eine <strong>Lin<strong>de</strong></strong>, <strong>de</strong>r schönste, zierlichste Baum, <strong>de</strong>n man sich wünschen konnte. Zarte, grüneBlätter hatte die <strong>Lin<strong>de</strong></strong>, hübsche, feine Zweige hatte sie und einen glatten, ranken Stamm.Malin freute sich so sehr, dass sie glaubte, das Herz flöge ihr aus <strong>de</strong>r Brust.Wahrhaftig, dort stand eine <strong>Lin<strong>de</strong></strong>!Und Jocke Kis geriet ganz außer sich vor Freu<strong>de</strong>, er wusste sich kaum zu lassen. Und nichteinmal Ola lachte, son<strong>de</strong>rn sagte: »Ein Wun<strong>de</strong>r ist geschehen in Norka … wahrhaftig, da stehteine <strong>Lin<strong>de</strong></strong>!«Ja, eine <strong>Lin<strong>de</strong></strong> stand dort, aber sie klang nicht, gar nicht. Ganz still stand sie dort, und ihreBlätter rührten sich nicht. Gott hatte in seiner Güte eine <strong>Lin<strong>de</strong></strong> aus einer Erbse sprießen lassen.Ach, weshalb nur hatte er vergessen, ihr eine Seele zu geben?Draußen auf <strong>de</strong>m Kartoffelacker, da stan<strong>de</strong>n sie nun versammelt, die Spittler. Sie wartetendarauf, die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> klingen und die Nachtigall singen zu hören, so wie Malin es ihnenversprochen hatte.Doch die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> blieb stumm. Malin schüttelte das Bäumchen in ihrer Verzweiflung. Ohneklingen<strong>de</strong> <strong>Lin<strong>de</strong></strong> gab es auch keine Nachtigall, das wusste sie wohl, <strong>de</strong>nn so ist es nun einmalmit <strong>de</strong>r Nachtigall. Doch die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> blieb stumm.Den ganzen Tag saß Jocke Kis auf <strong>de</strong>r Vortreppe, er lauschte und wartete, aber am Abend kamer mit Tränen in <strong>de</strong>n Augen zu Malin und sagte: »Du hast versprochen, dass sie klingen wird.Du hast gesagt, dass eine Nachtigall singen wird.«Und Ola auf Jola hielt die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> nicht länger für ein Wun<strong>de</strong>rwerk.»Was sollen wir <strong>de</strong>nn mit einer <strong>Lin<strong>de</strong></strong>, die nicht klingt?« fragte er. »Morgen haue ich sie nie<strong>de</strong>r.Denn was wir brauchen, das sind Kartoffeln.«Da weinte Malin, <strong>de</strong>nn nun wusste sie nicht mehr, wie es je etwas Schönes und Frohes imSpittel geben könnte.Die Spittler gingen ins Bett, sie warteten nicht mehr auf die Nachtigall, sie warteten nur auf dieWanzen. Und die Wanzen saßen in ihren Ritzen und Spalten und warteten auf sie.Dann senkte sich die Frühlingsnacht still über Norka.Doch in ihrem Winkel im Armenhaus lag Malin und konnte nicht schlafen. Sie stand auf undging hinaus auf <strong>de</strong>n Kartoffelacker. Licht und klar wölbte sich <strong>de</strong>r Frühlingshimmel über dasdunkle Armenhaus, über die stumme <strong>Lin<strong>de</strong></strong>, über das schlafen<strong>de</strong> Dorf. Im ganzen Norka-Kirchspiel war wohl niemand wach außer Malin, und doch spürte sie, dass die Nacht vollerLeben war. In <strong>de</strong>n Blättern und Blüten, in <strong>de</strong>n Gräsern und Bäumen lebte und webte <strong>de</strong>r Lenz,ja in <strong>de</strong>m kleinsten Kraut, in <strong>de</strong>m winzigsten Halm war Leben. Nur die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> war tot. Schön undstumm stand sie auf <strong>de</strong>m Kartoffelacker und war tot. Malin legte ihre Hand an <strong>de</strong>n Stamm.Und da spürte sie plötzlich, wie bitter es für die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> war, ganz allein ohne Leben zu sein undnicht klingen zu dürfen. Und es kam Malin in <strong>de</strong>n Sinn, <strong>de</strong>m toten Baum ihre Seele zuschenken. Dann wür<strong>de</strong> das Leben in die kleinen, grünen Blatter und die zierlichen, feinen
Zweige strömen, und dann wür<strong>de</strong> die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> so jubelnd klingen, dass alle Nachtigallen in allenHainen und Wäl<strong>de</strong>rn auf Er<strong>de</strong>n es hören wür<strong>de</strong>n.»Ja, dann klingt <strong>meine</strong> <strong>Lin<strong>de</strong></strong>«, dachte Malin, »dann singt <strong>meine</strong> Nachtigall, und dann wird allesschön und froh im Armenhaus.« Doch dann dachte sie: »Aber ich bin dann nicht mehr da, <strong>de</strong>nnohne Seele kann niemand leben auf Er<strong>de</strong>n. Doch in <strong>de</strong>r <strong>Lin<strong>de</strong></strong> lebe ich dann, bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>rZeit wohne ich dann in <strong>meine</strong>m kühlen, grünen Haus, und die Nachtigall singt für mich an <strong>de</strong>nAben<strong>de</strong>n und in <strong>de</strong>n Nächten <strong>de</strong>s Frühlings. Und alles wird froh.«Ja, es kam ihr in <strong>de</strong>n Sinn, ihre Seele <strong>de</strong>r <strong>Lin<strong>de</strong></strong> zu schenken …Im ganzen Kirchspiel war niemand wach, und <strong>de</strong>shalb weiß auch niemand so recht, was injener fernen Frühlingsnacht in Norka vor <strong>de</strong>m Armenhaus geschah. Nur eins weiß man gewiss… dass bei Morgengrauen alle Spittler von <strong>de</strong>r lieblichsten Musik draußen auf <strong>de</strong>mKartoffelacker geweckt wur<strong>de</strong>n, eine klingen<strong>de</strong> <strong>Lin<strong>de</strong></strong> und eine singen<strong>de</strong> Nachtigall weckten siezu einem Tag <strong>de</strong>r Herzensfreu<strong>de</strong>. Denn so wun<strong>de</strong>rlieblich klang die <strong>Lin<strong>de</strong></strong>, so herzinnig sang dieNachtigall, dass alles mit einem Mal schön und froh wur<strong>de</strong> im Armenhaus.Malin aber war nicht mehr dort, und sie kehrte auch niemals wie<strong>de</strong>r. Die Spittler vermisstensie sehr und forschten und fragten, wo sie wohl sein könnte. Aber Jocke Kis, <strong>de</strong>r nicht ganzrichtig war im Kopf, sagte, dass er, als die <strong>Lin<strong>de</strong></strong> klang, nur eine einzige Stimme gehört habe.Und die flüsterte: »Ich bin es … Malin.«Astrid LindgrenGertrud Rukschcio (Hrsg): Das Loch im Baum und an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>rgeschichten aus Schwe<strong>de</strong>n.Recklinghausen: Georg Bitter Verlag 1977