war für dieBundeszentrale wichtig, um gerade ein politisch sehr weit linksstehendes, junges Publikum (wie es die Volksbühne hat) durchgezielte Provokation in einen Dialog mit rechtsextremernAuffassungen (in der gleichen Altersgruppe) zu bringen, um diebeiderseitigen Positionen zu überprüfen. Dies ist auch in hohemMasse gelungen.b)Das Projekt Freakstars 3000 bot die Möglichkeit, über ein von derBundeszentrale (konkret die Firma Görres Kulturbetrieb in Berlin)selbst gestaltetes Laufband, Informationen über das Leben geistigbehinderter Menschen an das junge - <strong>zum</strong> Themenkreis eher nichtbesonders aufgeschlossene - VIVA Publikum heranzutragen.4. Kennen Sie C. Schlingensief und seine Arbeit darüber hinaus näher?Ja, die Arbeit Schlingensiefs ist auch im breiteren Bereich bekannt.131


5. Welche Werte, Normen, Moralvorstellungen und für sie persönlich wichtigeAnliegen vertritt Ihrer Meinung nach C. Schlingensief in seinen medialenProjekten?……6. War es Ihnen wichtig, dass es sich um TV - Formate handelte, die sieunterstützt haben und dass diese auf den Sendern MTV und VIVA liefen?Bei dem Projekt Freakstars war selbstverständlich wichtig, dass dieSendungen über VIVA ausgestrahlt wurden, da es für dieBundeszentrale um die Erreichung dieses Publikums mit Mitteln derpolitischen Bildung ging.7. Glauben Sie, dass Sie ihr Ziel, die Zuschauer bzw. die Bevölkerung politischzu bilden mit C. Schlingensief und diesen Sendungen mit Erfolg erreichthaben?Hierauf gibt es zwei Antworten:a)Das bei Freakstars ausgestrahlte Laufband von Görres Kulturbetriebhat in der tat einen eigenen Informationswert für die anvisierteZielgruppe gehabt. Ob tatsächlich auch ein Bildungseffekt eintritt istnatürlich - wie bei allen Maßnahmen politischer Bildung – nur sehrschwer mess- und einschätzbar.b)Die Arbeiten Schlingensiefs selbst sind nicht der Versuch derBundeszentrale einbestimmtes Publikum politisch zu bilden, sondern dieses Publikumauf die Facettenund Untiefen einer bestimmtenpolitischen Thematik aufmerksam <strong>zum</strong>achen und schließlich darauf hinzuweisen, dass die bpb <strong>zum</strong>jeweiligen Themenbereich eine Vielzahl von Angeboten bereit stellt8. Was kritisiert Herr Schlingensief Ihrem Empfinden nach am MediumFernsehen, an der Politik und an unserer Gesellschaft?……132

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