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Lesen Sie hier die ersten Kapitel aus "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo"

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VorwortDies ist ein Buch über <strong>die</strong> Kindheit und Jugend vonChristiane F. (geboren 1962). <strong>Sie</strong> erzählt in ihreneigenen Worten, was sie alles erlebt hat.Diese wahre Geschichte wird den meisten Leutenunglaublich erscheinen. Denn Christiane hatschreckliche Dinge mitgemacht: Schläge <strong>vom</strong> Vater,Drogen, Sex für Geld, Freunde, <strong>die</strong> durch Drogenjung starben.Christiane hat zwei Reportern von der ZeitschriftStern über <strong>die</strong>ses Leben erzählt. <strong>Sie</strong> haben allesaufgeschrieben und als Buch her<strong>aus</strong>gebracht.Das war 1978. Christiane war gerade mal 16 Jahrealt. Obwohl sie so jung war, hatte sie schon so vielerlebt.Die Geschichte beginnt, als Christiane sechs Jahrealt ist.Schwierige Wörter oder Ausdrücke sindunterstrichen. Die Erklärungen stehen in derWörterliste am Ende des Buches.7


Man sah fast nur Beton und Asphalt. Dazwischengab es ein bisschen Rasen. Und man hatte ein paarEinkaufszentren gebaut. Das war’s. Überall stank esnach Kacke und Pisse.Unsere Wohnung im elften Stock war winzig.Auch mein Zimmer und das meiner Schwester warklein.Der Fahrstuhl brauchte ewig nach oben. Wenn ichnötig pinkeln musste, machte ich ins Treppenh<strong>aus</strong>.Das taten alle <strong>Kinder</strong> dort.Für <strong>die</strong> anderen war ich das Kind <strong>vom</strong> Land.Ich sprach anders und sah anders <strong>aus</strong>. Der stärksteJunge war der Boss. Alle mussten ihm gehorchen.Hier spielte man Spiele, <strong>die</strong> ich nicht kannte:Man nahm anderen <strong>Kinder</strong>n ihr neues Spielzeugweg. Und dann war es kaputt. Oder manverprügelte jemanden, einfach so.Schnell verstand ich <strong>die</strong> Regel „schlagen odergeschlagen werden“. Wenn man der Schwächstewar, hatte man Pech.Ich hatte mich auf <strong>die</strong> Schule gefreut. Doch auch dawar alles anders, als ich gedacht hatte. Die <strong>Kinder</strong>hatten keinen Respekt vor den Lehrern. In derKlasse herrschte großes Durcheinander.9


Die Lehrer hatten <strong>die</strong> Schüler überhaupt nicht unterKontrolle. Aber ich merkte: Wenn ich eine großeSchnauze habe, finden <strong>die</strong> anderen <strong>Kinder</strong> mich toll.So war das eben in Berlin.10


Auch meine kleine Schwester bekam dauerndPrügel. Eigentlich war für meinen Vater jeder Grundgut genug, uns zu schlagen.Der Vater von meinem Vater hat früher viel Geldgehabt. Ihm gehörten eine Druckerei und eineZeitung.Nach dem Krieg wurde ihm alles weggenommen.Er wollte, dass sein Sohn so richtig was wird.Doch mein Vater schaffte es einfach nicht.Er hat früher eine Lehre gemacht. Dann lernteer meine Mutter kennen. <strong>Sie</strong> wurde schon baldschwanger. Mein Vater brach seine Lehre ab.Und dann haben sie geheiratet.Irgendwie waren wir darum für ihn an allemschuld. <strong>Wir</strong> haben sozusagen seine Zukunft kaputtgemacht. Seine Wut darüber reagierte er an uns ab.Die Freunde und Bekannten meines Vaters wusstennichts von uns. Für sie hatte mein Vater keineFamilie. <strong>Wir</strong> mussten ihn immer „Onkel Richard“nennen. Ich machte nie einen Fehler, nannte ihnnie <strong>aus</strong> Versehen „Papa“. Sonst hätte ich bestimmtwieder Schläge bekommen.Trotzdem liebte ich meinen Vater irgendwie.Ich dachte immer: Mein Vater ist viel schlauer undstärker als andere Väter.12


Dabei hatte ich ja auch Angst vor ihm. Aber dasPrügeln fand ich eigentlich normal. Andere Väter<strong>aus</strong> der Gegend machten das ja auch. Da kam sogarmanchmal <strong>die</strong> Polizei. So schlimm war es ja bei unsgar nicht.Ich hatte oft Angst zu H<strong>aus</strong>e. Aber da gab es etwas,das mich immer froh machte: meine Tiere. UnsereWohnung war irgendwann ein kleiner Zoo. Ich hatteMäuse, Katzen, Kaninchen, einen Wellensittich undAjax. Ajax war unsere Dogge.Unsere Familie war sehr tierlieb. Ich kannte keineandere Familie, <strong>die</strong> so tierlieb war. Auch mein Vaterwar lieb zu den Tieren. Die schlug er nie.Ajax durfte ich sogar manchmal mit zur Schulenehmen. Er saß dann ganz brav unter meinemTisch.13


SpielenAuf dem Land hatte ich immer viel Freiheit. Doch inBerlin konnten wir fast nirgendwohin zum Spielen.Überall standen Verbotsschilder.<strong>Wir</strong> durften nicht Fußball spielen. Rasen betretenwar verboten. Mit Rollschuhen oder Fahrrädernfahren – auch verboten. Rumtoben machte zu vielLärm. Die Klettergerüste auf dem Spielplatz warenkaputt. Außerdem durften wir da sowieso nur zubestimmten Zeiten hin.Die H<strong>aus</strong>meister der Hochhäuser hassten uns.<strong>Sie</strong> passten immer gut auf, ob wir uns an <strong>die</strong> Regelnhielten. Das taten wir natürlich nicht. <strong>Wir</strong> durftenso wenig. Gerade darum machten wir lauterverbotene Sachen.<strong>Wir</strong> versteckten uns in irgendwelchen Kellern.<strong>Wir</strong> fuhren Rollschuh im H<strong>aus</strong>flur. Oder wir spieltenWettrennen mit den Fahrstühlen.Die Fahrstühle fanden wir sowieso spannend.<strong>Wir</strong> sperrten andere <strong>Kinder</strong> ein und drückten aufalle Knöpfe. Dann hielt der Fahrstuhl auf jederEtage. Wenn das Kind pinkeln musste, machte essich in <strong>die</strong> Hose. Oder wir fuhren alle zusammenhoch. Dann sprangen wir gleichzeitig in <strong>die</strong> Luft.Dadurch blieb der Fahrstuhl stehen.14


Ein paar andere <strong>Kinder</strong> hatten auch Hunde.<strong>Wir</strong> entdeckten ein Stück Natur, außerhalb derGropiusstadt. Dort spielten wir „Spürhund“.Einer versteckte sich. Dann musste sein Hund ihnsuchen. Mein Ajax hatte immer <strong>die</strong> beste Nase.Bei uns in der Nähe machte irgendwann einPonyhof auf. Da war ich acht oder neun. Ich half abund zu im Stall. Dafür durfte ich ein bisschen reiten.Das Pferd war viel größer und stärker als ich.Und trotzdem hatte ich <strong>die</strong> Macht. Das Pferd tatgenau, was ich wollte. Das gefiel mir.Manchmal hatte ich keine Zeit, um im Stall zuhelfen. Aber reiten wollte ich trotzdem. Ich habedann heimlich <strong>die</strong> leeren Flaschen von meinemVater eingesammelt. Beim Supermarkt bekamich dafür Pfandgeld. Davon konnte ich das Reitenbezahlen.Das Einkaufszentrum in der Nähe war auch ganzinteressant. Es war dort aber sehr dreckig.Überall lag Müll herum. Betrunkene schmissenBierdosen auf <strong>die</strong> Straße.Aber <strong>die</strong> Läden fanden wir toll. Im Kaffee-Laden gabes Süßigkeiten. Wenn wir kein Taschengeld hatten,klauten wir eben was. Das fanden dann alle gut.Denn <strong>die</strong> Ladenbesitzer mochten uns <strong>Kinder</strong> nicht.Und das Klauen war eben ihre Strafe.15


Die Stadtverwaltung hatte irgendwann genugvon unseren Streichen. Also wurde ein Abenteuer-Spielplatz gebaut. Dort gab es einen freundlichenSozialarbeiter. Mit Hammer und Nägeln sollten wirirgendwas bauen. Aber wenn <strong>die</strong> Nägel drin waren,durften wir nichts mehr ändern. Dabei machte dasdoch am meisten Spaß. Auf dem Land hatten wirauch immer Hütten gebaut. Aber <strong>die</strong> blieben niegleich.Dann machte der Spielplatz wieder zu. Er sollteumgebaut werden. <strong>Wir</strong> sollten auch bei schlechtemWetter spielen können. Darum kam ein Betonbunker.Die Fenster waren schon nach ein paar Tagenkaputt. Neben dem Spielplatz wurde auch nocheine Schule gebaut. Der Schulspielplatz wurde inden Abenteuerspielplatz hineingebaut. Für uns warnicht mehr viel übrig. Außerdem lungerten dortältere Jungs rum. Die waren oft besoffen. Und sieärgerten alle <strong>Kinder</strong>. Die Sozialarbeiter konntennichts gegen sie machen.Dafür bekamen wir dann einen Rodelberg.Das war im Winter ein Riesenspaß. Im Frühlingtobten wir dort mit den Hunden. Und wir rastenmit den Fahrrädern herum. Doch das wurde schonbald verboten. Die Stadt kippte Zement auf denRodelberg. <strong>Sie</strong> legte Treppen an und stellte Zäune hin.16


Da war dann nichts mehr mit Rumtoben undFahrradfahren. Stattdessen wurde der Rodelberggefährlich. Auf dem harten Boden konnte man sichganz schön wehtun.Die Berliner Mauer war nicht weit entfernt.Vor der Mauer gab es ein wunderschönes StückNatur: Bäume, Büsche, alte Bretter, Wasserlöcher.Dort konnte man wirklich Abenteuer erleben.<strong>Wir</strong> spielten Verstecken und machten Lagerfeuer.Doch auch dort kamen schon bald Verbotsschilder.Und ein wenig später wurde das Gebiet zurMüllkippe. Weg war <strong>die</strong> Natur, weg war unserAbenteuer.17

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