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wolfgang martin stroh Klezmermusik in Deutschland

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Musikkulturen im Vergleichund Liedtexten über die trostlose Armut der Ostjuden, die Perspektivlosigkeit der us-Migranten und die politische Verfolgung der Verbliebenen »zugedeckt«. Die Gefahr,dass erlebnis- und nicht erfahrungsorientiertes Musizieren Klischees von fremden Kulturenreproduziert und jeden Ansatz für <strong>in</strong>terkulturelles Verstehen verstellt, ist groß.IV. <strong>Klezmermusik</strong> und politische BildungSeit 1998 erprobe ich systematisch e<strong>in</strong>en didaktischen Ansatz für <strong>Klezmermusik</strong>, dersowohl den aktuellen Diskussionsstand um Holocaust-Pädagogik weiter entwickelt (diesist die 4. Etappe der Aufzählung des 2. Abschnitts oben) als auch me<strong>in</strong>e Kritik amSchnittstellenansatz produktiv umsetzt. Das Konzept kann bezeichnet werden mit demSchlagwort: Verstehen als handlungsrelevante Aneignung von Geschichte.Es geht zunächst um »Geschichte«, um Vergangenes, um Fremdes. Dies Vergangenesoll »verstanden« werden: <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ablauf, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ursachen, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sozialpsychologie.Verstehen wird als Lerntätigkeit und Aneignung aufgefasst. Dabei sollüberprüft werden, welche Bedeutung das Vergangene hat und ob aktuelle politische Ersche<strong>in</strong>ungen– allen voran natürlich der Umgang mit ethnischen Gruppen, mit M<strong>in</strong>derheitenund mit Fremdem, Ausländerangst und -fe<strong>in</strong>dlichkeit, Rassismus, Biologismusund speziell Anti-Semitismus sowie Konfliktlösung mit Mitteln der Gewalt statt derfriedlichen Konsensf<strong>in</strong>dung – aus derart historischem Verständnis heraus produktivund »handlungsrelevant« angegangen werden können. Die pädagogischen Kategoriendieses Ansatzes lauten:t (1) Empathie statt Betroffenheit. Empathie bedeutet e<strong>in</strong>fühlendes Verstehen ohne jedochdas Handeln des Anderen übernehmen oder gut heißen zu müssen (Arbeitskreisvgd lv Niedersachsen 1997). E<strong>in</strong> Pädagoge »versteht« beispielsweise aggressive Impulsee<strong>in</strong>es Schülers, er »versteht« sogar die »Attraktivität« von Rechtsradikalismus oderAntisemitismus. Er kann sich <strong>in</strong> die Situation des Anderen e<strong>in</strong>fühlen, ohne mit ihmidentisch zu werden. Er kann die Motivation des Anderen nachvollziehen und sich erklären.t (2) Emotionen <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>fühlung. Die bei der Empathie aufkommenden Emotionenhaben nichts mit moralisch erzeugter Betroffenheit zu tun. Es s<strong>in</strong>d vielmehr Emotionen,die aus e<strong>in</strong>er pädagogisch <strong>in</strong>szenierten Rollene<strong>in</strong>fühlung resultieren. Solche Emotionenüberkommen die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler nicht h<strong>in</strong>terrücks und unvermutet(wie es beim Ansehen e<strong>in</strong>es Holocaust-Filmes der Fall se<strong>in</strong> kann). Sie werden bewusstherbeigeführt, können reflektiert, »betrachtet« und »verstanden« werden.t (3) Lernen und Handeln im »Schutz der Rolle«. Bekanntlich gibt es bei »heiklen Themen«(wie Sexualität, Gewalt, Familie oder Holocaust) <strong>in</strong> der Schule e<strong>in</strong> hidden curriculum.Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler wissen ziemlich genau, was sie auf »heikle« Frage zu sagen,wie sie zu reagieren und ihre Fantasien zu unterdrücken haben. Der Unterrichtgleicht e<strong>in</strong>em Ritual und ist ke<strong>in</strong> Lernprozess. Um die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu veranlassen,»sich selbst« und vor allem ihre geheimen Fantasien und Wünsche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e268Wolfgang Mart<strong>in</strong> Stroh — <strong>Klezmermusik</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>schulische Diskussion e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, muss ihnen die Möglichkeit geboten werden, imSchutz e<strong>in</strong>er Rolle zu handeln.t (4) Produktive Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Zeitzeugen, Spuren, Denkmälern (also auch mit<strong>Klezmermusik</strong>). Wenn Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler mit Zeitzeugen oder Er<strong>in</strong>nerungsspuren<strong>in</strong> Berührung kommen, so ist diese Begegnung erst dann e<strong>in</strong> Lernprozess, wenn dieErlebnisse und Beobachtungen zu »Erfahrungen« verarbeitet werden (können) (StefanLipski 1997). Am e<strong>in</strong>fachsten geschieht dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er »produktiven Ause<strong>in</strong>andersetzung«.Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler lauschen nicht passiv e<strong>in</strong>em Zeitzeugen und gehennach der Begegnung »bee<strong>in</strong>druckt« von dannen. Sie treten vielmehr dem Zeitzeugenwie Reporter gegenüber, stellen Fragen, machen Aufzeichnungen, »produzieren« e<strong>in</strong>eSendung, e<strong>in</strong> Feature oder e<strong>in</strong>en Zeitungsbericht. Sie berichten von eigenen Erlebnissen,auf die der Zeitzeuge zu reagieren hat. Das idealtypische Modell e<strong>in</strong>es produktivenund dabei hoch reflektierten Umgangs mit e<strong>in</strong>em Zeitzeugen hat Art Spiegelman se<strong>in</strong>emComic »maus« (Deutsche Ausgabe: 1992 bei Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek. 2. Auflage <strong>in</strong> 2Bänden zusammen mit cd-rom bei Zweitausende<strong>in</strong>s, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 2001) vorgeführt.t (5) Praktizierte Demokratie und Toleranz im Lernprozess. Es besteht weitgehend Konsensdarüber, dass (1) der Holocaust ke<strong>in</strong>er »besonderen Pädagogik« bedarf, sondern <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em »guten Unterricht« optimal aufgehoben ist und (2) die Ziele der Holocaust-Pädagogik<strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>eren Zielen von Demokratie-Kompetenz und Toleranzfähigkeitaufzugehen haben. Speziell zur Bekämpfung von Rechtsextremismus ist e<strong>in</strong>e Holocaust-Pädagogikauf verlassenem Posten, wenn sie nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en größeren Rahmen gestelltwird (Annegret Ehmann <strong>in</strong>: polis 4/2001). Demokratie-Kompetenz und Toleranzfähigkeits<strong>in</strong>d überwiegend e<strong>in</strong> Resultat der pädagogischen Form: E<strong>in</strong> undemokratischerUnterricht mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>toleranten Lernansatz kann vermöge des bereitserwähnten hidden curriculum nicht zu Demokratie-Kompetenz und Toleranzfähigkeit erziehen!Daher ist e<strong>in</strong>e zentrale Forderung der aktuellen Holocaust-Pädagogik, dass sievon allen undemokratischen und <strong>in</strong>toleranten Lernformen Abschied nimmt, dass sie dieSchüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu selbstbestimmtem (»demokratischen«) Handeln anleitetund alles vermeidet, was vorschreibt, wie zu fühlen, denken und bewerten sei.Das hieraus folgende musikdidaktische Konzept ist der Ansatz der szenischen Interpretationvon Musik im Rahmen der Ziele <strong>in</strong>terkultureller Musikerziehung (Das musikdidaktischeKonzept ist lange vor der aktuellen Holocaust-Diskussion bereits entwickeltworden. Siehe Wolfgang Mart<strong>in</strong> Stroh: Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenenUnterricht. In: Musikpädagogische Forschung, Band 6. Laaber-Verlag Laaber 1985). DiesesKonzept führtt e<strong>in</strong>erseits die musikpraktische Unterrichtstätigkeit und die theoretische Reflexion<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitlichen, von den Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern als lustvoll erlebten Prozesszusammen, sie setztt andererseits die aktuellen Kategorien »Empathie«, »E<strong>in</strong>fühlung«, »im Schutz derRolle«, »Produktorientierung« und »Demokratie/Toleranz« (<strong>in</strong> der Form) konkret um.Die methodologische Kernidee ist, dass sich Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>in</strong> fremdePersonen e<strong>in</strong>fühlen, im Schutze der fremden Rolle agieren, ihre eigenen Ideen und Vorstellungendabei veröffentlichen, die Funktion und Wirkung von Musik erleben sowie269


Musikkulturen im VergleichWolfgang Mart<strong>in</strong> Stroh — <strong>Klezmermusik</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>ren Gewehren unter e<strong>in</strong>em tanzenden Tangopaar knien. Alle Personen des Bildes s<strong>in</strong>ddem Tode geweiht. Die Häftl<strong>in</strong>ge stehen oben und überleben trotz ihres Todes – dieWächter jedoch gehen unter trotz ihrer Gewehre (Abb. 3).Abb. 2: Rap-Version der »Tsen Brider«4) Musik im KZTabelle 3: Text zu »Yidish-Tango« (Tango-Version von »Schpil’sche mir a lidele«)shpil zhe mir a tangooys <strong>in</strong> yidish,zol dos zayn misnagdishtsi khasidish.di bobele aleynzol kenen dos farshteynun take a tensele geyn.shpil, shpil, klezmerl, shpil,vi a yidish harts hot gefil.shpil, shpil mir a tentsele,oy, shpil,shpil, ikh bet dikh,mit neshome, mikt gefil.shpil zhe mir a tangooys fun pleytim,fun dem folk tsezeytn untseshpreytn,az k<strong>in</strong>der, groys un kleyn,zoln kenen dos farshteynun take a tentsele geyn.shpil zhe mir a tango,nor nisht arish,zol dos zayn nisht arish,nisht barbarish,az di sonim zoln zen,az ikh nokh tantsn ken,un take a tentsele mit bren!shpil zhe mir a tango oysfun sholem.zol dos zayn a sholem,nisht keyn kholem,az Hitler mit zayn raykhzol di kapore vern glaykh –dos vet zayn a tentsele far aykh!yivo-Schreibweise (mit Abweichungen)aus der »Kemp<strong>in</strong>«-Version.E<strong>in</strong>e im kz gesungene Tango-Version von »Schpil’sche mir a lidele« (Tab. 3) zeigt,wie sich <strong>in</strong> Musik Lebenswille und Widerstand artikulieren können. Das Bild vomLamm, das sich zur Schlachtbank führen lässt, wird durch dies Lied revidiert. In sarkastischemTon wird der ursprüngliche Text umfunktioniert und politisiert. Der Gestus derMusik wird mit dem des Widerstandliedes »Eyns tswey drey« (nach Hanns Eisler »E<strong>in</strong>heitsfrontlied«)identisch. Die Idee dieser Musik wird wiederum von Schüler<strong>in</strong>nen undSchülern <strong>in</strong> Bildern dargestellt. So zeigt e<strong>in</strong> Standbild, wie die Häftl<strong>in</strong>ge, e<strong>in</strong> anderes,wie die kz-Wächter e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>schlägige Tango-Aufführung sehen und empf<strong>in</strong>den. Nach e<strong>in</strong>erlängeren Diskussion um e<strong>in</strong>e Darstellung, die möglichst viel von der Gesamtsituationdes Liedes zusammenfasst, wurde e<strong>in</strong> Bild entwickelt, <strong>in</strong> dem die Wächter mit ih-Abb. 3: Szenische Interpretation von »Yidish-Tango«VI. FazitIm Zentrum der szenischen Interpretation von <strong>Klezmermusik</strong> steht die »wirkliche Musik«,das heißt Musik im konkreten Lebenszusammenhang. Wir versuchen also <strong>in</strong> derSchule, die Lebensrealität zu rekonstruieren, nachzufühlen. Dabei entsteht Empathieim S<strong>in</strong>ne der erwähnten aktuellen Diskussion der politischen Bildung. Diese Empathieentsteht auf e<strong>in</strong>e sehr s<strong>in</strong>nliche und lustvolle Weise. Sie ist frei von moralischem Zeigef<strong>in</strong>ger.Und es gibt ke<strong>in</strong>e Vor-Interpretationen durch die Lehrer<strong>in</strong> und den Lehrer. Eswird nicht vorgegeben, wie die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu fühlen haben! Es werdenLernumgebungen geschaffen, <strong>in</strong> denen die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler Gefühle entwickelnkönnen. Es f<strong>in</strong>den auch – meist symbolisch <strong>in</strong> Haltungen – Diskussionen und Reflexionenvon Gefühlen statt. Es werden aber ke<strong>in</strong>e Gefühle als Lernziel vorgegeben.Dies sche<strong>in</strong>t mir der wichtigste und vielleicht auch der genu<strong>in</strong>e musikalische Beitragzu politischer Bildung zu se<strong>in</strong>. Insbesondere zur Holocaust-Pädagogik.Im Gegensatz zu vielen aktuellen Versuchen, das Fach Musik ganz generell, sozusagenvon der Musik an sich her, zu legitimieren, bezieht sich me<strong>in</strong>e Argumentation aufganz bestimmte musikalische Inhalte, auf ganz bestimmte didaktische Ansätze und methodischeVerfahren. Ich me<strong>in</strong>e, Musikunterricht leistet nicht generell e<strong>in</strong>en »unverzichtbarenBeitrag« zu politischer Bildung, sondern nur ganz bestimmter Musikunterricht.Das Beispiel e<strong>in</strong>es solchen Unterrichts ist die szenische Interpretation von <strong>Klezmermusik</strong>.272273

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