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Silke Gersdorf - "Der Junge am Fluss"

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<strong>Silke</strong> <strong>Gersdorf</strong><strong>Der</strong> <strong>Junge</strong> <strong>am</strong> FlussYves hatte sich sein Gedächtnis immer wie eine Blase vorgestellt, in dersich seine Erinnerungen s<strong>am</strong>melten wie das Regenwasser in der Tonnevor seinem Wohnwagen. In die weiche Membran, die die Blase umgab,konnte sein Bewusstsein Löcher bohren und Erinnerungen heraus ziehen,wie es sie eben brauchte. Mit den Jahren war die Membran porös geworden.Erinnerungen schwappten heraus, unkontrolliert, an unerwartetenStellen. An manchen Tagen und an manchen Orten war es schlimmer alsan anderen.Yves stand <strong>am</strong> Auto, so wie er ausgestiegen war, in der linken Hand denSchlüsselbund, die rechte auf das Dach seines alten Renault gestützt. Dasscharfkantige Metall der Schlüssel war beruhigend, ebenso das Gefühl desBlechs, aufgewärmt von der Frühsommersonne auf den letzten Kilometernder Fahrt. Es war kurz nach Mittag, die Sonne hatte die Schatten indie Ecken zurück gedrängt, dicht an die Gebäude heran, die den Hof vondrei Seiten umschlossen. Das Licht war dennoch nicht grell, diffus irgendwie,als hätte ein Beleuchter auf Anweisung des Regisseurs eines dieserhalbtransparenten Papiere vor die Sonne gehängt. Nordlicht, dachte Yves.Rechts von ihm lag das Hauptgebäude, gegenüber der ehemalige Stall,hinter ihm die Scheune, in der sie einst das Tonstudio errichtet hatten.Das Reetdach war ausgeblichen über die Jahre, schadhafte Stellen warenkeine zu sehen. Zwischen den Fachwerkbalken leuchtete weiß der Putz.Yves’ Blick sprang zwischen den Gebäuden herum wie ein barfüßiger <strong>Junge</strong>über die glühenden Steinplatten des Freibads im Sommer. Es nütztenichts. Yves spürte den Riss in der Membran bereits, bevor er sich endgültigauftat. Ein Bild quoll heraus, nicht weich gezeichnet, nicht in denmilden Sepia-Ton alter Fotografien getaucht, sondern scharf und klar,das Dach mit mehr Löchern als Reet, der Blick frei auf die Balken darunter,ein aufgerissener Körper, in dem man die Knochen sah, an der einenSeite der Scheune fehlte es ganz, dort, wo die hintere Wand eingefallenwar. <strong>Der</strong> Putz, wo noch vorhanden, war bröckelig und grau, die Balkenmorsch. Bretter und Schutt lagen herum, Gras spross dazwischen, Moos


wuchs darauf. Eine Ruine.Mit dem Bild k<strong>am</strong>en die anderen Erinnerungen an jenen Tag vor 25 Jahren,Gerüche, Gefühle, vor allem aber erinnerte Yves sich an die Stille.Nach dem Lachen und Scherzen der Fahrt, dem Röcheln von Kummisaltem VW Bus, begleitet von Mick Jaggers schnarrender Stimme aus demKassettendeck, war sie nicht einfach die Abwesenheit von Geräuschen,sondern greifbar, fühlbar, eine Decke, die sich über sie, den Hof, ihre Hoffnungenund Wünsche gelegt hatte. Einzig der Wind war zu hören, einan- und abschwellendes Pfeifen, Rascheln, Rauschen, in den Löchern desReetdachs, den Spalten des Mörtels, den Blättern der Eschen, den Ährender Weizenfelder. <strong>Der</strong> Wind lachte sie aus, dachte Yves, lachte über ihreNaivität, über die Bilder, die sie sich von dem Hof gemacht hatten. Bilder,entstanden aus Sturms Erzählungen. Übertreibungen? Lügen? Was?Yves sah zu Sturm hinüber, der ganz <strong>am</strong> Rand der Gruppe stand, eineschlaksig-aufgeschossene Gestalt, in seinem schwarzen Ledermantel, dener immer trug, auch an jenem Tag, trotz der Wärme. Die Hände in denManteltaschen, die Schultern hoch gezogen, ließ er die Blicke der anderen,diesen Regen nicht gestellter Fragen und unausgesprochener Vorwürfeauf sich niederprasseln. Sch<strong>am</strong> und Angst lagen in dem Blick, mitdem er Yves’ schließlich erwiderte. Und eine Bitte. Yves’ Wut und Enttäuschungverflogen von einem Moment zum nächsten, ersetzt durch einanderes Gefühl. Mit der Inbrunst einer Überzeugung, die mit der Ruinevor ihm nur <strong>am</strong> Rand zu tun hatte, sagte er: „Geil.“„Also, jeil is wat anderes“, schnappte Flo.„Das ist ein Scheißhaufen“, schloss Ilse sich ihm an. „Ein scheiß HaufenArbeit.“Das Eis war gebrochen, alle quatschten durcheinander. Einen Momentspäter setzte sich der Stoßtrupp in Bewegung, machte sich auf, das Terrainzu erkunden. Jemand hob hier etwas vom Boden auf, ein anderer klopftedort an den Putz. Flo zog an einem Türknauf und die Tür k<strong>am</strong> ihm entgegen.Ein Huhn flog gackernd durch ein zerbrochenes Fenster ins Freie,rannte über den Hof, verfolgt von einer lachenden Meute Städter, derenVorstellung vom Landleben so viel mit der Wirklichkeit zu tun hatte, wieSturms Beschreibungen des Hofs, auf dem sie dieses zu führen gedachten.Aus den Augenwinkeln nahm Yves eine Bewegung wahr, ein Schatten hintereinem der kleinen Fenster. Das Gefühl, das sich in seinem Bauch geschlichenhatte, seit er von der Landstraße in die eschenbestandene Alleeeingebogen war, ein Kribbeln, ein Ziehen oder doch ein Druck?, auch nachdreißig Jahren konnte Yves es weder beschreiben noch benennen, konnte


nicht einmal sagen, ob es angenehm war oder nicht, verstärkte sich. Yvesdrückte den Schlüssel in seiner Hand ein letztes Mal, dann steckte er ihnin die Jackentasche und ging auf das Haus zu.Die Tür war nur angelehnt. „Komm rein.“ Sturms Stimme war vor dreißigJahren bereits tief und rauchig gewesen. Niemand hatte begriffen, wie sieaus dem schmächtigen Körper des <strong>Junge</strong>n hinter dem Mikrofon kommenkonnte, der aussah, als könne er kaum seine Gitarre halten. Jetzt klang siewie ein K<strong>am</strong>pf, Wille gegen Kehlkopf.Yves ließ seinen Augen Zeit, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Alleswar klein und eng hier drinnen, die Decke begann kurz über seinemKopf, ein Haus gemacht für die Menschen von vor hundert Jahren. <strong>Der</strong>Geruch nach feuchten Wänden drang ihm in die Nase, obwohl es ihn seitJahren nicht mehr gab. Klassische Konditionierung. Das Prinzip hatte ihmJens, sein Neffe, gestern erklärt, als Yves auf dem Weg hierher bei seinerSchwester in Frankfurt übernachtet hatte. Yves hatte sich geärgert, so wieimmer, wenn Jens ihm unter die Nase rieb, dass er mehr wusste als er. Jetztwar er froh. Dinge, die man benennen konnte, verloren an Macht.Auf der Schwelle zur Küche blieb Yves stehen. Sturm stand mit dem Rückenzu ihm an dem riesigen Gasherd, barfuß, wie immer. Es war kühlerhier im Haus als draußen, aber immer noch warm. Yves schwitzte.Sturm trug über der Jeans eine dicke, grüne Strickjacke, unter der einroter Strickpullover hervor schaute.„Ich mach uns ‘n Tee“, sagte Sturm, ohne sich umzudrehen. Yves legteihm die Hand auf die Schulter. Wasser floss in eine Kanne. Hinter ihnenstieß eine Fliege gegen die Fensterscheibe, summte, stieß. Da war eswieder, dieses Kribbeln, Ziehen, Drücken, dieses Gefühl, das kein andererMensch je in Yves ausgelöst hatte. Nicht einmal Valerie.Sie umarmten sich. Durch die Lagen Kleidung hindurch fühlte YvesSturms Rippen. Sturm klopfte ihm auf den Rücken. „Tut gut, dich zusehen, Alter.“Ja, dachte Yves. Er wollte nicht loslassen. „Genau das ist dein Problem.“Vals Stimme klang ihm im Ohr, bitter, müde.<strong>Der</strong> Küchentisch bot einem Dutzend Personen Platz, eine Zeit lang hattensich zwanzig daran gequetscht. Zwanzig kleine Negerlein. ÜberquellendeAschenbecher verteilten sich auf die Länge der Platte, dazwischenZeitungen, ein Teller mit Pizzaresten, Umschläge, Papiere, Zettel, Stifte,eine Brille, die aussah, als hätte sich jemand darauf gesetzt. Die einzigeFlasche auf dem Tisch war aus Plastik und beinhaltete dem Etikett nachCola. Kein Alkohol. Yves wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht


sein sollte.Sturm setzte sich, schenkte zwei Tassen mit Tee voll und streckte Yvesein geöffnetes Kippenpäckchen entgegen. <strong>Der</strong> zog eine Kippe heraus, zündetesie an, inhalierte. Vor vier Monaten hatte er aufgehört zu rauchen. Eswar sein dritter Versuch, der längste bisher.„Du hast zugenommen, Alter.“ Sturm musterte ihn unter halb geschlossenenAugenlidern, sein Gesicht abwechselnd hinter D<strong>am</strong>pf aus der Tasseund dem Rauch der Zigarette verborgen.„Du nicht.“ Yves dachte an die Rippen.„Viel Sport und gesunde Ernährung.“ Sturms Lachen ging in ein Hustenüber. Die brennende Kippe zwischen den Lippen begann er, die Ecke einesStück Dope zu erwärmen und auf das Blättchen darunter zu bröseln. Yvesdachte, dass er etwas sagen sollte, Fragen stellen, plaudern. Stattdessenbetrachtete er Sturms konzentriertes Gesicht, sein Blick saugte sich festdaran wie einer dieser Fische an der gläsernen Wand seines Aquariums.Ihre Geburtstage lagen einen Monat auseinander, selber Jahrgang. Yveswusste, dass er nicht so aussah, so verbraucht, so . . . schön?„Wie war die Fahrt?“„Howie macht Töne, als hätte er Lungenkrebs, sobalds bergauf geht. Ichglaub, er macht’s nicht mehr lange.“ Howie sein Auto, benannt nach ColtSievers Bruder oder Cousin, Yves wusste es nicht mehr.Sturm lachte. „Das sagst du jedes Mal.“Yves ließ seinen Blick über die Plakate und Cartoons an den Wänden wandern,über die Fotos dazwischen, die meisten schwarz-weiß, das zus<strong>am</strong>mengewürfelte Geschirr. Aus der riesigen Emaille-Tasse hatte Lotzekjeden Morgen sein Körnerfutter gegessen. <strong>Der</strong> geschweißte Flaschenhalterwar Ilses Werk, genau wie die Kerzenständer auf dem Tisch und derFensterbank. Dankbar nahm Yves den Joint, den Sturm ihm hinstreckte.Kleber für die Membran.„Ich muss morgen nach Berlin.“Yves bek<strong>am</strong> Rauch in die Speiseröhre, hustete. „Wie bitte?“„Sorry. Hat sich grad erst ergeben. Panda will irgendwas mit mir besprechen.Sagt, es wär dringend.“Panda, das Mädchen, das Sturm seit neuestem bei der Plattenfirma betreute.Eine Praktikantin, so wie ihr Vorgänger.„Scheiße, Mann. Ich fahr zweitausend Kilometer, d<strong>am</strong>it du mir sagst, dassdu morgen nach Berlin fährst?“„Ich dacht’, du könnst mich fahrn. Vicky hat die Karre.“„Hast du mich deswegen gebeten zu kommen?“


Sturms Hand, die auf dem Weg gewesen war, Yves den Joint aus denFingern zu nehmen, hielt inne. „Ich hab dich gebeten zu kommen? Daswüsst ich aber.“Yves biss sich auf die Lippe. Es stimmte. Sturm hatte ihn nicht gebetenzu kommen. Er hatte in ihren Telefonaten nie von einem Besuch gesprochen,nicht einmal: „Komm doch mal wieder vorbei“, gesagt und erst rechtnicht: „Du warst lang nicht mehr hier.“ Yves selbst hatte gegen Ende einesjeden Gesprächs die Worte nachgeplappert, die ihm der Conferencierseines schlechten Gewissens eingeflüstert hatte. Unbedingt müsse er baldwieder vorbei kommen, er wäre ewig nicht mehr da gewesen. Bla, bla, bla.Dennoch, Yves war gebeten worden zu kommen, mehr als das, bekniet,angefleht, appelliert, bedroht, erpresst. Vicky hatte aufgefahren, was ihman rhetorischen Waffen zur Verfügung stand. Rhetorisch, noch so ein Wort,dass er von Jens hatte. Yves hatte sich taub gestellt. Es war immer genaujetzt <strong>am</strong> schlimmsten, es war immer nur er, der noch etwas bewirken konnte.„Verd<strong>am</strong>mt, Vic, ich bin nicht seine verd<strong>am</strong>mte Mutter.“ Keine Stunde,nachdem Yves den Hörer aufgeknallt hatte, hatte die verd<strong>am</strong>mte Mutterangerufen, das erste Mal, seit Yves vor drei Jahren weg gezogen war. Gertraud.Yves kannte Sturms Mutter seit über dreißig Jahren, so lange wieer Sturm kannte, aus Braunschweig, als sie beide noch bei ihren Elterngelebt hatten, bevor sie überhaupt auf den Gedanken gekommen waren,nach Berlin zu gehen. Vielleicht waren es tatsächlich ihre leise Stimme,die sanften Worte gewesen, die Yves dazu bewogen hatten, sich schließlichdoch in seinen Renault zu setzen und die knapp 2000 Kilometer von derProvence in den nördlichsten Zipfel Deutschlands zu fahren. Yves dachtean die Flaschen in seinem Kofferraum. Nein, war es nicht.„Wo ist Vicky denn?“„In Köln. Kommt wahrscheinlich morgen Abend wieder.“Berlin. Yves hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt. Erverstand nicht, wieso Sturm nicht nur ab und zu dorthin fuhr, weil ihnberuflich etwas zwang, er hatte noch seine alte Wohnung dort, mit Blickauf Bethanien. Das war absurd. Als Sturm das letzte Mal dort gewesenwar, hatten ihn ein paar Punker angemacht, was er noch hier wolle, raussolle er aus Kreuzberg, der Verräter.Verräter . . . Wie oft hatten sie dieses Wort gehört? Es war so lange her,dass die Band sich aufgelöst hatte und immer noch fühlte Yves die alteBitterkeit. Man konnte nicht ewig kämpfen! Es war sinnlos. Das begriffensie aber nicht, diese Versprengten, diese trotzigen kleinen Kinder, dieeine Revolution fortführten, die längst gescheitert war. Oder nie gekom-


men. Sie waren Musiker. Yves, Sturm, die anderen beiden, der Bassist, derSchlagzeuger. Sie wollten Musik machen, ihre Musik, das, wonach ihnender Sinn stand. Mit dem Sinn konnte sich auch die Musik ändern. Durfte.Musste. Künstler waren sie und keine Militärkapelle, deren Märscheeinzig dem Zweck dienten, Soldaten anzufeuern. Oder doch. Märschefür langhaarige Soldaten in Corduniform, die für den Frieden kifften; derSoundtrack einer Revolution, die nie k<strong>am</strong>; ihre Handschrift an der Wand,weggewischt vom feisten Hausmeister Kiesinger. Bloß, dass eine Militärkapellebezahlt wurde.Immerhin, der Kapitalismus war nicht nachtragend. Er verzieh seinenFeinden, wenn sie die Waffen niederlegten und sich einreihten. So wieSturm. Die Freunde waren es, die nicht vergaben. Verräter war letztlichnur ein Wort, das man überhören konnte. Unverkaufte Platten Tatsachen,die den Kühlschrank leerten.Sturm stand auf. „Was trinken?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging eraus der Küche.„Wo willst du hin?“„Na, was zu trinken holen.“„Hast du nix hier?“„Yves, denk nach. Vicky wohnt auch hier. In der Küche würd er’s wohl alserstes finden.“Yves sah Sturms sich entfernendem Rücken hinterher. Er dachte an seinenKofferraum. Seine Kehle wurde trocken. Er sprang auf, folgte Sturm inden Flur. „Warte!“ Sein Herz schlug wie in der Schule nach dem Dauerlauf,er immer einer der ersten, d<strong>am</strong>als. „Ich . . . hab . . . was mitgebracht.“„Was zu trinken?“ Sturm stand <strong>am</strong> Ende des Flurs, das Gesicht im Dunkeln.„Im Auto.“„Was zu trinken?“Yves hasste Sturm dafür, dass er die Frage ein zweites Mal stellte. „ImKofferraum. Ist offen.“ Er wollte nicht selber gehen.Er musste nicht. Sturm hatte sich bereits auf den Weg gemacht.Yves setzte sich zurück in die Küche. Durch das offene Fenster hörte erSturms Schritte, das Quietschen des Kofferraums, das Klimpern der Flaschen.Seine Hand griff nach einem der auf dem Tisch herum liegendenBlätter, überflog es, eine Mahnung, adressiert an Daniel Lindhoff. Yvesfragte sich, was die Rechnung eines Fremden in Sturms Küche zu suchenhatte, dann fiel es ihm ein.Daniel. Sturms wirklicher N<strong>am</strong>e war Yves in den dreißig Jahren ihrer


Freundschaft selten heraus gerutscht, mal, wenn Sturm und er sich gestrittenund sich die anderen in irgendwelche entfernten Winkel das Hausesverkrochen hatten. Sturm von Drang. Jens hatte gelacht über den N<strong>am</strong>en.Yves hatte ihm den Arm auf den Rücken gedreht und das Gesichtauf den Boden gepresst. „Lach noch einmal und ich prügel dir dein scheißSpatzenhirn aus dem Schädel.“ Yves’ N<strong>am</strong>e war mit der Band gestorben.Sturm k<strong>am</strong> mit den Whiskyflaschen zurück, zwei in jeder Hand. Er machteein Gesicht, als wäre er fünf und heute sein Geburtstag. Yves beobachteteihn, wie er die Flaschen auf den Tisch stellte, Gläser aus demSchrank holte, sich setzte, einschenkte. Ein Gefühl von Unglaubens, jaSurrealität machte sich in Yves breit. Das hier war ein Test. Gleich würdejemand hinter der Tür hervor springen und: „Hey, war nur ein Scherz“,rufen.Sturm hob sein Glas. „Auf die Freundschaft.“Yves wollte Sturm das Glas aus der Hand, vor allem aber das Grinsen ausdem Gesicht schlagen. Er hob sein Glas. „Auf die Freundschaft.“Sie hatten die erste Flasche zur Hälfte getrunken, als Yves seine Gitarreaus dem Auto holte. Sie brauchten sich nicht abzustimmen, nicht zu fragen.Sturm zeigte Yves die Texte, die er in den letzten Monaten geschriebenhatte. Yves spielte Sturm neue Melodien vor, denen der mit geschlossenenAugen und schief gelegtem Kopf lauschte, bevor er auf dem Klavier dazuimprovisierte. Keiner von ihnen konnte Noten lesen. „Spiel das mal einstiefer.“ „Versuch mal die Pause kürzer.“ Ein Blick, ein Kopfnicken.Als es draußen zu dämmern begann, konnte Yves kaum noch die Gitarrehalten. Sturm saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, den Kopf andie Wand gelehnt, seine Gitarre im Arm wie ein Baby. Draußen zwitschertendie ersten Vögel. Yves griff nach der offenen Flasche. Die wievielte?Er wusste es nicht. Sein Arm war sehr schwer, das Glucksen der Flüssigkeitim Glas sehr laut.„Du erträgst es nicht, nicht wahr?“Yves’ Hand hielt inne. Sturm hatte die Augenlider kaum gehoben, die Pupillenwaren eine bloße Ahnung. Ihr Blick bohrte sich in Yves’ linke Brusthälfte.Er dachte an Val und an das Kind, das sie erwartete. Es lag ihm aufder Zunge zu sagen: „Ich weiß nicht, was du meinst“, doch er schluckte dieWorte hinunter, schüttelte die letzten Tropfen aus der Flasche und reichteSturm sein Glas. Ihre Finger berührten sich. Die Strahlen der hereinscheinenden Morgensonne brachten den Whisky zum Leuchten. FlüssigesGold. Yves ließ los.


Sturm trank das Glas auf ex, stellte die Gitarre zur Seite, stand auf,schwankend, vornübergebeugt, eine Hand an die Wand gestützt. Yveswartete darauf, dass er sich übergeben würde. Vicky hatte ihm erzählt,dass Sturm seit neuestem Blut kotzte. Stattdessen ging Sturm zur Tür.Yves wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht sein sollte.„Wohin gehst du?“„Zum Fluss.“„Was? Warte“, aber Sturms Gestalt hatte sich bereits im Dunkel des Flursaufgelöst.Fluss . . . Das Wort mäanderte in Yves’ Kopf, von links nach rechts, wiederzurück. In einem Umkreis von dreißig Kilometern um den Hof herumgab es keinen Fluss, nicht einmal einen Bach, lediglich ein paar Kanäle zurBewässerung von Weizen und Kuhkehlen.Ohne sein Zutun spielten Yves’ Hände einen Akkord, einen zweiten, eineMelodie mischte sich in das Zwitschern der Vögel vor dem Fenster. Mitder tiefen, rauchigen Stimme, die in Yves’ Kopf dazu einsetzte, k<strong>am</strong> jenesGefühl zurück, das Yves weder beschreiben noch benennen, von dem ernicht einmal sagen konnte, ob es angenehm war oder nicht. Und das Bilddes <strong>Junge</strong>n, der an einem Fluss, den es nicht gab, lag und seinen Träumenlauschte. Vielleicht auch nur deren Echos.

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