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dagmar zirfas-steinacker Körpersprache – fremd und vertraut - AfS e.V.

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Unterrichtspraxistigten, etwas mitzuteilen. Allerdings fällt eine explizite Unterscheidung aufgr<strong>und</strong> individuellerpsychologisch-physischer Konstellationen häufig schwer.Argyle unterscheidet zwar bewusste <strong>und</strong> unbewusste Mitteilungen, aber eine Differenzierungim konkreten Einzelfall ist schwierig, da die vorhandenen vielfältigen Zwischenstufennicht klar voneinander getrennt werden können. So beeinflusst<strong>Körpersprache</strong> ein Gespräch oder eine Situation oft ganz deutlich <strong>und</strong> durch Kleidungfindet eine soziale Kommunikation in der Gesellschaft statt. <strong>Körpersprache</strong> spielt sichscheinbar überwiegend im Unbewussten ab, d.h. häufig werden Signale unbewusst gesendet,wahrgenommen <strong>und</strong> verarbeitet (vgl. Argyle 1996, S. 16ff).3) Körper-Kommunikation in Erziehung <strong>und</strong> Bildungt »Unterrichten Sie im Sitzen oder im Stehen?t Bewegen Sie sich durch den Raum oder bleiben Sie in Ihrer Ecke?t Sprechen Sie laut oder leise, monoton oder bewegt?t Schreiben Sie an die Tafel?t Wie stehen Sie dabei, wie halten Sie die Kreide?t Was zeigen Sie von Ihrem Körper?t Was kann man von Ihren Beinen sehen, von Ihrem Oberkörper, von ihren Armen<strong>und</strong> Händen?t Welche Tics haben Sie?t Wackeln Sie mit dem Kopf, oder gehen Sie in die Knie, streichen Sie über IhrenBart, hüsteln Sie?t Und hat sich da was geändert?t Waren Sie immer schon so?t Wurde Ihre Stimme lauter oder leiser?t Haben Sie eine Glatze bekommen oder einen Bauch?t Wie, glauben Sie, riechen Sie im Unterricht?t Nach Kaffee, Tabak, Alkohol, Parfüm, Knoblauch oder Mottenpulver?t Wie geht es Ihnen körperlich nach fünf, sechs St<strong>und</strong>en Lehrarbeit?t Sind Sie müde <strong>und</strong> ausgelaugt?t Sind Sie auf angenehme Weise erschöpft?t Spüren Sie einen starken Bewegungsdrang?« (Bauer 1997, S. 59)Körperliche Prozesse laufen bei Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden, Auszubildenden <strong>und</strong>Ausbilderinnen, Erzieherinnen <strong>und</strong> Kindern permanent ab, da sie fester Bestandteil unseresmenschlichen Kommunikationsverhaltens sind. Sie beeinflussen die Aufmerksamkeit,die emotionale Teilnahme <strong>und</strong> schließlich auch die Lernerfolge oder Beziehungsstrukturen.Körperhaltungen <strong>und</strong> Stellungen können zeigen, wie intensiv die Beteiligungam Lern- oder Beziehungsprozess ist, <strong>und</strong> körperliche Aktivität kannLebendigkeit <strong>und</strong> Motivation vermitteln.Die Aufgabe, eine Gruppe zu betreuen oder eine Klasse zu unterrichten, die bewegungslosauf ihren Stühlen sitzt, wie Wachsfiguren mit statischer Körperhaltung <strong>und</strong>Mimik, wäre nicht nur eine große Herausforderung, sondern auf Dauer sicherlich zumScheitern verurteilt: Der Kommunikationsprozess gerät ins Stocken, wenn das Reper-158Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>toire der Signale auf verbale Informationen beschränkt ist. Das körpersprachliche Feedback,auch wenn es ein Kippeln mit dem Stuhl ist, hält die zwischenmenschliche Kommunikationaufrecht. Nachfragen, Melden, Aufrufen wäre nicht möglich, weder Gesichtsausdrucknoch der Klang der Stimme gäben Hinweise <strong>und</strong> Orientierung, die fürdas Verständnis des kommunikativen Kontexts notwendig sind (vgl. Rosenbusch2000, S. 166). Die außerordentlich große Rolle, die die nonverbale Kommunikation<strong>und</strong> dabei insbesondere das Medium Körper spielt, wird in der Fachliteratur allerdingsnur wenig beachtet.Besonders die Wichtigkeit der Beachtung nonverbaler Phänomene im Bereich derBeziehungsgestaltung <strong>und</strong> der Unterrichtssteuerung gilt es zu verdeutlichen, um so eigenesnonverbales Verhalten eher zu erkennen <strong>und</strong> die Wirkung einschätzen zu lernen.Rosenbusch nennt dies ›Kommunikationshygiene‹ (vgl. Rosenbusch 2000, S. 169).Unverständlichkeiten, Widersprüche, verwirrende Signale können verunsichernd <strong>und</strong>frustrierend wirken, bis hin zu pathologischen Folgen. Der Satz »Glauben Sie, dass dasgenügt?« beispielsweise kann zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen, je nachdem,welche Körperhaltung ich dabei einnehme oder welchen Tonfall ich auswähle. Dawir von einer wechselseitigen Beeinflussung der jeweiligen Interaktionspartner in dernonverbalen Kommunikation ausgehen, bedeutet das, dass nonverbale Kommunikationnicht nur zur Unterstützung <strong>und</strong> Ergänzung verbaler Aussagen dient, sondern eineständige Möglichkeit der Orientierung am Anderen bietet, mit bewussten <strong>und</strong> unbewusstenAnteilen.Einige wissenschaftliche Untersuchungen zur <strong>Körpersprache</strong> in der Schule habendeutlich gezeigt, dass Schülerinnen körpersprachliche Signale der Lehrerinnen schonsehr früh entschlüsseln können (vgl. Kaiser 1998). Umgekehrt ist es für Lehrkräfteebenso von großer Bedeutung, die nonverbalen Botschaften der Schülerinnen wahrzunehmen<strong>und</strong> entschlüsseln zu lernen (z.B. Problem verstanden: Kopf nicken, bestätigendeGestik; Interesse: Blickkontakt, mimisches Mitgehen, geweitete Augen; Langeweile:Wegschauen, Spielen; Opposition: verschlossenes, unbewegtes Gesicht, keine Reaktionauf Späße, wegorientierte Körperhaltung).Unterrichtliche Kommunikation lässt sich nach Rosenbusch grob in drei Funktionenunterscheiden: die Übermittlung vont inhaltlichen Aspekten (z.B. Mitteilung von Lernstoff, Hinweis auf Tatsachen oderWissensstoff)t prozessualen Aspekten (z.B. die Regelung von Interaktions-Prozessen bzw. organisatorischenMaßnahmen)t Beziehungsbotschaften (z.B. die Einschätzungen von Personen, Äußerungen zuStimmungen, Gefühlen) (vgl. Rosenbusch 2000, S. 173ff).Der (sozial-)pädagogische Beruf lässt Nähe <strong>und</strong> Distanz auch körperlich erfahren,auch da, wo Körperkontakt scheinbar vermieden wird. Bauer sieht in der geringen Beachtungder körperlichen Seite ihrer Arbeit die Ursache für viele Fehlhaltungen von Pädagogen,die auch zu somatischen Beschwerden führen. Dies gilt ebenso für das sozialpädagogischeBerufsfeld. Das heißt, die Hinwendung zur bewussten Körperarbeit imSinne einer Verbesserung des Körperbewusstseins <strong>und</strong> der <strong>Körpersprache</strong> kann nicht159


Unterrichtspraxisnur als Förderung der Persönlichkeitsentwicklung gesehen werden, sondern muss auchals Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong> -hygiene sowohl in physischer als auch psychischer Hinsicht,als ein »Weg zu einer wirksamen Personalpflege« (Bauer 1997, S. 60) betrachtetwerden. Gerade im Kontext von Qualitätsentwicklung in einem traditionell weiblich besetztenBeruf wie dem der Erzieherin erscheint der bewusste Umgang mit Interaktionsprozessen<strong>und</strong> reflektierter Emotionalität Selbstentwicklungsprozesse in Gang zu setzen,die gerade ein Professionsverständnis von Beraten, Moderieren <strong>und</strong> Initiieren fordert.Körpereinsatz spielt sowohl in einem pädagogischen als auch einem sozialpädagogischenBeruf eine viel größere Rolle als gemeinhin angenommen wird <strong>und</strong> von daherbleiben darin verborgene Möglichkeiten oftmals unentdeckt <strong>und</strong> ungenutzt. Bauerspricht von einer Weiterentwicklung des professionellen Selbst, also einer persönlichenEntwicklung durch Körperarbeit.Die Wichtigkeit von Körperkommunikation im Zusammenhang mit sozialpädagogischen<strong>und</strong> pädagogischen Prozessen ist sicherlich verdeutlicht worden. Eine systematischeEinübung <strong>und</strong> ein spezielles Training (vgl. Heidemann 1989) von <strong>Körpersprache</strong>muss jedoch kritisch betrachtet werden: persönliche Authentizität <strong>und</strong> individuelleIdentität dürfen dabei nicht zerstört werden im Sinne eines Egalitarismus, sondern dieEinzigartigkeit der individuellen Sprache des Körpers gilt es wahrzunehmen, zu lernen<strong>und</strong> sie <strong>–</strong> ähnlich einer (Fremd-)Sprache <strong>–</strong> im Dialog mit der Umwelt kompetent einzusetzen.Schon in der Ausbildung für sozialpädagogische <strong>und</strong> pädagogische Berufe solltengr<strong>und</strong>legende kommunikative Fähigkeiten geschult werden. PersonenzentrierteFortbildungen für sozialpädagogisch bzw. pädagogisch Tätige, fachlich angeleitete Trainingsmodelle(z.B. Konstanzer Trainingsmodell) oder gezielte Wahrnehmung <strong>und</strong> Diskussionmit Expertinnen <strong>und</strong> Kolleginnen im Sinne einer Supervision können wichtigeImpulse für die Weiterentwicklung der kommunikativen Kompetenzen <strong>und</strong> damit zu einerVerbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungsprozesse geben (vgl. Rosenbusch2000, S. 199). Welche Rolle musisch-ästhetische Erziehung <strong>und</strong> Bildung für dieEntwicklung kommunikativer Kompetenzen haben kann, wird im Folgenden erläutert.II. Körperorientierte Aspekte musisch-ästhetischerErziehung <strong>und</strong> Bildung am Beispiel der KörperhaltungSo ist also die Erziehung durch Musik darum die vorzüglichste, weil Rhythmus <strong>und</strong> Harmonieam tiefsten in das Innere der Seele dringen, ihr Anmut <strong>und</strong> Anstand verleihen.(Sokrates, Zitat überliefert)Musikbezogene Ausdrucksformen des Menschen können als Teil einer Symbolwelt inKommunikation <strong>und</strong> Interaktion im Sinne eines gesellschaftlichen Phänomens derVerständigung gesehen werden. Auch wenn in der abendländischen Kunstmusikkörperliche Bewegung scheinbar keine große Rolle spielt. (Der Begriff der »abendländischenKunstmusik« ist hier nicht näher definiert <strong>und</strong> eingegrenzt. Inwiefern er z.B. dieDagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>Tänze der klassischen Musik [Gavotte, Menuett, Walzer etc.] umfasst, bleibt unklar. Sowohldie Tatsache, dass stellenweise die Bewegungslosigkeit der Interpreten von klassischerMusik bewusst eingesetzt wurde, um hinter die musikalische Kommunikation zutreten, als auch der Hintergr<strong>und</strong> der Körperfeindlichkeit sakraler Musik [Musik = GottesGeschenk <strong>und</strong> Gebet, Mensch = Instrument, Beter, Sünder] können in diesem Kontextnicht näher betrachtet werden.)In vielen europäischen <strong>und</strong> insbesondere außereuropäischen Kulturen (in denendie religiöse Lehre dies nicht unterdrückt) kann beobachtet werden, dass Musik mit demKörper erlebt <strong>und</strong> erfahren wird: Klatschen, Stampfen, Mitwippen, rhythmische Bewegungenbis hin zum Tanz (Kinder/Elementarbereich). Die Begründung der Vernachlässigungdes Körpers in der mitteleuropäischen Musik sieht Amrhein in ihrer »einzigartigenklanglichen Entfaltung, in ihrer Spiritualität, in ihrer Existenz als Schriftkultur<strong>und</strong> im Einfluss, den die körperfeindliche christliche Religion auf ihre Entwicklung genommenhat.« (Amrhein 1997, S. 44) Für Blaukopf war die Tendenz nach Entkörperlichungder Musik eine gr<strong>und</strong>legende Vorbedingung für die Entwicklung der Musik alsautonome Kunst.»Dennoch kann nicht übersehen werden, dass die gesamte europäische MusikgeschichteZeugnis davon ablegt, dass ein elementares Verlangen nach körperlicherMusik sich immer wieder geltend macht. … Die Körperlichkeit von Rock <strong>und</strong> Popfügt sich in diese elementare Gegenbewegung ein.« (Blaukopf zitiert nachAmrhein 1997, S. 45)Der Wunsch nach körperlicher Bewegung, nach Ausdruck durch Stimme <strong>und</strong> Instrument<strong>und</strong> nach Hörerfahrungen als Kommunikation auf der klanglichen Ebenekann als wesentliches musikalisches Bedürfnis gesehen werden (vgl. Schütz 1988).Die Bedürftigkeit der Menschen nach Musikbewegung drückt sich auch im Bereich derVolksmusik <strong>und</strong> deren Tanzbarkeit aus.1) Historische, pädagogische <strong>und</strong> musikpädagogische Aspekteam Beispiel von KörperhaltungAm Beispiel von Körperhaltung können historische, pädagogische <strong>und</strong> musikpädagogischeZusammenhänge von nonverbaler Kommunikation <strong>und</strong> Erziehung <strong>und</strong> Bildungaufgezeigt werden.Im ausgehenden 18. Jahrh<strong>und</strong>ert sind aufrechte Haltung <strong>und</strong> aufrechter Gang wichtigeSynonyme für das bürgerliche Selbstbewusstsein. Die Diskussion um einen demaufstrebenden Bürgertum angemessenen Habitus spiegelt sich auf medizinischen, pädagogischen,philosophischen, politischen <strong>und</strong> musikalischen Ebenen dieser Zeit wider.Insbesondere die Erziehung zum Gehen, auch für Erwachsene, ist Bestandteil der Auseinandersetzungvon Medizinern <strong>und</strong> Pädagogen: Der Gang sei »das Ehrenvollste <strong>und</strong>Selbständigste in dem Manne« (Warneken 1990a, S. 11). 1789 weist Carl FriedrichBahrdt in seinem »Handbuch der Moral für den Bürgerstand« auf den körperlichen Habitushin <strong>und</strong> empfiehlt »im Tone, in Geberden, im Gange, in seinen Ausdrücken einegewisse Würde« nach außen zu zeigen. Dabei symbolisiert der aufrechte Habitus nicht160161


Unterrichtspraxisnur die individuelle Ausdrucksform in der Interaktion, sondern beinhaltet auch eine Autonomiedes Willens gegenüber dem Körper, die man als eine ›bürgerliche Ordnung imInnern‹ bezeichnen könnte. »Die gerade Stellung des Körpers, so sagt es die spätaufklärerischeAnstandslehre, indiziert die Herrschaft der Vernunft nicht nur über das Faule,sondern auch über die Wollust.« (Warneken 1990a, S. 17).Auch in den Höfischen Tänzen, die bis Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts vom Adel beiHofe getanzt wurden, wurden Vornehmheit, körperliche Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die Macht desAdels demonstriert. In einer langjährigen körperlichen Erziehung durch die Tanzmeisterlernten zunächst nur Jungen vornehmes Benehmen <strong>und</strong> Anstand <strong>und</strong> alles Ungezügelte<strong>und</strong> Unbeherrschte zu unterdrücken. Später wurden auch Mädchen zur Tanzerziehungzugelassen, da die Adeligen auch lernen mussten mit Frauen umzugehen(siehe 2.5).Die Pädagogik der Aufklärung zeigt sich in diesem Zusammenhang sehr ambivalent:Auf der einen Seite propagieren die Philanthropen, ganz im Sinne von Rousseau,schulische Freiräume für freie, spielerische, körperliche Tätigkeiten <strong>und</strong> kritisierten dasSitzen in der Schule als Dressur-Übung, andererseits aber wird das Exerzieren geübt, als»Beitrag zur Herausbildung möglichst vielseitiger körperlicher Fähigkeiten« (Warneken1990a, S. 21). Allerdings differenzieren sie in ihrer Programmatik deutlich zwischenautonomem Sichtaufrichten <strong>und</strong> befehlsmäßigem Aufgerichtet-werden. Dazuschreibt Pestalozzi:»Der Lehrer muss sich, sowohl was Stellung, als was Bewegung betrifft, vorordonanzmäßiger Steifheit hüten, er muss die Kinder frey behandeln, <strong>und</strong> ihnen einengehörigen Spielraum lassen. (…) Die pädagogische Gymnastik unterscheidet sich vorzüglichauch dadurch vor der militärischen, dass sie liberal ist.« (Pestalozzi, zitiertnach Warneken 1990a, S. 21)Die nationalstaatliche Wende der Pädagogik erfolgte dann im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong>brachte die ›Gehorsamform des Aufrechten‹ in alle soziale Schichten <strong>und</strong> Praxisbereiche.Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen 1814, die Ausbreitung desSchulbesuchs mit seinen strengen Verhaltensritualen sowohl im Klassenzimmer alsauch im Turnunterricht, die teilweise Übernahme quasi-militärischer Haltungsrituale indie Arbeitswelt <strong>und</strong> die Fortführung des Drills im Vereinssport forcierten diese Entwicklung.Dies führte in der Praxis nicht nur zu einer Perversion des aufrechten Ganges,sondern auch zu einer nachhaltigen Beschädigung seiner Idee: der Verwirklichung einerbürgerlich-humanistischen Körperkonzeption. Höhepunkt der Missachtung der anthropologischen<strong>und</strong> historischen Wurzeln der aufrechten Körperhaltung war die nationalsozialistischeAuslegung von »besserer Haltung«: Zwar knüpft sie mit ihrer Selbstinterpretationan die bürgerlichen <strong>und</strong> sozialistischen Befreiungsideen an, doch die mitGewalt gestreckten Körper zeigen deutlich, dass hier nicht die Befreiung des Individuums,sondern die Unterwerfung des Einzelnen im Dienste eines rigiden Systems beabsichtigtwar. Im Kontext der rassistischen Ideologie erhält die Interpretation vonKörperhaltungen <strong>und</strong> deren Schulung besondere Brisanz. Die Differenzierung in edlere<strong>und</strong> mindere Rassen mittels Haltungsbeobachtungen <strong>und</strong> -bewertungen führte zu einerDagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>gesellschaftlichen Haltungsdisziplin, die die Verbreitung faschistischer Ideale mit demeigenen Körper forcierte.Eine Neuorientierung der Musikpädagogik nach 1945 ist zunächst nur schwer zufinden. Vielmehr entstehen unterschiedliche musikpädagogische Strömungen, die versuchen,Musikerziehung (scheinbar) neu zu konzeptionieren (Jöde, Götsch, Haase,Messerschmid). Aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, dass die »alten« Musikpädagogen bleiben, istdies jedoch skeptisch zu hinterfragen. Die Frage nach Körperlichkeit in der musischenErziehung <strong>und</strong> Bildung bleibt dabei eher im Hintergr<strong>und</strong>, da die schrecklichen Erfahrungender Zeit des Dritten Reiches dieses Thema offensichtlich zunächst tabuisieren.Im Bereich der rhythmischen Erziehung (Orff, Feudel, Jacques-Dalcroze) gibt esAnsätze, die körperliche Ausdrucksformen im Sinne von ganzheitlicher Wahrnehmung<strong>und</strong> Tanz implizieren.Symptomatisch für eine veränderte Körperlichkeit, auch in der Musik, die natürlichauf dem Hintergr<strong>und</strong> der »Wirtschaftsw<strong>und</strong>erzeit« <strong>und</strong> dem Einfluss amerikanischer(Musik)-Kultur zu betrachten, ist der Begriff der »Coolness«. Er taucht erstmals in den1950er Jahren als Ableitung aus dem Cool-Jazz, einer Weiterentwicklung des Bebops,auf. Seit dieser Zeit verkörpert Cool-Sein für alle Jugendkulturen die besondere, beherrschte<strong>und</strong> gleichzeitig scheinbar leidenschaftslose Art <strong>und</strong> Weise sich zu bewegen<strong>und</strong> zu verhalten. Körpersprachlicher Ausdruck von offensichtlicher Unberührtheit <strong>und</strong>Geschlossenheit, Gesetztheit <strong>und</strong> Ruhe. Mimik <strong>und</strong> Gestik sind in dieser Selbstinszenierungsparsam eingesetzt, denn cool bleiben bedeutet auch die Fähigkeit zum Understatement.Dabei unterliegt der Begriff einem stetigen geschichtlichen Bedeutungswandel:Die extrovertierten Bühnenbewegungen eines Mick Jagger beispielsweise, in den1970er Jahren Inbegriff von Souveränität <strong>und</strong> Coolness, lassen ihn heute größtenteilszum ›Hampelmann‹ werden. Die körpersprachlichen Gesten <strong>und</strong> Haltungen der Hip-Hop-Szene oder die Rave-Shows der Techno-Gemeinde dagegen geben den Kindern <strong>und</strong>Jugendlichen heute die Möglichkeit einer eindeutigen, intensiven körpersprachlichenIdentifikation (vgl. Koerber 1990, S. 109ff). Es scheint so, als ob diese scheinbare»Anti-Haltung« einerseits als bewusst gewählte Zuordnung innerhalb der individuellenmusikalischen Sozialisation dient, andererseits aber auch eine negative Gr<strong>und</strong>haltungausdrückt, die eher an eine körperliche <strong>und</strong> soziale Antriebsschwäche erinnert. Die Verwechslungvon »lasch« <strong>und</strong> »locker« im Kontext von Körperhaltungen mag dies verdeutlichen.Musik als Impuls für äußeren Ausdruck einer inneren Haltung <strong>und</strong> als ein Teildes Wegs individueller Persönlichkeitsentfaltung <strong>und</strong> Identitätsfindung?2) Der Körper als InstrumentDie Wahrnehmung als Subjekt Mensch erfolgt auch über den eigenen Körper. EineAnnäherung an das Phänomen ›Musik <strong>und</strong> Körper‹ muss neben der fachlichen Perspektiveauf das Objekt Musik <strong>und</strong> das Subjekt Körper auch das eigene Erleben in denMittelpunkt der Überlegungen stellen. Diese subjektiven Erfahrungen lehren uns, dassunser Körper unser erstes <strong>und</strong> angeborenes Instrument ist, das uns nicht nur musikalischenAusdruck im motorischen Zusammenhang ermöglicht, sondern als »Klang-Körper«ein differenziertes Potenzial vokalen, rhythmischen <strong>und</strong> körperlich-expressiven162163


UnterrichtspraxisMusizierens entwickeln kann. Amrhein betont die besondere Beziehung von Musik<strong>und</strong> Körper in außereuropäischen Kulturen: Die ursprüngliche Beziehung zwischenMusik <strong>und</strong> Körper in zahlreichen außereuropäischen, z.B. schwarzafrikanischen Kulturenwird vor allem in den Tänzen, körpernahen Instrumenten <strong>und</strong> dem Körper, derselbst Instrument, »Body-Music« ist, deutlich. (vgl. Amrhein 1997, S. 45) Haselbachbemerkt, dass dies nicht nur in Naturvölkern vorzufinden ist, sondern auch in europäischer<strong>und</strong> außereuropäischer Musikkultur seinen Platz gef<strong>und</strong>en hat (z.B. raffinierteRhythmen der Stepptänzerinnen, Bodypercussion von Bobby McFerrin) (vgl. Haselbach1990, S. 83)Haselbach fragt in diesem Kontext nach der Bedeutung »leib-haften Musizierens«:neben der Ton- <strong>und</strong> Geräuscherzeugung mit Stimme, M<strong>und</strong>, Händen sieht sie auch dasMusizieren aus einer »inneren Bewegtheit«, aus der Ganzheit der körperlich-geistig-seelischenExistenz heraus als eine mögliche Antwort, aber auch das Musizieren in bestimmtenkörpernahen Stilen, etwa in Folklore oder Jazz kommen für sie als Alternativenin Betracht. Sie lässt die Antwort durch leibhafte subjektive Erfahrung entstehen, initiiertGruppenimprovisationen, rhythmische Bewegungsdialoge, die im Anschlussverbal reflektiert werden, um die erlebten Erfahrungen unter Umständen in erkenntnisrelevanteDeutungen zu transferieren (vgl. Haselbach 1990, S. 84ff).In unserer westlichen Musikkunst-Tradition erfreut sich die künstlerische Instrumentalausbildunggroßer Beliebtheit. Die »Flut von Exerzitien <strong>und</strong> Etüden regt zwarden sportlich-motorischen Ehrgeiz von Spielerinnen <strong>und</strong> Spielern« an, führt aber aufgr<strong>und</strong>der »Herrschaft des Geistlos-Mechanischen« zur Vernachlässigung der ästhetischenAuseinandersetzung mit der Musik (vgl. Grimmer 1990, S. 186). In den besonderenBlickpunkt gerät dabei die Bedeutung <strong>und</strong> Funktion der menschlichenKörperhaltung.Abbildung 1: Der Pianist Arthur Rubinstein in seinem Klavierspiel wie im täglichenLeben ein Musterbeispiel für Ausgewogenheit (Gelb 1999, S. 32)Geigers Ansatz einer körper-orientierten Instrumentaldidaktik eröffnet neue <strong>und</strong>wieder zu entdeckende Aspekte von Musik <strong>und</strong> Körper. Mit der Zielsetzung über reflektierteKörpererfahrungen ein effektives <strong>und</strong> gut koordiniertes Bewegungsverhalten zuentwickeln, das als Gr<strong>und</strong>lage eines Erkenntnisprozesses sowohl das innere als auch dasäußere musikalische Ausdrucksverhalten professionalisiert, bietet er ein musikdidaktischesKonzept, das sowohl auf wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen der menschlichen Wahrnehmungsentwicklungbasiert als auch die entwicklungs-psychologischen Lerntheoriennicht außer acht lässt (vgl. geiger 1996).Für Feldenkrais (1904<strong>–</strong>1984) war die gezielte <strong>und</strong> intensive Wahrnehmung vonHaltung <strong>und</strong> Bewegung eine zentrale Voraussetzung zur Entwicklung von Selbstbewusstsein.Selbsterziehung zum ›aufrechten Gang‹ als Symbol eines ausgewogenenMenschen erfolgt durch den Prozess unterschiedlicher Entwicklungsstufen der ›Bewusstheitdurch Bewegung‹. Die Entwicklung eines vollständigen Ich-Bildes über die Sinnesempfindung,das Gefühl <strong>und</strong> das Denken sind unmittelbar mit der Bewegung ver-Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>b<strong>und</strong>en, so dass sein Ansatz davon ausgeht, dass über die Wahrnehmung von Gr<strong>und</strong>bewegungenauch Veränderungen <strong>und</strong> Erweiterungen erlebbar sind (vgl. Feldenkrais1978, S. 31ff). Im Kontext von musikalischer Ausbildung <strong>und</strong> Körperarbeit hat der Ansatzvon Feldenkrais nicht nur therapeutische Bedeutung. Eine Stärkung des Selbst-Bewusstseins durch intensiv wahrgenommene Bewegungsarbeit kann auch durch aktivesMusizieren erfolgen.Eutonie ist ein weiteres Verfahren, Verhaltensweisen des Menschen in seiner Umweltzu erkennen <strong>und</strong> bewusst zu machen. Ausgangsgedanke der eutonischen Methodeist die Annahme, dass sich seelische Stimmungen in leiblichen Regungen ausdrücken<strong>und</strong> damit unmittelbar visuell <strong>und</strong> taktil zu erfassen <strong>und</strong> zu deuten sind (Spiegelungvon Psychosomatik. Eutonie ist als integrale Tonusregulation zu verstehen, die mit differenziertenÜbungsformen die Gr<strong>und</strong>formen der Bewegungsentwicklung zu vereinenversucht. Dabei ist die angestrebte Elastizität (z.B. einzelner Muskelgruppen, Glieder inBewegung <strong>und</strong> Haltung) eher taktil-kinetisch zu überprüfen als subjektiv fassbar, da siean eine Induktion im Sinne einer sozialen Kommunikation geknüpft ist. Diesekörperliche Balance mittels Eutonie wird deshalb als »das Verhaltensmuster desmenschlichen Wohlbefindens« bezeichnet (vgl. Glaser 1981, S. 24).Die Behaviorale Kinesiologie von John Diamond, eine Entwicklung aus der AngewandtenKinesiologie, umfasst viele ›Heilkünste‹ (psychosomatische Medizin, Allergologie,Psychiatrie etc.), wobei der Zusammenhang körperlicher Prozesse mit emotionalen<strong>und</strong> biochemischen Abläufen im Vordergr<strong>und</strong> steht. Sie wurde in den 1960er Jahrenvon dem amerikanischen Chiropraktiker Goodheart aus der Verknüpfung traditionellerchinesischer Medizin <strong>und</strong> westlicher Konzepte heraus als ganzheitliche Methode zurHarmonisierung menschlicher Energien, zur Auflösung von Blockaden <strong>und</strong> zur Anregungder Selbstheilungskräfte entwickelt. Die Überprüfung des Muskeltonus durch einenMuskeltest gibt aus kinesiologischer Sicht Auskunft über den Energiefluss im Körper.Die Körperenergie-Analyse (Thymuspunkttest) wird verb<strong>und</strong>en mit den verschiedenenFaktoren der Umwelt, des individuellen Lebensstils, der besonderen Gewohnheiten<strong>und</strong> Charakteristika, wie z.B. Körperhaltung, Stressbewältigungsstrategien, <strong>und</strong> zu einemGesamtbild der Lebensenergie als Quelle physischen <strong>und</strong> psychischen Wohlbefindenszusammengefügt. Die Balance der Belastung der beiden Gehirnhemisphären istein weiterer Indikator für den kinesiologischen Körperansatz. Unausgeglichenheiten immenschlichen Energiesystem (Meridiane) sind nach Ansicht Diamonds Ursache fürviele Krankheiten <strong>und</strong> Störungen. Eine gute Haltung, die richtige Ernährung <strong>und</strong> dieheilenden Qualitäten der Musik werden als notwendige Voraussetzungen für eine guteGes<strong>und</strong>heit propagiert. Interessant ist die Aussage von Diamond, dass 80% der Dirigentennoch mit siebzig Jahren arbeiten, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartungdes amerikanischen Mannes bei 68,9 Jahren liegt (Igor Strawinsky, 89; ArturoToscanini, 89; Karl Böhm, 83; Felix Weingarten, 78 <strong>–</strong> Stand 1978). Empirisch belegteErklärungen liegen dazu nicht vor, aber Diamond führt es aufgr<strong>und</strong> seiner Forschungenin der Behavioralen Kinesiologie zurück auf den ständigen Einfluss von musikalischenKlängen <strong>und</strong> Rhythmen auf das menschliche Energiesystem <strong>und</strong> die intensive164165


Unterrichtspraxisrhythmische Körperarbeit, die eine gute Verbindung zu dem »inneren Puls« als»Schlüssel zum Einfühlungsvermögen« herstellt (vgl. Diamond 1990, S. 150ff).Abbildung 2: Yehudi Menuhin (1910-1999)Aus den kinesiologischen Ansätzen John Diamonds entwickelten die BerufsmusikerinnenRosina Sonnenschmidt <strong>und</strong> Harald Knauss zu Beginn der 1990er Jahredie Musik-Kinesiologie. Gr<strong>und</strong>lagen bildeten zum einen die neuesten neurologischen Erkenntnisseüber Gehirntätigkeiten <strong>und</strong> Stress, zum anderen die spezifischenZusammenhänge zwischen Klang, Farbe, Emotion <strong>und</strong> Ausdruck. Sogenannte »Entstressungen«erfolgen in verschiedenen Bereichen:t Körperebene: Muskelverspannungen, Atemenergie, Haltungsproblemet Emotionale Ebene: Lampenfieber, Lernblockaden, Prüfungsängste, Kritik, hierarchischeStrukturprobleme usw.t Musikalische Strukturelemente: Einzeltöne, Tonarten, Intervalle, Rhythmus, Musikwerkt Bühnenenergetik: Interpretation, Ausdruck, Ausstrahlung, Originalität, Kreativität,Inspiration, Intuition« (vgl. Bucher 2000, S. 230ff)Seit ihrer Entstehung ist die Kinesiologie nicht unumstritten. Die fehlenden empirischenForschungen <strong>und</strong> die schwierige Nachweisbarkeit der Wirkungen von kinesiologischenBehandlungen <strong>und</strong> Methoden bringen sie immer wieder in die Kritik. Bemerkenswertist auch, dass in diesem Zusammenhang Körperhaltung nicht explizit mitnonverbaler Kommunikation in Verbindung gebracht wird, sondern eher unter medizinischenoder musikalischen Gesichtspunkten (Fehlhaltungen: ges<strong>und</strong>heitliche Schäden,Defizite in der musikalischen Interpretation) als Prävention oder Heilung gesehenwird. Im Bereich der Bühnen-Energetik ist aber eine unmittelbare Auseinandersetzungmit der Körperhaltung bei der Fragestellung von Interpretation, Ausdruck, Ausstrahlungetc. zu vermuten.3) Körperhaltung <strong>und</strong> StimmeDer Stimme kommt in diesem Zusammenhang eine besondere entwicklungsgeschichtlicheBedeutung zu: Die Stimme gibt einem Säugling bedeutsame Bewegungs<strong>und</strong>Artikulationsmöglichkeiten. Es finden sich analoge Ebenen von Motorik <strong>und</strong> Klangbei der Unterstützung durch körpersprachliche Bewegungen. Eine Ausdrucksförderungdurch Musik findet im Agieren auf der motorischen <strong>und</strong> klanglichen Ebene (Singen,Klang-, Artikulations- <strong>und</strong> Sprechspiele) statt.Das Bewusstsein für Stimme <strong>und</strong> Haltung (Atemfrequenz, innere <strong>und</strong> äußere Haltung)ist eine wesentliche Gr<strong>und</strong>lage für die Fähigkeit, mit anderen Menschen in Kommunikationzu treten. Nicht nur sprachliche Barrieren wie Stottern oder andere Sprachfehlerkomplizieren den zwischenmenschlichen Kontakt: Auch körperliche Verspannungen,die z.B. im Zusammenhang mit einem unruhigen Atmen stehen, können sichauf Zuhörerinnen oder Zuschauerinnen übertragen <strong>und</strong> zu gravierenden Verständigungsschwierigkeitenführen. Aber das fließende, ökonomische, rhythmische Spre-Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>chen <strong>und</strong> Bewegen eines Gegenübers kann im persönlichen Gespräch besonders überzeugen.Die körperliche Auseinandersetzung mit Atem <strong>und</strong> Stimme ist ein möglichesInstrument, Zugang zu sich selbst <strong>und</strong> zu den Mitmenschen zu finden. Hierbei kommtder aufrechten Körperhaltung eine große Bedeutung zu, da sie die Gr<strong>und</strong>lage der physischen<strong>und</strong> psychischen Voraussetzungen eines fließenden Atems <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>eneiner effektiven Sprech- <strong>und</strong> Singstimme ist. »Stimmigkeit, Harmonie der Atem-,Stimm- <strong>und</strong> Bewegungsfunktionen sind wichtige Voraussetzungen für Kommunikationsfähigkeit.«(Saatweber 1994, S. 176 ff)Die besondere Ausdrucks- <strong>und</strong> Darstellungsfähigkeit von Atem <strong>und</strong> Stimme ermöglichtein differenziertes Artikulieren, Imitieren <strong>und</strong> Improvisieren, sofern wir nicht nuran ausgebildete Sängerinnenstimmen denken, sondern die ursprüngliche motorischeFunktion der Stimme als Gr<strong>und</strong>lage musikalischer Tätigkeit nehmen, da sie jederzeitverfügbar ist <strong>und</strong> sich auf die gesamte Körperbewegung auswirken kann. Der Atem istaufgr<strong>und</strong> seiner existenziellen lebenserhaltenden, energetisierenden Funktion <strong>und</strong> alsBasis von Stimmbildung <strong>und</strong> vokalem Ausdruck näher zu betrachten. Auf Erfahrungenmit der Wechselwirkung von Atmung, Stimme, Sprache, Haltung <strong>und</strong> Bewegung gründetauch die Arbeit von Clara Schlaffhorst (1863-1945) <strong>und</strong> Hedwig Andersen(1866-1957), die um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende die so genannte »Rotenburger Atemschule«entwickelten. Gr<strong>und</strong>lage dieser ganzheitlichen Arbeit ist das Prinzip der Eigenerfahrung(der ausgebildeten Atem-, Sprech- <strong>und</strong> Stimmlehrerinnen) als Voraussetzung zurErfüllung der pädagogisch-therapeutischen Aufgabe sowohl in der Ges<strong>und</strong>heitserziehung(z.B. Erzieherinnen- <strong>und</strong> Lehrerinnenfortbildung) als auch in der künstlerischenAusbildung (z.B. chorische Stimmbildung oder Instrumentalspiel) (vgl. Saatweber1994).Ilse Middendorf (geb. 1910) ist Gründerin eines Instituts für Atemtherapie(1965). Ihre Atemlehre, die drei Arten des Atmens unterscheidet (der unbewusste Atem,der willkürliche Atem, der erfahrbare Atem), kann als elementare Gr<strong>und</strong>lage für Schauspielerinnen,Sängerinnen, Musikerinnen, aber auch Politikerinnen, Lehrerinnen <strong>–</strong>kurz: für all jene gesehen werden, deren Professionalität überwiegend in kommunikativer<strong>und</strong> somit auch körpersprachlicher Kompetenz liegt. Schließlich kann eine energetische»Körper-Balance« aber auch gr<strong>und</strong>sätzlich prophylaktische <strong>und</strong> therapeutischeWirkung zeigen, unabhängig von einem speziellen Berufsbild.»Die Bewegungen aus dem Atem sind das angestrebte <strong>und</strong> eigentliche Ziel unsererArbeit. Atem <strong>und</strong> die ihm innewohnenden Bewegungen werden zum Ausdruck desEinmaligen <strong>und</strong> des Schöpferischen im Menschen. Er erkennt sich selbst darin <strong>–</strong> ergewinnt Kräfte, die ihn in seiner Substanz stärken.« (Middendorf zitiert nachBryner-Kronjäger 1990, S. 37).Diese Selbsterfahrung durch Atemarbeit kann ein Weg sein auf der Suche nach einerausgeglichenen, flexiblen inneren <strong>und</strong> äußeren Haltung: Ziel ist es Körperempfindungenklarer zu erleben, die Beweglichkeit zu vergrößern <strong>und</strong> körperliche Fehlhaltungen<strong>und</strong> seelische Unausgeglichenheit wieder in ein Gleichgewicht zu bringen.166167


UnterrichtspraxisFrederick Matthias Alexander (1869-1955), Schauspieler <strong>und</strong> Rezitator, entwickelteAnfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts aufgr<strong>und</strong> seiner eigenen Krankheitsgeschichte(Atembeschwerden <strong>und</strong> Heiserkeit) durch intensive Selbstbeobachtung die sogenannte»Alexander-Technik«: Durch bewusstes Erspüren <strong>und</strong> Auflösen stereotyper Verhaltensmustersoll sie schädigende Einflüsse auf den »psychologischen Organismus« durchSelbstregulation beseitigen <strong>und</strong> effizientere Bewegungen ermöglichen. Dabei handeltsich um ganz ursprüngliche Bewegungsmuster <strong>und</strong> Körperhaltungen, die in der Kindheitsphasenatürlich erlernt <strong>und</strong> im Laufe der menschlichen Entwicklung wieder verlerntwurden. Für Alexander beinhaltete seine Methode nicht nur Konsequenzen aufkörperlicher Ebene: er sah darin eine mögliche gr<strong>und</strong>legende Veränderung der gesamtenemotionalen <strong>und</strong> mentalen Sicht der Welt, da er von der menschlichen Einheit Körper,Geist <strong>und</strong> Seele ausging (vgl. Brennan 1993, S. 13).Im Zusammenspiel von Atmung, Stimme <strong>und</strong> Haltung vervollständigen sichKörperbild <strong>und</strong> Körperschema durch die propriozeptive Wahrnehmung <strong>und</strong> verhelfenzu einem erweiterten Körperbewusstsein. Diese Arbeit muss in der (sozial-)pädagogischenAusbildung als elementarer berufsbezogener Inhalt gesehen werden: Sowohldas Erlebnis vom Sprechgesang bis zum Singen als musikalisches Lernen als auchdie rhetorische Kompetenz für (sozial-)pädagogische Interaktionsprozesse sind meinesErachtens wichtige Gr<strong>und</strong>lagen einer angemessenen Handlungskompetenz für pädagogischTätige.4) Körperhaltung <strong>und</strong> RhythmusRhythmus als tragende Kraft stellt nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganzkonkret die Möglichkeit der Bewusstseinerweiterung menschlicher Körperwahrnehmungdar: den eigenen Herzschlag spüren, die Zwischenräume wahrnehmen, dierhythmischen Bewegungen der Organe erleben, das Atmen als Lebensquelle erleben,Gehen als rhythmisches Wechselspiel zwischen Fallen <strong>und</strong> Auffangen spüren, aber auchTag <strong>und</strong> Nacht, Ebbe <strong>und</strong> Flut, Sommer <strong>und</strong> Winter als Lebensrhythmen begreifen, dievon uns aktiv gestaltet werden können. In Gestalt der musischen Phrase zeigen sichSpannung, Entspannung, Ruhepausen, Tempo <strong>und</strong> Metrum, die körpermusikalisch erfahrbarsind, als Eigenwert, aber auch, um sie dann instrumental umzusetzen.Das Medium Körper wird dabei zum lebendigen Instrument, das nicht nur äußereImpulse innerlich spürbar macht (Grooven <strong>und</strong> Stampfen mit den Füßen, Klatschenmit den Händen) <strong>und</strong> innere Impulse nach außen darstellt, sondern auch Strukturenbietet, die Regelmäßigkeiten <strong>und</strong> Ordnungen herstellen, um Orientierung für sinnhafteHandlungen zu ermöglichen (zeitliche Strukturen, rhythmische Abläufe, tonale Ordnungen).Der menschliche Körper hat z.B. im Kontext perkussiver Rhythmik immereine doppelte Funktion: die passive als Rhythmus-Empfänger <strong>und</strong> die aktive als Rhythmus-Erzeuger(z.B. Bodypercussion).In der Spannung zwischen der befreienden <strong>und</strong> mitreißenden Wirkung einerseits<strong>und</strong> der ordnenden, strukturierenden Wirkung von Musik <strong>und</strong> Rhythmus auf der andereSeite liegt die ›Macht des Rhythmus‹.Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>Gerade im Kontext von Körperhaltungen kommt dem Rhythmus besondere Bedeutungzu. Durch die verschiedenen Gestaltungsebenen des Körpers können rhythmischeZyklen z.B. durch Klatschen <strong>und</strong> Gehen ganzkörperlich erfahren werden. Flatischler(1990) beschreibt die Funktion des Gehens als Ausdruck des persönlichen Rhythmus.»Jeder zeigt dabei seinen Charakter, <strong>und</strong> für jeden ist Gehen geformtes Pulsieren. …Wenn Du einige Zeit in einer belebten Fußgängerzone sitzt, dann kannst du an denvorbeigehenden Menschen die unterschiedlichsten Eigenschaften in ihren Gehbewegungenentdecken: Flexibilität <strong>und</strong> Starrheit, Hasten <strong>und</strong> ruhig fließende Bewegungen,Ruckhaftigkeit, Regelmäßigkeit <strong>und</strong> noch vieles andere. Alle diese Eigenschaftenkannst Du in unzähligen Nuancen <strong>und</strong> Verbindungen sehen, die jeder imLaufe seines Lebens geformt hat. Das Gehen ist nicht nur eine rhythmische Ausdrucksform,es kann auch eine Rhythmusübung unseres täglichen Lebens sein.«(Flatischler 1990, S. 120)Die von Flatischler beschriebenen Gehbewegungen sind in Bewegung gebrachteKörperhaltungen. Ausgangspunkt für jede Form des Gehens ist ein Ausgangspunkt, einStand-Punkt, der sich durch eine bestimmte Körperhaltung ausdrückt.Die anthroposophische Erziehungslehre von Rudolf Steiner (1861-1925) betrachtetdie Eurythmie als Bewegungskunst <strong>und</strong> -therapie, bei der sowohl Sprache (Lauteurythmie)als auch Musik (Toneurythmie) in Ausdrucksbewegungen umgesetzt <strong>und</strong> getanztwerden. Eine besondere Beachtung findet hier der Rhythmus,»wobei das Verhältnis der Bewegung zur Sprache (Vokale, Konsonanten, Grammatik,aber auch »seelische Gebärden« wie »Ruf«, »Frage«, »Verzweiflung«) sowie zurMusik (Takt, Rhythmus Melos) fest geregelt ist, also nicht etwa individuell-subjektivenAusdruck findet.« (Bleckwenn 2000, S. 89)Die einzelnen Bewegungen werden als ›Gebärde‹ bezeichnet <strong>und</strong> in farbigen Gewändern,deren Gr<strong>und</strong>farben aus Goethes Farbenlehre abgeleitet werden, dargeboten.Eurythmie ist seit der Gründung der ersten Freien Waldorf-Schule 1919 ein Pflichtfachan allen anthroposophischen Schulen. Über elementare Bewegungen, einfache geometrischeFormen <strong>und</strong> die Einprägung der grammatischen Begriffe <strong>und</strong> Laute entwickelnsich die Inhalte des Unterrichts zu choreografischen Gruppenübungen, in denen größereEnsembles Dichtungen <strong>und</strong> mehrstimmige Musikwerke erarbeiten.5) Körperhaltung <strong>und</strong> TanzIm aktiven Umgang mit Musik kommt dem Bereich »Musik <strong>und</strong> Bewegung« einegroße Bedeutung zu. Die nahe Verwandtschaft von Musik <strong>und</strong> Tanz zeigt sich bei derErarbeitung von Tempo, Rhythmus, Dynamik, Metrum <strong>und</strong> elementarer Formen. Tanzgilt als ein f<strong>und</strong>amentales Ausdrucksmedium für den Menschen: Für Kommunikation,Selbstdarstellung, Bewältigungs- <strong>und</strong> Beschwörungsrituale <strong>und</strong> für Heilungs- <strong>und</strong> Integrationsprozessewurde Tanz verwendet. Für Berendt (1996) scheint »jegliche Trennungvon Musik <strong>und</strong> Körper widersinnig«. Er beschreibt seine Entdeckung klassischeMusik zu »ertanzen« <strong>und</strong> sie durch intensives körperliches Erleben auf einer anderen168169


UnterrichtspraxisEbene wahrzunehmen (vgl. Berendt 1996, S. 4ff). Haselbach weist auf die Möglichkeitder Vorbereitung von Vornotation, Dirigieren oder Darstellung verschiedener Stilbereiche(z.B. Folklore, höfische Kunst) durch Bewegungsgestaltung hin (Haselbach1991, S. 11). Physische, affektive <strong>und</strong> intellektuelle Fähigkeiten sollen durch Bewegungzum Ausdruck <strong>und</strong> zur Entfaltung gebracht werden. Anknüpfend an die Erkenntnisseder Sensomotorik wird davon ausgegangen, dass sich diese durch Bewegung gewonnenenErfahrungen auf die gesamte persönliche Entwicklung auswirken. Neben intensivenErfahrungen mit den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körpers, der Koordination,der räumlichen Orientierung, der Konzentration, der Reaktion <strong>und</strong> der Kreativitätbeinhaltet tänzerische Erziehung auch eine vielfältige Sinnesschulung, eine Förderungder Begriffsbildung <strong>und</strong> der verbalen Sprache. Der Bereich der Förderung von sozialemVerhalten <strong>und</strong> der Kommunikation ist in ihren Ausführungen begrenzt auf das gruppen-dynamischeMiteinander, die Freude am gemeinsamen Tun <strong>und</strong> der Konfliktlösung.Als »Differenzierung <strong>und</strong> Individualisierung« bezeichnet Haselbach die Entwicklungeiner individuellen Ausdrucksform in der Bewegung mittels problemlösendermotorischer Aufgabenstellungen (Haselbach 1991, S. 27ff). Die durch Tanzen individuellentwickelten körperlichen Ausdrucksformen bieten die Möglichkeit, wichtigekommunikative Kompetenzen aufzubauen, (weiter-) zu entwickeln <strong>und</strong> zu »pflegen«.Über die Funktion <strong>und</strong> Bedeutung von Körperlichkeit in der Rock- <strong>und</strong> Popmusikschreibt Schütz 1988: Tanzen erfüllt nicht nur tendenziell lebensnotwendige Funktionen,sondern bringt auch einen Protest gegen bestimmte gesellschaftliche Normen <strong>und</strong>Zwänge zum Ausdruck. Die spezifisch-rhythmische Struktur von Rock- <strong>und</strong> Popmusikgibt Jugendlichen die Möglichkeit, ihr Selbst durch körpermotorische Rezeption in Einklangmit ihren eigenen Triebansprüchen <strong>und</strong> Bedürfnissen zu bringen. DerRock’n’Roll brachte eine ungewöhnlich neue Art der Körpersinnlichkeit nach Europa: erwar unmoralisch, obszön <strong>und</strong> galt als Störfaktor im Normensystem des »Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers«.Die Entwicklung des Beats nach 1963, die englische Rockmusik der Beatles,der Rolling Stones, von The Who, den Kinks <strong>und</strong> von Led Zeppelin brachte einekörpermotorische <strong>und</strong> psychische Befriedigung der Bedürfnisse der Jugendlichen mitsich. Im Protest gegen den konventionellen Paartanz entstand ein tänzerischer Dialogmit dem eigenen Körper als sinnlichem Geschöpf. Möglichkeiten vielfältiger Körpererfahrungenbietet spontanes Bewegungsverhalten zur Musik. Hier findet eine Auseinandersetzungmit musikalischen Ausdrucksformen <strong>und</strong> die Umsetzung polyrhythmischer<strong>und</strong> metrischer Ordnungsprinzipien in Körperbewegung statt. Das vorhandeneKommunikationsbedürfnis der Jugendlichen zeigt sich u.a. in der Thematisierung vonindividuellem Ausdrucksgehalt von Körperbewegungen <strong>und</strong> dem Körper als subtilemTräger von innerem <strong>und</strong> äußeren Ausdruck. Schütz sieht eine Weiterführung dieser Erfahrungenz.B. im Tanztheater: Die eigene Subjektivität <strong>und</strong> die eigene Lebensgeschichtekann in gespielte oder getanzte Rollen eingebracht werden <strong>und</strong> der Erforschungdes eigenen Ichs dienen. Körperarbeit ermöglicht existenziell bedeutsame Erfahrungenin der Begegnung mit Neuem <strong>und</strong> Unerschlossenem (vgl. Schütz 1988,S. 101ff).Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>»Sich über persönliche Körpererfahrung auszutauschen, seinen eigenen Körpersamt seiner Geschichte <strong>und</strong> damit auch sich selbst ein Stück weit im Kontext sozialer<strong>und</strong> psychosozialer Prozesse wahrzunehmen, zu akzeptieren <strong>und</strong> eventuell zuverändern. Ein erster Schritt auf dem langen, aber notwendigen Weg zur Entfaltungdes eigenen Selbst.« (Schütz 1988, S. 106)Historisch gesehen zeigen sich unterschiedliche Tanzstile <strong>und</strong> -epochen immer imKontext gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Entwicklungen. GesellschaftlicheSpiegelungen finden sich immer wieder in Tanzformen: zu Beginn der Renaissance entstehenan italienischen Höfen erste Formen symmetrischer bzw. geometrischer Tanzfiguren.Analog zur Beherrschung der äußeren Natur soll auch die innere Natur beherrschtwerden. Die feudale Tanzpraxis (Tänze des 17./18. Jahrh<strong>und</strong>erts) ist bis heutewirksam. In der europäischen Sozialgeschichte zeigt sich die Suche nach körperlicherBefreiung im Tanz beispielsweise im Walzer im späten 18./19. Jahrh<strong>und</strong>ert oder imTanzverhaltens der »goldenen« 1920er Jahre. Die aktuellen Tanzrichtungen des Hip-Hop oder des Techno (mit ihren vielfältigen Facetten) sind ebenfalls mehr als nur einmusikalisches Ausdrucksmittel: sie sind Teil einer Musikkultur <strong>und</strong> stellen auf verschiedenensymbolischen Ebenen die »Ästhetisierung kultureller Identität« dar (Müller1993, S. 6). In der (sozial-)pädagogischen Praxis muss diesem körpernahen Weg derIdentitätsfindung durch musisch-kulturelle Sozialisation breiten Raum gegeben werden.Durch die enorm schnelle Entwicklung von populärer Musik- <strong>und</strong> Medienkultur inden letzten Jahren gestaltet sich die Suche nach Orientierung <strong>und</strong> Halt unübersichtlich<strong>und</strong> schwierig. Wesentlicher Bestandteil der bunten Vielfalt körperbetonter Musikrichtungen,wie z.B. Punk-Rock, HipHop, Techno, ist die körperliche Expression (z.B. Pogo-Tanz, Break-Dance, Rave-Dance).Der therapeutische Wert tänzerischer Darstellungen <strong>und</strong> Prozesse wird im 20. Jahrh<strong>und</strong>ertwiederentdeckt u.a. durch Marian Chace, Lilyan Espenak, Mary Whitehouse<strong>und</strong> Trudi Schoop. Aufgr<strong>und</strong> ihrer eigenen künstlerischen Tanzerfahrungen<strong>und</strong> der Zusammenarbeit mit psychologischen Therapeuten <strong>und</strong> psychiatrischen Institutionenentsteht ein tanztherapeutisches Konzept, das zunächst in Amerika Verbreitung<strong>und</strong> Anwendung findet. Die Integrative Tanztherapie nutzt das Wissen um die uralteheilende Kraft des Tanzens (wovon man in Naturvölkern ganz selbstverständlichausgeht) <strong>und</strong> verbindet dies mit der Auffassung, dass Tanz ein expressives <strong>und</strong> kommunikativesMedium ist, mit individuellen Möglichkeiten des Sich-Bewegens <strong>und</strong> des Ausdrucksmenschlicher Erfahrungen durch Bewegung. Gleichzeitig trug die stärkere Betonungder interpersonellen Interaktion <strong>und</strong> Kommunikation in der allgemeinen Psychotherapiezur Entwicklung der Tanztherapie bei.Das Phänomen Körperhaltung innerhalb der Entwicklung von Körperbewusstseintangiert viele Bereiche des Tanzens: Die Entdeckung von einzelnen Körperteilen, vonMuskel- <strong>und</strong> Gelenkfunktionen, von Stabilität <strong>und</strong> Labilität ist Voraussetzung für dieGr<strong>und</strong>formen des Bewegens <strong>und</strong> für den Halt im Körper. Zentrale Themen sind dieAuseinandersetzung mit Zeit <strong>und</strong> Rhythmus, mit dynamischen Spannungs- <strong>und</strong> Entspannungsverhältnissen<strong>und</strong> mit räumlicher Orientierung. Sie bilden erst die Gr<strong>und</strong>-170171


Unterrichtspraxislage der Entwicklung eines inneren <strong>und</strong> äußeren Haltes unterschiedlicher individuellerPrägung. Die »aufrechte Haltung« erhält hier im doppelten Sinne Bedeutung. Erstens:Präzision <strong>und</strong> Klarheit von Bewegungsmustern erfordern ein Bewusstsein für unterschiedlicheAusdrucksmöglichkeiten von Körperhaltungen. Zweitens: Aus psychologischer<strong>und</strong> physiologischer Sicht ist die aufrechte Haltung äußerer Ausdruck einer innerenEinstellung. Dadurch ergibt sich die Chance eines weiteren hermeneutischen Prozessesin der subjektiven Kommunikation mit sich <strong>und</strong> der Umwelt.Die unterschiedlichen körperorientierten Verfahren <strong>und</strong> Konzepte zur Ausdifferenzierung<strong>und</strong> Erweiterung nonverbaler Kommunikation konnten im Rahmen dieser Arbeitnur ansatzweise dargestellt <strong>und</strong> auf den Teilaspekt der Körperhaltung reduziert werden.Sie zeigen die vielfältigen Zugangsmöglichkeiten zu einer Auseinandersetzung mitdem Phänomen Körperkommunikation im Kontext von Musikerziehung <strong>und</strong> sozialpädagogischerBerufsausbildung, wenngleich auch Abgrenzungs- <strong>und</strong> Differenzierungsproblemedeutlich werden. Der Effekt der persönlichkeits-bildenden Maßnahme <strong>und</strong>der Ges<strong>und</strong>heitsprophylaxe gilt natürlich nicht nur für sozialpädagogisch oder pädagogischTätige: Neben der Funktion als Unterrichtsinhalt im Sinne von Wissensvermittlung<strong>und</strong> als Schulung zur Erweiterung der persönlichen kommunikativen Kompetenzvon Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden bleibt dabei zu beachten, dass erfolgreiche Lernprozesseim Bereich Körperkommunikation immer durch die Lernenden alsMultiplikatoren in weiteren Interaktionen weitergegeben werden. Hier kommt der doppelteTheorie-Praxis-Bezug zum Tragen.III. Implikationen für die pädagogische<strong>und</strong> sozialpädagogische Ausbildung1) Wirkungen von <strong>Körpersprache</strong> <strong>und</strong> musisch-ästhetischer Bildung <strong>und</strong> ErziehungIn der pädagogischen Fachliteratur werden häufig Zusammenhänge zwischen denFächern Deutsch <strong>und</strong> nonverbaler Kommunikation, Kunst <strong>und</strong> <strong>Körpersprache</strong>, Sport<strong>und</strong> Bewegungstheater hergestellt (z.B. Rosenbusch u.a. 2000), oder es finden sichKonzepte der Körperarbeit mit Musikern, Instrumentalisten, Sängern zur Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<strong>und</strong> zur Optimierung künstlerischen Ausdrucks (z.B. Bryner-Kronjäger1990, Klein-Vogelbach 2000, Geiger 1996). Zur Bedeutung des Musikunterrichts<strong>und</strong> der musisch-ästhetischen Bildung im Sinne einer körperorientierten Persönlichkeitsbildungfinden sich als Gegenstand wissenschaftlicher Musik- oder Kommunikationsforschungnur wenige Hinweise. Interessant erscheint im Kontext der Fragestellungvon Körperwahrnehmung <strong>und</strong> musisch-ästhetischer Bildung die Vermutung, dass Musikerscheinbar eine ausgeglichenere Hemisphären-Interaktion besitzen. Die kontinuierlicheBelebung der linken Gehirnhälfte führt z.B. durch Fingerübungen beim Klavierspielzu einer Vergrößerung der beanspruchten Bereiche.Bryner-Kronjäger beschreibt die Relevanz von Körperhaltung beim Musizieren<strong>und</strong> kommt zu dem Schluss, dass diese Selbst-Erfahrung (z.B. Atemtherapie nach Mid-Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>dendorf) mit dem Körper der Ursprung von Selbst-Bewusstsein ist. Die Erweiterungeines Körperbewusstseins durch intensive musikalische Bildung, das Sich-selbst-Fühlen,z.B. durch Bewegung <strong>und</strong> Tanz, gibt uns die Möglichkeit unseren Körper als unszugehörig zu erleben <strong>und</strong> ihn als bedeutungsvollen »Gestaltungsteil« einer Persönlichkeitzu erfahren. Diese Fähigkeit, den eigenen Körper als Wahrnehmungsorgan einerseits<strong>und</strong> als Gestaltungsmedium andererseits zu nutzen, steigert die kommunikativeKompetenz in erheblichem Maße (vgl. Bryner-Kronjäger 1990, S. 37).Für die Klärung eines Zusammenhanges zwischen Wirkungen von Körperhaltungen<strong>und</strong> musisch-ästhetischer Bildung im Rahmen (sozial-)pädagogischer Berufsausbildungenliefern die erziehungswissenschaftlichen Aspekte von Körpererfahrung vonPaulus (1982) noch weitere Hinweise. Er sieht Körpererfahrungen als Stärkung <strong>und</strong>Schutz der im Laufe der Sozialisation erworbenen Selbsttheorie. Sie zielt auf die »Sicherung<strong>und</strong> Erhaltung einer »optimalen Lust-Unlust-Balance« (psycho-physisches Wohlbefinden),auf die »Organisation der Erfahrungsdaten, die eine effektive <strong>und</strong> effizienteAuseinandersetzung mit der Umwelt ermöglicht« <strong>und</strong> auf die »Absicherung einer positivenSelbstwertschätzung <strong>und</strong> -akzeptierung« (Paulus 1982, S. 101). Pädagogisch Tätigemüssen der elementaren Bedeutung dieser »Bewegungssozialisation« gerecht werden,indem sie eine angstfreie, beschützende <strong>und</strong> anregende Atmosphäre fürkörperliche Lernerfahrungen herstellen. Ein umfangreiches Wissen <strong>und</strong> intensive Erfahrungenmit dem eigenen Körper sind dafür Vorraussetzung. Die Einbeziehung nonverbalerKommunikation bewirkt nach Paulus eine besondere Förderung des kontinuierlichenProzesses der Integration des erlebten eigenen Körpers.»Durch Sensibilisierung der Wahrnehmung für das, was der eigene Körper vom eigenenSelbst mitteilt, durch Übung der körperlichen Ausdrucksfähigkeit mittelsRhythmik, Tanz, Gymnastik kann das Individuum angeregt werden, den eigenenKörper als Ausdruck seiner Selbst zu verstehen.« (Paulus 1982, S. 105)Die Erzieherin <strong>und</strong> Pädagogin kann dabei den Prozess nur in dem Maße sinnvollbegleiten, wie sie sich selbst auf diesen Prozess einlässt, d.h. zum einen: Es müssen adäquatemusisch-ästhetische Erfahrungsangebote während der beruflichen Ausbildunggeschaffen werden, zum anderen müssen sich die Auszubildenden auf die musikalischkommunikativeAuseinandersetzung einlassen. Die Konsequenzen eines doppeltenTheorie-Praxis-Bezuges werden hier deutlich: Die Lehrkräfte der (sozial-)pädagogischenBerufsausbildung (z.B. an Fachschulen, Hochschulen oder in Studienseminaren) initiierenImpulse für die Entwicklung eines Körperbewusstseins im Rahmen kommunikativerKompetenzen.Die Entdeckung der individuellen Körperhaltung in der musisch-ästhetischen Erziehung<strong>und</strong> Bildung als psychischer Ausdruck einer Haltung, einer Stellung-Nahme, einesStand-Punkts erweitert musisch-kreative Gestaltungsfähigkeiten <strong>und</strong> -fertigkeiten<strong>und</strong> offensichtlich auch kommunikative Kompetenz als Sozialkompetenz. Das musischästhetischeErleben <strong>und</strong> Handeln eröffnet Erfahrungsräume zur Entdeckung des individuellenKörperausdrucks, zum Dialog mit inneren <strong>und</strong> äußeren Bewegungsmustern,die einerseits Auseinandersetzung <strong>und</strong> Diskurs ermöglichen, andererseits aber auch172173


UnterrichtspraxisOrientierung <strong>und</strong> Halt geben. Die dargestellte ursprüngliche Verbindung von nonverbalemAusdruck <strong>und</strong> musikalischem Handeln lässt die Vermutung zu, dass musisch-ästhetischeErziehung <strong>und</strong> Bildung einen wichtigen Beitrag sowohl zur Gr<strong>und</strong>legungkommunikativer Kompetenzen als auch zur Erweiterung <strong>und</strong> Erhaltung dieser Fähigkeitenleisten kann.2) Didaktische Beispiele körperorientierter musisch-ästhetischer BildungAnhand einiger exemplarischer Praxisbeispiele, die auch für eine Lernfeldkonzeptionin der sozialpädagogischen Berufsausbildung relevant erscheinen, soll im Folgendender Ansatz einer didaktischen Umsetzung vorgestellt werden. Sie können Bausteinefür den Entwurf eines inhaltlichen Konzepts körperorientierter musisch-ästhetischer Erziehung<strong>und</strong> Aus-, Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung sein.Musik ist eine »physiologische Kunst«, so die Auffassung Rüdigers (1996), in der»das Spiel der Augen-Blicke <strong>und</strong> der Körper-Gesten eine physiologische Polyphonie eigenerArt« entwickelt. Dieses menschliche Miteinander beinhaltet für Rüdiger bereitsEnsemblespiel, das von sich aus »zur musikalischen Kommunikation mittels Körpern<strong>und</strong> Klängen tendiert«. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage können Kammermusik- oder Orchesterkompositionenkörpermusikalisch erarbeitet <strong>und</strong> dabei auch durch Reduktion auf dasWesentliche musiktheoretisch (Aufbau, Stimmverteilung, Affektgehalt, zeitliche Abfolgeetc.) besser verstanden werden (Rüdiger 1996, S. 48). Neben gemeinsamen kommunikativenAtemübungen stellt Rüdiger Rap-artige Atem- <strong>und</strong> M<strong>und</strong>geräusche, improvisierteLach-Rhythmen, elementare Ausdruckslaute, körperliche Beat- <strong>und</strong> Off-Beat-Übungen als einführende »Körper-Kompositionen« vor. Seine Praxis-Empfehlungenreichen von Liedern <strong>und</strong> Tänzen aus der Renaissance (Desprez, Prätorius), derenTanzcharakter durch innere <strong>und</strong> äußere Anteilnahme hervorgehoben werden kann,oder Tanz-Arrangements »lebendiger, pulsierender Körpermusik« von Händel, Bach,Mozart <strong>und</strong> Beethoven, die »wache, lebendige, musikalische Aufführungskörper« erfordern,bis hin zu körperlichen Darstellungen von Opern-Arien ohne Worte, die dieBühnenfiguren mit »all ihren Emotionen, Ein-Stellungen <strong>und</strong> Haltungen, Gesten <strong>und</strong>Gebärden, Aktionen <strong>und</strong> Interaktionsformen« präsentieren (Rüdiger 1996, S. 49ff).Ausführlich beschrieben sind weitere Übungen in »Instrumentales Ensemblespiel« vonOrtwin Nimczik <strong>und</strong> Wolfgang Rüdiger (Nimczik 1997)Terhag sieht die zentrale Bedeutung von körper- <strong>und</strong> bewegungs-orientierten Warmupsz.B. beim Einstieg in ein Live-Arrangement, als eine Form des Klassenmusizierens:Der Körper wird zur Partitur, das Musizieren über Bodypercussion, Vokussion, Bewegung<strong>und</strong> Stimme ermöglicht es, rhythmisch-metrische Verhältnisse über Bewegungsmusterwahrzunehmen <strong>und</strong> musikalische Formabläufe mit Hilfe des Körpers zugestalten. Die körperlichen Live-Arrangements werden zunächst auf Rhythmusinstrumente(Percussion, Drumset etc.) übertragen, schließlich auch auf Bass-, Akkord- <strong>und</strong>Melodie-Instrumente. Auf die angemessene Präsentation solch kurzer Einstiegsübungenweist Terhag besonders hin (Terhag 1999, S. 225ff). Im Zusammenhang mitseinem Ansatz Musiktheorie <strong>und</strong> Gehörbildung auch als »schülerorientierte,künstlerisch-spielerische Arbeit« zu verstehen, bietet er körper-orientierte Warmups, dieDagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>musikbezogen sind, aber auch aus der spielerischen Theaterarbeit stammen. Die Einbeziehungdes ganzen Körpers im spielerischen Umgang mit musiktheoretischen Inhalten<strong>und</strong> der körper-orientierten Gehörbildung führen auch zu ganzheitlich erlebten,rhythmisch-musikalischen Ansätzen für das Klassenmusizieren (Terhag 2000, S. 1).Aufgr<strong>und</strong> der oft mangelnden musikalischen Vorerfahrungen <strong>und</strong> der entmotivierendenErfahrungen mit Musikunterricht der Schülerinnen erscheint diese ganzheitlicheEinstiegsmethode in die musisch-kreative Gestaltung eine adäquate Möglichkeit innerhalbder sozial-pädagogischen Berufsausbildung.Die Arbeit mit freier tänzerischer Bewegungsimprovisation <strong>und</strong> Konzertmusik eröffnetweitere Wege zu neuen Dimensionen des Musik-Hörens. Als Beispiele nenntKratochwil (1997) die Bewegungsdarstellung des Menuetts aus der g-Moll-Symphonievon W. A. Mozart (1788) als thematisch geb<strong>und</strong>ene Improvisation (»Magneten«<strong>und</strong> »Gummibänder«) oder die tänzerische Erarbeitung von »Die Vorstellung desChaos« aus Haydns »Die Schöpfung« (1798) unter dem Motto »Öffnen <strong>und</strong> Schließen«(vgl. Kratochwil 1997, S. 73ff). Stöger <strong>und</strong> Achleitner-Koch (1997) setzen dagegeneher Impulse der Szenischen Interpretation <strong>und</strong> des Darstellenden Spiels bei dermusikalisch-körperlichen Erarbeitung dieser Komposition. Nach freien Assoziationenim Anschluss an das Musikhören erfolgt eine moderierte Aktionsphase, in der vielfältigeRaum-, Material- <strong>und</strong> Körperausdruckserfahrungen gesammelt werden. Im Wechselvon improvisiertem Darstellen des Musikstückes <strong>und</strong> moderierten Aktionsphasen sollmit Gestik, Körperhaltung <strong>und</strong> -spannung experimentiert werden <strong>und</strong> die Wirkungkörperlicher Ausdrucksformen prozesshaft gespürt werden (vgl. Stöger/Achleitner-Koch 1997, S. 164ff). Eine Übertragung dieser Beispiele auf sozialpädagogischen Unterrichterfordert eine didaktische Anpassung an die Lerngruppe.Börs (1997) veranschaulicht das Unterrichtsprinzip individueller Körper-Erfahrungenals einen Weg musikalischen Lernens in der Hauptschule einzusetzen. Er ist derAuffassung, dass die Schülerinnen umfangreiche Kenntnisse über popmusikalischeZusammenhänge besitzen <strong>und</strong> ihr Sozialverhalten von einem intensiven Kommunikationsprozessüber Musik geprägt ist. Das aktive Musikmachen können die Schülerinnenals einen Erfahrungs-, Lern- <strong>und</strong> Persönlichkeitszuwachs auf musikalisch-handwerklicherEbene erleben. Am Beispiel von differenzierten Übungen zum Gehen, die unterschiedlicheKörper-, Raum- <strong>und</strong> Musikerfahrungen beinhalten, <strong>und</strong> von körperlichenRhythmus- <strong>und</strong> Perkussionsübungen (z.B. Beat/Off-Beat, Clave-Pattern, Drumset-Pattern)werden diese Medien ästhetischer Erfahrungen als Gr<strong>und</strong>lage für musikalischesLernens verdeutlicht. (Börs 1997, S. 28ff) Dieser körper-orientierte Ansatz von Musikunterrichthat in doppelter Hinsicht in der sozialpädagogischen Ausbildung seine Berechtigung:Zum einen befinden sich die Schülerinnen teilweise selbst in dieser Alters<strong>und</strong>Sozialisationsstruktur, zum anderen sollen sie nach Abschluss der Ausbildung unterUmständen sozialpädagogische Angebote in der Offenen Jugendarbeit planen,durchführen <strong>und</strong> reflektieren können, die zum großen Teil musisch-kulturell angelegtsind <strong>und</strong> überwiegend von der oben genannten Gruppe der Jugendlichen genutzt wird.Rock- <strong>und</strong> Poptanz im Unterricht ist ein musikpädagogisches Medium, das ein hohesMaß an Aktualität <strong>und</strong> Schülerorientierung geben kann. Der hohe Stellenwert, den174175


UnterrichtspraxisPopuläre Musik in der Lebenswelt von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen einnimmt, erleichtertdie Motivation zu intensiver Auseinandersetzung mit musikalischen Gr<strong>und</strong>strukturen<strong>und</strong> körperbezogener kultureller Ausdrucksformen (z.B. Körperhaltung). Dem methodischenArrangement (z.B. Musikauswahl, Gestaltung der Unterrichtssituation, Platzierungder Aufgabenstellungen), der Verknüpfung sozialer, bewegungsbezogener <strong>und</strong>musikalischer Lernprozesse (Müller 1990, S. 228) kommt dabei besondere Bedeutungzu. Für das zukünftige Arbeitsfeld in sozialpädagogischen Institutionen hat diekörperliche Erfahrung mit Rock- <strong>und</strong> Popmusik doppelte Bedeutung: Neben der eigenenindividuellen Förderung des Entwicklungsprozesses <strong>und</strong> Erweiterung von Fachwissen,kann die Erzieherin dies in praktische Angebote im Handlungsfeld umsetzen.Im Rahmen musisch-ästhetischer Bildung mit dem Schwerpunkt Körper stellt dieInszenierung eines (Mini-)Musicals ein fruchtbares Projekt dar. Hier können vielfältigeFähigkeiten, Stärken <strong>und</strong> Talente der Schülerinnen wahrgenommen <strong>und</strong> in die Praxisumgesetzt werden. Bei der eigenen Erarbeitung eines Drehbuches wird nicht nur der fächerübergreifendeAspekt (Deutsch/Kommunikation, Politik) deutlich, zusätzlich erhaltendie Mitwirkenden die Chance einer intensiven Auseinandersetzung mit einemselbst gewählten Thema. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung können dann kreativin unterschiedliche Ausdrucksformen transferiert werden. Hier finden sich Überschneidungspunktemit dem Fach Darstellendes Spiel <strong>und</strong> der Methode der Szenischen Interpretation.Musicals verbinden viele der oben genannten didaktisch-methodischen Anregungen:sprachliche, körperliche Rhythmusschulung, Musizieren mit dem Körper <strong>und</strong>dem Instrument, tänzerische Gestaltungen etc.Die hier aufgezeigten Praxisbeispiele zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der reichhaltigenMöglichkeiten interdisziplinären, musisch-kreativen Unterricht zu gestalten.Dabei kann ein musisch-kreatives Angebot im Kindergarten oder ein bewegender Musikunterricht(gerade in einer beruflichen Ausbildung) vielfältige Körpererfahrungen,ermöglichen, die einige Codierungen der Sprache des Körpers <strong>–</strong> mal <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> mal <strong>vertraut</strong><strong>–</strong> (wieder) entdecken lassen <strong>und</strong> neue »Vokabeln« erleben lassen. Musisch-ästhetischeErfahrungen haben schon von ihrem Ursprung her eine Verbindung zum Bereichgesellschaftlicher, individueller <strong>und</strong> beruflich-professioneller Kommunikation. DieseVerknüpfung muss in Didaktik <strong>und</strong> Methodik pädagogischer <strong>und</strong> sozialpädagogischerAus-, Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungen aufgegriffen <strong>und</strong> in effektive Lehr-Lern-Arrangementsumgesetzt werden.IV. Zusammenfassende Thesent Musisch-ästhetische Erziehung <strong>und</strong> Bildung setzt eine ganzheitliche Wahrnehmungvon Subjekt Mensch <strong>und</strong> Objekt Musik im musischen Handeln voraus. Dieursprüngliche, entwicklungsgeschichtlich begründete Wichtigkeit von Körperlichkeit inder musikalischen Betätigung weist auf die Bedeutung von <strong>Körpersprache</strong> in der musisch-ästhetischenBildung hin.Dagmar Zirfas-Steinacker — <strong>Körpersprache</strong> <strong>–</strong> <strong>fremd</strong> <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>t <strong>Körpersprache</strong> drückt unmittelbar innere <strong>und</strong> äußere Botschaften des Menschenaus. Ein Bewusstsein für <strong>Körpersprache</strong> ist bedeutsam im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung<strong>und</strong> der Entfaltung der Interaktionsfähigkeit. Dabei gilt es »<strong>fremd</strong>e« Aspektekörpersprachlicher Kommunikation zu erfahren <strong>und</strong> <strong>vertraut</strong>e Codierungen (wieder)zu entdecken.t <strong>Körpersprache</strong> ist eine wesentliche Gr<strong>und</strong>lage jeden musikalischen Handelns. EineIntegration der theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen körpersprachlicher Zusammenhänge in musikdidaktischeKonzepte (z.B. Instrumentaldidaktik, Schulmusikdidaktik) <strong>und</strong> derenpraktische Umsetzung ermöglichen einen handlungsorientierten, ganzheitlichen, musikalischenLernprozess <strong>und</strong> eine Steigerung der kommunikativen Fähigkeiten.t Körperorientierte musisch-ästhetische Bildung im oben dargestellten Sinne kanndurch die Ausdifferenzierung des Bewusstseins für <strong>Körpersprache</strong> zur Professionalisierungim pädagogischen <strong>und</strong> sozialpädagogischen Berufsfeld beitragen.LiteraturAmrhein, F.: Sensomotorisches <strong>und</strong> musikalisches Lernen. In: Bähr, J./Schütz, V. (Hg.) (1997): Musikunterrichtheute. Beiträge zur Praxis <strong>und</strong> Theorie Band 2. Oldershausen 1997, S. 40-48Argyle, M.: <strong>Körpersprache</strong> <strong>und</strong> Kommunikation. 7. Aufl., Paderborn 1996Bauer, K.-O.: Professionelles Handeln in pädagogischen Feldern: ein Übungsbuch für Pädagogen, Andragogen <strong>und</strong>Bildungsmanager. Weinheim, München 1997Berendt, J. E.: I got the Rhythm. In: Musik <strong>und</strong> Bildung. Praxis Musikerziehung. 28. (86.) Jahrgang. Heft 5.1996, S. 4-7Bleckwenn, H.: Zucht <strong>und</strong> Haltung, Gebärde <strong>und</strong> Bewegung. Zur Entdeckung der Körperlichkeit des Schülers inder Pädagogik. In: Rosenbusch, H. S./Schober, O. (Hg.) (2000): <strong>Körpersprache</strong> in der schulischen Erziehung.3. Aufl., Hohengehren 2000, S. 78-99Börs, P.: Lernen über Körpererfahrung <strong>–</strong> Bewegung <strong>und</strong> Musik in der Hauptschule. In: Musik <strong>und</strong> Unterricht, 8.Jahrgang. Heft 45/1997, S. 28-31Brennan, R.: Alexander-Technik: die Wiederentdeckung der natürlichen Körperhaltung. Braunschweig 1993Bryner-Kornjäger, B.: Durch Halt zur Haltung. In: Obermayer, Klaus (Hg.) (1990): Musik <strong>und</strong> Körper:Spielhaltungen <strong>und</strong> Spielbewegungen. Dokumentation über die Deutsch-Österreichisch-SchweizerischeStudientagung (D-A-CH-Tagung). Verband Deutscher Musikerzieher <strong>und</strong> konzertierender Künstler e.V.(VDMK). München 1990, S. 32-38Bucher, P.: Kinesiologie <strong>–</strong> eine ganzheitliche Heilmethode. In: Klein-Vogelbach, S./Lahme, A./Spirgi-Gantert, I.:Musikinstrument <strong>und</strong> Körperhaltung: Eine Herausforderung für Musiker, Musikpädagogen, Therapeuten<strong>und</strong> Ärzte. Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> fit im Musikeralltag. Berlin, Heidelberg 2000Diamond, J.: Der Körper lügt nicht. 6. Aufl., Freiburg 1990Feldenkrais, M.: Bewusstheit durch Bewegung: Der aufrechte Gang. Frankfurt/Main 1978Flatischler, R.: Der Weg zum Rhythmus. Essen 1990Fritsch, U.: Tanz, Bewegungskultur, Gesellschaft: Verluste <strong>und</strong> Chancen symbolisch-expressiven Bewegens. Frankfurt/Main1988Geiger, J. T.: Körperbewusstsein <strong>und</strong> Instrumentalpraxis: Methoden <strong>und</strong> Möglichkeiten von Körpererfahrung imUnterricht, beim Üben <strong>und</strong> beim Spielen. Augsburg 1996Gelb, M.: Körperdynamik: eine Einführung in die Alexander-Technik. Berlin 1999Glaser, V.: Eutonie: Das Verhaltensmuster des menschlichen Wohlbefindens. Lehr- <strong>und</strong> Übungsbuch für Psychotonik.2. Aufl., Heidelberg 1981Grimmer, F.: Körperbewusstsein <strong>und</strong> »innere Bewegtheit des Ganzen«. Voraussetzungen lebendiger Interpretation inder Musikpädagogik Heinrich Jacobys. In: Pütz, W. (Hg.): Musik <strong>und</strong> Körper. Essen 1990, S. 185-197176177


UnterrichtspraxisHaselbach, B.: Zur elementaren Erfahrung leib-haften Musizierens. In: Pütz, W.: Musik <strong>und</strong> Körper. Essen1990, S. 83-86Haselbach, B.: Tanzerziehung: Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Modelle für Kindergarten, Vor- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schule. 6. Aufl., Stuttgart1991Heidemann, R.: <strong>Körpersprache</strong> vor der Klasse: ein praxisnahes Trainingsprogramm zum Lehrerverhalten. 3. Aufl.,Heidelberg, Wiesbaden 1989Kaiser, C.: <strong>Körpersprache</strong> der Schüler: lautlose Mitteilungen erkennen, bewerten reagieren. Neuwied, Kriftel, Berlin1998Klein-Vogelbach, S./Lahme, A./Spirgi-Gantert, I.: Musikinstrument <strong>und</strong> Körperhaltung: Eine Herausforderungfür Musiker, Musikpädagogen, Therapeuten <strong>und</strong> Ärzte; Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> fit im Musikeralltag. Berlin, Heidelberg2000Koerber Hannes: Coolness: Weder zuckend noch sich duckend. In: Warneken, B. J. (1990c): Der aufrechteGang. Zur Symbolik einer Körperhaltung. Tübingen 1990, S. 109-114Kratochwil, M.: Bewegen <strong>–</strong> Mit dem Körper hören. In: Niermann, F./Stöger, Ch. (Hg.) (1997): Aktionsräume <strong>–</strong>Künstlerische Tätigkeiten in der Begegnung mit Musik. Wien 1997, S. 73-97Müller. R.: Rock- <strong>und</strong> Poptanz im Musikunterricht. Musikpädagogische Aspekte. In: Pütz, W. (Hg.): Musik <strong>und</strong>Körper. Essen 1990Müller, R.: Ihr Körper ist ihr Instrument. In: Musik <strong>und</strong> Bildung. Heft 3/1993, S. 5-6Nimczik, O./Rüdiger, W.: Instrumentales Ensemblespiel. Übungen <strong>und</strong> Improvisationen <strong>–</strong> klassische <strong>und</strong> neueModelle. Basisband <strong>und</strong> Materialband. Regensburg 1997Paulus, P.: Zur Erfahrung des eigenen Körpers. Theoretische Ansätze, therapeutische <strong>und</strong> erziehungswissenschaftlicheAspekte sowie ein empirischer Bericht. Weinheim, Basel 1982Rosenbusch, H. S./Schober, O. (Hg.): <strong>Körpersprache</strong> in der schulischen Erziehung. Pädagogische <strong>und</strong> fachdidaktischeAspekte nonverbaler Kommunikation. 3. Aufl., Hohengehren 2000Rüdiger, W.: Körpermusikalische Basisübungen <strong>und</strong> Literaturvorschläge. In: Musik <strong>und</strong> Unterricht. 40/1996,S. 48-51Saatweber, M.: Einführung in die Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen: Atmung, Stimme, Sprache, Haltung <strong>und</strong> Bewegungin ihren Wechselwirkungen. 2. Aufl., Idstein 1994Schütz, V.: It’s good for your body, it eases your soul (1). Zur Funktion <strong>und</strong> Bedeutung von Rocktanz. In: Motorik.Heft 3/1988, S. 101-107Stöger, Ch./Achleitner-Koch, E.: Darstellen <strong>–</strong> Musik in Szene gesetzt. In: Niermann, F./Stöger, Ch. (Hg.):Aktionsräume <strong>–</strong> Künstlerische Tätigkeiten in der Begegnung mit Musik. Wien 1997, S. 164-178Storey, R.(): Kommunizieren wie ein Profi. Wie Sie im Job Ziele setzen, Beziehungen entwickeln, Einfluss gewinnen.Landsberg 1999Terhag, J.: Bewegung ist Begegnung <strong>–</strong> Bewegungsspiele im Live-Arrangement. In: Börs, P./Schütz, V. (Hg.) (1999):Musikunterricht heute 3. Beiträge zur Praxis <strong>und</strong> Theorie. Oldershausen 1999, S. 223-235Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien.9. Aufl., Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1996Warneken, B. J. : Biegsame Hofkunst <strong>und</strong> aufrechter Gang. <strong>Körpersprache</strong> <strong>und</strong> bürgerliche Emanzipation um1800. (1990a). In: Warneken, B. J. (Hg.): Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung. Tübingen1990c, S. 11-23178

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