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Der faule Hans ...............................................................................................151Der Dümmling <strong>und</strong> die hilfreichen Tiere ..................................................154Wie Eulenspiegel Schuhe sammelte ..........................................................157Kapitel 9 Magische <strong>Geschichten</strong>......................................... 158Der gläserne Sarg ..........................................................................................159Rumpel, der Poltergeist................................................................................164Herr Glückspilz..............................................................................................167Das Gespenst, das vor sich selbst Angst hatte..........................................168Der arme Fischer ...........................................................................................170Johanna <strong>und</strong> Johannes...................................................................................171Der Froschprinz .............................................................................................174Kapitel 10 Riesengeschichten.............................................. 176Das Riesenspielzeug .....................................................................................177Das Riesen-Kegelspiel..................................................................................178Riesen-Schabernack......................................................................................179Der Riesenesel................................................................................................180Die Riesin .......................................................................................................182Der hässliche Riese <strong>und</strong> der Bauer.............................................................183Der Riese <strong>und</strong> die Königstochter................................................................185Der junge Riese..............................................................................................187Kapitel 11 Rittergeschichten................................................ 195Der verwunschene Ritter..............................................................................196Der Mondsee..................................................................................................199Der verzauberte König..................................................................................201Der mutige Ritter Reginald ..........................................................................203Kapitel 12 <strong>Geschichten</strong> <strong>zum</strong> Staunen.................................. 215Eulenspiegel <strong>und</strong> der gelehrige Esel ..........................................................216Wie man das Fürchten lernt.........................................................................217Das verschmitzte Bäuerlein .........................................................................222Der Sack der Weisheit ..................................................................................224Der Dreschflegel vom Himmel...................................................................227Der listige Fuchs............................................................................................229


Wie Eulenspiegel bei einem Kaufmann diente ........................................231Kapitel 13 Tiergeschichten.................................................. 232Das hässliche junge Entlein .........................................................................233Zimba, der kleine Löwe ................................................................................236Die neugierige Giraffe ..................................................................................238Die Bremer Stadtmusikanten.......................................................................239Der Fuchs <strong>und</strong> der Ziegenbock...................................................................242Lumpis Geheimnis ........................................................................................243Der ängstliche Hase.......................................................................................244Stachel, der kleine Igel .................................................................................245Dumbos Abenteuer........................................................................................247Der gekrönte Floh..........................................................................................249Der Goldfisch.................................................................................................251Die Maus Franziska.......................................................................................252Kapitel 14 <strong>Geschichten</strong> <strong>zum</strong> Träumen................................ 254Der Traumvogel.............................................................................................255Die Sonnenmutter..........................................................................................256Eine unruhige Nacht......................................................................................259Die Traumschule............................................................................................260Eine unheimliche Nacht ...............................................................................262Der kleine Maulwurf, der nicht schlafen konnte......................................263Die Prinzessin auf der Erbse........................................................................265Sterntaler.........................................................................................................267König Drosselbart..........................................................................................269Die weiße Taube............................................................................................272Die Prinzessin in der Höhle .........................................................................274Kapitel 15 Zaubergeschichten............................................. 278Der vergessliche Zauberer ...........................................................................279Der Zauberberg ..............................................................................................280Der verzauberte Prinz...................................................................................283Der Zauberer <strong>und</strong> das kluge Mädchen.......................................................287Die sechs Diener............................................................................................288


Das Märchen vom Prinzen mit den goldenen Haaren.............................293Kapitel 16 Zwergengeschichten.......................................... 298Die Zwergenhochzeit ....................................................................................299Der Zwerg <strong>und</strong> die W<strong>und</strong>erblume ..............................................................301Schneewittchen <strong>und</strong> die sieben Zwerge.....................................................303


Kapitel 1Geheimnisgeschichten-7-


Die SternschnuppenAls Jenny vor einiger Zeit bei ihrer Großmutter zu Besuchwar, hatte diese ihr erzählt, dass man sich etwas wünschen darf,wenn man eine Sternschnuppe sieht. Nun stand Jenny jedenAbend vor dem Schlafengehen noch eine Weile am Fenster <strong>und</strong>sah zu dem Sternenhimmel hinauf. Wünsche hatte die kleineJenny nämlich genug. Ein paar besonders wichtige hatte siesogar auf einen Zettel geschrieben.Eines Morgens nun saß Jenny bekümmert am Frühstückstisch.Die Mama konnte den Anblick schließlich nicht länger ertragen<strong>und</strong> fragte ihr Töchterlein:»Hast du schlecht geschlafen, Jenny?« Die Kleine schüttelteden Kopf, blickte die Mama ernsthaft an <strong>und</strong> sagte: »Ich habeeine Sternschnuppe gesehen.« Da w<strong>und</strong>erte sich die Mama <strong>und</strong>fragte: »Und warum schaust du jetzt so traurig? Vielleicht, weildu nicht verraten darfst, was du dir gewünscht hast?« Doch dafing Jenny plötzlich an bitterlich zu weinen <strong>und</strong> schluchzte:»Nein, viel, viel schlimmer! Als die Sternschnuppe zur Erdefiel, da ist mir einfach nichts eingefallen, was ich mir hättewünschen können <strong>und</strong> jetzt sehe ich bestimmt nie wieder eineSternschnuppe!«Da nahm die Mama Jenny in den Arm, tröstete sie <strong>und</strong> sagte:»Ach, Jenny, du wirst in deinem Leben noch jede MengeSternschnuppen sehen <strong>und</strong> bestimmt fallen dir dann auch deineWünsche ein.«-8-


Die beiden KatzenkinderSvenja <strong>und</strong> Frank waren Nachbarskinder. Als sie zusammenmit ihren Eltern einen Ausflug auf einen Bauernhof machten,entdeckten sie dort zwei kleine Kätzchen, die gerade so großwaren, dass sie ohne ihre Mutter auskommen konnten. Svenjaging auch gleich zu ihrer Mutter <strong>und</strong> bettelte: »Mutti, Mutti,bitte, darf ich ein kleines Kätzchen haben?« Svenjas Mutterhatte nichts dagegen <strong>und</strong> von dem Erfolg ermutigt, fragte Frankseine Mutter, ob er auch ein Kätzchen haben könne. DochFranks Mutter schüttelte den Kopf <strong>und</strong> sagte: »Nein, Frank, esreicht doch, wenn Svenja eine Katze hat, mit der könnt ihr dochgemeinsam spielen!«Frank erzählte Svenja, was seine Mutter gesagt hatte <strong>und</strong>plötzlich hatte Svenja eine Idee: »Die beiden Kätzchen gleichensich doch wie ein Ei denn anderen. Wir nehmen sie einfachbeide mit <strong>und</strong> verstecken die eine im Auto. Wenn deine Mamadann mal das Kätzchen entdeckt, sagst du einfach, es seimeine.« Frank fand die Idee seiner kleinen Fre<strong>und</strong>in ganzausgezeichnet <strong>und</strong> sie versteckten das zweite Kätzchen im Auto.Als sie schon wieder ein paar Tage zu Hause waren, ging dieMutter eines Morgens in Franks Zimmer, um ihn zu wecken. Dasah sie am Fußende seines Bettes ein kleines Kätzchen,streichelte es <strong>und</strong> sagte: »So ein liebes Geschöpf!« Frank nicktefreudig <strong>und</strong> sagte: »Ja, nicht wahr, ganz lieb! Schade, dass esnicht mein Kätzchen ist.« Die Mutter schmunzelte, ging <strong>zum</strong>Fenster <strong>und</strong> zeigte hinaus: »Dann sag mir doch mal, wem dasKätzchen gehört, das Svenja dort drüben auf dem Arm hält?« Dawar der ganze Schwindel aufgeflogen, doch Franks Mutter warnicht böse <strong>und</strong> das Kätzchen gehörte nun richtig zur Familie.-9-


Steffis Geheimnis(Birgit Fischer)Als die Mutter das Backblech aus dem Herd nahm, rannte dasBrotmännlein wie ein Blitz davon… »Was war das denn?«w<strong>und</strong>erte sich die Mutter. »Ich dachte, die Steffi hätte einBrotmännlein gebacken. Das war wohl ein Irrtum.«Das Brotmännlein rannte unterdessen aus der Küche heraus<strong>und</strong> machte erst Halt, als es im Flur eine dunkle Ecke gef<strong>und</strong>enhatte, in der es sich verstecken konnte. Schwer schnaufendkauerte es sich zusammen <strong>und</strong> flüsterte: »Das war knapp. Dieplötzliche Kälte <strong>und</strong> dieses riesige Gesicht – das war jaschrecklich! Doch was soll ich jetzt tun?«So blieb das junge Brotmännlein in seiner Ecke sitzen <strong>und</strong>beobachtete erst mal, was um ihn herum passierte. Am Anfangwar das nicht viel: ein paar Fliegen, die herumsummten.Stimmen, eine tiefe <strong>und</strong> zwei hohe, die aus einem anderenZimmern kamen, <strong>und</strong> eine Katze, die hin <strong>und</strong> wiederangeschnuppert kam, dann jedoch recht uninteressiert wiederihrer Wege ging. Plötzlich kam ein kleineres Gesicht in denFlur. Es hielt an <strong>und</strong> schaute ganz verw<strong>und</strong>ert auf dasBrotmännlein. »Ja, was machst du denn hier?« Sie streckte ihrenArm aus <strong>und</strong> nahm das Männlein ganz vorsichtig in die Hand.Es kniff ganz feste die Augen zu <strong>und</strong> biss sich so kräftig mitseinen drei Zähnen auf die Unterlippe, dass es richtige Löcher inseine Kruste bekam.»Das ist aber seltsam«, sagte Steffi. »Ich hatte dir doch einganz anderes Gesicht gemacht. Du siehst ja richtig so aus, als obdu Angst hättest!« Das Brotmännlein öffnete eins seinerSonnenblumenaugen zu einem Viertel. So ganz schrecklichfurchterregend sah das kleine Gesicht eigentlich gar nicht aus.Mutig öffnete es auch noch das zweite Auge <strong>und</strong> stammelte: »Bi-10-


– bi – bitte nicht a – a – aufessen!«»Nein, natürlich nicht. Ich bin die Steffi. Du brauchst keineAngst vor mir zu haben. Ich werde dich mit in meinKinderzimmer nehmen <strong>und</strong> niemand wird dich essen. Abereinen Namen musst du noch bekommen. Hm. Ich werde dichMartin nennen.«Erleichtert atmete Martin auf. Er konnte sein Glück kaumfassen. Wie schön, dass gerade Steffi ihn gebacken hatte. Steffiging mit Martin in der Hand zu ihren Eltern ins Wohnzimmer<strong>und</strong> sagte: »Ich habe mein Brotmännlein gef<strong>und</strong>en. Es musswohl vom Blech gerutscht sein. Eigentlich finde ich es viel zuschade <strong>zum</strong> Essen. Ich werde es in mein Zimmer zu meinenStofftieren stellen.« Steffis Eltern stimmten ihr zu. Sie erfuhrennatürlich nie etwas davon, dass Martin lebendig war <strong>und</strong> reden<strong>und</strong> laufen konnte.Steffi stellte ihr nun recht fröhliches Brotmännlein zu ihrenStofftieren. Dort konnte es nun auf dem Pferd reiten, mit demBären kuscheln oder die Puppe Lisa an den Zöpfen ziehen, wennihm langweilig war, Doch wenn Steffi zu Hause war, erzähltesie ihm immer, was sie erlebt hatte, wie es in der Schulegewesen war <strong>und</strong> was für neue Spiele sie kennengelernt hatte.So wurde Martin bestimmt das schlaueste Brotmännlein auf derganzen Welt.Und wenn er nicht zerbröselt ist, dann krümelt erwahrscheinlich noch heute durch Steffis Kinderzimmer.Also, Kinder, wenn Ihr einen neuen Fre<strong>und</strong> haben wollt,versucht doch einmal ein Brotmännlein zu backen, Ihr werdetstaunen!-11-


Die zwölf JungfrauenEin junger Prinz saß bei seiner Braut <strong>und</strong> sprach: »Da geb ichdir einen Ring <strong>und</strong> mein Bild, das trag zu meinem Andenken<strong>und</strong> bleib mir treu; mein Vater ist todkrank <strong>und</strong> hat geschickt,ich soll kommen, er will mich vor seinem Ende noch einmalsehen, wenn ich König bin, so hole ich dich heim.«Darauf ritt er fort <strong>und</strong> fand seinen Vater sterbend; dieser batnoch den Prinzen, er möge eine gewisse Prinzessin nach seinemTode heiraten. Der Prinz war so betrübt <strong>und</strong> hatte seinen Vaterso lieb, dass er ohne sich zu bedenken ja sagte <strong>und</strong> gleich darauftat der alte König die Augen zu <strong>und</strong> starb. Wie er nun <strong>zum</strong>König ausgerufen <strong>und</strong> die Trauerzeit herum war, musste er seinWort halten <strong>und</strong> ließ um die andere Prinzessin werben, die ihmzugesagt wurde. Indes hörte die erste Braut, dass der Prinz umeine andere gefreit, da grämte sie sich so sehr, dass sie fastverging. Ihr Vater fragte, warum sie so traurig sei, sie sollefordern, was sie wolle, es solle ihr gewährt sein; da bedachtesich die Prinzessin einen Augenblick, dann bat sie sich elfMädchen aus, die ihr vollkommen glichen, auch an Größe <strong>und</strong>Wuchs. Der König ließ die elf Jungfrauen im ganzen Königreichaufsuchen <strong>und</strong> als sie beisammen waren, kleidete sie diePrinzessin als Jäger, sich selber genau so, so dass die Zwölfvollkommen eine wie die andere waren. Darauf ritt sie zu demKönig, ihrem ehemaligen Bräutigam <strong>und</strong> verlangte für sich <strong>und</strong>die übrigen Dienst als Jäger. Der König erkannte sie nicht <strong>und</strong>weil es so schöne Leute waren, gewährte er ihnen gern die Bitte<strong>und</strong> nahm sie an seinen Hof.Der König hatte aber einen Löwen, dem war nichts verborgen<strong>und</strong> er wusste alles, was heimlich am Hofe geschah. Der sagteeines Abends zu ihm: »Du glaubst, du hättest da zwölf Jäger,das sind aber lauter Mädchen.« Der König wollte es nichtglauben, da sagte der Löwe weiter: »Lass nur einmal Erbsen in-12-


dein Vorzimmer streuen, Männer haben einen festen Tritt, wenndie darüber hingehen, regt sich keine, Mädchen aber die trippeln<strong>und</strong> schlurfen <strong>und</strong> die Erbsen rollen unter ihren Füßen.« DemKönig gefiel das wohl. Es war aber ein Diener des Königs, derliebte die Jäger <strong>und</strong> hatte das mit angehört, da lief er zu ihnen<strong>und</strong> sagte: »Der Löwe hält euch für Mädchen <strong>und</strong> will Erbsenstreuen lassen <strong>und</strong> euch damit testen.«; die Prinzessin befahldarauf ihren elf Jungfrauen, sie sollten sich alle Gewalt antun<strong>und</strong> fest auf die Erbsen treten.Als nun am Morgen die Erbsen gestreut waren, ließ der Königdie zwölf Jäger kommen, sie hatten aber einen so sicheren <strong>und</strong>starken Gang, dass sich auch nicht eine Erbse bewegte. AmAbend machte der König dem Löwen Vorwürfe, dass er ihnbelogen habe, da sagte der Löwe: »Sie haben sich verstellt, lassaber nur zwölf Spinnräder in das Vorzimmer stellen, da werdensie sich drüber freuen <strong>und</strong> das tut kein Mann.« Der König folgtedem Löwen noch einmal <strong>und</strong> ließ die Spinnräder hinstellen. DerDiener aber hatte den Jägern den Anschlag verraten, da befahldie Prinzessin ihren elf Jungfrauen die Spinnräder nicht einmalanzusehen. So taten sie auch <strong>und</strong> der König wollte dem Löwennicht mehr glauben. Er gewann die Jäger immer lieber <strong>und</strong> wannimmer er auf die Jagd ritt, mussten sie ihm folgen.Als sie einmal mit ihm im Wald waren, kam die Nachricht,die Braut des Prinzen sei im Anzug <strong>und</strong> werde bald da sein; wiedas die rechte Braut hörte, fiel sie in Ohnmacht. Der Königmeinte, seinem lieben Jäger sei etwas zugestoßen, lief herzu <strong>und</strong>wollte ihm helfen, er zog ihm aber auch die Handschuh aus, daerblickte er den Ring, den er seiner Braut gegeben hatte <strong>und</strong> alser dann noch das Bildnis an ihrem Hals sah, erkannte er sie <strong>und</strong>ließ gleich der anderen Braut sagen, sie möge in ihr Reichzurückkehren, er habe schon eine Gemahlin <strong>und</strong> wenn maneinen alten Schlüssel wieder gef<strong>und</strong>en habe, brauche man denneuen nicht. Da wurde die Hochzeit gefeiert, der Löwe hattenicht gelogen <strong>und</strong> kam wieder in Gnade bei dem König.-13-


Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.-14-


Die Schildkröte <strong>und</strong> die kleine MausAn seinem zehnten Geburtstag bekam Tom eine kleineSchildkröte geschenkt, die er im Garten hielt. Damit sie nichtausreißen konnte, hatte Toms Vater in den Rückenpanzer einLoch gebohrt <strong>und</strong> daran eine lange Schnur befestigt. So vergingdie Zeit <strong>und</strong> Tom hatte viel Freude an der kleinen Schildkröte.Eines Tages aber, als Tom nach der Schule in den Gartenging, da war die Schnur durchgebissen, die Schildkröte aber lagfriedlich im Gras wie immer. Toms Vater zog eine neue Schnurdurch das Loch im Panzer <strong>und</strong> befestigte sie dann wieder andem Pfosten auf der Terrasse. Doch als Tom am nächsten Tagnach der Schule wieder nachschaute, war die Schnur wie amTag vorher durchgebissen, die Schildkröte aber lag brav imGarten.Da beschloss Tom, sich am nächsten Tag, das war gerade einSamstag, auf die Lauer zu legen. Und plötzlich sah er, wer anden Tagen zuvor die Schnur durchgebissen hatte. Eine kleineMaus flitzte aus dem Nachbarsgarten herüber, knabberte dieSchnur entzwei <strong>und</strong> fraß gemeinsam mit der Schildkröte vondem Futter, das Tom seinem Tier jeden Tag hinstellte. Danachspazierten die beiden ein bisschen im Garten umher, die kleineMaus natürlich immer flink voran <strong>und</strong> nach etwa einer St<strong>und</strong>elegte sich die Schildkröte wieder an ihren Platz neben derTerrasse <strong>und</strong> die kleine Maus huschte wieder durch den Zaun inden Nachbarsgarten.Da wusste Tom, dass er seine Schildkröte nicht mehranzubinden brauchte, denn die dachte ja gar nicht daranauszureißen.-15-


Die helle Sonne bringt es an den TagEin Schneidergeselle reiste durch die Welt. Einmal konnte erkeine Arbeit finden <strong>und</strong> hatte keinen Heller Geld mehr bei sich.Da begegnete ihm ein Kaufmann <strong>und</strong> er dachte, dass dieser Geldhabe. Er ging auf ihn los <strong>und</strong> forderte Geld. Der Kaufmannklagte, er möge ihm doch sein Leben lassen, Geld habe er nuracht Heller. Der Schneider wollte das nicht glauben <strong>und</strong> schlugso lange zu, bis der Kaufmann am Boden lag. Als der Kaufmannda lag, sprach er: »Die helle Sonne wird es an den Tag bringen.«Der Schneidergeselle durchsuchte seine Taschen <strong>und</strong> fand nichtmehr als acht Heller. Die steckte er ein <strong>und</strong> zog weiter.Nach langer Zeit kam er in eine Stadt, wo er bei einemMeister, der eine schöne Tochter hatte, Arbeit fand. Er verliebtesich in sie <strong>und</strong> heiratete sie <strong>und</strong> lebte vergnügt mit ihrzusammen. Sie bekamen zwei Kinder <strong>und</strong> eines Tages starbendie Schwiegereltern. Als der Mann eines Morgens Kaffeetrinken wollte, schien die Sonne so auf die Untertasse, dass sieKringel an die Wand malte. Der Schneider sprach: »Ja, die willes gerne an den Tag bringen, aber sie kann nicht.« Die Frauwollte wissen, was das zu bedeuten habe <strong>und</strong> er erzählte ihr, wieer vor langen Jahren auf Wanderschaft war ohne Geld <strong>und</strong> dasser einen Kaufmann verprügelt habe, der in seiner Angst gesagthabe, die helle Sonne werde es schon an den Tag bringen. Dassei nun geschehen. Er verlangte von seiner Frau, dass sie es fürsich behielte. Die aber ging zu ihrer Tante, erzählte ihr alles <strong>und</strong>innerhalb von drei Tagen, wusste es die ganze Stadt. DerSchneider kam vor Gericht, <strong>und</strong> so hat die Sonne es doch nochan den Tag gebracht.-16-


Brotmännlein findet ein Zuhause(Markus Weis)Wie jeden Samstag backten Katrin <strong>und</strong> ihre Mutter frischesBrot. Doch diesmal war ein kleines Restchen Teig übriggeblieben, das nicht mehr für ein ganzes Brot reichte, <strong>zum</strong>Wegwerfen aber auch zu schade war. Katrin überlegte, »Ichhabe eine tolle Idee!« rief sie plötzlich. »Ich werde einBrotmännlein backen.«Sie fing sofort an. Eifrig formte sie aus dem Teigklumpen einw<strong>und</strong>erschönes Brotmännlein. Doch irgendetwas fehlte noch.»Der hat ja noch gar keine Augen«, bemerkte die Mutter. Katrinfand noch Rosinen, Sonnenblumenkerne <strong>und</strong> Sesamsamen <strong>und</strong>begann sofort mit der Verzierung. Als sie fertig war legte sie ihrKunstwerk stolz <strong>zum</strong> Brot in den Ofen.Als die Mutter nach einer St<strong>und</strong>e die Ofentür öffnete, um dasfertige Brot herauszunehmen, rannte das Brotmännlein wie einBlitz davon. Sein erstes Problem war die Haustür. Wie sollte esda nur durchkommen? Doch dann sah es den Briefkastenschlitz<strong>und</strong> – schwupps! – war es durch den Spalt gekrochen. Die hohenStufen im Treppenhaus vermied das Brotmännlein, indem eseinfach das Geländer herunterrutschte. Auf der Straße rieb essich verw<strong>und</strong>ert die Rosinenaugen: »Ach! So viele Menschen<strong>und</strong> Häuser <strong>und</strong> Autos! Wie soll ich denn da durchkommen?« Indiesem Moment hielt direkt vor ihm ein Bus. Kurzentschlossensprang das Männlein in die geöffnete Tür <strong>und</strong> versteckte sichunter dem nächsten Sitz. Auch der Bus war voll mit Leuten, aberglücklicherweise hatte niemand den ungewöhnlichenSchwarzfahrer bemerkt. Wegen der vielen Menschen traute sichdas Brotmännlein lange nicht mehr hervor.Plötzlich ertönte eine Stimme: »Endstation! Allesaussteigen!« Auf einmal war der Bus leer <strong>und</strong> auch das-17-


Brotmännlein flitzte durch die Tür. Da stand es nun <strong>und</strong> schaute.Direkt vor ihm war ein Tor. Es ging hindurch <strong>und</strong> stand ineinem großen Park. Hier war ein Teich mit Enten <strong>und</strong>Schwänen, Als die Enten das Brotmännlein entdeckten, fingensie aufgeregt an zu schnattern. »Quak! Was ist das denn? Quak!Das sieht aber lecker aus. Kommt! Wir wollen es mal kosten.Quak!« Das Brotmännlein wurde ganz bleich – so gut das unterder knusprigen, braunen Kruste ging – <strong>und</strong> fing an zu rufen:»Hilfe! Hilfe! Kann mir jemand helfen? Die Enten wollen michfressen.« Inzwischen kamen die Enten immer näher. Da landeteein großer, weißer Schwan vor dem Männlein <strong>und</strong> sagte:»Komm, steig auf meinen Rücken! Ich will mit dir davonfliegen<strong>und</strong> dich retten.« Geschwind kletterte das Brotmännlein hinauf<strong>und</strong> gemeinsam erhoben sie sich in die Luft.»Danke, lieber Schwan!« keuchte das Männlein. »KeineUrsache«, antwortete der Schwan. »Ich kann die Enten sowiesonicht gut leiden, die schnattern <strong>und</strong> quaken den ganzen Tagherum, aber es kommt nichts Kluges dabei heraus.« DasMännchen fragte: »Kennst du einen sicheren Ort für mich?« DerSchwan überlegte. »Ja. Ich bringe dich hin. Es ist noch nichteinmal weit weg.« Einige Minuten später landete der Schwansanft. Das Brotmännlein glitt von seinem Rücken herunter <strong>und</strong>bedankte sich nochmals. Der Schwan verabschiedete sich <strong>und</strong>flog davon.Jetzt erst konnte sich das Männlein umsehen. Welch eineFreude! Da standen lauter kleine Häuser <strong>und</strong> Paläste <strong>und</strong> einTurm. Daneben war ein Schild: Lilliput-Welt. Jetzt hatte er einneues, sicheres Zuhause <strong>und</strong> konnte sich sogar ein Häuslein freiaussuchen. Seitdem lebt im Park in der Lilliput-Welt von allenMenschen unbemerkt ein kleines Brotmännlein. Und manchmal,abends, kann man, wenn man genau hinsieht, einen Schwanüber den Park fliegen sehen, auf dessen Rücken einBrotmännlein sitzt <strong>und</strong> sich seine Heimat von oben ansieht.-18-


RumpelstilzchenEs war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eineschöne Tochter. Und es traf sich, dass er mit dem König zusprechen kam <strong>und</strong> ihm sagte: »Ich habe eine Tochter, die kenntdie Kunst, Stroh in Gold zu verwandeln.« Da ließ der König dieMüllerstochter also gleich kommen <strong>und</strong> befahl ihr, eine ganzeKammer voll Stroh in einer Nacht in Gold zu verwandeln <strong>und</strong>könne sie es nicht, so müsse sie sterben.Sie wurde in die Kammer eingesperrt, saß da <strong>und</strong> weinte,denn sie wusste um ihr Leben keinen Rat, wie das Stroh zu Goldwerden sollte. Da trat auf einmal ein kleines Männlein zu ihr,das sprach: »Was gibst du mir, dass ich alles zu Gold mache?«Sie tat ihr Halsband ab <strong>und</strong> gab’s dem Männlein <strong>und</strong> es tat, wiees versprochen hatte. Am ändern Morgen fand der König dieganze Kammer voll Gold; aber sein Herz wurde dadurch nurnoch begieriger <strong>und</strong> er ließ die Müllerstochter in eine andere,noch größere Kammer voll Stroh bringen, das sollte sie auch zuGold machen. Und das Männlein kam wieder, sie gab ihm ihrenRing von der Hand <strong>und</strong> alles wurde wieder zu Gold, Der Königaber hieß sie die dritte Nacht wieder in eine dritte Kammersperren, die war noch größer als die beiden ersten <strong>und</strong> ganz vollStroh. »Und wenn dir das auch gelingt, sollst du meineGemahlin werden.« Da kam das Männlein <strong>und</strong> sagte: »Ich willes noch einmal tun, aber du musst mir das erste Kindversprechen, das du mit dem König bekommst.« Sie verspraches in der Not <strong>und</strong> wie nun der König auch dieses Stroh in Goldverwandelt sah, nahm er die schöne Müllerstochter zu seinerGemahlin.Bald darauf kam die Königin ins Wochenbett, da trat dasMännlein vor die Königin <strong>und</strong> forderte das versprochene Kind.Die Königin aber bat, was sie konnte <strong>und</strong> bot dem Männchenalle Reichtümer an, wenn es ihr ihr Kind lassen wollte, allein-19-


alles war vergebens. Endlich sagte es: »In drei Tagen komm ichwieder <strong>und</strong> hole das Kind, wenn du aber dann meinen Namenweißt, so sollst du das Kind behalten!« Da sann die Königin denersten <strong>und</strong> zweiten Tag, was doch das Männchen für einenNamen hätte, konnte sich aber nicht besinnen <strong>und</strong> wurde ganzbetrübt. Am dritten Tag aber kam der König von der Jagd heim<strong>und</strong> erzählte ihr: »Ich bin vorgestern auf der Jagd gewesen <strong>und</strong>als ich tief in den dunklen Wald kam, war da ein kleines Haus<strong>und</strong> vor dem Haus war ein gar zu lächerlicher Männchen, dassprang als auf einem Bein davor herum <strong>und</strong> schrie: ›Heute backich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Frau Königin ihrKind, ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ichRumpelstilzchen heiß!‹«Als die Königin das nun hörte, wurde sie ganz froh <strong>und</strong> alsdas gefährliche Männlein kam, fragte es: »Frau Königin, wieheiß ich?«»Heißt du Conrad?«»Nein.«»Heißt du Heinrich?«»Nein.«»Heißt du etwa Rumpelstilzchen?«»Das hat dir der Teufel gesagt!« schrie das Männchen, liefzornig fort <strong>und</strong> kam nie mehr wieder.-20-


Der goldene FischEs war einmal ein armer Mann <strong>und</strong> eine arme Frau, die hattenweiter nichts als eine Hütte. Der Mann war ein Fischer, <strong>und</strong> wieer einmal am Wasser saß <strong>und</strong> sein Netz ausgeworfen hatte, dafing er einen goldenen Fisch. Der Fisch aber sprach: »Wenn dumich wieder in das Wasser werfen willst, so soll deine Hütte ineinen prächtigen Palast verwandelt sein, <strong>und</strong> in dem Palast sollein Schrank stehen, wenn du den aufschließt, ist Gesottenes <strong>und</strong>Gebratenes darin, so viel du nur wünschest, nur darfst dukeinem Menschen auf der Welt sagen, von wem dein Glückkommt, sonst ist alles vorbei!« Der Fischer warf den Goldfischwieder ins Wasser, <strong>und</strong> wie er nach Haus kam, da stand eingroßes Schloss, wo sonst seine Hütte gestanden hatte, <strong>und</strong> seineFrau saß mitten in einer prächtigen Stube.Dem Mann gefiel das wohl, er hätte auch gern etwasgegessen: »Frau, gib mir doch etwas«, sagte er, »mich hungertso gewaltig.« Die Frau aber antwortete: »Ich habe nichts <strong>und</strong>kann in dem großen Schloss nichts finden.« – »Geh nur dortüber den Schrank«, <strong>und</strong> wie die Frau den Schrank aufschloss,standen da Kuchen, Fleisch, Obst, Wein: Herz, was verlangstdu? Die Frau verw<strong>und</strong>erte sich <strong>und</strong> sprach: »Sag mir doch,Mann, woher kommt denn dieser Reichtum auf einmal?« – »Dasdarf ich dir nicht sagen, denn wenn ich dir’s sagte, so wäre unserGlück wieder dahin.« Dadurch wurde die Frau nur neugierigergemacht, <strong>und</strong> fragte ihren Mann, <strong>und</strong> quälte ihn <strong>und</strong> ließ ihmTag <strong>und</strong> Nacht keine Ruhe, bis er es ihr endlich sagte, dass dasalles von einem Goldfisch herkomme; kaum aber hatte erausgesprochen, da war das Schloss <strong>und</strong> aller Reichtumverschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> sie saßen wieder in der alten Fischerhütte.Der Mann ging nun wieder seinem Gewerbe nach <strong>und</strong> fischte<strong>und</strong> fischte den Goldfisch <strong>zum</strong> zweiten Mal heraus; er versprachgegen Freilassung ihm aufs Neue das schöne Schloss <strong>und</strong> den-21-


Schrank voll Gesottenem <strong>und</strong> Gebratenem, doch unter dergleichen Bedingung, dass er verschwiegen sei; der Mann hieltauch eine Zeit lang aus, endlich aber quälte ihn seine Frau sogewaltig, dass er ihr das Geheimnis offenbarte, <strong>und</strong> in demAugenblick saßen sie auch wieder in ihrer schlechten Hütte.Der Mann ging zu fischen, <strong>und</strong> fischte das Goldfischchen <strong>zum</strong>dritten Mal: »Hör zu«, sagte es, »nimm mich nur mit nach Haus<strong>und</strong> zerschneid mich dort in sechs Stücke; zwei gib deiner Frauzu essen, zwei deinem Pferd, <strong>und</strong> zwei pflanz’ in die Erde, duwirst Segen davon haben, deine Frau wird zwei goldene Jungenzur Welt bringen, das Pferd wird zwei goldene Füllenbekommen, <strong>und</strong> aus der Erde werden zwei goldene Lilienaufwachsen.«Der Mann gehorchte, <strong>und</strong> die Weissagung traf ein. Die zweigoldnen Kinder wuchsen heran <strong>und</strong> wurden groß, <strong>und</strong> sagten:»Vater, wir wollen ausziehen in die Welt, wir setzen uns auf diegoldenen Rosse, <strong>und</strong> an den goldenen Lilien könnt ihr sehen,wie es uns geht: sind sie frisch, so sind wir ges<strong>und</strong>; sind siewelk, sind wir krank; fallen sie um, sind wir tot.«Damit ritten sie fort <strong>und</strong> kamen zu einem Wirtshaus, darinwar viel Volk, <strong>und</strong> als das die zwei Goldkinder auf denGoldpferden sah, fing es an zu spotten; da wurden sie bös, <strong>und</strong>der eine schämte sich, kehrte um <strong>und</strong> ritt wieder nach Haus, derzweite aber ritt fort. Da kam er zu einem Wald, die Leute abervor dem Wald sagten ihm, er dürfe nicht hindurchreiten, es seivoll Spitzbuben darin, die würden übel mit ihm umgehen; dasGoldkind aber ließ sich nicht schrecken <strong>und</strong> sprach: »Ich muss<strong>und</strong> soll hindurch!« Dann nahm er Bärenfelle <strong>und</strong> überzog sich<strong>und</strong> sein Pferd damit, dass nichts mehr von Gold zu sehen war,<strong>und</strong> so ritt er in den Wald hinein. Bald darauf hörte er in denGebüschen rufen: »Hier ist einer!« Einer anderer aber sprach:»Lass ihn laufen, was sollen wir mit dem Bärenhäuter anfangen,der ist so arm <strong>und</strong> kahl wie eine Kirchenmaus!«So kam er glücklich durch die Spitzbuben <strong>und</strong> in ein Dorf, da-22-


sah er ein Mädchen so schön, dass er nicht glaubte, es könne einschöneres auf der Welt sein <strong>und</strong> fragte, ob es ihn heiraten wolle,<strong>und</strong> das Mädchen sagte ja, es wolle ihm treu bleiben sein Lebenlang. Sie hielten nun Hochzeit miteinander <strong>und</strong> waren vergnügt,da kam der Vater der Braut nach Haus, <strong>und</strong> als er sah, dass seineTochter einen Bärenführer geheiratet hatte, denn er hatte dieBärenhaut noch nicht abgelegt, da wurde er zornig <strong>und</strong> wollteden Bräutigam ermorden. Die Braut aber bat ihn, was sie nurkonnte. Sie hätte ihn doch so lieb, <strong>und</strong> es sei nun einmal ihrMann, bis er sich zur Ruhe gab. Und am ändern Morgen frühstand er auf, <strong>und</strong> wollte seinen Schwiegersohn noch einmalsehen, da sah er einen herrlichen, goldenen Mann im Betteliegen.Dem Bräutigam aber träumte, er solle auf die Jagd gehen nacheinem prächtigen Hirsch, <strong>und</strong> als er erwachte, wollt er danachausgehen, aber seine Verlobte bat ihn da zu bleiben, <strong>und</strong>fürchtete für ihn; er aber sprach: »Ich soll <strong>und</strong> muss fort.« Damitstand er auf <strong>und</strong> ging in den Wald, da hielt ein stolzer Hirsch vorihm, ganz nach seinem Traum, wie er aber anlegen <strong>und</strong> schießenwollte, fing er an zu fliehen. Der goldene Mann war hinter ihmdrein, <strong>und</strong> verfolgte ihn über Graben <strong>und</strong> durch Gebüsche <strong>und</strong>wurde nicht müde den ganzen Tag, da entschwand ihm derHirsch, er aber war vor einer alten Hexe Haus. Er rief <strong>und</strong>fragte, ob sie keinen Hirsch gesehen habe, sie antwortete: »Ja.«Da bellte ihn aber ohne Aufhören der Hexe kleines Hündlein an,darüber wurde er bös <strong>und</strong> wollte es erschießen, wie das die Hexesah, verwandelte sie ihn in einen Mühlenstein, <strong>und</strong> in demAugenblick fällt zu Haus die eine goldene Lilie.Wie das der andere Bruder zu Haus sah, setzte er sich aufseinen goldenen Gaul <strong>und</strong> jagte fort <strong>und</strong> kam zu der Hexe, <strong>und</strong>drohte ihr mit dem Tod, wenn sie seinem Bruder nicht wiederdie natürliche Gestalt gäbe. Da musste die Hexe gehorchen <strong>und</strong>die zwei Brüder ritten wieder heim, der eine zu seiner Braut, derandere zu seinem Vater. Die eine Lilie aber stand wieder auf,-23-


<strong>und</strong> wenn sie nicht umgefallen sind, stehen sie noch alle beide.-24-


Kapitel 2Poltergeistgeschichten-25-


Die <strong>Geschichten</strong> von Rums, demPoltergeist(Astrid Arnold)Nächtlicher BesuchLudwig erwachte von einem Rascheln. Er lauschte in dieDunkelheit seines Zimmers hinein <strong>und</strong> hatte auf einmal dasGefühl, dass jemand im Raum war. Direkt neben seinem Bettatmete etwas. Er war mit einem Schlag hellwach. Jemand war inseinem Zimmer. Und derjenige musste sich direkt neben seinemBett befinden. Er konnte das Atmen ganz deutlich neben sichhören!Im Zimmer war es stockfinster. Ludwig lag unter seinerBettdecke <strong>und</strong> konnte sich nicht rühren. Jeder einzelne Fingerwar steif vor Angst. Ludwig hielt die Luft an <strong>und</strong> schieltevorsichtig nach links. Links neben seinem Bett, das wusste er,stand der Stuhl, auf dem er abends seine Kleider ablegte. Undvon dort kam das Atmen.»Ich schreie!« dachte Ludwig, aber er brachte keinen Tonheraus. Er sah jetzt ganz deutlich die Umrisse einer Gestalt linksneben dem Bett. Und er sah, dass diese Gestalt eine Bewegungin seine Richtung machte. »Jetzt schreie ich wirklich!« dachteLudwig <strong>und</strong> wollte gerade den M<strong>und</strong> aufmachen, da wurde dasLicht über seinem Bett angeknipst.Geblendet kniff Ludwig die Augen zusammen. Als er dannsie wieder öffnen konnte, blickten ihn die Augen eines fremdenMädchens an. Ludwig war so überrascht, dass ihm abermals dieStimme wegblieb. Das fremde Mädchen hatte schwarze, wildzerzauste Haare, die in alle Richtungen abstanden. Die Haaresahen aus, als seien sie mindestens drei Wochen lang nicht-26-


gewaschen worden. Im Gesicht war das Mädchenausgesprochen blass. Unter ihren frechen Augen lagentiefschwarze Schatten.»Solche Schatten habe ich unter den Augen, wenn ich krankbin«, dachte Ludwig sofort <strong>und</strong> schloss daraus, dass dasMädchen krank sein musste. Sie setzte sich auf seine Bettkante<strong>und</strong> starrte ihn an. Ludwig starrte zurück.»Irgendwie sieht sie nett aus«, überlegte er. »Aber etwas istkomisch an ihr. Wenn ich nur wüsste, was!« Ludwig fühlte sichjedenfalls nicht mehr so bedroht wie eben, als es noch dunkelwar. Das Mädchen war in seinem Alter. Von gleichaltrigenMädchen fühlt man sich nicht bedroht. Deshalb beschlossLudwig, das fremde Mädchen anzusprechen.»Bist du krank?« fragte er <strong>und</strong> fand seine Frage kurz daraufziemlich blöd. Eine Fremde, die mitten in der Nacht urplötzlichim eigenen Zimmer steht fragt man nicht, ob sie krank ist. Oderdoch? »Warum soll ich krank sein?« sagte das Mädchen mitbarscher Stimme. »Interessiert dich nicht viel eher, was ich hierin deinem Zimmer mache?« Und sie musterte ihn von oben bisunten, wie er so da lag, in seiner geblümten Bettwäsche.»Dddoch!«, stotterte Ludwig <strong>und</strong> setzte sich auf. Jetzt konnte erauch sehen, was die Fremde anhatte. Sie trug seltsameHolzschuhe, eine zerschlissene Hose <strong>und</strong> einen altenWollpullover. Auf dem Schoß hielt sie ein weiteresKleidungsstück, so etwas wie einen Mantel oder einen Umhang.»Glotz nicht so«, sagte sie empört. Ludwig wurde rot. »Duglotzt doch selber!« Und er merkte, wie er anfing, sich zuärgern. Er fand sich selbst ziemlich blöd, weil er so unsicherwar. Und sie fand er auch blöd, weil sie so frech war.»Wie heißt du?« fragte das Mädchen. »L-L-Ludwig«, stotterteLudwig <strong>und</strong> holte tief Luft. »Und wie heißt du?« Das Mädchenreckte den Hals. »Na endlich! Wurde ja auch Zeit, dass dufragst! Ich heiße Renaldo Flavio Hau-Den-Lukas, die 27. vonRumpel.«-27-


»Häh? Wie bitte?« rief Ludwig. »Ich weiß!« sagte dasMädchen, »du w<strong>und</strong>erst dich, dass ich einen Jungennamen habe.Das ist nur, weil meine Eltern sich eigentlich einen Jungengewünscht haben!«»Aha«, sagte Ludwig <strong>und</strong> verstand gar nichts. »Du kannstmich Rums nennen. So nennen mich alle!« sagte das Mädchen.»Rums also«, murmelte Ludwig <strong>und</strong> hatte das Gefühl, dass hierirgendetwas nicht stimmte. Renaldo Flavio Hau-Den-Lukas <strong>und</strong>Rums, solche Namen hatte kein Mensch!»Kommen wir zur Sache, Ludwig!« sagte Rums <strong>und</strong> krabbelteneben ihn unter die Decke. Irgendwie roch sie etwas streng.Ludwig rümpfte die Nase. »Also?« rief sie auffordernd. »Wie,was, also?« fragte Ludwig <strong>und</strong> rückte ein wenig beiseite. »Dulieber Glockenschlag!« seufzte Rums. »Dir muss man wirklichjede Frage aus der Nase ziehen. Aber gut. Du brauchst nichtfragen Ich mach’s kurz. Ich bin ein Poltergeist <strong>und</strong> von daheimweggelaufen!«»Hahaha!« sagte Ludwig.Aber dann merkte er, dass sie nicht spaßte. »Was?« schrie er,warf die Bettdecke zur Seite <strong>und</strong> war mit einem Satz aus demBett. Mit dem nächsten war er beim Schrank, riss die Schranktürauf <strong>und</strong> versteckte sich zwischen seinen Kleidern. Nein, das warkein Scherz! Sie war ein Poltergeist! Alle schrecklichen<strong>Geschichten</strong>, die Ludwig jemals über Poltergeister gehört hatte,kamen ihm plötzlich in den Sinn. Und er wusste schließlich,dass Poltergeister gefährlich waren. Erst kamen sie als Fre<strong>und</strong>e<strong>und</strong> dann verwandelten sie sich in Monster, die kleine Kinderverschleppten. Er wäre besser aus dem Zimmer gelaufen <strong>und</strong>hätte die Eltern geweckt. Hier im Kleiderschrank saß er in derFalle!»Nur nicht die Nerven verlieren«, dachte Ludwig <strong>und</strong>versuchte, die Schranktür von innen zu schließen. Er hörtetapsende Schritte. Sie kam! »Wenn sie vor dem Schrank steht,-28-


stoße ich die Tür auf <strong>und</strong> überrumpele sie!« dachte er. Jetzt!Ludwig warf sich mit aller Kraft von innen gegen dieSchranktür. Doch der erwartete Widerstand blieb aus. Mitenormem Poltern schlug Ludwig der Länge nach in seineSpielzeugkiste. Als er den Kopf hob, sah er neben sich dasPoltergeistmädchen. Sie hatte die Hände in die Seiten gestammt<strong>und</strong> schüttelte den Kopf. »Oberpoltertoll!« sagte sie. »An dieNummer hab’ ich noch gar nicht gedacht!« Ludwig hielt sichden schmerzenden Kopf. Er konnte sich kaum bewegen. Rumspackte ihn an den Schultern <strong>und</strong> hievte ihn aufs Bett.»Jetzt weiß ich, wer mir aus der Patsche hilft!« sagte sie <strong>und</strong>machte ein grübelndes Gesicht. Ludwig fühlte sich völligbenommen. »Bitte lass mich leben!« flüsterte er. »Ich will auchalles tun, was du willst!« Rums sah ihn erstaunt an <strong>und</strong> kratztesich mit ihren langen Fingernägeln am Kopf. »Prima! Dannmöchte ich als erstes, dass du mich heute Nacht bei dir schlafenlässt!«»Was?« Ludwig schnellte empor. »In meinem Bett?«»Unter deinem Bett, wenn’s recht ist«, sagte Rums <strong>und</strong>gähnte. Ludwig sank zurück in seine Kissen. Es war ihmnatürlich nicht recht. Aber hatte er eine Wahl? Jedenfalls war ersich sicher, dass er diese Nacht kein Auge zutun würde.-29-


Der Poltergeist kehrt zurückAls Ludwig am nächsten Morgen aufwachte, tat ihm der Kopfimmer noch weh. Er war also doch eingeschlafen, obwohl unterseinem Bett ein Poltergeist lag! Oder hatte er nur geträumt? Mitden Fingern tastete er die Stirn ab <strong>und</strong> stellte fest, dass er direktunter dem Haaransatz eine dicke Beule hatte. Er hatte also nichtgeträumt. Vorsichtig beugte er sich über die Bettkante <strong>und</strong>spähte unters Bett. Nichts! Ludwig atmete auf. Doch als er aufseinen Wecker schaute, entdeckte er auf dem Nachtschrankeinen Zettel.»Hallo Ludwig!« – stand darauf. »Ich hole dich heute Abendum elf Uhr ab. Rums.« Ludwig erschrak. Gestern Nacht hatte ervielleicht Glück gehabt. Heute ging es ihm bestimmt an denKragen. Ludwig zog sich an <strong>und</strong> lief hinunter in die Küche. DieEltern saßen schon am Frühstückstisch. »Was machst du dennfür ein besorgtes Gesicht?« wollte seine Mutter wissen <strong>und</strong> siegoss ihm eine Tasse Kakao ein. »Ach nichts!« sagte Ludwig.»Sag mal, was ist denn das für eine Beule?« fragte sie <strong>und</strong> strichihm über die Stirn. Ludwig zog seinen Kopf weg. »Ich bin ausdem Bett gefallen«, brummte er. Er konnte ihnen unmöglich vonRums erzählen. Sie würden sagen, er habe zuviel ferngesehen.»Soso!« sagte der Vater. »Na, deine Ferien fangen ja gut an!«»Das kannst du laut sagen«, dachte Ludwig <strong>und</strong> stand auf.Er holte sein Skateboard aus der Garage <strong>und</strong> ging hinaus aufdie Straße. Aber das Skateboardfahren wollte ihm keinenrechten Spaß machen. Er musste ständig an heute abend denken<strong>und</strong> daran, dass er Rums ein Versprechen gegeben hatte.Gleichzeitig überlegte er ununterbrochen, wie er es verhindernkonnte, dass der Poltergeist ihn um elf Uhr abholte. »Und wennich einfach nicht da bin?« dachte Ludwig plötzlich. »Wenn ichmich verstecke, so dass sie mich gar nicht findet?« Ludwigbeschloss, dass das zwar keine besonders anständige, aber-30-


<strong>zum</strong>indest eine Notlösung war.Um zehn Uhr sagte er den Eltern Gute Nacht <strong>und</strong> verzog sichin sein Zimmer. Um viertel vor elf kletterte er aus dem Fenster<strong>und</strong> versteckte sich im Gartenhäuschen. Sorgfältig verriegelte erdie Tür von innen. Dann setzte er sich auf Vaters Rasenmäher<strong>und</strong> wartete. Bis zwölf Uhr wollte er hier hocken bleiben.Solange würde Rums sicherlich nicht auf ihn warten. Von derKirchturmuhr schlug es elf. Ludwig lauschte in die Dunkelheitdes Gartens hinaus. Der H<strong>und</strong> des Nachbarn schlug an. Sonstwar kein Geräusch zu hören. Doch plötzlich knackte <strong>und</strong>raschelte es hinter dem Rasenmäher. Mäuse? Ludwig griff nachseiner Taschenlampe <strong>und</strong> leuchtete hinter sich den Raum ab. Dastand Rums. Sie blinzelte im Strahl der Taschenlampe <strong>und</strong>grinste. Über ihren Schultern hing der graue Mantel, den sie amAbend zuvor auf dem Schoß gehalten hatte. In ihren Händenhielt sie einen zweiten Mantel. »Einen schönen guten Abend!«sagte sie <strong>und</strong> setzte sich auf die Werkzeugbank. »Nein!« riefLudwig total überrascht. Wie, um alles in der Welt, war siehereingekommen? »B-bist du durch die Wand gekommen?«»Nee, durchs Fenster!« sagte Rums mit herablassenderStimme.Das Fenster! Wie hatte er das bloß vergessen können. DerVater lehnte es meistens nur an, damit die Luft imGartenhäuschen nicht stickig wurde. »Ein nettes Plätzchen hastdu dir da ausgesucht«, brummte Rums <strong>und</strong> sah sich um. »Iiichbin gern abends hier«, stotterte Ludwig. »Ddda hat man seineRuhe!« Rums sprang von der Werkzeugbank. »Wollen wir?«fragte sie mit wildem Blick. »Äh, ich weiß nicht, wohin denn,eigentlich muss ich ins Bett!«»Quatsch Bett!« rief Rums <strong>und</strong> hielt ihm den Mantel hin.»Wir müssen ins Schloss, nicht ins Bett! Es gibt allerdings nochein Problem«, fügte sie nachdenklich hinzu. Ein Problem?Ludwig starrte sie an. Schon allein dass sie da war, war einProblem. Und er wusste ja noch nicht einmal, was sie mit ihm-31-


vorhatte. Ludwig fühlte sich h<strong>und</strong>eelend.»Pass auf!« sagte Rums. »Heute ist Polterabend im Schloss.«»Eine Hochzeit?« rief Ludwig verblüfft. Er kannte diesenAusdruck nur von Hochzeiten. Rums schüttelte den Kopf. »Beiuns Poltergeistern gibt es einmal im Monat so einen Polterabendim Schloss. Der Ältestenrat bestimmt dann, welcher Poltergeistsich auch wirklich Poltergeist nennen darf.«»Verstehe ich nicht«, gab Ludwig ehrlich zu. »Bist du dennnur ein halber Poltergeist?«»Das ist ein Schimpfwort!« Rums wurde sehr böse. Abergleich darauf hatte sie sich wieder beruhigt. »Egal. Vielwichtiger ist, dass du aussiehst wie ein richtiger Poltergeist,wenn wir zusammen dorthin gehen.«»Jetzt ist es dann also soweit«, dachte Ludwig erschrocken.»Jetzt wird sie mich zu einem von ihnen machen.« Und erzweifelte keine Sek<strong>und</strong>e daran, dass Rums jeden Momentirgendetwas Schreckliches mit ihm anstellen würde. Er hattesowas oft genug im Fernsehen gesehen. Auch in seinen Büchernstanden viele blutrünstige <strong>Geschichten</strong> über Poltergeister.»Was hast du denn jetzt mit mir vor?« Beinahe bleib ihm dieStimme weg. »Das weiß ich noch nicht«, gab Rums zu. »Ambesten, wir fangen mit den Haaren an.«-32-


Das SchlossRums legte ihren Mantel ab, Sie griff ins Regal <strong>und</strong> fischtenach einer Dose mit Holzleim. »Nein!« rief Ludwig entsetzt.»Ach komm!« brummte Rums, »das tut doch nicht weh!«Rums öffnete die Dose <strong>und</strong> bestrich Ludwigs Haare mit demHolzleim. Dann wuselte sie ihm mit ihren hageren Fingern solange im Haar herum, bis es nach allen Richtungen abstand.»Sehr schön!« sagte Rums zufrieden, »das kommt der Sacheschon näher. Jetzt brauchen wir Kreide für dein Gesicht.«»Kreide?« Ludwig verstand überhaupt nichts, Der Holzleimbegann, auf der Kopfhaut zu jucken. Sicherlich war das Zeugges<strong>und</strong>heitsschädlich. Und wahrscheinlich musste er sich dieHaare ganz kurz schneiden, wenn sie mit ihm fertig war, Wenner dann überhaupt noch lebte! Ludwig zitterte am ganzen Leib.Rums verrieb ein Stück Kreide in Ludwigs Gesicht. »Damitdu nicht so lebendig aussiehst«, erklärte sie. »Und jetzt wackelnicht so herum!« Ludwig schloss die Augen. »Über einessolltest du dir im Klaren sein«, sagte Rums sehr ernst. »DerAufenthalt im Schloss kann sehr gefährlich für dich werden.Mein Bruder hasst Menschen!« Ludwig sagte gar nichts mehr.Er hockte zusammengekauert auf dem Rasenmäher, sah aus wieder leibhaftige Tod <strong>und</strong> fühlte sich auch schon mehr tot alslebendig. Rums klopfte ihm fre<strong>und</strong>schaftlich auf die Schulter, sodass er nach vorn kippte. »Kopf hoch!« sagte sie aufmunternd.»Wenn das heute nacht gelingt, bin ich deine beste Fre<strong>und</strong>in,darauf kannst du Gift nehmen!« Ludwig wusste nicht, was heutenacht gelingen sollte. Er wusste nur, dass er kein Gift nehmenwürde. Ein wenig Mut fasste er dann aber doch. Rums hattegesagt, dass sie seine Fre<strong>und</strong>in sein wollte. Also musste ervielleicht doch nicht sterben?Wie sie kurz darauf <strong>zum</strong> Schloss gekommen waren, wusste ernicht zu sagen. Rums hatte ihm einfach den Mantel-33-


übergeworfen, ihn bei seiner Hand gefasst <strong>und</strong> schon standen sievor dem Schlossportal. Jetzt duckten sie sich hinter einniedriges, mit Efeu bewachsenes Mäuerchen. Die großeFreitreppe vor dem Portal war mit Laternen beleuchtet, Überalltummelten sich seltsame Gestalten in grauen Kapuzenmänteln.Sie standen in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sichoder gingen eiligen Schrittes die Treppe hinauf. Dabei gab esjedesmal ein klapperndes Geräusch, denn sie trugen altehölzerne Schuhe. Ludwig entdeckte, dass die Gestalten unterihren Mänteln seltsame Dinge verbargen. Er erkannte Ketten<strong>und</strong> Rasseln, eine Gestalt trug gar ein ganzes Sortiment Tellerunter dem Arm.»Sind das alles Poltergeister?« fragte er im Flüsterton. Rumsnickte. »Hab keine Angst«, sagte sie leise, »ich gebe schonAcht, dass dir nichts passiert.« Ludwig merkte, dass seine Angstvor Rums langsam nachließ. Trotzdem zitterte er am ganzenKörper. »Da hinten kommt mein Bruder!« flüsterte Rums.Ludwig spähte vorsichtig um den Mauervorsprung. Eine große,hagere Gestalt kam auf die Freitreppe zu, Rums’ Bruder hattelange Eisenketten am Arm hängen. Beim Näherkommen konnteLudwig sein Gesicht erkennen. Seine Augen waren schwar<strong>zum</strong>randet. Sein Blick war wild <strong>und</strong> entschlossen. Er hob dieNase <strong>und</strong> schnupperte in die Nachtluft. Dann verschwand erdurch das Portal. Ludwig lief ein kalter Schauer den Rückenherunter. »Das war Trampel«, flüsterte Rums <strong>und</strong> Ludwig hattedas Gefühl, dass selbst sie sich vor ihrem Bruder fürchtete.»Wenn du ihm in die Hände fällst, dann Prost Mahlzeit!«Ludwig schluckte. »Ist er – ist er so gefährlich?«»Er mag einfach überhaupt keine Menschen, das ist alles.«Drei weitere Gestalten näherten sich der Freitreppe. Siegingen sehr langsam <strong>und</strong> schlurfend. »Das ist der Ältestenrat«,sagte Rums <strong>und</strong> zog Ludwig tief in die Dunkelheit desMauervorsprungs. »Vor dem musst du heute abend poltern!«»Ich?« rief Ludwig heiser. Rums presste ihm die Hand auf-34-


den M<strong>und</strong>. Als die drei Gestalten im Portal verschw<strong>und</strong>enwaren, lockerte sie den Druck ihrer Hand. »Bist du verrückt?Der Ältestenrat darf am allerwenigsten wissen, dass ein Menschim Schloss ist!« Ludwig starrte sie an. Langsam rutschte er ander Mauer herunter auf den Po <strong>und</strong> blieb sitzen. »Ich willheim!« sagte er kleinlaut. »Nix da!« zischte Rums sehrenergisch. »Du musst für mich poltern, damit die mich endlichaus dem Schloss rauslassen!«»Wer, die?« fragte Ludwig. »Na, der Ältestenrat!«»Aber du bist doch gar nicht im Schloss! Du treibst dich dochüberall rum, sogar in meinem Zimmer!«»Aber ohne Erlaubnis. Ich hab dir doch schon gesagt, dass ichabgehauen bin.«»Und wenn wir heute abend poltern?« wollte Ludwig wissen.»Wenn du richtig oberpoltertoll Krach machst«, fügte Rumshinzu. »Dann darfst du dich frei in der Gegend herumbewegen,sonst nicht?«»Du hast es kapiert!« brummte Rums. »Warum polterst dudann nicht selbst?« fragte Ludwig wütend.Da wurde Rums Stimme auf einmal ganz traurig. »Weil meinBruder sagt, dass ich nicht gut genug bin. Ich bin schon dreimaldurch die Prüfung gefallen!« Ludwig seufzte. Rums sah ihnbittend an. »Im Schabernack-Treiben hab’ ich eine Einsgekriegt«, rief sie. »Im Aufsagen meines Stammbaums auch.Aber Poltern verabscheue ich echt. Ich kann’s einfach nicht,verstehst du?« Ludwig verstand das. Er war in der Schule auchkeine Leuchte. In Mathematik hatte er auf dem letzten Zeugnissogar eine Fünf gekriegt. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ichwerde dir helfen. Aber nur, wenn du mir versicherst, dass mirauch wirklich nichts passiert!«»Hab’ ich doch schon längst«, rief Rums mit strahlendenAugen. »Dann also los!«»Ja! Ja! Ja!« murmelte Ludwig <strong>und</strong> war dennoch sehr-35-


eunruhigt. »Dann also los.«-36-


Die PrüfungLudwig <strong>und</strong> Rums schlichen sich durchs dunkle Hauptportal.»Niemand wird dich unter dem Mantel vermuten«, flüsterteRums, »vertrau mir!« Ludwig hielt sich an ihrem Mantel fest.Nur ein paar Kerzen verbreiteten ein schummriges Licht. Siekamen in eine Halle, in der es modrig roch. Überall drängtensich Poltergeister in Gruppen zusammen. Sie sprachen irre viel<strong>und</strong> schnell. Ludwig konnte nicht ein einziges Wortaufschnappen. Einige Poltergeister drehten sich nach ihnen um<strong>und</strong> grüßten Rums. Ludwig blickte einfach auf den steinernenBoden <strong>und</strong> verbarg sich hinter Rums’ Rücken. Plötzlich löstesich eine Gestalt aus einer der Gruppen <strong>und</strong> kam auf sie zu.Ludwig sah kurz auf <strong>und</strong> erstarrte. Es war Trampel! Zielstrebigkam er ihnen entgegen. Rums wollte Ludwig an Trampelvorbeischieben, der aber hielt sie am Arm fest. »Na, kleinesSchwesterchen«, sagte er spöttisch, »du glaubst doch nicht etwa,dass du die Prüfung heute bestehst!«Ludwig zog seine Kapuze tief ins Gesicht. Ihm wurdeabwechselnd heiß <strong>und</strong> kalt. »Abwarten«, sagte Rums. »Warumso siegessicher?« fragte Trampel <strong>und</strong> verzog sein bleichesGesicht zu einem misstrauischen Grinsen. »Jetzt lass michdurch!« sagte Rums, »Ich bin gleich an der Reihe!« Sie wolltesich an ihm vorbeischieben, aber Trampel packte sie abermalsam Arm. »Eigenartig«, sagte er <strong>und</strong> konnte seinen Blick nichtvon Ludwig abwenden. »Findest du nicht auch, dass es hiernach Holzleim <strong>und</strong> Seife stinkt?«»Ich hab’ mich ausnahmsweise mal gewaschen«, sagte Rumsschnell. Trampel ließ ihren Arm los.Als Rums <strong>und</strong> Ludwig das Ende der Halle erreicht hatten,bemerkte Ludwig, dass Trampel ihnen immer noch hinterherblickte. »Er hat was gemerkt!« flüsterte er aufgeregt, »Hat ernicht«, versuchte ihn Rums zu beruhigen. »Hat er doch!«-37-


»Hat er nicht!« Am liebsten wäre Ludwig davongelaufen.Stattdessen schob ihn Rums durch eine geöffnete Tür in einengroßen Saal, der auch nur mit Kerzenlicht beleuchtet war.Ludwig hätte niemals gedacht, dass es so viele Poltergeister gab.Sie meisten von ihnen saßen auf langen Bänken oder Stühlen,schwiegen <strong>und</strong> schienen auf etwas Bedeutsames zu warten. Aufeinem Podest in der Mitte des Saals hockten drei Gestalten,Ludwig erkannte die Drei vom Ältestenrat.Plötzlich erzitterte die Saaldecke unter einem ungeheurenPoltern. Der Kronleuchter an der Decke begann, hin <strong>und</strong> her zuschwanken. Doch keiner der Anwesenden verzog eine Miene.Ludwig starrte mit offenem M<strong>und</strong> zur Saaldecke, aber Rumszog ihn zurück in die Halle. »Was war das? Ein Erdbeben?«»Pff!« sagte Rums geringschätzend. »Ein mittelmäßigerPolterauftritt. Komm, wir müssen nach oben!« Rums drängteLudwig über eine schmale Stiege in die obere Etage. Hier warder Krach fast unerträglich. Die beiden blieben vor der Türstehen, hinter der es so heftig polterte. »Wenn der da drin fertigist, bist du dran!« rief Rums. »Wie bitte?« schrie Ludwig. Erverstand kein Wort, so laut war es hier oben. »Gleich bist du ander Reihe«, brüllte Rums <strong>und</strong> zeigte auf die Tür. »Und deinBruder? Wird der auch hier oben sein?«»Keine Angst, der hört sich das Spektakel von unten an. Derhat die Prüfung schon vor ein paar Jahren bestanden!«Plötzlich brach das Poltern ab. »Jeder Prüfling hat zehnMinuten, um zu zeigen, was er kann«, raunte Rums Ludwig insOhr. »Verstecken wir uns hinter diesem Vorhang!« Ludwigspähte durch ein Mottenloch im Vorhang. Die Tür <strong>zum</strong>Prüfungsraum öffnete sich <strong>und</strong> ein junger Poltergeist huschte dieStiege hinunter. »Jetzt bist du dran!« sagte Rums.Als Ludwig den Raum betrat, holte er tief Luft. »Ist das eineTurnhalle?« fragte er verblüfft. Überall standen Geräte umher,wie man sie aus Sporthallen kennt. Böcke, ein Trampolin, eine-38-


Sprossenwand <strong>und</strong> Sprungbretter. Von der Decke hingen langeKletterseile. »Du kannst hier machen, was du willst«, sagteRums. »Hauptsache, du machst viel, viel Krach!« Und siewandte sich zur Tür. »Willst du mich etwa allein lassen?« riefLudwig erschrocken. »Ich gehe runter <strong>und</strong> verstecke michirgendwo im Saal«, sagte Rums, »Ich muss doch sehen, wie derÄltestenrat reagiert!« Da bekam es Ludwig mit der Angst zutun. »Ich will hier nicht allein bleiben!« rief er aufgeregt, »Ichweiß doch überhaupt nicht, wie man richtig Krach macht!«»Oh bitte, bitte, lieber Ludwig, lass mich jetzt nicht im Stich«,flüsterte Rums verzweifelt. »Ich bin schon dreimal durch diePrüfung gefallen <strong>und</strong> ich bin mir sicher, dass du es für michschaffen wirst!« Ludwig sah, wie Rums hinausrannte <strong>und</strong> dieTür hinter sich zuschlug. Er war allein. Allein mit all denTurngeräten.-39-


Trampel»Wie macht man Krach?« fragte sich Ludwig hilflos <strong>und</strong>wanderte durch den Raum. Er erinnerte sich, dass seine Mutteroft mit ihm geschimpft hatte, wenn er zu laut gewesen war. Aberjetzt, wo er Krach machen sollte, wollte ihm einfach nichteinfallen, wie das ging. Plötzlich hörte er ein Knarren von derTür. Ludwig sah, wie die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.Ob Rums wohl zurückkam, um ihm beim Poltern zu helfen?Wieder knarrte die Tür. »Rums?« rief Ludwig vorsichtig.Da schob sich eine Gestalt durch den Türspalt ins Zimmer.Aber es war nicht Rums. Es war Trampel! »Hab ich es mir dochgleich gedacht!« sagte Trampel mit scharfer Stimme <strong>und</strong> schlosshinter sich die Tür. »Klick«, machte es. Er drehte den Schlüsselherum <strong>und</strong> ließ ihn in seiner tiefen Manteltasche verschwinden.Er grinste Ludwig ziemlich böse an <strong>und</strong> machte einen Schrittauf ihn zu. Ludwig ging sofort ein Stück zurück. »Hier riecht’snach Seife«, sagte Trampel mit funkelnden Augen. »So riechtkein Poltergeist. So riechen Menschen. Ich mag überhaupt keineMenschen!« Ludwig hatte das Gefühl, als müsse er sich jedenMoment in die Hose machen. Er blickte sich um nach einerFluchtmöglichkeit. Der Raum war groß <strong>und</strong> hoch, hatte aberkein einziges Fenster.Rums hatte sich im großen Saal in der Menge versteckt. Wennso viele Poltergeister im Schloss versammelt waren, gab esmeistens ein Getrampel, das man bis in den Park hinaus hörte.Aber gerade in diesem Augenblick war es mucksmäuschenstillim Saal. In dem schummrigen Kerzenlicht sah Rums, dass alleAugen zur Saaldecke gerichtet waren. Spannung lag in der Luft.Die meisten wussten, dass Rums schon dreimal durch diePrüfung gefallen war. Rums zog die Kapuze ihres Mantels tiefins Gesicht <strong>und</strong> wartete. Entweder es glückte oder es glücktenicht. Aber Rums war fest davon überzeugt, dass Ludwig-40-


Poltertalent hatte. Schließlich hatte sie es gehört, als er ausseinem Kleiderschrank herausgepoltert war!Plötzlich begann der Kronleuchter an der Decke des Saals zuzittern. Ein kräftiges Poltern kam aus dem oberen Zimmer. Dannnahm das Krachen, Bumsen <strong>und</strong> Trampeln zu. »Ludwig poltertwie zwei Poltergeister auf einmal!« dachte Rums verblüfft. Undtatsächlich ging auch schon ein bew<strong>und</strong>erndes Raunen durchden Saal. Rums warf einen vorsichtigen Blick <strong>zum</strong> Ältestenrat.Die drei hageren Gestalten saßen mit offenen Mündern auf ihrenStühlen <strong>und</strong> staunten. Der Kronleuchter an der Saaldeckeschwang bereits so heftig hin <strong>und</strong> er, dass er jeden Augenblickherunterkrachen würde. »Das ist nicht möglich!« dachte Rums,»so laut kann niemand poltern!« Und plötzlich hatte Rums einenschlimmen Verdacht. Sie bahnte sich einen Weg durch diestaunende Menge <strong>und</strong> lief zur Tür. Von hier aus konnte sie dieStuhlreihen sehen, auf denen ganz besonders talentiertePoltergeister ihren Stammplatz eingenommen hatten. Ein Stuhlwar nicht besetzt. Es war Trampels Platz, wie sie es vermutethatte!»Verdammter Mist!« Wie der Blitz verließ Rums den Saal<strong>und</strong> rannte die Stiege hinauf <strong>zum</strong> Prüfungsraum. Und dabeihatte sie Ludwig doch versprochen, dass Trampel nicht hier seinwürde, dass ihm nichts geschehen konnte, weil sie auf ihnaufpasste! Von unten aus dem Saal hörte sie Gratulation <strong>und</strong>Geschrei. Der Ältestenrat war begeistert.Rums hatte schon richtig gehört. So konnte einfach niemandallein poltern. Ludwig rannte, sprang, hopste über alleTurngeräte <strong>und</strong> Trampel verfolgte ihn ohne Mitleid. Ludwigrannte um sein Leben, aber er wusste nicht, wie lange er dieVerfolgungsjagd noch aushalten würde. Doch dann geschahetwas, womit Ludwig nicht gerechnet hatte. Er war mit letzterKraft ein Seil hinaufgeklettert. Jetzt hing er ganz oben unter derDecke <strong>und</strong> sah, wie Trampel ihm nachkletterte. Schon war erzwei Meter unter ihm <strong>und</strong> versuchte, nach seinen Füßen zu-41-


greifen. Mutig hangelte sich Ludwig <strong>zum</strong> nächsten Seil hinüber,ließ das erste los <strong>und</strong> rutschte, so schneit er konnte, hinab <strong>zum</strong>Boden. Er war völlig erschöpft. Er wusste nicht mehr, wohin erfliehen sollte. Da sah er plötzlich am Boden Trampels Mantelliegen. Er musste ihn dort verloren haben, Ludwig sah hinauf zudem wild dreinblickenden Poltergeist, der direkt unter der Deckeam Seil hing <strong>und</strong> sich festklammerte. Das Seil schwang hin <strong>und</strong>her.Ludwig griff nach Trampels Mantel. Dort, tief in der Tasche,musste sich der Zimmerschlüssel befinden. »Wirf mir meinenMantel hoch!« rief Trampel mit scharfer Stimme. »Hot ihn dir«,sagte Ludwig <strong>und</strong> verstand nicht, wieso Trampel nicht schonlängst heruntergeklettert war, »Gib mir meinen Mantel!« sagteTrampel wieder, Aber diesmal klang seine Stimme bittend, jafast ein wenig ängstlich. Ludwig starrte nach oben. Und jetztbegriff er, dass Trampel nicht herunterkommen konnte. Inseinen Augen lag Angst! »Das gibt’s doch nicht!« dachteLudwig erstaunt. »Der starke Trampel klettert ein Seil hinauf<strong>und</strong> traut sich nicht wieder herunter?«Es klopfte wild an der Zimmertür. »Ludwig, ich bin es!« hörteer Rums rufen. Ludwig griff in die Manteltasche <strong>und</strong> zog denSchlüssel heraus. Schnell lief er zur Tür <strong>und</strong> öffnete sie. Dastand Rums <strong>und</strong> sah ihn erschrocken an. »Ist Trampel etwahier?« Sie blickte sich im Zimmer um. »Ich habe ihn nämlichunten nicht gesehen, <strong>und</strong> da habe ich schon das Schlimmstebefürchtet!« Ludwig deutete mit dem Finger unter dieZimmerdecke. »Da oben hängt er!« Rums glaubte, ihren Augennicht zu trauen. »Er will seinen Mantel«, flüsterte Ludwig <strong>und</strong>hielt Trampels Mantel fest umklammert. Jetzt begriff auchRums, was geschehen war. »Er traut sich nicht runter«, lachtesie, »mein starker Bruder traut sich nicht runter!« Aber plötzlichwurde sie ernst. »Hat er dir etwas getan?« Ludwig schüttelte denKopf. »Noch nicht!«-42-


Rums nickte. Sie lief <strong>zum</strong> Seilende, das langsam hin <strong>und</strong> herschwankte <strong>und</strong> verschränkte die Arme. »Wie geht’s denn daoben?«»Pah!« rief Trampel. »Pah!«»Dein Glück«, sagte Rums, »dass meinem Fre<strong>und</strong> nichtspassiert ist!«»Dein Fre<strong>und</strong>!« rief Trampel ärgerlich. »Dein Fre<strong>und</strong> ist einMensch. Du hast getrickst. Ich hoffe, du hast die Prüfung nichtbestanden!«»Doch!« rief Rums stolz. »Und zwar mit Auszeichnung!«»Pah!« sagte Trampel wieder. »Das werde ich demÄltestenrat sagen!«»Wirst du nicht!« sagte Rums, »es sei denn, du willst ewig daoben bleiben.«»Gib mir meinen Mantel«, jammerte Trampel, »ich kann michkaum noch festhalten!«»Schwöre, dass du nichts verraten wirst!« Trampel zögerte.»Oder willst du, dass ich allen erzähle, was für ein Angsthase dubist?« Trampel brummte irgendetwas vor sich hin. »Wie bitte?«schrie Rums. Ludwig musste kichern. »Ich schwöre!« sagteTrampel. »Und jetzt gib mir meinen Mantel!«Triumphierend wandte sich Rums an Ludwig. »Er braucht denMantel, um sich runterzuwünschen. Du weißt doch, dass mansich mit dem Mantel überall hinwünschen kann. Warum hast dudeinen nicht benutzt?«»Ich hatte es völlig vergessen!« sagte Ludwig verwirrt.»Komm«, sagte Rums <strong>und</strong> legte ihren Arm um LudwigsSchultern. »Ich bringe dich heim! Und der da oben kann warten,bis ich zurück bin.«Kurz darauf saßen Rums <strong>und</strong> Ludwig auf dem Bett inLudwigs Zimmer. Ludwig kniff die Augen zusammen. »Dasging aber schnell!« seufzte er, »Mit dem Mantel geht alles«,-43-


erklärte Rums. »Ich werde ihn dir hier lassen. Als Geschenk. Ichbin so froh, dass du die Prüfung für mich bestanden hast! VielenDank!« Und sie umarmte Ludwig. Ludwig wurde ganz verlegen.»Also eigentlich hast du die Prüfung wegen Trampelbestanden«, murmelte er. »Ohne ihn hätte ich niemals sovielKrach gemacht!« Rums lachte. »Sehe ich dich wieder?« fragteLudwig. Eigentlich fand er es schade, dass Rums nicht bei ihmbleiben konnte. Rums hüllte sich in ihren Mantel <strong>und</strong> zwinkerteihm zu.»Jemand, der mir so viel geholfen hat, der hat noch etwas gutbei mir!« Und dann war sie verschw<strong>und</strong>en.-44-


Kapitel 3<strong>Geschichten</strong> <strong>zum</strong> Ges<strong>und</strong>werden-45-


Das schiefe BärchenOma Plotterbeck verdiente sich etwas Geld dazu, indem sie inihrem kleinen Lädchen selbstgemachte Teddybären verkaufte.Doch eines Tages arbeitete sie an einem, der sich nicht so richtigfertig stellen lassen wollte. Beim Ausstopfen drehte er sichimmer hin <strong>und</strong> her. Beim Annähen von Ohren, Augen, Nase <strong>und</strong>M<strong>und</strong> verrutschte immer wieder die Nadel, so dass alles einwenig schief saß. Sogar die Arme <strong>und</strong> die Beine standen einbisschen schief in die Gegend. Dadurch, dass nichts an derrichtigen Stelle saß, sah das kleine Bärchen ziemlich komischaus.»Oh je, den werde ich wohl nicht mehr verkaufen können«,dachte Oma Plotterbeck. Trotzdem setzte sie ihn zu den anderengut gelungenen Bären auf das Regal. Aber dort fiel nur nochmehr auf, dass er eigentlich ziemlich misslungen war, Sie wollteihn gerade wieder herunternehmen <strong>und</strong> fortwerfen, als einkleines Mädchen schüchtern ihren Laden betrat.»Guten Tag«, sagte sie leise. »Ich würde sehr gerne einenkleinen Teddybären kaufen. Ich habe aber nur vier Mark. Kannich dafür einen haben?«»Aber sicher«, freute sich Oma Plotterbeck. »Ich denke, dahabe ich zufällig genau den richtigen für dich!« Sie zeigte demkleinen Mädchen das schiefe Bärchen, das lustig mit seinenschiefen Ärmchen <strong>und</strong> seinen Beinchen hin- <strong>und</strong> herwackelte.Das Mädchen war begeistert <strong>und</strong> kaufte den Bären. Siedrückte ihn fest in ihre Arme <strong>und</strong> lief dann ganz schnell nachHause. Er war doch viel schöner als all die anderen, die da sogerade in einer Reihe gesessen hatten <strong>und</strong> einer wie der andereaussahen. Sie hatte sich wirklich den schönsten Bären auf derganzen Welt gekauft!-46-


Der kleine Hase FridolinEs war einmal ein kleiner Hase namens Fridolin, der wohntemit seinen Eltern <strong>und</strong> seinen sechs Brüdern in einer gemütlichenHasenhöhle in der Nähe des Flusses. Fridolin war das jüngsteder sieben Hasenkinder <strong>und</strong> somit auch das kleinste. JedenMorgen lief er als erstes <strong>zum</strong> Spiegel <strong>und</strong> schaute nach, ob seineOhren wieder ein Stück größer geworden waren. Doch es tatsich nichts, Fridolins Ohren blieben immer kleiner als die seinerGeschwister. Darüber war der kleine Hase sehr betrübt <strong>und</strong>probierte alles Mögliche aus, um die Ohren größer werden zulassen, Doch es half nichts, Fridolin blieb ein Kurzohrhase.Die anderen Hasenkinder ärgerten Fridolin <strong>und</strong> sagten, manmüsse nur fest genug an seinen Ohren ziehen, dann würden siebestimmt länger werden. Und so zogen sie den kleinen Hasenbei jeder Gelegenheit an den Ohren <strong>und</strong> hänselten ihn.Eines Tages nun aber ging Fridolin in den Wald, um seinenFre<strong>und</strong>, das Streifenhörnchen, zu besuchen. Die Mutter sagte,als er losging: »Pass ja auf, dass der Fuchs dich nicht fängt!«Fridolin versprach es <strong>und</strong> machte sich auf den Weg. Den ganzenNachmittag spielten Fridolin <strong>und</strong> das Streifenhörnchen nunVerstecken, Als es schon dunkel wurde, sagte Fridolin: »Nurnoch eine R<strong>und</strong>e, dann muss ich nach Hause.« Also versteckteer sich hinter den Wildrosen. Plötzlich raschelte es im Gestrüpp<strong>und</strong> der Fuchs pirschte sich wachsam näher. Er schnupperte <strong>und</strong>wusste sofort, dass ganz in der Nähe ein Hase sein musste. DochFridolin legte seine kleinen Ohren an, so dass der Fuchs ihnnicht entdecken konnte. Das Streifenhörnchen aber ahnte dieGefahr, raschelte ein Stück weiter weg im Gebüsch <strong>und</strong> lenkteso den Fuchs auf eine falsche Fährte. Als dieser näher kam,kletterte es geschwind auf einen Baum <strong>und</strong> machte ihm vonoben freche Grimassen. Fridolin aber war längst schon wieder inder Höhle am Fluss <strong>und</strong> von diesem Tag an hat er sich nie-47-


wieder über seine kleinen Ohren beschwert.-48-


Das Glühwürmchen <strong>und</strong> der kleineZwergZwerg Willibald ging durch den Wald, um Kräuter zusammeln. Zwerge tun das, damit sie Medizin für kranke Tieremachen können. Willibald war ein fleißiger Zwerg <strong>und</strong> hatteschon jede Menge Kräuter gesammelt, als es plötzlich zu regnenanfing. Willibald legte sich unter einen Fliegenpilz <strong>und</strong> fing an,die Wurzel zu essen, die er sich als Wegzehrung mitgenommenhatte.Es regnete sehr lange <strong>und</strong> Willibald aß alles auf einmal auf.Vom Essen müde geworden, schloss er die Augen <strong>und</strong> schliefein. Als er wieder aufwachte, war es bereits dunkel geworden<strong>und</strong> Willibald musste sich beeilen, um nach Hause zu kommen.Mit seinem letzten Streichholz zündete er seine Laterne an <strong>und</strong>lief los. Unglücklicherweise stolperte der kleine Zwerg <strong>und</strong>seine Laterne erlosch. Nun saß da der Zwerg mitten im Wald<strong>und</strong> wusste nicht mehr, wie er nach Hause kommen sollte. Dahörte er ganz in der Nähe das Rufen einer Eule. Willibald brüllteso laut er nur konnte: »Hallo Eule, bitte hilf mir, bitte hilf mir.«Da Eulen nicht nur gut hören, sondern auch nachts hervorragendsehen können, hatte sie den kleinen Zwerg bald entdeckt. AlsWillibald ihr von seinem Missgeschick erzählte, versprach sieihm zu helfen. Sie flog davon <strong>und</strong> kam nach kurzer Zeit miteinem Glühwürmchen wieder.Für den kleinen Glühwurm war es eine Ehre, dem Zwerghelfen zu können <strong>und</strong> so kletterte es in seine Laterne <strong>und</strong>leuchtete ihm auf seinem Heimweg.-49-


Der alte ZarEs war einmal ein alter Zar, der wurde krank <strong>und</strong> glaubteniemandem, dass er mit dem Leben davonkäme. Er hatte aberdrei Söhne, die waren darüber betrübt <strong>und</strong> gingen hinunter inden Schlossgarten <strong>und</strong> weinten. Da begegnete ihnen ein alterMann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Da erzählten sie, ihrVater wäre so krank, dass er wohl sterben müsse, nichts wolleihm helfen. Der Alte sprach: »Ich weiß ein Mittel, das ist dasWasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wiederges<strong>und</strong>. Es ist aber schwer zu finden.« Da sagte der älteste Sohn:»Ich will es schon finden«, ging zu dem kranken Vater <strong>und</strong> batihn, er möchte ihm erlauben auszuziehen <strong>und</strong> das Wasser desLebens zu suchen, das ihn allein heilen könne. »Nein«, sprachder Zar, »dabei sind zu große Gefahren; lieber will ich sterben.«Er bat aber so lange, bis es der Vater ihm erlaubte. DerZarensohn dachte auch in seinem Herzen: »Hol ich das Wasser,so bin ich meinem Vater der Liebste <strong>und</strong> erbe das Reich.«Also machte er sich auf <strong>und</strong> als er eine Zeit lang fortgerittenwar, stand da ein Zwerg auf dem Weg, der rief ihn an <strong>und</strong>sprach: »Wohin so geschwind?« – »Du Knirps,« sagte derZarensohn ganz stolz, »das brauchst du nicht zu wissen.« <strong>und</strong>ritt weiter. Das kleine Männchen aber war zornig geworden <strong>und</strong>hatte einen bösen Wunsch getan. Als nun der Zarensohn fortritt,kam er in eine tiefe Bergschlucht <strong>und</strong> je weiter er kam, destoenger taten sich die Berge zusammen. Schließlich war der Wegso eng, dass er keinen Schritt weiter konnte <strong>und</strong> auch das Pferdkonnte er nicht wenden. Er selber konnte nicht absteigen <strong>und</strong>musste da eingesperrt stehen bleiben. Indessen wartete derkranke Zar auf ihn, aber er kam nicht <strong>und</strong> kam nicht.Da sagte der zweite Zarensohn: »So will ich ausziehen <strong>und</strong>das Wasser suchen.« Er dachte bei sich: »Das ist mir eben recht,denn ist mein Bruder tot, so fällt das Reich mir zu.« Der Zar-50-


wollte anfangs auch ihn nicht ziehen lassen, musste es aberschließlich doch zulassen. Der Zarensohn zog also gleichenWeges fort <strong>und</strong> begegnete demselben Zwerg, der hielt ihnwieder an <strong>und</strong> fragte: »Wohin so geschwind?« – »Du Knirps,«sagte der hochmütige Zarensohn, »das brauchst du nicht zuwissen.« <strong>und</strong> ritt in seinem Stolz fort. Aber der Zwergverwünschte ihn <strong>und</strong> er geriet wie der andere auch in eineBergschlucht <strong>und</strong> konnte nicht vorwärts <strong>und</strong> rückwärts. Sogeht’s aber den Hochmütigen.Wie nun auch der zweite Zarensohn ausblieb, sagte derjüngste, er wolle ausziehen <strong>und</strong> das Wasser holen <strong>und</strong> der Vatermusste auch ihn endlich gehen lassen. Wie er nun dem Zwergauf dem Weg begegnete <strong>und</strong> der fragte: »Wohin so geschwind?«antwortete er ihm: »Ich suche das Wasser des Lebens, weil meinVater todkrank ist.« – »Weißt du denn, wo es zu finden ist?« –»Nein«, sagte der Zarensohn bekümmert. »So will ich es dirsagen, weil du mir eine ordentliche Antwort gegeben hast. Esquillt aus einem Brunnen, in einem verwunschenen Schloss <strong>und</strong>damit du dorthin gelangst, gebe ich dir eine eiserne Rute <strong>und</strong>zwei Laib Brot. Mit der Rute schlage dreimal an das eiserne Tordes Schlosses, so wird es aufspringen. Innen werden dann zweiLöwen liegen <strong>und</strong> den Rachen aufsperren, wenn du ihnen aberdas Brot hineinwirfst, wirst du sie stillen. Dann beeile dich <strong>und</strong>hol von dem Wasser des Lebens, ehe es zwölf schlägt, sonstgeht das Tor wieder zu <strong>und</strong> du bist eingesperrt.«Da dankte ihm der Zarensohn <strong>und</strong> nahm die Rute <strong>und</strong> dasBrot, ging hin <strong>und</strong> alles war so, wie der Zwerg es gesagt hatte.Als die Löwen besänftigt waren, ging er in das Schloss hinein<strong>und</strong> fand einen schönen großen Saal. Darin waren verwunscheneZarensöhne, denen zog er die Ringe ab. Dann nahm er einSchwert <strong>und</strong> ein Brot, die da lagen. Und weiter kam er in einZimmer, darin war eine Prinzessin, die freute sich, als sie ihnsah, küsste ihn <strong>und</strong> sagte, er habe sie erlöst <strong>und</strong> solle ihr ganzesReich haben. In einem Jahr solle er kommen <strong>und</strong> die Hochzeit-51-


mit ihr feiern. Dann sagte sie ihm auch noch, wo der Brunnenmit dem Lebenswasser sei, er müsse sich aber beeilen <strong>und</strong>daraus schöpfen, ehe es zwölf schlage. Da ging er weiter <strong>und</strong>kam endlich in ein Zimmer, darin stand ein schönes, frischgedecktes Bett <strong>und</strong> weil er müde war, wollte er sich erst einwenig ausruhen. Also legte er sich hin <strong>und</strong> schlief ein. Als eraber erwachte, schlug es drei Viertel auf Zwölf. Da sprang erganz erschrocken auf, lief zu dem Brunnen <strong>und</strong> schöpfte sicheinen Becher voll, der daneben stand. Dann machte er, dass erfortkam.Wie er eben <strong>zum</strong> eisernen Tor hinausging, da schlug’s zwölf<strong>und</strong> das Tor fuhr so heftig zu, dass es ihm noch ein Stück vonder Ferse wegnahm. Er aber war froh, dass er das Wasser desLebens hatte <strong>und</strong> ging heimwärts <strong>und</strong> wieder an dem Zwergvorbei. Als dieser das Schwert <strong>und</strong> das Brot sah, sprach er:»Damit hast du großes Gut gewonnen, mit dem Schwert kannstdu ganze Heere schlagen, das Brot aber wird niemals alle.« Dadachte der Zarensohn, ohne seine Brüder wolle er nicht <strong>zum</strong>Vater nach Hause kommen <strong>und</strong> sprach: »Lieber Zwerg, kannstdu mir nicht sagen, wo meine zwei Brüder sind? Die sind vormir ausgezogen, um das Wasser des Lebens zu finden <strong>und</strong> sindnicht wiedergekommen.«»Zwischen zwei Bergen sind sie eingeschlossen«, sprach derZwerg, »dahin habe ich sie verwünscht. weil sie so übermütigwaren.« Da bat der junge Zarensohn so lange, bis sie der Zwergwieder losließ, aber er sprach noch: »Hüte dich vor ihnen, dennsie haben ein böses Herz!«Wie sie nun kamen, da freute er sich <strong>und</strong> erzählte ihnen, wiees ihm ergangen war, dass er das Wasser des Lebens gef<strong>und</strong>en,einen Becher voll mitgenommen <strong>und</strong> eine schöne Prinzessinerlöst habe, Die wollte ein Jahr lang auf ihn warten, dann sollteHochzeit gehalten werden <strong>und</strong> er bekäme ein großes Reich.Danach ritten sie zusammen fort <strong>und</strong> gerieten in ein Land, woHunger <strong>und</strong> Krieg waren <strong>und</strong> der Fürst glaubte schon, er würde-52-


an der Not zu Gr<strong>und</strong>e gehen. Da ging der Zarensohn zu ihm, gabihm das Brot <strong>und</strong> damit speiste <strong>und</strong> sättigte er sein ganzesReich. Dann gab ihm der Zarensohn auch noch das Schwert <strong>und</strong>damit schlug er die Heere seiner Feinde <strong>und</strong> konnte nun in Ruhe<strong>und</strong> Frieden leben. Da nahm der Zarensohn sein Brot <strong>und</strong> seinSchwert wieder zurück <strong>und</strong> die drei Brüder ritten weiter; siekamen aber noch in zwei Länder, wo Hunger <strong>und</strong> Kriegherrschte <strong>und</strong> da gab der Zarensohn den Fürsten jedesmal seinBrot <strong>und</strong> sein Schwert <strong>und</strong> so hatte er schließlich drei Reichegerettet.Danach setzten sie sich auf ein Schiff <strong>und</strong> fuhren übers Meer.Während der Fahrt sprachen die beiden ältesten Söhne untersich: »Der jüngste hat das Wasser gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> wir nicht. Dafürwird ihm unser Vater das Reich geben, das uns gebührt <strong>und</strong> erwird uns unser Glück wegnehmen.« Da wurden sie rachsüchtig<strong>und</strong> verabredeten, dass sie ihn überlisten wollten. Sie wartetenaber, bis er einmal fest eingeschlafen war, dann gossen sie dasWasser des Lebens aus dem Becher <strong>und</strong> nahmen es an sich; ihmaber gossen sie bitteres Meerwasser hinein.Als sie nun daheim ankamen, brachte der jüngste demkranken Vater seinen Becher, damit er daraus trinken <strong>und</strong>ges<strong>und</strong> werden sollte. Kaum aber hatte er ein wenig von dembitteren Meerwasser getrunken, da wurde er noch kränker alszuvor. Und wie er darüber jammerte, kamen die beiden ältestenSöhne. Sie klagten den jüngsten an <strong>und</strong> sagten, er habe ihnvergiften wollen. Sie aber hätten das rechte Wasser des Lebensgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mitgebracht, worauf sie es dem Zar reichten. Undkaum hatte er davon getrunken, so fühlte er, dass seineKrankheit schwand <strong>und</strong> er wieder stark <strong>und</strong> ges<strong>und</strong> wurde, wiein jungen Jahren. Danach gingen die beiden zu dem jüngstenSohn, machten sich über ihn lustig <strong>und</strong> sagten: »Nun, hast dudas Wasser des Lebens gef<strong>und</strong>en? Du hast die Mühe gehabt <strong>und</strong>wir den Lohn. Du hättest besser aufpassen sollen, denn wirhaben es dir genommen, als du auf dem Meer eingeschlafen-53-


warst. Nach einem Jahr holt sich einer von uns deine schönePrinzessin, aber wage es ja nicht, dem Vater davon zu erzählen.Er glaubt dir ja doch nicht <strong>und</strong> wenn du ein Wort sagst, dannwirst du dein Leben verlieren. Schweigst du aber, so soll es dirgeschenkt sein.«Der alte Zar aber war zornig über seinen jüngsten Sohn <strong>und</strong>glaubte, dieser habe ihm nach dem Leben getrachtet. Also ließer den Hof versammeln <strong>und</strong> ein Urteil fällen, das besagte, dassder jüngste Zarensohn heimlich erschossen werden sollte. Alsder Zarensohn nun einmal auf die Jagd ritt, musste des ZarenJäger mitgehen. Als sie ganz allein draußen im Wald waren <strong>und</strong>der Jäger so traurig aussah, sagte der Zarensohn zu ihm: »LieberJäger, was fehlt dir?« Und der Jäger sprach: »Ich kann es dirnicht sagen <strong>und</strong> sollte es doch.« Da sprach der Zarensohn: »Sages nur frei heraus, was es ist, ich will dir verzeihen.«»Ach«, sagte der Jäger, »ich soll Euch totschießen, der Zar hates mir befohlen.« Da erschrak der Zarensohn <strong>und</strong> sprach:»Lieber Jäger, lass mich leben, ich gebe dir mein kostbaresGewand, gib du mir dafür dein schlechtes.« Der Jäger sagte:»Das will ich gerne tun, ich hätte doch nicht nach Euch schießenkönnen.« Da nahm der Jäger die Kleider des Zarensohnes <strong>und</strong>der Zarensohn die Kleider des Jägers <strong>und</strong> ging fort in den Waldhinein.Nach einer Weile, da kamen beim alten Zaren drei Wagen mitGeschenken, Gold <strong>und</strong> Edelsteinen für den jüngsten Sohn an.Sie waren von den drei Fürsten geschickt, denen der Zarensohndas Schwert <strong>und</strong> das Brot geliehen hatte, womit sie die Feindegeschlagen <strong>und</strong> ihr Land ernährt hatten. Das ging dem altenZaren zu Herzen <strong>und</strong> dachte, sein Sohn könnte doch unschuldiggewesen sein. Er sprach zu seinen Leuten: »Ach, wäre er nocham Leben, es tut mir herzlich leid, dass ich ihn habe tötenlassen.«»So habe ich ja Recht getan«, sprach der Jäger, »ich habe ihnnicht erschießen können.« Und er erzählte dem Zaren, wie es-54-


zugegangen war. Da war der Zar froh <strong>und</strong> ließ im ganzen Reichbekannt machen, sein Sohn solle wieder nach Hause kommen, erwerde ihn in Gnaden aufnehmen.Die Prinzessin aber ließ eine Straße vor ihrem Schloss bauen,die war ganz golden <strong>und</strong> glänzend. Sie sagte ihren Leuten, werdarauf zu ihr geritten käme, das wäre der Richtige <strong>und</strong> densollten sie einlassen. Derjenige aber, der neben der Straßeeinherkäme, wäre nicht der Richtige <strong>und</strong> den sollten sie auchnicht hereinlassen. Als nun die Zeit bald um war, dachte derÄlteste, er wolle sich eilen, um zur Prinzessin zu gehen <strong>und</strong> sichals ihr Erlöser ausgeben, denn dann bekäme er sie zur Gemahlin<strong>und</strong> das Reich dazu. Also ritt er fort. Als er vor das Schloss kam<strong>und</strong> die schöne goldene Straße sah, dachte er, das seijammerschade darauf zu reiten, lenkte ab <strong>und</strong> ritt rechtsnebenher. Als er vor das Tor kam, sagten die Leute zu ihm, erwäre nicht der Richtige <strong>und</strong> sollte wieder fortgehen. Bald daraufmachte sich der zweite Zarensohn auf den Weg. Als er zurgoldenen Straße kam <strong>und</strong> das Pferd schon einen Fuß daraufgesetzt hatte, dachte er, da darfst du nicht drüber reiten. Erlenkte ab <strong>und</strong> ritt links nebenher. Als er vor’s Tor kam, sagtendie Leute auch zu ihm, er sei nicht der Richtige <strong>und</strong> sollefortreiten. Als nun das Jahr um war, wollte der dritte Zarensohnaus dem Wald zu seiner Liebsten reiten <strong>und</strong> bei ihr sein Leidvergessen. Also machte er sich auf den Weg <strong>und</strong> dachte immeran sie <strong>und</strong> bemerkte so die goldene Straße gar nicht. Er ritt mitseinem Pferd mitten darüber <strong>und</strong> als er vor das Tor kam, wurdees aufgetan <strong>und</strong> die Prinzessin empfing ihn mit Freuden. Ersagte, er sei ihr Erlöser <strong>und</strong> der Herr des Reiches. Es wurdeHochzeit gehalten <strong>und</strong> es herrschte große Freude im ganzenReich.Als die Hochzeit vorbei war, erzählte die Prinzessin demZarensohn, dass der alte Zar ihm verziehen habe. Da ritt er hin<strong>und</strong> sagte seinem Vater alles, wie seine Brüder ihn betrogen <strong>und</strong>er doch dazu geschwiegen habe. Der alte Zar wollte die Brüder-55-


strafen, aber sie hatten sich mit Schiffen über das Meer aus demStaub gemacht <strong>und</strong> kehrten nie wieder.-56-


Die Geschichte von dem kleinen Biber,der Zahnschmerzen hatteUnten am Fluss lebte einmal ein kleiner Biber namens Otto.Otto hatte schon seit Tagen furchtbare Zahnschmerzen. Erkonnte gar nicht mehr an Bäumen nagen oder kleine Äste imM<strong>und</strong> knirschen lassen. Bei jedem Bissen tat der böse Zahn soweh, dass Otto es bis in die linke Hinterpfote spürte.Die Bibermutter gab ihrem Jüngsten eine kleine Gewürznelke,die er zerkauen sollte. »Nelken helfen bei Zahnschmerzen«,sagte die Mutter zu Otto. Also kaute Otto den ganzenNachmittag auf der Nelke herum, doch die Zahnschmerzenwurden nicht besser. Als ihm auch noch übel wurde, lief ertraurig zu seiner Mutter <strong>und</strong> sagte: »Mama, die Nelke hilftüberhaupt nicht <strong>und</strong> schmeckt ganz fürchterlich. Mir ist soschlecht, was soll ich nur tun?« Und Otto legte seinen Kopf inden Schoß der Mutter <strong>und</strong> fing bitterlich zu weinen an.Da dachte die Bibermama: »Es hilft alles nichts, der böseZahn muss raus!« Sie kraulte Otto am Nacken <strong>und</strong> sagte zu ihm:»Komm, Otto, ich zieh dir den bösen Zahn!« Doch Otto wehrtesich mit Vorder- <strong>und</strong> Hinterpfoten, denn das Letzte, was er nungebrauchen konnte, war, dass seine Mutter ihm den Zahn zog.Die Bibermutter aber wusste sich zu helfen <strong>und</strong> gab Otto etwaskaltes Wasser direkt von der Quelle. »Das musst du jetztordentlich gurgeln, Otto!« sagte die Bibermutter zu ihrem Sohn,Otto gurgelte brav <strong>und</strong> für kurze Zeit ließ der Schmerz nach.Otto freute sich <strong>und</strong> sagte: »Mama, du brauchst den Zahn nichtmehr zu ziehen, die Schmerzen sind schon wieder weg!« Daschmunzelte die Bibermutter, nahm einen Apfel <strong>und</strong> sagte:»Hier, als Belohnung für deine Tapferkeit. Du kannst ja jetztwieder ordentlich zubeißen!« Und Otto nahm freudig den rotenApfel <strong>und</strong> biss so fest er konnte hinein. Der böse Zahn aber, dervorher schon heftig gewackelt hatte, blieb einfach im Apfel-57-


stecken, ohne dass Otto es merkte.-58-


Der kranke KönigEs war einmal ein sehr reicher <strong>und</strong> gütiger König, den alleUntertanen gern hatten. So hätte er eigentlich glücklich seinkönnen, doch war er von einem bösen Leiden befallen: Nachjedem Satz, den er sagte, musste er niesen <strong>und</strong> davon konntenihn auch die berühmtesten Ärzte nicht heilen.Eines Tages kam eine alte Frau zu dem königlichen Schloss<strong>und</strong> verlangte, beim König vorzusprechen. Als sie vor demKönig stand, verriet sie ihm, dass eine bestimmte blaue Blumeihn von seiner Krankheit heilen könne. So erzählte sie ihm: »Dieblaue Blume wächst weit, weit weg, hinter dem neunten Berg,<strong>und</strong> nur ein Zwillingspärchen kann sie finden.« Daraufhinschickte der König Boten aus, welche ein klugesZwillingspärchen finden sollten. Da Franz <strong>und</strong> Franzi demKönig am besten gefielen, wurden sie von ihm losgeschickt, dieblaue Blume zu suchen.Und so machten sich die beiden Kinder auf den Weg <strong>und</strong> alssie den ersten Berg hinter sich hatten, begegneten sie einemWolf, der sie vom Weg abbringen wollte. Doch die beidenKinder kannten die Geschichte von Rotkäppchen <strong>und</strong> dem bösenWolf <strong>und</strong> deshalb wussten sie, dass man Wölfen auf gar keinenFall trauen darf.Sie ließen sich also nicht vom Weg abbringen <strong>und</strong> gingenweiter, bis sie an ein Knusperhäuschen kamen, in dem eine böseHexe Hänsel <strong>und</strong> Gretel gefangen hielt. Franz <strong>und</strong> Franzimachten einen großen Bogen um das Hexenhaus <strong>und</strong> liefenschnell weiter.Kurze Zeit später begegneten sie im Wald einem kleinenMännlein, das um ein Feuer hüpfte <strong>und</strong> sang: »Ach wie gut, dassniemand weiß, dass ich…« Mit dem arglistigen Rumpelstilzchenwollten Franz <strong>und</strong> Franzi erst recht nichts zu tun haben <strong>und</strong> soverließen sie den Wald <strong>und</strong> kamen am Abend in ein kleines-59-


Haus, in dem noch Licht brannte.Sie klopften <strong>und</strong> ein junges Mädchen öffnete ihnen die Tür<strong>und</strong> als es die beiden Kinder sah, ließ es sie herein. Alle anderenschliefen bereits, nur das Mädchen namens Aschenputtelarbeitete noch in der Küche. Und da es ein gutes Herz hatte, ließes die Kinder in der warmen Küche schlafen.Am nächsten Tag machten sich Franz <strong>und</strong> Franzi wieder aufden Weg, um die blaue Blume zu suchen. Gegen Mittagverspürten sie großen Durst. Als ihnen kurz darauf aber eine alteBauersfrau mit einem Korb saftiger roter Äpfel begegnete,nahmen sie keinen der Äpfel, weil sie in der Alten dieStiefmutter Schneewittchens vermuteten.Am Abend kamen sie tatsächlich hinter dem siebten Berg zuden sieben Zwergen, von denen sie sehr fre<strong>und</strong>lich empfangenwurden. Nachdem sie gegessen <strong>und</strong> getrunken hatten, legten siesich schlafen.Am nächsten Tag kamen sie endlich über den neunten Berg.Dort stand ein großer Apfelbaum, der den Kindern zurief:»Rüttelt mich <strong>und</strong> schüttelt mich, meine Äpfel sind alle reif!«Da die beiden Kinder die Geschichte von Frau Holle kannten,schüttelten sie die Äpfel vom Baum <strong>und</strong> sammelten sie auf. Daerschien auch schon Frau Holle <strong>und</strong> Franz <strong>und</strong> Franzi erkanntenin ihr die alte Frau, die dem König von der blauen Blume erzählthatte. Sie pflückte die Blume <strong>und</strong> gab sie dem Zwillingspärchen.Dann rief sie eine junge Wildgans herbei, die die beiden Kinderzurück <strong>zum</strong> königlichen Schloss flog.Als sie dort ankamen, brachten sie dem König die blaueBlume <strong>und</strong> als dieser an ihr roch, musste er <strong>zum</strong> letzten Malniesen.-60-


Der unverschämte KuchendiebFrau Müller hatte im Krankenhaus eine Bekannte besucht <strong>und</strong>es blieb ihr noch etwas Zeit, bis der nächste Bus kam. Alsobeschloss sie, in der Cafeteria eine Tasse Kaffee zu trinken <strong>und</strong>ein Stück Kuchen zu essen. Das Cafe war ziemlich voll, deshalbsetzte sie sich zu einem Herrn an den Tisch. Sie stellte Tasse<strong>und</strong> Teller ab, hängte ihre Tasche auf <strong>und</strong> setzte sich, um in allerRuhe Kaffee <strong>und</strong> Kuchen zu genießen.Das war ja unglaublich! Da hatte doch tatsächlich jemand vonihrem Kuchen abgebissen! Das konnte ja nur der Herr vongegenüber gewesen sein. So eine Unverschämtheit! Sie starrteden Mann vorwurfsvoll an <strong>und</strong> überlegte, was sie nun tun sollte.Da sie nicht auf ihren Kuchen verzichten wollte, aß sie dasStück auf <strong>und</strong> trank ihren Kaffee dazu. Der Mann starrte sie mitanklagender Miene an <strong>und</strong> schließlich stand er auf, um sichselbst ein Stück Kuchen zu kaufen.Als sie fertig war, warf sie dem Mann einen letztenvernichtenden Blick zu, nahm sein Kuchenstück <strong>und</strong> bissdemonstrativ eine Ecke davon ab. Nun waren sie quitt! Als siezu Hause ankam, öffnete sie ihre Tasche, um die Einkäufeauszupacken. Und was sah sie da? Ihr Kuchenstück! Es war ihrin die Einkaufstasche gerutscht.-61-


Die Geschichte, wie das Känguru seinenSchwanz bekamMiriam, das graue Känguru <strong>und</strong> Eddi, der kleine Beutelbär,waren früher Menschen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e. Lange schon lebten siemiteinander, aber jeder besorgte seine Geschäfte auf seineWeise. Eddi hatte sich eine kleine Hütte gebaut, um sich vorWind <strong>und</strong> Regen zu schützen, ein Platz, wo er auch in kaltenNächten warm schlafen konnte. Miriam dagegen schlief lieberunter den hohen Bäumen, wo sie ein kühler Lufthauch umwehte.Nun gelang es Miriam zwar manchmal, Eddi unter den hellenSternenhimmel zu locken, doch eigentlich fühlte sich derbehäbige Beutelbär nur wohl, wenn er dicht zusammengerollt inseiner Hütte lag <strong>und</strong> friedlich schnarchte. Hin <strong>und</strong> wiederverspottete ihn das Känguru deshalb, doch ansonsten vertrugensich die beiden gut <strong>und</strong> verbrachten einen schönen Sommermiteinander.Dann kam der Winter <strong>und</strong> nachts fegte nun ein bitterkalterWind über das Land. Das Känguru kauerte zitternd in einerErdmulde <strong>und</strong> versuchte vergeblich, sich warm zu halten. Eswar stolz darauf, dem harten Wetter zu trotzen, während derkleine Beutelbär ängstlich in seiner Hütte lag. Bald daraufbegann es heftig zu regnen <strong>und</strong> der Sturm trieb eisigeSturzbäche daher, so dass Miriam bald ganz durchnässt war. Jeheftiger das Unwetter tobte, um so verlockender erschien ihmnun die muffige Hütte des Beutelbärs. Der Raum schien erfülltvon der wohligen Wärme des Feuers <strong>und</strong> bei dem Gedanken anden erholsamen Schlaf im Trockenen hielt es Miriam schließlichnicht mehr aus. Es kämpfte sich durch Wind <strong>und</strong> Regen zu derHütte durch <strong>und</strong> klopfte.»Wer ist da?« rief eine verschlafene Stimme. »Ich bin es«,rief das Känguru verzweifelt, »ich bin ganz nass <strong>und</strong> mir istentsetzlich kalt. Lass mich in deine Hütte.«-62-


»Oh nein, du kannst nicht Miriam sein«, lachte Eddi. »Miriamschläft doch so gerne draußen. Ich glaube, du versuchst mich zutäuschen.«»Hör endlich auf, dich über mich lustig zu machen«, rief dasKänguru erbost. »Es ist kalt <strong>und</strong> ich friere.«»Daran bist du selbst schuld«, antwortete der Beutelbär. »Ichwollte dir ja helfen, eine eigene Hütte zu bauen. Aber du hastmich ja nur ausgelacht <strong>und</strong> gesagt, es sei feige, sich vor dembisschen Wind <strong>und</strong> Regen zu verstecken. Außerdem ist meineHütte zu klein für zwei.«Ohne noch weiter zu bitten, zwängte sich Miriam durch denschmalen Eingang <strong>und</strong> sagte: »Rück beiseite, damit ich michtrocknen kann.«»Du bist ja ganz nass <strong>und</strong> außerdem will ich jetzt schlafen«,knurrte Eddi. »Wenn du schon reinkommen musst, dann nimmmir wenigstens nicht auch noch meinen Platz weg. Stell dich daan die Wand.« Missmutig brummte Eddi, rollte sich vor demFeuer zusammen <strong>und</strong> schlief weiter. Das Känguru aber stand ineiner Ecke gedrängt, genau da, wo ein breiter Spalt in der Wandwar. Der Wind blies durch das Loch <strong>und</strong> unablässig tropfte derRegen durch den Spalt auf das Känguru. Während Eddi friedlichvor sich hin schnarchte, kreisten in Miriams Kopf finstereGedanken, wie sie sich an ihrem Fre<strong>und</strong> rächen könnte.Am Morgen humpelte das Känguru nach draußen, suchteeinen flachen Stein <strong>und</strong> stapfte zu der Hütte zurück. In derZwischenzeit war Eddi erwacht, blinzelte verschlafen in dieR<strong>und</strong>e <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erte sich, dass seine Fre<strong>und</strong>in schon so früh aufwar. Doch dann stieß er einen Entsetzensschrei aus, denn vorihm stand Miriam mit dem Stein. Das Känguru holte aus <strong>und</strong>traf den Beutelbär mit dem Stein so heftig an der Stirn, dassdiese ganz platt gequetscht war. Dabei lachte es böse <strong>und</strong> rief:»Das ist die Strafe dafür, dass du den treuen Fre<strong>und</strong> so geringgeschätzt hast. Von jetzt an sollst du auf ewig eine flache Stirn-63-


haben.«Eddi schwor der einstigen Gefährtin bittere Rache <strong>und</strong>schnitzte sich einen Speer, befestigte einen Widerhaken an derSpitze <strong>und</strong> nahm seine Schleuder. Dann machte er sich auf dieSuche nach Miriam. Er fand das Känguru beim Wasserloch, woes gierig trank <strong>und</strong> nichts um sich herum wahrnahm. Eddi legteden Speer in die Schleuder <strong>und</strong> traf damit das Hinterteil desahnungslosen Kängurus. Miriam schrie auf <strong>und</strong> versuchtevergeblich, den Speer abzuschütteln. Altes Ziehen <strong>und</strong> Zerrenhalf nichts.Der Beutelbär lachte hämisch <strong>und</strong> rief: »Als Rache für deinenheimtückischen Überfall hast du jetzt einen Schwanzbekommen.« Dann verkroch sich der Beutelbär wieder, doch dasKänguru hat den Schwanz bis heute behalten.-64-


Kapitel 4Gute-Nacht-<strong>Geschichten</strong>-65-


Als das Sandmännchen einmalverschläftEines Abends, als das Sandmännchen gerade von seinemR<strong>und</strong>gang durch die Kinderzimmer zurückkommt, überlegt es,wie viel Sand wohl noch in seinem Säckchen ist. Es bindet dasSäckchen auf, doch plötzlich muss es niesen <strong>und</strong> dabei fliegtihm so viel Sand in die Augen, dass es herzhaft gähnt <strong>und</strong>einschläft, Es schläft die ganze Nacht <strong>und</strong> den ganzen nächstenTag, sogar am Abend wacht es nicht auf. So findet es ein kleinerWichtel, der vergeblich versucht, das Sandmännchenaufzuwecken.»Was soll ich denn jetzt nur machen?« jammert der kleineWichtel. Doch da kommt ihm eine Idee. Schnell ruft er alleVöglein zusammen <strong>und</strong> sagt: »Liebe Vöglein, könnt ihr nichtheute einmal den Schlafsand in die Augen der Kinder streuen?Das Sandmännchen schläft tief <strong>und</strong> fest, ich kann es nichtaufwecken.«»Aber gerne!« antworten die Vöglein, nehmen den Schlafsandin ihre Schnäbel <strong>und</strong> fliegen zu den Kindern, die alle noch wachin ihren Bettchen liegen <strong>und</strong> nicht einschlafen können. Kaumhaben die Vöglein den Sand verteilt, schlummert ein Kind nachdem anderen sanft ein.Und so ist es zu erklären, warum an diesem Tag alle Kindervor den Vögeln schlafen gehen.-66-


Der kleine FlohZwack war ein kleiner Floh <strong>und</strong> arbeitete in einem Flohzirkus.Die Leute klatschten <strong>und</strong> jubelten ihm zu, wenn er auftrat, EinesTages hatte er das ständige Hin- <strong>und</strong> Herziehen des Wägelchenssatt <strong>und</strong> er beschloss, in die Welt hinauszuziehen. Er wollte derStar in einem großen Zirkus <strong>und</strong> von der ganzen Welt bejubeltwerden. Nach der letzten Vorstellung sprang er einfach einerFrau auf den Kopf <strong>und</strong> ließ sich hinaustragen. Als die Frau ihnjedoch entdeckte, jubelte sie nicht mehr <strong>und</strong> schlug nach ihm.Zwack konnte sich im letzten Moment noch durch einenSprung auf einen H<strong>und</strong> retten. Die Lust auf die große weite Weltwar ihm mittlerweile vergangen <strong>und</strong> er kehrte so schnell erkonnte zu seinem Zirkus zurück. Der Zirkusdirektor war hocherfreut über die Rückkehr von Zwack. Und am nächsten Abendwar Zwack schon wieder der große Star in der Manege.-67-


Der Frosch im MarmeladenglasEs war einmal ein kleiner Frosch, der war so faul, dass erbestimmt verhungert wäre, wenn ihn die anderen Frösche nichtgelegentlich mit Fliegen versorgt hätten. Der faule Froschbedankte sich damit, dass er ihnen die unglaublichsten<strong>Geschichten</strong> erzählte, die meisten davon waren natürlicherf<strong>und</strong>en.Doch mit der Zeit gingen dem Frosch die <strong>Geschichten</strong> aus<strong>und</strong> er dankte dem Himmel, als er eines Tages einweggeworfenes Marmeladenglas im Fluss schwimmen sah. Erhüpfte hinein <strong>und</strong> schwamm nun in dem Glas immer weiter aufdem Fluss. Als es Abend wurde, landete er an einer Stelle, woder Fluss einen Bogen machte. Da waren natürlich auch Frösche<strong>und</strong> denen konnte er wieder die alten <strong>Geschichten</strong> erzählen. DieFrösche waren hellauf begeistert <strong>und</strong> dankten dem Frosch imMarmeladenglas mit reichlich Futter.Und so schwamm der faule Frosch jeden Tag mit seinemMarmeladenglas ein Stückchen weiter auf dem Fluss <strong>und</strong>erzählte immer neuen Fröschen die alten <strong>Geschichten</strong>. Seineeinzige Angst war nun nur noch, dass ihm eines Tages dasMarmeladenglas zu klein werden könnte.-68-


Das Märchen vom DümmlingEs war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne, der jüngsteaber war ein Dümmling. Eines Tags sprach der älteste: »Vater,ich will in den Wald gehen, Holz hauen.« – »Lass das bleiben«,antwortete der Vater, »du kommst sonst mit einem verb<strong>und</strong>enenArm heim.« Der Sohn aber achtete nicht darauf, dachte, er wissesich schon zu hüten, steckte einen Kuchen in die Tasche <strong>und</strong>ging hinaus. In dem Walde begegnete ihm ein graues altesMännchen, das sagte: »Gib mir doch ein Stück von demKuchen, den du in der Tasche hast, ich bin so hungrig.« Derkluge Sohn aber sprach: »Was soll ich dir meinen Kuchengeben, dann hab ich selber nichts, pack dich deiner Wege!« <strong>und</strong>ging fort mit seiner Axt <strong>und</strong> fing an einen Baum zu behauen,nicht lange aber, da hieb er fehl, die Axt fuhr ihm in den Arm<strong>und</strong> er musste heimgehen <strong>und</strong> sich verbinden lassen. Das waraber von dem alten grauen Männchen gekommen.Darauf ging der zweite Sohn in den Wald, wo ihn dasMännchen auch um ein Stück Kuchen ansprach. Er schlug’s ihmaber auch ab <strong>und</strong> hieb sich dafür ins Bein, dass er sich nachHaus tragen lassen musste. Endlich ging der Dümmling hinaus,das Männchen sprach ihn wie die anderen um ein Stück Kuchenan. »Da hast du ihn ganz«, sagte der Dümmling <strong>und</strong> gab ihn hin.Da sagte das Männchen: »Hau diesen Baum ab, so wirst duetwas finden.« Der Dümmling hieb da zu <strong>und</strong> als der Baumumfiel, saß eine goldene Gans darunter. Er nahm sie mit sich<strong>und</strong> ging in ein Wirtshaus <strong>und</strong> wollte da übernachten, blieb abernicht in der großen Stube, sondern ließ sich eine allein geben, dasetzte er seine Gans mitten hinein. Die Wirtstöchter sahen dieGans <strong>und</strong> waren neugierig <strong>und</strong> hätten gar zu gern eine Feder vonihr gehabt. Da sprach die älteste: »Ich will einmal hinaufgehen<strong>und</strong> wenn ich nicht bald wiederkomme, so geht ihr mir nach.«Darauf ging sie zu der Gans, wie sie aber kaum die Feder-69-


erührt hat, bleibt sie daran hängen; weil sie nun nicht wiederherunterkam, ging ihr die zweite nach <strong>und</strong> wie sie die Ganssieht, kann sie gar der Lust nicht widerstehen, ihr eine Federauszuziehen; die älteste rät ihr ab, was sie kann, das hilft aberalles nichts, sie fasst die Gans an <strong>und</strong> bleibt an der Federhängen. Die dritte Tochter, nachdem sie unten lange gewartethatte, ging endlich auch hinauf, die anderen riefen ihr zu, siesollte um Himmels Willen der Gans nicht zu nahe kommen, siehörte aber gar nicht drauf, meinte, eine Feder müsse sie haben<strong>und</strong> bleibt auch dran hängen. Am anderen Morgen nahm derDümmling die Gans auf seinen Arm <strong>und</strong> ging fort, die dreiMädchen hingen fest <strong>und</strong> mussten hinter ihm drein. Auf demFeld begegnete ihnen der Pfarrer: »Pfui, ihr garstigen Mädchen,was lauft ihr dem jungen Burschen so öffentlich nach, schämteuch doch!« Damit fasste er eine bei der Hand <strong>und</strong> wollte siezurückziehen, wie er sie aber angerührt hatte, blieb er an ihrauch hängen <strong>und</strong> musste nun selber hintendrein laufen. Nichtlang, so kam der Küster: »Ei! Herr Pfarrer, wo hinaus sogeschwind? Heute ist noch eine Kindtaufe!« Er lief auf ihn zu,fasste ihn beim Ärmel, blieb aber auch hängen. Wie die fünf sohintereinanderher marschierten, kamen zwei Bauern mit ihrenHacken vom Feld, der Pfarrer rief ihnen zu, sie sollten sielosmachen, kaum aber hatten sie den Küster nur angerührt, soblieben sie hängen <strong>und</strong> waren ihrer nun sieben, die demDümmling mit der Gans nachliefen.Er kam darauf in eine Stadt, da regierte ein König, der hatteeine Tochter, die war so ernsthaft, dass sie niemand <strong>zum</strong> Lachenbringen konnte. Da hatte der König ein Gesetz gegeben, wer sielachen machen könnte, der sollte sie heiraten. Der Dümmling,als er das hörte, ging mit seiner Gans <strong>und</strong> ihrem Anhang vor dieKönigstochter; wie diese den Aufzug sah, fing sie überlaut an zulachen <strong>und</strong> wollte gar nicht wieder aufhören. Er verlangte sienun zur Braut, aber der König machte allerlei Einwendungen<strong>und</strong> sagte, er müsste ihm erst einen Mann bringen, der einen-70-


Keller voll Wein austrinken könnte.Da ging er in den Wald <strong>und</strong> auf der Stelle, wo er den Baumabgehauen hatte, sah er einen Mann sitzen, der machte ein garbetrübtes Gesicht, der Dümmling fragte, was er sich so sehr zuHerzen nähme? »Ei! Ich bin so durstig <strong>und</strong> kann nicht genug zutrinken kriegen, ein Fass Wein hab ich zwar ausgeleert, aber wasist ein Tropfen auf einen heißen Stein?« – »Da kann ich dirhelfen«, sagte der Dümmling, »komm nur mit mir, du sollst satthaben.« Er führte ihn in des Königs Keller, der Mann machtesich über die großen Fässer, trank <strong>und</strong> trank, dass ihm dieHüften weh taten <strong>und</strong> ehe ein Tag herum war, hatte er denganzen Keller ausgetrunken. Der Dümmling verlangte nun seineBraut, der König aber ärgerte sich, dass ein schlechter Bursch,den jedermann einen Dümmling nannte, seine Tochterdavontragen sollte <strong>und</strong> machte neue Bedingungen: er müssteihm erst einen Mann schaffen, der einen Berg voll Brot aufessenkönnte.Der Dümmling ging wieder in den Wald, da saß auf desBaumes Platz ein Mann, der schnürte sich den Leib mit einemRiemen zusammen, machte ein grämliches Gesicht <strong>und</strong> sagte:»Ich habe einen ganzen Backofen voll Brot gegessen, aber washilft das, bei meinem großen Hunger, ich spür doch nichts davonim Leib <strong>und</strong> muss mich nur zuschnüren, wenn ich nicht Hungerssterben soll.« Wie der Dümmling das hörte, war er froh <strong>und</strong>sprach: »Steig auf <strong>und</strong> geh mit mir, du sollst dich satt essen.« Erführte ihn zu dem König, der hatte alles Mehl aus dem ganzenReich zusammenfahren <strong>und</strong> einen ungeheuren Berg davonbacken lassen, der Mann aber aus dem Wald stellte sich davor<strong>und</strong> in einem Tag <strong>und</strong> einer Nacht war der ganze Bergverschw<strong>und</strong>en. Der Dümmling forderte wieder seine Braut, derKönig suchte noch einmal Ausflucht <strong>und</strong> verlangte ein Schiff,das zu Land wie zu Wasser fahren könnte; schaffte er aber das,dann solle er gleich die Prinzessin haben.Der Dümmling ging noch einmal in den Wald, da saß das alte-71-


graue Männchen, dem er seinen Kuchen gegeben hatte <strong>und</strong>sagte: »Ich hab für dich getrunken <strong>und</strong> gegessen, ich will dirauch das Schiff geben, das alles tu ich, weil du barmherzig mitmir gewesen bist.« Da gab er ihm das Schiff, das zu Land <strong>und</strong>zu Wasser fuhr <strong>und</strong> als der König das sah, musste er ihm seineTochter geben. Da wurde die Hochzeit gefeiert <strong>und</strong> er erbte dasReich <strong>und</strong> lebte noch lange Zeit vergnügt mit seiner schönenGemahlin.-72-


Die hässliche RaupeEs war im Frühling letzten Jahres, da kroch die kleine RaupeImelda munter durch das Blättergestrüpp, als plötzlich einFrosch vor ihr saß. Der Frosch sah die kleine Raupe <strong>und</strong> rief:»He, was bist du denn für ein hässliches Geschöpf?«Die kleine Raupe blickte ihn mit großen Augen an <strong>und</strong> sagtetraurig: »Ich bin Imelda, die kleine Raupe! Warum sagst du soetwas Böses zu mir?« Der Frosch lachte: »Ich sag doch nur dieWahrheit!« Dann hüpfte der grüne Geselle weiter <strong>zum</strong> Teich.Kurz danach kam ein Grashüpfer vorbei, sah die Raupe <strong>und</strong>sagte: »He, was bist du denn nur für ein hässliches Geschöpf?«Die kleine Raupe blickte ihn mit großen Augen an <strong>und</strong> sagtetraurig: »Ich bin Imelda, die kleine Raupe! Warum sagst du soetwas Böses zu mir?« Doch auch der Grashüpfer hatte keinMitleid mit dem kleinen Tier <strong>und</strong> sagte garstig: »Die Wahrheitmusst du schon verkraften.« Dann hüpfte er weiter <strong>und</strong> ließ diekleine Raupe traurig zurück. Schließlich kam auch noch einkleiner Igel vorbei, besah sich die Raupe <strong>und</strong> sagte laut zu sichselbst: »Nein, die mag ich nicht fressen, die ist mir viel zuhässlich!« Da weinte die kleine Raupe große Tränen, krochunter ein Blatt <strong>und</strong> bedauerte sich selbst, Plötzlich spiegelte sichin dem kleinen Tränensee auf dem Boden ein w<strong>und</strong>erschönesGeschöpf. Das unbekannte Tier sagte: »He, kleine Raupe, weinenicht! Du musst immer daran denken: wer zuletzt lacht, lacht ambesten. Warte nur noch ein Weilchen <strong>und</strong> du wirst sehen, dassdich alle um deine Schönheit beneiden werden.« Die kleineRaupe blickte den Schmetterling, der zu ihr gesprochen hatte,ungläubig an, zuckte die Schultern <strong>und</strong> wartete ab.Eines Morgens aber geschah etwas Merkwürdiges mit derkleinen hässlichen Raupe. Sie wusste selbst nur, dass sie sehrlange geschlafen hatte. Doch als sie auf das Blumenblattkriechen wollte, da merkte sie, dass sie plötzlich fliegen konnte.-73-


Und überhaupt, sah sie gar nicht mehr wie Imelda, die hässlicheRaupe, aus. Sie blickte in einen Tautropfen <strong>und</strong> sah darin einenw<strong>und</strong>erschönen Schmetterling. Da wusste Imelda, wasgeschehen war, denn von diesem Ereignis hatte ihr bereits früherdie Mutter erzählt, doch Imelda hatte es mit der Zeit einfachvergessen.-74-


Das Märchen vom alten GroßvaterEs war einmal ein sehr alter Mann, der konnte kaum gehen,seine Knie zitterten, er hörte <strong>und</strong> sah nicht viel <strong>und</strong> hatte auchkeine Zähne mehr. Wenn er nun bei Tisch saß <strong>und</strong> den Löffelkaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch <strong>und</strong> esfloss ihm auch etwas wieder aus dem M<strong>und</strong>. Sein Sohn <strong>und</strong>dessen Frau ekelten sich davor <strong>und</strong> deswegen musste sich deralte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen <strong>und</strong>sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen <strong>und</strong> nochdazu nicht einmal satt, da sah er betrübt nach dem Tisch <strong>und</strong> dieAugen wurden ihm nass.Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchennicht festhalten, es fiel zur Erde <strong>und</strong> zerbrach. Die junge Frauschalt, er aber sagte nichts <strong>und</strong> seufzte nur. Da kauften sie ihmein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste ernun essen: wie sie nun da so sitzen, so trägt der kleine Enkel vonvier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. »Wasmachst du da?« fragte der Vater. »Ei«, antwortete das Kind, »ichmach ein Tröglein, daraus sollen Vater <strong>und</strong> Mutter essen, wennich groß bin.« Da sahen sich Mann <strong>und</strong> Frau eine Weile an,fingen endlich an zu weinen, holten sofort den alten Großvateran den Tisch <strong>und</strong> ließen ihn von nun an immer mitessen, sagtenauch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.-75-


Der LöwenzahnAls der Winter vorüber war <strong>und</strong> auch die Pflanzen in der Erdeaus ihrem Schlaf erwachten, gab es für den kleinen Löwenzahnkeinen Gr<strong>und</strong> zur Freude. Da lag doch tatsächlich dort, woletztes Jahr noch freier Himmel über ihm gewesen war, einmächtiger Stein. Der kleine Löwenzahn gab sich alle Mühe,doch es gelang ihm nicht, das schwere Hindernis beiseite zuschaffen, Da kam zufällig eine kleine Ameise vorbei, bemerkteden traurigen Blick der kleinen Pflanze <strong>und</strong> fragte: »He, warumfreust du dich nicht, der Frühling kommt?« Da erklärte ihr derLöwenzahn die missliche Lage <strong>und</strong> die Ameise versprach, ihmzu helfen, Sie verschwand <strong>und</strong> kam nach einer kleine Weile mittausend weiteren Ameisen zurück. Diese gruben einen Gangunter dem Stein hindurch, durch den der Löwenzahn dann insFreie wachsen konnte.Und tatsächlich stand im Frühjahr nur wenige Zentimeterneben dem Stein ein kleiner Löwenzahn, um den jederzeiterstaunlich viele Ameisen krabbelten.-76-


Das treue PferdEs hatte ein Bauer ein treues Pferd, das war alt geworden <strong>und</strong>konnte keine Dienste mehr tun. Da wollte ihm sein Herr nichtsmehr zu fressen geben <strong>und</strong> sprach: »Brauchen kann ich dichfreilich nicht mehr, zeigst du dich aber noch so stark, dass dumir einen Löwen hierher bringst, so will ich dich behalten, jetztaber mach dich fort aus meinem Stall.« Und damit jagte er esweit ins Feld. Das Pferd war traurig <strong>und</strong> ging in den Wald, umdort ein wenig Schutz vor dem Wetter zu suchen. Da begegneteihm der Fuchs <strong>und</strong> sprach: »Was lässt du so den Kopf hängen<strong>und</strong> gehst so einsam herum?«»Ach«, sagte das Pferd, »Geiz <strong>und</strong> Treue wohnen nicht ineinem Haus. Mein Herr hat vergessen, was ich ihm alles in sovielen Jahren getan habe <strong>und</strong> weil ich nicht mehr recht ackernkann, will er mir kein Futter mehr geben <strong>und</strong> hat michfortgejagt. Er hat gesagt, wenn ich so stark wäre, dass ich ihmeinen Löwen brächte, wollte er mich behalten, aber er weißwohl, dass ich das nicht kann.« Der Fuchs sprach: »Da will ichdir helfen, leg dich nur hin, streck dich aus <strong>und</strong> reg dich nicht,als wärst du schon tot.«Das Pferd tat, was der Fuchs verlangte. Der Fuchs aber ging<strong>zum</strong> Löwen, der seine Höhle nicht weit davon hatte <strong>und</strong> sprach:»Da draußen liegt ein totes Pferd, komm doch mit hinaus, dakannst du eine fette Mahlzeit halten.« Der Löwe ging mit <strong>und</strong>als sie bei dem Pferd standen, sprach der Fuchs: »Hier hast du esdoch nicht nach deiner Gemächlichkeit. Weißt du was? Ich willes mit dem Schweif an dich binden, da kannst du es in deineHöhle ziehen <strong>und</strong> in aller Ruhe verzehren.« Dem Löwen gefielder Rat <strong>und</strong> er stellte sich hin, damit ihm der Fuchs das Pferdanknüpfen könne <strong>und</strong> hielt auch fein still. Der Fuchs aber bandmit des Pferdes Schweif dem Löwen die Beine zusammen <strong>und</strong>drehte <strong>und</strong> schnürte alles so stark, dass es mit keiner Kraft zu-77-


zerreißen war.Als er nun sein Werk vollendet hatte, klopfte er dem Pferd aufdie Schultern <strong>und</strong> sprach: »Zieh, Schimmel, zieh!« Da sprangdas Pferd auf <strong>und</strong> zog den Löwen mit sich fort. Der Löwe fingan zu brüllen, dass die Vögel in dem ganzen Wald vorSchrecken aufflogen, aber das Pferd ließ ihn brüllen, zog <strong>und</strong>schleppte ihn über das Feld vor seines Herren Tür.Als der Herr das sah, besann er sich eines Besseren <strong>und</strong>sprach zu dem Pferd: »Du sollst bei mir bleiben <strong>und</strong> es guthaben.« <strong>und</strong> gab ihm satt zu fressen, bis es starb.-78-


Die drei EselEs waren einmal zwei arme Leute, die wohnten in einerärmlichen Hütte im Wald <strong>und</strong> manchmal war es arg schlecht umsie bestellt. Sie hatten aber drei Söhne, von denen hieß derjüngste Aschenhans, weil er den ganzen Tag nur in der Aschestocherte.Eines Tages sagte der älteste Sohn, er wolle in die Welthinaus, um sein Brot zu verdienen. Die Eltern wareneinverstanden <strong>und</strong> so zog er von dannen. Als er schon eineWeile unterwegs war, kam er an den Hof des Königs. Dieserstand gerade draußen auf der Treppe <strong>und</strong> fragte den jungenBurschen, wo er denn hinwolle. »Ich suche einen Dienst, Herr«,sagte der Bursche. Da fragte ihn der König, ob er nicht bei ihmdienen wolle.»Wenn du meine drei Esel den ganzen Tag hüten kannst <strong>und</strong>mir am Abend sagen kannst, was sie essen <strong>und</strong> trinken, dannsollst du die Prinzessin haben <strong>und</strong> das halbe Königreich dazu.Kannst du es aber nicht, so soll es dir übel ergehen.« Der ältesteSohn meinte, das sei eine leichte Arbeit <strong>und</strong> es werde ihmbestimmt gelingen. Am Morgen des nächsten Tages ließ derStallknecht die drei Esel laufen. Der junge Bursche lief ihnennach, über Berge <strong>und</strong> Täler, durch Wiesen <strong>und</strong> Wälder. Als erihnen eine Zeitlang nachgelaufen war, wurde er müde <strong>und</strong> wardas Hüten satt. Da stand er plötzlich an einem Felsen, vor demeine alte Frau saß <strong>und</strong> spann. Als sie den Jungen erblickte, derkeuchend <strong>und</strong> schwitzend den Eseln nachgelaufen war, rief sie:»Komm her, mein Junge, lass dich lausen!« Das ließ sich derJunge nicht zweimal sagen, setzte sich nieder, legte seinen Kopfin ihren Schoß, ließ sich den ganzen Tag von ihr lausen <strong>und</strong>widmete sich dem Nichtstun.Als es Abend wurde, sagte er: »Ich kann jetzt genauso gutwieder nach Hause gehen, am Königshof habe ich nichts mehr-79-


zu suchen.« Doch die Alte antwortete: »Warte bis es dunkelwird, dann kommen die Esel wieder hier vorbei <strong>und</strong> du kannstmit ihnen <strong>zum</strong> Königshof laufen. Niemand wird merken, dass duden ganzen Tag hier gelegen hast, anstatt die Esel zu hüten.« Alsdie Esel nun tatsächlich kamen, gab sie dem Jungen einen Krugmit Wasser <strong>und</strong> eine Hand voll Moos <strong>und</strong> befahl ihm, demKönig zu sagen, dies sei es, was die Esel essen <strong>und</strong> trinkenwürden. Als er nun mit den Eseln wieder am Hof ankam, fragteder König: »Hast du die Esel brav gehütet?« Der Junge nickte<strong>und</strong> so fragte der König: »Dann sag mir, was sie essen <strong>und</strong>trinken!« Der Junge zeigte dem König das Wasser <strong>und</strong> dasMoos, dieser merkte den Schwindel <strong>und</strong> wurde so böse, dass erbefahl, den Jungen vom Hof zu jagen.So kehrte der älteste Sohn wieder nach Hause zurück <strong>und</strong>schwor sich, nie wieder bei einem König zu dienen. Amnächsten Tag sagte der zweite Sohn, er wolle in die Welt hinaus,um sein Glück zu versuchen. Die Eltern versuchten ihnaufzuhalten, doch nichts konnte ihn umstimmen. So zog er indie Welt hinaus <strong>und</strong> als er den ganzen Tag gegangen war, kamer an den Hof des Königs. Auch diesmal stand der König aufden Stufen seines Schlosses <strong>und</strong> fragte den Jungen, wo erhinwolle. Als der Junge antwortete, er suche einen Dienst, dabot ihm der König an, er könne bei ihm dienen <strong>und</strong> seine dreiEsel hüten. Und dann versprach er dem Jungen den gleichenLohn <strong>und</strong> die gleiche Strafe wie zuvor dem älteren Bruder. DerJunge erklärte sich bereit <strong>und</strong> meinte, es könne nicht soschwierig sein, die Esel zu hüten <strong>und</strong> dem König zu erzählen,was sie essen <strong>und</strong> trinken.Am nächsten Morgen ließ der Stallknecht die Esel laufen <strong>und</strong>der Junge lief ihnen nach. Und es erging ihm, wie es auch schonvorher seinem Bruder ergangen war. Als er müde wurde, kam eran einen Felsen, vor dem eine alte Frau saß. Sie rief ihm zu:»Komm her, mein schöner Knabe, lass dich lausen!« Der Jungehatte nichts dagegen <strong>und</strong> verbrachte so den ganzen Tag mit-80-


Nichtstun. Als die Esel am Abend wieder an dem Felsenvorbeikamen, gab die Alte ihm eine Hand voll Moos <strong>und</strong> einenKrug mit Wasser, die er dem König zeigen sollte. Als nun derKönig fragte: »Kannst du mir sagen, was meine Esel essen <strong>und</strong>trinken?« <strong>und</strong> der Junge ihm das Moos <strong>und</strong> das Wasser zeigte,da wurde der König zornig <strong>und</strong> jagte ihn vom Hof, wie er eszuvor auch schon bei seinem Bruder getan hatte. Der Junge liefnach Hause <strong>und</strong> erzählte, wie es ihm ergangen sei <strong>und</strong> er schworsich, nie wieder zu dienen, Am nächsten Morgen nun beschlossder jüngste Sohn, der Aschenhans, in die Welt zu ziehen. Aucher wolle versuchen, die drei Esel des Königs zu hüten. Also zoger in die Welt <strong>und</strong> als er den ganzen Tag gegangen war, kamauch er an den Hof des Königs. Der König fragte ihn, wohin erwolle. Als der Aschenhans sagte, er suche einen Dienst, dawollte der König wissen, woher er käme. Aschenhans erzähltevon seinen Brüdern <strong>und</strong> der König rief: »Diese Schurken! Wenndu der Bruder der beiden bist, dann taugst du auch nicht viel!«Doch Aschenhans bat den König, es trotzdem mit ihm zuversuchen. Der König willigte ein <strong>und</strong> am nächsten Morgentrieb der Stallknecht wieder die drei Esel aus dem Stall <strong>und</strong> derAschenhans lief ihnen nach. Nach einer Weile kam auch er anden Felsen, an dem die alte Frau saß <strong>und</strong> spann. Sie rief ihm zu:»Komm her, mein schöner Junge, lass dich lausen!« DochAschenhans rief: »Scher dich <strong>zum</strong> Teufel!« Er hielt sich amSchwanz eines Esels fest <strong>und</strong> als sie an dem Felsen vorbeiwaren, sagte der Esel: »Setz dich auf meinen Rücken, wir habennoch einen weiten Weg vor uns!«Nach kurzer Zeit fragte der Esel: »Siehst du etwas?« AlsAschenhans verneinte, lief er noch ein Stück weiter <strong>und</strong> fragtedann wieder: »Siehst du jetzt etwas?« Aber Aschenhansverneinte <strong>und</strong> so lief der Esel weiter. So ging es einige Zeit <strong>und</strong>plötzlich fragte der Esel wieder: »Siehst du immer noch nichts?«»Doch«, sagte Aschenhans, »ich sehe etwas Weißes, es siehtaus wie der Stumpf einer Birke.« Der Esel antwortete: »Ja, da-81-


gehen wir hinein.« Als sie an dem Stumpf ankamen, fasste derälteste Esel ihn an <strong>und</strong> bog ihn zur Seite, so dass eine Tür <strong>zum</strong>Vorschein kam. Hinter dieser Tür war ein kleines Zimmer <strong>und</strong>in dem war nichts als ein kleiner Herd <strong>und</strong> ein paar Schemel.Hinter der Tür aber hingen ein großes, rostiges Schwert <strong>und</strong> einKrug.Der Esel fragte: »Kannst du das Schwert schwingen?«Aschenhans versuchte es, aber es gelang ihm nicht. Da gab ihmder Esel aus dem Krug zu trinken <strong>und</strong> nun konnte er dasSchwert schwingen, als sei nichts leichter als das, »Nimm dasSchwert mit dir!« befahl ihm der Esel. »Am Tag deinerHochzeit sollst du uns allen die Ohren kürzen, damit wir wiederPrinzen werden, denn das waren wir früher, Wir sind die Brüderder Prinzessin, die deine Frau werden soll, wenn du dem Königsagst, was wir essen <strong>und</strong> trinken. Eine böse Fee hat unsverzaubert. Wenn du uns die Ohren kürzer geschnitten hast,musst du sie an den Schwanz des Esels legen, zu dem siegehören, dann ist der Zauber gebrochen!« Aschenhans verspraches <strong>und</strong> sie liefen weiter.Als sie nun ein Stück gelaufen waren, fragte der Esel: »Siehstdu etwas?« Als Aschenhans verneinte, liefen sie weiter. Nacheiner Weile fragte der Esel wieder: »Siehst du nun etwas?«»Nein, gar nichts«, sagte Aschenhans <strong>und</strong> sie setzten ihrenRitt fort. Nach langer Zeit fragte der Esel: »Siehst du immernoch nichts?«»Doch«, sagte Aschenhans, »ich sehe etwas Blaues, aber esist weit entfernt.«»Das ist ein Fluss, über den müssen wir hinüber«, antworteteihm der Esel. Als sie den Fluss überquert hatten, fragte der Eselabermals, ob Aschenhans nichts sähe. »Doch«, antwortetedieser, »ich sehe in der Ferne etwas Schwarzes, das sieht auswie der Turm einer Kirche.«»Da müssen wir hinein«, sagte der Esel. Als die Esel auf den-82-


Kirchhof kamen, wurden sie wieder zu Menschen. Sie trugenprächtige Kleider <strong>und</strong> sahen alle aus, als seien sie eines KönigsSöhne. Sie betraten die Kirche <strong>und</strong> nahten sich dem Priester, deram Altar stand <strong>und</strong> ihnen nun Brot <strong>und</strong> Wein gab. AuchAschenhans betrat die Kirche. Er sah, wie der Priester seineHände auf die Köpfe der Prinzen legte <strong>und</strong> sie segnete. Dannverließen sie die Kirche wieder <strong>und</strong> Aschenhans folgte ihnen. Ernahm jedoch einen Krug mit Wein <strong>und</strong> ein Stück des heiligenBrotes mit sich. Als die drei Prinzen auf den Kirchhof traten,wurden sie wieder zu Eseln. Aschenhans kletterte auf denRücken des jüngsten Esels <strong>und</strong> sie liefen den gleichen Wegzurück, den sie gekommen waren, diesmal aber viel, vielschneller. Als sie am Abend <strong>zum</strong> Schloss zurückkamen, war esfast dunkel <strong>und</strong> der König wartete bereits auf sie. »Hast dumeine Esel brav gehütet?« fragte er den Aschenhans. Dieserantwortete: »So gut ich konnte.«»Dann kannst du mir wohl sagen, was sie essen <strong>und</strong> trinken?«fragte der König. Aschenhans zeigte dem König den Wein <strong>und</strong>das heilige Brot. Da sagte der König: »Ja, du hast sie treugehütet. Die Prinzessin <strong>und</strong> das halbe Reich sollen dir gehören.«So wurde die Hochzeit gefeiert, doch als sie beim Festmahlsaßen, stand Aschenhans auf <strong>und</strong> ging in den Stall hinunter. Erschnitt der Reihe nach jedem Esel die Ohren ein Stück kürzer<strong>und</strong> legte die Ohren an den Schwanz des Esels, zu dem siegehört hatten. So wurden alle drei wieder zu Prinzen <strong>und</strong> siefolgten dem Aschenhans zur Hochzeitstafel. Der König war sofroh, dass er Aschenhans umarmte <strong>und</strong> küsste <strong>und</strong> auch diePrinzessin gewann ihn noch lieber als zuvor. Der König sprach:»Nach meinem Tod sollst du auch die andere Hälfte meinesReiches bekommen, meine Söhne können sich selbst Ländererwerben, nun wo sie wieder Prinzen sind.« Ihr könnt euchsicher denken, wieviel Jubel <strong>und</strong> Fröhlichkeit bei dieserHochzeit herrschten.-83-


Der Löwe in der FalleAm Rande des Urwaldes lebte einmal ein junger Löwe, dernichts lieber tat, als die Affen zu erschrecken <strong>und</strong> auf die Bäumezu jagen. Doch einmal, als es ihm wieder gelungen war, sichunbemerkt anzuschleichen, um mit fürchterlichem Gebrüll denAffen Angst einzujagen, passierte es: Der Löwe stürzte in eineFallgrube, die Menschen ausgehoben <strong>und</strong> hervorragend getarnthatten.Da jubelten die Affen, sprangen von den Bäumen <strong>und</strong> tanztenum die Grube herum, weil sie ja nun nichts mehr zu befürchtenhatten. Sie schnitten dem Feind von einst Grimassen <strong>und</strong>verspotteten ihn als Dummkopf <strong>und</strong> Tölpel. Schließlich abersagte der älteste Affe: »Wir haben Mitleid mit dir, Löwe, <strong>und</strong>könnten dir wohl aus der Grube helfen. Doch du musstschwören, uns in Zukunft in Frieden zu lassen!« Der Löwe warnatürlich sofort einverstanden <strong>und</strong> schwor, in Zukunft einengroßen Bogen um die kleinen Gesellen zu machen.Da schleppten die Affen starke Äste <strong>und</strong> Zweige heran,banden sie mit Schlingpflanzen zusammen <strong>und</strong> ließen sie zudem Löwen in die Grube hinunter. Nun konnte dieser daranemporklettern <strong>und</strong> war gerettet. Der Löwe bedankte sich bei denhilfreichen Affen <strong>und</strong> von diesem Tag an jagte er nie wiederanderen Tieren Angst <strong>und</strong> Schrecken ein, sondern half, wo ernur konnte.-84-


Kapitel 5Hexengeschichten-85-


Die weiße <strong>und</strong> die schwarze BrautEine Frau ging mit ihrer Tochter <strong>und</strong> Stieftochter über dasFeld, um Futter zu schneiden. Da kam der liebe Gott als einarmer Mann zu ihnen <strong>und</strong> fragte: »Wo führt der Weg ins Dorf?«»Ei«, sprach die Mutter, »such ihn selbst!« Und die Tochtersetzte noch hinzu: »Habt ihr Sorge, dass ihr ihn nicht findet, sobringt euch doch einen Wegweiser mit.« Die Stieftochter abersprach: »Armer Mann, ich will dich führen, komm mit mir!« Daerzürnte der liebe Gott über Mutter <strong>und</strong> Tochter, wendete ihnenden Rücken zu <strong>und</strong> verwünschte sie, dass sie sollten schwarzwerden wie die Nacht <strong>und</strong> hässlich wie die Sünde. Der armenStieftochter aber war Gott gnädig <strong>und</strong> ging mit ihr. Als sie naham Dorf waren, sprach er einen Segen über sie <strong>und</strong> sagte: »Wähldir drei Sachen aus, die will ich dir gern gewähren.« Da sprachdas Mädchen: »Ich möchte schön werden wie die Sonne!«Alsbald wurde sie weiß <strong>und</strong> schön wie der Tag. »Dann möchteich einen Geldbeutel haben, der nie leer wird!« Auch den gabihr der liebe Gott, sprach aber: »Vergiss das Beste nicht, meineTochter!« Sie sagte: »Ich wünsche mir <strong>zum</strong> dritten das ewigeHimmelreich nach meinem Tode.« Das wurde ihr zugesagt <strong>und</strong>der liebe Gott schied von ihr.Wie nun die Stiefmutter mit ihrer Tochter nach Hause kam<strong>und</strong> sah, dass sie beide kohlschwarz <strong>und</strong> hässlich waren, dieStieftochter aber weiß <strong>und</strong> schön, wurde sie im Herzen nochböser <strong>und</strong> hatte nur im Sinn, wie sie ihr ein Leid antun könnte.Die Stieftochter aber hatte einen Bruder namens Reginald, densie sehr liebte <strong>und</strong> ihm erzählte sie alles, was geschehen war.Der Bruder malte nun die Schwester <strong>und</strong> hing das Bild in seinerStube in des Königs Schloss auf, bei dem er Kutscher war. Erblieb jeden Tag davor stehen <strong>und</strong> dankte Gott für das Glückseiner lieben Schwester.Nun war aber gerade dem König, bei dem er diente, die-86-


Gemahlin verstorben, welche so schön gewesen war, dass mankeine finden konnte, die ihr glich <strong>und</strong> der Prinz war darüber intiefer Trauer. Die Hofdiener sahen indessen, wie der Kutschertäglich vor dem schönen Bild stand <strong>und</strong> missgönnten es ihm <strong>und</strong>meldeten es dem König. Da ließ dieser das Bild vor sich bringen<strong>und</strong> sah, dass es in allem seiner verstorbenen Frau glich <strong>und</strong>noch schöner war, so dass er sich unsterblich verliebte. Er fragtealso den Kutscher, wen das Bild darstellte. Als der Kutschersagte, dass es eine Schwester wäre, entschloss sich der König,keine andere als diese zur Gemahlin zu nehmen. Er gab demKutscher Wagen, Pferde <strong>und</strong> prächtige Goldkleider <strong>und</strong> schickteihn fort, seine erwählte Braut abzuholen.Wie der Kutscher mit der Botschaft ankam, freute sich seineSchwester, allein die Schwarze ärgerte sich über alle Maße vorEifersucht <strong>und</strong> sprach zu ihrer Mutter: »Was helfen nun all eureKünste, da Ihr mir kein solches Glück verschaffen könnt!« Dasagte die Alte: »Sei still, ich will dir es schon zuwenden.« Durchihre Hexenkünste trübte sie dem Kutscher die Augen, dass erhalb blind war <strong>und</strong> der Weißen verstopfte sie die Ohren, dass sieschwer hörte. Darauf stiegen sie in den Wagen, erst die Braut inden herrlichen königlichen Kleidern, dann die Stiefmutter mitihrer Tochter <strong>und</strong> der Kutscher saß auf dem Bock um zu fahren.Wie sie eine Weile gereist waren, rief der Kutscher:»Deck dich zu, mein Schwesterlein, dass Regen dich nichtnässt, dass Wind dich nicht bestäubt, dass du fein schön <strong>zum</strong>König kommst!«Die Braut fragte: »Was sagt mein lieber Bruder?«»Ach«, sprach die Alte, »er hat gesagt, du solltest deingüldenes Kleid ausziehen <strong>und</strong> es deiner Schwester geben.« Dazog sie es aus <strong>und</strong> tat es der Schwarzen an, die gab ihr dafüreinen schlechten grauen Kittel. So fuhren sie weiter, über einWeilchen rief der Bruder wieder:»Deck dich zu, mein Schwesterlein, dass Regen dich nicht-87-


nässt, dass Wind dich nicht bestäubt, <strong>und</strong> du fein schön <strong>zum</strong>König kommst!«Die Braut fragte: »Was sagt mein lieber Bruder?«»Ach«, sprach die Alte, »er hat gesagt, du solltest deinegüldene Haube abtun <strong>und</strong> deiner Schwester geben.« Da tat siedie Haube ab <strong>und</strong> der Schwarzen auf <strong>und</strong> saß im bloßen Haar.So fuhren sie weiter. Nach einer Weile rief der Bruder:»Deck dich zu, mein Schwesterlein, dass Regen dich nichtnässt. dass Wind dich nicht bestäubt, <strong>und</strong> du fein schön <strong>zum</strong>König kommst!«Die Braut fragte: »Was sagt mein lieber Bruder?«»Ach«, sprach die Alte, »er hat gesagt, du mögest einmal ausdem Wagen sehen.« Sie fuhren aber gerade über ein tiefesWasser. Wie nun die Braut aufstand <strong>und</strong> aus dem Fenster sah, dastießen sie die beiden anderen hinaus, dass sie gerade ins Wasserfiel. Sie versank, aber in demselben Augenblick stieg eineschneeweiße Ente hervor <strong>und</strong> schwamm den Fluss hinab. DerBruder hatte gar nichts davon gemerkt <strong>und</strong> fuhr den Wagenweiter, bis sie an den Hof kamen. Da brachte er dem König dieSchwarze als seine Schwester <strong>und</strong> meinte auch sie wäre es, weiles ihm trüb vor den Augen war <strong>und</strong> er doch die Goldkleiderschimmern sah.Der König, wie er die gr<strong>und</strong>lose Hässlichkeit an seinervermeintlichen Frau erblickte, wurde sehr böse <strong>und</strong> befahl, denKutscher in eine Grube zu werfen, die voll Ottern <strong>und</strong>Schlangen war. Die alte Hexe aber wusste den König doch so zubestricken <strong>und</strong> ihm die Augen zu verblenden, dass er sie <strong>und</strong>ihre Tochter behielt <strong>und</strong> zu sich nahm, bis dass sie ihm ganzleidlich vorkam <strong>und</strong> er sich wirklich mit ihr verheiratete.Einmal abends saß die schwarze Braut dem König auf demSchoß, als eine weiße Ente <strong>zum</strong> Gossenstein in die Küchegeschwommen kam <strong>und</strong> <strong>zum</strong> Küchenjungen sagte: »Jüngelchenmach Feuer an, dass ich meine Federn wärmen kann!«-88-


Das tat der Küchenjunge <strong>und</strong> machte ihr ein Feuer auf demHerd. Da kam die Ente, schüttelte sich, setzte sich daneben <strong>und</strong>strich sich die Federn mit dem Schnabel zurecht. Während sie sosaß <strong>und</strong> sich wohltat, fragte sie: »Was macht mein BruderReginald?«Der Küchenjunge antwortete: »Liegt tief bei Ottern <strong>und</strong>Schlangen.«Sie fragte: »Was macht die schwarze Hex im Haus?«Der Küchenjunge antwortete: »Die sitzt warm in KönigsArm.«Die Ente sagte: »Dass Gott erbarm!«Dann schwamm sie den Gossenstein wieder hinaus. Denfolgenden Abend kam sie wieder <strong>und</strong> stellte dieselben Fragen<strong>und</strong> am dritten Abend noch einmal. Da konnte es derKüchenjunge nicht länger übers Herz bringen <strong>und</strong> sagte demKönig alles. Der König aber ging den ändern Abend hin <strong>und</strong> wiedie Ente den Kopf durch den Gossenstein hereinstreckte, nahmer sein Schwert <strong>und</strong> hieb ihr den Hals durch, da wurde sie aufeinmal <strong>zum</strong> schönsten Mädchen <strong>und</strong> glich genau dem Bild, dasder Bruder von ihr gemacht hatte.Der König aber war voll Freuden <strong>und</strong> weil sie ganz nassdastand, ließ er ihr köstliche Kleider bringen. Als sie sie angetanhatte, erzählte sie ihm, wie sie in den Fluss geworfen wordenwar <strong>und</strong> die erste Bitte, die sie tat, war, dass ihr Bruder aus derSchlangenhöhle heraus geholt werde, welches auch gleichgeschah.Aber der König ging in die Kammer, wo die alte Hexe saß<strong>und</strong> fragte: »Was verdient die, welche das <strong>und</strong> das tut?« <strong>und</strong>erzählte den ganzen Hergang. Die Alte war verblendet <strong>und</strong>merkte nichts <strong>und</strong> sprach: »Die verdient, dass man sie nacktauszieht <strong>und</strong> in ein Fass mit Nägeln legt <strong>und</strong> vor das Fass einPferd spannt <strong>und</strong> das Pferd in alle Welt schickt.« Alles dasgeschah nun an ihr <strong>und</strong> ihrer schwarzen Tochter.-89-


Der König heiratete die schöne Braut <strong>und</strong> belohnte den treuenBruder, indem er ihn zu einem reichen <strong>und</strong> angesehenen Mannmachte.-90-


Das seltsame LichtEs war einmal ein Soldat, der dem König lange Jahre treugedient hatte. Als aber der Krieg zu Ende war <strong>und</strong> der Soldataufgr<strong>und</strong> zahlreicher Verletzungen nicht weiter dienen konnte,sprach der König zu ihm: »Du kannst nach Hause gehen, ichbrauche dich nicht mehr. Du bekommst den Lohn nicht weiter,denn Geld erhält nur der, der mir dafür Dienste leistet.« Nunwusste der Soldat nicht, wovon er leben sollte <strong>und</strong> ging vollSorgen den ganzen Tag, bis er abends in einen Wald kam. Ersah in der Finsternis ein Licht <strong>und</strong> als er näher kam, sah er einHaus, in dem eine Hexe wohnte. »Gib mir ein Lager für dieNacht <strong>und</strong> ein wenig Essen <strong>und</strong> Trinken«, sprach der Soldat.»Oho«, antwortete die Hexe, »wer gibt denn einemdahergelaufenen Soldaten etwas? Doch ich will barmherzig sein<strong>und</strong> dich aufnehmen, wenn du tust, was ich verlange.«»Was verlangst du?« fragte der Soldat. »Dass du mir morgenmeinen Garten umgräbst.« entgegnete die Hexe. Der Soldat wareinverstanden <strong>und</strong> arbeitete den ganzen nächsten Tag mit allerKraft, konnte aber vor Abend nicht fertig werden. Da sprach dieHexe: »Ich sehe wohl, dass du heute nicht fertig wirst. Doch willdich noch eine Nacht aufnehmen, dafür sollst du mir abermorgen ein Fuder Holz spalten <strong>und</strong> klein machen!« Der Soldatbrauchte dazu den ganzen Tag <strong>und</strong> abends schlug ihm die Hexevor, noch eine weitere Nacht zu bleiben. »Morgen habe ich nureine kleine Arbeit für dich. Hinter meinem Haus ist ein alter,wasserloser Brunnen. In den ist mir ein Licht gefallen, das blauscheint <strong>und</strong> nicht verlischt. Das hol mir wieder heraus!« Amändern Morgen führte ihn die Hexe zu dem Brunnen <strong>und</strong> ließihn in einem Korb herunter Er fand das blaue Licht <strong>und</strong> gab ihrein Zeichen, dass sie ihn wieder hinaufziehen sollte. Sie zog ihnin die Höhe, als er aber nahe am Rand war, wollte sie ihm dasblaue Licht abnehmen. »Nein«, sprach der Soldat, der ihreVorhaben ahnte, »das Licht bekommst du erst, wenn ich wieder-91-


mit beiden Füßen auf dem Boden stehe.«Da wurde die Hexe wütend, ließ ihn wieder hinunter in denBrunnen fallen <strong>und</strong> ging fort. Der arme Soldat fiel auf den festenBoden <strong>und</strong> das blaue Licht schien immer noch. Er sah, dass erdem Tode wohl nicht entgehen würde <strong>und</strong> saß eine Weile ganztraurig, bis er zufällig in seiner Tasche seine Tabakspfeife fand,die noch halb gestopft war. Er zündete sie an dem blauen Lichtan <strong>und</strong> fing an zu rauchen. Als der Dampf sich in der Höhleverteilt hatte, stand plötzlich ein kleines schwarzes Männchenvor ihm <strong>und</strong> fragte: »Herr, was befiehlst du?« Der Soldat fragteverw<strong>und</strong>ert: »Was habe ich dir zu befehlen?« Darauf sagte dasMännchen, es müsse alles tun, was er ihm befehle. »Gut«,sprach der Soldat, »hilf mir aus dem Brunnen!«Das Männchen führte ihn durch einen unterirdischen Gang,vergaß aber nicht, das blaue Licht mitzunehmen. Unterwegskamen sie an den Schätzen der Hexe vorbei <strong>und</strong> der Soldatnahm so viel Gold mit, wie er tragen konnte. Als er oben war,sprach er zu dem Männchen: »Geh, fessle die alte Hexe <strong>und</strong>bring sie vor das Gericht!« Es dauerte nicht lange, da kam dieHexe auf einem wilden Kater mit furchtbarem Geschreivorbeigeritten <strong>und</strong> kurz darauf war das Männchen zurück. Essprach: »Es ist alles getan, die Hexe hängt schon am Galgen.Was befiehlst du nun?«»Im Augenblick nichts«, sprach der Soldat, »aber sei da,wenn ich dich rufe!« Darauf sprach das Männchen: »Dubrauchst nur deine Pfeife an dem blauen Licht anzuzünden <strong>und</strong>schon stehe ich vor dir.« Mit diesen Worten verschwand derKleine.Der Soldat kehrte in die Stadt zurück, aus der er gekommenwar, ging in den besten Gasthof <strong>und</strong> ließ sich schöne Kleidermachen <strong>und</strong> sein Zimmer so prächtig wie möglich einrichten.Als es fertig war <strong>und</strong> der Soldat Quartier bezogen hatte, rief erdas schwarze Männchen <strong>und</strong> sprach: »Ich habe dem König treugedient, aber er hat mich fortgeschickt <strong>und</strong> hungern lassen.-92-


Dafür will ich nun Rache nehmen.« Der Kleine fragte, was ertun solle. »Abends, wenn die Königstochter schläft, bring siehierher, sie soll meine Magd sein!« Darauf sprach dasMännchen: »Das ist ein Leichtes für mich, aber für dich kann esgefährlich werden. Wenn das herauskommt, wird es dir schlimmergehen!« Als es zwölf geschlagen hatte, ging die Tür auf <strong>und</strong>das Männchen trug die Königstochter herein. Der Soldat befahlder Königstochter, die Stube zu kehren <strong>und</strong> als sie damit fertigwar, befahl er ihr, ihm die Stiefel auszuziehen. Er warf sie ihrins Gesicht <strong>und</strong> sie musste sie aufheben, reinigen <strong>und</strong> glänzendmachen. Die Königstochter tat alles, was er befahl stumm <strong>und</strong>mit halb geschlossenen Augen, aber ohne Widerstreben. Beimersten Hahnenkrähen brachte das Männchen sie wieder insSchloss zurück.Am anderen Morgen stand die Königstochter auf, ging zuihrem Vater <strong>und</strong> erzählte ihm, sie hätte einen seltsamen Traumgehabt: »Ich wurde durch die Straßen fortgetragen <strong>und</strong> in dasZimmer eines Soldaten gebracht. Dem musste ich als Magddienen, die Stube kehren <strong>und</strong> die Stiefel putzen. Es war nur einTraum, doch ich bin so müde, als hätte ich das wirklich allesgetan.« Der König empfahl ihr, die Tasche voll Erbsen zustecken <strong>und</strong> ein Loch hineinzuschneiden. Würde sie wiederabgeholt werden, so fielen die Erbsen heraus <strong>und</strong> ließen eineSpur auf der Straße. Doch das Männchen hatte das mit angehört<strong>und</strong> als es die Königstochter in der nächsten Nacht abholte,streute es in allen Straßen Erbsen <strong>und</strong> die Königstochter musstewieder bis <strong>zum</strong> Hahnenkrähen Mägdedienste bei dem Soldatenverrichten.Als des Königs Leute am anderen Morgen die Spur derKönigstochter verfolgen sollten, fanden sie in allen StraßenErbsen <strong>und</strong> so war es vergeblich, Da sprach der König: »Wirmüssen uns etwas anderes ausdenken. Behalte deine Schuhe an,ehe du dich schlafen legst. Und bevor du von dort zurückkehrst,verstecke einen davon, ich werde ihn schon ausfindig machen.«-93-


Doch das schwarze Männchen hatte auch dies gehört <strong>und</strong> als derSoldat abends verlangte, es solle die Königstochter herbeitragen,riet es ihm ab <strong>und</strong> sagte, gegen diese List wüsste es kein Mittel<strong>und</strong> wenn der Schuh bei ihm gef<strong>und</strong>en würde, so könnte es ihmschlimm ergehen. »Tu was ich dir sage!« befahl der Soldat <strong>und</strong>die Königstochter musste auch in er dritten Nacht wie eineMagd arbeiten, doch bevor sie zurückgetragen wurde, verstecktesie einen Schuh unter dem Bett.Am anderen Morgen ließ der König in er ganzen Stadt denSchuh seiner Tochter suchen. Er wurde bei dem Soldatengef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> dieser, der sich auf Drängen des kleinenMännchens hin auf den Weg gemacht hatte, wurde baldeingeholt <strong>und</strong> ins Gefängnis geworfen.Bei der Flucht hatte er das blaue Licht <strong>und</strong> das Goldvergessen <strong>und</strong> hatte nur noch einen Dukaten in der Tasche. Wieer nun mit Ketten belastet am Fenster des Gefängnisses stand,sah er einen seiner Kameraden vorbeigehen, Er sprach zu ihm:»Sei so gut <strong>und</strong> hol mir das kleine Bündelchen, das ich imGasthaus habe liegen lassen. Ich gebe dir einen Dukaten dafür.«Der Kamerad brachte das Verlangte <strong>und</strong> sobald der Soldatwieder allein war, steckte er seine Pfeife an <strong>und</strong> das schwarzeMännchen erschien. Es sprach: »Sei ohne Furcht! Geh, wohinsie dich führen <strong>und</strong> lass alles geschehen! Nimm aber das blaueLicht mit!«Am anderen Tag wurde der Soldat vor den Richter geführt<strong>und</strong> obwohl er nichts Böses getan hatte, wurde er <strong>zum</strong> Todeverurteilt. Als er hinausgeführt wurde, bat er den König umeinen letzten Gefallen. »Was für einen?« fragte der König.»Dass ich auf dem Weg noch eine Pfeife rauchen darf!« sprachder Soldat. »Du kannst drei rauchen«, antwortete der König,»aber glaube nicht, dass ich dir das Leben schenke!« Der Soldatzog die Pfeife hervor <strong>und</strong> zündete sie an dem blauen Licht an.Als etwas Rauch aufgestiegen war, stand das kleine Männchenda, hatte einen Knüppel in der Hand <strong>und</strong> sprach: »Was befiehlst-94-


du, Herr?«»Schlag die falschen Richter <strong>und</strong> ihre Häscher nieder <strong>und</strong>verschone auch den König nicht, der mich so schlecht behandelthat!« Da fuhr das Männchen wie der Blitz hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> wenes mit dem Knüppel nur anrührte, der fiel zu Boden. Der Königbekam Angst <strong>und</strong> um sein Leben zu behalten gab er demSoldaten das Reich <strong>und</strong> die Königstochter zur Frau.-95-


Die weiße TaubeEs fuhr einmal ein armes Dienstmädchen mit seinerHerrschaft durch einen großen Wald <strong>und</strong> als sie mitten darinwaren, kamen Räuber aus dem Dickicht hervor <strong>und</strong> ermordetenjeden, den sie fanden. Da kamen alle um, bis auf das Mädchen,das in der Angst aus dem Wagen gesprungen war <strong>und</strong> sich hintereinem Baum verborgen hatte. Als die Räuber mit ihrer Beutefort waren, trat es herbei <strong>und</strong> sah das große Unglück. Es fingbitterlich an zu weinen <strong>und</strong> sagte: »Was soll ich armes Mädchennun anfangen? Ich weiß nicht, wie ich aus dem Wald wiederherauskomme, keine Menschenseele wohnt darin <strong>und</strong> ich mussgewiss verhungern.« Es ging herum <strong>und</strong> suchte einen Weg,konnte aber keinen finden.Als es Abend wurde, setzte es sich unter einen Baum, befahlsich Gott <strong>und</strong> wollte da sitzen bleiben <strong>und</strong> nicht weggehen, egalwas geschehe. Als es aber eine Weile da gesessen hatte, kam einweißes Täubchen zu ihm geflogen <strong>und</strong> hatte ein kleinesgoldenes Schlüsselchen im Schnabel. Es legte dem Mädchen dasSchlüsselchen in die Hand <strong>und</strong> sprach: »Siehst du dort dengroßen Baum? Daran ist ein kleines Schloss, das schließ mitdem Schlüsselchen auf <strong>und</strong> du wirst genug Essen finden <strong>und</strong>keinen Hunger mehr leiden.« Da ging das Mädchen zu demBaum, schloss ihn auf <strong>und</strong> fand Milch in einem kleinenSchüsselchen <strong>und</strong> Weißbrot dazu, so dass es sich satt essenkonnte. Als es satt war, sprach es: »Jetzt ist die Zeit, wo dieHühner daheim auffliegen. Ich bin so müde, könnte ich michdoch auch in mein Bett legen!« Da kam das Täubchen wieder<strong>und</strong> brachte ein anderes goldenes Schlüsselchen im Schnabel<strong>und</strong> sagte: »Schließ dort den Baum auf, so wirst du ein Bettfinden!« Das Mädchen schloss auf <strong>und</strong> fand ein schönes,weiches Bettchen. Es betete <strong>zum</strong> lieben Gott, er möchte esbehüten in der Nacht, legte sich hin <strong>und</strong> schlief ein.-96-


Am Morgen kam das Täubchen <strong>zum</strong> dritten Mal, brachtewieder ein Schlüsselchen <strong>und</strong> sprach: »Schließ dort den Baumauf, da wirst du Kleider finden!« Und als das Mädchenaufschloss, fand es Kleider mit Gold <strong>und</strong> Edelsteinen besetzt, soherrlich, wie keine Königstochter sie hat. So lebte das Mädcheneine Zeitlang <strong>und</strong> das Täubchen kam alle Tage <strong>und</strong> sorgte füralles, was es brauchte <strong>und</strong> das war ein stilles, gutes Leben.Einmal aber kam das Täubchen <strong>und</strong> sprach: »Willst du mireinen Gefallen tun?«»Von Herzen gern«, sagte das Mädchen. Da sprach dasTäubchen: »Ich will dich zu einem kleinen Häuschen führen, dageh hinein, mittendrin am Herd wird eine alte Frau sitzen <strong>und</strong>›Guten Tag‹ sagen. Gib ihr keine Antwort, egal was sie sagt,sondern geh weiter zu der Tür zu ihrer Rechten. Öffne die Tür<strong>und</strong> du wirst in eine Stube kommen, wo eine Menge Ringe aufdem Tisch liegen. Da sind viele prächtige Ringe mit glitzerndenSteinen herbei, die lass aber liegen <strong>und</strong> bring mir einenschlichten, der auch dabei sein muss, so schnell du kannst!« DasMädchen ging zu dem Häuschen <strong>und</strong> trat ein. Da saß eine Alte,die machte große Augen, als sie es erblickte <strong>und</strong> sprach: »GutenTag, mein Kind!« Das Mädchen gab ihr keine Antwort <strong>und</strong> gingauf die Tür zu. »Wohin?« rief die Alte <strong>und</strong> fasste es beim Rock<strong>und</strong> wollte es festhalten. »Das ist mein Haus, da darf niemandhinein, wenn es mir nicht recht ist.« Aber das Mädchen schwieg,machte sich von ihr los <strong>und</strong> ging in die Stube hinein. Da lagennun auf dem Tisch jede Menge Ringe, die ihm vor den Augenglitzerten <strong>und</strong> glimmerten. Es warf sie durcheinander <strong>und</strong> suchtenach dem schlichten Ring, konnte ihn aber nicht finden. Wie esso suchte, sah es die Alte, die daherschlich <strong>und</strong> mit einemVogelkäfig in der Hand fort wollte. Das Mädchen ging auf siezu, nahm ihr den Käfig aus der Hand <strong>und</strong> wie es ihn aufhob <strong>und</strong>hineinsah, saß ein Vogel darin, der den schlichten Ring imSchnabel hatte. Es nahm den Ring <strong>und</strong> lief froh damit <strong>zum</strong> Haushinaus <strong>und</strong> dachte, das weiße Täubchen würde kommen, um den-97-


Ring zu holen. Doch das Täubchen kam nicht.Das Mädchen lehnte sich an einen Baum, um auf dasTäubchen zu warte <strong>und</strong> wie es so da stand, da war ihm, als wäreder Baum weich <strong>und</strong> biegsam <strong>und</strong> senke seine Zweige herab.Auf einmal schlangen sich die Zweige um es herum <strong>und</strong> warenArme. Als es sich umsah, war der Baum ein schöner Mann, deres umarmte, herzlich küsste <strong>und</strong> sagte: »Du hast mich erlöst <strong>und</strong>aus der Gewalt der Alten befreit, die eine böse Hexe ist. Siehatte mich in einen Baum verwandelt <strong>und</strong> jeden Tag war ich fürein paar St<strong>und</strong>en eine weiße Taube. Solange sie den Ring besaß,konnte ich meine menschliche Gestalt nicht wieder erhalten.«Da standen auch seine Diener <strong>und</strong> Pferde neben ihm, die dieAlte auch in Bäume verwandelt hatte. Sie fuhren alle fort ins einReich, denn er war ein Königssohn <strong>und</strong> sie heirateten <strong>und</strong> lebtenglücklich.-98-


Der kluge BäckerEs war einmal ein großes Königreich, in dem lebte ein klugerBäckergeselle. Nun trug es sich eines Tages zu, dass der Königdemjenigen seine Tochter versprach, der das Königreich vonden drei bösen Mächten befreien konnte. In dem Königreichlebten nämlich eine alte, bucklige Hexe, ein böser Zauberer <strong>und</strong>ein starker, grausamer Riese, Um das Königreich zu befreien,brauchte man drei Haare von der Hexe, den Zauberstab desZauberers <strong>und</strong> einen Zahn des grausamen Riesen. Viele Prinzen<strong>und</strong> Ritter versuchten sich an der schwierigen Aufgabe, doch siekehrten nie wieder zurück.Eines Tages, als schon niemand mehr daran glaubte, dass dasKönigreich gerettet würde, da trat der Bäckergeselle vor denKönig <strong>und</strong> sagte: »Eure Majestät, ich will mein Glück versuchen<strong>und</strong> das Reich von dem bösen Fluch befreien. Gebt mir einPferd <strong>und</strong> drei Tage Zeit, so will ich Euch die Haare, denZauberstab <strong>und</strong> den Zahn schon bringen!« Der König dachte beisich: »Nun, um einen Bäcker ist es nicht schade, soll er seinGlück doch versuchen.« Also bekam der Bäcker das Pferd, rittnach Hause <strong>und</strong> machte sich an die Arbeit.Zuerst machte er einen köstlichen Teig <strong>und</strong> backte darauseinen Pfefferkuchen, den er mit Baldrian füllte. Dann rollte erden Teig zu einer dünnen Stange, backte sie <strong>und</strong> färbte sieschwarz. Mit Zuckerguss machte er die obere Spitze derTeigstange weiß, so dass sie gerade aussah wie ein Zauberstab.Schließlich backte er ein Brot, so groß wie das Rad einesWagens. Das ließ er lange genug in der Backstube liegen, bis esso hart war, dass man es unmöglich essen konnte.Dann lud er alles auf das Pferd <strong>und</strong> ritt los. Am ersten Tagkam er zu der kleinen Hütte, in der die Hexe hauste. Er klopftemutig an <strong>und</strong> rief: »Pfefferkuchen, leckere Pfefferkuchen! Diebesten Pfefferkuchen der Weit!« Da öffnete die Hexe neugierig-99-


<strong>und</strong> sagte: »Was? Deine Pfefferkuchen sollen besser sein als die,die ich mache? Das glaube ich nicht!« Und schon nahm die Alteden Pfefferkuchen, den der Bäcker ihr gab, biss hinein <strong>und</strong> fielaugenblicklich in einen tiefen, festen Schlaf. Da riss der Bäckerihr geschwind drei Haare aus <strong>und</strong> machte, dass er fort kam.Am zweiten Tag kam er zu dem Schloss des Zauberers,klopfte an <strong>und</strong> verlangte, den Zauberer zu sprechen. Als erendlich vor ihm stand, sagte er: »Ich bin der größte Zauberer derWelt <strong>und</strong> fordere dich zu einem Zauberwettstreit heraus! Lehnstdu ab, bist du ein Feigling!« Da konnte der Zauberer nichtanders <strong>und</strong> willigte ein. Der Bäcker sagte: »Ich kann mit einerHand einen Stein zerquetschen, dass das Wasser aus ihmherausläuft!« Der Zauberer schüttelte ungläubig den Kopf <strong>und</strong>begehrte, den Zaubertrick zu sehen. Der Bäcker aber nahm ausseiner Tasche heimlich einen alten Käse, zerquetschte ihn <strong>und</strong>das Wasser lief über seine Hand <strong>und</strong> tropfte auf den Boden. Nunnahm der Zauberer einen Stein vom Boden, drückte <strong>und</strong>quetschte ihn soviel er nur konnte, doch kein Tropfen Wasserlief aus seiner Hand.Da hatte der Zauberer verloren, doch er bat den Bäcker, ihmdoch den Zaubertrick zu verraten. Da sagte der Bäcker: »Dasliegt nur an meinem besonderen Zauberstab. Mit ihm schaffe ichalles, was. ich nur will!« Da wollte der Zauberer denvermeintlichen Zauberstab unbedingt besitzen <strong>und</strong> bot demBäcker reichlich Geld dafür. Der Bäcker nahm das Angebot an,sagte aber: »Ich lasse dir meinen Zauberstab, aber du musst mirdafür deinen geben, damit ich auf dem Heimweg noch zaubernkann.« Dem Zauberer war das recht <strong>und</strong> so tauschten sie ihreZauberstäbe; der Bäcker aber machte sich schleunigst aus demStaub.Am dritten Tag kam der Bäcker zu der Höhle, in der der Riesewohnte. Er stellte sich vor den Eingang der Höhle <strong>und</strong> rief:»Frisches Brot zu verkaufen, frisches Brot!« Und weil Riesenständig riesigen Hunger haben, kam dieser auch sofort aus der-100-


Höhle <strong>und</strong> sagte: »Ist dein Brot auch wirklich frisch? Wennnicht, verspeise ich dich, du Wicht!« Der Bäcker nickte eifrig<strong>und</strong> gab dem Riesen ein kleines, frisches Brot, Das schlang derVielfraß im Nu herunter <strong>und</strong> stürzte sich, ohne zu fragen, aufdas große Brot, das der Bäcker auf dem Pferderücken hatte. Erbiss gierig hinein <strong>und</strong> weil das Brot so hart war, verlor er, ohnees zu merken, einen Zahn. Da drehte sich der Riesefuchsteufelswild herum <strong>und</strong> schrie den Bäcker an: »Das sollfrisches Brot sein, du garstiges Lügenmaul! Jetzt fresse ich dichauf!« Da aber sprach der Bäcker: »Das Brot war gar nicht fürdich gedacht, aber du musstest es ja unbedingt essen, ohnevorher zu fragen. Das bist du nun selbst schuld! Und wenn dujetzt nicht auf der Stelle still bist, verwandele ich dich in einenHöhlenzwerg.« Bei diesen Worten fuchtelte der Bäckeraufgeregt mit dem Zauberstab, so dass der Riese sich fürchtete<strong>und</strong> schnell in seiner Höhle verschwand.Der Bäcker aber nahm den Zahn aus dem harten Brot <strong>und</strong> rittso schnell er konnte <strong>zum</strong> Königshof. Als er dort ankam, zeigteer dem König die Haare der Hexe, den Stab des Zauberers <strong>und</strong>den Zahn des Riesen. Und weil er nun das Königreich erlösthatte, gab ihm der König die Prinzessin zur Frau.-101-


Das Märchen vom halben HahnIn einem Dorf an der Küste des Meeres lebte ein armerFischer mit seinen beiden Kindern, Peter <strong>und</strong> Lieschen. Als derFischer eines Tages starb, standen die beiden Kinder ganz alleinin der weiten Welt; niemand wollte sie zu sich nehmen. Als sieden alten Vater begraben hatten, wollten sie sich das Erbe teilen.Die Erbschaft war nun allerdings nicht besonders groß, es warennur noch zwei Hühner <strong>und</strong> ein Hahn da. Jeder bekam also einHuhn, wie aber sollten sie nun den Hahn unter sich teilen?Lieschen schlug vor, den Hahn durchzuschneiden, so dassjeder eine Hälfte bekäme. Peter war einverstanden <strong>und</strong> so teiltensie den Hahn. Peter bekam die Hälfte mit dem Kopf, Lieschendie mit dem Schwanz, Lieschen rupfte nun ihren Teil, tat ihn inden Topf <strong>und</strong> ließ ihn sich gut schmecken.Da kam plötzlich eine Hexe durch den Schornstein in dieHütte <strong>und</strong> sagte zu Peter: »Tue deine Hälfte nicht in den Topf.Ich will sie verzaubern <strong>und</strong> dann wird sie alles für dich tun, wasdu dir wünschst.« Die Hexe nahm ihren Zauberstab, bestrich dieHahnenhälfte damit <strong>und</strong> murmelte dabei allerlei Zaubersprüche.Dann verschwand sie wieder durch den Schornstein, so schnellwie sie gekommen war. »Das ist ja alles gut <strong>und</strong> schön«, sagtePeter zu Lieschen, »aber was sollen wir nun mit derHahnenhälfte machen?«Lieschen, die sehr klug war, sagte: »Wenn wir Geld haben,können wir uns alles kaufen, was wir brauchen. Wir wollen denhalben Hahn in das Schloss des Königs schicken, da soll er unsdrei Säcke mit Goldstücken holen.« Sofort machte sich derhalbe Hahn auf dem Weg <strong>zum</strong> Schloss. Unterwegs begegnete erzwei Dieben, die ihn erstaunt fragten: »Du halber Hahn, wowillst du denn hin?«»Ins königliche Schloss«, antwortete der halbe Hahn.»Können wir dich begleiten?« fragten die Diebe. Der Hahn-102-


erlaubte es <strong>und</strong> sagte: »Ja, aber kriecht unter meine Federn!«Die beiden Diebe versteckten sich also unter dem Gefieder deshalben Hahns. Kurze Zeit später begegneten dem halben Hahnzwei Füchse. Die Füchse fragten erstaunt: »Halber Hahn, wowillst du denn hin?« Der Hahn antwortete ihnen <strong>und</strong> als auch dieFüchse ihn begleiten wollten, da sprach er: »Ich erlaube es euch,aber kriecht unter meine Federn!« Das taten die Füchse <strong>und</strong> sosetzte der halbe Hahn seinen Weg <strong>zum</strong> Schloss fort.Nach einer Weile kam der halbe Hahn an einem großenWasser vorbei. Auch das Wasser wollte den Hahn <strong>zum</strong> Schlossdes Königs begleiten <strong>und</strong> so forderte der Hahn das Wasser auf,sich ebenfalls unter seinem Gefieder zu verstecken. Kurz daraufkam der halbe Hahn zu dem königlichen Schloss, klopfte an <strong>und</strong>sagte dem Diener, er wolle drei Säcke mit Goldstücken. DerDiener brachte diese Forderung dem König, der aber befahl, denhalben Hahn zu den anderen Hühnern zu sperren. Da tat derDiener dann auch, aber als es Nacht wurde, befahl der halbeHahn den Füchsen, die Hühner aufzufressen. Die Füchse tatendies nur zu gern. Am nächsten Morgen sah der Diener dieBescherung, eilte zu dem König <strong>und</strong> berichtete ihm, was in derNacht geschehen war. Da sagte der König: »Fangt den halbenHahn <strong>und</strong> sperrt ihn in den Pferdestall!« Der Diener tat wie ihmgeheißen. In der Nacht aber befahl der halbe Hahn den Dieben,die Pferde zu stehlen <strong>und</strong> mit ihnen davonzureiten. Als derKönig am nächsten Morgen erfuhr, was in der Nacht geschehenwar, sagte er erbost: »Steckt den halben Hahn in einenglühenden Ofen!«Aber kaum war der halbe Hahn in dem Ofen, da strömte dasWasser unter seinen Federn hervor <strong>und</strong> im Nu war das Feuererloschen. Der halbe Hahn krähte belustigt <strong>und</strong> der König riefverzweifelt: »Gebt dem verfluchten Tier, was es haben will,sonst verdirbt es mich <strong>und</strong> mein ganzes Schloss.« Der halbeHahn bekam also die drei Säcke mit Goldstücken <strong>und</strong> eiltewieder zu Peter <strong>und</strong> Lieschen, die nun reich <strong>und</strong> ohne Sorgen-103-


viele, viele Jahre vergnügt lebten. Der halbe Hahn aber war nunimmer bei ihnen <strong>und</strong> wurde von ihnen gehegt <strong>und</strong> gepflegt.-104-


Kapitel 6Klassische Kindermärchen-105-


Hänsel <strong>und</strong> GretelEs war einmal ein armer Holzfäller, der vor einem großenWald wohnte, der hatte kein Geld <strong>und</strong> nur das Nötigste zu essenfür seine Frau <strong>und</strong> seine zwei Kinder, Hänsel <strong>und</strong> Gretel. Einmalkonnte er selbst das nicht mehr schaffen <strong>und</strong> wusste sich nichtzu helfen in seiner Not. Wie er sich abends vor Sorge in seinemBett herumwälzte, da sagte seine Frau zu ihm: »Mann, hör aufmich, morgen früh nimm die beiden Kinder, gib jedem noch einStück Brot, dann führ sie hinaus in den Wald, mitten hinein, woer am dicksten ist, mach ihnen ein Feuer an, <strong>und</strong> dann geh weg<strong>und</strong> lass sie dort, denn wir können sie nicht länger ernähren.«»Nein, Frau«, sagte der Mann, »Das bring ich nicht übersHerz, meine eigenen Kinder zu den wilden Tieren zu führen, diesie bald in dem Wald zerreißen würden.« Die Frau aber sprach:»Wenn Du das nicht tust, müssen wir alle miteinanderverhungern.« Da ließ sie ihm keine Ruhe, bis er endlich ja sagte.Die zwei Kinder waren auch noch wach vor Hunger <strong>und</strong>hatten alles gehört, was die Mutter <strong>zum</strong> Vater gesagt hatte.Gretel fing erbärmlich an zu weinen. Hänsel aber sprach: »Seistill, Gretel, <strong>und</strong> gräm Dich nicht. Ich will uns helfen.« Dannstand er auf, zog sich an <strong>und</strong> schlich hinaus. Da schien derMond hell, <strong>und</strong> die weißen Kieselsteine glänzten wie Silber.Hänsel bückte sich <strong>und</strong> machte seine Hosentaschen ganz volldavon, so viel nur hinein wollte, dann ging er zurück ins Haus:»Tröste Dich, Gretel, <strong>und</strong> schlaf nur ruhig.« legte sich wiederins Bett <strong>und</strong> schlief ein.Morgens früh, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam dieMutter <strong>und</strong> weckte sie alle beide: »Steht auf ihr Kinder, wirwollen in den Wald gehen, da habt ihr jedes ein Stücklein Brot,aber hebt es Euch für den Mittag auf.« Gretel nahm das Brotunter ihre Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte,dann machten sie sich auf den Weg in den Wald hinein. Wie sie-106-


ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still <strong>und</strong> guckte<strong>zum</strong> Haus zurück, bald darauf wieder <strong>und</strong> immer wieder. DerVater sprach: »Hänsel, was guckst Du zurück <strong>und</strong> hältst Dichauf, lauf lieber weiter.«»Ach, Vater, ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, dassitzt oben auf dem Dach <strong>und</strong> will mir Ade sagen.« Die Muttersprach: »Du Narr, das ist nicht dein Kätzchen, das ist dieMorgensonne, die auf den Schornstein scheint.« Hänsel aberhatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einenvon den blanken Kieselsteinen auf den Weg geworfen.Wie sie mitten im Wald angekommen waren, sprach derVater: »Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feueranmachen, damit wir nicht frieren.« Hänsel <strong>und</strong> Gretel trugenReisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Dann steckten sie esan <strong>und</strong> wie die Flamme recht groß brannte, sagte die Mutter:»Nun legt euch ans Feuer <strong>und</strong> schlaft, wir wollen in den Wald<strong>und</strong> das Holz fällen, wartet, bis wir wiederkommen <strong>und</strong> euchabholen.«Hänsel <strong>und</strong> Gretel saßen an dem Feuer bis Mittag, dann aßjedes sein Stücklein Brot, <strong>und</strong> dann wieder bis <strong>zum</strong> Abend, aberVater <strong>und</strong> Mutter blieben aus, <strong>und</strong> niemand wollte kommen <strong>und</strong>sie abholen. Wie es nun finstere Nacht wurde, fing Gretel an zuweinen, aber Hänsel sprach: »Wart nur, bis der Mondaufgegangen ist.« Und als der Mond aufgegangen war, fasste erdie Gretel bei der Hand, da lagen die Kieselsteine wie Silber <strong>und</strong>schimmerten <strong>und</strong> zeigten ihnen den Weg. Da gingen sie dieganze Nacht durch, <strong>und</strong> wie es Morgen war, kamen sie wiederbeim Haus ihrer Eltern an. Der Vater freute sich von Herzen, alser seine Kinder wiedersah, denn er hatte sie ungern alleingelassen, die Mutter stellte sich auch, als wenn sie sich freute,heimlich aber war sie böse.Nicht lange danach war wieder kein Brot im Hause <strong>und</strong>Hänsel <strong>und</strong> Gretel hörten, wie abends die Mutter <strong>zum</strong> Vatersagte: »Einmal haben die Kinder den Weg zurück gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong>-107-


da habe ich es gut sein lassen, aber jetzt ist wieder nichts außereinem halben Laib Brot im Haus, Du musst sie morgen nochtiefer in den Wald führen, dass sie nicht wieder heim kommenkönnen, sonst müssen wir alle verhungern.« Dem Mann gefieldas nicht <strong>und</strong> er gedachte, es wäre doch besser, wenn du denletzten Bissen mit deinen Kindern teilst, aber weil er es einmalgetan hatte, so durfte er nicht nein sagen. Hänsel <strong>und</strong> Gretelhörten wiederum das Gespräch ihrer Eltern, Hänsel stand auf<strong>und</strong> wollte wieder Kieselsteine auflesen, aber wie er an die Türkam, da hatte die Mutter sie zugeschlossen. Doch tröstete erGretel <strong>und</strong> sprach:»Schlaf nur Gretel, der liebe Gott wird uns schon helfen.«Morgens früh erhielten sie ihr Stücklein Brot, noch kleiner alsdas vorige Mal. Auf dem Weg bröckelte es Hänsel in derTasche, stand oft still <strong>und</strong> warf ein Bröcklein auf die Erde. »Wasbleibst Du immer stehen, Hänsel, <strong>und</strong> guckst Dich um? Gehweiter.« sagte der Vater. »Ach, ich sehe nach meinemTäubchen, das sitzt auf dem Dach <strong>und</strong> will mir Ade sagen.« DieMutter sagte: »Du Narr, das ist nicht dein Täubchen, das ist dieMorgensonne, die auf den Schornstein oben scheint.« Hänselaber zerbröckelte all sein Brot <strong>und</strong> warf die Bröcklein auf denWeg.Die Mutter aber führte sie noch tiefer in den Wald hinein, wosie noch nie gewesen waren, da sollten sie wieder einschlafenbei einem großen Feuer <strong>und</strong> abends wollten die Eltern kommen<strong>und</strong> sie abholen. Zu Mittag teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel,weil der seins auf den Weg gestreut hatte; der Mittag verging<strong>und</strong> der Abend verging, aber niemand kam zu den armenKindern. Hänsel tröstete die Gretel <strong>und</strong> sagte: »Warte, wenn derMond aufgeht, dann seh ich die Bröcklein Brot, die ichausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Hause.« DerMond ging auf, aber als Hänsel nach den Bröcklein sah, dawaren sie weg. Die vielen tausend Vögel in dem Wald hatten siegef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> aufgepickt. Hänsel meinte jedoch den Weg nach-108-


Hause allein zu finden <strong>und</strong> zog Gretel mit sich, aber sie verirrtensich bald in der großen Wildnis <strong>und</strong> gingen die Nacht <strong>und</strong> denganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein. Sie gingen nocheinen Tag, aber sie kamen nicht aus dem Wald heraus <strong>und</strong>waren so hungrig, denn sie hatten nichts zu essen außer ein paarBeeren, die auf der Erde standen.Am dritten Tage gingen sie wieder bis <strong>zum</strong> Mittag, da kamensie an ein Häuslein, das war ganz aus Brot gebaut <strong>und</strong> war mitKuchen bedeckt <strong>und</strong> die Fenster waren aus hellem Zucker. »Dawollen wir uns niedersetzen <strong>und</strong> uns satt essen.« sagte Hänsel,»Ich will vom Dach essen, iss du vom Fenster, Gretel, das istschön süß für dich.« Hänsel hatte schon ein gutes Stück vomDach <strong>und</strong> Gretel schon ein paar r<strong>und</strong>e Fensterscheiben gegessen<strong>und</strong> brach sich eben eine neue aus, da hörten sie eine feineStimme, die von innen rief:»Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinemHäuschen?«Hänsel <strong>und</strong> Gretel erschraken so gewaltig, dass sie alles fallenließen, was sie in der Hand hielten, <strong>und</strong> gleich darauf sahen sieaus der Tür eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackeltemit dem Kopf <strong>und</strong> sagte: »Ei, ihr lieben Kinder, wo seid ihrdenn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollt es gut haben.«fasste sie beide bei der Hand <strong>und</strong> führte sie in ihr Häuschen. Dawurde gutes Essen aufgetragen: Pfannkuchen mit Zucker,Äpfeln <strong>und</strong> Nüssen, <strong>und</strong> dann wurden zwei schöne Bettleinbereitet, da legten sich Hänsel <strong>und</strong> Gretel hinein <strong>und</strong> meinten,sie wären wie im Himmel.Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf<strong>und</strong> hatte, um sie zu locken, ihr Brothäuslein gebaut, <strong>und</strong> wenneines in ihre Gewalt kam, dann machte sie es tot, kochte es <strong>und</strong>aß es, das war ihr wie ein Festtag. Da war sie nun recht froh, wieHänsel <strong>und</strong> Gretel ihr zugelaufen kamen. Früh, ehe die Kinderaufgewacht waren, stand sie schon auf, ging an ihre Bettlein,<strong>und</strong> wie sie die zwei da so lieblich ruhen sah, freute sie sich <strong>und</strong>-109-


dachte, das wird ein guter Bissen für dich sein. Sie packteHänsel <strong>und</strong> steckte ihn in einen kleinen Stall <strong>und</strong> wie er daaufwachte, war er von Gittern umschlossen, wie man jungeHühnlein einsperrt, <strong>und</strong> er konnte nur ein paar Schritte gehen.Das Gretel aber schüttelte sie <strong>und</strong> rief: »Steh auf, duFaulenzerin, hol Wasser, geh in die Küche <strong>und</strong> koch gut zuessen, dort steckt dein Bruder in einem Stall, den will ich erstfett machen, <strong>und</strong> wenn er fett ist, dann will ich ihn essen. Jetztsollst du ihn füttern.« Gretel erschrak <strong>und</strong> weinte, musste abertun, was die Hexe verlangte. Da wurde nun jeden Tag demHänsel das beste Essen gekocht, damit er fett werden sollte,Gretel aber bekam nichts als die Krebsschalen <strong>und</strong> jeden Tagkam die Alte <strong>und</strong> sagte: »Hänsel, streck Deine Finger heraus,damit ich fühlen kann, ob Du bald fett genug bist.« Hänsel aberstreckte ihr immer ein Knöchlein heraus, da w<strong>und</strong>erte sie sich,dass er gar nicht zunehmen wollte.Nach vier Wochen sagte sie eines Abends zu Gretel: »Seiflink, geh <strong>und</strong> trag Wasser herbei, dein Brüderchen mag nun fettgenug sein oder nicht, morgen will ich es schlachten <strong>und</strong> sieden,ich will in der Zwischenzeit den Teig vorbereiten, dass wir auchdazu backen können.« Da ging Gretel mit traurigem Herzen <strong>und</strong>trug das Wasser, worin Hänsel gesotten werden sollte. Frühmorgens musste Gretel aufstehen, Feuer anmachen <strong>und</strong> denKessel mit Wasser aufhängen. »Gib nun Acht, bis es siedet.«sagte die Hexe, »Ich will Feuer in dem Backofen machen <strong>und</strong>das Brot hineinschieben.« Gretel stand in der Küche, weintebittere Tränen <strong>und</strong> dachte, hätten uns doch besser die wildenTiere im Wald gefressen, so wären wir zusammen gestorben <strong>und</strong>müssten nun nicht das Herzeleid tragen, <strong>und</strong> ich müsste nichtselber das Wasser <strong>zum</strong> Tod meines lieben Bruders sieden, dulieber Gott, hilf uns armen Kindern aus der Not.Da rief die Alte: »Gretel, komm gleich einmal her zu demBackofen!« wie Gretel kam, sagte sie: »Guck hinein, ob dasBrot schon hübsch braun <strong>und</strong> gar ist, meine Augen sind-110-


schwach, ich kann nicht so weit sehen, <strong>und</strong> wenn du auch nichtkannst, so setz dich auf das Brett, so will ich Dichhineinschieben, da kannst du darin herumgehen <strong>und</strong> nachsehen.«Sobald aber Gretel darin war, wollte sie die Tür <strong>zum</strong>achen <strong>und</strong>Gretel sollte in dem heißen Ofen backen, denn sie wollte sieauch aufessen. Das dachte die böse Hexe <strong>und</strong> darum hatte sieGretel gerufen. Gott gab es aber Gretel ein <strong>und</strong> sie sagte: »Ichweiß nicht, wie ich das anfangen soll, zeig es mir erst, setz dichdarauf, ich will dich hineinschieben.« Und die Alte setzte sichauf das Brett <strong>und</strong> weil sie leicht war, schob Gretel sie hinein soweit sie konnte, dann machte sie geschwind die Tür zu <strong>und</strong>steckte den eisernen Riegel vor. Da fing die Alte in dem heißenBackofen an zu jammern, Gretel aber lief fort <strong>und</strong> die Hexemusste elendiglich verbrennen.Gretel lief <strong>zum</strong> Hänsel, machte ihm sein Türchen auf, Hänselsprang heraus, <strong>und</strong> sie herzten einander <strong>und</strong> waren froh. Dasganze Häuschen war voll von Edelgesteinen <strong>und</strong> Perlen, davonfüllten sie ihre Taschen, gingen fort <strong>und</strong> fanden den Weg nachHause.Der Vater freute sich, als er sie wiedersah, er hatte keinenvergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren, <strong>und</strong> warnun ein reicher Mann. Die Mutter aber war gestorben.-111-


RotkäppchenEs war einmal ein süßes Mädchen, die hatte jeder lieb, der sienur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste garnicht, was sie dem Kind noch alles geben sollte. Einmalschenkte sie ihm ein Käppchen aus rotem Samt, <strong>und</strong> weil ihmdas so gut stand <strong>und</strong> es auch nichts anderes mehr tragen wollte,hieß es nur noch das Rotkäppchen.Da sagte einmal seine Mutter zu ihm: »Komm, Rotkäppchen,da hast du ein Stück Kuchen <strong>und</strong> eine Flasche Wein, die bringder Großmutter hinaus, sie ist krank <strong>und</strong> schwach, da wird siesich daran laben. Sei hübsch artig <strong>und</strong> grüß sie von mir. Gehauch ordentlich <strong>und</strong> lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du <strong>und</strong>du zerbrichst das Glas, dann hat die kranke Großmutter nichts.Und hüte dich vor bösen Tieren!«Rotkäppchen versprach der Mutter recht gehorsam zu sein.Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbeSt<strong>und</strong>e vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam,begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, wasdas für ein böses Tier war <strong>und</strong> fürchtete sich nicht vor ihm.»Guten Tag, Rotkäppchen.«»Schönen Dank, Wolf.«»Wo willst du so früh hinaus, Rotkäppchen?«»Zur Großmutter.«»Was trägst du unter der Schürze?«»Die Großmutter ist krank <strong>und</strong> schwach, da bring ich ihrKuchen <strong>und</strong> Wein, gestern haben wir gebacken, da soll sie sichdran stärken.«»Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?«»Noch eine gute Viertelst<strong>und</strong>e in den Wald, unter den dreigroßen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten stehen dieNusshecken, das wirst du ja wissen.« sagte Rotkäppchen. Der-112-


Wolf dachte bei sich, das ist ein guter, fetter Bissen für mich,wie fängst du es an, dass du den kriegst? »Rotkäppchen, höre,«sagte er, »hast du die schönen Blumen nicht gesehen, die imWald stehen.? Warum guckst du nicht einmal um dich, ichglaube, du hörst gar nicht darauf, wie die Vöglein lieblichsingen? Du gehst ja nur für dich dahin, als wenn du im Dorf indie Schule gingest, <strong>und</strong> es ist so lustig draußen im Wald.«Rotkäppchen schlug die Augen auf <strong>und</strong> sah, wie die Sonnedurch die Bäume gebrochen war <strong>und</strong> alles voller schönerBlumen stand, da dachte es; Ei, wenn ich meiner Großmuttereinen schönen Strauß mitbringe, der wird ihr auch lieb sein, Esist noch früh, ich komme noch rechtzeitig an <strong>und</strong> es sprang inden Wald <strong>und</strong> suchte Blumen. Und wenn es eine gepflückt hatte,meinte es, dort stünde noch eine schönere <strong>und</strong> lief danach immertiefer in den Wald hinein.Der Wolf aber ging geradewegs <strong>zum</strong> Haus der Großmutter<strong>und</strong> klopfte an die Türe. »Wer ist draußen?«»Das Rotkäppchen, ich bringe dir Kuchen <strong>und</strong> Wein, machmir auf.«»Drück nur auf die Klinke, ich bin zu schwach <strong>und</strong> kann nichtaufstehen!« rief die Großmutter, Der Wolf drückte auf dieKlinke <strong>und</strong> die Tür sprang auf. Da ging er hinein, geradezu andas Bett der Großmutter <strong>und</strong> verschluckte sie. Dann nahm erihre Kleider, zog sie an, setzte sich ihre Haube auf, legte sich indas Bett <strong>und</strong> zog die Vorhänge zu.Rotkäppchen aber war herumgelaufen nach Blumen, <strong>und</strong> erstals es so viel hatte, dass es keine mehr tragen konnte, machte essich auf den Weg zur Großmutter. Wie es ankam, stand die Türeauf, Darüber w<strong>und</strong>erte es sich <strong>und</strong> wie es in die Stube kam, sahes so seltsam darin aus, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wieängstlich wird mir’s heute zu Mute? Ich bin doch sonst so gernebei der Großmutter. Darauf ging es <strong>zum</strong> Bett <strong>und</strong> zog dieVorhänge zurück. Da lag die Großmutter <strong>und</strong> hatte die Haube-113-


tief ins Gesicht gezogen <strong>und</strong> sah so w<strong>und</strong>erlich aus.»Großmutter, was hast du für große Hände?«»Damit ich dich besser hören kann.«»Großmutter, was hast du für große Augen?«»Damit ich dich besser sehen kann.«»Großmutter, was hast du für große Hände?«»Damit ich dich besser packen kann.«»Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?«»Damit ich dich besser fressen kann.« Da sprang der Wolf ausdem Bett, sprang auf das arme Rotkäppchen <strong>und</strong> verschlang es.Wie der Wolf das Rotkäppchen gefressen hatte, legte er sichwieder ins Bett, schlief ein <strong>und</strong> fing an, sehr laut zu schnarchen.Der Jäger ging gerade vorbei <strong>und</strong> dachte, wie kann eine alteFrau so schnarchen, du musst einmal nachsehen. Da trat erhinein <strong>und</strong> wie er vor das Bett kam, da lag der Wolf darin, dener so lange gesucht hatte. Der hatte gewiss die Großmuttergefressen, vielleicht ist sie ja noch zu retten, ich will nichtschießen, dachte der Jäger. Da nahm er eine Schere <strong>und</strong> schnittdem Wolf den Bauch auf <strong>und</strong> wie er ein paar Schnitte getanhatte, da sah er das rote Käppchen leuchten <strong>und</strong> wie er noch einwenig geschnitten hatte, da sprang das Mädchen heraus <strong>und</strong> rief:»Ach, wie war ich erschrocken, was war es so dunkel in demBauch vom Wolf!« Und dann kam die Großmutter auchlebendig heraus. Rotkäppchen aber holte große schwere Steine,damit füllten sie dem Wolf den Bauch <strong>und</strong> wie er aufwachte,wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass ertot umfiel.Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger nahm den Pelz vomWolf. Die Großmutter aß den Kuchen <strong>und</strong> trank den Wein, denRotkäppchen gebracht hatte. Und Rotkäppchen dachte bei sich;du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Weg ab in denWald laufen, wenn es dir die Mutter verboten hat.-114-


Des Kaisers neue KleiderEs war einmal ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neueKleider hielt, dass er all sein Geld dafür ausgab um rechtherausgeputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seineSoldaten <strong>und</strong> sein Volk, kümmerte sich nicht um Theater <strong>und</strong>liebte es nicht in den Wald zu fahren, außer um seine neuenKleider zu zeigen.Er hatte einen Rock für jede St<strong>und</strong>e des Tages <strong>und</strong> ebenso wieman von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hierimmer: »Der Kaiser ist in der Garderobe!«In der großen Stadt in der er wohnte, ging es sehr munter her.An jedem Tag kamen viele Fremde an <strong>und</strong> eines Tages kamenauch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus <strong>und</strong> sagten,dass sie den schönsten Stoff, den man sich denken könne, zuweben verstanden. Die Farben <strong>und</strong> das Muster seien nicht alleinungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die aus dem Stoffgenäht würden, sollten die w<strong>und</strong>erbare Eigenschaft besitzen,dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für seinAmt tauge oder der unverzeihlich dumm sei.›Das wären prächtige Kleider‹, dachte der Kaiser, ›wenn ichsolche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer zudem Amt, das sie haben, nicht taugen. Ich könnte die Klugenvon den Dummen unterscheiden! Ja, dieser Stoff muss sogleichfür mich gewebt werden!‹ Er gab den beiden Betrügern vielGeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten.Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob siearbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhl.Trotzdem verlangten sie die feinste Seide <strong>und</strong> das prächtigsteGold. Das steckten sie aber in ihre eigene Tasche <strong>und</strong> arbeitetenan den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.›Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Stoffsind!‹ dachte sich der Kaiser, aber es war ihm beklommen zu-115-


Mute, wenn er daran dachte, dass keiner, der dumm sei oderschlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne.Er glaubte zwar, dass er für sich selbst nichts zu fürchtenbrauchte, aber er wollte doch erst einen anderen vorschicken,um zu sehen, wie es damit stehe. Alle Menschen in der ganzenStadt wussten, welche besondere Kraft der Stoff hatte. Und allewaren begierig zu sehen wie schlecht oder dumm ihr Nachbarsei.›Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webernsenden‹, dachte der Kaiser. ›Er kann am besten beurteilen, wieder Stoff aussieht, denn er hat Verstand <strong>und</strong> keiner versieht seinAmt besser als er!‹Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo diezwei Betrüger saßen <strong>und</strong> an den leeren Webstühlen arbeiteten.›Gott behüte uns!‹ dachte der alte Minister <strong>und</strong> riss die Augenauf. ›Ich kann ja nichts sehen!‹ Aber das sagte er nicht.Beide Betrüger baten ihn näher zu treten <strong>und</strong> fragten, ob esnicht ein hübsches Muster <strong>und</strong> schöne Farben seien. Dannzeigten sie auf den leeren Stuhl <strong>und</strong> der arme, alte Minister fuhrfort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn eswar ja nichts da. ›Herr Gott‹, dachte er, ›sollte ich dumm sein?Das habe ich nie geglaubt <strong>und</strong> das darf kein Mensch wissen!Sollte ich nicht für mein Amt taugen? Nein, es geht nicht an,dass ich erzähle, ich könne den Stoff nicht sehen!‹»Nun, Sie sagen nichts dazu?« fragte der eine von denWebern. »Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst!« antwortete deralte Minister <strong>und</strong> sah durch seine Brille. »Dieses Muster <strong>und</strong>diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehrgefällt!«»Nun, das freut uns!« sagten beide Weber <strong>und</strong> daraufbenannten sie die Farben mit Namen <strong>und</strong> erklärten das seltsameMuster. Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbesagen könne, wenn er <strong>zum</strong> Kaiser zurückkomme <strong>und</strong> das tat er-116-


auch.Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide <strong>und</strong> mehrGold <strong>zum</strong> Weben. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen,auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort wiebisher an den leeren Stühlen zu arbeiten.Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigenStaatsmann hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe <strong>und</strong>ob der Stoff bald fertig sei. Es erging ihm aber genau wie demersten, er guckte <strong>und</strong> guckte, weil aber außer dem Webstuhlnichts da war, so konnte er nichts sehen.»Ist das nicht ein ganz besonders prächtiges <strong>und</strong> hübschesStück Stoff?« fragten die beiden Betrüger <strong>und</strong> zeigten <strong>und</strong>erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war. ›Dumm binich nicht‹, dachte der Mann; ›Es ist also mein Amt, zu dem ichnicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muss man sichnicht anmerken lassen!‹ Daher lobte er den Stoff, den er nichtsah, <strong>und</strong> versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben<strong>und</strong> das herrliche Muster. »Ja, es ist ganz allerliebst!« sagte er<strong>zum</strong> Kaiser.Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigenStoff. Nun wollte der Kaiser ihn selbst sehen, während er nochauf dem Webstuhl war. Mit einer ganzen Schar auserwählterMänner, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmännerwaren, die schon früher da gewesen waren, ging er zu denbeiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten,aber ohne Faser oder Faden.»Ja, ist das nicht prächtig?« sagten die beiden ehrlichenStaatsmänner, »Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster,welche Farben?« Und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl,denn sie glaubten, dass die anderen den Stoff wohl sehenkönnten.›Was!‹ dachte der Kaiser; ›ich sehe gar nichts! Das ist jaerschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu-117-


sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte!‹»Oh, es ist sehr hübsch.« sagte er dann, »Es hat meinenallerhöchsten Beifall!« Und er nickte zufrieden <strong>und</strong> betrachteteden leeren Webstuhl. Er wollte nicht sagen, dass er nichts sehenkönne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte guckte <strong>und</strong>guckte, aber es bekam nicht mehr heraus als alle anderen, abersie sagten genau wie der Kaiser: »Oh, das ist aber hübsch!« Undsie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal beidem großen Fest, das bevorstand, zu tragen.»Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!« ging es von M<strong>und</strong>zu M<strong>und</strong> <strong>und</strong> man schien allerseits innig erfreut darüber.Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um esin das Knopfloch zu hängen <strong>und</strong> den Titel Hofweber. Die ganzeNacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte,waren die Betrüger auf <strong>und</strong> hatten sechzehn Lichter angezündet,damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte.Die Leute konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, desKaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie dasZeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mitgroßen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden <strong>und</strong>sagten zuletzt: »Sieh, nun sind die Kleider fertig!«Der Kaiser mit seinen Beamten kam selbst <strong>und</strong> beide Betrügerhoben den einen Arm in die Höhe, gerade als ob sie etwashielten <strong>und</strong> sagten: »Seht, hier sind die Hosen, hier ist das Kleid,hier ist der Mantel!« <strong>und</strong> so weiter. »Es ist so leicht wieSpinnweben; man sollte glauben, man habe nichts auf demKörper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!«»Ja!« sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen,denn es war gar nichts da. »Belieben Eure Kaiserliche MajestätIhre Kleider abzulegen,«, sagten die Betrüger, »so wollen wirIhnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!«Der Kaiser legte seine Kleider ab <strong>und</strong> die Betrüger stelltensich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzogen,-118-


die fertig genäht sein sollten, <strong>und</strong> der Kaiser wendete <strong>und</strong> drehtesich vor dem Spiegel.»Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!« sagten alle.»Welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!«»Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über EurerMajestät getragen werden soll!« meldete der Oberzeremonienmeister.»Seht, ich bin ja fertig!« sagte der Kaiser. »Sitzt esnicht gut?« Dann wendete er sich nochmals <strong>zum</strong> Spiegel; dennes sollte so aussehen, als ob er seine Kleider noch einmalbetrachtete.Die Kammerherren, die das Recht hatten die Schleppe zutragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden als ob siedie Schleppe heben würden, sie gingen <strong>und</strong> taten als hielten sieetwas in der Luft. Sie wagten es nicht, es sich anmerken zulassen, dass sie nichts sehen konnten.So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel <strong>und</strong>alle Menschen auf der Straße <strong>und</strong> in den Fenstern sprachen:»Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! WelcheSchleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!« Keiner wolltees sich anmerken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er janicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen,Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wiediese.»Aber er hat ja gar nichts an!« sagte endlich ein kleines Kind.»Hört die Stimme der Unschuld!« sagte der Vater. Und der einezischelte dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte.»Aber er hat ja gar nichts an!« rief zuletzt das ganze Volk.Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zuhaben. Aber er dachte bei sich: ›Nun muss ich durchhalten.‹Und die Kammerherren gingen <strong>und</strong> trugen die Schleppe, die garnicht da war.-119-


Kapitel 7Koboldgeschichten-120-


Der kleine weiße KoboldEin König verirrte sich auf der Jagd, da trat ein kleiner weißerKobold vor ihn: »Herr König, wenn ihr mir eure jüngste Tochtergeben wollt, so will ich euch wieder aus dem Wald führen.« DerKönig sagte es in seiner Angst zu, das Männchen brachte ihn aufden Weg, nahm dann Abschied <strong>und</strong> rief noch nach: »In achtTagen komm ich <strong>und</strong> hol meine Braut.« Daheim aber war derKönig traurig über sein Versprechen, denn die jüngste Tochterhatte er am liebsten; das sahen ihm die Prinzessinnen an <strong>und</strong>wollten wissen, was ihm Kummer mache? Da musste er’sendlich gestehen, er habe die jüngste von ihnen einem kleinenweißen Waldkobold versprochen <strong>und</strong> der komme in acht Tagen<strong>und</strong> hole sie ab. Sie sprachen aber, er solle guten Muts sein, denKobold wollten sie schon an der Nase herumführen. Danach alsder Tag kam, kleideten sie eine Kuhhirtstochter mit ihrenKleidern an, setzten sie in ihre Stube <strong>und</strong> befahlen ihr: »Wennjemand kommt <strong>und</strong> will dich abholen, so gehst du mit!« Sieselber aber gingen alle aus dem Hause fort.Kaum waren sie weg, so kam ein Fuchs in das Schloss <strong>und</strong>sagte zu dem Mädchen: »Setz dich auf meinen rauen Schwanz,wir reiten hinaus in den Wald!« Das Mädchen setzte sich demFuchs auf den Schwanz <strong>und</strong> so trug er es hinaus in den Wald;wie sie aber auf einen schönen grünen Platz kamen, wo dieSonne recht hell <strong>und</strong> warm schien, sagte der Fuchs: »Steig ab<strong>und</strong> laus mich!« Da Mädchen gehorchte, der Fuchs legte seinenKopf auf ihren Schoß <strong>und</strong> wurde gelaust; bei der Arbeit sprachdas Mädchen: »Gestern um die Zeit war’s doch schöner in demWald!« – »Wie bist du in den Wald gekommen?« fragte derFuchs. – »Ei, da hab ich mit meinem Vater die Kühe gehütet.« –»Also bist du nicht die Prinzessin! Setz dich auf meinen rauenSchwanz, wir laufen zurück in das Schloss!« Da trug sie derFuchs zurück <strong>und</strong> sagte <strong>zum</strong> König: »Du hast mich betrogen,das ist eine Kuhhirtstochter, in acht Tagen komm ich wieder <strong>und</strong>-121-


hol mir deine.« Am achten Tage aber kleideten diePrinzessinnen eine Gänsehirtstochter prächtig an, setzten sie hin<strong>und</strong> gingen fort. Da kam der Fuchs wieder <strong>und</strong> sprach: »Setzdich auf meinen rauen Schwanz, wir reiten hinaus in den Wald!«Wie sie in dem Wald auf den sonnigen Platz kamen, sagte derFuchs wieder: »Steig ab <strong>und</strong> laus mich.« Und als das Mädchenden Fuchs lauste, seufzte es <strong>und</strong> sprach: »Wo mögen jetzt meineGänse sein!« – »Was weißt du von Gänsen?« – »Ei, die hab ichalle Tage mit meinem Vater auf die Wiesen getrieben.« – »Alsobist du nicht des Königs Tochter! Setz dich auf meinen rauenSchwanz, wir laufen zurück in das Schloss!« Der Fuchs trug siezurück <strong>und</strong> sagte <strong>zum</strong> König: »Du hast mich wieder betrogen,das ist eine Gänsehirtstochter, in acht Tagen komm ich nocheinmal <strong>und</strong> wenn du mir dann deine Tochter nicht gibst, so solldir’s übel gehen.« Dem König wurde Angst <strong>und</strong> wie der Fuchswieder kam, gab er ihm die Prinzessin. »Setz dich auf meinenrauen Schwanz, wir reiten hinaus in den Wald!« Da musste sieauf dem Schwanz des Fuchses hinausreiten <strong>und</strong> als sie auf denPlatz im Sonnenschein kamen, sprach er auch zu ihr: »Steig ab<strong>und</strong> laus mich!« Als er ihr aber seinen Kopf auf den Schoß legte,fing die Prinzessin an zu weinen <strong>und</strong> sagte: »Ich bin einesKönigs Tochter <strong>und</strong> soll einen Fuchs lausen, saß ich jetztdaheim in meiner Kammer, so könnt ich meine Blumen imGarten sehen!«Da hörte der Fuchs, dass er die rechte Braut hatte,verwandelte sich in den kleinen weißen Kobold <strong>und</strong> das war nunihr Mann, bei dem musste sie in einer kleinen Hütte wohnen,ihm kochen <strong>und</strong> nähen <strong>und</strong> es dauerte eine gute Zeit. DerKobold aber tat ihr alles zuliebe. Einmal sagte der Kobold zuihr: »Ich muss fortgehen, aber es werden bald drei weiße Taubengeflogen kommen, die werden ganz niedrig über die Erdehinstreifen, davon fang die mittlere <strong>und</strong> wenn du sie hast,schneid ihr gleich den Kopf ab, hüt’ dich aber, dass du keineandere ergreifst als die mittlere, sonst entsteht ein großes-122-


Unglück daraus.« Das Männchen ging fort; es dauerte auchnicht lang, so kamen drei weiße Tauben dahergeflogen. DiePrinzessin gab Acht, ergriff die mittlere, nahm ein Messer <strong>und</strong>schnitt ihr den Kopf ab. Kaum aber lag der auf dem Boden, sostand ein schöner junger Prinz vor ihr <strong>und</strong> sprach: »Mich hateine Fee verzaubert, sieben Jahr lang sollt ich meine Gestaltverlieren <strong>und</strong> sodann als eine Taube an meiner Gemahlinvorbeifliegen, zwischen zwei anderen, da müsse sie mich fangen<strong>und</strong> mir den Kopf abhauen <strong>und</strong> fange sie mich nicht, oder eineunrechte <strong>und</strong> ich sei einmal vorbeigeflogen, so sei alles vorbei<strong>und</strong> keine Erlösung mehr möglich: darum hab ich dich gebeten,ja recht Acht zu haben, denn ich bin der weiße Kobold <strong>und</strong> dumeine Gemahlin.«Da war die Prinzessin vergnügt <strong>und</strong> sie gingen zusammen zuihrem Vater <strong>und</strong> als der starb, erbten sie das Reich.-123-


Die tanzenden KoboldeEin Schneider <strong>und</strong> ein Goldschmied wanderten einmalzusammen <strong>und</strong> eines Abends, als die Sonne hinter den Bergenunterging, hörten sie ferne Musik, die immer deutlicher wurde.Sie klang ungewohnt, aber so anmutig, dass die beiden ihreMüdigkeit vergaßen <strong>und</strong> rasch vorwärts schritten. Als der Mondschon aufgegangen war, kamen sie zu einem Hügel, auf demeine Menge kleiner Männer <strong>und</strong> Frauen sich bei den Händenhielten <strong>und</strong> froh im Tanz herumwirbelten. Dazu sangen dieKobolde auf das Lieblichste <strong>und</strong> das war die Musik, die diebeiden gehört hatten In der Mitte saß ein alter Kobold, der etwasgrößer war als die anderen <strong>und</strong> trug einen bunten Rock. Seineisgrauer Bart hing ihm über die Brust herab. Die beidenWanderer bleiben voll Verw<strong>und</strong>erung stehen <strong>und</strong> sahen demTreiben zu. Da winkte ihnen der Alte, sie sollten in den Kreiseintreten <strong>und</strong> die kleinen Kobolde machten bereitwillig Platz,Der Goldschmied, der einen Buckel hatte <strong>und</strong> wie alleBuckligen keck genug war, trat in den Kreis. Der Schneider hieltsich zunächst noch zurück, doch als er das lustige Treiben sah,fasste er sich ein Herz <strong>und</strong> folgte dem Goldschmied. Bald daraufschloss sich der Kreis wieder <strong>und</strong> die kleinen Leute sangen <strong>und</strong>tanzten freudig weiter.Der Alte aber nahm auf einmal ein Messer, wetzte es <strong>und</strong>blickte sich dann nach den Fremden um. Die beiden Wandererfürchteten sich, doch eh sie sich besinnen konnten, hatte er Alteihnen in höchster Geschwindigkeit Haare <strong>und</strong> Bartweggeschoren. Als der Alte danach den beiden fre<strong>und</strong>lich, wieals Lob für ihr Stillhalten, auf die Schulter klopfte, verschwandihre Angst. Der Alte zeigte nun mit dem Finger auf einenHaufen Kohlen <strong>und</strong> bedeutete ihnen, sich die Taschen damit zufüllen. Die beiden Wanderer taten wie ihnen geheißen, wenn sieauch nicht wussten, was sie mit den Kohlen anfangen sollten.Dann gingen sie weiter, um sich ein Nachtlager zu suchen. Als-124-


sie ins Tal kamen, schlug es zwölf Uhr <strong>und</strong> im selbenAugenblick verstummte der Gesang <strong>und</strong> alles warverschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der Hügel lag verlassen im Mondschein.Die beiden Wanderer fanden eine Herberge <strong>und</strong> deckten sichauf einem Strohlager mit ihren Mänteln zu, vergaßen aber, dieKohlen vorher herauszunehmen. Ein schwerer Druck auf ihreGlieder weckte sie früh auf <strong>und</strong> als sie in ihre Taschen griffen,trauten sie ihren Augen nicht, denn aus den Kohlen war reinesGold geworden <strong>und</strong> auch Haare <strong>und</strong> Barte waren wieder in allerFülle vorhanden. So waren die beiden nun reiche Leute, dochweil der Goldschmied in seiner Habsucht die Taschen besser mitKohlen gefüllt hatte als der Schneider, besaß er nun doppelt soviel Gold wie dieser. Und weil die Habsucht dem Goldschmiedkeine Ruhe ließ, schlug er dem Schneider vor, noch einen Tagzu bleiben <strong>und</strong> am Abend wieder auf den Hügel zu gehen, umsich noch größere Schätze zu holen. Der Schneider wolltejedoch nicht <strong>und</strong> sagte: »Ich habe genug <strong>und</strong> bin zufrieden, Ichwerde Meister, heirate meine Liebste <strong>und</strong> bin ein glücklicherMann.« Doch weil er dem Goldschmied einen Gefallen zu tun,wollte er den Tag noch bleiben.Abends hängte sich der Goldschmied noch ein paar Taschenum, um recht viel einsacken zu können <strong>und</strong> machte sich dannauf den Weg zu dem Hügel. Er fand alles wie in der vorigenNacht <strong>und</strong> deckte sich ordentlich mit Kohlen ein, dann kehrte erglücklich in die Herberge zurück, legte sich schlafen <strong>und</strong> decktesich mit seinem Mantel zu. »Auch wenn das Gold drückt«,sprach er, »ich will es schon ertragen!« Dann schlief er <strong>und</strong>glaubte, am nächsten Tag ein steinreicher Mann zu sein. Als eram anderen Morgen die Augen öffnete, erhob er sich rasch, umnach dem Gold zu sehen, doch er fand nichts als schwarzeKohlen. »Nun«, dachte er bei sich, »noch bleibt mir das Goldvon letzter Nacht!«Doch wie erschrak er, als auch das nur noch schwarze Kohlenwaren. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn <strong>und</strong> da fühlte er,-125-


dass sein Kopf ganz kahl war <strong>und</strong> dass auch sein Bart nichtmehr angewachsen war. Doch damit war es noch nicht genug,denn zu seinem Buckel auf dem Rücken hatte er nun noch einenzweiten auf der Brust bekommen. Der Goldschmied erkanntedie Strafe seiner Habgier <strong>und</strong> fing laut an zu weinen. DerSchneider, der davon wach wurde, tröstete den Unglücklichen,so gut er konnte: »Du bist mein Gefährte auf der Wanderschaftgewesen, nun sollst du auch bei mir bleiben <strong>und</strong> mit vonmeinem Schatz zehren.« Der Schneider hielt Wort, aber derarme Goldschmied musste sein ganzes Leben lang die beidenBuckel tragen <strong>und</strong> den Kopf mit einer Mütze bedecken.-126-


GoldsternchenEs war einmal ein armer Bauer, der lebte mit seiner Frau <strong>und</strong>einem Dutzend Kinder in einer armseligen Hütte. Als derHunger <strong>und</strong> die Not eines Tages zu groß wurden, wusste er sichschließlich keinen anderen Rat mehr, nahm sein letztes Geldzusammen <strong>und</strong> kaufte davon einen Strick, um sich daran zuerhängen.Er ging in den Wald <strong>und</strong> suchte sich einen starken Ast, dochgerade als er die Schlinge knüpfen wollte, stand plötzlich einschwarzes Männchen vor ihm <strong>und</strong> sagte: »Tu es nicht!« DerBauer nahm erschrocken die Schlinge von dem Ast <strong>und</strong> imgleichen Augenblick verschwand der geheimnisvolle schwarzeKobold. Da warf der Bauer den Strick erneut um den Ast, dochwieder erschien der schwarze Kobold <strong>und</strong> sagte: »Habe ich esdir nicht gesagt? Tu es nicht!« Der Bauer gehorchte ihm nun,nahm den Strick <strong>und</strong> ging nach Hause.Doch unterwegs dachte er bei sich: »Warum tue ich das nur?Zu Hause verhungere ich <strong>und</strong> die Meinen mit mir, da bereite ichdoch lieber selbst meinem Leben ein Ende.« Also warf er erneutdie Schlinge über einen starken Ast, doch wieder erschien derschwarze Kobold <strong>und</strong> fragte verärgert: »Warum tust du nicht,was ich dir sage?«»Was nützt es mir denn?« fragte der Bauer traurig. »Wirmüssen ja doch alle sterben, auch wenn ich Euch jetztgehorche.« Der schwarze Kobold aber antwortete ihm: »Nein,ihr werdet nicht verhungern. Ich werde dir so viel Geld geben,wie du dir wünschst. Dafür musst du mir aber etwas geben, dases in deinem Haus gibt, von dem du aber nichts weißt.« DerBauer überlegte nicht lange, denn er wusste nicht, was es inseinem Haus geben sollte, von dem er nichts wusste. Alsowilligte er in das Geschäft ein, der schwarze Kobold überreichteihm einen großen schweren Sack voller Dukaten <strong>und</strong> der Bauer-127-


edankte sich überschwänglich.Als er sich auf den Heimweg machte, rief ihm der schwarzeKobold nach: »Vergiss dein Versprechen nicht! In sieben Jahrenwerde ich mir das holen, von dem du jetzt nichts weißt.« Dalachte der Bauer nur <strong>und</strong> antwortete: »In meinem Haus gibt esnichts zu holen <strong>und</strong> sollte doch etwas da sein, so kannst du esgetrost haben.« Als der Bauer nun mit dem Geld nach Hausekam, begrüßte ihn seine Frau freudig, denn sie hatte soeben ihrjüngstes Töchterchen zur Welt gebracht. Es hatte goldene Haare<strong>und</strong> trug einen goldenen Stern auf der Stirn. »Das Goldsternchenhat uns wohl Glück gebracht«, sagte die Bäuerin, doch ihr Mannwar sehr betrübt, denn nun wusste er, was der schwarze Koboldvorhin im Wald gemeint hatte.Die Zeit verging <strong>und</strong> Goldsternchen wuchs zu einemw<strong>und</strong>erschönen Mädchen heran. An seinem siebten Geburtstaghielt eine schwarze Kutsche vor dem Haus des Bauern <strong>und</strong> derschwarze Kobold stieg heraus <strong>und</strong> sagte: »Bauer, nun sollst dudein Versprechen einlösen. Ich bin gekommen, um deinTöchterchen zu holen.« Vergeblich flehten die Eltern denschwarzen Kobold an, ihnen das Kind zu lassen, dochGoldsternchen musste in die Kutsche steigen <strong>und</strong> schon sausteder schwarze Kobold mit ihm davon. Sie fuhren lange durcheinen dunklen, dichten Wald <strong>und</strong> kamen schließlich an eingroßes schwarzes Schloss. Dort sprach der schwarze Kobold zudem Mädchen: »In diesem Schloss sind h<strong>und</strong>ert Zimmer. Dudarfst jedes von ihnen betreten, nur das h<strong>und</strong>ertste nicht. Wenndu es doch tust, wird’s dir schlimm ergehen.«Er gab Goldsternchen den Schlüsselb<strong>und</strong> <strong>und</strong> sprach weiter:»In sieben Jahren komme ich wieder um nach dem Rechten zusehen.« Goldsternchen ging es nicht schlecht in dem schwarzenSchloss. Sie kam durch alle neun<strong>und</strong>neunzig Zimmer <strong>und</strong> an dash<strong>und</strong>ertste dachte sie nicht einmal. Die sieben Jähre vergingenwie im Flug <strong>und</strong> als sie auf den Tag herum waren, da kam derschwarze Kobold wieder <strong>und</strong> fragte Goldsternchen: »Warst du-128-


in dem h<strong>und</strong>ertsten Zimmer?« Das Goldsternchen antworteteihm wahrheitsgemäß: »Nein.«»Du hast gut daran getan, mir zu gehorchen. Ich werde nunwieder gehen <strong>und</strong> nach weiteren sieben Jahren wiederkommen.Wenn du mir auch dieses Mal gehorchst, wird es dir gutergehen. Gehorchst du aber nicht, wird dich schlimmes Unheilereilen.«Auch diese sieben Jahre vergingen wie im Flug <strong>und</strong> schonkam der Tag, an dem der schwarze Kobold zurückkommenwollte. Goldsternchen freute sich darauf, dass dieser sie loben<strong>und</strong> belohnen würde. Doch plötzlich erklang aus demverbotenen Zimmer eine liebliche Musik.Da konnte sie nicht widerstehen. Sie öffnete die Tür <strong>und</strong>erschrak: In dem Zimmer saßen zwölf schwarze Männer aneinem Tisch. Der dreizehnte Mann aber stand hinter der Tür <strong>und</strong>rief klagend: »Goldsternchen, was hast du nur getan?« Zitterndvor Angst fragte Goldsternchen: »Was soll ich jetzt nur tun?«»Du darfst niemandem sagen, was du hier gesehen oder hiergehört hast. Du musst schweigen, was auch immer geschehenmag. Nur so kannst du deine Schuld wieder gut machen«,antwortete der dreizehnte Mann.Rasch schloss Goldsternchen die verbotene Tür, denn siehörte bereits die schwarze Kutsche in den Hof des Schlosseseinfahren. Der schwarze Kobold ging geradewegs aufGoldsternchen zu <strong>und</strong> fragte streng: »Was hast du in demverbotenen Zimmer gesehen?« Er wusste nämlich bereits, wasgeschehen war. Goldsternchen aber schwieg. »Wenn du mirnicht antworten willst, dann schweige eben. Von nun an sollstdu stumm sein. Nur mit mir wirst du in Zukunft noch sprechenkönnen«, sagte der schwarze Kobold verärgert. Dann jagte erGoldsternchen aus dem Schloss <strong>und</strong> das Mädchen ging, so weitdie Beine es tragen konnten.Schließlich kam Goldsternchen zu einer schönen grünen-129-


Wiese. Sie ließ sich dort im Gras nieder <strong>und</strong> weinte, bis sie vorErschöpfung einschlief. Es war aber gerade ein Prinz in dieserGegend auf der Jagd. Als er das schöne schlafende Mädchensah, verliebte er sich sofort in die Unbekannte. Er erkannte bald,dass sie stumm war, trotzdem setzte er sie auf sein Pferd, nahmsie mit auf sein Schloss <strong>und</strong> heiratete sie. Goldsternchen lebtenun glücklich an der Seite des Prinzen. Es war noch kein Jahrvergangen, da brachte Goldsternchen einen Jungen zur Welt, derwie sie goldene Haare hatte <strong>und</strong> einen goldenen Stern auf derStirn trug. Alle freuten sich sehr über das schöne Kind, doch inderselben Nacht noch erschien der schwarze Kobold am Bett derPrinzessin <strong>und</strong> sprach böse: »Was hast du in dem verbotenenZimmer gesehen? Wenn du nicht antwortest, dann bleibt auchdein Kind stumm.« Doch die Prinzessin schwieg beharrlich <strong>und</strong>so kam es, dass der kleine Prinz stumm blieb. Der kleine Prinzwuchs heran <strong>und</strong> an seinem siebten Geburtstag fuhr eineprächtige weiße Kutsche in den Hof des Schlosses ein. DerKutsche entstieg ein weißer Kobold, der Goldsternchen zu sehenwünschte. Als er der stummen Prinzessin gegenüberstand spracher: »Du warst sieben Jahre stumm <strong>und</strong> hast das Versprechen, dasdu dem dreizehnten Mann gegeben hast, gehalten. So will ichdich <strong>und</strong> dein Kind von dem bösen Fluch erlösen. Ab heute solltihr wieder sprechen können.« Mit diesen Worten verschwandder weiße Kobold mit ihrer Kutsche <strong>und</strong> das Böse hatte keineMacht mehr über Goldsternchen.-130-


Der blaue KoboldDer König auf Schloss Hartenstein hatte eine Köchin, die warsehr tüchtig <strong>und</strong> kochte die herrlichsten Speisen. Aber sie wareine böse Person <strong>und</strong> niemand von den Küchenjungen konntesie leiden. Weil sie aber dick <strong>und</strong> stark war, wagte keiner, sichüber sie zu beschweren.Das Küchenpersonal musste viel aushalten, bis Sebastian, derneue Küchenjunge, kam. Die Köchin, die Frau Fischer hieß,behandelte ihn zunächst genauso schlecht wie alle anderen.Morgens um vier jagte sie ihn aus den Federn <strong>und</strong> erst umMitternacht durfte er ins Bett. Der arme Junge musste hartschuften, wurde dauernd gescholten <strong>und</strong> bekam sogar die eineoder andere Ohrfeige.Sebastian hatte nun aber eine alte Großmutter, die zaubernkonnte. Als die Köchin ihn nun eines Tages losschickte, umBesorgungen zu machen, da lief der Junge rasch in dasWaldhäuschen zu seiner Großmutter. Er erzählte der alten Frau,wie es ihm im Schloss erging <strong>und</strong> fragte dann: »Was kann mandenn tun, damit die böse Köchin aufhört, uns so zu quälen?« DieGroßmutter dachte kurz nach, dann antwortete sie: »Warte,Sebastian, ich gebe dir etwas, das euch helfen wird.«Sie nahm eine große blaue Schüssel <strong>und</strong> füllte sie mit Wasser.Dann schüttete sie ein blaues Pulver hinein <strong>und</strong> das Wasserwurde ganz blau. Dann schälte sie eine Kartoffel, warf sie in dasblaue Wasser, rührte alles mit einer Schwanenfeder um <strong>und</strong>murmelte dabei einen Zauberspruch. Sebastian starrte gebannt indie Schüssel, aus der plötzlich ein blauer Kobold heraussprang.Sein Körper sah aus wie eine Kartoffel. Der kleine Koboldgrinste, klatschte in die Hände <strong>und</strong> sah die alte Großmutterfragend an. Die Großmutter aber lachte <strong>und</strong> sagte zu Sebastian:»Der ist genau richtig für dich. Nimm den kleinen Kobold <strong>und</strong>steck ihn in deine Tasche. Sobald du im Schloss bist, stell ihn-131-


auf eines der Regale in der Küche. Den Rest macht er schonselbst.«Sebastian bedankte sich bei der Großmutter, steckte denKobold ein <strong>und</strong> lief <strong>zum</strong> Schloss zurück. Als er in dieSchlossküche kam, stellte er den Kobold unbemerkt hinter einenTopf auf das Regal. Da drehte sich Frau Fischer zornig um <strong>und</strong>schimpfte: »Wo bist du nichtsnutziger Kerl so lange gewesen?«Doch ehe Sebastian antworten konnte, rief eine Stimme vomRegal herunter: »He, Köchin, sei gefälligst nicht so böse!« FrauFischer war so verblüfft, dass sie kein Wort herausbrachte. Derblaue Kobold schaute hinter dem Topf hervor <strong>und</strong> zog eineGrimasse. Da schrie die Köchin: »Komm sofort da runter! Washast du überhaupt in meiner Küche zu suchen?« Aber derKobold rührte sich nicht von der Stelle, schlug mit dem Deckelgegen den Topf <strong>und</strong> rief erneut: »He, Köchin, warum hast dudenn so schlechte Laune?«Die Küchenjungen schauten vergnügt zu, denn bisher hatte esnoch niemand gewagt, so mit Frau Fischer zu sprechen. DieKöchin ging <strong>zum</strong> Wandregal <strong>und</strong> wollte den Kobold greifen.Doch der nahm eine Gabel <strong>und</strong> stach sie in den Finger. Dannstieß er alle Töpfe <strong>und</strong> Pfannen vom Regal <strong>und</strong> es gab einenentsetzlichen Lärm. Die Köchin wurde sehr wütend <strong>und</strong> nahmeine Zeitung, um damit nach dem Wicht zu schlagen. Sie schlugso fest zu, dass drei wettere Töpfe zu Boden fielen, von demKobold aber war nichts mehr zu sehen. »So, der wäre erledigt«,sagte Frau Fischer zufrieden.Doch das war ein Irrtum. Der Kobold stand jetzt auf demKüchentisch, genau hinter ihrem Rücken. Er nahm einen Krugmit Milch <strong>und</strong> schüttete der Köchin die Milch über den Kopf.Die Köchin wurde immer zorniger <strong>und</strong> warf mit einem großenKohlkopf nach dem blauen Kobold. Doch Frau Fischer traf nichtden Kobold, sondern die Küchenuhr, die mit großem Lärm zuBoden fiel <strong>und</strong> zerschellte. Der Kobold aber tänzelte auf demTisch <strong>und</strong> rief: »Eine böse Köchin bist du, nein wirklich, ganz ,-132-


ganz böse!« Als sich Frau Fischer <strong>zum</strong> Tisch umdrehte, flog ihrein rohes Ei ins Gesicht. Weil der Kobold darüber so arg lachenmusste, hatte er Angst, die Köchin könnte ihn erwischen <strong>und</strong>versteckte sich in einem Korb, Als Frau Fischer den Unholdnicht mehr sah, schrie sie die Küchenjungen an: »Was steht ihrda herum <strong>und</strong> glotzt? Geht an die Arbeit <strong>und</strong> wer den blauenKobold fängt, bringt ihn zu mir!«Doch natürlich dachte keiner der Jungen daran, den Koboldzu fangen. Und schon ertönte wieder die Stimme: »BöseKöchin, nein, so eine böse Köchin!« Die Köchin entdeckte denKobold im Korb, holte den Korb vom Regal, doch der Kleinewar längst herausgesprungen <strong>und</strong> lief in die Vorratskammer.Dabei rief er vergnügt: »Du kriegst mich nicht, du kriegst michnicht!« Frau Fischer folgte dem Kobold in die Vorratskammer,doch darauf hatte der nur gewartet. Kaum betrat sie dieKammer, flogen ihr die Würste um die Ohren <strong>und</strong> ein StückButter landete auf ihrem Kopf.So ging es den ganzen Tag lang bis <strong>zum</strong> Abend. Der Köchinaber gelang es nicht, den Kobold zu fangen.Er übergoss sie mit Wasser, bewarf sie mit Äpfeln <strong>und</strong> Eiern,löste ihr die Schnürsenkel, so dass sie darüber stolperte <strong>und</strong>verstreute schließlich so viel Pfeffer, dass die Köchin aus demNiesen nicht mehr herauskam. Frau Fischer war am Ende ihrerKräfte <strong>und</strong> schluchzte:»Warum ist dieser schreckliche Kobold hier?« Da sagteSebastian mutig: »Ich glaube, er soll dich bestrafen, weil du unsso schlecht behandelst.« Der blaue Kobold tanzte auf dem Tisch<strong>und</strong> rief: »Genau richtig, ja, ja, genau richtig!« Frau Fischerjammerte weiter. »Ich werde mich bestimmt bessern, wenn ernur endlich verschwindet!« Sebastian versprach, sein Bestes zuversuchen. Er wusste genau, was er zu tun hatte, denn seineGroßmutter hatte es ihm gezeigt.So nahm er eine Nelke aus der Tasche <strong>und</strong> hielt sie dem-133-


Kobold unter die Nase, Dieser roch daran <strong>und</strong> kam neugierignäher. Sofort packte Sebastian den Kobold <strong>und</strong> steckte ihn in dieTasche. Dann brachte er ihn zu seiner Großmutter zurück, beider er von diesem Tag an ganz brav alle Töpfe <strong>und</strong> Pfannenblank putzte.Die Köchin aber war nie mehr böse, denn sie fürchtete, derblaue Kobold könne zurückkehren <strong>und</strong> sie erneut quälen.-134-


Die Erlösung der schönen KönigstochterEs war einmal ein armer Bauer, der war arm <strong>und</strong> hatte vieleKinder. Eines Tages nun, als er mit seinem jüngsten Sohn in denWald hinausging, trat plötzlich ein grüner Waldkobold aus demGebüsch, grüßte fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> sprach: »Wir haben dengleichen Weg, wir könnten ein Stück zusammen gehen.« DemBauern war’s recht <strong>und</strong> so unterhielten sie sich <strong>und</strong> der Bauererzählte von seiner Armut. Da sprach der Waldkobold: »Nun,wenn ihr so viele Mäuler zu stopfen habt, so will ich den Jungenzu mir nehmen. Ihr würdet noch einen guten Handel dabeimachen. Ich gebe Euch einen Beutel Gold dafür.«Der Bauer schlug den Handel aus, wollte er doch sein eigenesKind nicht verkaufen, Da bat ihn der Fremde, ihm den Jungenwenigstens für vier Jahre zu überlassen, er wollte das gleicheGeld dafür geben. Da die Not des Bauern groß war, willigte erein <strong>und</strong> so blieb der Junge bei dem Fremden. Der Waldkoboldging mit dem Jungen immer weiter in den Wald hinein, bis sieschließlich an einen Felsen kam, der sich von selbst öffnete, alsder Waldkobold daran klopfte. Sie durchschritten eine Kammernach der anderen, bis sie zuletzt in eine kamen, in der einschönes großes Bett stand. »Hier wirst du wohnen«, sagte derKobold, »<strong>und</strong> du sollst es gut bei mir haben, wenn du tust, wasich dir sage. Neben dieser Kammer ist noch ein Zimmer, darinsteht ein Bett wie dieses. Doch wage dich nicht, die Tür zuöffnen oder dich in das Bett zu legen. Auch sollst du nie umMitternacht schlafen.«Der Waldkobold verließ den Jungen, kam aber alle vier Tage,um nach dem Rechten zu sehen. So lebte der Junge einige Zeit<strong>und</strong> es fehlte ihm an nichts, doch eines Tages überkam ihn dieNeugier. Er öffnete die Tür zu der verbotenen Kammer, dochdarin befand sich nichts, außer dem Bett <strong>und</strong> einem Haufen alterSchuhe. Der Junge lachte laut <strong>und</strong> begann, einen Schuh nach-135-


dem anderen aus dem Fenster zu werfen. Kaum aber landete dererste Schuh im Garten, begann dieser zu sprechen <strong>und</strong> sagte:»Danke, du hast uns erlöst.« Der Junge warf nun alle Schuhehinunter in den Garten, schloss dann die Kammer wieder ab <strong>und</strong>ging in sein Zimmer zurück.Am nächsten Tag kam der Waldkobold zurück. Er wusstesofort, was geschehen war <strong>und</strong> tadelte den Jungen sehr. DerJunge nahm sich nun vor, die Gebote des Waldkobolds nichtmehr zu übertreten, doch eines Tages packte ihn wieder dieNeugier: »Was wird wohl geschehen, wenn ich mich in dasverbotene Bett lege?« Als es Nacht wurde, öffnete er die Tür zurNebenkammer <strong>und</strong> legte sich schnell in das Bett. Kaum aber lager darin, da erhob sich ein furchtbarer Lärm <strong>und</strong> ein Gepolter,dass ihm Angst <strong>und</strong> Bange wurde. Bald erkannte er allerleiteuflische Gestatten, die ihn wütend angrinsten. Doch er ließsich nicht verjagen, zog sich die Decke über die Ohren <strong>und</strong> bliebstandhaft. Um Mitternacht klopfte es an der Tür, doch der Jungeantwortete nicht. Da öffnete sich die Tür von selbst <strong>und</strong> einschönes junges Mädchen trat herein, kam langsam zu dem Bett<strong>und</strong> legte sich neben den Jungen.»Du hast gut daran getan, keine Antwort zu geben <strong>und</strong> daswilde Gepolter nicht zu beachten. Komm morgen wieder <strong>und</strong>bleib mutig <strong>und</strong> standhaft, was auch passieren mag.« AlsMitternacht vorüber war, verließ das Mädchen das Zimmerwieder <strong>und</strong> auch das Poltern <strong>und</strong> Schreien verstummte.In der folgenden Nacht legte sich der Junge wieder in das Bett<strong>und</strong> es trug sich zu, wie am vorherigen Abend. Als die dritteNacht gekommen war <strong>und</strong> der Junge abermals in demverbotenen Bett lag, erschienen ihm die teuflischen Geisterwieder, aber diesmal waren es noch viel mehr als in denNächten zuvor <strong>und</strong> sie waren noch viel scheußlicher als dieanderen. Der Lärm <strong>und</strong> das Gepolter waren fast unerträglich,doch der Junge blieb mutig. Um Mitternacht erschien <strong>zum</strong>dritten Mal das junge Mädchen <strong>und</strong> bat ihn, nur noch diese eine-136-


Nacht auszuharren. Nach Mitternacht legte sich der Lärm <strong>und</strong>auch die Teufelsgestalten verschwanden. Doch plötzlichverwandelte sich alles <strong>und</strong> der Junge fand sich in einemprächtigen Schloss wieder. Neben dem Bett saß ein alter Mannmit langem weißen Haar <strong>und</strong> sprach: »Ich bin ein alter König<strong>und</strong> habe vor vielen h<strong>und</strong>ert Jahren diese Prinzessin dem Bösenverschrieben.« Er stand auf, umarmte die Prinzessin, die durchden Mut des Jungen erlöst worden war. Da kamen plötzlich alleSchuhe, die der Junge aus dem Fenster geworfen hatte, <strong>zum</strong>Fenster hereingeflogen <strong>und</strong> verwandelten sich in Edelleute.Nun waren alle erlöst <strong>und</strong> das Böse hatte seine Macht überdas königliche Schloss verloren. Der Junge aber heiratete dieschöne Prinzessin <strong>und</strong> holte auch seine Eltern <strong>und</strong> seineGeschwister zu sich auf das königliche Schloss, so dass sie niemehr Hunger leiden mussten.-137-


Kapitel 8Lustige <strong>Geschichten</strong>-138-


Die kluge KatzeEines Tages begegnete die Katze im Wald dem Herrn Fuchs,<strong>und</strong> weil sie dachte, er sei gescheit <strong>und</strong> habe viel Erfahrung,grüßte sie ihn fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> sprach: »Guten Tag, lieber HerrFuchs, wie geht es Euch? Wie schlagt Ihr Euch durch in dieserteuren Zeit?« Der Fuchs betrachtete die Katze hochmütig <strong>und</strong>wusste lange nicht, ob er eine Antwort geben sollte oder nicht.Schließlich sprach er: »O du armseliger Bartputzer, dubuntscheckiger Narr, du Hungerleider <strong>und</strong> Mäusejäger, was fälltdir denn ein? Du unterstehst dich, zu fragen wie es mir geht?Was hast du gelernt? Wie viele Künste verstehst du?«Die Katze antwortete bescheiden: »Ich verstehe nur eineeinzige Kunst.« Neugierig fragte der Fuchs, um welche Kunst essich dabei handle <strong>und</strong> die Katze antwortete: »Wenn die H<strong>und</strong>emich jagen, so kann ich auf einen Baum springen <strong>und</strong> michretten.« Da schaute sie der Fuchs mitleidig an <strong>und</strong> sagte: »Ist dasetwa alles? Ich bin Herr über h<strong>und</strong>ert Künste <strong>und</strong> habeaußerdem noch einen Sack voll Listen. Ich habe Erbarmen mitdir, komm mit, ich will dir zeigen, wie man den H<strong>und</strong>enentgeht.« In diesem Moment kam ein Jäger mit vier H<strong>und</strong>enheran <strong>und</strong> die Katze sprang flink auf einen Baum, wo sie sich indem Laub versteckte. Dem Fuchs aber rief sie zu: »Bindet denSack auf, Herr Fuchs, bindet den Sack auf!« Doch die H<strong>und</strong>ehatten den Fuchs bereits gepackt <strong>und</strong> hielten ihn fest.Da rief die Katze aus ihrem sicheren Versteck: »Ei, HerrFuchs, Ihr seid mit Euren h<strong>und</strong>ert Künsten nicht weitgekommen. Hättet Ihr auf den Baum springen können wie ich,so wäre es jetzt nicht um Euer Leben geschehen.«-139-


Eulenspiegels Abenteuer alsSchneidergeselleIn Berlin arbeitete Eulenspiegel als Schneidergeselle. Als er inder Werkstatt saß, sagte der Meister zu ihm: »Geselle, wenn dunähst, dann nähe so, dass man es nicht sieht.« Eulenspiegelbefolgte die Anweisung des Meisters, stand auf, nahm Nadel<strong>und</strong> Stoff <strong>und</strong> kroch damit unter eine große Waschschüssel. DerMeister sah das <strong>und</strong> fragte: »Was hast du denn jetzt vor?«Eulenspiegel antwortete: »Meister, ihr selbst habt gesagt, ichsoll so nähen, dass man es nicht sieht <strong>und</strong> unter derWaschschüssel sieht es eben niemand.« Da sprach derSchneider: »Wie dumm von dir. Hör auf damit <strong>und</strong> komm unterder Waschschüssel hervor. Nähe so, dass man es sehen kann!«Das ging drei Tage gut, dann aber war der Meister abendsmüde. Es lag jedoch noch ein Mantel da, der war fertig bis aufdie Ärmel <strong>und</strong> so sprach der Meister zu Eulenspiegel: »Wirf dieÄrmel noch an den Mantel <strong>und</strong> dann geh zu Bett!« Eulenspiegelversprach es <strong>und</strong> der Meister ging zu Bett. Eulenspiegel aberhing den Mantel an einen Haken <strong>und</strong> warf die Ärmelabwechselnd an den Mantel. So ging es die ganze Nacht bis <strong>zum</strong>nächsten Morgen.In der Frühe stand der Meister auf, ging in die Schneiderstube<strong>und</strong> sah, wie Eulenspiegel mit den Ärmeln nach dem Mantelwarf. Der Schneider schaute sich Eulenspiegels Treibenverblüfft an <strong>und</strong> sprach: »Was soll das jetzt wieder?« Daantwortete ihm Eulenspiegel ganz ernst: »Das ist kein Spaß. Ichwerfe die ganze Nacht die Ärmel an den Mantel, aber sie wolleneinfach nicht kleben. Ihr hättet mich ruhig schlafen schickenkönnen, das war verlorene Arbeit.«Der Meister sprach: »Ist es etwas meine Schuld, dass du michfalsch verstanden hast? Ich meinte natürlich, du solltest dieÄrmel an den Mantel nähen.« So zankten sie nun miteinander,-140-


is Eulenspiegel seine Sachen packte <strong>und</strong> den Schneider verließ.-141-


Der dumme ZiegenbockEin Fuchs fiel in einen tiefen Brunnen <strong>und</strong> konnte sich nichtselbst heraushelfen. Da kam ein durstiger Ziegenbock <strong>zum</strong>Brunnen <strong>und</strong> als er den Fuchs sah, fragte er ihn: »Ist das Wassergut?« Der Fuchs verschwieg, dass er in die Tiefe hinabgestürztwar <strong>und</strong> antwortete: »Das Wasser ist ganz klar <strong>und</strong> schmecktausgezeichnet; komm nur auch herab!« Das tat der Ziegenbockauch <strong>und</strong> als er seinen Durst gelöscht hatte, fragte er: »Und wiekommen wir jetzt wieder aus dem Brunnen heraus?«Der Fuchs antwortete ihm: »Das lass ruhig meine Sorge sein.Du stellst dich auf die Hinterbeine, stemmst die Vorderbeinegegen die Wand <strong>und</strong> streckst deinen Hals aus. Dann werde ichüber deinen Rücken <strong>und</strong> deine Hörner nach oben klettern <strong>und</strong>dir auch heraushelfen.« Der Ziegenbock tat, was der Fuchs ihmaufgetragen hatte <strong>und</strong> kurz darauf war dieser oben amBrunnenrand. Dort hüpfte er vor Freude über die geglückteBefreiung, doch als der Ziegenbock ihn ermahnte, nun auch ihmherauszuhelfen, da rief der Fuchs spöttisch: »Hättest du indeinem Kopf so viel Verstand, wie du Haare in deinem Barthast, so wärst du nicht in den Brunnen hinuntergestiegen ohnezu überlegen, wie du wieder nach oben kommst!«-142-


Der zänkische SchneiderEs war einmal ein zänkischer Schneider, dessen Frau war gut,fleißig <strong>und</strong> fromm, konnte es ihrem Mann aber niemals rechtmachen. Was sie auch tat, er war unzufrieden, brummte,schimpfte, raufte <strong>und</strong> schlug sie. Als die Obrigkeit davon hörte,ließ sie den Schneider vorführen <strong>und</strong> ins Gefängnis werfen,damit er sich bessern sollte. Nach einer Zeit wurde er wiederfreigelassen, musste aber versprechen, seine Frau nicht mehr zuschlagen, sondern in Frieden mit ihr zu leben <strong>und</strong> Lieb <strong>und</strong> Leidmit ihr zu teilen, wie es sich für Eheleute gehört.Das ging eine Zeit lang gut, dann aber geriet der Schneiderwieder in seine alte Weise, war mürrisch <strong>und</strong> zänkisch <strong>und</strong> weiler seine Frau nicht schlagen durfte, wollte er sie bei den Haarenpacken <strong>und</strong> raufen. Die Frau aber entkam ihm auf den Hofhinaus, wo ihr der Schneider mit Elle <strong>und</strong> Schere hinterher jagte<strong>und</strong> mit allem was er zur Hand hatte, nach ihr warf. Wenn er sietraf, so lachte er, wenn er sie aber verfehlte, so tobte <strong>und</strong>wetterte er.Das trieb er so weiter, bis die Nachbarn der Frau zu Hilfekamen. Der Schneider wurde wieder vor die Obrigkeit geführt<strong>und</strong> an sein Versprechen erinnert. Darauf sagte er: »LiebeHerren, ich habe mein Versprechen gehalten, sie nichtgeschlagen <strong>und</strong> Lieb <strong>und</strong> Leid mit ihr geteilt.« Da fragte derRichter, wie das möglich wäre, da sie schon wieder so über ihnklage. Der Schneider entgegnete: »Ich habe sie nichtgeschlagen, sondern ihr nur, weil sie so seltsam aussah, dieHaare mit der Hand gekämmt. Sie aber ist mir entflohen <strong>und</strong> hatmich böswillig verlassen. Da bin ich ihr nachgelaufen <strong>und</strong> habe,um sie an ihre Pflicht zu erinnern, nachgeworfen, was ich geradezur Hand hatte. Ich habe auch Lieb <strong>und</strong> Leid mit ihr geteilt,denn so oft ich sie getroffen habe, war es mir lieb <strong>und</strong> ihr leid.Habe ich sie aber verfehlt, so war es ihr lieb, mir aber leid.«-143-


Die Richter waren jedoch mit dieser Antwort nicht zufrieden<strong>und</strong> ließen ihm seinen verdienten Lohn auszahlen.-144-


Der kluge Sohn der SchildbürgerinIn Schilda lebte eine Frau, die hatte einen ganz besondersklugen Sohn namens Paul. Als Paul nun seine Lehre erfolgreichbeendet hatte, ging er auf Wanderschaft. Also packte dieSchildbürgerin den Ranzen für die Wanderschaft <strong>und</strong> ermahnteihren Sohn, immer recht fre<strong>und</strong>lich zu allen Menschen zu sein.Paul war kaum vor dem Stadttor angelangt, da traf er einenTrupp Soldaten, die einen Räuber gefangen hatten. Sie warengerade dabei, den Verbrecher ins Gefängnis zu führen. Nunerinnerte sich Paul an die Worte der Mutter, zog den Hut vordem Taugenichts <strong>und</strong> grüßte ihn fre<strong>und</strong>lich. Die Soldatengerieten darüber in Zorn <strong>und</strong> jagten den Schildbürger davon.Traurig kehrte Paul zu seiner Mutter zurück <strong>und</strong> erzählte, wasvorgefallen war.Die Mutter schüttelte den Kopf <strong>und</strong> sagte: »Du bist einDummkopf, Paul! Wenn du wieder einem solchen Truppbegegnest, musst du rufen: ›Lebenslänglich ins Zuchthaus mitdem Verbrecher!‹« Paul merkte sich die Worte der Mutter <strong>und</strong>ging wieder auf Wanderschaft. Nun traf es sich, dass derSchildbürger einer Hochzeitsgesellschaft begegnete. Und umdiesmal alles richtig zu machen, wies er auf den Bräutigam <strong>und</strong>schrie: »Lebenslänglich ins Zuchthaus mit dem Verbrecher!« Daempörte sich die Hochzeitsgesellschaft <strong>und</strong> verfolgte Paul bisvor das Haus seiner Mutter. Am liebsten hätten sie ihn grün <strong>und</strong>blau geschlagen.Die Mutter war entsetzt über den Aufruhr vor dem Haus <strong>und</strong>fragte, was passiert sei. Paul erzählte ihr alles <strong>und</strong> sie sagte:»Ach, Dummerchen, du hättest dem Bräutigam zurufen müssen:›Lust <strong>und</strong> Freude ist in dein Haus gekommen!‹« Das merkte sichPaul nun <strong>und</strong> ging wieder in die Fremde. Als er nun schon weitvon seiner Heimatstadt entfernt war, kam er an einen Bauernhof,auf dem ein Feuer ausgebrochen war. Als Paul den traurigen-145-


Bauern sah, rief er freudig: »Lust <strong>und</strong> Freude sind in dein Hausgekommen!« So viel vermeintliche Schadenfreude erzürnte denBauer trotz seines Kummers <strong>und</strong> er hetzte seinen H<strong>und</strong> auf denFremden. Paul rannte so schnell er konnte heimwärts. Als er beider Mutter ankam <strong>und</strong> alles erzählt hatte, sagte diese: »Paul,Paul, das gibt es doch gar nicht. Du hättest einen Eimer Wassernehmen müssen <strong>und</strong> versuchen, den Brand zu löschen!«Paul schrieb es sich hinter die Ohren <strong>und</strong> zog wieder fort. Nunkam er an einer lustigen Gesellschaft vorbei, die vor einerGaststätte saß <strong>und</strong> Rast machte. Paul zögerte nicht, griff einenEimer mit Wasser <strong>und</strong> kippte das kühle Nass über dieGesellschaft. Das gab ein Geschrei <strong>und</strong> einen Aufruhr, so dassPaul sich beeilte, heimwärts zu kommen, Die Mutter bedauerteihren Sohn wegen seiner Dummheit <strong>und</strong> sagte: »Du hättest zuden fröhlichen Zechern sagen müssen: ›Für mich auch einFläschchen, aber von der besten Sorte!‹« Paul ging nun einletztes Mal in die Welt hinaus <strong>und</strong> kam an einem Bauern vorbei,der Jauche aufs Feld fuhr. Da rief der Dummkopf, wie es ihmdie Mutter aufgetragen hatte: »Für mich auch ein Fläschchen,aber von der besten Sorte!« Der Bauer grinste hämisch <strong>und</strong> riefzurück: »Kein Problem, junger Mann! Das sollst du bekommen.Solch ein edles Parfüm findest du nirgendwo auf der Weltwieder. Selbst der König hat solch eines nicht!« Dankbar nahmPaul das Fläschchen <strong>und</strong> war froh, diesmal offensichtlich keinenFehler gemacht zu haben.Eilig kehrte er zu der Mutter zurück <strong>und</strong> sagte: »Liebe Mutter,ich habe dir etwas mitgebracht! Solch ein wohl riechendesParfüm hat nicht einmal der König!« Nun, wie es dem armenPaul dann ergangen ist, könnt ihr euch wohl denken.-146-


Die kleine FlunkernaseTina tat nichts lieber, als auf dem Nachhauseweg von derSchule zu trödeln. Es war nun schon zwei Uhr nachmittags <strong>und</strong>die Mutter wartete mit dem Essen. Die Schule war bereits seitzwei St<strong>und</strong>en aus <strong>und</strong> es regnete in Strömen. Die Mutter wusstezwar, dass ihre Tochter gerne trödelte, doch zwei St<strong>und</strong>enVerspätung bei diesem Wetter, das traute sie selbst Tina nichtzu.Endlich kam Tina mit ihren verschmutzten Gummistiefeln<strong>und</strong> dem nassen Schirm in die Küche. »Wie siehst du dennaus?« rief die Mutter entsetzt, als sie die total durchnässteTochter sah. »Der Schirm ist an allem schuld!« behauptete Tina,die noch völlig außer Atem war. Die Mutter sah ihre Tochterzweifelnd an <strong>und</strong> sagte: »Was war denn los, Tina? Erzähl esmir!« Da begann Tina zu erzählen:»Also, als ich aus der Schule kam, da fegte ein riesiger Sturmüber den Schulhof, der unter meinen Schirm fuhr <strong>und</strong> michmehrere h<strong>und</strong>ert Meter hoch in die Luft hob. Der Wind trugmich über alle Häuser hinweg bis an den Fluss. So einen Sturmhast du bestimmt noch nicht erlebt, ehrlich, ich schwöre dir, eswar ein riesiges Unwetter. Ja, <strong>und</strong> schließlich hat mich der Windan der alten Brücke am Ende des Dorfes abgesetzt, du weißtschon, wo der Tierpark ist, <strong>und</strong> da musste ich den ganzen Wegbis nach Hause laufen <strong>und</strong> deshalb ist es später geworden!«Die Mutter sah ihre Tochter an, schmunzelte <strong>und</strong> sagte:»Nein, Tina, also wirklich, was für Abenteuer du aber aucherlebst! Das ist ja kaum zu glauben! Gib mir jetzt erst mal deineschmutzigen Kleider. Ich mache dir einen warmen Kakao, dubist vom Flug durch die Luft sicher ganz unterkühlt!«Dabei lächelte die Mutter ihre Tochter verständnisvoll an <strong>und</strong>zwinkerte mit dem linken Auge. Schließlich kannte sie ja ihrekleine Flunkernase nur zu gut <strong>und</strong> wusste, dass die Trödelei-147-


keine böse Absicht war.-148-


Der Riese <strong>und</strong> der SchuhmacherEs war einmal ein böser Riese, der niemanden auf der Weltleiden konnte. Aber die Bewohner von Mieselbach konnte er amwenigsten leiden. Irgendwann beschloss er, sie loszuwerden. Inder Nähe von Mieselbach floss ein Fluss, den wollte der Rieseaufstauen <strong>und</strong> die Stadt überfluten.Für einen Riesen ist es keine schwierige Übung einen Fluss zustauen, er musste nur eine Riesenschaufel Erde an der richtigenStelle abladen. Doch der Riese war recht dumm <strong>und</strong> anstatt dieErde erst in Mieselbach auf die Schaufel zu laden, lud er sieschon vor seiner Höhle auf. Da es ein heißer Tag war <strong>und</strong> auchRiesen müde werden, ging es immer langsamer vorwärts <strong>und</strong>schließlich stieß er sich seinen Zeh an einem Stein <strong>und</strong> stolperte,so dass die ganze Erde von der Schaufel fiel. Als er sie mühsamwieder aufgeladen hatte, wusste er nicht mehr so recht, inwelche Richtung er musste <strong>und</strong> so kam er vom Weg ab.»Ich habe mich wohl verlaufen«, sagte der Riese zu sichselbst, setzte sich an den Straßenrand <strong>und</strong> wartete, bis jemandvorbeikäme, den er nach dem Weg fragen könnte. Und schonkurze Zeit später kam ein Schuhmacher des Wegs, der inMieselbach Schuhe abgeholt hatte, die er reparieren sollte. Dahörte der Schuhmacher plötzlich eine Stimme: »He, du, wie weitist es bis Mieselbach?« Der Schuhmacher blickte überraschtnach oben <strong>und</strong> sah den Riesen mit der Schaufel Erde amStraßenrand sitzen. Er überlegte kurz <strong>und</strong> dachte bei sich:›Mmh, was mag der Riese wohl mit der Schaufel Erdevorhaben? Sicher nichts Gutes!‹ Laut aber sagte er: »Warumfragst du?«Da antwortete der Riese in seiner Einfalt: »Ich will den Flussaufstauen <strong>und</strong> die Stadt überschwemmen, damit alle Einwohnerertrinken.« Der Schuhmacher war aber nicht auf den Kopfgefallen <strong>und</strong> so fragte er den Riesen: »Weißt du denn, wie weit-149-


es bis Mieselbach ist?« Der Riese verneinte <strong>und</strong> weil er nichtnur dumm, sondern auch noch recht faul war, sagte er: »Ichhoffe, es ist nicht mehr weit.« Der Schuhmacher schütteltebesorgt den Kopf <strong>und</strong> sagte: »Ich muss dich enttäuschen. Ichkomme gerade von dort. Es ist ein weiter, weiter Weg.«Dann schüttete er seinen Sack aus, in dem die Schuhe waren,die er zur Reparatur abgeholt hatte. »Sieh nur, so viele Schuhehabe ich auf dem Weg von Mieselbach bis hierher schondurchgelaufen.« sagte er <strong>und</strong> zeigte auf die Schuhe. Der Riesestarrte ihn ungläubig an, aber als der Schuhmacher beteuerte,dies sei die Wahrheit, jammerte er: »So weit kann ich die Erdeunmöglich noch tragen! Was mache ich denn jetzt?«Da antwortete der Schuhmacher: »Ach, lass die Erde docheinfach hier liegen, geh nach Hause <strong>und</strong> halt ein Nickerchen. Sowichtig ist Mieselbach doch nicht.« Der Riese stimmte ihm zu,kippte die Erde von der Schaufel <strong>und</strong> ging nach Hause. Jetzt istan der Stelle, wo der Schuhmacher den Riesen traf, zwar eingroßer Hügel, doch die Leute von Mieselbach hat der Riese <strong>zum</strong>Glück vergessen.-150-


Der faule HansHans war faul <strong>und</strong> obwohl er nichts weiter zu tun hatte, alstäglich seine Ziege auf die Weide zu treiben, so jammerte erdennoch jeden Abend, wenn er nach Hause kam: »Es istwirklich eine schwere Last <strong>und</strong> ein mühselige Geschäft, jahrein,jahraus so eine Ziege bis in den Spätherbst aufs Feld zu treiben.Wenn man wenigstens noch dabei schlafen könnte! Aber nein,man muss aufpassen, dass sie die jungen Bäume nichtbeschädigt, durch die Hecke in eine Garten dringt oder gardavonläuft. Wie soll man da zur Ruhe kommen <strong>und</strong> sich desLebens freuen?« Jeden Abend überlegte er, wie er sich dieserArbeit entledigen könnte, doch lange Zeit fiel ihm einfach nichtsein.Plötzlich aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen <strong>und</strong> errief: »Ich weiß, was ich tue! Ich heirate die dicke Suse, die hatauch eine Ziege <strong>und</strong> kann meine mithüten, so brauche ich michnicht länger damit zu quälen.« So erhob sich der faul Hans <strong>und</strong>machte sich auf den Weg quer über die Straße zu den Eltern derdicken Suse. Dort hielt er um die Hand ihrer arbeitsamen <strong>und</strong>tugendreichen Tochter an. Die Eltern überlegten nicht lange,sondern meinten: »Gleich <strong>und</strong> gleich gesellt sich gern«, <strong>und</strong> sowilligten sie ein. So wurde die dicke Suse seine Frau <strong>und</strong> triebdie beiden Ziegen aus.Hans hatte nun ein gutes Leben <strong>und</strong> brauchte sich von keinerArbeit mehr zu erholen, nur von seiner eigenen Faulheit. Nurhin <strong>und</strong> wieder ging er mit der dicken Suse hinaus ins Feld <strong>und</strong>sagte: »Es ist nur, damit du die Ruhe hinterher wieder zuschätzen weißt.« Doch die dicke Suse war nicht minder faul alsHans <strong>und</strong> so sprach sie eines Tages: »Lieber Hans, warum sollenwir uns das Leben versauern <strong>und</strong> unsere schöne Jugendzeitverschwenden. Ist es nicht besser, wir tauschen die beidenZiegen, die uns jeden Morgen mit ihrem Meckern im Schlaf-151-


stören, beim Nachbarn gegen einen Bienenstock ein? Denstellen wir hinter das Haus an einen sonnigen Platz <strong>und</strong>brauchen uns nicht weiter darum zu kümmern. Die Bienenbrauchen wir nicht zu hüten, die finden den Weg von selbst <strong>und</strong>sammeln Honig, ohne dass wir die geringste Arbeit damithaben.«»Du hast sehr vernünftig gesprochen«, sagte Hans, »<strong>und</strong>außerdem schmeckt Honig besser als Ziegenmilch <strong>und</strong> lässt sichauch länger aufbewahren.«Der Nachbar war mit dem Tausch einverstanden <strong>und</strong> dieBienen flogen unermüdlich aus <strong>und</strong> ein <strong>und</strong> im Herbst konnteHans einen ganzen Krug Honig herausnehmen. Den Krugstellten sie auf ein Brett im Schlafzimmer <strong>und</strong> weil siefürchteten, er könnte ihnen gestohlen werden, holte sich diedicke Suse einen starken Haselstock <strong>und</strong> legte ihn neben dasBett, um ungebetene Gäste vom Bett aus verjagen zu können.Der faule Hans stand nicht gerne vor Mittag auf <strong>und</strong> einesMorgens, als er noch in den Federn lag <strong>und</strong> von dem langenSchlaf ausruhte, sprach er zur Suse: »Es ist besser, wir tauschenden Honig gegen eine Gans mit einem jungen Gänslein, bevordu ihn ganz aufgegessen hast.« Da erwiderte Suse: »Aber nichteher, bis wir ein Kind haben, das die Gänse hütet. Soll ich michetwa mit den Gänsen plagen <strong>und</strong> meine Kräfte unnötigerweiseverbrauchen?«»Meinst du«, sagte Hans, »der Junge würde die Gänse hüten?Die Kinder gehorchen heutzutage den Eltern nicht mehr.«»Oh«, antwortete Suse, »dem soll es schlecht ergehen, wenner nicht tut, was ich sage. Einen Stock will ich nehmen <strong>und</strong> ihmmit ungezählten Schlägen die Haut gerben! Siehst du, so will ichauf ihn losschlagen.« Indem sie das sagte griff sie nach demStock, holte aus <strong>und</strong> traf unglücklicherweise den Honigkrug.Der Krug zerbrach <strong>und</strong> der schöne Honig floss auf den Boden.Da sagte Hans: »Da liegt nun die Gans mit dem Gänslein <strong>und</strong>braucht nicht gehütet zu werden. Aber welch ein Glück, dass-152-


mir der Krug nicht auf den Kopf gefallen ist. Wir haben allenGr<strong>und</strong>, mit unserem Schicksal zufrieden zu sein.« Dann griff ernach einer Scherbe, in der noch etwas Honig war <strong>und</strong> sagte:»Den Rest, Frau, wollen wir uns noch gut schmecken lassen <strong>und</strong>uns dann von dem Schrecken erholen. Was macht’s, wenn wirheute etwas später aufstehen, der Tag ist noch lang genug.«»Ja«, entgegnete Suse, »man kommt immer noch rechtzeitig.Weißt du, eine Schnecke war einmal zu einer Hochzeiteingeladen, machte sich auf den Weg, kam aber erst zurKindstaufe an. Vor dem Haus stürzte sie dann noch über denZaun <strong>und</strong> sagte ›Eilen tut nicht gut!‹«-153-


Der Dümmling <strong>und</strong> die hilfreichen TiereZwei Königssöhne gingen einmal auf Abenteuer aus <strong>und</strong>gerieten in ein wildes, wüstes Leben, so dass sie gar nichtwieder nach Haus kamen. Der jüngste, der auch der Dümmstewar, ging aus <strong>und</strong> suchte seine Brüder; wie er sie fand, spottetensie seiner, dass er sich mit seiner Einfalt durch die Weltschlagen wolle, da sie zwei doch nicht durchkämen <strong>und</strong> siewären doch viel klüger. Da zogen sie miteinander fort <strong>und</strong>kamen an einen Ameisenhaufen, die zwei ältesten wollten ihnaufwühlen <strong>und</strong> sehen, wie die kleinen Ameisen in der Angstherumkröchen <strong>und</strong> ihre Eier forttrügen; aber der Dümmlingsagte: »Lasst die Tiere in Frieden, ich mag nicht, dass ihr siestört.«Dann gingen sie weiter <strong>und</strong> kamen an einen See, auf demschwammen viele, viele Enten; die zwei Brüder wollten ein paarfangen <strong>und</strong> braten, aber der Dümmling sagte wieder: »Lasst dieTiere doch in Frieden, ich mag nicht, dass ihr sie tötet.«Endlich kamen sie an ein Bienennest, darin war so viel Honig,dass er am Stamm herunterlief; die zwei wollten Feuer unter denBaum legen, dass die Bienen erstickten <strong>und</strong> sie den Honigwegnehmen könnten. Der Dümmling hielt sie aber wieder ab<strong>und</strong> sprach: »Lasst die Tiere in Frieden, ich mag nicht, dass ihrsie verbrennt.«Da kamen die drei Brüder in ein Schloss, wo in den Ställenlauter steinerne Pferde standen, auch war kein Mensch zu sehen<strong>und</strong> sie gingen durch alle Säle, bis sie vor eine Tür ganz amEnde kamen, davor hingen drei Schlösser; es war aber mitten inder Türe ein Lädlein, dadurch konnte man in die Stube sehen.Da sahen sie ein graues Männchen an einem Tische sitzen, dasriefen sie einmal, zweimal, aber es hörte nicht; endlich riefen sie<strong>zum</strong> dritten Mal <strong>und</strong> da stand es auf <strong>und</strong> kam heraus. Es sprachkein Wort, fasste sie aber an <strong>und</strong> führte sie zu einem reich-154-


gedeckten Tisch <strong>und</strong> als sie gegessen hatten, führte es jeden inein eigenes Schlafgemach.Am nächsten Morgen kam es zu dem Ältesten, winkte ihm<strong>und</strong> brachte ihn zu einer steinernen Tafel, darauf standen diedrei Aufgaben geschrieben, wodurch das Schloss erlöst werdenkonnte.Die erste war: In dem Wald unter dem Moos lagen dietausend Perlen der Königstochter, die mussten aufgesuchtwerden <strong>und</strong> vor Sonnenuntergang durfte nicht eine einzigefehlen, sonst wurde der, welcher es unternahm, zu Stein. DerPrinz ging hin <strong>und</strong> suchte den ganzen Tag, als aber der Tag zuEnde war, hatte er erst h<strong>und</strong>ert gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> wurde in einenStein verwandelt.Am folgenden Tag unternahm der zweite Bruder dasAbenteuer; er wurde aber wie der Älteste zu Stein, weil er nichtmehr als zweih<strong>und</strong>ert gef<strong>und</strong>en hatte.Endlich kam auch an den Dümmling die Reihe, der suchte imMoos, es war aber so schwer, die Perlen zu finden <strong>und</strong> ging solangsam, da setzte er sich auf einen Stein <strong>und</strong> weinte. Und wieer so saß, kam der Ameisenkönig, den er einmal gerettet hattemit fünftausend Ameisen <strong>und</strong> es dauerte gar nicht lang, so hattendie die Perlen miteinander gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> auf einen Haufengetragen. Die zweite Aufgabe aber war, den Schlüssel zu derSchlafkammer der Prinzessin aus dem See zu holen. Wie derDümmling <strong>zum</strong> See kam, schwammen die Enten, die er einmalgerettet hatte, heran, tauchten unter <strong>und</strong> holten den Schlüssel ausder Tiefe.Die dritte Aufgabe aber war die schwerste: aus den dreischlafenden Töchtern des Königs sollte die jüngste <strong>und</strong> dieliebste herausgesucht werden, sie glichen sich aber vollkommen<strong>und</strong> waren durch nichts zu unterscheiden, außer dass die Ältesteein Stück Zucker, die Zweite Sirup, die Jüngste einen Löffel vollHonig gegessen hatte <strong>und</strong> es war bloß an dem Hauch zu-155-


erkennen, welche den Honig gegessen hatte. Da kam aber dieBienenkönigin von den Bienen, die der Dümmling vor demFeuer geschützt <strong>und</strong> versuchte den M<strong>und</strong> von allen dreien,zuletzt blieb sie auf dem M<strong>und</strong> sitzen, der Honig gegessen hatte<strong>und</strong> so erkannte der Prinz die rechte <strong>und</strong> da war aller Zaubervorbei, alles war aus dem Schlaf erlöst <strong>und</strong> wer von Stein war,erhielt seine menschliche Gestalt wieder.Der Dümmling vermählte sich mit der Jüngsten <strong>und</strong> Liebsten<strong>und</strong> wurde König nach ihres Vaters Tod; seine zwei Brüder abermit den beiden ändern Schwestern.-156-


Wie Eulenspiegel Schuhe sammelteAls Till Eulenspiegel schon ein aufgeweckter junger Kerl war,spannte er einmal ein Seit von seinem Haus zu einem Haus amanderen Flussufer der Saale. Er verkündete den Leuten, er wolleauf diesem Seil spazieren, wenn jeder von ihnen ihm seinenlinken Schuh gebe. Die Leute warteten neugierig auf dasKunststück <strong>und</strong> gaben Till eifrig ihre Schuhe. Eulenspiegel zognun alle linken Schuhe auf eine Schnur <strong>und</strong> stieg damit auf dasSeil. Er setzte sich in die Mitte <strong>und</strong> betrachtete die gaffendeMenge von oben herab.Nach einer Weile rief her: »Schaut mal alle her!« Dabei ließer alle Schuhe in die Menge purzeln <strong>und</strong> die Leute stürzten sichverärgert auf den großen Schuhhaufen <strong>und</strong> wühlten so wilddarin herum, dass niemand mehr seinen Schuh finden konnte.Eulenspiegel aber betrachtete sich den Aufruhr vergnügt vonoben <strong>und</strong> lachte schallend.Während sich die Leute unten noch um ihre Schuhe zankten,schlich sich Eulenspiegel heimlich wieder in sein Haus <strong>und</strong> ließsich vier Wochen nicht mehr auf der Straße sehen. Das war auchbesser so, denn mancher, der seinen Schuh nichtwiederbekommen hatte, wartete nur darauf, den Schelm in dieFinger zu bekommen <strong>und</strong> ihm eine ordentliche Lektion zuerteilen.-157-


Kapitel 9Magische <strong>Geschichten</strong>-158-


Der gläserne SargEin armer Schneider kam auf seiner Wanderschaft in einenWald <strong>und</strong> weil er den Weg nicht kannte, verirrte er sich. Als esdunkel wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in dergruseligen Einsamkeit ein Lager zu suchen. Das Moos wärezwar ein weiches Bett gewesen, da er sich aber vor den wildenTieren fürchtete, stieg er in den Gipfel einer hohen Eiche, umdort zu übernachten. Er dankte Gott, dass er sein Bügeleisendabei hatte, denn sonst hätte ihn der Wind weggeweht.Nachdem er einige St<strong>und</strong>en ängstlich in dem hohen Baumzugebracht hatte, erblickte er plötzlich in geringer Entfernungden Schein eines Lichtes. Der Schneider meinte, dort einemenschliche Wohnung zu finden, wo er besser aufgehoben wäreals auf dem Baum. Er kletterte vorsichtig herunter <strong>und</strong> machtesich auf den Weg zu dem Lichtschein. Er kam zu einem kleinenHaus, das aus Rohr <strong>und</strong> Binsen geflochten war. Der Schneiderklopfte mutig an <strong>und</strong> die Tür öffnete sich <strong>und</strong> ein kleines, altes,eisgraues Männchen mit einem Kleid aus bunten Lappen standvor ihm. Es fragte mit schnarrender Stimme: »Wer seid Ihr <strong>und</strong>was wollt Ihr?« Der Schneider antwortete: »Ich bin ein armerSchneider, den die Nacht hier in der Wildnis überrascht hat. Ichbitte Euch, mich bis morgen in Eurer Hütte aufzunehmen.«Doch der Alte erwiderte: »Geh deiner Wege, mit Landstreichernwill ich nichts zu tun haben. Such dir woanders einenUnterschlupf!« Mit diesen Worten wollte das Männchen wiederim Haus verschwinden, doch der Schneider hielt es amRockzipfel fest <strong>und</strong> bat so flehentlich, dass der Alte, der so bösegar nicht war, sich erbarmte <strong>und</strong> den Schneider in sein Hausaufnahm. Er gab ihm zu essen <strong>und</strong> zeigte ihm dann in einer Eckesein Nachtlager. Der müde Schneider schlief sofort ein <strong>und</strong> wäream Morgen auch noch gar nicht aufgestanden, hätte ihn nicht einfürchterlicher Lärm aus dem Schlaf geschreckt. Er hörte einheftiges Brüllen <strong>und</strong> Schreien, zog sich hastig an <strong>und</strong> eilte vor-159-


die Tür. Dort sah er einen w<strong>und</strong>erschönen Hirschen <strong>und</strong> einenschwarzen Stier, die heftig miteinander kämpften. Der Schneiderwusste lange nicht, welcher von beiden siegen würde, dochschließlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in denLeib <strong>und</strong> der Stier sank mit entsetzlichem Brüllen tot zur Erde.Der Schneider stand völlig unbeweglich, als plötzlich derHirsch auf ihn zukam <strong>und</strong> ihn, bevor er fliehen konnte, mitseinem Geweih aufgabelte. Der Schneider wusste gar nicht, wieihm geschah, denn in schnellem Lauf ging es über Stock <strong>und</strong>Stein, Berg <strong>und</strong> Tal, Wiese <strong>und</strong> Wald. Endlich hielt der Hirschvor einer hohen Felsenwand an <strong>und</strong> ließ den Schneider sanftherabfallen. Der Schneider brauchte eine Zeit lang, um wiederzur Besinnung zu kommen. Als er sich wieder erholt hatte, stießder Hirsch plötzlich sein Geweih mit aller Gewalt gegen eineTür im Felsen, die auch sofort aufsprang. Aus der Tür schlugenFlammen hervor <strong>und</strong> anschließend folgte ein großer Dampf, derden Hirsch den Augen des Schneiders entzog. Der Schneiderwusste nicht, was er tun sollte, da hörte er auf einmal eineStimme, die sprach: »Tritt ohne Furcht herein, dir soll kein Leidgeschehen.« Er zögerte zwar zunächst, doch dann trat er durchdie Eisentür in einen großen geräumigen Saal, dessen Decke,Wände <strong>und</strong> Boden aus glänzenden Quadratsteinen bestanden,auf denen unbekannte Zeichen eingehauen waren. DerSchneider betrachtete alles voller Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> schicktesich dann an, wieder hinauszugehen. Doch da ertönte erneut dieStimme <strong>und</strong> sprach: »Tritt auf den Stein in der Mitte des Saales<strong>und</strong> auf dich wartet großes Glück.«Der Schneider war inzwischen so mutig, dass er der Stimmegehorchte <strong>und</strong> auf den Stein trat. Dieser gab aber nach <strong>und</strong> sanklangsam in die Tiefe hinunter. Der Schneider war nun in einemSaal, der so groß war wie der vorige, in dem es nun aber mehrzu betrachten <strong>und</strong> zu bew<strong>und</strong>ern gab. In den Wänden warenVertiefungen, in denen Gefäße von durchsichtigem Glasstanden, die mit farbigem Spiritus oder mit einem bläulichen-160-


Rauch gefüllt waren. Auf dem Boden des Saales standen zweigroße gläserne Kästen, die sofort die Neugier des Schneidersweckten. Er trat an einen der beiden heran <strong>und</strong> sah darin einSchloss mit Ställen <strong>und</strong> Scheunen. Alles war klein, abersorgfältig gearbeitet <strong>und</strong> schien von einer kunstreichen Handgeschnitzt zu sein.Da ließ sich die Stimme abermals hören <strong>und</strong> befahl ihm, sichnun zu dem zweiten Kasten umzudrehen. Darin sah derSchneider ein Mädchen von außergewöhnlicher Schönheit. Eslag wie im Schlafe <strong>und</strong> seine langen blonden Haaren hüllten eswie ein Mantel ein. Die Augen waren fest geschlossen, doch dielebhafte Gesichtsfarbe <strong>und</strong> ein Band, das von dem Atem hin <strong>und</strong>her bewegt wurde, ließen keinen Zweifel daran, dass dasMädchen noch lebte. Der Schneider betrachtete das schöneMädchen mit klopfendem Herzen, als dieses plötzlich die Augenaufschlug <strong>und</strong> bei seinem Anblick freudig rief: »MeineBefreiung naht! Geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis!Wenn du den Riegel an dem gläsernen Sarg wegschiebst, bin icherlöst.« Der Schneider tat wie ihm geheißen <strong>und</strong> die Schönestieg heraus <strong>und</strong> lief in die Ecke des Saals, wo sie sich in einenweiten Mantel hüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein, riefden Schneider zu sich, gab ihm einen Kuss auf den M<strong>und</strong> <strong>und</strong>sprach: »Mein lang ersehnter Befreier, der Himmel hat dich <strong>zum</strong>ir geführt <strong>und</strong> meinem Leid ein Ende gemacht. Nun soll deinGlück beginnen. Du bist der vom Himmel bestimmte Gemahl<strong>und</strong> sollst, von mir geliebt <strong>und</strong> mit allen irdischen Güternüberhäuft, in ungetrübter Freude dein Leben verbringen. Setzdich <strong>und</strong> lass mich dir mein Schicksal erzählen.Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Elternstarben, als ich noch sehr jung war <strong>und</strong> so wuchs ich bei meinemälteren Bruder auf. Wir liebten uns so innig, dass wirbeschlossen, nie zu heiraten, sondern bis ans Ende unseresLebens zusammen zu bleiben. In unserem Haus war anGesellschaft nie Mangel <strong>und</strong> eines Abends kam ein Fremder in-161-


unser Schloss geritten <strong>und</strong> bat unter dem Vorwand, den nächstenOrt nicht mehr erreichen zu können, um ein Nachtlager. Wirnahmen ihn auf <strong>und</strong> er unterhielt uns beim Abendessen mitseinem Gespräch <strong>und</strong> seinen Erzählungen. Mein Bruder hatteein solches Wohlgefallen an ihm, dass er den Fremden bat, nocheinige Tage bei uns zu bleiben <strong>und</strong> dieser willigte ein. Wirbegaben uns erst spät in der Nacht zu Bett, dem Fremden wurdeein Zimmer gewiesen <strong>und</strong> ich eilte müde in die weichen Federnmeines Bettes.Kaum war ich eingeschlafen, wachte ich durch eine zarte <strong>und</strong>liebliche Musik wieder auf. Weil ich nicht wusste, woher siekam, wollte ich mein Kammermädchen rufen, doch ich brachtezu meinem Erstaunen keinen Ton hervor. Da sah ich plötzlichden Fremden in mein Zimmer eintreten, obwohl es durch zweiTüren fest verschlossen war. Er erklärte mir, dass er durchZauberkräfte die Musik habe erklingen lassen <strong>und</strong> nun in meinZimmer gekommen sei, um mir Herz <strong>und</strong> Hand anzubieten.Meine Abneigung gegen seine Zauberkünste aber war so groß,dass ich ihn keiner Antwort würdigte. Zornig drohte er mir, sichzu rächen <strong>und</strong> Mittel zu finden, um meinen Hochmut zu strafen,dann verließ er das Zimmer. Ich lag die ganze Nacht wach <strong>und</strong>schlief erst am Morgen ein. Als ich erwachte, wollte ich meinemBruder von den Ereignissen der letzten Nacht berichten, dochein Diener sagte mir, er sei schon bei Tagesanbruch mit demFremden auf die Jagd geritten.Ich ahnte Schlimmes, kleidete mich an <strong>und</strong> ritt mit einemDiener in vollem Galopp zu dem Wald. Der Diener stürzteunterwegs <strong>und</strong> konnte mir nicht folgen. Ich ritt weiter <strong>und</strong> sahkurze Zeit später den Fremden mit einem schönen Hirschen ander Leine auf mich zukommen. Aus den Augen des Tieresflossen große Tränen <strong>und</strong> ich fragte den Fremden, wo er meinenBruder gelassen habe <strong>und</strong> wie er zu dem Hirsch gekommen sei.Statt mir zu antworten, brach er in lautes Gelächter aus <strong>und</strong>zornig schoss ich mit meiner Pistole auf ihn. Doch die Kugel-162-


prallte an ihm ab <strong>und</strong> tötete statt dessen mein Pferd. Ich stürztezur Erde <strong>und</strong> der Fremde murmelte einige Worte, woraufhin ichdas Bewusstsein verlor.Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich in diesemgläsernen Sarg. Der Zauberer erschien noch einmal <strong>und</strong> sagte,dass er meinen Bruder in einen Hirschen verwandelt, meinSchloss verkleinert in den anderen Glaskasten eingeschlossen<strong>und</strong> meine Leute in Rauch verwandelt <strong>und</strong> in Glasflaschengebannt hätte. Wenn ich nun seine Frau würde, so erklärte ermir, sei es für ihn ein Leichtes, den Zauber wieder aufzuheben.Ich aber gab ihm wiederum keine Antwort, worauf erverschwand <strong>und</strong> mich in meinem Gefängnis zurückließ. Ich fielin einen tiefen Schlaf <strong>und</strong> sah im Traum einen jungen Mann, dermich befreite. Als ich nun die Augen öffnete <strong>und</strong> dich sah,wusste ich meinen Traum erfüllt. Hilf mir, den Zauber zubannen. Zuerst müssen wir den Glaskasten, in dem sich meinSchloss befindet, auf jenen breiten Stein heben.«Der Stein hob sich daraufhin mit der Schönen <strong>und</strong> demSchneider in die Höhe. Sie kamen in den oberen Saal <strong>und</strong>gelangten von dort leicht ins Freie. Die Schöne öffnete denGlaskasten <strong>und</strong> das Schloss dehnte sich in größter Schnelligkeitzu seiner natürlichen Größe aus. Dann kehrten sie in dieunterirdische Gruft zurück <strong>und</strong> trugen die mit Rauch gefülltenGefäße ins Freie. Kaum wurden die Gefäße geöffnet, drang derblaue Rauch heraus <strong>und</strong> verwandelte sich in lebendigeMenschen.Doch die Freude des schönen Mädchens wurde noch vielgrößer, als der Bruder in menschlicher Gestalt aus dem Waldkam. Noch am selben Tag heiratete die Schöne den glücklichenSchneider.-163-


Rumpel, der PoltergeistAls der gute Mond eines Abends durch das Dachfenster in dieBodenkammer des alten Hauses schaute, sah er etwas sehrMerkwürdiges. Da sprang ein kleiner, dünner Kerl umher <strong>und</strong>warf alle Schachteln, Töpfe <strong>und</strong> Pfannen durcheinander. DemStörenfried schien das Gepolter außerordentlichen Spaß <strong>zum</strong>achen. Das ärgerte den Mond, denn er liebte die nächtlicheStille <strong>und</strong> so rief er hinunter: »He, du! Was machst du denn da?«»Was ich mache? Unfug natürlich!« kicherte der kleine Kerl<strong>und</strong> ließ sich nicht weiter stören. »Wer bist du <strong>und</strong> was in allerWelt soll dieser Lärm mitten in der Nacht?« fragte der Mondstreng.»Ich bin Rumpel, der Poltergeist! Es macht mir eben Spaßnachts herumzupoltern.« Der kleine Kerl stieß eine Kanne um<strong>und</strong> es schepperte so laut, dass der Mond unwillig den Kopfschüttelte. »Hör sofort mit dem Lärm auf, du ungezogener Kerl!Weißt du denn nicht, dass alles still <strong>und</strong> ruhig sein soll, wennich erscheine?« Der kleine Poltergeist grinste frech, rollte einpaar Äpfel über den Bretterboden <strong>und</strong> rief trotzig: »Was dunicht sagst, alter Meckeronkel! Hier oben ist es den ganzen Tagüber still, da mache ich eben in der Nacht ein bisschen Lärm.Oder fällt dir vielleicht etwas Besseres ein?«Der Mond war zwar über die respektlose Art des Poltergeistesverärgert, doch trotzdem überlegte er, ob sich nicht eine andereTätigkeit für den Poltergeist finden ließe. Schließlich sagte er:»Alle Menschen <strong>und</strong> Tiere schlafen jetzt. Warum schläfst dunicht auch?« Rumpel sprang empört in die Höhe, trampelteschließlich auf dem Boden herum <strong>und</strong> schrie: »Schlafen? Ichsoll jetzt schlafen? Ich habe den ganzen Tag geschlafen, ich binnicht müde.«»Nun gut«, sagte der Mond, »dann hältst du es wie die Eulen,aber die müssen nachts Nahrung suchen. Warum suchst du dir-164-


nichts zu essen?« Rumpel lachte den Mond aus <strong>und</strong> rief:»Essen? Alberner Vorschlag! Ich schlucke hin <strong>und</strong> wieder etwasStaub, trinke ein paar Tropfen Wasser aus der Regenrinne. Mehrbrauche ich nicht. Du musst mir schon etwas Interessanteresvorschlagen, du langweiliges Mondgesicht!« Daraufhin streckteRumpel dem Mond die Zunge heraus <strong>und</strong> tobte noch heftiger inder Dachkammer als zuvor.Der Mond war verärgert über den frechen Bengel <strong>und</strong> zogsich beleidigt eine Wolke vors Gesicht. Solche Beschimpfungenwar er nicht gewohnt. Am nächsten Abend schaute der Mondnicht in die Dachkammer, da er dort den frechen Poltergeistwusste. Lieber sah er durch ein Fenster im zweiten Stock, woeine alte Dame wohnte, die keinen unnützen Lärm veranstaltete.Doch diesmal saß sie nicht wie sonst in ihrem Stuhl <strong>und</strong> las,sondern trippelte ruhelos durch das Zimmer <strong>und</strong> murmelte: »Woist nur meine Brille? Wo habe ich sie nur hingelegt?« Ohne dieBrille konnte die alte Frau nicht lesen <strong>und</strong> <strong>Lesen</strong> war doch ihreLieblingsbeschäftigung. Sie suchte unruhig weiter <strong>und</strong> vomvielen Suchen zitterten ihr schon die Hände: »Vor kurzem lagsie noch auf dem Nachttischchen, das weiß ich genau!«Da rief der Mond ihr zu: »Die Brille liegt immer noch dort,nur ist sie durch eine Zeitung verdeckt!« Zu dumm, dass die alteFrau den Mond nicht hören konnte.Die alte Frau tat dem guten Mond leid, schließlich war sieeine alte Bekannte von ihm, Da kam ihm plötzlich eine Idee:Das wäre eine sinnvolle Beschäftigung für den kleinenPoltergeist! Er könnte nachts all die Dinge suchen, die die alteFrau tagsüber verlegt hatte. Der Mond war sehr zufrieden mitdieser Idee <strong>und</strong> leuchtete in die Bodenkammer, wo er sofort denkleinen Poltergeist erblickte. »He, he, Poltergeist! Ich bin es, derMond! Ich hätte eine Beschäftigung für dich, die zudem sehrnützlich ist.« Rumpel spitzte seine Koboldohren <strong>und</strong> ließ sichneugierig erklären, worum es bei dieser Beschäftigung ging. DerMond erklärte: »Du sollst in der Wohnung im zweiten Stock-165-


nach Dingen suchen, die verlorengegangen sind. Das wird dirSpaß machen <strong>und</strong> die alte Frau wird sehr glücklich sein, wennsie am nächsten Morgen alle ihre Sachen wieder vorfindet. Wasmeinst du?« Der Mond blickte den Poltergeist erwartungsvollan. Rumpel dachte kurz nach, kratzte sich an den Ohren <strong>und</strong>sagte: »Nun, die Idee ist gar nicht schlecht, altes Mondgesicht.Ich wühle für mein Leben gern in Schubladen <strong>und</strong> Schränken.Das könnte mir Spaß machen! Wann soll ich mit dem Suchenanfangen?«»Du kannst gleich anfangen«, sagte der Mond. »DieLesebrille, die die alte Frau verzweifelt sucht, liegt auf demNachttischchen, den Kellerschlüssel musst du selbst suchen.Viel Glück!«Rumpel schlüpfte durch einen Spalt ins Treppenhaus <strong>und</strong> warschon kurz danach in der Wohnung im zweiten Stock. FürPoltergeister ist das ja keine Schwierigkeit. Die alte Frau war somüde, dass sie wie ein Murmeltier schlief <strong>und</strong> von dem Treibendes kleinen Poltergeistes nichts hörte. Der kramte in derWohnung herum, hatte seinen Spaß <strong>und</strong> fand dabei allerleiDinge, die die Frau schon lange suchte: einen silbernenKaffeelöffel, einen Flaschenkorken, zwei Briefmarken <strong>und</strong>außerdem natürlich die Lesebrille <strong>und</strong> den Kellerschlüssel. DerPoltergeist legte alles auf den Küchentisch, wo es die alte Frauauf jeden Fall sehen würde. Am nächsten Morgen schrie die alteFrau vor Freude laut auf, als sie alle vermissten Dinge auf demTisch liegen sah. »Das kann nur ein Engel gewesen sein!« riefsie glücklich.Am Abend lobte der Mond den kleinen Poltergeist: »Du warstsehr tüchtig! Wer hätte gedacht, dass so ein frecher Poltergeistetwas so Sinnvolles vollbringen kann. Bravo, kleiner Rumpel!«Rumpel hopste fröhlich in der Dachkammer herum <strong>und</strong>grinste von einem Ohr <strong>zum</strong> anderen, denn schließlich hatte ihnbisher noch nie jemand gelobt <strong>und</strong> erst recht hatte ihn nochniemand für einen Engel gehalten.-166-


Herr GlückspilzSein richtiger Name war eigentlich Herr Pilz. Doch da erständig besonders aufregende <strong>und</strong> schöne Dinge erlebte, wurdeer von allen nur »Herr Glückspilz« genannt. Als er sich geradeauf dem Heimweg von seiner Arbeit befand, fing es an sehrstark zu regnen. Da er keinen Regenschirm dabei hatte, rannte erin ein Geschäft, um sich einen zu kaufen.Der Verkäufer begrüßte ihn <strong>und</strong> sagte: »Sie können wählenzwischen einem gewöhnlichen Schirm, der nur den Regen abhält<strong>und</strong> einem besonderen, der Zauberkräfte hat.« Herr Glückspilzüberlegte nicht lange <strong>und</strong> entschied sich selbstverständlich fürden Zauberschirm. Als er das Geschäft verlassen hatte, wollte erden Schirm öffnen. Er hakte <strong>und</strong> klemmte etwas, dochschließlich ging er auf. In diesem Moment erhoben sich beideeinige Meter in die Luft. Herr Glückspilz klammerte sich amGriff fest <strong>und</strong> rief laut aus: »Das ist ja toll!«Er flog an vielen Geschäfts- <strong>und</strong> Bürofenstern vorbei. Überallbeobachtete er die Menschen, wie sie sich in aller EileRegenmäntel <strong>und</strong> Hüte anzogen. Herr Glückspilz dachte: »Alldas brauche ich nun nicht mehr.« Voller Begeisterung <strong>und</strong> gutgelaunt streichelte er den Schirmgriff. Ganz langsam segelte ernun wieder etwas herunter. Doch der Schirm hielt ihn gerade soweit über dem Boden, dass er die nasse <strong>und</strong> schmutzige Straßenicht berührte. »Wird meine Frau nachher staunen, wenn ichvon oben bis unten trocken <strong>und</strong> nicht mit verdreckten Schuhen<strong>und</strong> ganz durchnässt nach Hause komme!« dachte HerrGlückspilz vergnügt. So ließ er sich von seinem Zauberschirmgemütlich <strong>und</strong> sicher nach Hause tragen.Herr Glückspilz hatte seinem Namen wieder alle Ehregemacht.-167-


Das Gespenst, das vor sich selbst AngsthatteIn einem großen alten Schloss lebte einmal das kleineGespenst Benjamin. Benjamin spukte für sein Leben gern durchdas alte, <strong>zum</strong> Teil verlassene, Gemäuer. In der anderenSchlosshälfte wohnte nämlich noch der Graf mit seiner Familie.Eines Tages wurde es Benjamin zu langweilig, einfach nurherumzuspuken, ohne dass sich jemand dabei fürchtete. Alsoging er in den bewohnten Teil des Schlosses <strong>und</strong> stellte dort dengrößten Unfug an. Er versteckte die Schlüssel, verrückte Möbel,ließ Bilder von den Wänden fallen <strong>und</strong> zerbrach auch denSpiegel im Flur. Zu Spiegeln hatte Benjamin sowieso ein ganzbesonderes Verhältnis. Gespenster können sich nämlich nicht ineinem Spiegel sehen <strong>und</strong> auch die Menschen können Gespensternicht sehen, wenn sie in einen Spiegel schauen.Eines Nachts aber trieb es Benjamin nun besonders bunt, Erklaute allen Schlossbewohnern die Bettdecken, so dass sie alleeinen fürchterlichen Schnupfen bekamen. »Jetzt reicht’s!« sagteder Graf verärgert <strong>und</strong> schnupfte vor sich hin. »Wir müssenetwas gegen dieses Gespenst unternehmen!« So beratschlagtedie Grafenfamilie, wie sie es dem Gespenst heimzahlen könnte.»Ich habe eine Idee!« sagte Frederik, der jüngste Sohn desGrafen. Er flüsterte seinem Vater etwas ins Ohr <strong>und</strong> beidefingen vor Schadenfreude an zu kichern.Frederik nahm ein altes Betttuch <strong>und</strong> schnitt zwei Löcher fürdie Augen aus. Dann stellte er den Rahmen des zerbrochenenSpiegels in den Hausflur, versteckte sich <strong>und</strong> wartete ab. Alsnun Benjamin kurz nach Mitternacht wieder seine R<strong>und</strong>e durchdas Schloss drehte, kam er auch an dem vermeintlichen Spiegelvorbei. In dem Augenblick, als Benjamin an dem Spiegelvorbeischwebte, stellte sich Frederik mit dem Betttuch über demKopf in den Rahmen.-168-


Benjamin erschrak ganz fürchterlich <strong>und</strong> stammelte aufgeregt:»Wwwas ist das denn?«»Ich bin dein Spiegelbild, du Holzkopf!« antwortete dasvermeintliche Gespenst im Spiegel. Benjamin fürchtete sich nunnoch viel mehr <strong>und</strong> sagte: »Ich muss ernsthaft krank sein, ichsehe ja schon Gespenster im Spiegel!« Frederik kicherte, dochals Benjamin große Kullertränen über die Wange rollten, dahatte der kleine Junge Mitleid mit dem einsamen Gespenst. Ertrat aus dem Rahmen, zog das Betttuch vom Kopf <strong>und</strong> tröstetedas kleine Gespenst: »He, das war doch bloß ich, das Gespenstim Spiegel! Du bist nicht krank!«Da fiel Benjamin ein Stein vom Herzen. Er fre<strong>und</strong>ete sichschnell mit Frederik an <strong>und</strong> von nun an spukten die beidengemeinsam durch das alte Schloss.-169-


Der arme FischerEs lebte einmal ein armer Fischer zusammen mit seiner Frau<strong>und</strong> seinen zehn Kindern in einem sehr kleinen Fischerdorf. JedeNacht fuhr er mit seinem kleinen Boot <strong>zum</strong> Fischen hinaus aufsMeer, doch wenn es dann Morgen wurde, hatte er im Netzgerade so viele Fische, dass es reichte, um Frau <strong>und</strong> Kinder sattzu bekommen.Als er das Boot an den Strand zog, bemerkte der Fischer einekleine r<strong>und</strong>e Flasche, die sich in dem Netz verfangen hatte. DieFlasche war zwar verschlossen, schien aber leer zu sein.Neugierig zog der Fischer den Korken heraus, roch daran <strong>und</strong>fiel wie von Geisterhand gestoßen rücklings in den Sand. Als eraufblickte, sah er vor sich eine Nebelgestalt, die aus der Flaschezu kommen schien. Der Flaschengeist sagte: »Du hast mich ausmeinem Gefängnis, der Flasche, befreit. Dafür hast du einenWunsch frei. Aber überlege dir gut, was du dir wünschst!«Der Fischer ging nachdenklich nach Hause <strong>und</strong> überlegte denganzen Tag, was er sich von dem Geist wohl wünschen könnte.Vielleicht ein Schloss? Oder etwa große Reichtümer?Als es Abend wurde, ging er an den Strand um mit demkleinen Boot wieder aufs Meer hinauszufahren. DerFlaschengeist wartete schon <strong>und</strong> fragte: »Nun, Fischer, hast dudir einen Wunsch überlegt?« Der Fischer nickte <strong>und</strong> weil er vonbescheidener Art war, sagte er: »Was soll ich mir schonwünschen! Ich bin schon zufrieden, wenn du mir jeden Tagmein Netz mit Fischen füllst!« Und schon in dieser Nacht fingder Fischer so viele Fische wie noch nie zuvor. Und weil nunjede Nacht das Netz fast überquoll, hatte er mehr als genug fürsich <strong>und</strong> seine Familie <strong>und</strong> konnte die restlichen Fische für gutesGeld auf dem Markt verkaufen.-170-


Johanna <strong>und</strong> JohannesEs war einmal ein altes Schloss, mitten in einem großenWald, drinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eineZauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zurNachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie einMensch gestaltet. Sie konnte das Wild <strong>und</strong> die Vögelherbeilocken <strong>und</strong> dann schlachtete sie’s, kochte <strong>und</strong> briet es.Wenn jemand auf h<strong>und</strong>ert Schritte dem Schloss nahe kam, somusste er stille stehen <strong>und</strong> konnte sich nicht von der Stellebewegen, bis sie ihn lossprach. Wenn aber eine keuscheJungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe ineinen Vogel <strong>und</strong> sperrte sie dann in einen Korb ein, in dieKammern des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcherKörbe mit so raren Vögeln im Schlosse.Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Johanna; sie warschöner als alle anderen Mädchen, die war einem schönenJüngling namens Johannes versprochen. Sie waren in denBrauttagen <strong>und</strong> sie hatten ihr größtes Vergnügen eins amandern. Damit sie nun vertraut zusammen reden konnten, gingensie in den Wald spazieren. »Hüte dich«, sagte Johannes, »dassdu nicht so nahe an das Schloss kommst!« Es war ein schönerAbend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäumehell ins dunkle Grün des Waldes <strong>und</strong> die Turteltaube sangkläglich auf den alten Maibuchen. Johanna weinte zuweilen,setzte sich hin in den Sonnenschein <strong>und</strong> klagte. Johannes klagteauch; sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen;sie sahen sich um, waren irre <strong>und</strong> wussten nicht, wohin sie nachHaus gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg<strong>und</strong> halb war sie unter: Johannes sah durchs Gebüsch <strong>und</strong> sahdie alte Mauer des Schlosses nah bei sich, er erschrak <strong>und</strong> wurdebang. Johanna sang:»Mein Vöglein mit dem Ringlein rot befreie mich aus meiner-171-


Not!«Johannes sah nach Johanna. Johanna war in eine Nachtigallverwandelt, die sang Zicküth! Zicküth! Eine Nachteule mitglühenden Augen flog dreimal um sie herum <strong>und</strong> schrie dreimalSchuhhuhuhu! Johannes konnte sich nicht regen; er stand da wieein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand nochFuß regen, Nun war die Sonne untergegangen; die Eule flog ineinen Strauch <strong>und</strong> gleich darauf kam eine alte krumme Frau ausdiesem hervor, gelb <strong>und</strong> mager, große rote Augen, krummeNase, die mit der Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing dieNachtigall <strong>und</strong> trug sie auf der Hand fort. Johannes konntenichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall warfort, endlich kam das Weib wieder <strong>und</strong> sagte mit dumpferStimme: »Grüß dich, Zachiel! Wenn’s Möndel ins Körbelscheint, bind los, Zachiel, zu guter St<strong>und</strong>!« Da wurde Johanneslos; er fiel vor dem Weib auf die Knie <strong>und</strong> bat, sie möge ihmJohanna wieder geben; aber sie sagte, er solle sie nie wiederhaben <strong>und</strong> ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber allesumsonst.Johannes ging fort <strong>und</strong> kam endlich in ein fremdes Dorf; dahütet er die Schafe lange Zeit. Oft ging er r<strong>und</strong> um das Schlossherum, aber nicht zu nahe dabei; endlich träumte er einmal desNachts, er fand eine blutrote Blume, in deren Mitte eine schönegroße Perle war; die Blume brach er ab, ging damit <strong>zum</strong>Schlosse; alles, was er mit der Blume berührte, wurde von erZauberei frei; auch träumte er, er hätte seine Johanna dadurchwieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an,durch Berg <strong>und</strong> Tal zu suchen, ob er eine solche Blume fände; ersuchte bis an den neunten Tag, dann fand er die blutrote Blumeam Morgen. In der Mitte war ein großer Tautropfen, so groß wiedie schönste Perle. Diese Blume trug er Tag <strong>und</strong> Nacht bis <strong>zum</strong>Schloss. Wie er auf h<strong>und</strong>ert Schritte nahe <strong>zum</strong> Schloss kam, dawurde er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Johannesfreute sich, berührte die Pforte mit der Blume <strong>und</strong> sie sprang-172-


auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die vielenVögel vernahm.Endlich hörte er’s; er ging <strong>und</strong> fand den Saal, darin war dieZauberin <strong>und</strong> fütterte die Vögel in den siebentausend Körben.Wie sei den Johannes sah, wurde sie böse, sehr böse, schalt, spieGift <strong>und</strong> Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schrittenicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie <strong>und</strong> ging, besahdie Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele h<strong>und</strong>ertNachtigallen; wie sollte er nun seine Johanna wieder finden?Indem er so zusah, merkte er, dass die Alte heimlich einKörbchen mit einem Vogel nahm <strong>und</strong> damit nach der Türe ging.Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume<strong>und</strong> auch das alte Weib; nun konnte sie nicht mehr zaubern <strong>und</strong>Johanna stand da, hatte ihn um den Hals gefasst, so schön, wiesie ehemals war.Da machte er auch alle die andern Vögel wieder zuJungfrauen <strong>und</strong> ging er mit seiner Johanna nach Hause <strong>und</strong> sielebten lange vergnügt zusammen.-173-


Der FroschprinzEs war einmal ein König, der hatte drei Töchter. In seinemHof aber stand ein Brunnen mit schönem klaren Wasser. Aneinem heißen Sommertag ging die Älteste hinunter <strong>und</strong> schöpftesich ein Glas voll heraus. Als sie es aber so ansah <strong>und</strong> gegen dieSonne hielt, sah sie, dass es trüb war. Das kam ihr ganzungewohnt vor <strong>und</strong> sie wollte es wieder hineinschütten. Da regtesich aber ein Frosch in dem Wasser, streckte den Kopf in dieHöhe <strong>und</strong> sprang auf den Brunnenrand <strong>und</strong> sagte zu ihr:»Wenn du willst mein Schätzchen sein, will ich dir gebenhell, hell Wässerlein.«»Ei, wer will Schatz von einem garstigen Frosch sein«, riefdie Prinzessin <strong>und</strong> lief fort. Sie sagte ihren Schwestern, dassunten am Brunnen ein w<strong>und</strong>erlicher Frosch sei, der das Wassertrüb mache. Da wurde die zweite neugierig, ging hinunter <strong>und</strong>schöpfte sich ein Glas voll. Das war aber wieder so trüb, dass siees nicht trinken wollte. Der Frosch war wieder auf dem Rand<strong>und</strong> sagte:»Wenn du willst mein Schätzchen sein, will ich dir gebenhell, hell Wässerlein.«»Das fehlte mir noch«, sagte die Prinzessin <strong>und</strong> lief fort.Schließlich kam die dritte Prinzessin, schöpfte auch Wasser,aber es erging ihr nicht besser <strong>und</strong> der Frosch sprach auch zuihr:»Wenn du willst mein Schätzchen sein, will ich dir gebenhell, hell Wässerlein.«»Ja doch! Ich will schon dein Schätzchen sein«, sagte diePrinzessin, »schaff mir nur reines Wasser.« Sie dachte aber:»Was schadet dir das, du kannst es ihm ja versprechen, so eindummer Frosch kann doch niemals dein Schatz sein.« DerFrosch aber war wieder ins Wasser gesprungen <strong>und</strong> als sie <strong>zum</strong>-174-


zweiten Mal schöpfte, da war das Wasser so klar, dass die Sonnedarin blinkte. Die Prinzessin trank sich satt <strong>und</strong> brachte ihrenSchwestern noch mit hinauf: »Warum ward ihr so einfältig <strong>und</strong>habt euch vor dem Frosch dort gefürchtet?« Danach dachte diePrinzessin nicht weiter daran <strong>und</strong> legte sich abends vergnügt insBett. Wie sie ein Weilchen da lag <strong>und</strong> noch nicht eingeschlafenwar, da hörte sie auf einmal etwas an der Türe krabbeln <strong>und</strong> dassang:»Mach mir auf! Mach mir auf! Königstochter, jüngste, weißtdu nicht, was du gesagt, als ich in dem Brünnchen saß, duwolltest auch mein Schätzchen sein, gab ich dir hell, hellWässerlein.«»Ei! Da ist ja mein Schatz, der Frosch,« sagte die Prinzessin,»nun, weil ich’s ihm versprochen habe, so will ich ihmaufmachen.« Sie stand auf, öffnete ihm ein bisschen die Tür <strong>und</strong>legte sich wieder hin. Der Frosch hüpfte ihr nach, legte sichunten ins Bett zu ihren Füßen <strong>und</strong> als die Nacht vorüber war <strong>und</strong>der Morgen graute, da sprang er wieder herunter <strong>und</strong> zur Türhinaus. Am anderen Abend, als die Prinzessin wieder im Bettlag, krabbelte es <strong>und</strong> sang wieder an der Türe. Die Prinzessinmachte auf <strong>und</strong> der Frosch lag wieder unten zu ihren Füßen, bises Tag wurde. Am dritten Abend kam er wieder <strong>und</strong> diePrinzessin sagte: »Das ist das letzte Mal, dass ich dir aufmache.In Zukunft tue ich es nicht mehr.« Da sprang der Frosch unterihr Kopfkissen <strong>und</strong> die Prinzessin schlief ein. Als sie amMorgen aufwachte, da stand ein schöner junger Prinz vor ihr,der sagte, dass er der verzauberte Frosch gewesen sei <strong>und</strong> dasssie ihn erlöst habe, weil sie versprochen hatte, sein Schatz zusein.Da gingen sie beide <strong>zum</strong> König, der gab ihnen gerne seinenSegen <strong>und</strong> es wurde eine große Hochzeit gehalten. Die zweianderen Schwestern aber ärgerten sich, dass sie den Frosch nicht<strong>zum</strong> Schatz genommen hatten.-175-


Kapitel 10Riesengeschichten-176-


Das RiesenspielzeugAuf einer Burg, die an einem hohen Berg bei einemWasserfall lag, lebten große Riesen.Einmal ging das Riesenfräulein herab ins Tal <strong>und</strong> wolltesehen, wie es da unten aussieht. Sie kam bis zu einem vor demWald gelegenem Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestelltwurde. Sie blieb vor Verw<strong>und</strong>erung stehen <strong>und</strong> schaute denPflug, die Pferde <strong>und</strong> Leute an, denn all das war neu für sie.»Ei«, sagte sie, »das nehm’ ich mir mit.« Da kniete sie niederzur Erde, breitete ihre Schürze aus, strich mit der Hand über dasFeld, fing alles zusammen <strong>und</strong> tat es in ihre Schürze hinein.Nun lief sie ganz vergnügt nach Hause, den Felsen hinaufspringend, wo der Berg so steil ist, dass ein Mensch mühsamklettern muss, da machte sie nur einen Schritt <strong>und</strong> war oben.Der Riesenvater saß gerade am Tisch, als sie eintrat. »Ei,mein Kind«, sprach er, »was bringst du da, die Freude schaut dirja aus den Augen heraus.« Sie machte geschwind ihre Schürzeauf <strong>und</strong> ließ ihn hineinblicken. »Was hast du so Zappeligesdarin?« – »Ei, Vater, hübsches Spielzeug! So etwas Schöneshabe ich noch nie gehabt.« Darauf nahm sie eins nach demanderen heraus <strong>und</strong> stellte es auf den Tisch: den Pflug, dieBauern mit ihren Pferden; lief herum, schaute es an, lachte <strong>und</strong>schlug vor Freude in die Hände, wie sich die kleinen Wesendarauf hin <strong>und</strong> her bewegten.Der Vater aber sprach: »Kind, das ist kein Spielzeug, da hastdu was Schönes angerichtet! Geh sofort <strong>und</strong> trag es wiederhinab ins Tal.« Das Fräulein weinte, es half aber nichts. »DieBauern sind kein Spielzeug«, sagte der Ritter ernst: »Ich mag esnicht, dass du mir nicht gehorchst; sammle nur alles vorsichtigwieder ein <strong>und</strong> trag es an den Platz, wo du es hergenommenhast. Bebaut der Bauer nicht seinen Acker, so haben wir aufunserer Burg bald nichts mehr zu essen.«-177-


Das Riesen-KegelspielEs war einmal ein mutiger Mann, der auf einen Berg kletterteist. Oben sah er die ungeheuer großen Riesen herumspazieren<strong>und</strong> Kegel spielen. Einer der Riesen fragte ihn, ob er, wenn ersie schon besuchen käme, mitmachen wolle? Das hat er dannauch getraut.Und nach vollendetem Spiel hat einer der Riesen demfremden Gast als Andenken einen der Kegel geschenkt, den erdenn auch in seinen Rucksack getan. Als er wieder ins Talgekommen war, hat er von dem Handel erzählt <strong>und</strong> seinenhölzernen Kegel zeigen wollen; da ist der Kegel aus purem Goldgewesen.-178-


Riesen-SchabernackVor langer Zeit gab es in den Bergen einen Riesen, der gerneSchabernack mit den Menschen trieb. Er tat aber niemandem einÜbel <strong>und</strong> hatte nur seinen Spaß mit den Leuten.Wenn Wanderer in das Gebirge gingen <strong>und</strong> etliche Tage obenbleiben mussten, nahmen sie allerlei Proviant mit, brieten <strong>und</strong>kochten ihre Speisen, Da kam von Zeit zu Zeit der Bergriese,nahm ihnen die gekochten Speisen weg, legte einen Spieß vollKröten, Eidechsen <strong>und</strong> anderem Ungeziefer an ihre Stelle, lachtesie aus <strong>und</strong> ging davon.Wenn die Bauern, über das Gebirge gehen mussten, <strong>und</strong>Butter, Eier oder andere Sachen zu Markte trugen, kam derRiese, unterhielt sich mit ihnen, verspottete sie aber auch <strong>und</strong>nahm ihnen aus den Körben, was sie trugen. Dafür legte erSteine hinein, dass sie schwer zu tragen hatten. Wenn sie dannauf ihn schimpften <strong>und</strong> nicht darauf achteten, so gab er ihnenalle Sachen wieder.-179-


Der RieseneselEin Glaser, der über das Gebirge ging <strong>und</strong> von der schwerenLast des Glases auf seinem Rücken müde geworden war, sahsich nach einem Sitz um auf dem er ein wenig ausruhen konnte.Was geschah? Der schlaue Riese verwandelte sich in einenr<strong>und</strong>en Klotz auf dem Weg. Der Glaser setzte sich fröhlichdarauf. Doch währte seine Freude nicht allzu lange, denn derr<strong>und</strong>e Klotz rollte auf einmal unter dem Glaser weg, so dass derarme Kerl mitsamt dem Glase zu Boden fiel <strong>und</strong> alle Scheibenin viele tausend Stücke zerbrachen, Doch der betrübte Glaserfing bitterlich an zu weinen, aber er musste weitergehen. Als ernun ein Stück Weges gegangen war, erschien ihm der Riese inGestalt eines Menschen <strong>und</strong> fragte, warum er so weine. Darauferzählte der Glaser die Geschichte, wie er nur auf diesem Blockein wenig ausruhen wollte, da wäre er von diesem mitsamt demGlase heruntergefallen <strong>und</strong> hätte alles Glas, das ihn acht Talergekostet hatte, zerbrochen. Er wüsste nicht, wie er diesenSchaden wieder ersetzen könne.Hierauf redete der mitleidige Riese ihm zu, er wolle demarmen Mann helfen, so dass er in kurzer Zeit den Schadenwieder ersetzt hätte <strong>und</strong> noch einen Gewinn dazu erhielte.Weiter erzählte der Riese, dass er der verwandelte Block war<strong>und</strong> sich dann aus Schabernack weggerollt hatte. Doch solle derGlaser nur guten Mutes ein. Er, der Riese, wolle sich jetzt ineinen Esel verwandeln; diesen solle der Glaser mit sich führen<strong>und</strong> im Tal an einen Müller verkaufen, doch wenn er das Geldvon dem Müller bekomme, solle er sich schnell wieder auf denWeg machen.Was geschah? Der Riese wurde <strong>zum</strong> Esel; der Glaser setztesich darauf <strong>und</strong> ritt ins Tal. Dort verkaufte er den Esel für neunTaler an einen Müller <strong>und</strong> machte sich schnell wieder auf seinenWeg.-180-


Der Esel wurde in den Stall des Müllers gesperrt. Der Knechtdes Müllers wollte ihm Heu zu fressen geben, aber da fing derEsel plötzlich an zu reden: »Ich fresse kein Heu, nur Gebratenes<strong>und</strong> Gebackenes.« Als der Knecht dies hörte, rannte er vorAngst davon, <strong>und</strong> erzählte dem Müller von dem sprechendenEsel.Das w<strong>und</strong>erte den Müller sehr. Aber als er <strong>zum</strong> Stall kam, warder Esel verschw<strong>und</strong>en. Der Riese hatte nicht nur dem armenGlaser geholfen, er hatte auch dem Müller neun Taler dafürabgenommen, dass dieser viel zu teures Mehl verkaufte.-181-


Die RiesinEs war einmal eine Riesin, die nur Tierfelle als Kleider trug<strong>und</strong> mit einer Ofengabel aß, weil sie so groß war. Als Halskettetrug sie eine Kuhglocke an einem Sattelgurt. Ihr Hunger war sogroß, dass sie eine ganze Ziege auf einmal essen konnte. Sie waraber keine böse Frau, nur ein wenig allein, <strong>und</strong> so suchte sie dieGesellschaft der Menschen, um manchen Spaß mit ihnen zutreiben.Am Vorabend des Dreikönigstages, durchzog sie die Dörfer<strong>und</strong> schenkte den braven Kindern Nüsse <strong>und</strong> Süßigkeiten,unfolgsame Kinder nahm sie aber mit sich <strong>und</strong> knirschte dabeimit ihren langen Zähnen, Darum gaben ihr die Leute auchSpeck, Wurst oder Mehl, damit sie die Kinder nicht mit in ihreHöhle nahm, wo sie sehr hart arbeiten mussten.An diesem Tage wurden im ganzen Land Speisen vor die Türgestellt, damit die Riesin sich satt essen konnte. Aß sie alles auf,so gab es ein gutes Jahr. Ließ sie Speisen stehen, so wurde dieErnte schlecht.Manchmal trieb sie ihren Schabernack mit einem ganzenDorf. Sie spannte eine dicke Kette um das Dorf, so dass dieLeute weder hinaus noch hinein können. Erst durch allerleiGaben <strong>und</strong> Geschenke wurde der Bann gelöst.Aber sie meinte es niemals böse, sie war eben nur eine großeRiesin mit einem Riesenhunger.-182-


Der hässliche Riese <strong>und</strong> der BauerZu einem Bauer kam einmal ein Riese, der so schrecklichgroß <strong>und</strong> hässlich war, dass es dem Bauer bei seinem Anblickkalt über den Rücken lief. Der Riese hatte so große Augen, dasser die Lider wie Balken mit der Hand hochheben musste, umden Weg zu sehen. »Du«, sagte er zu dem erschrockenen Bauer,»ich kann meine Augen nicht mehr so lange offen halten <strong>und</strong>finde den Weg nach Hause nicht. Geh, führe mich hinauf <strong>zum</strong>einer Wohnung, du wirst dafür eine gute Belohnungbekommen.« Der Bauer gehorchte; weil er aber vor dem Riesengroße Angst hatte, nahm er seinen größten Stock mit, der einedicke Eisenspitze hatte.So stiegen sie miteinander zur Höhe hinauf, der Bauer voran<strong>und</strong> hinterher der Riese, der sich an dem Stock festhielt. Als sieschon den Wald hinter sich hatten <strong>und</strong> über eine Wiese gingen,wollte der Riese rasten. »Nun, du hast mich schon recht gutgeführt«, sagte er <strong>und</strong> schob seine Augenbalken in die Höhe,»ich fände jetzt wohl allein weiter, weil ich aber nichts bei mirhabe, um dich zu belohnen, so musst du noch ein Stück mit mirgehen.« Danach schritt er weiter. Endlich blieb er vor einemBusch, der an einem Felsblock stand, stehen, schob den Felsenweg <strong>und</strong> nun sah der Bauer den Eingang zu einer Höhle. DerRiese winkte <strong>und</strong> der Bauer ging hinter ihm hinein.Zuerst kamen sie in eine Höhle, die leer war, dann in einengrößeren Raum. Da lagen viele Schuhe umher, Sohlen, Leder,fertige <strong>und</strong> halbfertige Stiefel <strong>und</strong> es sah aus, als ob alles nur aufden Meister wartete. »Jetzt bringe ich, was ich dir versprochenhabe«, sagte der Riese. »Bleib da, verlange aber selbst keinenLohn!« Danach ging er weg <strong>und</strong> ließ den Bauer allein. Der sahsich in der Höhle um <strong>und</strong> sagte zu sich selbst: »Was braucht erdenn lange zu suchen, es ist ja genug da. So ein Paar Stiefelkönnte ich sehr gut brauchen!« Da kam der Riese wieder auf ihn-183-


zu <strong>und</strong> sagte: »Warum hast du dir selbst den Lohn gewählt?Schau, hättest du es nicht getan, so hätte ich dir das Ganze hiergegeben!« <strong>und</strong> er hielt ihm einen großen, goldgelben Karfunkelhin. »So aber bekommst du nur das«, sagte er <strong>und</strong> gab ihm einkleines Steinlein, das aber noch immer ein Königreich wert war.»Das Paar Schuhe, das du willst, kannst du haben. Aberwohlgemerkt! Geh nie damit auf den Friedhof!« setzte er hinzu.Der Bauer dankte <strong>und</strong> wollte gehen, aber der Riese sagte: »Haltedeinen Finger her, ich will sehen, wie stark die jetzige Welt ist!«Der Bauer sah den Riesen misstrauisch an, überlegte einenAugenblick <strong>und</strong> hielt ihm die Spitze seines Bergstockes hin. DerRiese fasste sie <strong>und</strong> zerdrückte sie wie Butter. »Sie ist gar nichtso schwach«, sagte er, »aber unsere Leute waren doch weitstärker.« Darauf ging der Bauer fröhlich heim.Viele Jahre trug er die Schuhe, die ihm der Riese geschenkthatte, Da musste er zu einer Beerdigung gehen, vergaß aber dasVerbot <strong>und</strong> betrat mit den Schuhen den Friedhof. Als erheimkam, hatte er statt der Schuhe nur Lumpen an den Füßen.-184-


Der Riese <strong>und</strong> die KönigstochterEs war einmal eine Königstochter, um die ein gewaltigerRiese warb. Aus Furcht vor der Stärke <strong>und</strong> der Macht desRiesen sagte der König sie ihm zu. Weil die Prinzessin aberschon einen anderen Liebsten hatte, widersetzte sie sich demBräutigam <strong>und</strong> dem Befehl ihres Vaters. Der König wurde sehrwütend <strong>und</strong> setzte die Hochzeit mit dem Riesen gleich auf dennächsten Tag an. Mit weinenden Augen klagte die Prinzessindas ihrem Liebsten, der zu schneller Flucht riet. Es war aberschwer zu entfliehen, die Ställe des Königs waren verschlossen<strong>und</strong> alle Stallmeister ihm treu ergeben. Zwar stand derungeheure Rappe des Riesen in einem für ihn eigens erbautenStalle, wie sollte aber eine schwache Frauenhand das riesigeUntier leiten <strong>und</strong> lenken? Und wie war ihm beizukommen, da esan einer gewaltig dicken Kette lag, die ihm als Halfter diente<strong>und</strong> dazu mit einem großen Schlosse behangen war, dessenSchlüssel der Riese bei sich trug? Der Liebste half aber aus, erstellte eine Leiter ans Pferd <strong>und</strong> hieß die Königstochterhinaufsteigen; dann tat er einen mächtigen Schwerthieb auf dieKette, dass sie aufsprang, schwang sich selbst hinten auf <strong>und</strong> ineinem Flug ging es auf <strong>und</strong> davon. Die kluge Jungfrau hatte ihreJuwelen mitgenommen, dazu ihres Vaters goldene Krone aufdas Haupt gesetzt.Während sie nun forteilten, fiel es dem Riesen ein, in dieserNacht auszureiten. Der Mond schien hell <strong>und</strong> er stand auf, seinRoss zu satteln. Erstaunt sah er den Stall leer, es gab Lärm imganzen Schlosse <strong>und</strong> als man die Königstochter aufweckenwollten, war sie auch verschw<strong>und</strong>en. Ohne sich lange zubesinnen, bestieg der Bräutigam das erste beste Pferd <strong>und</strong> jagteüber Stock <strong>und</strong> Block. Ein großer Spürh<strong>und</strong> witterte den Weg,den die Verliebten genommen hatten; nahe am Wald kam derRiese hinter sie.-185-


Da hatte aber auch die Jungfrau den Verfolger erblickt,wendete den Rappen flugs <strong>und</strong> sprengte waldein, bis einAbgr<strong>und</strong> ihren Weg durchschnitt. Der Rappe stutzte einenAugenblick <strong>und</strong> die Liebenden waren in großer Gefahr. Sieblickte nach hinten, in strengem Galopp nahte der Riese, dastieß sie mutig dem Rappen in die Rippen. Mit einemgewaltigen Sprung setzte er über <strong>und</strong> die Liebenden warengerettet. Denn das Pferd des nacheilenden Riesen sprang zukurz, weil der Riese so schwer war <strong>und</strong> beide fielen in denAbgr<strong>und</strong>.Auf der anderen Seite stand die Königstochter <strong>und</strong> tanzte vorFreude. Doch hatte sie im Taumel des Sprungs die Kroneverloren, die in den Abgr<strong>und</strong> gefallen war. Und dort liegt sienoch heutzutage, von einem großen H<strong>und</strong> mit glühenden Augenbewacht.-186-


Der junge RieseEin Bauer hatte einen Sohn, der war so groß wie ein Daumen<strong>und</strong> wurde gar nicht größer <strong>und</strong> wuchs in vielen Jahren nichthaarbreit. Einmal wollte der Bauer ins Feld gehen <strong>und</strong> pflügen,da sagte der Kleine: »Vater, ich will mit hinaus.«»Nein,« sprach der Vater, »bleib du nur hier, draußen bist duzu nichts Nutz, du könntest mir auch verloren gehen.« Da fingder Däumling an zu weinen, <strong>und</strong> wollte der Vater Ruhe haben,musste er ihn mitnehmen. Also steckte er ihn in die Tasche <strong>und</strong>auf dem Felde tat er ihn wieder heraus <strong>und</strong> setzte ihn in einefrische Furche, Wie er da so saß, kam über den Berg ein großerRiese daher. »Siehst du dort den großen Riesen?« sagte derVater <strong>und</strong> wollte den Kleinen erschrecken, damit er artig wäre,»der kommt <strong>und</strong> holt dich.« Der Riese aber hatte lange Beine,<strong>und</strong> wie er noch ein paar Schritte getan hatte, da war er bei derFurche, nahm den kleinen Däumling heraus <strong>und</strong> ging mit ihmfort. Der Vater stand dabei, konnte vor Schreck kein Wortsprechen <strong>und</strong> glaubte, sein Kind wäre nun verloren, so dass er esniemals wiedersehen würde.Der Riese aber nahm den Däumling mit sich <strong>und</strong> gab ihm zuessen nach Riesenart <strong>und</strong> der Däumling wuchs <strong>und</strong> wurde groß<strong>und</strong> stark wie ein Riese. Als zwei Jahre herum waren, ging deralte Riese mit ihm in den Wald <strong>und</strong> wollte seine Kräfteausprobieren <strong>und</strong> sprach: »Zieh dir da eine Gerte heraus!« Dawar der Knabe schon so stark, dass er einen jungen Baum mitden Wurzeln aus der Erde riss. Der Riese aber dachte, das müssenoch besser werden <strong>und</strong> nahm ihn wieder mit. Er ernährte ihnzwei weitere Jahre, <strong>und</strong> als er ihn da in den Wald führte, damiter seine Kräfte versuchen konnte, riss er schon einen vielgrößeren Baum heraus. Das war aber dem Riesen noch nichtgenug <strong>und</strong> er ernährte ihn noch zwei Jahre, ging dann mit ihm inden Wald <strong>und</strong> sprach: »Nun reiß einmal eine ordentliche Gerte-187-


aus!« Da riss der Junge den dicksten Eichenbaum aus der Erde,dass es nur so krachte <strong>und</strong> es war nur ein Spaß für ihn. Als deralte Riese das sah, sprach er: »Nun ist’s gut, du hast ausgelernt.«<strong>und</strong> führte ihn zurück zu dem Acker, wo er ihn geholt hatte.Sein Vater pflügte gerade wieder, da ging der junge Riese aufihn zu <strong>und</strong> sprach: »Siehst du wohl Vater, wie es gekommen ist,ich bin dein Sohn.« Da erschrak der Bauer <strong>und</strong> sagte: »Nein, dubist nicht mein Sohn, geh weg von mir!«»Freilich bin ich dein Sohn. Lass mich einmal pflügen, ichkann es so gut wie du!«»Nein, du bist nicht mein Sohn, du kannst auch nicht pflügen.Geh nur weg von mir!« Weil er sich aber vor dem großen Mannfürchtete, ließ er den Pflug los, ging weg <strong>und</strong> setze sich zur Seiteans Land. Da nahm der Junge das Geschirr <strong>und</strong> wollte pflügen,aber er drückte bloß mit der einen Hand so gewaltig darauf, dassder Pflug tief in die Erde ging. Der Bauer konnte das nicht mitansehen <strong>und</strong> rief ihm zu: »Wenn du pflügen willst, musst dunicht so gewaltig drücken, das Land wird nicht ordentlich.« DerJunge aber spannte sich selber vor den Pflug <strong>und</strong> sagte: »Gehnur nach Hause, Vater, <strong>und</strong> sag der Mutter, sie soll eine rechteSchüssel voll zu essen kochen; ich will derweil den Acker schonpflügen.«Da ging der Bauer heim <strong>und</strong> bestellte es bei seiner Frau <strong>und</strong>die kochte eine tüchtige Schüssel voll. Der Junge aber pflügtedas Land, zwei Morgen Feld, ganz allein, <strong>und</strong> dann spann ersich auch selbst vor die Egge <strong>und</strong> eggte alles mit zwei Eggenzugleich. Wie er fertig war, ging er in den Wald <strong>und</strong> riss zweiEichenbäume aus, legte sie sich auf die Schultern <strong>und</strong> hinten<strong>und</strong> vorn je eine Egge <strong>und</strong> ein Pferd dazu <strong>und</strong> trug das alles wieein Bündel Stroh nach Hause. Wie er in den Hof kam, kannteihn seine Mutter nicht <strong>und</strong> fragte: »Wer ist der entsetzlichegroße Mann?« Der Bauer sagte: »Das ist unser Sohn.« Siesprach: »Nein, unser Sohn ist das niemals, so groß haben wirkeinen gehabt, unserer war ein kleines Ding: geh nur weg, wir-188-


wollen dich nicht!« Der Junge aber schwieg still, zog seinePferde in den Stall, gab ihnen Hafer <strong>und</strong> Heu <strong>und</strong> brachte allesin Ordnung. Und wie er fertig war, ging er in die Stube, setztesich auf die Bank <strong>und</strong> sagte: »Mutter, nun hätte ich Lust zuessen. Ist’s bald fertig?« Da sagte sie ja, getraute sich nicht ihmzu widersprechen <strong>und</strong> brachte zwei große, große Schüsseln vollherein, davon wären sie <strong>und</strong> ihr Mann acht Tage satt geworden.Er aber aß sie allein auf <strong>und</strong> fragte, ob sie nicht mehr hätten.»Nein,« sagte sie, »das ist alles, was wir haben.«»Das war ja nur <strong>zum</strong> Schmecken, ich muss noch mehrhaben.« Da ging sie hin <strong>und</strong> setzte einen großen Schweinekesselvoll über das Feuer <strong>und</strong> als es gar war, trug sie es herein. »Nun,da ist noch ein bisschen«, sagte er <strong>und</strong> aß das alles noch hinein,es war aber doch nicht genug.Da sprach er: »Vater , ich sehe wohl, dass ich bei euch nichtsatt werde. Wenn du mir aber einen Eisenstab verschaffst, der sostark ist, dass ich ihn nicht vor meinen Knien zerbrechen kann,so will ich wieder gehen.« Da war der Bauer froh, spannte seinezwei Pferde vor den Wagen, fuhr <strong>zum</strong> Schmied <strong>und</strong> holte einenStab so groß <strong>und</strong> dick, wie ihn die zwei Pferde nur fahrenkonnten. Der Junge aber nahm ihn vor die Knie <strong>und</strong> ratsch!zerbrach er ihn wie eine Bohnenstange in der Mitte entzwei. DerVater spannte dann vier Pferde vor <strong>und</strong> holte einen Stab so groß<strong>und</strong> dick, wie ihn die vier Pferde fahren konnten.Den nahm der Sohn auch, knickte ihn vor dem Knie entzwei,warf ihn hin <strong>und</strong> sprach: »Vater, du kannst mir nicht helfen, dumusst besser vorspannen <strong>und</strong> einen stärkeren Stab holen.« Daspannte der Vater acht Pferde vor <strong>und</strong> holte einen so großen <strong>und</strong>dicken Stab, wie ihn die acht Pferde nur fahren konnten. Wie derSohn den bekam, brach er gleich oben ein Stück ab <strong>und</strong> sagte:»Vater, ich sehe, du kannst mir doch keinen Stab anschaffen, ichwill dann so weggehen.«-189-


Da ging er fort <strong>und</strong> gab sich für einen Schmiedegesellen aus.Er kam in ein Dorf, darin wohnte ein Schmied, der war einGeizkragen, gönnte keinem Menschen etwas <strong>und</strong> wollte nuralles haben. Zu dem trat er nun in die Schmiede <strong>und</strong> fragte ihn,ob er keinen Gesellen brauche. »Ja«, sagte der Schmied <strong>und</strong> sahihn an <strong>und</strong> dachte: »Das ist ein tüchtiger Kerl, der wird gutvorschlagen <strong>und</strong> sein Brot verdienen.«»Wieviel Lohn willst du haben?«»Gar keinen Lohn will ich haben«, sagte er, »nur alle vierzehnTage, wenn die anderen Gesellen bezahlt werden, will ich dirzwei Hiebe geben, die musst du aushalten.« Da war derGeizkragen von Herzen zufrieden <strong>und</strong> dachte, damit viel Geldzu sparen, Am anderen Morgen sollte der fremde Geselle zuerstvorschlagen, wie aber der Meister den glühenden Stab bringt<strong>und</strong> er den ersten Schlag tut, da fliegt das Eisen auseinander,<strong>und</strong> der Amboss sinkt in die Erde, so tief, dass sie ihn gar nichtwieder herausbringen konnten. Da wurde der Geizkragen böse<strong>und</strong> sagte: »Ei was, dich kann ich nicht brauchen, du schlägstgar zu fest. Was willst du für einen Zuschlag haben?« Da spracher: »Ich will dir nur einen ganz kleinen Hieb geben, weiternichts.« Und er hob seinen Fuß auf <strong>und</strong> gab ihm einen Tritt, dassder Schmied über vier dicke Heuballen hinweg flog. Daraufnahm er den dicksten Eisenstab aus der Schmiede als einenStock in die Hand <strong>und</strong> ging weiter.Als er eine Weile so gegangen war, kam er zu einem Amt <strong>und</strong>fragte den Amtmann, ob er keinen Großknecht brauche. Ja,sagte der Amtmann, er könnte einen brauchen, er sehe aus wieein tüchtiger Kerl, der schon was taugte, wie viel Jahreslohn erhaben wolle. Da sprach er wieder, er wolle gar keinen Lohn,aber alle Jahre wolle er ihm drei Hiebe geben, die müsse eraushalten. Damit war der Amtmann einverstanden, denn auch erwar ein Geizkragen. Am ändern Morgen sollten die Knechte inden Wald fahren um Holz zu hacken, <strong>und</strong> die anderen warenschon auf, er aber lag noch im Bett. Da rief ihn einer an: »Nun-190-


steh auf, es ist Zeit, wir wollen ins Holz, du musst mit!«»Ach,« sagte er ganz grob <strong>und</strong> trotzig, »geht ihr nur hin, ichkomme doch eher wieder als ihr alle miteinander.« Da gingendie anderen <strong>zum</strong> Amtmann <strong>und</strong> erzählten ihm, der riesigeGroßknecht liege noch im Bett <strong>und</strong> wolle nicht mit ins Holzfahren. Der Amtmann sagte, sie sollten ihn noch einmal wecken<strong>und</strong> ihn die Pferde vorspannen lassen. Der Großknecht sprachaber wie vorher: »Geht ihr nun hin, ich komme eher wieder alsihr alle miteinander.«Darauf blieb er noch zwei St<strong>und</strong>en liegen, dann stieg erendlich aus den Federn, holte sich aber erst zwei ScheffelErbsen vom Boden, kochte sie <strong>und</strong> aß sie in guter Ruhe. Undwie das alles geschehen war, ging er hin, spannte die Pferde vor<strong>und</strong> fuhr ins Holz. Kurz vor dem Holz war ein Hohlweg, wo erdurch musste, da fuhr er den Wagen erst vorwärts, dann musstendie Pferde still halten, <strong>und</strong> er ging hinter den Wagen <strong>und</strong> nahmBäume <strong>und</strong> Reisig <strong>und</strong> machte da einen großen Verhau, so dasskein Pferd durchkommen konnte. Wie er nun vor das Holz kam,fuhren die andern eben mit ihren beladenen Wagen heraus <strong>und</strong>wollten heim. Da sprach er zu ihnen: »Fahrt nur hin, ich kommedoch eher als ihr nach Hause.«Er aber fuhr nur ein bisschen ins Holz <strong>und</strong> riss gleich zweivon den allergrößten Bäumen aus der Erde. Die lud er auf denWagen <strong>und</strong> drehte ihn um. Als er vor den Verhau kam, standendie anderen noch da <strong>und</strong> konnten nicht durch. Da sprach er:»Seht ihr wohl, wärt ihr bei mir geblieben, wärt ihr ebensogerade nach Hause gekommen <strong>und</strong> hättet noch eine St<strong>und</strong>eschlafen könne.« Er wollte nun zufahren , aber seine vier Pferde,die konnten sich nicht durcharbeiten. Da spannte er sie aus, legtesie oben auf den Wagen, spannte sich selber vor, zog alles durch<strong>und</strong> das ging so leicht, als hätte er Federn geladen. Wie erdrüben war, sprach er zu den ändern: »Seht ihr wohl, ich bineher durchgekommen als ihr.« <strong>und</strong> fuhr fort <strong>und</strong> die andernmussten stehen bleiben. In dem Hof aber nahm er einen Baum in-191-


die Hand <strong>und</strong> zeigt ihn dem Amtmann <strong>und</strong> sagte: »Ist das nichtein schönes Klafterstück?« Da sprach der Amtmann zu seinerFrau: »Der Knecht ist gut, auch wenn er lange schläft, ist erdoch eher wieder da als die anderen.«Nun diente er dem Amtmann ein Jahr. Als das herum war <strong>und</strong>die anderen Knechte ihren Lohn bekamen, sprach er, nun war’sZeit, er wolle sich auch gerne seinen Lohn nehmen. DemAmtmann aber wurde Angst, weil er die Hiebe bekommen sollte<strong>und</strong> er bat ihn, er möge sie ihm schenken. Lieber wolle er selbstGroßknecht werden <strong>und</strong> der Knecht solle Amtmann sein.»Nein,« sprach dieser, »ich will kein Amtmann werden. Ich binGroßknecht <strong>und</strong> will’s auch bleiben. Ich will aber austeilen, wasvereinbart war.« Der Amtmann wollte ihm nun alles geben, waser verlangte, aber es half alles nichts; der Großknecht sagte zuallem nein. Da wusste sich der Amtmann keinen Rat <strong>und</strong> bat ihnum vierzehn Tage Frist; er wolle sich auf etwas besinnen. Dasprach der Großknecht, die Frist solle er haben. Der Amtmannrief alle seine Schreiber zusammen, die sollten sich beraten <strong>und</strong>ihm einen Rat geben. Die besannen sich lange. Endlich sagtensie, man müsste den Großknecht umbringen. Er sollte großeMühlsteine um den Brunnen im Hof anfahren lassen <strong>und</strong> danndem Knecht befehlen, in den Brunnen zu steigen <strong>und</strong> diesen zureinigen. Wenn der Knecht im Brunnen wäre, wollten sie ihmdie Mühlsteine auf den Kopf werfen.Der Rat gefiel dem Amtmann <strong>und</strong> da wurde alles eingerichtet<strong>und</strong> die größten Mühlsteine herangefahren. Wie nun erGroßknecht im Brunnen stand, rollten sie die Steine hinab, <strong>und</strong>sie schlugen hinunter, dass das Wasser in die Höhe spritzte. Daglaubten sie, der Kopf wäre ihm eingeschlagen. Er aber rief:»Jagt doch die Hühner vom Brunnen weg, die scharren da obenim Sand <strong>und</strong> werfen mir die Körner in die Augen, dass ichnichts sehen kann.« Da rief der Amtmann: »Seht! Seht!« <strong>und</strong> tat,als scheuche er die Hühner weg. Als nun der Großknecht fertigwar, stieg er herauf <strong>und</strong> sagte: »Seht her, ich hab doch ein-192-


schönes Halsband um!« Das waren die Mühlsteine, die er alsHalsband um den Hals trug. Wie der Amtmann das sah, wurdeihm wieder Angst, denn der Großknecht wollte ihm nun seinenLohn geben. Da bat er wieder um vierzehn Tage Bedenkzeit <strong>und</strong>ließ die Schreiber zusammenkommen. Die gaben ihm den Rat,er solle den Großknecht in die verwünschte Mühle schicken <strong>und</strong>ihm auftragen, dort in der Nacht Korn zu mahlen, denn da seinoch kein Mensch morgens lebendig herausgekommen.Der Anschlag gefiel dem Amtmann. Also rief er denGroßknecht noch am selben Abend <strong>und</strong> sagte, er solle achtSäcke Korn in die Mühle fahren <strong>und</strong> in der Nacht noch mahlen,sie hätten es nötig. Da ging der Großknecht auf den Boden <strong>und</strong>tat zwei Säcke in seine rechte Tasche, zwei in die linke, viernahm er auf den Rücken <strong>und</strong> ging so nach der verwünschtenMühle. Der Müller aber sagte ihm, bei Tag könne er recht gut damahlen, aber nicht in der Nacht, denn die Mühle sei verwünscht<strong>und</strong> wer da hineingegangen sei, der sei am nächsten Morgen totdarin aufgef<strong>und</strong>en worden. Er sprach: »Ich will schondurchkommen. Macht euch nur fort, legt euch aufs Ohr!« Daraufging er in die Mühle <strong>und</strong> schüttete das Korn auf <strong>und</strong> wie es baldelf schlagen wollte, ging er in die Müllerstube <strong>und</strong> setzte sichauf die Bank.Kaum hatte er da gesessen, ging die Tür auf <strong>und</strong> eine großeTafel kam herein. Auf die Tafel stellten sich Wein <strong>und</strong> Braten<strong>und</strong> viel gutes Essen, alles wie von selbst, denn es war niemandda, der es auftrug. Dann rückten sich die Stühle herbei, aber eskamen keine Leute. Auf einmal jedoch sah er Finger, diehantierten mit den Messern <strong>und</strong> Gabeln <strong>und</strong> legten Speisen aufdie Teller, aber sonst konnte er nichts sehen. Nun war er hungrig<strong>und</strong> sah die Speisen, da setzte er sich auch an die Tafel <strong>und</strong> aßmit <strong>und</strong> ließ sich’s gut schmecken. Als er aber satt war <strong>und</strong> dieanderen ihre Schüsseln auch ganz leer gemacht hatten, dagingen auf einmal alle Lichter aus. Und wie es nun stockfinsterwar, bekam er so etwas wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Da-193-


sprach er: »Wenn noch einmal so etwas kommt, dann teile ichauch aus.« Und wie er <strong>zum</strong> zweiten Mal eine bekam, da schluger gleichfalls zu. Und so ging das die ganze Nacht, er ließ sichnicht erschrecken <strong>und</strong> schlug eifrig um sich herum. BeiTagesanbruch aber hörte alles auf.Als der Müller aufgestanden war, wollte er nach ihm sehen<strong>und</strong> w<strong>und</strong>erte sich, dass er noch lebte. Da sprach der Riese: »Ichhabe Ohrfeigen bekommen, aber ich habe auch Ohrfeigenausgeteilt <strong>und</strong> mich satt gegessen.« Der Müller freute sich <strong>und</strong>sagte, nun wäre die Mühle erlöst <strong>und</strong> er wollte ihm gerne zurBelohnung viel Geld geben. Der Riese sprach aber: »Geld willich nicht, ich habe doch genug.« Dann nahm er sein Mehl aufden Rücken, ging nach Hause <strong>und</strong> sagte dem Amtmann, er habedie Sache erledigt <strong>und</strong> wolle nun seinen vereinbarten Lohnhaben. Wie der Amtmann das hörte, wurde ihm erst recht Angst<strong>und</strong> er wusste weder ein noch aus. Er ging in der Stube auf <strong>und</strong>ab, <strong>und</strong> die Schweißtropfen liefen ihm die Stirn herunter. Damachte er das Fenster auf, um ein wenig frische Luft zu atmen.Aber eh er sich’s versah, hatte ihm der Großknecht einen Trittgegeben, dass er durch’s Fenster in die Luft hinein flog, immerweiter fort, bis ihn niemand mehr sehen konnte.Da sprach der Großknecht zur Frau des Amtmanns, nunmüsse sie den andern Hieb hinnehmen. Die sagte aber: »Achnein, ich kann’s nicht aushalten.« <strong>und</strong> machte ein Fenster auf,weil ihr die Schweißtropfen die Stirn herunterliefen. Da gab ihrder Großknecht gleichfalls einen Tritt, dass auch sie hinaus flog,noch viel höher als ihr Mann. Der rief ihr zu: »Komm doch <strong>zum</strong>ir!« Sie aber rief: »Komm du doch zu mir, ich kann nicht zudir.« <strong>und</strong> sie schwebten da in der Luft <strong>und</strong> keiner konnte <strong>zum</strong>anderen. Und ob sie da noch schweben, das weiß man nicht, derjunge Riese aber nahm seine Eisenstange <strong>und</strong> ging weiter.-194-


Kapitel 11Rittergeschichten-195-


Der verwunschene RitterEin alter Holzhacker ging früh am Morgen in den Wald zurArbeit. Dort gesellte sich ein kleines Männchen zu ihm, das einGespräch mit dem alten Mann anfing. Es erk<strong>und</strong>igte sich überalle Angelegenheiten des Holzhackers in Haus <strong>und</strong> Familie.Nachdem dieser Vertrauen gefasst hatte, fragte das Männchen:»Hast du an alles gedacht, was zu deinem Haus gehört?«»Natürlich«, antwortete der Holzhacker, »Ich habe dir allesgenannt, was zu meinem Haushalt gehört.« Da fragte dasMännchen listig: »Wenn es aber etwas gibt, woran du nichtgedacht hast, dürfte ich mir das dann nehmen?« Der Holzhackerwar sich seiner Sache ganz sicher <strong>und</strong> so willigte er ein. Er hatteaber seine älteste Tochter vergessen, die erst an diesem Tagwieder nach Hause zurückgekehrt war, nachdem sie eine Weilein einer fremden Stadt gelebt hatte.Am nächsten Morgen fuhr ein Wagen, der von zwei Drachengezogen wurde, vor dem Haus des Holzhackers vor. Im Wagensaß eine Schlange, welche der ältesten Tochter befahleinzusteigen. Kaum war diese eingestiegen, erhob sich derWagen in die Lüfte. Schließlich kamen sie in einen Wald, indem die Schlange eine w<strong>und</strong>erschöne Wohnung hatte, vor derder Wagen anhielt. Als die Schlange mit dem Mädchen dieWohnung betrat, verwandelte sie sich in das Männchen, das demHolzhacker am vorigen Tag im Wald begegnet war.Mit gutmütiger Miene sprach das Männchen: »Fürchte dichnicht, ich habe dich hierher gebracht, damit du mich erlöst.Sobald das geschehen ist, lasse ich dich wieder frei.« DasMädchen fragte, was es tun müsse, um das Männchen zuerlösen. Darauf sprach dieses: »Du musst sieben Abendenacheinander in einem Gebetbuch lesen, ohne aufzuschauen.Dabei wird dein Mut auf eine harte Probe gestellt. Lass dichnicht aus der Fassung bringen, bis die sieben Abende vergangen-196-


sind.« Das Mädchen versprach, sein Bestes zu tun.Als sie nun am ersten Abend las, nahten sich ihr allerleischaurige Gestalten. Sie trieben den ganzen Abend ihr Unwesen,doch das Mädchen blickte nicht einmal von dem Buch auf. Amzweiten Abend wurde das schauerliche Treiben noch vielschlimmer, die Fenster wurden aufgerissen <strong>und</strong> die Gestaltenschlugen ihr das Buch zu, damit sie nicht mehr lesen sollte.Doch das Mädchen öffnete das Buch immer wieder, ohne denBlick davon abzuwenden <strong>und</strong> las weiter. Mit jedem Abendwurde das Treiben schrecklicher <strong>und</strong> furchterregender, doch dasMädchen sah auch, dass die Schlange schon fast ganz Menschgeworden war. Am siebenten Abend aber kam unerwartet dieSchwester des Mädchens zu Besuch <strong>und</strong> so konzentrierte sichdas Mädchen nicht mehr auf das <strong>Lesen</strong> <strong>und</strong> das fast erlösteWesen war wieder ganz zur Schlange geworden.Die Schlange sprach nun zu dem Mädchen: »So kannst dumich nun nicht mehr erlösen. Es gibt aber noch eine letzteMöglichkeit. Geh weiter in den Wald hinein, bis du zu einemgroßen, fünfstöckigen Schloss kommst. Was immer der Herrdieses Schlosses von dir verlangt, tue es. Nimm aber diese Federmit, sie wird dir von Nutzen sein, wenn du Hilfe brauchst.« DasMädchen steckte die Feder ein <strong>und</strong> machte sich auf den Weg zudem Schloss. Als sie dort ankam, fragte sie den Herrn desSchlosses, ob sie nicht einen Dienst bei ihm finden könne.Dieser sprach zu ihr: »Ich nehme dich in Dienst, doch du musstin einer Viertelst<strong>und</strong>e fünf große Pferdeställe <strong>und</strong> ebenso vieleKuhställe reinigen. Wenn es dir gelingt, so bekommst du <strong>zum</strong>Lohn dafür dieses Schloss. Wenn du es aber nicht schaffst, wirdes dir übel ergehen.«Das Mädchen versprach, die Ställe in der vorgeschriebenenZeit zu reinigen.Als sie jedoch in die Ställe kam, sah sie eine große MengeDünger übereinandergelagert, Sie wusste sich keinen Rat, wiesie dies alles in einer Viertelst<strong>und</strong>e schaffen sollte, doch-197-


plötzlich fiel ihr wieder die Feder ein. Sie nahm die Federhervor <strong>und</strong> sprach: »Liebe Feder, hilf mir, den Dünger aus demStall zu bringen.« Im Nu rollte der Dünger wie von Geisterhandbewegt hinaus <strong>und</strong> alle Ställe waren in Windeseile gereinigt.Nun trat das Mädchen vor den Herrn <strong>und</strong> verlangte seinenLohn, Dieser überzeugte sich, dass die Ställe gut <strong>und</strong> ordentlichgereinigt waren <strong>und</strong> in diesem Augenblick war die Schlangeerlöst <strong>und</strong> kam als herrlicher Ritter in den Hof geritten. DerRitter <strong>und</strong> das Mädchen heirateten <strong>und</strong> lebte noch viele Jahresehr glücklich in dem großen Schloss.-198-


Der MondseeWo jetzt der Mondsee liegt, stand vor Zeiten auf einem Hügeleine Burg <strong>und</strong> weit umher lagen schöne Äcker <strong>und</strong> Wiesen. DerBurgherr <strong>und</strong> seine Frau hatten ein mildes Herz <strong>und</strong> taten denArmen viel Gutes. Nach <strong>und</strong> nach entstand um den Burghügeleine Ortschaft <strong>und</strong> in ihrer Mitte wurde eine Kirche gebaut.Der letzte Burgherr war aber grausam <strong>und</strong> beutegierig,überfiel <strong>und</strong> beraubte die Burgen der ändern Ritter <strong>und</strong> stecktesie in Brand. Aber die Strafe blieb nicht aus. Einst erschien demPriester des Ortes im Traum die Gottesmutter <strong>und</strong> hieß ihn dieBewohner auffordern, den Ort zu verlassen, denn der Zorn desHerrn ruhe schwer darauf. Am nächsten Tag tat der Priester, wieihm befohlen worden war. Er rief die Leute zusammen, erzählteihnen seinen Traum <strong>und</strong> trug ihnen auf, so rasch, wie es nurginge aus der Gegend zu fliehen. Sie waren auch sogleich dazubereit, nahmen ihre Habe <strong>und</strong> zogen fort, bis sie in die Gegenddes heutigen Ortes Mondsee kamen; hier ließen sie sich nieder.Der Ritter hatte von seiner Burg aus dem Zug der Leutenachgesehen, dabei aber aus vollem Halse gelacht <strong>und</strong> das Volkalbern <strong>und</strong> furchtsam genannt. Dann verbrachte er den Taginmitten seiner Zechgenossen <strong>und</strong> trank mit ihnen im Übermaß.Da zog sich abends ein schreckliches Gewitter zusammen, daswurde immer heftiger <strong>und</strong> stand bald über der Burg. Aber dieLeute darin hatten keine Sorge <strong>und</strong> zechten weiter.Da fuhr auf einmal ein fürchterlicher Blitz durch die Luft <strong>und</strong>am Gemäuer der Burg hinunter, dass sie erzitterte; ein Donnerfolgte dem ändern, die Erde begann furchtbar zu beben <strong>und</strong> derBoden, auf dem die Burg stand, senkte sich immer tiefer <strong>und</strong>tiefer. Aus den Spalten der Erde quoll unablässig Wasser hervor<strong>und</strong> erfüllte die Höhlungen des versunkenen Erdreiches. Vondem Ritter <strong>und</strong> seinen Gesellen blieb keine Spur mehr zurück.-199-


Der See, der so entstand, hatte eine mondförmige Gestalt <strong>und</strong>bekam davon seinen Namen. Wenn das Wetter recht trocken ist<strong>und</strong> der Wasserspiegel ruhig liegt, sieht man, so heißt es, dieSpitze des Kirchturms der versunkenen Ortschaft.-200-


Der verzauberte KönigDas alte Schloss, das in einer wüsten Wald- <strong>und</strong> Berggegendlag, sollte aufs Neue gebaut <strong>und</strong> wiederhergestellt werden. Alsdie Werkmeister <strong>und</strong> Bauleute die Trümmer <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>festenuntersuchten, fanden sie Gänge, Keller <strong>und</strong> Gewölbe unter derErden in großer Menge, mehr als sie gedacht, in einem Gewölbesaß ein gewaltiger König im Sessel, glänzend <strong>und</strong> schimmerndvon Edelgestein, <strong>und</strong> ihm zur Rechten stand unbeweglich eineholde Jungfrau, die hielt dem König das Haupt, gleich als ruhtees in ihren Händen.Als sie nun vorwitzig <strong>und</strong> beutegierig näher traten, wandeltesich die Jungfrau in eine Schlange, die Feuer spie, so dass alleweichen mussten. Sie berichteten aber ihrem Herrn von derBegebenheit, welcher bald zu dem Gewölbe ging <strong>und</strong> dieJungfrau bitterlich seufzen hörte. Der Ritter trat mit seinemH<strong>und</strong> in die Höhle, in der sich Feuer <strong>und</strong> Rauch zeigte, so dassder Ritter etwas zurückwich <strong>und</strong> seinen H<strong>und</strong>, dervorausgelaufen war, für verloren hielt. Das Feuer verlosch, <strong>und</strong>wie er sich von neuem näherte, sah er, dass die Jungfrau seinenH<strong>und</strong> unbeschädigt im Arme hielt, <strong>und</strong> eine Schrift an derWand, die ihm verriet, wie er den König erlösen könnte. Ersollte die Jungfrau, die ja eine Schlange war, zur Frau nehmen,<strong>und</strong> wenn er sie küsste, würde der König erlöst.Der mutige Ritter zögerte nicht <strong>und</strong> freite um die Hand derJungfrau. Die Jungfrau willigte ein, <strong>und</strong> wie er sie küsste, hatteer eine giftige Schlange im Arm.Sie tat ihm aber nichts, sondern verwandelte sich langsam inein w<strong>und</strong>erschönes Mädchen. Die Starre fiel von demverzauberten König ab <strong>und</strong> er wurde wieder <strong>zum</strong> Menschen.Der König war gütig <strong>und</strong> großherzig <strong>und</strong> belohnte den Ritterreich für seinen Mut, eine Schlange zu küssen. Der Ritter fandGefallen an dem schönen Mädchen, <strong>und</strong> die beiden lebten-201-


glücklich bis an ihr Ende.-202-


Der mutige Ritter ReginaldEs war einmal ein reicher König, der war so reich, dass erglaubte, sein Reichtum könne gar nicht enden. Da lebte er inSaus <strong>und</strong> Braus, spielte auf goldenem Brett <strong>und</strong> mit silbernenKegeln <strong>und</strong> als das eine Zeitlang gewährt hatte, da nahm seinReichtum ab <strong>und</strong> danach verpfändete er eine Stadt <strong>und</strong> einSchloss nach dem ändern <strong>und</strong> endlich blieb nichts mehr übrig,als ein altes Waldschloss. Dahin zog er nun mit der Königin <strong>und</strong>den drei Prinzessinnen <strong>und</strong> sie mussten sich kümmerlicherhalten <strong>und</strong> hatten nichts mehr als Kartoffeln, die kamen alleTage auf den Tisch.Einmal wollte der König auf die Jagd, um vielleicht einenHasen zu schießen, steckte sich also die Tasche voll Kartoffeln<strong>und</strong> ging aus. Es war aber in der Nähe ein großer Wald, in denwagte sich kein Mensch, weil fürchterliche Dinge erzähltwurden, was einem alles darin begegne: Bären, die dieMenschen auffräßen, Adler, die die Augen aushackten, Wölfe,Löwen <strong>und</strong> alle grausamen Tiere. Der König aber fürchtete sichkein bisschen <strong>und</strong> ging geradezu hinein. Anfangs sah er garnichts, große mächtige Bäume standen da, aber es war alles still.Als er so eine Weile herumgegangen <strong>und</strong> hungrig gewordenwar, setzte er sich unter einen Baum <strong>und</strong> wollte seine Kartoffelnessen. Da kam auf einmal aus dem Dickicht ein Bär hervor,trabte gerade auf ihn los <strong>und</strong> brummte: »Was unterstehst dudich, bei meinem Honigbaum zu sitzen? Das sollst du mir teuerbezahlen!« Der König erschrak, reichte dem Bären seineKartoffeln <strong>und</strong> wollte ihn damit besänftigen. Der Bär aber fingan zu sprechen: »Deine Kartoffeln mag ich nicht, ich will dichselber fressen <strong>und</strong> davon kannst du dich nicht erretten, außerdass du mir deine älteste Tochter gibst. Wenn du das aber tust,geb ich dir noch obendrein einen Zentner Gold.« Der König, inder Angst gefressen zu werden, sagte: »Die sollst du haben, lassmich nur in Frieden.« Da wies ihm der Bär den Weg <strong>und</strong>-203-


ummte noch hintendrein: »In sieben Tagen komm ich <strong>und</strong> holmeine Braut.«Der König ging getrost nach Hause <strong>und</strong> dachte: »Der Bärwird doch nicht durch ein Schlüsselloch kriechen können <strong>und</strong>weiter soll gewiss nichts offen bleiben.« Da ließ er alle Toreverschließen, die Zugbrücken aufziehen <strong>und</strong> forderte seineTochter auf, guten Mutes zu sein. Damit sie aber recht sicher vordem Bärenbräutigam war, gab er ihr ein Kämmerlein hoch unterder Zinne; darin sollte sie versteckt bleiben, bis die sieben Tageherum seien. Am siebten Morgen aber ganz früh, wie noch allesschlief, kam ein prächtiger Wagen, mit sechs Pferden bespannt<strong>und</strong> von vielen goldgekleideten Reitern umringt, zu dem Schlossgefahren <strong>und</strong> wie er davor war, ließen sich die Zugbrücken vonselber herab <strong>und</strong> die Schlösser sprangen ohne Schlüssel auf.Da fuhr der Wagen in den Hof <strong>und</strong> ein junger schöner Prinzstieg heraus <strong>und</strong> wie der König von dem Lärm aufwachte <strong>und</strong><strong>zum</strong> Fenster hinaus sah, sah er, wie der Prinz schon seine ältesteTochter oben aus dem verschlossenen Kämmerlein geholt hatte<strong>und</strong> eben in den Wagen hob <strong>und</strong> er konnte ihr nur nochnachrufen:»Ade! Du Fräulein traut, fahr hin, du Bärenbraut!«Sie winkte ihm mit ihrem weißen Tüchlein noch aus demWagen <strong>und</strong> dann ging’s fort, als wäre der Wind vorgespannt,immer in den Zauberwald hinein. Dem König aber war es rechtschwer um’s Herz, dass er seine Tochter an einen Bärenhingegeben hatte <strong>und</strong> weinte drei Tage mit der Königin, sotraurig war er. Am vierten Tag aber, als er sich ausgeweint hatte,dachte er, was geschehen sei, sei nun einmal nicht zu ändern <strong>und</strong>stieg hinab in den Hof. Da stand eine Kiste von Ebenholz <strong>und</strong>war gewaltig schwer zu heben. Alsbald fiel ihm ein, was ihm derBär versprochen hatte <strong>und</strong> er machte sie auf. Da lag ein ZentnerGold darin <strong>und</strong> glimmerte <strong>und</strong> flimmerte. Wie der König dasGold erblickte, war er getröstet <strong>und</strong> löste seine Städte <strong>und</strong> seinReich ein <strong>und</strong> fing das vorige Wohlleben von vorne an. Das-204-


dauerte so lang, wie der Zentner Gold reichte. Danach musste erwieder alles verpfänden <strong>und</strong> auf das Waldschloss zurückziehen<strong>und</strong> Kartoffeln essen.Der König hatte noch einen Falken, den nahm er eines Tagesmit hinaus auf das Feld <strong>und</strong> wollte mit ihm jagen, damit er etwasBesseres zu essen bekam. Der Falke stieg auf <strong>und</strong> flog auf dendunklen Zauberwald zu, in den sich der König nicht mehr traute;kaum aber war er dort, so schoss ein Adler hervor <strong>und</strong> verfolgteden Falken, der <strong>zum</strong> König flog. Der König wollte mit seinemSpieß den Adler abhalten, der Adler aber packte den Spieß <strong>und</strong>zerbrach ihn wie ein Schilfrohr, dann zerdrückte er den Falkenmit einer Kralle, die ändern aber hackte er dem König in dieSchulter <strong>und</strong> rief: »Warum störst du mein Luftreich, dafür sollstdu sterben oder du gibst mir deine zweite Tochter zur Frau!«Der König sagte: »Ja, die sollst du haben, aber was gibst du mirdafür?« – »Zwei Zentner Gold,« sprach der Adler, »<strong>und</strong> insieben Wochen komm ich <strong>und</strong> hol sie ab.« Dann ließ er ihn los<strong>und</strong> flog fort in den Wald.Der König war betrübt, dass er seine zweite Tochter aucheinem wilden Tier verkauft hatte <strong>und</strong> traute sich nicht, ihr etwasdavon zu sagen. Sechs Wochen waren herum, in der siebtenging die Prinzessin hinaus auf einen Rasenplatz vor der Burg.Da kam auf einmal ein prächtiger Zug von schönen Rittern <strong>und</strong>zuvorderst ritt der Allerschönste. Der sprang ab <strong>und</strong> rief:»Schwing, schwing dich auf, du Fräulein traut, komm mit, duschöne Adlerbraut!«Und eh sie ihm antworten konnte, hatte er sie schon aufs Rossgehoben <strong>und</strong> jagte mit ihr in den Wald hinein, als fliege einVogel. In der Burg warteten sie lange auf die Prinzessin, aberdie kam nicht <strong>und</strong> kam nicht. Da erinnerte sich der Königendlich, dass er sie einmal in der Not einem Adler versprochenhatte <strong>und</strong> der werde sie geholt haben. Als aber bei dem Königdie Traurigkeit ein wenig herum war, fiel ihm das Versprechendes Adlers ein <strong>und</strong> er ging hinab <strong>und</strong> fand auf dem Rasen zwei-205-


goldene Eier, jedes einen Zentner schwer. »Wer Gold hat, istfromm genug«, dachte er <strong>und</strong> schlug sich alle schwerenGedanken aus dem Sinn. Da fing das lustige Leben von neueman <strong>und</strong> dauerte so lange, bis die zwei Zentner Golddurchgebracht waren.Dann kehrte der König wieder in das Waldschloss zurück <strong>und</strong>die Prinzessin, die noch übrig war, musste die Kartoffeln sieden.Der König wollte keine Hasen im Wald <strong>und</strong> keine Vögel in erLuft mehr jagen, aber einen Fisch hätte er gerne gegessen. Damusste die Prinzessin ein Netz stricken; damit ging er zu einemTeich, der nicht weit von dem Wald entfernt lag. Weil ein Bootdarauf war, setzte er sich hinein <strong>und</strong> warf das Netz.Da fing er auf einen Zug eine Menge schöner rotgefleckterForellen. Wie er aber damit ans Land wollte, stand das Boot fest<strong>und</strong> er konnte es nicht los bekommen; er konnte sich anstellen,wie er wollte. Da kam auf einmal ein gewaltiger Walfischdahergeschnaubt: »Was fängst du mir meine Untertanen weg?Das soll dich dein Leben kosten!« Dabei sperrte er seinenRachen auf, als wollte er den König samt dem Bootverschlingen. Wie der König den entsetzlichen Rachen sah,verlor er allen Mut. Da fiel ihm seine jüngste Tochter ein <strong>und</strong> errief: »Schenk mir das Leben <strong>und</strong> du sollst meine jüngste Tochterhaben!« – »Meinetwegen,« brummte der Walfisch, »ich will dirauch etwas dafür geben. Gold habe ich nicht, das ist mir zuschlecht, aber der Gr<strong>und</strong> meines Sees ist mit Zahlperlengepflastert, davon will ich dir drei Säcke voll geben. Im siebtenMonat komm ich <strong>und</strong> hol meine Braut.« Dann tauchte er unter.Der König trieb nun ans Land <strong>und</strong> brachte seine Forellenheim. Aber als sie gebacken waren, wollte er keine davon essen<strong>und</strong> wenn er seine Tochter ansah, die einzige, die ihm nochübrig war <strong>und</strong> die schönste <strong>und</strong> liebste von allen, da war’s ihm,als zerschnitten tausend Messer sein Herz. So gingen sechsMonate herum <strong>und</strong> die Königin <strong>und</strong> die Prinzessin wusstennicht, was dem König fehlte, der in all der Zeit keine vergnügte-206-


Miene machte. Im siebten Monat stand die Prinzessin gerade imHof vor einem Röhrbrunnen <strong>und</strong> ließ ein Glas volllaufen, dakam ein Wagen mit sechs weißen Pferden <strong>und</strong> ganz silbernenLeuten angefahren <strong>und</strong> aus dem Wagen stieg ein Prinz, soschön, dass sie ihr Lebtag keinen schöneren gesehen hatte <strong>und</strong>bat sie um ein Glas Wasser. Und wie sie ihm das reichte, das siein der Hand hielt, umfasste er sie <strong>und</strong> hob sie in den Wagen <strong>und</strong>dann ging’s wieder <strong>zum</strong> Tor hinaus über das Feld nach demTeich zu.»Ade, du Fräulein traut, fahr hin, du schöne Walfischbraut!«Die Königin stand am Fenster <strong>und</strong> sah den Wagen noch in derFerne <strong>und</strong> als sie ihre Tochter nicht sah, fiel’s ihr schwer aufsHerz <strong>und</strong> sie rief <strong>und</strong> suchte nach ihr allenthalben. Sie war abernirgends zu hören <strong>und</strong> zu sehen. Da war es gewiss <strong>und</strong> sie fingan zu weinen <strong>und</strong> der König gestand ihr nun, ein Walfischwerde sie geholt haben, dem habe er sie versprechen müssen<strong>und</strong> darum sei er immer so traurig gewesen. Er wollte sie auchtrösten <strong>und</strong> erzählte ihr von dem großen Reichtum, den sie dafürbekommen würden. Die Königin wollte aber nichts davonwissen <strong>und</strong> sagte, ihr einziges Kind sei ihr lieber, als alleSchätze der Welt.Während der Walfischprinz die Prinzessin geraubt hatte,hatten seine Diener drei mächtige Säcke in das Schloss getragen;die fand der König an der Tür stehen <strong>und</strong> als er sie aufmachte,waren sie voll schöner großer Zahlperlen, so groß, wie diedicksten Erbsen. Da war er auf einmal wieder reich <strong>und</strong> reicher,als er je gewesen war. Er löste seine Städte <strong>und</strong> Schlösser ein,aber das Wohlleben fing er nicht wieder an, sondern war still<strong>und</strong> sparsam <strong>und</strong> wenn er daran dachte, wie es seinen drei liebenTöchter bei den wilden Tieren ergehen mochte, die sie vielleichtschon aufgefressen hatten, verging ihm alle Lust.Die Königin aber wollte sich gar nicht trösten lassen <strong>und</strong>weinte mehr Tränen um ihre Tochter als der Walfisch Perlendafür gegeben hatte. Endlich wurde sie ein wenig stiller <strong>und</strong>-207-


nach einiger Zeit war sie wieder ganz vergnügt, denn sie brachteeinen schönen Knaben zur Welt <strong>und</strong> weil Gott das Kind sounerwartet geschenkt hatte, wurde es Reginald, dasW<strong>und</strong>erkind, genannt, Der Knabe wurde groß <strong>und</strong> stark <strong>und</strong> dieKönigin erzählte ihm oft von seinen drei Schwestern, die in demZauberwald von drei Tieren gefangengehalten wurden. Als ersechzehn Jahre alt war, verlangte er von dem König Rüstung<strong>und</strong> Schwert <strong>und</strong> als er es nun erhalten hatte, wollte er aufAbenteuer ausgehen, segnete seine Eltern <strong>und</strong> zog fort.Ritter Reginald zog aber geradezu nach dem Zauberwald <strong>und</strong>hatte nichts anderes im Sinn, als seine Schwestern zu suchen.Anfangs irrte er lange in dem großen Wald herum, ohne einemMenschen oder einem Tier zu begegnen. Nach drei Tagen abersah er vor einer Höhle eine junge Frau sitzen <strong>und</strong> mit einemjungen Bären spielen; einen anderen, ganz jungen, hatte sie aufihrem Schoß liegen. Reginald dachte: »Das ist gewiss meineälteste Schwester«, ließ sein Pferd zurück <strong>und</strong> ging auf sie zu:»Liebste Schwester, ich bin dein Bruder, der Ritter Reginald,<strong>und</strong> bin gekommen, um dich zu besuchen.« Die Prinzessin sahihn an <strong>und</strong> da er ganz ihrem Vater gleich war, zweifelte sie nichtan seinen Worten, erschrak sehr <strong>und</strong> sprach: »Ach liebsterBruder, eile <strong>und</strong> lauf fort, was du kannst, wenn dir dein Lebenlieb ist. Kommt mein Mann, der Bär, nach Hause <strong>und</strong> findetdich, so frisst er dich ohne Barmherzigkeit.« Reginald abersprach: »Ich fürchte mich nicht <strong>und</strong> weiche auch nicht von dir,bis ich weiß, wie es um dich steht.«Als die Prinzessin sah, dass er nicht zu bewegen war, führtesie ihn in ihre Höhle. Die war finster <strong>und</strong> wie eineBärenwohnung: auf der einen Seite lag ein Haufen Laub <strong>und</strong>Heu, worauf der Alte <strong>und</strong> seine Jungen schliefen, aber auf deranderen Seite stand ein prächtiges Bett, von rotem Zeug mitGold, das gehörte der Prinzessin. Sie hieß ihn unter das Bett zukriechen <strong>und</strong> reichte ihm etwas zu essen hinunter. Es dauertenicht lange, so kam der Bär nach Hause: »Ich wittere, wittere-208-


Menschenfleisch.« <strong>und</strong> wollte seinen dicken Kopf unter das Bettstecken. Die Prinzessin aber rief: »Sei ruhig, wer soll hierhineinkommen!« – »Ich habe ein Pferd im Wald gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong>gefressen«, brummte er <strong>und</strong> hatte noch eine blutige Schnauzedavon. »Dazu gehört ein Mensch <strong>und</strong> den riech ich«, sagte er<strong>und</strong> wollte wieder unter das Bett. Da gab sie ihm einen Fußtrittin den Leib, dass er einen Purzelbaum machte, auf sein Lagerging, die Tatze ins Maul nahm <strong>und</strong> einschlief. Alle sieben Tagewar der Bär in seiner natürlichen Gestalt <strong>und</strong> ein schöner Prinz<strong>und</strong> seine Höhle ein prächtiges Schloss <strong>und</strong> die Tiere im Waldwaren seine Diener. An einem solchen Tag hatte er diePrinzessin abgeholt. Schöne junge Frauen kamen ihr vor demSchloss entgegen, es war ein herrliches Fest <strong>und</strong> sie schlief inFreuden ein, aber als sie erwachte, lag sie in einer dunklenBärenhöhle <strong>und</strong> ihr Gemahl war ein Bär geworden <strong>und</strong> brummtezu ihren Füßen <strong>und</strong> nur das Bett <strong>und</strong> alles, was sie angerührthatte, blieb in seinem natürlichen Zustand unverwandelt, Solebte sie sechs Tage in Leid, aber am siebten wurde sie getröstet<strong>und</strong> da sie nicht alt war <strong>und</strong> nur der eine Tag ihr zugerechnetwurde, so war sie zufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte ihremGemahl zwei Prinzen geboren, die waren auch sechs Tage langBären <strong>und</strong> am siebten in menschlicher Gestalt. Sie steckte sichjedesmal ihr Bettstroh voll von den köstlichsten Speisen,Kuchen <strong>und</strong> Früchten, davon lebte sie die ganze Woche <strong>und</strong> derBär war ihr auch gehorsam <strong>und</strong> tat, was sie wollte.Als Reginald erwachte, lag er in einem seidenen Bett, Dienerkamen, um ihm aufzuwarten <strong>und</strong> ihm die reichsten Kleideranzuziehen, denn es war gerade der siebte Tag. Seine Schwestermit den zwei schönen Prinzen <strong>und</strong> sein Schwager Bär traten ein<strong>und</strong> freuten sich über seine Ankunft. Da war alles in Pracht <strong>und</strong>Herrlichkeit <strong>und</strong> der ganze Tag voll Lust <strong>und</strong> Freude. AmAbend aber sagte die Prinzessin: »Lieber Bruder, nun mach,dass du fortkommst. Mit Tagesanbruch nimmt mein Gemahlwieder Bärengestalt an <strong>und</strong> wenn er dich morgen noch hier-209-


findet, kann er seiner Natur nicht widerstehen <strong>und</strong> frisst dichauf.« Da kam der Prinz Bär <strong>und</strong> gab ihm drei Bärenhaare <strong>und</strong>sagte: »Wenn du in Not bist, so reib daran <strong>und</strong> ich will dir zurHilfe kommen.« Darauf nahmen sie Abschied <strong>und</strong> RitterReginald stieg in einen Wagen, der mit sechs Rappen bespanntwar <strong>und</strong> fuhr fort. So ging es über Stock <strong>und</strong> Stein, bergauf <strong>und</strong>bergab, ohne Ruh <strong>und</strong> Rast bis gegen Morgen, als der Himmelanfing grau zu werden. Da lag Ritter Reginald auf einmal aufder Erde <strong>und</strong> Ross <strong>und</strong> Wagen waren verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> beimMorgenrot erblickte er sechs Ameisen, die dahin galoppierten<strong>und</strong> eine Nussschale zogen.Reginald sah, dass er noch immer in dem Zauberwald war <strong>und</strong>wollte seine zweite Schwester suchen. Wieder drei Tage irrte erumsonst in der Einsamkeit, am vierten hörte er einen großenAdler daherrauschen, der sich auf einem Nest niederließ.Reginald stellte sich ins Gebüsch <strong>und</strong> wartete, bis dieser wiederwegflog. Nach sieben St<strong>und</strong>en erhob er sich auch wieder in dieHöhe. Da kam Reginald hervor, trat vor den Baum <strong>und</strong> rief:»Liebste Schwester, bist du droben, so lass mich deine Stimmehören. Ich bin Ritter Reginald, dein Bruder, <strong>und</strong> bin gekommen,um dich zu besuchen!« Da hörte er es herunterrufen: »Bist dues, Reginald, mein liebster Bruder, den ich noch nicht gesehenhabe, so komm herauf zu mir!« Reginald wollte hinaufklettern,aber der Stamm war zu dick <strong>und</strong> glatt. Dreimal versuchte er es,aber umsonst. Da fiel eine seidene Strickleiter hinab, auf derstieg er bald zu dem Adlernest; das war stark <strong>und</strong> fest.Seine Schwester saß unter einem Thronhimmel vonrosenfarbener Seide <strong>und</strong> auf ihrem Schoß lag ein Adlerei. Dashielt sie warm <strong>und</strong> wollte es ausbrüten. Sie küssten sich <strong>und</strong>freuten sich, aber nach einer Weile sprach die Prinzessin:»Nun eile, liebster Bruder, dass du fortkommst. Sieht dich derAdler, mein Gemahl, so hackt er dir die Augen aus <strong>und</strong> frisst dirdas Herz ab, wie er es bei drei deiner Diener getan hat, die dichim Wald suchten.« Reginald sagte: »Nein, ich bleibe hier, bis-210-


dein Gemahl verwandelt wird.« – »Das geschieht erst in sechsWochen, doch wenn du es aushalten kannst, steck dich in denBaum, der innen hohl ist, ich will dir alle Tage Essenhinunterreichen.« Reginald kroch in den Baum, die Prinzessinließ ihm alle Tage Essen hinunter <strong>und</strong> wenn der Adler wegflog,kam er herauf zu ihr.Nach sechs Wochen geschah die Umwandlung. Da erwachteReginald wieder in einem Bett wie schon bei seinem SchwagerBär, nur dass alles noch viel prächtiger war <strong>und</strong> er lebte siebenTage bei dem Adlerprinz in aller Freude. Am siebten Abendnahmen sie Abschied, der Adler gab ihm drei Adlerfedern <strong>und</strong>sprach: »Wenn du in Not bist, so reib daran <strong>und</strong> ich will dir zuHilfe kommen.« Dann gab er ihm Diener mit, die ihm den Wegzeigten. Als aber der Morgen kam, waren sie auf einmal fort <strong>und</strong>Reginald in einer furchtbaren Wildnis auf einer hohen Felswandallein.Reginald blickte um sich, da sah er in der Ferne den Spiegeleines großen Sees, auf dem eben die ersten Sonnenstrahlenglänzten. Er dachte an seine dritte Schwester <strong>und</strong> dass sie dortwar. Da fing er an hinabzusteigen <strong>und</strong> arbeitete sich durchBüsche <strong>und</strong> zwischen Felsen hindurch. Drei Tage verbrachte erdamit <strong>und</strong> verlor oft den See aus den Augen, aber am viertenMorgen gelangte er hin. Er stellte sich an das Ufer <strong>und</strong> rief:»Liebste Schwester, bist du darin, so lass mich deine Stimmehören. Ich bin Ritter Reginald, dein Bruder, <strong>und</strong> bin gekommen,um dich zu besuchen.« Aber es antwortete niemand <strong>und</strong> alleswar ganz still. Er bröselte Brotkrumen ins Wasser <strong>und</strong> sprach zuden Fischen: »Ihr lieben Fischlein, geht hin zu meiner Schwester<strong>und</strong> sagt ihr, dass Ritter Reginald da ist <strong>und</strong> zu ihr will.« Aberdie rot gefleckten Forellen schnappten das Brot auf <strong>und</strong> hörtennicht auf seine Worte. Dann sah er ein Boot <strong>und</strong> warf seineRüstung ab, behielt nur sein blankes Schwert in der Hand,sprang in das Schiff <strong>und</strong> ruderte fort.So war er lange gerudert, als er einen Schornstein von-211-


Bergkristall über dem Wasser ragen sah, aus dem einangenehmer Geruch hervorstieg. Reginald ruderte darauf zu <strong>und</strong>dachte, da unten wohne gewiss seine Schwester. Dann setzte ersich in den Schornstein <strong>und</strong> rutschte hinab. Die Prinzessinerschrak recht, als sie auf einmal ein paar Menschenbeine imSchornstein zappeln sah. Bald kam ein ganzer Mann herunter<strong>und</strong> gab sich als ihr Bruder zu erkennen. Sie freute sich vonHerzen, dann aber war sie betrübt <strong>und</strong> sagte: »Der Walfisch hatgehört, dass du mich aufsuchen willst <strong>und</strong> hat geklagt, wenn dukämest <strong>und</strong> er sei ein Walfisch, dann könne er seiner Begierde,dich zu fressen, nicht widerstehen <strong>und</strong> würde mein kristallenesHaus zerbrechen, so dass auch ich in den Wasserflutenumkommen würde.« – »Kannst du mich nicht so langeverstecken, bis die Zeit kommt, wo der Zauber vorbei ist?« –»Ach nein, wie soll das gehen, siehst du nicht, die Wände sindalle aus Kristall <strong>und</strong> ganz durchsichtig.« Doch sann sie <strong>und</strong> sann<strong>und</strong> endlich fiel ihr die Holzkammer ein. Da legte sie das Holzso künstlich, dass von außen nichts zu sehen war <strong>und</strong> da hineinversteckte sie den Ritter. Bald darauf kam der Walfisch <strong>und</strong> diePrinzessin zitterte wie Espenlaub. Er schwamm ein paarmal umdas Kristallhaus <strong>und</strong> als er ein Stückchen von ReginaldsRüstung aus dem Holz hervorschauen sah, schlug er mit demSchwanz, schnaubte gewaltig <strong>und</strong> wenn er mehr gesehen hätte,hätte er gewiss das Haus eingeschlagen. Jeden Tag kam ereinmal <strong>und</strong> schwamm darum, bis endlich im siebten Monat derZauber aufhörte. Da befand sich Reginald in einem Schloss,welches an Pracht sogar das des Adlers übertraf <strong>und</strong> mitten aufeiner schönen Insel stand. Nun lebte er einen ganzen Monat mitseiner Schwester <strong>und</strong> seinem Schwager in aller Lust, als der aberzu Ende war, gab ihm der Walfisch drei Schuppen <strong>und</strong> sprach:»Wenn du in Not bist, so reib daran <strong>und</strong> ich will dir zu Hilfekommen.« Er ließ ihn wieder ans Ufer fahren.Der Ritter zog darauf sieben Tage in der Wildnis weiter <strong>und</strong>sieben Nächte schlief er unter freiem Himmel. Da erblickte er-212-


ein Schloss mit einem Stahltor <strong>und</strong> einem mächtigen Schlossdaran. Vorn aber ging ein schwarzer Stier mit funkelnden Augen<strong>und</strong> bewachte den Eingang. Reginald ging auf ihn los <strong>und</strong> gabihm auf den Hals einen gewaltigen Hieb, aber der Hals war ausStahl <strong>und</strong> das Schwert zerbrach daran, als wäre es Glas. Ergebrauchte seine Lanze, aber die zerknickte wie ein Strohhalm<strong>und</strong> der Stier fasste ihn mit den Hörnern <strong>und</strong> warf ihn in dieLuft, dass er an den Ästen eines Baumes hängen blieb. Dabesann sich Reginald in der Not auf die drei Bärenhaare, rieb siein der Hand <strong>und</strong> in dem Augenblick kam ein Bär dahergetrabt,kämpfte mit dem Stier <strong>und</strong> zerriss ihn. Aber aus dem Bauch desStieres flog ein Entenvogel in die Höhe <strong>und</strong> eilig weiter. Da riebReginald die drei Adlerfedern <strong>und</strong> alsbald kam ein mächtigerAdler durch die Luft, verfolgte den Vogel, der gerade zu einemWeiher floh, schoss auf ihn herab <strong>und</strong> zerfleischte ihn. AberReginald hatte gesehen, wie er noch ein goldenes Ei hatte insWasser fallen lassen. Da rieb er die drei Fischschuppen in derHand, gleich kam ein Walfisch geschwommen, verschluckte dasEi <strong>und</strong> spie es an Land.Reginald nahm es <strong>und</strong> schlug es mit einem Stein auf: da lagein kleiner Schlüssel darin <strong>und</strong> das war der Schlüssel, der dieStahltür öffnete. Und wie er sie nur damit berührte, sprang sievon selber auf <strong>und</strong> er trat ein. Auch vor den anderen Türenschoben sich die Riegel von selbst zurück <strong>und</strong> er trat in siebenprächtige, hell erleuchtete Kammern. In der letzten Kammer lageine Jungfrau auf einem Bett <strong>und</strong> schlief. Die Jungfrau war aberso w<strong>und</strong>erschön, dass er ganz geblendet davon war. Er wolltesie aufwecken, was aber vergebens war, denn sie schlief so fest,als wäre sie tot. Da schlug er vor Zorn auf eine schwarze Tafel,die neben dem Bett stand. In dem Augenblick erwachte dieJungfrau, fiel aber gleich wieder in den Schlaf zurück. Da nahmer die Tafel <strong>und</strong> warf sie auf den steinernen Boden, so dass siein tausend Stücke zersprang. Kaum war das geschehen, soschlug die Jungfrau die Augen hell auf <strong>und</strong> der Zauber war-213-


gelöst. Sie war aber die Schwester von den drei SchwägernReginalds <strong>und</strong> weil sie einem gottlosen Zauberer ihre Liebeversagt hatte, hatte er sie in den Todesschlaf gesenkt <strong>und</strong> ihreBrüder in Tiere verwandelt. Das sollte so lange andauern, wiedie schwarze Tafel unversehrt blieb.Ritter Reginald führte die Jungfrau heraus <strong>und</strong> als er vor dasTor kam, ritten von drei Seiten seine Schwager heran <strong>und</strong> warennun erlöst. Und mit ihnen kamen ihre Frauen <strong>und</strong> Kinder <strong>und</strong>die Adlerbraut hatte das Ei ausgebrütet <strong>und</strong> ein schönes Fräuleinauf dem Arm. Da zogen sie alle zu dem alten König <strong>und</strong> deralten Königin <strong>und</strong> das W<strong>und</strong>erkind brachte seine dreiSchwestern mit nach Haus <strong>und</strong> vermählte sich bald mit derschönen Jungfrau. Da war Freude <strong>und</strong> Lust in allen Ecken <strong>und</strong>nun ist die Geschichte aus.-214-


Kapitel 12<strong>Geschichten</strong> <strong>zum</strong> Staunen-215-


Eulenspiegel <strong>und</strong> der gelehrige EselAls Eulenspiegel nach Erfurt kam, rühmte er sich dort dergroßen Taten, die er schon vollbracht habe. Die Professoren derUniversität hatten schon viel von seinen Streichen gehört <strong>und</strong>wollten nicht, dass es ihnen so ging wie vielen anderen. Siebeschlossen daher, Eulenspiegel einen Esel in die Lehre zugeben, denn er hatte sich damit gerühmt, jedem in kürzester Zeit<strong>Lesen</strong> <strong>und</strong> Schreiben beibringen zu können, Eulenspiegelwilligte ein <strong>und</strong> erbat sich etwas Zeit, da ein Esel keinevernünftige Kreatur sei. Die Professoren waren einverstanden<strong>und</strong> bewilligten ihm für das Kunststück eine Lehrzeit vonzwanzig Jahren.Eulenspiegel nahm den Esel mit sich <strong>und</strong> zog mit ihm in eineHerberge. Er legte dem Esel ein altes Buch in die Futterkrippe<strong>und</strong> legte zwischen jedes Blatt Haferkörner. Der Esel wendetedie Blätter mit dem Maul, fraß den Hafer, der dazwischen lag<strong>und</strong> wenn er keinen Hafer mehr fand, so schrie er lauthals: »I A,I A!«Da ging Eulenspiegel zu den Professoren <strong>und</strong> sprach:»Verehrte Herren, wann wollt Ihr einmal die Fortschritte meinesSchülers begutachten?« Die Professoren waren erstaunt über diefrühzeitigen Erfolge <strong>und</strong> folgten dem Eulenspiegel sehrgespannt in den Stall, in dem der Esel stand. Das arme Viehhatte den ganzen Tag noch nichts zu fressen bekommen <strong>und</strong>wartete sehnsüchtig auf seinen Hafer. Eulenspiegel legte ihmnun wieder das Buch vor <strong>und</strong> sobald es in der Krippe lag,blätterte der Esel hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> suchte den Hafer. Als er abernichts fand, begann er laut zu schreien:»I A, I A!«Da sagte Eulenspiegel zu den Professoren: »Nun, meineHerren, Sie sehen selbst, die zwei Vokale I <strong>und</strong> A, die kann erschon. Er wird sicher einmal ein schlauer Esel!«-216-


Wie man das Fürchten lerntEin Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug <strong>und</strong>gescheit, der jüngste aber dumm. Wenn nun etwas zu tun war,so musste es der älteste immer ausrichten. Sollte er jedoch in derNacht über einen Kirchhof gehen, so fürchtete er sich. Derjüngste aber konnte nicht begreifen was es heißen sollte, wennder ältere Bruder sagte »Es gruselt mir!«Als nun der Vater eines Tages zu dem jüngsten sagte, ermüsse auch etwas lernen, um sein Brot zu verdienen, soantwortet dieser, er wolle das Fürchten lernen. Bald danach kamder Küster zu Besuch <strong>und</strong> der Vater klagte ihm seinen Kummermit dem jüngsten Sohn: »Denkt Euch, als ich ihn fragte, womiter sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zulernen.« Da entgegnete der Küster, wenn es weiter nichts sei,das Gruseln könne er bei ihm schon lernen. Er solle den Jungenzu ihm lassen, er werde ihn schon abhobeln. Der Vater wareinverstanden <strong>und</strong> der Küster nahm den Jungen in sein Haus.Nach ein paar Tagen weckte er ihn nach Mitternacht <strong>und</strong> ließihn in den Kirchturm steigen <strong>und</strong> die Glocken läuten. Er gingjedoch heimlich vor <strong>und</strong> als der Junge oben war, sich umdrehte<strong>und</strong> das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der Treppe eineweiße Gestalt stehen. Der Junge rief: »Wer da?« aber die Gestaltgab keine Antwort. »Gib Antwort«, rief der Junge, »oder mach,dass du fortkommst, du hast hier in der Nacht nichts zu suchen!«Der Küster aber bewegte sich nicht <strong>und</strong> der Junge rief nochzweimal <strong>und</strong> drohte, das Gespenst die Treppe hinabzuwerfen.Als der Küster nicht reagierte, nahm der Junge Anlauf <strong>und</strong> stießdas Gespenst die Treppe hinab, dass es unten in einer Eckeliegen blieb. Dann läutete er die Glocke, ging heim, legte sich insein Bett <strong>und</strong> schlief ein. Die Küsterfrau indessen wartete aufihren Mann, aber der wollte nicht wiederkommen. Schließlichweckte sie den Jungen <strong>und</strong> fragte ihn, ob er wisse, wo ihr Manngeblieben sei. Er verneinte, erzählte aber, was im Kirchturm-217-


geschehen war. Die Frau sprang sofort auf <strong>und</strong> fand ihren Mann,der in einer Ecke lag, jammerte <strong>und</strong> ein Bein gebrochen hatte.Die Küsterfrau eilte mit lautem Geschrei zu dem Vater desJungen <strong>und</strong> forderte ihn auf, den Taugenichts aus dem Haus zuschaffen. Der Vater schalt den Jungen, dieser beteuerte seineUnschuld <strong>und</strong> fasste den Entschluss, auszugehen <strong>und</strong> dasGruseln zu lernen. Dem Vater war’s einerlei, er gab dem Jungenfünfzig Taler <strong>und</strong> bat ihn, nicht zu sagen, wo er her sei <strong>und</strong> wersein Vater sei, denn er müsse sich seiner schämen.Am nächsten Morgen ging der Junge hinaus auf dieLandstraße <strong>und</strong> sprach immer vor sich: »Wenn’s mir nurgruselte! Wenn’s mir nur gruselte!« Das hörte ein Mann <strong>und</strong>sagte zu ihm, als sie nicht weit von einem Galgen waren:»Siehst du, dort ist der Baum, wo sieben mit des Seilers TochterHochzeit gehalten haben <strong>und</strong> jetzt das Fliegen lernen: setz dichdarunter <strong>und</strong> warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon dasGruseln lernen.« Der Junge sagte, das sei ein Leichtes <strong>und</strong>versprach dem Mann seine fünfzig Taler, wenn er so dasGruseln lerne. Er ging zu dem Galgen, setzte sich darunter <strong>und</strong>wartete, bis der Abend kam. Weil es ihm kalt war, machte er einFeuer an, doch der Wind blies so stark, dass er trotz des Feuersfror. Als der Wind die Gehängten gegeneinander stieß, dass siesich hin <strong>und</strong> her bewegten, so dachte er: Du frierst unten beidem Feuer, was mögen die da oben erst frieren. So legte er dieLeiter an, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem anderen ab <strong>und</strong>holte sie alle sieben herunter. Dann schürte er das Feuer <strong>und</strong>setzte die Toten r<strong>und</strong>herum, damit sie sich wärmen sollten. Alsdas Feuer ihre Lumpen ergriff <strong>und</strong> die Toten sich nicht regten,wurde der Junge böse <strong>und</strong> sprach: »Wenn ihr nicht Acht gebenwollt, so kann ich euch nicht helfen, ich will nicht mit euchverbrennen.« <strong>und</strong> so hängte er einen nach dem anderen wiederauf. Am ändern Morgen kam der Mann <strong>und</strong> wollte seine fünfzigTaler abholen. Er fragte den Jungen, ob er nun wisse, wasGruseln sein. »Nein«, antwortete dieser, »woher sollte ich es-218-


wissen. Die da droben haben das Maul nicht aufgetan <strong>und</strong> warenso dumm, dass sie die paar alten Lappen, die sie am Leibehaben, brennen ließen.« Da sah der Mann, dass er die fünfzigTaler nicht bekommen würde <strong>und</strong> ging fort.Der Junge ging weiter <strong>und</strong> kam in ein Wirtshaus, wo erwieder laut sprach: »Wenn’s mir nur gruselte! Wenn’s mir nurgruselte!« Der Wirt erzählte ihm darauf von einem Schloss inder Nähe, wo einer wohl lernen könnte, was das Gruseln wäre,wenn er nur drei Nächte darin wachen wollte. Derjenige, der eswagen wollte, erhalte die schöne Königstochter zur Frau. DerJunge wollte es wagen, trat vor den König <strong>und</strong> dieser sagte: »Dudarfst dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose Dingesein, <strong>und</strong> das darfst du mit ins Schloss nehmen.« Der Junge batum ein Feuer, eine Drehbank <strong>und</strong> eine Schnitzbank mit demMesser. Als es Nacht werden wollte, ging der Junge in dasSchloss <strong>und</strong> machte sich in einer Kammer ein helles Feuer an,stellte die Schnitzbank mit dem Messer daneben <strong>und</strong> setze sichauf die Drehbank. Gegen Mitternacht kamen plötzlich zweigroße schwarze Katzen in einem gewaltigen Sprung herbei <strong>und</strong>sahen ihn mit feurigen Augen ganz wild an. Als sie sich einWeilchen gewärmt hatten, sprachen sie: »Kamerad, wollen wireins in der Karte spielen?« Er antwortet: »Warum nicht, aberzeigt einmal eure Pfoten her!« Sie streckten die Krallen aus, erpackte sie beim Kragen, hob sie auf die Schnitzbank <strong>und</strong>schraubte ihnen die Pfoten fest. Dann schlug er sie tot <strong>und</strong> warfsie hinaus ins Wasser. Doch da kamen immer mehr schwarzeKatzen <strong>und</strong> H<strong>und</strong>e an glühenden Ketten, die schrieen gräulich,traten ihm auf sein Feuer, zerrten es auseinander <strong>und</strong> wollten esausmachen. Er fasste sein Schnitzmesser <strong>und</strong> haute auf sie los.Ein Teil sprang weg, die anderen schlug er tot <strong>und</strong> warf sie inden Teich. Danach war er müde <strong>und</strong> wollte ein wenig schlafen.In einer Ecke entdeckte er ein großes Bett <strong>und</strong> legte sich hinein.Als er aber die Augen schließen wollte, fing das Bett von selbstan zu fahren <strong>und</strong> fuhr im ganzen Schloss herum. Die Fahrt-219-


wurde immer wilder <strong>und</strong> plötzlich hopp hopp! kippte es um, dasUnterste zuoberst, dass es wie ein Berg auf ihm lag. Er stiegheraus <strong>und</strong> sagte: »Nun mag fahren, wer Lust hat!« Er legte sichans Feuer <strong>und</strong> schlief bis <strong>zum</strong> nächsten Morgen.Die zweite Nacht ging er abermals in das Schloss <strong>und</strong> machtesich wieder ein Feuer an. Um Mitternacht kam mit lautemGeschrei ein halber Mensch den Schornstein herab <strong>und</strong> fiel vorihn hin. Da forderte er sich auch noch die zweite Hälfte <strong>und</strong> kurzdarauf kam mit tosendem Gepolter die andere Hälfte auch herab.Plötzlich fuhren die beiden Stücke zusammen <strong>und</strong> ein gräulicherMann saß auf seinem Platz. Der Junge schob ihn mit Gewaltweg <strong>und</strong> setzte sich wieder auf seinen Platz. Da fielen nochmehr Männer herab <strong>und</strong> die holten neun Totenbeine <strong>und</strong> zweiTotenköpfe <strong>und</strong> spielten Kegel. Der Junge spielte mit <strong>und</strong> umzwölf Uhr war alles verschw<strong>und</strong>en. Er legte sich hin <strong>und</strong> schliefruhig ein.In der dritten Nacht kamen sechs große Männer <strong>und</strong> brachteneine Totenlade hereingetragen. Sie stellten den Sarg auf dieErde, er ging hin <strong>und</strong> nahm den Deckel ab. In dem Sarg lag eintoter Mann. Er fühlte sein Gesicht, aber es war kalt wie Eis. DerJunge beschloss, den Mann zu wärmen. Er setzte ihn erst ansFeuer, dann legte er ihn zu sich ins Bett. Nach einer Weilewurde der Tote warm <strong>und</strong> fing an, sich zu regen. Der Tote huban <strong>und</strong> schrie: »Jetzt will ich dich erwürgen.« Da hob der Jungeihn auf, warf ihn wieder in den Sarg <strong>und</strong> machte den Deckel zu.Die sechs Männer kamen erneut <strong>und</strong> nahmen den Sarg mit sichfort. Der Junge aber sagte: »Es will mir nicht gruseln, hier lerneich’s mein Lebtag nicht.«Da trat ein Mann herein, der sah fürchterlich aus <strong>und</strong> wargrößer als alle anderen. Er sprach: »O du Wicht, nun sollst dubald lernen, was Gruseln ist, denn du sollst sterben.« Dannwollte er ihn packen, doch der Junge sprach: »Sachte, sachte,mach dich nicht so breit, so stark wie du bin ich auch <strong>und</strong> wohlnoch stärker.« Das wollte der Alte sehen <strong>und</strong> versprach, ihn-220-


gehen zu lassen, wenn er stärker sei. Sie gingen durch dunkleGänge zu einem Schmiedefeuer, der Alte nahm eine Axt <strong>und</strong>schlug den Amboss mit einem Schlag in die Erde. Da ging derJunge zu dem anderen Amboss <strong>und</strong> weil der Alte sich neben ihnstellte, klemmte der Junge seinen Bart mit einem Hieb in denAmboss ein. Dann fasste er eine Eisenstange <strong>und</strong> schlug auf denAlten los, bis der wimmerte <strong>und</strong> versprach, ihm großeReichtümer zu geben. Er führte ihn in einen Keller, in dem dreiKisten mit Gold standen: ein Teil gehörte den Armen, ein Teildem König <strong>und</strong> der dritte Teil gehörte nun ihm. Indem schlug eszwölf <strong>und</strong> der Alte verschwand.Am anderen Morgen kam der König <strong>und</strong> sprach: »Du hast dasSchloss erlöst <strong>und</strong> sollst meine Tochter heiraten.« Das freuteden Jungen, doch wusste er immer noch nicht, was Gruseln ist.Die Hochzeit wurde gefeiert <strong>und</strong> so lieb er seine Gemahlin auchhatte, sagte er doch immer: »Wenn’s mir nur gruselte!« DieKammerjungfer ging schließlich hinaus <strong>zum</strong> Bach <strong>und</strong> ließ sicheinen ganzen Eimer voll Regenwürmer holen. Nachts als derjunge König schlief, musste seine Gemahlin ihm die Deckewegziehen <strong>und</strong> den Eimer mit dem kalten Wasser <strong>und</strong> denRegenwürmern über ihn schütten. Da wachte er auf <strong>und</strong> rief:»Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau!«-221-


Das verschmitzte BäuerleinEs war einmal ein kluges <strong>und</strong> verschmitztes Bäuerlein, vondessen Streichen man lange <strong>und</strong> viel erzählen könnte. Dieschönste Geschichte aber ist, wie es den Teufel einmal <strong>zum</strong>Narren hielt.Das Bäuerlein hatte eines Tages seinen Acker bestellt <strong>und</strong>rüstete sich zur Heimfahrt, als es bereits zu dämmern begann.Da erblickte es mitten auf seinem Acker einen Haufen feurigerKohlen, auf denen ein kleiner schwarzer Teufel saß. DasBäuerlein fragte: »Du sitzt wohl auf einem Schatz?«»Jawohl«, entgegnete der Teufel »auf einem Schatz, der mehrGold <strong>und</strong> Silber enthält, als du in deinem ganzen Leben gesehenhast.« Da sagte das Bäuerlein: »Der Schatz liegt auf meinemFeld <strong>und</strong> gehört deshalb mir.« Da antwortete der Teufel: »Er solldir gehören, wenn du mir zwei Jahre lang die Hälfte von demgibst, was dein Acker hervorbringt. Geld habe ich genug, aberich sehne mich nach den Früchten der Erde.« Das Bäuerleinging auf den Handel ein, sagte aber: »Damit es keinen Streitbeim Teilen gibt, soll dir das gehören, was über der Erde liegt,<strong>und</strong> ich nehme das, was unter der Erde liegt.« Der Teufel wareinverstanden, doch das listige Bäuerlein säte Rüben.Als nun die Zeit der Ernte kam, erschien der Teufel <strong>und</strong>wollte seine Frucht abholen. Er fand jedoch nichts als welkegelbe Blätter, während das Bäuerlein vergnügt die Rübenausgrub. Da sprach der Teufel: »Einmal hast du nun den Vorteilgehabt, aber für das nächste Mal soll das nicht gelten. Nun solldir das gehören, was über der Erde wächst, <strong>und</strong> mir gehört das,was unter der Erde ist.« Das Bäuerlein erklärte sicheinverstanden, säte nun aber statt Rüben Weizen. Als die Fruchtreif war, ging das Bäuerlein auf den Acker <strong>und</strong> schnitt dieHalme bis zur Erde ab. Als der Teufel kam, fand er nichts alsStoppeln <strong>und</strong> fuhr wütend in eine Felsenschlucht hinab. »So-222-


muss man die Füchse prellen«, sprach das Bäuerlein <strong>und</strong> ging,um sich seinen Schatz zu holen.-223-


Der Sack der WeisheitEs waren einmal zwei Brüder, die lebten beide imSoldatenstand, doch der eine war reich, der andere arm. Dawollte der Arme sich aus der Not helfen, zog den Soldatenrockaus <strong>und</strong> wurde Bauer. Also grub <strong>und</strong> hackte er sein StückchenAcker <strong>und</strong> säte Rübsamen. Der Samen ging auf <strong>und</strong> es wuchs daeine Rübe, die wurde groß <strong>und</strong> stark <strong>und</strong> zusehends dicker <strong>und</strong>wollte gar nicht aufhören zu wachsen, so dass sie eine Fürstinder Rüben hätte sein können, denn nimmer war so eine gesehen<strong>und</strong> wird auch nimmer gesehen werden. Zuletzt war sie so groß,dass sie allein einen ganzen Wagen anfüllte <strong>und</strong> zwei Ochsendaran ziehen mussten. Der Bauer wusste nicht, was er damitanfangen sollte <strong>und</strong> ob es ein Glück oder Unglück wäre. Endlichdachte er, verkaufst du sie, was wirst du großes dafürbekommen <strong>und</strong> willst du sie selber essen, so tun die kleinenRüben denselben Dienst. Du willst sie dem König bringen <strong>und</strong>ihn verehren.Also lud er sie auf den Wagen, spann zwei Ochsen vor,brachte sie an den Hof <strong>und</strong> schenkte sie dem König. »Ei«, sagteder König, »was ist das für ein seltsames Ding? Mir ist vielW<strong>und</strong>erliches vor die Augen gekommen, aber so ein Ungetümnoch nicht. Aus was für Samen mag die gewachsen sein? Oderes gerät nur dir <strong>und</strong> du bist ein Glückskind.«»Ach nein«, sagte der Bauer, »ein Glückskind bin ich nicht.Ich bin ein armer Soldat, der sich nicht mehr nähren konnte <strong>und</strong>deshalb den Soldatenrock an den Nagel hing <strong>und</strong> das Landbebaute. Ich habe noch einen Bruder, der ist reich <strong>und</strong> Euch,Herr König, auch wohl bekannt. Ich aber, weil ich nichts habe,bin von aller Welt vergessen.« Da empfand der König Mitleidmit ihm <strong>und</strong> sprach: »Deine Armut ist vorbei. Du sollst so vonmir beschenkt werden, dass du deinem reichen Bruder gleichkommst.« Also schenkte er ihm eine Menge Gold, Acker,-224-


Wiesen <strong>und</strong> Herden <strong>und</strong> machte ihn steinreich, so dass desändern Bruders Reichtum gar nicht damit verglichen werdenkonnte.Als dieser hörte, was sein Bruder mit einer einzigen Rübeerworben hatte, beneidete er ihn <strong>und</strong> sann hin <strong>und</strong> her, wie ersich auch ein solches Glück zuwenden könnte. Er wollte es abernoch viel gescheiter anfangen, nahm Gold <strong>und</strong> Pferde <strong>und</strong>brachte sie dem König, denn er meinte, der würde ihm ein vielgrößeres Gegengeschenk machen, denn wenn sein Bruder schonfür eine Rübe so viel bekommen hatte, was würde er ihm erst fürso schöne Dinge alles geben. Der König nahm das Geschenk<strong>und</strong> sagte, er wüsste ihm nichts wieder zu geben, das rarer <strong>und</strong>besser wäre, als die große Rübe. Also musste der Reiche seinesBruders Rübe auf einen Wagen legen <strong>und</strong> nach Hause fahrenlassen.Daheim wusste er nicht, an wem er seinen Ärger <strong>und</strong> Zornauslassen sollte, bis ihm böse Gedanken kamen <strong>und</strong> erbeschloss, seinen Bruder zu töten. Er gewann Mörder, diemussten sich in einen Hinterhalt stellen <strong>und</strong> darauf ging er zuseinem Bruder <strong>und</strong> sprach: »Lieber Bruder, ich weiß einenheimlichen Schatz, den wollen wir miteinander heben <strong>und</strong>teilen.« Der andere ließ sich das gefallen <strong>und</strong> ging ohneArgwohn mit. Als sie aber hinauskamen, stürzten die Mörderüber ihn her, banden ihn <strong>und</strong> wollten ihn an einen Baum hängen.Als sie gerade dabei waren, erscholl aus der Ferne lauter Gesang<strong>und</strong> Hufschlag, dass ihnen der Schrecken in den Leib fuhr <strong>und</strong>sie Hals über Kopf ihren Gefangenen in den Sack steckten, amAst hinaufwanden <strong>und</strong> hängen ließen. Er aber arbeitete darin, biser ein Loch im Sack hatte, wodurch er den Kopf stecken konnte.Darauf ergriffen sie die Flucht.Wer aber des Weges daher kam, war nichts anderes als einfahrender Schüler, ein junger Geselle, der fröhlich sein Liedsingend durch die Straße ritt. Wie der oben nun merkte, dasseiner unter an ihm vorbeiging, rief er: »Sei mir gegrüßt zu guter-225-


St<strong>und</strong>e!« Der Schüler guckte sich überall um, wusste aber nicht,wo die Stimme herschaute, Endlich sprach er: »Wer ruft mirzu?« Da antwortete es aus dem Wipfel: »Erhebe deine Augen,ich sitze hier oben im Sack der Weisheit. In kurzer Zeit habe ichgroße Dinge gelernt, dagegen sind alle Schulen ein Wind. Nochein wenig, so werde ich ausgelernt haben, herabsteigen <strong>und</strong>weiser sein als alle Menschen. Ich verstehe die Gestirne- <strong>und</strong>Himmelszeichen, das Wehen aller Winde <strong>und</strong> den Sand imMeer, Heilung der Krankheit, die Kräfte der Kräuter, Vögel <strong>und</strong>Steine. Wärst du einmal darin, du würdest fühlen, was fürHerrlichkeit aus ihm fließt.« Der Schüler, wie er das alles hörte,staunte <strong>und</strong> sprach: »Gesegnet sei die St<strong>und</strong>e, wo ich dichgef<strong>und</strong>en. Könnte ich nicht auch ein wenig in den Sackkommen?« Oben der antwortete. als täte er es nicht gern: »Einekleine Weile will ich dich wohl hineinlassen für Lohn <strong>und</strong> guteWorte, aber du musst noch eine St<strong>und</strong>e warten, es ist ein Stückübrig, das ich erst lernen muss.«Als der Schüler ein wenig gewartet hatte, war ihm die Zeit zulang <strong>und</strong> er bat, dass er doch möge hineingelassen werden, seinDurst nach Weisheit wäre gar zu groß. Da stellte sich der oben,als gäbe er endlich nach <strong>und</strong> sprach: »Damit ich aus dem Hausder Weisheit heraus kann, musst du den Sack am Strickherunterlassen, dann kannst du hinein.« Also ließ der Schülerihn herunter, band den Sack auf <strong>und</strong> befreite ihn, dann rief erselber: »Nun zieh mich recht geschwind hinauf!« <strong>und</strong> wolltegerade stehend in den Sack hineingehen. »Halt!« sagte derandere, »So geht das nicht!« <strong>und</strong> packte ihn beim Kopf, steckteihn rücklings in den Sack, schnürte zu <strong>und</strong> zog den Jünger derWeisheit am Strick nach oben <strong>und</strong> schwenkte ihn in der Luft:»Wie steht’s mein lieber Geselle? Siehe, schon fühlst du, dassdir die Weisheit kommt <strong>und</strong> machst gute Erfahrung. Sitze alsofein ruhig, bis du klüger wirst!« Damit stieg er auf des SchülersPferd <strong>und</strong> ritt fort.-226-


Der Dreschflegel vom HimmelEs zog einmal ein Bauer mit seinen zwei Ochsen <strong>zum</strong> Pflügenauf den Acker, Als er ankam, fingen den beiden Tieren dieHörner an zu wachsen <strong>und</strong> als er nach Hause wollte, waren sieso groß geworden, dass sie nicht mehr durch das Tor hineinkonnten. Da kam gerade ein Metzger daher, dem überließ er dieOchsen <strong>und</strong> sie schlossen einen Handel. Er sollte dem Metzgerein Maß Rübsamen bringen <strong>und</strong> der wollte ihm dann für jedesKorn einen Taler geben.Der Bauer ging nun nach Hause, packte ein Maß Rübsamenauf den Rücken <strong>und</strong> machte sich auf den Weg <strong>zum</strong> Metzger.Unterwegs aber verlor er aus dem Sack ein Körnchen. DerMetzger bezahlte, wie es ausgehandelt worden war, doch hätteder Bauer das Körnchen nicht verloren, so hätte er einen Talermehr gehabt. Als er nun wieder den Weg zurückging, war ausdem Korn ein Baum gewachsen, der bis an den Himmel reichte.Da dachte der Bauer bei sich: »Weil jetzt die Gelegenheit geradeda ist, musst du doch sehen, was die Engel da oben machen <strong>und</strong>ihnen einmal in die Augen gucken.«So stieg er hinauf <strong>und</strong> sah, dass die Engel Hafer droschen.Wie er so zuschaute merkte er, dass der Baum, auf dem er stand,anfing zu wackeln. Als er hinunterblickte sah er, dass eben einerdabei war, den Baum zu fällen. Da dachte der Bauer, wenn duda herabstürztest, das wäre bös, <strong>und</strong> in seiner Not wusste er sichkeinen anderen Rat, als aus der Spreu vom Hafer, diehaufenweise da lag, einen Strick zudrehen. Dann griff er nochnach einer Hacke <strong>und</strong> einem Dreschflegel, die da im Himmelherumlagen <strong>und</strong> ließ sich an dem Strick herunter. Unten auf derErde aber kam er in ein tiefes Loch <strong>und</strong> so war es ein Glück,dass er die Hacke dabei hatte, denn damit hackte er sich eineTreppe. Er stieg die Treppe hinauf in die Höhe <strong>und</strong> brachte denDreschflegel als Beweis mit, so dass niemand an seiner-227-


Erzählung zweifeln konnte.-228-


Der listige FuchsDer Fuchs begleitete einmal den Wolf <strong>und</strong> musste alles tun,was der Wolf wollte, weil er viel schwächer war. Er wäre diesennun gern los gewesen, denn der Wolf war ein Nimmersatt <strong>und</strong>nie zufrieden. Als sie eines Tages wieder gemeinsam durch denWald gingen, sprach der Wolf: »Rotfuchs, schaff mir was zufressen herbei, oder ich fresse dich!« Da antwortete der Fuchs:»Ich kenne einen Bauernhof, wo ein paar junge Lämmer sind.Wenn du Lust hast, holen wir uns eins.« Der Wolf wareinverstanden. Sie gingen zu dem Hof, der Fuchs stahl dasLämmlein, brachte es dem Wolf <strong>und</strong> machte sich davon. DerWolf fraß das Lämmlein, aber weil es ihm noch nicht genugwar, machte er sich selbst noch einmal auf, um noch einLämmlein zu stehlen. Er stellte sich dabei jedoch so ungeschicktan, dass die Mutter des Lämmleins es merkte <strong>und</strong> zu schreienanfing. Die Bauern kamen, fanden den Wolf <strong>und</strong> schlugen ihnfürchterlich. Als der Wolf hinkend <strong>und</strong> heulend bei dem Fuchsankam, beklagte er sich bitterlich: »Du hast mich schönangeführt, Ich wollte mir noch ein Lamm holen, da haben michdie Bauern erwischt <strong>und</strong> windelweich geschlagen.« Der Fuchsaber antwortete ihm: »Warum bist du auch so ein Nimmersatt!«Am anderen Tag gingen sie wieder ins Feld <strong>und</strong> der gierigeWolf sprach erneut: »Rotfuchs, schaff mir was zu fressen herbei,oder ich fresse dich!« Da antwortete der Fuchs: »Ich kenne einBauernhaus, da backt die Frau heute abend Pfannkuchen, diewollen wir uns holen.«Sie gingen dorthin <strong>und</strong> der Fuchs schlich um das Haus herum<strong>und</strong> schnupperte so lange, bis er die Schüssel mit denPfannkuchen gef<strong>und</strong>en hatte. Dann nahm er sechs Stück heraus<strong>und</strong> brachte sie dem Wolf. Er selbst aber ging seiner Wege. DerWolf verschlang gierig die Pfannkuchen <strong>und</strong> sprach: »Sieschmecken nach mehr!« Er ging zu dem Bauernhaus <strong>und</strong> riss die-229-


Schüssel herunter, so dass sie zersprang. Der Lärm rief dieBauersfrau aus dem Haus <strong>und</strong> als sie den Wolf sah, rief sie ihreLeute, <strong>und</strong> die schlugen ihn so, dass er mit zwei lahmen Beinenlaut heulend beim Fuchs ankam. Dem machte er auch sogleichbittere Vorwürfe: »Was hast du mich so garstig übers Ohrgehauen! Die Bauern haben mich erwischt <strong>und</strong> furchtbarverprügelt.« Der Fuchs aber antwortete ihm nur: »Warum bistdu auch so ein Nimmersatt!«Am dritten Tag waren sie wieder zusammen unterwegs <strong>und</strong>der Wolf hinkte mühsam vorwärts, Unterwegs sprach er wieder:»Rotfuchs, schaff mir was zu fressen herbei oder ich fresse dichselber auf!« Der Fuchs antwortete ihm: »Ich kenne einen Mann,der hat geschlachtet, <strong>und</strong> das gesalzene Fleisch liegt in einemFass im Keller. Das wollen wir uns holen.« Nun sprach der Wolfaber: »Ich will diesmal gleich mitgehen, damit du mir hilfst,wenn ich nicht fort kann.« Dem Fuchs war das recht <strong>und</strong> erzeigte dem Wolf die Schliche <strong>und</strong> Wege, über die sie endlich inden Keller gelangten. Da war nun ein Fass voll Fleisch <strong>und</strong> derWolf machte sich gleich daran <strong>und</strong> dachte: »Bis ich aufhöre,hat’s Zeit.« Der Fuchs ließ es sich auch gut schmecken, doch erlief oft zu dem Loch, durch das sie in den Keller gelangt waren,<strong>und</strong> versuchte, ob er noch schmal genug wäre, um dadurchzuschlüpfen. Da sprach der Wolf: »Lieber Fuchs, sag mirdoch, warum du so hin <strong>und</strong> her rennst <strong>und</strong> dauernd durch dasLoch schlüpfst?« Der listige Fuchs antwortete ihm: »Ich mussdoch sehen, ob niemand kommt. Und du, friss nicht so viel!«Aber der Wolf wollte nicht eher aufhören, bis das Fass leerwäre. Da kam plötzlich der Bauer, der die Sprünge des Fuchsesgehört hatte, in den Keller, Der Fuchs war sofort mit einem Satzdraußen, doch der Wolf hatte in der Zwischenzeit so vielgefressen, dass er zu dick geworden war <strong>und</strong> nicht mehr durchdas Loch passte <strong>und</strong> stecken blieb. Der Bauer schlug den Wolfmit seinem Knüppel tot <strong>und</strong> der Fuchs sprang munter in denWald <strong>und</strong> war froh, dass er den alten Nimmersatt los war.-230-


Wie Eulenspiegel bei einem KaufmanndienteEulenspiegel hatte einmal einen Dienst bei einem reichenKaufmann angenommen <strong>und</strong> dieser nahm ihn zunächst auf eineseiner Reisen mit. Bevor sie in die Stadt fuhren, sagte derKaufmann zu Eulenspiegel: »Spann an, pass auf den Weg auf<strong>und</strong> sieh dich nicht um!« Als sie nun ein Stück mit dem Wagengefahren waren, löste sich das Hintergestell. Eulenspiegel abersah sich nicht um, sondern fuhr alleine weiter. Der Kaufmann,der auf dem hinteren Gestell saß, rief laut nach ihm, dochEulenspiegel hörte nicht auf das Geschrei <strong>und</strong> fuhr weiter. Somusste der Kaufmann hinter ihm herlaufen, bis ihm die Zungefast auf den Boden hing.Als sie am Abend wieder zu Hause ankamen, sprach derKaufmann verärgert: »Diese Nacht kannst du noch hier bleiben,aber am Morgen räum’ das Haus, denn du bist eindurchtriebener Schalk!«Sobald der Kaufmann am nächsten Morgen das Hausverlassen hatte, begann Eulenspiegel das Haus zu räumen. Ertrug Stühle, Tische, Bänke <strong>und</strong> was er sonst noch tragen konnte,hinaus auf die Straße. Die Nachbarn starrten verw<strong>und</strong>ert zu demHaus hinüber <strong>und</strong> riefen den Kaufmann herbei. Dieser brüllteEulenspiegel schon von weitem an <strong>und</strong> fragte, was der Unsinnsolle. Doch Eulenspiegel antwortete ganz ernsthaft: »Herr, Ihrselbst habt mir gestern abend befohlen, das Haus zu räumen. Ichtue nichts anderes!« Der Kaufmann räumte sein ganzes Hab <strong>und</strong>Gut wieder ins Haus <strong>und</strong> Eulenspiegel machte, dass er fortkam.-231-


Kapitel 13Tiergeschichten-232-


Das hässliche junge EntleinAn einem schönen Sommertag brütete eine Ente im hohenGras ihre Jungen aus. Endlich platzte ein Ei nach dem anderen<strong>und</strong> die jungen Entenküken kamen <strong>zum</strong> Vorschein, einesschöner als das andere, Schließlich blieb nur noch ein Ei übrig,Als dieses schließlich platzte, kam, oh Schreck, ein großes,hässliches Entenküken heraus. Die Ente besah es kritisch <strong>und</strong>watschelte dann mit all ihren Küken <strong>zum</strong> nahen Teich. Dashässliche Entlein schwamm ebenso gut wie die anderen <strong>und</strong> dadie Ente sehr gutmütig war, hatte sie alle ihre Kinder gleich lieb.Dann beschloss sie, mit ihren Kleinen <strong>zum</strong> Entenhof zuschwimmen. Dort wurden die Küken der Reihe nach vorgestellt<strong>und</strong> die anderen Enten waren entzückt von den kleinenEntenkindern, nur das eine große Entenküken gefiel ihnen garnicht, Sie verspotteten <strong>und</strong> ärgerten es <strong>und</strong> eine der Enten biss essogar in den Nacken.Das hässliche Entlein wurde immer trauriger <strong>und</strong> lief einesTages einfach davon. Es kam zu dem großen Moor, wo dieWildenten wohnten. Doch auch die fanden das Entenkükenabstoßend hässlich <strong>und</strong> jagten es davon. Zwei junge Wildgänseaber nahmen das Entlein fre<strong>und</strong>lich bei sich auf, Eines Tagesaber knallte es furchtbar <strong>und</strong> die beiden Gänse fielen tot zuBoden. Das Entlein erschrak furchtbar, als plötzlich ein großerJagdh<strong>und</strong> vor ihm stand. Doch der beachtete das Entlein nichtweiter <strong>und</strong> lief davon. So machte sich das Entlein auf den Weg<strong>und</strong> kam, als es schon dunkel wurde, an ein kleines Häuschen, indem eine alte Frau mit ihrer Katze <strong>und</strong> ihrem Huhn lebte. Dortblieb es einige Zeit, doch schon bald packte es die Sehnsuchtnach Wasser, Luft <strong>und</strong> Sonne <strong>und</strong> so machte es sich wieder aufden Weg.Doch nun kam der Herbst <strong>und</strong> es wurde immer kälter, so dassfür das Entlein eine schwere Zeit begann. Eines Abends, als-233-


gerade die Sonne w<strong>und</strong>erschön unterging, kam ein SchwarmSchwäne vorbeigeflogen. Das Entlein spürte eine große Liebe zuden fremden Vögeln <strong>und</strong> es wurde ihm ganz eigenartig umsHerz. Als der Winter kam, wurde es so kalt, dass das Wasser zugefrieren begann. Unermüdlich schwamm das Entlein zwischenden Eisschollen hin <strong>und</strong> her, um das Wasser vor dem Zufrierenzu bewahren, aber bald wurde es müde <strong>und</strong> das Eis schloss esein.Am nächsten Morgen kam ein Bauer vorbei, sah das armeEntlein <strong>und</strong> weil er Mitleid hatte, nahm er es mit zu sich nachHause. Dort erholte sich das Entlein zusehends, doch als dieKinder mit ihm spielen wollten, erschrak es furchtbar <strong>und</strong> fiel inden Rahmtopf. Die Frau des Bauern war sehr erbost darüber <strong>und</strong>jagte es aus dem Haus. So stand dem armen Entlein ein harterWinter bevor.Aber endlich wurde es wieder wärmer <strong>und</strong> der Frühling kam.Die Sonne schien warm <strong>und</strong> die Vögel zwitscherten. Das Entleinbreitete seine Flügel aus <strong>und</strong> ohne zu wissen, wie ihm geschah,landete es in einem großen Garten. Auf dem Teich in der Mittedieses Gartens schwammen drei weiße, w<strong>und</strong>erschöne Schwäne.Als sie das Entlein erblickten, kamen sie näher. Das Entleinängstigte sich ein wenig <strong>und</strong> beugte demütig seinen Kopf. Dochwas sah es da in dem klaren Wasser? Es war gar kein hässlichesEntlein mehr, sondern selbst ein w<strong>und</strong>erschöner Schwan. Es warzwar in einem Entenhof geboren worden, doch hatte dieEntenmutter ein Schwanenei ausgebrütet. Die drei Schwänenahmen ihren neuen Gefährten fre<strong>und</strong>lich auf <strong>und</strong> streicheltenihn mit den Flügeln.Da kamen zwei Kinder in den Garten <strong>und</strong> als sie den neuenSchwan sahen, jubelten sie vor Freude über seine Schönheit. Siefütterten die Schwäne mit Brot <strong>und</strong> Korn <strong>und</strong> liefen dann zuihrer Mutter, um ihr von dem Neuankömmling zu erzählen. »Erist der schönste Schwan von allen!« riefen sie. Da steckte derneue Schwan seinen Kopf verschämt unter den Flügel <strong>und</strong> war-234-


vor Glück ganz verwirrt, denn das hätte er sich nicht träumenlassen.-235-


Zimba, der kleine LöweZimba, der kleine Löwe <strong>und</strong> das Äffchen Charly sitzen untereinem großen Baum im Dschungel. Auf einem Baum krächztCora, der Papagei: »Ihr hättet mich sehen sollen, als ich noch imZirkus aufgetreten bin! Ich war die Sensation jederVorstellung!« Da seufzt Zimba, der kleine Löwe: »Ich will auchim Zirkus auftreten!«»Dann musst du dich aber beeilen«, krächzt Cora, »denn baldkommen die Leute vom Zirkus, um sich Tiere auszusuchen.«Zimba <strong>und</strong> Charly üben nun jeden Tag <strong>und</strong> schon bald schlagensie Purzelbäume <strong>und</strong> Saltos <strong>und</strong> jonglieren mit Apfelsinen <strong>und</strong>Kokosnüssen. Doch Cora meint: »Ihr müsst euch etwasBesonderes einfallen lassen, das gibt es alles schon!«Zimba ist darüber sehr traurig, doch Charly hat eine Idee: »Dumusst lernen, auf einem Seil zu tanzen, denn einen Löwen aufdem Seil hat es noch nie gegeben.«»Ich auf einem Seil?« kreischt Zimba erschrocken, aber esbleibt ihm wohl oder übel keine andere Möglichkeit. Er klettertauf einen Baum <strong>und</strong> tastet sich vorsichtig auf das schwankendeSeil vor. Schon nach dem ersten Schritt liegt er wieder auf demBoden. Das geht noch einige Male so <strong>und</strong> Cora, der Papagei,ruft dauernd: »Einen Löwe auf einem Seil, das gibt es nicht!«Einige Zeit später ist es dann soweit, die Zirkusleute sindangekommen. Der Zirkusdirektor kommt mit seinem GehilfenPeppino, um eine ganz besondere Sensation zu suchen. Peppinozeigt auf eine Giraffe, die einen richtigen Knoten in ihren langenHals macht. Der Zirkusdirektor ist zwar begeistert, doch ist ihmdie Giraffe noch immer nicht sensationell genug. Da zeigt ihmPeppino einen Elefanten, der ein Lied trompetet. Doch derDirektor ist noch immer nicht ganz zufrieden.In diesem Augenblick springen Zimba <strong>und</strong> Charly auf das Seil<strong>und</strong> zeigen die tollsten Kunststücke. Der Zirkusdirektor ist-236-


egeistert <strong>und</strong> sagt: »Ich muss schon sagen, ein Löwe auf einemSeil, das ist wirklich eine Sensation.« Also dürfen Zimba <strong>und</strong>Charly sofort mit in die Stadt <strong>zum</strong> Zirkus <strong>und</strong> es dauert nichtlange, da ist Zimba eine Berühmtheit.-237-


Die neugierige GiraffeIn einem Land am Meer lebte einmal eine Giraffe, die sehrneugierig war. Da sie ihren Kopf immer nach allen Seiten reckte<strong>und</strong> streckte, wurde ihr Hals immer länger <strong>und</strong> länger.Schließlich war er so lang geworden, dass sie eines Nachts, alssie sich im Schlaf streckte, mit dem Kopf an die Sterne stieß.Durch den Stoß kamen viele Sterne aus dem Gleichgewicht <strong>und</strong>fielen auf die Erde herunter. Einige Sterne fielen ins Wasser, dasnun w<strong>und</strong>erschön beleuchtet war. Doch weil die Sterne dasWasser nicht vertragen konnten, verloschen sie nach <strong>und</strong> nach<strong>und</strong> im Meer war es bald wieder so dunkel, wie es vorhergewesen war.Der andere Teil der Sterne fiel in die Wüste <strong>und</strong> leuchtete <strong>und</strong>glitzerte nun im Wüstensand. Doch die Wüstentiere fürchteten,die Welt könnte anfangen zu brennen <strong>und</strong> so schickten sie dieElefanten <strong>zum</strong> Meer Wasser holen, um die Sterne auszulöschen.So liefen nun die Elefanten immer hin <strong>und</strong> her, von der Wüste<strong>zum</strong> Meer <strong>und</strong> vom Meer zur Wüste. Sie spritzten das Wasserim hohen Strahl aus ihren Rüsseln <strong>und</strong> morgens um fünf Uhrwaren endlich alle Sterne ausgelöscht.Die Giraffe aber sagte leise zu sich: »Gott sei Dank hatniemand gemerkt, dass das alles meine Schuld war!« Und sieschwor sich, nie mehr neugierig zu sein. Und während sie soihren Gedanken nachging, da wurde ihr Hals immer kürzer <strong>und</strong>kürzer. Zwar blieb er am Ende immer noch einige Meter lang,doch jeder meinte nun, das müsse so sein.Die Giraffe freute sich sehr <strong>und</strong> legte sich erschöpft in denSand, um noch ein wenig zu schlafen. Schließlich hatte siewegen der Aufregung nur drei St<strong>und</strong>en geschlafen <strong>und</strong> dreiSt<strong>und</strong>en Schlaf sind eindeutig zu wenig für eine Giraffe.-238-


Die Bremer StadtmusikantenEs war einmal ein Mann, der hatte einen treuen Esel, der vieleJahre lang die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte.Doch nun war der Esel alt <strong>und</strong> seine Kräfte gingen zu Ende, sodass er zur Arbeit immer untauglicher wurde. Der Herrüberlegte also, den Esel aus dem Futter zu schaffen, doch diesermerkte, dass kein guter Wind wehte, lief fort <strong>und</strong> machte sichauf den Weg nach Bremen, Dort, so meinte er, könne er jaStadtmusikant werden. Als er so ein Weilchen gegangen war,fand er einen Jagdh<strong>und</strong> auf dem Weg liegen, der erbärmlichjapste. »Was japst du denn so, Packan?« fragte der Esel. »Ach«,sprach der H<strong>und</strong>, »ich bin alt <strong>und</strong> werde jeden Tag schwächer.Mein Herr hat mich wollen totschlagen, weil ich auf der Jagdnicht mehr fort kann <strong>und</strong> so habe ich Reißaus genommen. Aberwomit soll ich nun mein Brot verdienen?« Der Esel schlug ihmvor, mit nach Bremen zu gehen <strong>und</strong> ebenfalls Stadtmusikant zuwerden. Er wolle Laute spielen, der H<strong>und</strong> solle die Paukenschlagen. Der H<strong>und</strong> war einverstanden <strong>und</strong> sie gingen weiter.Es dauerte nicht lange, da trafen sie eine Katze, die am Wegsaß <strong>und</strong> ein Gesicht machte wie drei Tage Regenwetter. DerEsel fragte: »Was ist dir denn in die Quere gekommen, alterBartputzer?«»Wer kann lustig sein, wenn es ihm an den Kragen geht?«entgegnete die Katze. »Weil ich nun alt werde <strong>und</strong> lieber hinterdem Ofen sitze als nach Mäusen zu jagen, hat mich meine Frauersäufen wollen. Ich bin geflohen, doch wo soll ich nun hin?«Der Esel schlug ihr vor mit nach Bremen zu gehen <strong>und</strong> ebenfallsStadtmusikant zu werden. Die Katze ging mit. Kurz daraufkamen die drei an einem Hof vorbei. Auf dem Tor saß ein Hahn<strong>und</strong> schrie aus Leibeskräften. Der Esel sprach: »Du schreisteinem durch Mark <strong>und</strong> Bein, was hast du vor?«»Weil morgen <strong>zum</strong> Sonntag Gäste kommen, hat die Hausfrau-239-


der Köchin gesagt, sie wollte mich morgen in der Suppe essen<strong>und</strong> da soll ich mir heute abend den Kopf abschneiden lassen.Nun schrei ich aus vollem Hals, so lange ich kann.« Der Eselentgegnete: »Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Duhast eine gute Stimme <strong>und</strong> wenn wir zusammen musizieren, sowird es gut sein. Geh mit uns nach Bremen!« Der Hahn wareinverstanden <strong>und</strong> sie gingen alle vier zusammen fort.Sie konnten Bremen aber nicht in einem Tag erreichen <strong>und</strong> somachten sie abends in einem Wald Rast <strong>und</strong> wollten dortübernachten. Der Esel <strong>und</strong> der H<strong>und</strong> legten sich unter einenBaum, die Katze kletterte in die Äste, der Hahn aber flog bis indie Spitze, wo es am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief,sah er sich noch einmal gut um <strong>und</strong> es schien ihm, als sähe er inder Ferne ein Fünkchen brennen <strong>und</strong> so rief er seinen Gesellenzu, in der Nähe müsste ein Haus sein, denn es sche ine ein Licht.Der Esel sprach: »So müssen wir uns aufmachen <strong>und</strong> hingehen,denn dies ist eine schlechte Herberge.« Also machten sie sichauf den Weg <strong>und</strong> bald wurde das Licht immer größer, bis sie vorein hell erleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel näherte sichdem Fenster <strong>und</strong> schaute hinein. »Was siehst du,Grauschimmel?« fragte der Hahn. »Einen gedeckten Tisch mitschönem Essen <strong>und</strong> Trinken <strong>und</strong> Räuber sitzen daran <strong>und</strong> lassensich’s wohl sein«, antwortete der Esel. Da beratschlagten dieTiere, wie sie es anfangen müssten, um die Räuberhinauszujagen. Der Esel stellte sich mit den Vorderfüßen auf dasFenster, der H<strong>und</strong> sprang auf des Esels Rücken, die Katzekletterte auf den H<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Hahn flog schließlich auf denKopf der Katze. Auf ein Zeichen hin fingen sie alle an Musik <strong>zum</strong>achen: der Esel schrie, der H<strong>und</strong> bellte, die Katze miaute <strong>und</strong>der Hahn krähte. Dann stürzten sie durch das Fenster in dieStube hinein. Die Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschreiin die Höhe <strong>und</strong> meinten, ein Gespenst käme herein <strong>und</strong> in ihrerFurcht flohen sie in den Wald hinaus. Die vier Gesellen setztensich an den Tisch <strong>und</strong> aßen nach Herzenslust von dem, was-240-


übriggeblieben war.Als sie mit dem Essen fertig waren, suchte sich jeder eineSchlafstelle. Der Esel legte sich auf den Mist, der H<strong>und</strong> hinterdie Tür, die Katze auf den Herd <strong>und</strong> der Hahn setzte sich aufden Hahnenbalken <strong>und</strong> so schliefen sie auch bald ein. AlsMitternacht vorbei war <strong>und</strong> die Räuber sahen, dass kein Lichtmehr im Haus war, sprach der Hauptmann: »Wir hätten unsnicht ins Bockshorn jagen lassen sollen!« Er befahl einem, insHaus zu gehen <strong>und</strong> es zu untersuchen. Der Räuber fand allesstill, aber als er ein Streichholz an den glühenden Kohlenanzünden wollte, da waren das die funkelnden Augen der Katze,die ihm ins Gesicht sprang <strong>und</strong> spie <strong>und</strong> kratzte. Der Räubererschrak gewaltig <strong>und</strong> wollte zur Hintertür hinaus. Da aber lagder H<strong>und</strong> <strong>und</strong> als der Räuber hinauswollte, sprang er auf <strong>und</strong>biss ihn ins Bein. Als er über den Hof lief, gab ihm der Eselnoch einen kräftigen Schlag mit dem Hinterfuß <strong>und</strong> der Hahn,der von dem Lärm wach geworden war, rief vom Balken herab:»Kikeriki!«Da lief der Räuber, so schnell er konnte, zu den ändern zurück<strong>und</strong> berichtete seinem Hauptmann: »In dem Haus sitzt einegräuliche Hexe, die hat mich angefaucht <strong>und</strong> mir mit ihrenlangen Fingern das Gesicht zerkratzt. Vor der Tür steht einMann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen <strong>und</strong>auf dem Hof liegt ein schwarzes Ungeheuer, das hat mit einerHolzkeule auf mich eingeschlagen. Und da oben auf dem Dach,da sitzt der Richter, der rief ›Bringt mir den Schelm her!‹ Damachte ich, dass ich fortkam!« Von da an trauten sich dieRäuber nicht mehr in das Haus <strong>und</strong> den vier Bremer Musikantengefiel es dort so gut, dass sie nicht wieder herauswollten.-241-


Der Fuchs <strong>und</strong> der ZiegenbockEin Fuchs fiel in einen tiefen Brunnen <strong>und</strong> konnte sich nichtselbst heraushelfen. Da kam ein durstiger Ziegenbock <strong>zum</strong>Brunnen <strong>und</strong> als er den Fuchs sah, fragte er ihn: »Ist das Wassergut?« Der Fuchs verschwieg, dass er in die Tiefe hinabgestürztwar <strong>und</strong> antwortete: »Das Wasser ist ganz klar <strong>und</strong> schmecktausgezeichnet; komm nur auch herab!« Das tat der Ziegenbockauch <strong>und</strong> als er seinen Durst gelöscht hatte, fragte er: »Und wiekommen wir jetzt wieder aus dem Brunnen heraus?« Der Fuchsantwortete ihm: »Das lass ruhig meine Sorge sein. Du stellstdich auf die Hinterbeine, stemmst die Vorderbeine gegen dieWand <strong>und</strong> streckst deinen Hals aus. Dann werde ich über deinenRücken <strong>und</strong> deine Hörner nach oben klettern <strong>und</strong> dir auchheraushelfen.« Der Ziegenbock tat, was der Fuchs ihmaufgetragen hatte <strong>und</strong> kurz darauf war dieser oben amBrunnenrand. Dort hüpfte er vor Freude über die geglückteBefreiung, doch als der Ziegenbock ihn ermahnte, nun auch ihmherauszuhelfen, da rief der Fuchs spöttisch: »Hättest du indeinem Kopf so viel Verstand, wie du Haare in deinem Barthast, so wärst du nicht in den Brunnen hinuntergestiegen ohnezu überlegen, wie du wieder nach oben kommst!«-242-


Lumpis GeheimnisDu glaubst ein kleiner Dackel hat keine Geheimnisse? Da irrstdu dich aber! Lumpi jedenfalls hat ein Geheimnis, das nichteinmal sein allerbester Fre<strong>und</strong>, der Förster, kennt. Und das kamso:Sie waren eines Tages zusammen im Wald unterwegs.Lumpis kleiner Ball, mit dem er immer spielte, kullerte vor ihmher, doch plötzlich war er verschw<strong>und</strong>en. Lumpi stand voreinem Loch, das in die Erde hinunterführte. Er steckte seineSchnauze hinein <strong>und</strong> schnupperte. Komischer Geruch!Auf einmal tauchte aus dem Loch eine kleine schwarze Naseauf <strong>und</strong> schließlich kam ein kleines, rostrotes Tier <strong>zum</strong>Vorschein. Ein Fuchs! Doch es war nicht nur ein Fuchs, sondernvier kleine Füchse. Lumpi freute sich, denn die Füchse hattenseinen Ball mitgebracht <strong>und</strong> nun spielten Lumpi <strong>und</strong> die vierFüchslein gemeinsam mit dem Ball. Dabei vergaßen sie völligdie Zeit <strong>und</strong> als Lumpi sich endlich auf den Heimweg machte,war es schon dunkel. Als er am Försterhaus ankann, wartete derFörster bereits ungeduldig <strong>und</strong> rief: »Lumpi, wo hast du dich nurso lange herumgetrieben?« Aber Lumpi verriet nichts, wedeltemit dem Schwanz <strong>und</strong> bellte »Wauwau«.Das aber verstand der Förster nicht <strong>und</strong> deshalb hat er auchnie den Fuchsbau gef<strong>und</strong>en. Der ist Lumpis Geheimnis.-243-


Der ängstliche HaseEs war einmal ein kleiner Hase, der schlief unter einer großen,schönen Palme, Plötzlich wachte er auf <strong>und</strong> dachte: »Was wirdaus mir, wenn eines Tages die Welt untergeht?« In diesemAugenblick ließ ein kleiner Affe versehentlich eine Kokosnussvon der Palme herunterfallen. Mit lautem Krach fiel dieKokosnuss direkt neben dem Hasen auf den Boden. Diesererschrak fürchterlich, sprang auf <strong>und</strong> rief: »Rette sich, wer kann!Die Welt geht unter!« So rannte er querfeldein <strong>und</strong> schrie ausLeibeskräften.So sah ihn ein anderer Hase <strong>und</strong> fragte: »Warum läufst dudenn so schnell?« Der ängstliche Hase sah ihn entsetzt an <strong>und</strong>rief: »Ja, weißt du es denn nicht? Die Welt geht unter!« Da liefihm der zweite Hase, so schnell er konnte, hinterher. Jeder Hase,den sie unterwegs trafen, schloss sich ihnen an <strong>und</strong> so ranntenbald H<strong>und</strong>erte von Hasen um ihr Leben. Bald schlossen sichauch die anderen Tiere den Hasen an, doch sie kamen nicht weit,da stellte sich ihnen der Löwe, der König der Tiere, in den Weg<strong>und</strong> brüllte. Die Tiere blieben erschrocken stehen <strong>und</strong> der Löwefragte: »Warum flieht ihr?« Die Tiere antworteten ihm: »DieWelt geht unter, wir müssen fort von hier!« Der Löwe schüttelteden Kopf <strong>und</strong> fragte: »Wer von euch hat es gesehen?« Ein Tiernach dem anderen verneinte <strong>und</strong> so blieb am Schluss nur nochder ängstliche kleine Hase übrig <strong>und</strong> er erzählte dem Löwen,wie sich alles zugetragen hatte. Der Löwe lief mit dem Hasen zuder Palme, sah die Kokosnuss <strong>und</strong> rief: »Eine Kokosnuss fälltauf den Boden <strong>und</strong> du Angsthase glaubst, die Welt geht unter!Lauf zu den anderen zurück <strong>und</strong> erzähl’ ihnen die Wahrheit überdeinen Weltuntergang!«Wäre der Löwe nun nicht so weise gewesen, liefen die Tierewohl heute noch.-244-


Stachel, der kleine IgelEs war einmal ein kleiner Igel mit dem Namen Stachel, derlebte mit seiner Familie im Brombeergestrüpp. Er war dick <strong>und</strong>kugelr<strong>und</strong> wie alle Igel. Als er eines Tages durch die Heckenstreifte, lief ihm eine Spitzmaus über den Weg. Stachel machteeinen Satz, um die Maus zu fangen, doch das kleine Tier warschneller <strong>und</strong> verschwand im Mauseloch.Da dachte der kleine Igel bei sich: »Was bin ich doch für eindicker, träger Kerl! Alle Igel sind plump <strong>und</strong> ungeschickt. Wennich doch nur so schlank wie eine Spitzmaus wäre!« Als er nachHause kam, sagte Stachel zu seiner Igelmama: »Ab heute rühreich keinen Bissen mehr an, denn ich will so schlank wie eineSpitzmaus werden.« Die Igelmama erschrak gewaltig <strong>und</strong> sagte:»Oh je, was für Ideen du hast! Ein Igel wird niemals so schlank<strong>und</strong> flink wie eine Spitzmaus sein. Überhaupt sind Spitzmäusekein Umgang für kleine Igel. Sie ist viel zu mager, halt dichlieber an die dicken, fetten Kröten!«Stachel aber entgegnete: »Kröten sind hässlich! Sie sindhässlich, weil sie dick sind. Spitzmäuse dagegen sind schlank,flink <strong>und</strong> von schöner Gestalt.« Die Igelmama schüttelteverärgert den Kopf <strong>und</strong> machte sich über ihr Essen her. Stachelaber saß neben ihr <strong>und</strong> rührte keinen Bissen an. Der kleine Igelfastete, trank nur klares Bachwasser <strong>und</strong> aß jeden dritten Tageine unreife Pflaume, um am Leben zu bleiben. Dennverhungern wollte er schließlich auch nicht.So wurde er jeden Tag dünner <strong>und</strong> bald war er so schwach,dass er nicht mehr richtig geradeaus gehen konnte. Aber Stachelglaubte, nun erst richtig schön zu sein. Als er eines Tages wiederdurch das Gebüsch schwankte <strong>und</strong> sich vor Schwäche kaumnoch auf den Beinen halten konnte, stand plötzlich ein Fuchs vorihm. Der kleine Igel erschrak so furchtbar, dass er vergaß, sichzusammenzurollen. Der Fuchs stieß ihn mit der Schnauze an-245-


<strong>und</strong> Stachel fiel auf den Rücken. Der kleine Igel glaubte, nunhabe sein letztes Stündlein geschlagen <strong>und</strong> zitterte am ganzenLeib. Der Fuchs aber beschnupperte den mageren Igel,schüttelte den Kopf <strong>und</strong> sprach: »Nein, den fresse ich nicht! Dasist ja nur noch Haut <strong>und</strong> Knochen. Bestimmt hat er eineKrankheit. Ich verderbe mir meinen Magen doch nicht mitschlechter Kost.«Mit diesen Worten wandte er sich ab <strong>und</strong> trottete davon.Stachel aber raffte sich auf, nahm alle seine Kraft zusammen<strong>und</strong> lief so schnell er konnte nach Hause. Dort schaute er dieIgelmama mit großen Augen an <strong>und</strong> sagte: »Gib mir ganzschnell ganz viel zu essen, damit ich wieder zu Kräftenkomme!« Dann erzählte der kleine Igel von seiner Begegnungmit dem Fuchs <strong>und</strong> von diesem Tag an fraß <strong>und</strong> fraß er, dass eseine Freude war.-246-


Dumbos AbenteuerAuf einer Urwaldlichtung in Afrika stand der kleine ElefantDumbo. Seine Mutter war von Großwildjägern gefangenworden. Dumbo konnte noch entkommen <strong>und</strong> war tief in denWald hineingelaufen. Er hatte natürlich sehr große Angst, soganz allein <strong>und</strong> weinte dicke Elefantentränen. Dumbo merktejedoch nicht, dass er von allen Seiten beobachtet wurde, denn indem Urwald lebten noch mehr Tiere. Diese hatten aber vor ihm,dem kleinen Elefanten, Angst. Obwohl Dumbo ja noch rechtklein war, war er doch um einiges größer als alle anderen Tiere.Als er sich umdrehte <strong>und</strong> gerade weiterlaufen wollte, standenplötzlich fünf kleine Neger vor ihm, die ihn überraschtanstarrten.Nach einer Weile nahm der kleinste von ihnen all seinen Mutzusammen, ging auf Dumbo zu <strong>und</strong> streichelte ihn sanft überden Kopf: »Du siehst sehr traurig aus, kleiner Elefant. Möchtestdu nicht mit uns kommen <strong>und</strong> mit uns spielen?« Natürlichwollte Dumbo das <strong>und</strong> so setzte er ein Negerlein nach demanderen auf seinen Rücken <strong>und</strong> zog mit ihnen fort. Sie gingen zuder kleinen Hütte, die am Ufer eines Flusses stand, Dort spieltensie den ganzen Tag <strong>und</strong> keiner von ihnen war noch traurig.Eines Tages aber geschah ein großes Unglück. Es warenwieder Elefantenjäger unterwegs <strong>und</strong> Dumbo war unvorsichtig<strong>und</strong> wurde gefangen. Die fünf kleinen Neger wollten sich dasnicht gefallen lassen <strong>und</strong> beschlossen, Dumbo zu befreien. Sokamen sie eines Tages ans Meer <strong>und</strong> an der Küste sahen sie eingroßes Segelschiff, zu dem ein kleines Ruderboot unterwegswar, um Dumbo an Bord zu bringen. Die fünf kleinen Negerberatschlagten, was nun zu tun sei. Als es Nacht wurde,schwammen sie zu dem Boot <strong>und</strong> versteckten sich dort. Nacheinigen Tagen gab es einen heftigen Sturm <strong>und</strong> das Schiff sank.Die fünf kleinen Negerlein konnten Dumbo gerade noch-247-


efreien <strong>und</strong> schwammen auf seinem Rücken an die Küste einerkleinen Insel.Der Sturm legte sich <strong>und</strong> das Meer war wieder ruhig. Siesammelten am Strand die wenigen Sachen ein, die noch vonBord übrig geblieben waren. Dann gingen sie aufEntdeckungsreise <strong>und</strong> merkten, dass sie auf einerw<strong>und</strong>erschönen Insel gestrandet waren. Zunächst bauten sie sicheine Hütte, in der sie vor Regen <strong>und</strong> Sturm geschützt waren. Siebauten den ganzen Tag lang, bis sie abends vor Erschöpfungeinschliefen. Am nächsten Tag feierten sie ein großes Fest <strong>und</strong>lachten <strong>und</strong> tanzten vergnügt. Und am Abend saßen sie amStrand, betrachteten den guten alten Mond <strong>und</strong> freuten sich überihre neue Heimat – ohne Elefantenjäger.-248-


Der gekrönte FlohVor langer Zeit lebte ein König, der nichts widerwärtiger fandals Flöhe <strong>und</strong> Läuse. Damals gab es noch kein Insektenspraygegen Ungeziefer, so dass sich auch Könige mit Floh- <strong>und</strong>Läusestichen plagen mussten. Nur dieser eine König bliebnahezu verschont. Er stieg jeden Abend samt seiner Kleider <strong>und</strong>seiner Krone in ein königliches Bad. Hatte sich nun ein Floh inseiner Kleidung verirrt, so stieg das Tier sofort aus den Kleidernheraus, denn Flöhe mögen Wasser überhaupt nicht. Der Flohwurde dann im Nu von den königlichen Kammerjägerngefangen <strong>und</strong> Ihre Majestät konnte ruhig <strong>und</strong> unbelästigtschlafen.Die Nachricht von dem König, der niemals gestochen wurde,verbreitete sich schnell unter Mensch <strong>und</strong> Tier. Eines Tagesfasste ein Floh den Entschluss, genau diesen König mit seinenStichen zu plagen. Dies war gar nicht so einfach, angesichts derköniglichen Kammerjäger. Der Floh sprang in das besondersdicke, volle Haar des Königs <strong>und</strong> verhielt sichmucksmäuschenstill. Sogar als er fast von der Krone zerquetschtwurde, gab er keinen Mucks von sich. Als nun der König amAbend mit seinen Kleidern ins Bad stieg, hatte der Floh Angst,dass der König sich vielleicht auch die Haare waschen würde.Dies geschah jedoch nicht, so dass der Floh unbehelligt auf demKopf des Königs blieb.Kaum hatte der König sein Nachtgebet gesprochen <strong>und</strong> sichzu Bett gelegt, da sprang der Floh, der mittlerweile großenHunger verspürte, aus den Haaren heraus <strong>und</strong> biss den König inden Finger. Der König brüllte vor Schmerz <strong>und</strong> dieKammerjäger eilten herbei. Sie prüften das königlicheNachtgewand, fanden jedoch nichts. Der tapfere Floh nämlichsaß schon längst wieder in einer königlichen Locke.Eine ganze Woche lang trieb der Floh sein Spielchen mit-249-


König, Kammerjägern <strong>und</strong> Insektenfachleuten, Doch dannwurde er übermütig <strong>und</strong> biss den König in die Nase. Der Königbekam den Floh zu fassen <strong>und</strong> rief triumphierend: »Hab’ ichdich endlich! Jetzt werde ich dich zertreten!« Doch dann fieldem König ein, dass der Floh ja von königlichem Blute war, daer ihn gebissen hatte. Ein Gesetz bestimmte damals, dass jeder,der von königlichem Blute war am Hof freie Kost erhaltenmusste. »Gesetz ist Gesetz«, dachte der König <strong>und</strong> rief seinenKammerdiener. Dieser sollte den Floh <strong>zum</strong> Goldschmiedbringen <strong>und</strong> ihm eine goldene Krone <strong>und</strong> einen goldenen Käfigmachen lassen. Von nun an wurde der Floh einmal täglich vomKönig höchstpersönlich gefüttert, indem er ihm seinen Finger inden Käfig steckte.Die Nachricht von dem Floh mit der goldenen Kroneverbreitete sich schnell <strong>und</strong> so wurde der mutige Quälgeist vonallen bew<strong>und</strong>ert.-250-


Der GoldfischSusi hat ihren Goldfisch »Salomon« getauft. Salomon ist ihrgrößter Schatz. An einem schönen Morgen in den Sommerferiengeht Susi zu ihrer Fre<strong>und</strong>in Lisa spielen. Sie geht gleich nachSalomons Fütterung los. Zunächst spielen die beiden Mädchenmit ihren Puppen, dann aber will Susi Verstecken spielen. LisasBruder spielt auch mit. Susi versteckt sich im Kleiderschrank<strong>und</strong> macht die Tür hinter sich zu. Plötzlich knackt es im Schrank<strong>und</strong> sie hält ein weiches Tierfell in der Hand. Vor Schreck drehtsie sich im Kreis <strong>und</strong> findet das Schlüsselloch nicht mehr. Dawird es auf einmal hinter ihr hell <strong>und</strong> Lisas Bruder steht vor demSchrank. Bald schon ist Susis Angst vergessen.Als sie nach Hause kommt, sitzt der Kater Maunz vorSalomons Glas <strong>und</strong> angelt mit der Pfote nach Susis Liebling. Imletzten Moment kann sie den hungrigen Kater verjagen. »Armerkleiner Salomon«, sagt Susi <strong>und</strong> denkt an die Angst, die sieselbst in dem dunklen Schrank hatte. Sie fasst den Entschluss,den Goldfisch nicht länger einzusperren <strong>und</strong> setzt ihn in dengroßen Teich im Park.-251-


Die Maus FranziskaFranziska war eine ganz besondere Maus. Sie war sehr klein<strong>und</strong> ausgesprochen klug <strong>und</strong> wohnte mit den anderen Mäusenzusammen auf einem großen Rübenfeld. Dort hätte sie nuneigentlich glücklich sein können, doch sie wollte etwasBesseres: »Ich will nicht mein ganzes Leben lang mit dendummen Feldmäusen zusammen leben <strong>und</strong> auf dem Landversauern.« Sie überlegte jeden Tag, wie sie es besser habenkönnte <strong>und</strong> wartete auf eine Gelegenheit, von dem Rübenfeld zuverschwinden. Diese Gelegenheit kam, als die Rüben geerntetwurden. Die Rüben wurden in große Leinensäcke gefüllt <strong>und</strong>einer der Säcke hatte ein Loch, das gerade so groß war, dassFranziska hindurchklettern konnte. So fuhr Franziska mit denRüben in die Stadt.Als sie aus ihrem Versteck kam, erschrak sie sehr, dennobwohl es Abend war, war alles hell erleuchtet. Franziska sahsich um <strong>und</strong> stellte fest, dass sie in einem großen Supermarktgelandet war. Sie wagte gar nicht, in der Gemüseabteilung einbisschen zu naschen, aus Furcht, entdeckt zu werden. Doch derSupermarkt war leer <strong>und</strong> die Verkäuferinnen waren längstheimgegangen.Endlich kam die kleine Maus an die Ladentür <strong>und</strong> durch einenkleinen Spalt zwängte sie sich auf die Straße hinaus. Doch auchdort war es nicht dunkel. Überall brannten große Lampen <strong>und</strong>alle Schaufenster waren hell erleuchtet, Franziska schlich an denHauswänden vorbei, bis sie schließlich eine offene Türbemerkte, die in einen dunklen Keller führte.Doch das mit dem dunklen Keller war ein Irrtum. Überallflackerten Lichter auf, laute Musik dröhnte durch den Raum <strong>und</strong>Franziska sah viele Menschen, die wild umherhüpften. Diekleine Maus wusste nichts von Diskotheken <strong>und</strong> glaubte, dieMenschen seien Höhlenbewohner, die hier im Dunkeln hausten.-252-


Vorsichtig bewegte sich Franziska vorwärts <strong>und</strong> musste Achtgeben, von den Absätzen der Schuhe nicht zertreten zu werden.Als die Gefahr nun einmal besonders groß war, sprangFranziska einer Frau ans Bein, Die Frau schrie entsetzt auf <strong>und</strong>in dem Lokal gab es ein großes Gekreische. Die kleine Mausstürzte ängstlich nach draußen <strong>und</strong> beruhigte sich erst wieder,als sie unter einer Brücke im Dunkeln saß. Sie kroch einemLandstreicher, der unter der Brücke seinen Rausch ausschlief,ins Hosenbein, ohne dass dieser etwas davon merkte. Hierkonnte sie warm <strong>und</strong> ruhig bis <strong>zum</strong> nächsten Morgen schlafen<strong>und</strong> sich dann frisch <strong>und</strong> erholt wieder auf den Weg machen.Franziska erlebte noch viele Abenteuer in der großen Stadt,doch das Glück, das sie sich von einem Leben als Stadtmauserhofft hatte, blieb aus. Öfter dachte die kleine Maus wehmütigan das ruhige, einfache Leben auf dem Rübenfeld <strong>und</strong> einesTages beschloss sie, dorthin zurückzukehren. Es war ein langerschwerer Weg, bis sie wieder zu Hause war. Dort berichteteFranziska stolz von dem aufregenden Leben als Stadtmaus <strong>und</strong>die anderen Feldmäuse hörten ihr mit offenen Schnäuzchen <strong>und</strong>großen Knopfaugen bew<strong>und</strong>ernd zu.-253-


Kapitel 14<strong>Geschichten</strong> <strong>zum</strong> Träumen-254-


Der TraumvogelSicher hast du dich schon oft gefragt, woher die Träumekommen <strong>und</strong> warum manche Träume in Erfüllung gehen <strong>und</strong>manche nicht. Nun, die Erklärung dafür ist der Traumvogel.Der Traumvogel hat herrliche bunte Federn, die in allenerdenklichen Farben leuchten. Und jedesmal, wenn derTraumvogel eine seiner Federn verliert, dann fällt ein Traum aufdie Erde. Das sind die Träume, die uns nachts durch unserenSchlaf begleiten.Die Farben der Federn haben aber auch eine Bedeutung fürden Inhalt des Traums. Die blauen Federn bedeuten Luftträume.Luftträume sind Träume, die uns in die Zukunft tragen, Träume,die uns etwas über die unendliche Weite der Welt erzählen.Wenn eine grüne Feder auf die Erde fällt, dann träumen wir vonBlumen, Wäldern <strong>und</strong> Wiesen. Rote Federn bedeutenAbenteuerträume. Wenn eine rote Feder herunterfällt, träumenwir von abenteuerlichen Reisen, von geheimnisvollen Plätzen<strong>und</strong> großen Entdeckungen. Die allerwichtigsten Federn abersind die weißen Federn. Wenn du eine weiße Feder findest, dannhebe sie auf <strong>und</strong> lege sie abends unter dein Kopfkissen. Denndie weißen Federn sind Wunschfedern <strong>und</strong> der Traum, den du indieser Nacht träumst, wird irgendwann einmal in Erfüllunggehen.-255-


Die SonnenmutterEs war vor vielen, vielen Jahren. Da war der Wolkenkönignoch jung <strong>und</strong> lebte mit dem Sonnenkönig in guterFre<strong>und</strong>schaft. Das aber änderte sich an jenem Nachmittag, alsder Sonnenkönig dem Wolkenkönig begegnete <strong>und</strong> zu ihmsagte: »Ich war heute in einem Land, wo es in der Nachtfürchterlich geregnet hatte. Ich musste mich gewaltiganstrengen, um die Erde wieder zu trocknen. Die armen Leutehätten sonst eine Missernte gehabt. Sei doch so gut <strong>und</strong> schickedeinen Gehilfen Regen heute Nacht einmal nicht dorthin!«»Das werde ich doch tun!« entgegnete der Wolkenkönig. »Ichwill, dass es in diesem Land neun Wochen hintereinanderregnet.«»Warum willst du das den armen Leuten antun?« fragte ihnder Sonnenkönig. »In dem Land«, so knurrte der Wolkenkönig,»herrscht ein König, der eine w<strong>und</strong>erschöne Tochter hat. Ichwollte sie zur Frau haben, doch er hat mich abgewiesen. Nunwill ich allen beweisen, wie mächtig ich bin. Ich nehme allemeine Gehilfen, den Regen, den Wind, den Blitz, den Donner,den Hagel <strong>und</strong> den Schnee mit <strong>und</strong> lasse alle auf einmal los.«Der Sonnenkönig aber widersprach ihm: »Die armen Leutehaben dir doch nichts getan! Wenn ihr König dich beleidigt hat,so darfst du sie nicht dafür büßen lassen!«»Das ist mir egal!« grollte der Wolkenkönig, »wer will es mirdenn verbieten?«»Ich!« antwortete der Sonnenkönig. »So? Das wollen wirdoch erst mal sehen!« schimpfte der Wolkenkönig <strong>und</strong>verschwand.Obwohl er sehr müde war, kehrte der Sonnenkönig um <strong>und</strong>erreichte noch vor dem Wolkenkönig das Land. Als der mit allseinen Gehilfen ankam, konnte er jedoch nichts ausrichten, denn-256-


die Sonne schien so heiß, dass alle nur knapp dem Feuertodentkamen. Der Wolkenkönig bebte vor Zorn <strong>und</strong> flüchtete mitseinen Gehilfen ins höchste Gebirge der Welt, um sein Glückein andermal zu versuchen. Aber jeder Versuch misslang.»Ich habe eine Idee!« sagte eines Tages der Wind. »Ihr wisstdoch, dass der Sonnenkönig morgens als kleines Kind in dieWelt hinausfliegt, mittags ein Mann wird <strong>und</strong> abends alsschwacher Greis zurückkehrt, um im Schoß seiner Mutter zuschlafen. Kann er das nicht, so bleibt er ein kraftloser Greis. Wirmüssen also nur die Sonnenmutter entführen, dann kann ihrSohn uns nicht mehr schaden!« Die anderen fanden das einegroßartige Idee <strong>und</strong> der Wolkenkönig machte sich auf den Wegzur Wohnung der Sonnenmutter. Unterwegs verwandelte er sichin ein schönes, graues Pferd <strong>und</strong> als er schließlich bei derSonnenmutter ankam, sprach er: »Guten Tag, liebe Frau, ich bindas Windpferd. Dein Sohn, der Sonnenkönig, schickt mich. Erbraucht deine Hilfe! Du sollst zu ihm kommen, denn er ist ineinem überschwemmten Land <strong>und</strong> ist am Ende seiner Kraft. Erwill eine St<strong>und</strong>e in deinem Schoß schlafen <strong>und</strong> neue Kraftsammeln.«»Das ist zwar merkwürdig«, antwortete die Sonnenmutter,»mein Sohn ließ mich noch nie zu sich kommen, aber wenn dues sagst, wird es wohl seine Richtigkeit haben! Bring michsofort zu ihm!« Mit diesen Worten bestieg sie das Pferd, dassich vor einer finsteren Höhle wieder in den Wolkenkönigzurückverwandelte <strong>und</strong> die Sonnenmutter darin einsperrte.Als nun der Sonnenkönig am Abend müde nach Hause kam,fand er seine Mutter nicht. Er konnte nicht in ihrem Schoßschlafen <strong>und</strong> neue Kräfte sammeln <strong>und</strong> so war er am nächstenMorgen zu schwach um aufzustehen. Die Sonne schien nichtmehr, es war überall dunkel <strong>und</strong> der Wolkenkönig konnte seinUnwesen treiben.Doch die Freude des Wolkenkönigs dauerte nicht lange. DieSonnenmutter ließ sich Nägel wachsen <strong>und</strong> grub sich aus der-257-


Höhle heraus. Schnell eilte sie zu ihrem Sohn, der endlichwieder in ihrem Schoß schlafen konnte <strong>und</strong> so neue Kraftgewann. Frisch flog er am nächsten Morgen in die Welt hinaus<strong>und</strong> vertrieb den Wolkenkönig. Seit dieser Zeit hat dieFre<strong>und</strong>schaft zwischen dem Wolkenkönig <strong>und</strong> demSonnenkönig für immer aufgehört.-258-


Eine unruhige NachtEines Abends, kurz vor dem Schlafengehen, kam die Mutterin Michaels Zimmer. Dort herrschte ein riesiges Durcheinander<strong>und</strong> die Mutter sagte entsetzt: »Aber Michael, willst du etwadeine ganzen Spielsachen einfach über Nacht auf dem Fußbodenliegen lassen? Räum bitte auf, bevor du schlafen gehst!«Doch Michael war viel zu müde <strong>zum</strong> Aufräumen <strong>und</strong> ging sozu Bett. Die Mutter rügte ihn <strong>und</strong> sagte: »Schäme dich, aber duwirst schon sehen…!« Gähnend dachte Michael darüber nach,was die Mutter wohl damit gemeint haben könnte, doch dafielen ihm auch schon vor Müdigkeit die Augen zu. In der Nachtaber wurde er von einem Riesenlärm geweckt. Da fuhr dasFeuerwehrauto klingelnd durch das Zimmer, dicht gefolgt vondem Polizeiwagen mit Blaulicht <strong>und</strong> Sirene. Da schrie derTeddy entsetzt auf: »Hilfe, au, au, das Feuerwehrauto hat michüberfahren, Hilfe!« Als die Autos schließlich auch noch über allseine Bilderbücher fuhren, wird Michael böse: »Aufhören, Muttihat ja recht, ich räume in Zukunft abends die Spielsachen auf!«Plötzlich war es ganz still im Zimmer. Verblüfft stellteMichael fest, dass es schon heller Morgen war. Hatte er das allesetwa nur geträumt?-259-


Die TraumschuleLaura besuchte am Nachmittag ihre Tante Sofie. Als sie dasWohnzimmer betrat, standen dort schon eine Tasse Kakao <strong>und</strong>ein Stück Kuchen für sie bereit. Tante Sofie fragte ihre Nichte:»Na, Laura, erzähl mir von deinem ersten Tag in der Schule! Ichbin schon sehr gespannt. War es schön?«»Oh, ja«, antwortete Laura, »es war ganz toll! Die Lehrerinhatte noch ihr Nachthemd an, weil sie verschlafen hatte. Wirfanden das ganz lustig, aber die Eltern meinten, es gehöre sichnicht, im Nachthemd in die Schule zu kommen.«»Nun, da haben die Eltern ja auch recht«, meinte Tante Sofie,»so etwas gehört sich nun wirklich nicht.«»Es war aber wirklich ein schönes Nachthemd«, antworteteLaura, »es war weiß mit roten Bärchen <strong>und</strong> mit vielen Schleifen.Und dann war da noch ein Junge, der hatte zwei weiße Mäusemitgebracht, die krabbelten auf dem Pult herum. Die eine Mauskletterte an dem Tintenfass hoch <strong>und</strong> plumpste auch prompthinein. Als die Lehrerin sie wieder herausholte, war sie ganzschwarz, Doch die schwarze Maus sprang auf ihr Nachthemd<strong>und</strong> machte überall schwarze Tintenflecke. Da lachte einer vonden Vätern <strong>und</strong> zur Strafe hat ihn die Lehrerin zehn Minuten indie Ecke gestellt, damit er sich schämt. Die anderen musstendann turnen <strong>und</strong> Purzelbäume schlagen, auch die Eltern.«Tante Sofie blickte ihre Nicht ungläubig an <strong>und</strong> sagte: »Dasist doch nicht zu fassen! Auf so eine Schule schicken dich deineEltern? Das müsste verboten werden!« Laura ließ sich nichtbeirren <strong>und</strong> erzählte fröhlich weiter: »Zum Schluss hat dieLehrerin jedem eine Schultüte geschenkt. In meiner Tüte warenganz viele Bonbons, Schokolade, Kekse, eine Puppe, ein grünerBall, ein Paar Rollschuhe, eine Luftmatratze, ein Spielzeugauto,eine Märchenkassette <strong>und</strong> ein Märchenbuch <strong>und</strong>…«Da unterbrach Tante Sofie ihre Nichte <strong>und</strong> sagte: »Laura, du-260-


schwindelst ja! So eine Schule gibt es nirgendwo, nicht einmalim Traum!«»Doch«, sagte Laura, »natürlich gibt es so eine Schule imTraum. Ich habe es doch selbst heute nacht geträumt.« TanteSofie schüttelte den Kopf <strong>und</strong> sagte: »Aber Laura, ich wolltedoch nicht deine Träume hören, sondern wissen, wie dein ersterSchultag war.« Da kicherte Laura vergnügt <strong>und</strong> antwortete:»Der ist doch erst morgen, Tante Sofie! Aber bestimmt wird esgenauso lustig wie in meinem Traum.«-261-


Eine unheimliche NachtIch musste abends immer um sieben Uhr ins Bett. Da ichmeistens sehr müde war, schlief ich immer bald ein. Einmalwachte ich gegen Mitternacht plötzlich durch ein Geräusch auf.Was war denn das? Ich hörte ein Atmen <strong>und</strong> ein Stöhnen, Mirwurde ganz unheimlich <strong>und</strong> ich zog meine Bettdecke über denKopf. Als das Stöhnen für einen Augenblick verstummte, bekamich Mut. Ich stand auf <strong>und</strong> schaltete das Licht an.Zuerst sah ich ängstlich atmend unter meinem Bett nach. Alsich dort nichts fand, untersuchte ich den Kleiderschrank. Aberauch da entdeckte ich nichts. Als ich gerade wieder ins Bettgehen wollte, fiel mir ein, dass ich noch nicht hinter denVorhang geguckt hatte. Ich blickte durch den Spalt <strong>und</strong> sah, wiesich die Wäsche im Wäschekorb bewegte. Zuerst wusste ichnicht, was ich davon halten sollte. Vorsichtig nahm ich einenPullover <strong>und</strong> ein Shirt heraus. Und wen sah ich da? Lukas,unseren vier Monate alten H<strong>und</strong>!Schnell brachte ich ihn in sein Körbchen zurück <strong>und</strong> konntenun endlich weiterschlafen.-262-


Der kleine Maulwurf, der nicht schlafenkonnteEs war einmal ein kleiner Maulwurf namens Buddel, der mitseiner Familie unter einer Kuhweide wohnte. Eines Abends, esmuss Vollmond gewesen sein, konnte Buddel nicht einschlafen.Er rollte sich hin <strong>und</strong> her, doch der Schlaf wollte einfach nichtkommen. Da ging Buddel zu seiner Mutter <strong>und</strong> klagte ihr seinLeid. Die Maulwurfmama sagte: »Leg dich hin <strong>und</strong> zähl Schafe,das hilft!« Also ging Buddel Schafe zählen.Fünf Minuten später stand er wieder vor seiner Mutter <strong>und</strong>sagte traurig: »Das funktioniert nicht! Die Schafe springen aufmeine schönen Erdhügel, das kann ich nicht leiden!« Da sagtedie Maulwurfmama: »Nun, gut, ich gebe dir eine Tasse Milch<strong>und</strong> reibe dir einen Apfel klein. Das hilft bestimmt!« Doch auchdas half nicht, denn Buddel hatte nun einen viel zu dickenBauch, um einschlafen zu können.»Vielleicht hilft es, wenn ich dich hinter dem rechten Ohrkraule?« sagte die Mutter. Doch immer wenn sie dachte, Buddelschlafe nun, strahlte er sie an <strong>und</strong> sagte: »Ich bin noch wach,Mama!« Da las sie ihm eine Geschichte vor – <strong>und</strong> noch eine <strong>und</strong>noch eine. Doch auch die <strong>Geschichten</strong> halfen nicht: Buddelkonnte einfach nicht einschlafen! Die Maulwurfmama versuchtees mit einer Kissenschlacht <strong>und</strong> mit Füßekitzeln, mit Kuscheln<strong>und</strong> Wuscheln, doch nichts half. Nicht einmal ein Schlafliedkonnte Buddel müde stimmen. Da sagte die Maulwurfmama:»Buddel, ich glaube, ich muss im großen Maulwurfbuchnachlesen, was man gegen deine Schlaflosigkeit tun kann.«Sie nahm ein Buch, blätterte darin <strong>und</strong> las vor: »Man nehme:einen Löffel Zucker, zwei Stückchen zerriebene Schokolade,etwas Himbeergelee, einen Löffel Schokoladenpudding, eineTasse Kakao, drei Pfirsichscheiben <strong>und</strong> etwas Apfelmus. DasGanze serviere man mit einem großen Glas Zitronenlimonade.-263-


Nun, das werde ich dir jetzt machen, Buddel! Wäre dochgelacht, wenn du dann nicht einschläfst.« Als sie sich umdrehte,hörte sie ein zufriedenes Schnaufen <strong>und</strong> Buddel, der kleineMaulwurf, träumte glücklich von dem großen Festmahl.-264-


Die Prinzessin auf der ErbseVor langer Zeit lebte einmal ein Prinz glücklich mit seinenEltern in einem w<strong>und</strong>erschönen Schloss. Eines Tages sagte seinVater zu ihm: »Ich werde im Laufe der Jahre auch nicht jünger<strong>und</strong> das Regieren fällt mir immer schwerer. Du wirst nach mirsicher ein guter Nachfolger sein, doch ein König braucht aucheine Königin. Also suche dir eine Frau!« Der Prinz beschlossalso, in die Welt zu ziehen <strong>und</strong> sich eine Braut zu suchen. Erwollte aber nur eine echte Prinzessin zur Frau nehmen. Abereine Prinzessin zu finden, die ihm gefiel, war gar nicht soeinfach, wie er geglaubt hatte. Prinzessinnen gab es zwar genugauf der Welt, aber irgendwie stimmte bei jeder irgendetwasnicht <strong>und</strong> sie war dann eben doch keine wirkliche Prinzessin. Sokehrte der Prinz nach einer langen Reise erfolglos wieder nachHause zurück.Eines Abends zog ein schreckliches Unwetter über der Stadtzusammen <strong>und</strong> es blitzte <strong>und</strong> donnerte <strong>und</strong> regnete in Strömen.Da klopfte es plötzlich an das Schlosstor <strong>und</strong> der alte Königging selbst, um auf<strong>zum</strong>achen. Draußen stand eine klitschnassePrinzessin, die vom Wind ganz zerzaust war. Der König ließ sieeintreten <strong>und</strong> bot ihr an ein heißes Bad zu nehmen. Als diePrinzessin dann beim Abendessen an der königlichen Tafel Platznahm, da gefiel sie dem Prinzen so außerordentlich gut, dass ersich gleich in sie verliebte. Doch er zweifelte, ob sie einerichtige Prinzessin sei <strong>und</strong> auch die alte Königin wollte sichganz sicher sein. So holte die alte Königin aus derSpeisekammer eine Erbse <strong>und</strong> legte sie ganz zuunterst in dasBett, in dem die Prinzessin in der Nacht schlafen sollte. Dannlegte sie noch weiche Betten darüber, so dass von der Erbsenichts mehr zu sehen war, Doch als sich die Prinzessin müdevon dem anstrengenden Tag in die Kissen des weichen Betteslegte, da konnte sie einfach keine Ruhe finden. Die Erbse, dieunter all den Decken lag, drückte sie so entsetzlich, dass ihr-265-


Rücken am nächsten Morgen ganz grün <strong>und</strong> blau war. Als diealte Königin davon erfuhr, sprach sie zu ihrem Sohn: »DiesesMädchen kannst du ruhig heiraten, so feinfühlig kann nur einewirkliche Prinzessin sein!« Da war der Prinz überglücklich <strong>und</strong>hielt um die Hand der schönen Prinzessin an. Sie feierten eineprächtige Hochzeit <strong>und</strong> die Erbse liegt noch heute auf einemroten Samtkissen in der Schatzkammer des Schlosses.-266-


SterntalerEs war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Vater <strong>und</strong>Mutter gestorben. Es war so arm, dass es kein Dach mehr überdem Kopf hatte <strong>und</strong> auch nichts mehr anzuziehen hatte, als dieKleider, die es am Leib trug. So wanderte es in die Welt hinaus<strong>und</strong> ein mitleidiger Mensch, dem das kleine Mädchen vonHerzen leid tat, schenkte ihm ein Stück Brot. Als es sowanderte, begegnete ihm ein armer, alter Mann, der sprach:»Ach, gutes Kind, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.«Das kleine Mädchen, das ein gutes Herz hatte, gab dem altenMann sein Brot <strong>und</strong> sagte. »Gott segne es dir <strong>und</strong> beschützedich!« Dann ging es weiter <strong>und</strong> war froh, dass es dem Mannhatte helfen können.Kurze Zeit später begegnete ihm ein kleines Kind, dasschrecklich fror <strong>und</strong> sagte: »Ich friere so entsetzlich <strong>und</strong> meinKöpfchen ist schon ganz kalt. Kannst du mir nicht deine Mützegeben?« Da nahm das Mädchen seine Mütze ab, gab sie demKind <strong>und</strong> ging weiter seines Weges.Nach einer Weile begegnete ihm wieder ein Kind, das hattekein Leibchen an <strong>und</strong> jammerte: »Ich friere so entsetzlich, bittehilf mir doch!« Da gab das Mädchen auch sein Leibchen her <strong>und</strong>schließlich verschenkte es auch noch sein Röckchen. Es wurdeimmer dunkler <strong>und</strong> das Mädchen kam in einen dichten Wald. Dakam noch ein Kind, das bat um ein Hemdlein. Und weil essowieso dunkel war, gab das gute Mädchen auch noch seinHemdlein her <strong>und</strong> stand nun selbst einsam <strong>und</strong> frierend in demfinsteren Wald.Auf einmal aber fielen goldene Sterne vom Himmel <strong>und</strong> alssie auf der Erde ankamen, da waren die Sterne lauter goldeneTaler. Und plötzlich hatte es auch wieder ein Kleidchen an, daswar noch viel feiner <strong>und</strong> schöner als das, welches es verschenkthatte.-267-


Nun sammelte das gutherzige Mädchen glücklich diegoldenen Taler ein <strong>und</strong> hatte ausgesorgt für den Rest seinesLebens.-268-


König DrosselbartEin König hatte eine Tochter, die war w<strong>und</strong>erschön, aber sostolz <strong>und</strong> übermütig, dass sie aus Eigensinn einen Freier nachdem ändern abwies <strong>und</strong> Spott mit ihnen trieb. Der König ließeinmal ein großes Fest anstellen <strong>und</strong> lud dazu alleheiratslustigen Männer ein, die wurden in eine Reihe nach ihremRang <strong>und</strong> Stand geordnet, erst kamen die Könige, dann dieHerzöge, Fürsten, Grafen <strong>und</strong> Barone, zuletzt die Edelleute, dawurde die Königstochter durch die Reihen geführt, aber anjedem hatte sie immer etwas auszusetzen. Besonders machte siesich über einen guten König lustig, der ganz oben stand <strong>und</strong> demdas Kinn krumm gewachsen war, da sagte sie: »Ei, der hat einKinn, wie die Drossel einen Schnabel.« Seit der Zeit bekam erden Namen Drosselbart. Als nun der alte König sah, dass seineTochter nichts tat, als über die Leute zu spotten, erzürnte er so,dass er schwor, sie sollte den erstbesten Bettler nehmen, der vordie Tür käme.Eines Tages fing ein Spielmann an zu singen unter ihremFenster, den hieß der König gleich hereinkommen <strong>und</strong> soschmutzig er war, musste sie ihn als ihren Bräutigamanerkennen, ein Pfarrer wurde alsbald gerufen <strong>und</strong> die Trauungging vor sich. Wie die Trauung vollzogen war, sprach der Königzu seiner Tochter: »Es schickt sich nun nicht weiter, dass du hierim Schloss bleibst, du kannst nur mit deinem Mann fortziehen.«Da zog der Bettelmann mit der Königstochter fort, unterwegskamen sie durch einen großen Wald <strong>und</strong> sie fragte denBettelmann: »Ach, wem gehört der schöne Wald?« – »Dergehört dem König Drosselbart, hättest du ihn genommen, so warer dein!« – »Ich arme Jungfer zart, ach hätt’ ich doch genommenden König Drosselbart!« Darauf kamen sie durch eine Wiese:»Wem gehört wohl die schöne grüne Wiese?« – »Sie gehörtdem König Drosselbart, hättest du ihn genommen, so war sie-269-


dein!« – »Ich arme Jungfer zart, ach hätt’ ich doch genommenden König Drosselbart!« Endlich kamen sie durch eine Stadt:»Wem gehört wohl die schöne große Stadt?« – »Sie gehört demKönig Drosselbart, hättest du ihn genommen, so war sie dein!«»Ich arme Jungfer zart, ach hätt’ ich doch genommen denKönig Drosselbart!«Der Spielmann wurde ganz mürrisch, dass sie sich immereinen ändern Mann wünschte <strong>und</strong> sich gar nichts aus ihmmachte; endlich so kamen sie an ein kleines Häuschen: »AchGott, was für ein Häuselein, wem mag das elende, winzigeHäuschen sein?« Der Bettelmann sagte: »Das Haus ist unserHaus, wo wir wohnen, mach nur gleich Feuer an <strong>und</strong> stellWasser auf, dass du mir mein Essen kochst, ich bin ganz müde.«Die Königstochter aber verstand nichts vom Kochen <strong>und</strong> derMann musste ihr mithelfen, so ging es noch so leidlich <strong>und</strong> wiesie gegessen hatten, legten sie sich ins Bett schlafen. DesMorgens aber musste sie ganz früh aufstehen <strong>und</strong> arbeiten <strong>und</strong>so war’s ein paar Tage schlecht genug, bis der Mann endlichsagte: »Trau, so geht’s nicht länger, dass wir hier zehren <strong>und</strong>nichts verdienen, du sollst Körbe flechten.« Da ging er hinaus<strong>und</strong> schnitt Weiden, sie aber musste anfangen Körbe zu flechten,die harten Weiden stachen ihr aber die Hände w<strong>und</strong>. »Ich sehe,du kannst das nicht,« sagte der Mann, »so spinn lieber, das wirdwohl besser gehen.« Da saß sie <strong>und</strong> spann, aber ihre Fingerwaren so zart, dass der harte Faden ihr bald tief hineinschnitt<strong>und</strong> das Blut daran herunterlief: »Du taugst zu keiner Arbeitrichtig.« sagte der Mann verdrießlich, »Ich will einenTopfhandel anfangen <strong>und</strong> du sollst auf dem Markt die Warefeilhalten <strong>und</strong> verkaufen.«Das erste Mal ging’s gut, die Leute kauften der schönen Fraugern Töpfe ab <strong>und</strong> bezahlten, was sie forderte, ja viele bezahlten<strong>und</strong> ließen ihr die Töpfe noch dazu. Wie nun alles verkauft war,handelte der Mann eine Menge neues Geschirr ein <strong>und</strong> sie saßwieder damit auf dem Markt <strong>und</strong> hoffte auf guten Gewinn, da-270-


kam ein betrunkener Husar dahergeritten, mitten in die Töpfehinein, so dass sie in tausend Scherben sprangen. Da fürchtetesich die Frau <strong>und</strong> getraute sich den ganzen Tag nichtheimzugehen <strong>und</strong> als sie nun endlich nach Hause ging, war derBettelmann auf <strong>und</strong> davon.So lebte sie einige Zeit ganz armselig <strong>und</strong> in großerDürftigkeit, da kam ein Mann <strong>und</strong> lud sie zu einer Hochzeit, siewollte sich allerlei von dem Überfluss mitbringen <strong>und</strong> eineZeitlang davon leben, sie tat also ihr Mäntelchen um <strong>und</strong> nahmeinen Topf darunter <strong>und</strong> steckte eine große lederne Tasche an.Auf der Hochzeit aber war alles prächtig <strong>und</strong> vollauf, ihren Topffüllte sie mit Suppe <strong>und</strong> ihre Tasche mit Brocken. Sie wollte n<strong>und</strong>amit fortgehen, aber einer von en Gästen verlangte, sie sollemit ihm tanzen, sie sträubte sich aus allen Kräften, das half abernichts, er fasste sie an <strong>und</strong> sie musste mit fort. Da fiel nun gleichder Topf, dass die Suppe auf die Erde floss <strong>und</strong> die vielenBrocken sprangen aus der Tasche. Als das die Gäste sahen,entstand ein allgemeines Gelächter <strong>und</strong> Spotten; sie war sobeschämt, dass sie sich lieber tausend Meter unter die Erdegewünscht hätte <strong>und</strong> sprang zur Türe <strong>und</strong> wollte entfliehen. Aufder Treppe aber holte sie ein Mann ein <strong>und</strong> führte sie zurück <strong>und</strong>wie sie ihn ansah, da war das der König Drosselbart, der sprach:»Ich <strong>und</strong> der Bettelmann sind eins <strong>und</strong> ich bin auch der Husargewesen, der dir die Töpfe entzweigeritten hat; <strong>und</strong> das alles istnur dir zur Besserung <strong>und</strong> zur Strafe geschehen, weil du michdamals verspottet hast, jetzt aber soll unsere Hochzeit gefeiertwerden.«Da kamen auch ihr Vater <strong>und</strong> der ganze Hof <strong>und</strong> sie wurdeprächtig geputzt nach ihrem Stand <strong>und</strong> das Fest war ihreVermählung mit dem König Drosselbart.-271-


Die weiße TaubeVor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, dertrug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren,wurden sie in einer Nacht alle geholt <strong>und</strong> kein Mensch wusste,wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davonwurde der jüngste für einfältig gehalten <strong>und</strong> hieß der Dümmling;da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unterdem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde.Der tat das auch <strong>und</strong> wachte alle Nacht, der Baum blühte <strong>und</strong>war ganz voll von Früchten <strong>und</strong> wie sie anfingen reif zu werden,wachte er noch fleißiger <strong>und</strong> endlich waren sie ganz reif <strong>und</strong>sollten am ändern Tage abgebrochen werden. In dieser letztenNacht aber überfiel ihn ein Schlaf <strong>und</strong> er schlief ein <strong>und</strong> als eraufwachte, waren alle Früchte fort <strong>und</strong> nur die Blätter nochübrig.Da befahl der König dem zweiten Sohn ein Jahr zu wachen,dem ging es nicht besser, als dem ersten. In der letzten Nachtkonnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren <strong>und</strong> am Morgenwaren die Birnen alle abgebrochen. Endlich befahl der Königdem Dümmling ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die andes Königs Hof waren. Der Dümmling aber wachte <strong>und</strong> in derletzten Nacht wehrte er den Schlaf ab, da sah er, wie eine weißeTaube geflogen kam, eine Birne nach der ändern abpickte <strong>und</strong>forttrug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand derDümmling auf <strong>und</strong> ging ihr nach; die Taube flog aber auf einenhohen Berg <strong>und</strong> verschwand auf einmal in einem Felsenritz. DerDümmling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchenneben ihm, zu dem sprach er: »Gott segne dich!« – »Gott hatmich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte,«antwortete das Männchen, »denn sie haben mich erlöst, steig duin den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.«Der Dümmling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn-272-


hinunter <strong>und</strong> wie er unten hin kam, sah er die weiße Taube ganzvon Spinnweben umstrickt <strong>und</strong> zugewebt. Wie sie ihn abererblickte, brach sie hindurch <strong>und</strong> als sie den letzten Fadenzerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er aucherlöst <strong>und</strong> sie wurde seine Gemahlin <strong>und</strong> er ein reicher König<strong>und</strong> regierte sein Land mit Weisheit.-273-


Die Prinzessin in der HöhleEs war einmal ein König, der hatte nur eine einzige Tochter.Die Prinzessin war w<strong>und</strong>erschön <strong>und</strong> von fre<strong>und</strong>lichem Wesen<strong>und</strong> jeder, der sie sah, schloss sie gleich in sein Herz. Als diePrinzessin nun erwachsen war, da fanden sich viele Prinzen ein,die um die Hand der Königstochter anhielten. Unter ihnen warauch ein Prinz aus einem anderen Königreich <strong>und</strong> mit demverstand sich die Prinzessin so gut, dass die beiden schließlichunzertrennlich waren.Nun geschah es aber, dass in dem Königreich ein Kriegausbrach <strong>und</strong> der Feind mit einem großen Heer in das Landeinfiel. Da der König eine Niederlage fürchtete, ließ er seineTochter in einer Erdhöhle im Wald verstecken, um sie dort fürdie Dauer des Krieges zu schützen. Er gab ihr ausreichendLebensmittel mit <strong>und</strong> ein Mädchen <strong>und</strong> ein H<strong>und</strong> leisteten ihrGesellschaft. Auch einen Hahn schickte er mit in die Höhle, dersollte ihnen den Wechsel von Tag <strong>und</strong> Nacht anzeigen. Nun zogder König mit dem jungen Prinzen in den Krieg, doch bevor sichdie Prinzessin von ihrem Geliebten trennte, sprach sie: »Ichfürchte, wir werden uns so leicht nicht wiederfinden. Versprichmir, dass du dich mit keiner anderen vermählst, die nicht dieFlecken aus diesem Handtuch waschen <strong>und</strong> dieses Goldgewebezu Ende weben kann.« Sie gab dem Prinzen das Handtuch <strong>und</strong>das Gewebe <strong>und</strong> er versprach, ihre Worte nie zu vergessen.Dann zog er fort, um das Königreich gegen den Feind zuverteidigen. Doch das Glück meinte es nicht gut mit dem König<strong>und</strong> sein Heer erlitt eine Niederlage nach der anderen.Schließlich fiel der alte König im Kampf <strong>und</strong> der junge Prinzmusste in sein eigenes Reich zurückkehren. Darauf zogen dieFeinde über das eroberte Land, verwüsteten <strong>und</strong> mordeten, wosie nur konnten <strong>und</strong> schließlich wusste niemand mehr, wo sichdie Prinzessin befand <strong>und</strong> ob sie noch lebte.-274-


Die beiden Jungfrauen aber lebten sieben Jahre in derErdhöhle <strong>und</strong> nun wurden ihnen die Nahrungsmittel knapp. Siebeschlossen, den Hahn zu schlachten, doch von diesem Tag anwussten sie nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Schließlichstarb das junge Mädchen, das der Prinzessin Gesellschaftgeleistet hatte <strong>und</strong> die Königstochter war nun in der dunklenHöhle allein. Schließlich nahm sie ein Messer <strong>und</strong> bohrte ohneUnterlass in dem Dach, bis sie schließlich eine Öffnungzustande brachte, durch die sie aus der Erdhöhle gelangte. Siezog die Kleider des Mädchens an, rief den H<strong>und</strong> <strong>und</strong> wandertedurch den Wald.Nach langer Zeit kam sie zu einem alten Mann, der Kohlen imWald brannte. Sie bat ihn, sie in seine Dienste zu nehmen <strong>und</strong>ihr etwas zu essen zu geben. Der alte Mann tat ihr den Gefallen<strong>und</strong> während die Prinzessin nun die Kohlen brannte, da erzählteer ihr, dass der alte König im Kampf gefallen war. DieKönigstochter war sehr betrübt <strong>und</strong> nach ein paar Tagen riet ihrder Köhler, sie solle doch versuchen, sich einen Dienst amKönigshof zu suchen.So machte sie sich auf den Weg <strong>und</strong> kam einen See, der sogroß war, dass sie nicht wusste, wie sie hinüberkommen sollte.Da sprang plötzlich ein Wolf aus dem Gebüsch <strong>und</strong> sagte: »Gibmir deinen H<strong>und</strong>, dann bringe ich dich heil über das Wasser!«Die Prinzessin wagte nicht, dem Wolf sein Begehrenabzuschlagen <strong>und</strong> dieser fraß den H<strong>und</strong> in einem Nu. Dann hießer die Prinzessin, auf seinen Rücken zu klettern <strong>und</strong> schwammmit ihr über den See. Am anderen Ufer aber war ein prächtigerKönigshof, in dem der junge Prinz regierte, der sich in früherenTagen mit der Prinzessin verlobt hatte. Nachdem der jungeKönig sieben Jahre vergeblich auf seine frühere Braut gewartethatte, war es nun an der Zeit, eine neue Braut zu finden. So ließer bekannt geben, dass diejenige Königin werden sollte, die dasGoldgewebe der Prinzessin vollenden <strong>und</strong> die Flecken aus demHandtuch waschen könne. Da kamen viele Jungfrauen aus allen-275-


Teilen des Landes, doch keine konnte die gestellte Aufgabelösen. Die Prinzessin aber war unterdessen in den Dienst einerreichen Jungfrau eingetreten, die ebenfalls auf dem Weg zu demKönigshof war, um die Aufgabe zu lösen.So kamen die beiden Frauen am Königshof an <strong>und</strong> dievornehme Jungfrau sollte das Goldgewebe des Königsvollenden. Doch wie sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht.Eines Tages aber setzte sich die Prinzessin daran <strong>und</strong> webte eingutes Stück daran. Das sah die Jungfrau <strong>und</strong> hieß ihre Dienerinnun, das Gewebe zu vollenden. Niemand am Königshof aberwusste, dass nicht die vornehme Frau, sondern ihre Dienerin dasGewebe vollendet hatte. Der König wollte nun einmal sehen,wie die Frau an dem Gewebe arbeitete, doch immer wenn erkam, stand der Webstuhl still <strong>und</strong> die Jungfrau sagte ihm, siekönne nicht arbeiten, wenn er ihr zuschaue. Der König gab sichdamit zufrieden <strong>und</strong> die erste Aufgabe galt als gelöst.Nun sollte die Jungfrau die Flecken aus dem Handtuchwaschen, doch je mehr sie wusch, desto dunkler wurde dasTuch. Da nahm die verkleidete Prinzessin das Tuch, wusch es<strong>und</strong> die Flecken wurden sogleich schwächer. Die Jungfrau hießalso ihre Dienerin, auch das Handtuch für sie zu waschen, DerKönig aber ging oft in das Frauengemach, um zu sehen, wie esmit dem Tuch stehe, doch immer wenn er kam, stand die Arbeitstill <strong>und</strong> dem König kam das seltsam vor. Er fragte die Fraualso, warum sie nie wasche, wenn er da sei <strong>und</strong> die antwortetelistig: »Herr, ich kann das Tuch nicht waschen, wenn ichGoldringe am Finger habe.« Das sah der König ein <strong>und</strong> esdauerte nicht lange, da waren die Flecken aus dem Handtuchgewaschen <strong>und</strong> die fremde Jungfrau hatte alle Bedingungen desKönigs erfüllt.Nun herrschte große Freude im Land <strong>und</strong> die Hochzeit wurdeverkündet. Doch am Hochzeitstag erkrankte die Braut plötzlich<strong>und</strong> konnte nicht mit den übrigen Gästen in die Kirche reiten.Da sie nun aber niemand die Ursache ihrer Krankheit wissen-276-


lassen wollte, bat sie ihre Dienerin, statt ihrer als Braut in dieKirche zu reiten. Die verkleidete Prinzessin willigte ein, hülltesich in das Brautgewand <strong>und</strong> schmückte sich mit goldenenRingen, Niemand aber wusste, dass die Dienerin statt der Herrinzur Hochzeit kam. Nun fand die Trauung statt <strong>und</strong> als die Ringegewechselt waren, nahm der König einen Silbergürtel <strong>und</strong> legteihn kunstvoll um den Leib der jungen Königin. Dann zogen sie<strong>zum</strong> Königshof <strong>und</strong> die Hochzeit wurde mit großer Prachtgefeiert. Die Prinzessin aber eilte zu ihrer Herrin, tauschte mitihr die Kleider <strong>und</strong> niemand hatte etwas von der Verwechslunggemerkt.Als nun aber der König <strong>und</strong> die Königin am Abend alleinwaren <strong>und</strong> zu Bett gehen wollten, da sprach der König: »Sag,wo hast du denn den Gürtel, den ich dir vor der Kirche gab?«Die Braut aber wusste nichts von dem Gürtel <strong>und</strong> sagteschließlich verlegen: »Den habe ich meiner Dienerin gegeben.«Da wusste der König, dass sie log <strong>und</strong> ließ die Dienerin zu sichbringen, Und tatsächlich trug das Mädchen den Gürtel <strong>und</strong> dasSchloss war so kunstvoll, dass niemand als der König es öffnenkonnte. Der König erkannte nun in dem Mädchen seine rechteBraut <strong>und</strong> die Hochzeitsgäste freuten sich mit dem glücklichenPaar, das sich nach so vielen Jahren wieder gef<strong>und</strong>en hatte.-277-


Kapitel 15Zaubergeschichten-278-


Der vergessliche ZaubererVor langer Zeit lebte einmal ein Zauberer, der ganz furchtbarvergesslich war. Wenn er morgens aufstand, vergaß er zufrühstücken, wenn er Durst hatte, vergaß er, vor dem Trinkenetwas in den Becher zu gießen, wenn er müde war, vergaß ersich vor dem Schlafen ins Bett zu legen <strong>und</strong> wenn er schlief,vergaß er zu träumen.Es wurde von Tag zu Tag schlimmer mit der Vergesslichkeitdes Zauberers <strong>und</strong> einmal hätte er sogar fast vergessen, dass erein Zauberer war. So beschloss er eines Tages, ein Mittel gegendie Vergesslichkeit zu erfinden. Zunächst aber musste er seinenZauberstab suchen, weil er natürlich vergessen hatte, wo er ihnam Abend vorher hingelegt hatte. Als er ihn schließlichgef<strong>und</strong>en hatte, da fehlte das große Zauberbuch. Der Zauberersuchte <strong>und</strong> suchte <strong>und</strong> suchte. Schließlich fand er es imBackofen, den er, dem Himmel sei Dank, vergessen hatteanzustellen. Als er nach zwei Tagen endlich alleszusammengesucht hatte, da hatte er doch glatt vergessen, was ereigentlich zaubern wollte.Und deshalb gibt es bis <strong>zum</strong> heutigen Tage immer noch keinMittel gegen Vergesslichkeit.-279-


Der ZauberbergEs waren einmal zwei Brüder, der eine war reich, der anderearm. Der Reiche aber gab dem Armen nichts <strong>und</strong> er musste sichvom Kornhandel kümmerlich ernähren. Da ging es ihm oft soschlecht, dass er für seine Frau <strong>und</strong> Kinder kein Brot hatte.Einmal fuhr er mit seinem Karren durch den Wald <strong>und</strong> sah zurSeite einen großen kahlen Berg. Und weil er den noch niegesehen hatte, w<strong>und</strong>erte er sich, hielt still <strong>und</strong> betrachtete ihn.Wie er so stand, kamen zwölf Riesen <strong>und</strong> weil er glaubte, esseien Räuber, schob er seinen Karren ins Gebüsch <strong>und</strong> stieg aufeinen Baum. Dort wartete er ab, was geschehen würde.Die Riesen gingen vor den Berg <strong>und</strong> riefen: »Watzmann, tudich auf!« Alsbald öffnete sich der Berg in der Mitte, die zwölfRiesen gingen hinein <strong>und</strong> der Berg schloss sich wieder hinterihnen. Nach kurzer Zeit öffnete sich der Berg erneut <strong>und</strong> dieRiesen kamen, mit schweren Säcken beladen, wieder heraus. Alssie wieder im Freien waren sprachen sie: »Watzmann, tu dichzu!« Der Berg fuhr wieder zusammen <strong>und</strong> die zwölf Riesengingen fort.Als sie verschw<strong>und</strong>en waren, stieg der Arme vom Baumherunter <strong>und</strong> weil er neugierig war, was wohl im Berg verborgenwar, ging er davor <strong>und</strong> sprach: »Watzmann, tu dich auf!« Undder Berg öffnete sich. Der Arme trat hinein <strong>und</strong> sah eine Höhlevoll Silber <strong>und</strong> Gold <strong>und</strong> Perlen <strong>und</strong> Edelsteine wie Kornaufgeschüttet. Der Arme wusste nicht, was er tun sollte <strong>und</strong> ober sich von den Schätzen nehmen dürfte. Er packte schließlichdie Taschen mit Gold, Edelsteine <strong>und</strong> Perlen aber ließ er liegen.Er verließ den Berg <strong>und</strong> sprach: »Watzmann, tu dich zu!« DerBerg schloss sich <strong>und</strong> der Mann fuhr mit seinem Karren nachHause. Nun hatte er keine Sorgen mehr <strong>und</strong> konnte mit seinemGold für seine Frau <strong>und</strong> Kinder Brot <strong>und</strong> Wein kaufen. DerMann lebte fröhlich <strong>und</strong> redlich, gab den Armen <strong>und</strong> tat-280-


jedermann Gutes. Als das Gold aufgebraucht war, ging er zuseinem Bruder, lieh sich einen kleinen Karren <strong>und</strong> holte sicherneut von dem Gold. Die großen Schätze jedoch rührte er nichtan. Auch beim dritten Male borgte er sich bei seinem Brudereinen kleinen Karren. Der Reiche war jedoch schon langeneidisch über das Vermögen <strong>und</strong> den Haushalt seines Bruders<strong>und</strong> konnte nicht begreifen, woher der Reichtum kam <strong>und</strong> wozuder Bruder den Karren brauchte. Er dachte sich eine List aus,bestrich den Boden mit Pech <strong>und</strong> als er ihn wieder bekam, warein Goldstück darin hängen geblieben. Bald darauf ging er zuseinem Bruder <strong>und</strong> fragte ihn: »Was hast du mit dem Karrengefahren?«»Korn <strong>und</strong> Gerste«, sagte der andere. Daraufhin holte seinBruder das Goldstück hervor <strong>und</strong> drohte, wenn er ihm nicht dieWahrheit sage, so wolle er ihn vor Gericht bringen. Nun erzählteder andere alles <strong>und</strong> der Reiche ließ sofort den Wagenanspannen, um sich die anderen Schätze zu holen. Als er vor denBerg kam rief er: »Watzmann, tu dich auf!« Der Berg öffnetesich <strong>und</strong> der Reiche ging hinein. Er sah die Reichtümer in derHöhle <strong>und</strong> wusste lange nicht, wozu er zuerst greifen sollte.Endlich lud er so viele Edelsteine auf, wie er tragen konnte <strong>und</strong>wollte sie hinausbringen. Weil aber sein Herz <strong>und</strong> Sinn voll vonden Schätzen waren, hatte er den Namen des Berges vergessen<strong>und</strong> rief, weil der Berg so kahl war: »Kahlkopf, tu dich auf!«Das war aber nicht der rechte Name <strong>und</strong> der Berg blieb natürlichverschlossen. Dem Reichen wurde Angst, doch je länger erüberlegte, um so mehr verwirrten sich seine Gedanken.Am Abend öffnete sich der Berg <strong>und</strong> die zwölf Riesen kamenherein. Als sie den Reichen in der Höhle sahen, waren sie froh<strong>und</strong> riefen: »Vogel, haben wir dich endlich. Meinst du, wirhätten nicht gemerkt, dass du schon zweimal hier warst. Wirkonnten dich nicht fangen, aber nun kommst du nicht mehrheraus.« Der Reiche rief: »Ich war’s nicht. Mein Bruder war’s!«Aber es half alles nichts, er musste ein ganzes Jahr lang für die-281-


Riesen arbeiten <strong>und</strong> ihre Edelsteine polieren.-282-


Der verzauberte PrinzEs ging einmal ein Mädchen durch einen großen Wald, dakam ein Schwan auf es zugegangen, der hatte ein Knäuel Garn<strong>und</strong> sprach zu ihm: »Ich bin kein Schwan, sondern einverzauberter Prinz, aber du kannst mich erlösen, wenn du dasKnäuel Garn abwickelst, an dem ich fortfliege; doch hüte dich,dass du den Faden nicht zerreißt, sonst komm ich nicht bis inmein Königreich <strong>und</strong> werde nicht erlöst; wickelst du aber dasKnäuel ganz ab, dann bist du meine Braut.« Das Mädchen nahmdas Knäuel <strong>und</strong> der Schwan stieg auf in die Luft <strong>und</strong> das Garnwickelte sich leichtlich ab. Es wickelte <strong>und</strong> wickelte den ganzenTag <strong>und</strong> am Abend war schon das Ende des Fadens zu sehen, dablieb er unglücklicherweise an einem Dornstrauch hängen <strong>und</strong>brach ab. Das Mädchen war sehr betrübt <strong>und</strong> weinte, es wollt’auch Nacht werden, der Wind ging so laut in dem Wald, dassihm Angst wurde <strong>und</strong> es anfing zu laufen, was es nur konnte.Und als es lang gelaufen war, sah es ein kleines Licht, daraufeilte es zu <strong>und</strong> fand ein Haus <strong>und</strong> klopfte an.Ein altes Mütterchen kam heraus, das verw<strong>und</strong>erte sich, wiees sah, dass ein Mädchen vor der Türe war: »Ei mein Kind, wokommst du so spät her?« – »Gebt mir doch heut Nacht eineHerberge,« sprach es, »ich habe mich im Wald verirrt; auch einwenig Brot zu essen.« – »Das ist ein schweres Ding,« sagte dieAlte, »ich gab’s dir gern, aber mein Mann ist einMenschenfresser, wenn der dich findet, so frisst er dich auf, daist keine Gnade; doch wenn du draußen bleibst, fressen dich diewilden Tiere, ich will sehen, ob ich dir helfen kann.« Da ließ siees herein <strong>und</strong> gab ihm ein wenig Brot zu essen <strong>und</strong> versteckte esdann unter dem Bett. Der Menschenfresser aber kam allemal vorMitternacht, wenn die Sonne ganz untergegangen ist, nach Haus<strong>und</strong> ging morgens, ehe sie aufsteigt, wieder fort. Es dauertenicht lange, so kam er herein: »Ich wittre, ich wittreMenschenfleisch!« sprach er <strong>und</strong> suchte in der Stube, endlich-283-


griff er auch unter das Bett <strong>und</strong> zog das Mädchen hervor: »Dasist noch ein guter Bissen!« Die Frau aber bat <strong>und</strong> bat, bis erversprach, es die Nacht über noch leben zu lassen <strong>und</strong> morgenerst <strong>zum</strong> Frühstück zu essen. Vor Sonnenaufgang aber wecktedie Alte das Mädchen: »Eil dich, dass du fortkommst, eh meinMann aufwacht, da schenk ich dir ein golden Spinnrädchen, dashalt in Ehren. Ich heiße Sonne.«Das Mädchen ging fort <strong>und</strong> kam abends an ein Haus, da waralles, wie am vorigen Abend <strong>und</strong> die zweite Alte gab ihm beimAbschied eine goldene Spindel <strong>und</strong> sprach: »Ich heiße Mond.«Und am dritten Abend kam es an ein drittes Haus, da schenkteihm die Alte einen goldenen Haspel <strong>und</strong> sagte: »Ich heiße Stern<strong>und</strong> der Prinz Schwan, obgleich der Faden noch nicht ganzabgewickelt war, war schon so weit, dass er in sein Reichgelangen konnte, dort ist er König <strong>und</strong> hat sich schon verheiratet<strong>und</strong> wohnt in großer Herrlichkeit auf dem Glasberg; du wirstheute abend hinkommen, aber ein Drache <strong>und</strong> ein Löwe liegendavor <strong>und</strong> bewahren ihn, darum nimm das Brot <strong>und</strong> den Speck<strong>und</strong> besänftige sie damit.« So geschah es dann auch.Das Mädchen warf den Ungeheuern das Brot <strong>und</strong> den Speckin den Rachen, da ließen sie es durch <strong>und</strong> es kam bis an dasSchlosstor, aber in das Schloss selber ließen es die Wächternicht hinein. Da setzte es sich vor das Tor <strong>und</strong> fing an aufseinem goldenen Rädchen zu spinnen; die Königin sah von obenzu, ihr gefiel das schöne Rädchen <strong>und</strong> sie kam herunter <strong>und</strong>wollte es haben. Das Mädchen sagte, die Königin solle es haben,wenn sie erlauben wollte, dass es eine Nacht neben demSchlafzimmer des Königs zubrächte. Die Königin sagte es zu<strong>und</strong> das Mädchen wurde hinaufgeführt, was aber in der Stubegesprochen wurde, das konnte man alles in dem Schlafzimmerhören. Wie es nun Nacht wurde <strong>und</strong> der König im Bett lag, sangdas Mädchen:»Denkt der König Schwan noch an seine versprochene BrautJulian? Die ist gegangen durch Sonne, Mond <strong>und</strong> Stern, durch-284-


Löwen <strong>und</strong> durch Drachen: will der König Schwan denn garnicht erwachen?«Aber der König hörte es nicht, denn die listige Königin hattesich vor dem Mädchen gefürchtet <strong>und</strong> ihm einen Schlaftrunkgegeben, da schlief er so fest <strong>und</strong> hätte das Mädchen nichtgehört <strong>und</strong> wenn es vor ihm gestanden wäre. Am Morgen waralles verloren <strong>und</strong> es musste wieder vor das Tor, da setzte essich hin <strong>und</strong> spann mit seiner Spindel, die gefiel der Königinauch <strong>und</strong> es gab sie unter derselben Bedingung weg, dass es eineNacht neben des Königs Schlafzimmer zubringen dürfe. Da sanges wieder:»Denkt der König Schwan nicht an seine versprochene BrautJulian? Die ist gegangen durch Sonne, Mond <strong>und</strong> Stern, durchLöwen <strong>und</strong> durch Drachen: will der König Schwan denn garnicht erwachen?«Der König aber schlief wieder fest von einem Schlaftrunk <strong>und</strong>das Mädchen hatte auch seine Spindel verloren. Da setzte es sicham dritten Morgen mit seinem goldenen Haspel vor das Tor <strong>und</strong>haspelte, Die Königin wollte auch die Kostbarkeit haben <strong>und</strong>versprach dem Mädchen, es sollte dafür noch eine Nacht nebendem Schlafzimmer bleiben. Es hatte aber den Betrug gemerkt<strong>und</strong> bat den Diener des Königs, er möge diesem heut abend wasanderes zu trinken geben. Da sang es noch einmal:»Denkt der König Schwan nicht an seine versprochene BrautJulian? Die ist gegangen durch Sonne, Mond <strong>und</strong> Stern, durchLöwen <strong>und</strong> durch Drachen: will der König Schwan denn garnicht erwachen?«Da erwachte der König, wie er ihre Stimme hörte, erkanntesie <strong>und</strong> fragte die Königin: »Wenn man einen Schlüssel verlorenhat <strong>und</strong> ihn wiederfindet, behält man dann den alten oder denneu gemachten?« Die Königin sagte:»Ganz gewiss den alten.« – »Nun, dann kannst du meineGemahlin nicht länger sein, ich habe meine erste Braut wieder-285-


gef<strong>und</strong>en.« Da musste am ändern Morgen die Königin wieder zuihrem Vater wieder <strong>und</strong> der König vermählte sich mit seinerrechten Braut <strong>und</strong> sie lebten so lang vergnügt, bis sie gestorbensind.-286-


Der Zauberer <strong>und</strong> das kluge MädchenEs war einmal ein Zauberer, der stand mitten in einer großenMenschenmenge <strong>und</strong> vollbrachte W<strong>und</strong>erdinge. Da ließ er aucheinen Hahn einherschreiten, der hob einen schweren Balken <strong>und</strong>trug ihn, als wäre er federleicht.Nun war da aber ein Mädchen, das hatte eben einvierblättriges Kleeblatt gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> war dadurch kluggeworden, so dass kein Blendwerk vor ihm bestehen konnte. Essah, dass der Balken nichts anderes war als ein Strohhalm. Darief es: »Ei, ihr Leute seht ihr nicht, das ist bloß ein Strohhalm<strong>und</strong> kein Balken, was der Hahn da trägt.« Alsbald verschwandder Zauber, <strong>und</strong> die Leute sahen, was es war <strong>und</strong> jagten denHexenmeister mit Schimpf <strong>und</strong> Schande fort. Der aber sprachvoll Zorn innerlich: »Ich will mich schon rächen!«Nach einiger Zeit hielt das Mädchen Hochzeit, <strong>und</strong> ging ineinem großen Zug über das Feld nach dem Ort, wo die Kirchestand. Auf einmal kamen sie an einen stark angeschwollenenBach, über den weder eine Brücke noch ein Steg führte. Da wardie Braut flink, hob ihre Kleider auf <strong>und</strong> wollte durchwaten.Wie sie nun eben im Wasser so steht, ruft ein Mann neben ihr –<strong>und</strong> das war der Zauberer – ganz spöttisch: »Ei, wo hast dudeine Augen, dass du das für ein Wasser hältst.« Da gingen ihrdie Augen auf <strong>und</strong> sie sah, dass sei mit ihren aufgehobenenKleidern mitten in einem blau blühenden Flachsfeld stand. Dasahen es auch alle anderen <strong>und</strong> jagten sie mit Schimpf <strong>und</strong>Gelächter fort.-287-


Die sechs DienerEs war einmal eine alte Königin, die war aber eine Zauberin<strong>und</strong> hatte die allerschönste Tochter unter der Sonne, wenn aberein Freier kam, so gab sie ihm etwas zu lösen auf <strong>und</strong> konnte eres nicht herausbringen, so gab es keine Gnade, er mussteniederknien <strong>und</strong> der Kopf wurde ihm abgeschlagen. Bald nungeschah es, dass ein Königssohn um sie werben wollte, aber seinVater ließ es nicht zu <strong>und</strong> sprach: »Nein, gehst du hin, sokommst du nicht wieder zurück.« Da legte sich der Prinz nieder<strong>und</strong> wurde sterbenskrank sieben Jahre lang. Weil nun der Vatersah, dass er doch verloren wäre, sprach er: »Zieh hin, vielleichtbist du glücklich!« Alsbald war er ges<strong>und</strong>, stand auf von seinemLager <strong>und</strong> machte sich auf den Weg.Nun musste er auch durch einen Wald, darin sah er einenMann auf der Erde liegen, der war gewaltig dick <strong>und</strong> ordentlichein kleiner Berg. Der Mann rief ihn aber an <strong>und</strong> fragte, ob er ihnwollte <strong>zum</strong> Diener haben. Der Prinz sprach: »Was soll ich mitso einem dicken Mann anfangen? Wie bist du nur so dickgeworden?«»Oh, das ist noch gar nichts, wenn ich mich recht auseinandertue, bin ich noch dreitausendmal so dick!«»Da komm mit mir«, sagte der Prinz. Die zwei gingen weiter<strong>und</strong> fanden einen anderen, der lag auf der Erde <strong>und</strong> hatte dasOhr auf den Rasen gelegt. »Was machst du da?« sprach derPrinz. »Ei! Ich horche, denn ich kann das Gras wachsen hören<strong>und</strong> alles, was sich in der Welt zuträgt <strong>und</strong> darum werde ich derHorcher genannt.«»Sag mir, was geschieht eben an der alten Zauberin Hof?«»Es wird einem Freier der Kopf abgeschlagen, ich hör dasSchwert sausen.«»Komm mit mir«, sprach der Prinz <strong>und</strong> sie zogen zu dritt-288-


weiter. Da fanden sie einen, der lag da <strong>und</strong> war ganz lang, sodass sie eine gute Strecke gehen mussten, bis sie von seinenFüßen bis <strong>zum</strong> Kopf kamen. »Warum bist du so lang?« fragteder Prinz. »Oh«, sagte er, »wenn ich mich ausstrecke, so bin ichnoch dreitausendmal so lang <strong>und</strong> größer als der höchste Berg aufErden.«»Komm mit mir«, sprach der Prinz. Da gingen die vier weiter<strong>und</strong> fanden einen, der saß da mit verb<strong>und</strong>enen Augen. Der Prinzfragte: »Warum hast du ein Tuch vor den Augen?«»Ei«, sprach er, »was ich mit meinen Augen ansehe, dasspringt voneinander, darum darf ich sie nicht offen lassen.«»Komm mit mir«, sagte der Prinz. Da gingen die fünf weiter<strong>und</strong> fanden einen, der lag mitten im heißen Sonnenschein <strong>und</strong>fror <strong>und</strong> zitterte am ganzen Leib so dass ihm kein Glied stillstand. Der Prinz fragte: »Wie frierst du so im Sonnenschein?«»Ach«, sprach der Mann, »je heißer es ist, desto mehr friereich <strong>und</strong> je kälter es ist, desto heißer wird mir <strong>und</strong> mitten im Eiskann ich’s vor Hitze <strong>und</strong> mitten im Feuer vor Kälte nichtausholten.«»Komm mit mir«, sprach der Prinz. Da gingen die sechsweiter <strong>und</strong> fanden einen Mann, der stand da <strong>und</strong> schaute sich umüber alle Berge hinaus. »Wonach schaust du?« fragte er Prinz.Da sprach er: »Ich habe so helle Augen, dass ich damit weit überBerge <strong>und</strong> Wälder <strong>und</strong> durch die ganze Welt hinaus sehenkann.«»Komm mit mir«, sagte der Prinz, »so einer fehlt mir noch!«Nun zogen die sieben in die Stadt ein, wo die schöne <strong>und</strong>gefährliche Jungfrau lebte. Der Prinz aber ging vor die alteZauberin <strong>und</strong> sprach, er wollte um ihre Tochter werben. »Ja«,sagte sie, »dreimal will ich dir eine Aufgabe stellen, lösest dujede, so ist die Prinzessin dein. Die erste Aufgabe ist, dass dumir einen Ring wiederbringst, den ich ins rote Meer habe fallenlassen.« Der Prinz sagte: »Die Aufgabe will ich lösen.« <strong>und</strong> rief-289-


seinen Diener mit den hellen Augen <strong>und</strong> der schaute ins Meerbis auf den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> sah den Ring da neben einem Steinliegen. Danach kam der Dicke, der setzte seinen M<strong>und</strong> ans Meer<strong>und</strong> ließ die Wellen hineinlaufen <strong>und</strong> trank es aus, dass estrocken wurde wie eine Wiese. Da bückte sich der Lange nur einwenig <strong>und</strong> holte den Ring mit der Hand heraus. Der Prinz aberbrachte ihn der Alten. Die sprach mit Verw<strong>und</strong>erung: »Ja, dasist der rechte Ring. Eine Aufgabe hast du gelöst, aber nunkommt die zweite. Siehst du dort auf der Wiese vor meinemSchloss, da weiden dreih<strong>und</strong>ert fette Ochsen, Die musst du mitHaut <strong>und</strong> Haar, Knochen <strong>und</strong> Hörnern verzehren <strong>und</strong> darfstnicht mehr als einen einzigen Gast dazu einladen <strong>und</strong> unten imKeller, da liegend dreih<strong>und</strong>ert Fässer Wein, die musst du dabeiaustrinken <strong>und</strong> bleibt ein Tropfen übrig, so ist mir dein Lebenverfallen.« Der Prinz sprach: »Das will ich vollbringen.« <strong>und</strong>setzte den Dicken als seinen Gast zu sich, der aß die dreih<strong>und</strong>ertOchsen auf, so dass kein Haar übrig blieb <strong>und</strong> trank den Weindazu gleich aus den Fässern selber, ohne dass er ein Glas nötighatte.Als die alte Zauberin das sah, staunte sie <strong>und</strong> sprach <strong>zum</strong>Prinzen: »So weit hat’s keiner gebracht, aber es ist noch diedritte Aufgabe nötig.« <strong>und</strong> dachte, ich will dich schon berücken.»Heut abend bring ich dir die Jungfrau auf die Kammer <strong>und</strong> indeinen Arm, da sollt ihr beisammen sitzen, aber hüte dich vordem Einschlafen. Ich komme Schlag zwölf Uhr <strong>und</strong> ist sie dannnicht mehr in deinen Armen, so hast du verloren.« Der Prinzdachte: »Das ist so schwer nicht, ich will wohl meine Augennicht zutun.« Doch Vorsicht ist immer gut <strong>und</strong> als die schöneJungfrau abends zu ihm geführt wurde, hieß er alle seine Dienerhereinkommen <strong>und</strong> der Lange musste sich um sieherumschlingen <strong>und</strong> der Dicke sich vor die Türe stellen, dasskeine lebendige Seele herein konnte. Da saßen sie <strong>und</strong> dieschöne Jungfrau sprach kein Wort, aber der Mond schien durchdas Fenster auf ihr Angesicht, dass er ihre w<strong>und</strong>erbare-290-


Schönheit sehen konnte, Sie wachten auch alle miteinander biself Uhr, da ließ die Zauberin einen Schlummer auf ihre Augenfallen, den sie nicht abwehren konnten. Sie schliefen alle hartein bis Viertel vor zwölf <strong>und</strong> als sie erwachten, war diePrinzessin fort <strong>und</strong> von der Alten entrückt. Der Prinz <strong>und</strong> dieDiener jammerten, aber der Horcher sprach: »Seid einmal still!«Er horchte <strong>und</strong> sagte: »Sie sitzt in einem Felsen dreih<strong>und</strong>ertSt<strong>und</strong>en von hier <strong>und</strong> klagt über ihr Schicksal.« Da sprach derLange: »Ich will helfen.« <strong>und</strong> nahm den mit den verb<strong>und</strong>enenAugen auf den Rücken <strong>und</strong> plötzlich standen sie vor demverwunschenen Felsen. Da nahm der Lange dem ändern dieBinde ab. Kaum hatte der den Felsen angeschaut, zersprang ergleich in tausend Stücke <strong>und</strong> der Lange holte die Prinzessin ausder Tiefe <strong>und</strong> schwang sich mit ihr in drei Minuten zurück.Schlag zwölf kam die Zauberin <strong>und</strong> glaubte, den Prinzen ganzgewiss allein <strong>und</strong> in Schlaf versenkt zu finden, aber er warmunter <strong>und</strong> ihre Tochter saß in seinem Arm.Nun musste sie zwar stillschweigen, aber es war ihr leid <strong>und</strong>die Prinzessin kränkte es auch, dass einer sollte gewonnen haben<strong>und</strong> daher ließ sie am ändern Morgen dreih<strong>und</strong>ert Malter Holzzusammensetzen <strong>und</strong> sprach <strong>zum</strong> Prinzen, er hätte zwar dieAufgaben gelöst, ehe sie ihn aber heirate, verlange sie, dassjemand sich mitten in das Holz setzte, wenn es angezündet wäre<strong>und</strong> das Feuer aushalte. Dabei dachte sie, wenn die Diener ihmauch alles täten, würde sich doch keiner für ihn verbrennen <strong>und</strong>aus Liebe zu ihr würde er sich selbst hineinsetzen <strong>und</strong> dann wäresie frei. Wie aber die Diener das hörten, sprachen sie: »Wirhaben alle etwas getan, nur der Frostige noch nicht.« <strong>und</strong>nahmen ihn <strong>und</strong> trugen ihn ins Holz hinein <strong>und</strong> steckten es dannan. Da hub das Feuer an <strong>und</strong> brannte drei Tage, bis alles Holzverzehrt war <strong>und</strong> als es verlosch, stand der Frostige mitten in derAsche <strong>und</strong> zitterte wie Espenlaub <strong>und</strong> sprach. »So habe ich meinLebtag nicht gefroren <strong>und</strong> wenn es länger gedauert hätte, wäreich erstarrt.«-291-


Nun musste sich die schöne Jungfrau mit dem Prinzenvermählen, als sie aber zu der Kirche fuhren, sprach dieZauberin: »Ich kann es nicht zulassen.« <strong>und</strong> schickte ihrKriegsvolk nach, das sollte alles niedermachen <strong>und</strong> ihr dieTochter zurückbringen. Der Horcher aber hatte die Ohrengespitzt <strong>und</strong> alles angehört, was die Alte gesprochen hatte <strong>und</strong>sagte es dem Dicken. Der spie einmal oder zweimal hinter denWagen <strong>und</strong> da entstand ein großes Wasser, in dem dieKriegsvölker stecken blieben. Als sie nicht zurückkamen,schickte die Alte bewaffnete Reiter, aber der Horcher hörte siekommen <strong>und</strong> band dem einen die Augen auf, der guckte dieFeinde ein bisschen scharf an <strong>und</strong> sie sprangen auseinander wieGlas. Da fuhren sie ungestört weiter <strong>und</strong> als sie in der Kircheverheiratet <strong>und</strong> eingesegnet waren, nahmen die sechs Dienerihren Abschied <strong>und</strong> wollten weiter ihr Glück in der Weltversuchen.-292-


Das Märchen vom Prinzen mit dengoldenen HaarenVor langer Zeit lebte einmal ein Prinz, der war so schön <strong>und</strong>gut, dass sich seine Eltern nicht an ihm satt sehen konnten <strong>und</strong>liebevoll auf alles achteten, was er tat. Der Prinz hatte goldeneHaare <strong>und</strong> einen goldenen Bart <strong>und</strong> niemand hat je etwasSchöneres gesehen. Der Prinz wurde größer <strong>und</strong> stärker <strong>und</strong>seine Eltern beschlossen, es sei an der Zeit, dass sich der Prinzeine Braut suchte. »Suche dir aus, welche dir gefällt«, sagtensie, »wir werden jede mit offenen Armen freudig empfangen!«»Das will ich tun«, antwortete der Prinz, »aber wenn ich keinefinde, die mir gleicht, dann nehme ich keine, egal wie schönoder reich sie auch sein mag.«Da ließen seine Eltern ein Bild von dem Prinzen anfertigen,hingen es in allen Straßen auf <strong>und</strong> forderten alle Mädchen, diedem Prinzen glichen, auf, sich zu dem königlichen Schloss zubegeben. In allen Städten des Reiches wurden die Bilder desPrinzen aufgehängt <strong>und</strong> so sah es auch die jüngste Tochter einesKaufmanns, die sich in das Bild des Prinzen verliebte. Sie sagte:»Ich gleiche dem Prinzen ganz!« Von nun an überlegte sie Tag<strong>und</strong> Nacht, was sie tun sollte, denn sie scheute sich, es ihremVater zu sagen. Und noch weniger traute sie sich, an denköniglichen Hof zu gehen. In ihrem Kummer vertraute sie sichihrer Fre<strong>und</strong>in an, die eine große Zauberin war. Diese riet ihr,sich drei Haare von seinem Kopf <strong>und</strong> seinem Bart zubeschaffen, sie mit etwas Asche in einen Topf zu legen, es einwenig sieden zu lassen, dann werde sich der Prinz in eine Taubeverwandeln. Dann müsse sie nur noch ihr Fenster öffnen, eineSchale mit Wasser in die Mitte des Zimmers stellen <strong>und</strong> schonkäme der Prinz herbeigestürmt.Als nun der Kaufmann wenige Tage später in die Hauptstadtreiste, fragte er seine Töchter: »Was soll ich euch mitbringen-293-


von der Reise?« Die Älteste wollte ein schönes Kleid, die zweiteeine goldene Kette, die Jüngste aber sprach: »Ich möchte nurdrei Kopf- <strong>und</strong> Barthaare von unserem Königssohn, damit wäreich schon zufrieden.«»Das soll in Ordnung gehen.« sagte der Kaufmann, »JederNarr hat seine eigenen Ideen. Du wirst sehen, ich bringe dir, wasdu dir wünschst!« Als der Kaufmann seine Geschäfte in derStadt erledigt hatte, besorgte er die Geschenke für seine Töchter.So kaufte er ein Kleid, eine goldene Kette <strong>und</strong> ging schließlichzu dem Barbier des Prinzen, um ihn um die Kopf- <strong>und</strong> Barthaarefür die jüngste Tochter zu bitten. Der Barbier tat dem Kaufmannden Gefallen <strong>und</strong> besorgte ihm die gewünschten Haare. Als derKaufmann nach Hause kam, brachte er jeder seiner Töchter, wassie sich gewünscht hatte. Die Jüngste aber war überglücklich,verschwand in ihrem Zimmer, kleidete sich wie eine Königin<strong>und</strong> tat, was die Zauberin ihr geraten hatte. Kaum hatte sie dieSchale mit Wasser in die Mitte des Zimmers gestellt, da kamauch schon eine Taube herbeigeflogen, tauchte in das Wasser<strong>und</strong> verwandelte sich in den Prinzen mit den goldenen Haaren.»Was willst du von mir?« fragte der Prinz. »Warum hast dumich in solcher Eile herbeigerufen?« Da fasste sich dieKaufmannstochter ein Herz <strong>und</strong> sagte: »Ich habe Euer Bildgesehen <strong>und</strong> weil ich glaube, Euch zu gleichen, habe ich Euchzu mir gerufen, denn ich wagte es nicht, an Euren Hof zukommen.« Da sah der Prinz sie fre<strong>und</strong>lich an <strong>und</strong> sagte: »Ja,wirklich, du gleichst mir! Du gefällst mir sehr, dich will ichheiraten!« Sie sprachen noch eine Weile miteinander <strong>und</strong> amEnde erlaubte ihr der Prinz, ihn am nächsten Sonntag wieder zurufen.Die älteste Schwester aber hatte an der Tür gelauscht <strong>und</strong> weilsie neidisch war, überlegte sie, wie sie ihrer Schwester diesesGlück nehmen könnte. Es gelang ihr, die beiden anderenSchwestern am Sonntag von dem Haus fernzuhalten, dannkleidete sie sich wie eine Prinzessin <strong>und</strong> tat alles, wie sie es bei-294-


ihrer jüngeren Schwester beobachtet hatte. Sie vergaß aber, dasFenster zu öffnen <strong>und</strong> das Wasserbecken in die Mitte desZimmers zu stellen. Die Taube schlug sich am Fenster blutig<strong>und</strong> als sie endlich durch das zerbrochene Fenster ins Zimmerkam, suchte sie das Wasserbecken vergeblich. Zornig gurrendflog sie davon, aber auf dem Fußboden des Zimmers bliebenScherben <strong>und</strong> Blutspuren zurück. Das Mädchen sammelteerschrocken die Scherben auf <strong>und</strong> wusch das Blut weg, doch dasFenster blieb zerbrochen. Als nun die jüngste Tochter nachHause kam, merkte sie sofort, was geschehen war <strong>und</strong> weintebitterlich. »Der schöne Prinz ist nun tödlich verletzt <strong>und</strong> gewissgibt es keinen Arzt auf der Welt, der ihm helfen kann!«jammerte sie unglücklich. Am nächsten Tag verkleidete sie sichals Arzt <strong>und</strong> machte sich auf den Weg zu dem königlichenSchloss, um zu sehen, ob sie dem Prinzen helfen könne. Sie gingden ganzen Tag <strong>und</strong> als es Abend wurde, begann sie, sich indem dunklen Wald zu fürchten. Sie stieg auf einen großenBaum, um dort oben die Nacht zu verbringen.Um Mitternacht hörte sie plötzlich Stimmen unter dem Baum<strong>und</strong> erblickte vier Hexen, die um ein Feuer saßen <strong>und</strong> sichaufwärmten. Da sprach die eine der Hexen: »Der arme Prinz mitden goldenen Haaren, er ist wirklich ernsthaft erkrankt. Wisstihr gar nicht, wie man ihm helfen könnte?«»O doch«, antwortete die älteste Hexe, »es müsste nur jemandmit dem Blut der Schlange, die im Garten des Königs untereinem Stein liegt, ein wenig Salbe sieden, den Kopf des Prinzendamit bestreichen <strong>und</strong> er wäre wieder geheilt. Nur eine solcheSalbe nämlich hat die Kraft, die Glasscherben aus der Stirn desPrinzen zu ziehen. Doch keiner der Ärzte weiß etwas davon.«Das Mädchen auf dem Baum hatte genug gehört <strong>und</strong> als es hellwurde, stieg es vom Baum <strong>und</strong> machte sich eilig auf den Weg<strong>zum</strong> Schloss. Als sie in der Stadt ankam, erfuhr sie, dass dieÄrzte den Prinzen bereits aufgegeben hatten. Der königlichePalast stand jedoch jedem offen, der meinte, den Prinzen heilen-295-


zu können. Das Mädchen ging sofort hin, trat vor den König <strong>und</strong>versprach, den Prinzen heilen zu können. »Ich erlaube Euchgerne, den Prinzen zu sehen. Ihr seid zwar noch etwas jung füreinen guten Arzt, doch wir werden ja sehen.« Als sie denPrinzen so krank da liegen sah, wollte sie in Tränen ausbrechen,doch sie hielt sich zurück <strong>und</strong> befahl, ihm für die Nacht einfiebersenkendes Mittel zu geben. Am nächsten Morgen ließ siedie Schlange im Garten suchen <strong>und</strong> töten <strong>und</strong> ihr Blut zu Salbesieden. Damit bestrich sie den Kopf des Prinzen <strong>und</strong> es dauertenur wenige Tage, da waren alle Glasscherben herausgekommen<strong>und</strong> der Prinz war wieder ges<strong>und</strong>. Der König <strong>und</strong> die Königinkonnten dem vermeintlichen Arzt nicht genug danken <strong>und</strong> derKönig sagte: »Schade, dass Ihr nicht ein Mädchen seid; dannhätten wir Euch unseren Sohn <strong>zum</strong> Gemahl gegeben, denn Ihrseht ihm ganz ähnlich, Da Ihr aber nun mal ein Mann seid, sowünscht Euch, was immer Ihr wollt, Ihr werdet es bekommen.«»Ich will nichts, außer ein Pferd von Eurem Sohn, eine Lockevon seinen Haaren <strong>und</strong> auch sein goldenes Waschbecken.« DerKönig w<strong>und</strong>erte sich zwar über diese außergewöhnlichenWünsche, aber er gab ihr alles <strong>und</strong> sie ritt vergnügt nach Hause.Einige Tage darauf schloss sie sich wieder in ihrem Zimmer ein,öffnete das Fenster, stellte das goldene Wasserbecken in dieMitte des Zimmers <strong>und</strong> tat mit den Haaren des Prinzen, wie ihrdie Zauberin einst geraten hatte. Und gleich darauf kam dieTaube mit einem Schwert unter den Flügeln herbei, tauchte indas Wasserbecken <strong>und</strong> verwandelte sich in den Prinzen, der mitzornigem Blick <strong>und</strong> dem Schwert in der Hand vor ihr stand. Erfragte wütend: »Warum rufst du mich wieder, nachdem du michdas letzte Mal so verletzt hast? Siehst du dieses Schwert? Damitwollte ich dich durchbohren, doch ich will dir noch einmalverzeihen. Heiraten aber werde ich dich niemals!«Da erzählte sie ihm, wie sich alles zugetragen hatte <strong>und</strong> wiesie ihn geheilt hatte. Der Prinz glaubte ihr nicht <strong>und</strong> sie sagte:»Seht nur, hier ist Eure Haarlocke, dort steht Euer goldenes-296-


Wasserbecken <strong>und</strong> hinten im Stall steht Euer Pferd. Das alles hatman mir <strong>zum</strong> Dank für Eure Heilung geschenkt!« Der Prinz sah,dass sie die Wahrheit sagte <strong>und</strong> so reichte er ihr die Hand <strong>und</strong>vermählte sich mit ihr.Vierzehn Tage später wurde die Hochzeit gefeiert <strong>und</strong> diebeiden waren glücklich <strong>und</strong> zufrieden ihr ganzes Leben lang. Ihrgrößtes Glück aber war, dass sie nicht nur an äußerer Schönheit,sondern auch an innerer Tugend gleich waren.-297-


Kapitel 16Zwergengeschichten-298-


Die ZwergenhochzeitEin Spielmann ging einmal durch den Wald. In der Näheeines Schlösschens begegnete ihm ein seltsames Männlein. Eshatte ein braunes Gesicht <strong>und</strong> seine Haare <strong>und</strong> sein Bart warenwie die grünen Pflanzen des Waldes. Es war so klein, dass esdem Spielmann nur bis ans Knie reichte.»Wohin gehst du?« fragte der Zwerg den Spielmann. »InsDorf«, antwortete dieser, »dort ist eine Hochzeit <strong>und</strong> da soll ichGeige spielen.«»Lass die Hochzeit sein.« sagte der Zwerg, »die werden auchohne dich tanzen. Komm mit mir, ich habe heute auch meineHochzeit, da sollst du mir aufspielen.«Der Zwerg führte ihn zu einem Bach <strong>und</strong> ging mit ihm in dasWasser. Sie kamen zu einem Tor, das sich von selber öffnete<strong>und</strong> dann in einen Saal, der mit Zweigen <strong>und</strong> grünen Pflanzengeschmückt war. Viele Zwerge mit ihren Zwerginnen am Armschritten durch eine Tür herein <strong>und</strong> der Tanz begann. DerSpielmann fiedelte den ganzen Tag, so dass ihm seine Fingerweh taten; endlich hatten die Zwerge genug <strong>und</strong> verließen denSaal.Der letzte aber kam auf ihn zu <strong>und</strong> sagte: »Fordere keinenLohn <strong>und</strong> sage, du wärst mit dem zufrieden, was in derBesenkammer hinter dem Besen liegt.« Es dauerte nicht lange,da kam der Zwergenbräutigam wieder <strong>und</strong> fragte, was er dennfür die Musik schuldig sei. »Ich bin mit dem zufrieden, was inder Besenkammer hinter dem Besen liegt«, antwortete derSpielmann. »Gut gewählt«, sagte lachend der Zwerg, »es sindnur drei Taler. Nimm sie dir, bewahre sie aber gut auf <strong>und</strong> so oftdu Geld wünschst, schlage auf die Tasche <strong>und</strong> du hast so viel,wie du willst.«Darauf führte das Männchen den Geiger aus dem Saal <strong>und</strong>sogleich stand er wieder neben dem Bach auf der Wiese. Er-299-


wusste nicht gleich, ob er wach war oder träumte. Als er aberum sich sah, erblickte er das Schlösschen <strong>und</strong> weiter weg denKirchturm des Dorfes. Er ging weiter, da kam ein Reiter aufeinem prächtigen Schimmel vorüber. »Was kostet derSchimmel?« fragte der Spielmann. »H<strong>und</strong>ert Taler«, war dieAntwort. Da schlug der Spielmann voller Erwartung auf dieTasche, in der die drei Taler waren <strong>und</strong> sofort fühlte er, dass sieschwer wurde. Er holte die h<strong>und</strong>ert Taler heraus <strong>und</strong> kaufte denSchimmel.Von nun an schlug der Spielmann fleißig auf seine Tasche<strong>und</strong> war bald ein reicher Mann. Er war aber großzügig mitseinem Reichtum, half den Armen <strong>und</strong> den Menschen im Dorf,wo er konnte.Den frisch verheirateten Zwerg sah er nie wieder.-300-


Der Zwerg <strong>und</strong> die W<strong>und</strong>erblumeEin junger aber armer Schäfer hütete seine Schafe am Fußeines großen Berges, auf dem eine mächtige Burg stand. Er triebsie traurig den Berg hinauf, konnte sich nicht freuen, weil er soarm war <strong>und</strong> nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Auf demGipfel fand er eine w<strong>und</strong>erschöne Blume, wie er noch nie einegesehen hatte, pflückte sie <strong>und</strong> steckte sie sich an den Hut, umseiner Braut ein Geschenk damit zu machen.Wie er so weiterging, fand er oben auf der alten Burg einGewölbe offen stehen, bloß der Eingang war etwas verschüttet.Er trat hinein, sah viel kleine glänzende Steine auf der Erdeliegen <strong>und</strong> steckte seine Taschen ganz voll damit.Nun wollte er wieder ins Freie, als eine dumpfe Stimmeerklang: »Vergiss das Beste nicht!« Er wusste nicht, wie ihmgeschah <strong>und</strong> lief voller Angst aus dem Gewölbe. Kaum sah erdie Sonne <strong>und</strong> seine Herde wieder, schlug die Tür, die er vorhergar nicht gesehen hatte, hinter ihm zu. Als der Schäfer nachseinem Hut griff, stand auf einmal ein Zwerg vor ihm. Er hatteein grünes Röcklein an <strong>und</strong> trug einen lustigen Hut mit einerlangen Feder, die fröhlich auf- <strong>und</strong> abwippte. Der Schäfer sah,dass der Zwerg gütige Augen hatten <strong>und</strong> verlor seine Angst. Mithoher dünner Stimme fragte der Zwerg: »Wo hast du dieW<strong>und</strong>erblume, die du gef<strong>und</strong>en hast?« Der Schäfer griff anseinen Hut, aber die Blume war nicht mehr da. »Verloren«,sagte er da betrübt. »Dir war sie bestimmt«, sprach der Zwerg,»<strong>und</strong> sie ist mehr wert als die ganze Burg.« Als der Schäfer zuHause in seine Taschen griff, waren die glimmernden Steinelauter Goldstücke.Die Blume aber ist verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> wird von denBergleuten bis auf heutigen Tag gesucht, nicht nur in denGewölben der Burg nicht allein, sondern im ganzen Gebirge,aber niemand konnte sie finden. Der Zwerg wurde nie wieder-301-


gesehen.-302-


Schneewittchen <strong>und</strong> die sieben ZwergeEs war einmal mitten im Winter, <strong>und</strong> die Schneeflocken fielenwie Federn vom Himmel, da saß eine schöne Königin an einemFenster, das hatte einen Rahmen von schwarzem Ebenholz, <strong>und</strong>nähte. Und wie sie so nähte <strong>und</strong> nach dem Schnee aufblickte,stach sie sich mit der Nadel in den Finger <strong>und</strong> es fielen dreiTropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote in dem Weißenso schön aussah, dachte sie: »Hätte ich doch ein Kind so weißwie Schnee, so rot wie Blut <strong>und</strong> so schwarz wie dieser Rahmenaus Ebenholz.«Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, so weiß wie derSchnee, so rot wie das Blut <strong>und</strong> so schwarz wie Ebenholz <strong>und</strong>darum wurde es das Schneewittchen genannt.Die Königin war die Schönste im ganzen Land, <strong>und</strong> gar stolzauf ihre Schönheit. Sie hatte auch einen Spiegel, vor den trat siejeden Morgen <strong>und</strong> fragte:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Da sprach das Spieglein jedes Mal: »Ihr, Frau Königin, seiddie Schönste im ganzen Land.«Und da wusste sie, dass niemand schöner auf der Welt war,<strong>und</strong> das war ihr ganz recht so. Schneewittchen aber wuchs heran<strong>und</strong> als es sieben Jahre alt war, war es so schön, dass es selbstdie Königin an Schönheit übertraf <strong>und</strong> als diese ihren Spiegelfragte:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Sagte der Spiegel: »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,aber Schneewittchen ist noch tausendmal schöner als Ihr!«Wie die Königin den Spiegel so sprechen hörte, wurde sieblass vor Neid, <strong>und</strong> von da an hasste sie das Schneewittchen,-303-


<strong>und</strong> wenn sie es ansah <strong>und</strong> daran dachte, dass sie durch seineSchuld nicht mehr die Schönste auf der Welt war, kehrte sich ihrdas Herz herum. Da ließ ihr der Neid keine Ruhe <strong>und</strong> sie riefeinen Jäger <strong>und</strong> sagte zu ihm: »Führe das Schneewittchen hinausin den Wald an einen weiten abgelegenen Ort, da stech’s tot,<strong>und</strong> <strong>zum</strong> Beweis bring mir seine Lunge <strong>und</strong> seine Leber mit, diewill ich mit Salz kochen <strong>und</strong> essen.«Der Jäger nahm das Schneewittchen <strong>und</strong> führte es hinaus, wieer aber das Messer gezogen hatte <strong>und</strong> eben zustechen wollte, dafing es an zu weinen <strong>und</strong> bat so sehr, er möge ihm sein Lebenlassen, es wolle nie wieder zurückkommen, sondern in den Waldfortlaufen. Der Jäger hatte Mitleid, weil es so schön war, <strong>und</strong> erdachte: »Die wilden Tiere werden es doch bald gefressen haben,ich bin froh, dass ich es nicht zu töten brauche.« Und weilgerade ein junges Wildschwein gelaufen kam, stach er es nieder,nahm Lunge <strong>und</strong> Leber heraus <strong>und</strong> brachte sie als Beweis derKönigin mit, die kochte sie mit Salz <strong>und</strong> aß sie auf <strong>und</strong> meintesie hätte Schneewittchens Lunge <strong>und</strong> Leber gegessen.Schneewittchen aber war in dem großen Waldmutterseelenallein, so dass ihm recht Angst wurde <strong>und</strong> es fingan zu laufen <strong>und</strong> zu laufen über die spitzen Steine, <strong>und</strong> durch dieDornen den ganzen Tag; endlich, als die Sonne untergehenwollte, kam es zu einem kleinen Häuschen. Das Häuschengehörte sieben Zwergen, die waren aber nicht zu Haus, sondernin das Bergwerk gegangen. Schneewittchen ging hinein <strong>und</strong>fand alles klein, aber niedlich <strong>und</strong> reinlich: da stand einTischlein mit sieben kleinen Tellern, dabei sieben Löfflein,sieben Messerlein <strong>und</strong> Gäbelein, sieben Becherlein, <strong>und</strong> an derWand standen sieben Bettlein nebeneinander frisch gedeckt.Schneewittchen war hungrig <strong>und</strong> durstig, aß von jedemTellerlein ein wenig Gemüse <strong>und</strong> Brot, trank aus jedemGläschen einen Tropfen Wein, <strong>und</strong> weil es so müde war, wolltees sich schlafen legen. Da probierte es die sieben Bettleinnacheinander, kein’s war ihm aber recht, bis auf das siebente, in-304-


das legte es sich <strong>und</strong> schlief ein.Als es Nacht wurde, kamen die sieben Zwerge von ihrerArbeit heim <strong>und</strong> steckten ihre sieben Lichtlein an, da sahen sie,dass jemand in ihrem Haus gewesen war. Der Erste sprach:»Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« Der Zweite: »Werhat von meinem Tellerchen gegessen?« Der Dritte: »Wer hatvon meinem Brötchen genommen?« Der Vierte: »Wer hat vonmeinem Gemüschen gegessen?« Der Fünfte: »Wer hat mitmeinem Gäbelchen gestochen?« Der Sechste: »Wer hat mitmeinem Messerchen geschnitten?« Der Siebente: »Wer hat ausmeinem Becherlein getrunken?« Danach sah der Erste sich um<strong>und</strong> sagte: »Wer hat in mein Bettchen getreten?« Der Zweite:»Ei, in meinem hat auch jemand gelegen?« <strong>und</strong> so alle weiterbis <strong>zum</strong> Siebenten, wie der nach seinem Bettchen sah, da fand erdas Schneewittchen darin liegen <strong>und</strong> schlafen. Da kamen dieZwerge alle gelaufen <strong>und</strong> schrieen vor Verw<strong>und</strong>erung. Sieholten ihre sieben Lichtlein herbei <strong>und</strong> betrachteten dasSchneewittchen. »Ei du mein Gott! Ei du mein Gott!« riefen sie,»Was ist das schön!« Sie hatten große Freude an ihm, wecktenes auch nicht auf <strong>und</strong> ließen es in dem Bettlein liegen; dersiebente Zwerg aber schlief bei seinen Fre<strong>und</strong>en, bei jedem eineSt<strong>und</strong>e, da war die Nacht herum.Als nun Schneewittchen aufwachte, fragten sie es, wer es sei<strong>und</strong> wie es in ihr Haus gekommen wäre, da erzählte es ihnen,wie seine Mutter es umbringen wollte, der Jäger ihm aber dasLeben geschenkt habe, <strong>und</strong> wie es den ganzen Tag gelaufen <strong>und</strong>endlich zu ihrem Häuslein gekommen sei. Da hatten die ZwergeMitleid <strong>und</strong> sagten: »Wenn du unseren Haushalt machen <strong>und</strong>kochen, nähen, waschen <strong>und</strong> stricken willst, auch allesordentlich <strong>und</strong> reinlich hältst, sollst du bei uns bleiben <strong>und</strong> essoll dir an nichts fehlen. Abends kommen wir nach Haus, damuss das Essen fertig sein, am Tage aber sind wir im Bergwerk<strong>und</strong> graben Gold, da bist du allein; hüte dich nur vor derKönigin <strong>und</strong> lass niemanden herein.«-305-


Die Königin aber glaubte, sie sei wieder die Allerschönste imLand, trat morgens vor den Spiegel <strong>und</strong> fragte:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Da antwortete der Spiegel aber wieder: »Frau Königin, Ihrseid die Schönste hier, aber Schneewittchen, über den siebenBergen, bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner alsIhr!«Wie die Königin das hörte, erschrak sie <strong>und</strong> sah wohl, dass siebetrogen worden war <strong>und</strong> der Jäger Schneewittchen nicht getötethatte. Nun sann sie von neuem nach, wie sie es umbringenkönnte, denn so lange der Spiegel nicht sagte, sie wäre dieschönste Frau im ganzen Land, hatte sie keine Ruhe. Sieverkleidete sich selber als eine alte Krämerin, färbte ihr Gesicht,damit sie kein Mensch erkannte <strong>und</strong> ging hinaus vor dasZwergenhaus. Sie klopfte an die Tür <strong>und</strong> rief: »Macht auf,macht auf, ich bin die alte Krämerin, die gute Ware für euchhat.« Schneewittchen guckte aus dem Fenster: »Was hast dudenn?« – »Schnürriemen, liebes Kind«, sagte die Alte <strong>und</strong> holteeinen hervor, der war von gelber, roter <strong>und</strong> blauer Seidegeflochten: »Willst du den haben?« – »Ei ja!« sprachSchneewittchen <strong>und</strong> dachte, die gute alte Frau kann ich wohlhereinlassen, die meint’s ehrlich; riegelte also die Türe auf <strong>und</strong>kaufte den Schnürriemen. »Aber dein Kleid ist so lockergeschnürt,« sagte die Alte, »komm ich will dich einmal besserschnüren.« Schneewittchen stellte sich vor sie, da nahm die Alteden Schnürriemen <strong>und</strong> schnürte <strong>und</strong> schnürte es so fest, dassihm der Atem verging, <strong>und</strong> es leblos hinfiel. Danach war dieKönigin zufrieden <strong>und</strong> ging fort.Bald darauf wurde es Nacht, da kamen die sieben Zwergenach Haus, die erschraken recht, als sie ihr liebesSchneewittchen auf der Erde liegen fanden, als wäre es tot. Siehoben es in die Höhe, da sahen sie, dass es so fest geschnürtwar, schnitten den Schnürriemen entzwei, da atmete es erst, <strong>und</strong>-306-


dann wurde es wieder lebendig. »Das ist niemand gewesen alsdie Königin,« sprachen sie, »die hat dir das Leben nehmenwollen, hüte dich <strong>und</strong> lass keinen Menschen mehr herein.«Die Königin aber fragte ihren Spiegel:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Der Spiegel antwortete: »Frau Königin, Ihr seid die Schönstehier, aber Schneewittchen, über den sieben Bergen, bei densieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr!«Sie erschrak, weil Schneewittchen wieder lebendig gewordenwar. Danach sann sie den ganzen Tag <strong>und</strong> die Nacht, wie sie esdoch noch fangen wollte, <strong>und</strong> machte einen giftigen Kamm,verkleidete sich in eine ganz andere Gestalt, <strong>und</strong> ging wiederhinaus. Sie klopfte an die Tür, Schneewittchen aber rief:»Ich darf niemanden hereinlassen.« Da zog sie den Kammhervor, <strong>und</strong> als Schneewittchen den blinken sah <strong>und</strong> es auchjemand ganz Fremdes war, so machte doch auf, <strong>und</strong> kaufte ihrden Kamm ab. »Komm ich will dich auch kämmen!« sagte dieKrämerin, kaum aber steckte der Kamm dem Schneewittchen inden Haaren, da fiel es nieder <strong>und</strong> war tot. »Nun wirst du liegenbleiben.« sagte die Königin <strong>und</strong> ihr Herz war ihr leichtgeworden <strong>und</strong> sie ging heim.Die Zwerge aber kamen zur rechten Zeit, sahen wasgeschehen war, <strong>und</strong> zogen den giftigen Kamm aus den Haaren,da schlug Schneewittchen die Augen auf <strong>und</strong> war wiederlebendig <strong>und</strong> versprach den Zwergen, es wollte gewiss niemandmehr einlassen.Die Königin aber stellte sich vor ihren Spiegel:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Der Spiegel antwortete: »Frau Königin, Ihr seid die Schönstehier, aber Schneewittchen, über den sieben Bergen, bei den-307-


sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr!«Als das die Königin wieder hörte, zitterte <strong>und</strong> bebte sie vorZorn: »So soll das Schneewittchen noch sterben, <strong>und</strong> wenn esmein Leben kostet!« Dann ging sie in ihre heimlichste Stube<strong>und</strong> da machte sie einen giftigen, giftigen Apfel, äußerlich warer schön <strong>und</strong> rotbackig <strong>und</strong> jeder, der ihn sah, bekam Lust ihn zuessen. Darauf verkleidete sie sich als Bauersfrau, ging vor dasZwerghaus <strong>und</strong> klopfte an, Schneewittchen guckte <strong>und</strong> sagte:»Ich darf keinen Menschen einlassen, die Zwerge haben mir’sverboten.«»Nun, wenn Ihr nicht wollt!« sagte die Bäuerin, »kann ichEuch nicht zwingen, meine Äpfel will ich schon loswerden, da,einen will ich Euch zur Probe schenken.«»Nein, ich darf auch nichts geschenkt nehmen, die Zwergewollen’s nicht haben.«»Ihr mögt Euch wohl fürchten, da ich will den Apfel entzweischneiden <strong>und</strong> die Hälfte essen, den schönen roten Backen solltIhr haben!« Der Apfel war aber so gemacht, dass nur die roteHälfte vergiftet war. Da sah Schneewittchen, dass die Bäuerinselber davon aß, <strong>und</strong> sein Hunger danach wurde immer größer,da ließ es sich endlich die andere Hälfte durchs Fenster reichen<strong>und</strong> biss hinein, kaum aber hatte es einen Bissen im M<strong>und</strong>, sofiel es tot zur Erde.Die Königin aber freute sich, ging nach Haus <strong>und</strong> fragte denSpiegel: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönsteim ganzen Land?«Da antwortete er: »Ihr, Frau Königin, seid die schönste Frauim Land.«»Nun hab ich endlich Ruhe,« sprach sie, »da ich wieder dieSchönste im Lande bin.«Die Zwerglein kamen abends aus den Bergwerken nach Haus,da lag das liebe Schneewittchen auf dem Boden <strong>und</strong> war tot. Sieschnürten es auf <strong>und</strong> sahen, ob sie nichts Giftiges in seinen-308-


Haaren fänden, es half aber alles nichts, sie konnten es nichtwieder lebendig machen. Sie legten es auf eine Bahre, setztensich alle sieben daran, weinten <strong>und</strong> weinten drei Tage lang, dannwollten sie es begraben, da sahen sie aber, dass es noch frisch<strong>und</strong> gar nicht wie eine Tote aussah, <strong>und</strong> dass es auch seineschönen roten Wangen noch hatte. Da ließen sie einen Sarg ausGlas machen, legten es hinein, dass man es recht gut sehen <strong>und</strong>bew<strong>und</strong>ern konnte, schrieben auch mit goldenen Buchstabenseinen Namen darauf <strong>und</strong> einer blieb jeden Tag zu Haus <strong>und</strong>bewachte es.So lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg <strong>und</strong> warnoch so weiß wie Schnee <strong>und</strong> so rot wie Blut <strong>und</strong> wenn es dieÄuglein hätte öffnen können, wären sie so schwarz gewesen wieEbenholz, denn es lag da, als ob es schlief.Einmal kam ein junger Prinz zu dem Zwergenhaus <strong>und</strong> wolltedarin übernachten. Wie er in die Stube kam <strong>und</strong> Schneewittchenin dem Glassarg liegen sah, auf das die sieben Lichtlein so rechtihren Schein warfen, konnte er sich nicht satt an seinerSchönheit sehen, <strong>und</strong> las die goldene Inschrift <strong>und</strong> sah, dass eseine Königstochter war. Da bat er die Zwerglein, sie sollten ihmden Sarg mit dem toten Schneewittchen verkaufen, die wolltenaber um alles Gold nicht. Da bat er sie, sie mögen es ihmschenken, er könne nicht leben ohne es zu sehen, <strong>und</strong> er wolle esso hoch halten <strong>und</strong> ehren, wie sein Liebstes auf der Welt. Dawaren die Zwerglein mitleidig <strong>und</strong> gaben ihm den Sarg, derPrinz aber ließ ihn in sein Schloss tragen, <strong>und</strong> ließ ihn in seineStube setzen, er selber saß den ganzen Tag dabei <strong>und</strong> konnte dieAugen nicht abwenden. Wenn er ausgehen musste <strong>und</strong> konnteSchneewittchen nicht sehen, wurde er traurig <strong>und</strong> er konnte auchkeinen Bissen essen, wenn der Sarg nicht neben ihm stand. DieDiener aber, die den Sarg immer herumtragen mussten, warenböse darüber <strong>und</strong> einer machte einmal den Sarg auf, hobSchneewittchen in die Höhe <strong>und</strong> sagte: »Wegen eines totenMädchens werden wir den ganzen Tag geplagt.« Und er gab ihm-309-


mit der Hand einen Stoß in den Rücken.Da fuhr ihm der giftige Apfel, den es gesessen hatte, aus demHals <strong>und</strong> da war Schneewittchen wieder lebendig, Da ging eshin zu dem Prinzen, der wusste gar nicht, was er vor Freude tunsollte, als sein liebes Schneewittchen lebendig war, <strong>und</strong> siesetzten sich zusammen an die Tafel <strong>und</strong> aßen <strong>und</strong> trankenmiteinander in Freuden.Am nächsten Tag wurde die Hochzeit mit dem Prinzengefeiert, <strong>und</strong> Schneewittchens böse Mutter auch eingeladen, AmMorgen trat sie wie immer vor den Spiegel <strong>und</strong> sprach:»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste imganzen Land?«Da antwortete er: »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,aber Schneewittchen, über den sieben Bergen, bei den siebenZwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr!«Als sie das hörte, erschrak sie sehr. Doch trieb sie der Neidauf die junge Königin zu der Hochzeit. Doch wie sie ankann,sah sie, dass es Schneewittchen war. Da wurden eisernePantoffeln im Feuer glühend gemacht, die musste sie anziehen<strong>und</strong> darin tanzen <strong>und</strong> ihre Füße wurden jämmerlich verbrannt<strong>und</strong> sie durfte nicht aufhören, bis sie sich zu Tode getanzt hatte.Schneewittchen <strong>und</strong> ihr Prinz waren glücklich miteinander,<strong>und</strong> wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.-310-

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