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Der angekettete Elefant - Psychotherapie-schrenker.de

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D er <strong>angekettete</strong> E lefantIch kann nicht«, sagte ich. »Ich kann es einfach nicht.«»Bist du sicher?« fragte er mich.»Ja, nichts täte ich lieber, als mich vor sie hinzustellenund ihr zu sagen, was ich fühle . . . Aber ich weiß, daß iches nicht kann.«<strong>Der</strong> Dicke setzte sich im Schnei<strong>de</strong>rsitz in einen dieserfürchterlichen blauen Polstersessel in seinem Sprechzimmer.Er lächelte, sah mir in die Augen, senkte die Stimmewie immer, wenn er wollte, daß man ihm aufmerksamzuhörte, und sagte:»Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.«Und ohne ein Zeichen meiner Zustimmung abzuwarten,begann er zu erzählen.Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommenvom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir dieTiere. Vor allem <strong>de</strong>r <strong>Elefant</strong> hatte es mir angetan. Wie ichspäter erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kin<strong>de</strong>r. Während<strong>de</strong>r Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheuresGewicht, seine eindrucksvolle Größe und seineKraft zur Schau. Nach <strong>de</strong>r Vorstellung aber und auch in<strong>de</strong>r Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb <strong>de</strong>r <strong>Elefant</strong> immeram Fuß an einen kleinen Pflock angekettet.7


<strong>Der</strong> Pflock war allerdings nichts weiter als ein winzigesStück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in <strong>de</strong>rEr<strong>de</strong> steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwerwar, stand für mich ganz außer Zweifel, daß ein Tier, dasdie Kraft hatte, einen Baum mitsamt <strong>de</strong>r Wurzel auszureißen,sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflockbefreien und fliehen konnte.Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.Was hält ihn zurück?Warum macht er sich nicht auf und davon?Als Sechs- o<strong>de</strong>r Siebenjähriger vertraute ich noch aufdie Weisheit <strong>de</strong>r Erwachsenen. Also fragte ich einenLehrer, einen Vater o<strong>de</strong>r Onkel nach <strong>de</strong>m Rätsel <strong>de</strong>s <strong>Elefant</strong>en.Einer von ihnen erklärte mir, <strong>de</strong>r <strong>Elefant</strong> machesich nicht aus <strong>de</strong>m Staub, weil er dressiert sei.Meine nächste Frage lag auf <strong>de</strong>r Hand: »Und wenn erdressiert ist, warum muß er dann noch angekettet wer<strong>de</strong>n?«Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwortdarauf bekommen zu haben. Mit <strong>de</strong>r Zeit vergaß ich dasRätsel um <strong>de</strong>n <strong>angekettete</strong>n <strong>Elefant</strong>en und erinnerte michnur dann wie<strong>de</strong>r daran, wenn ich auf an<strong>de</strong>re Menschentraf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmalgestellt hatten.Vor einigen Jahren fand ich heraus, daß zu meinemGlück doch schon jemand weise genug gewesen war, dieAntwort auf die Frage zu fin<strong>de</strong>n:<strong>Der</strong> Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühesterKindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.8Ich schloß die Augen und stellte mir <strong>de</strong>n wehrlosenneugeborenen <strong>Elefant</strong>en am Pflock vor. Ich war mirsicher, daß er in diesem Moment schubst, zieht undschwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz allerAnstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zufest in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> steckt.Ich stellte mir vor, daß er erschöpft einschläft und esam nächsten Tag gleich wie<strong>de</strong>r probiert, und am nächstenTag wie<strong>de</strong>r, und am nächsten . . . Bis eines Tages, eines fürseine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seineOhnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.Dieser riesige, mächtige <strong>Elefant</strong>, <strong>de</strong>n wir aus <strong>de</strong>m Zirkuskennen, flieht nicht, weil <strong>de</strong>r Ärmste glaubt, daß eres nicht kann.Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtiger sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, insein Gedächtnis eingebrannt.Und das Schlimme dabei ist, daß er diese Erinnerungnie wie<strong>de</strong>r ernsthaft hinterfragt hat.Nie wie<strong>de</strong>r hat er versucht, seine Kraft auf die Probezu stellen.»So ist es, Demian. Uns allen geht es ein bißchen so wiediesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in <strong>de</strong>r Welt, alswären wir an Hun<strong>de</strong>rte von Pflöcken gekettet.Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können,bloß weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit,damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben undgescheitert sind.9


Wir haben uns genauso verhalten wie <strong>de</strong>r <strong>Elefant</strong>, undauch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt:Ich kann das nicht, und ich wer<strong>de</strong> es niemals können.Mit dieser Botschaft, <strong>de</strong>r Botschaft, daß wir machtlossind, sind wir groß gewor<strong>de</strong>n, und seit<strong>de</strong>m haben wir niemalsmehr versucht, uns von unserem Pflock loszureißen.Manchmal, wenn wir die Fußfesseln wie<strong>de</strong>r spüren undmit <strong>de</strong>n Ketten klirren, gerät uns <strong>de</strong>r Pflock in <strong>de</strong>n Blick,und wir <strong>de</strong>nken: Ich kann nicht, und wer<strong>de</strong> es niemals können.«Jorge machte eine lange Pause. Dann rückte er ein Stückheran, setzte sich mir gegenüber auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und sprachweiter:»Genau dasselbe hast auch du erlebt, Demian. DeinLeben ist von <strong>de</strong>r Erinnerung an einen Demian geprägt,<strong>de</strong>n es gar nicht mehr gibt und <strong>de</strong>r nicht konnte.<strong>Der</strong> einzige Weg herauszufin<strong>de</strong>n, ob du etwas kannsto<strong>de</strong>r nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollemEinsatz. Aus ganzem Herzen!«

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