E<strong>in</strong> anderer Höllenkreis präsentiert sich uns <strong>in</strong> der Darstellung mit religiösem Inhalt. Teils Stilleben,teils antiken Skulpturen nachempf<strong>und</strong>en. ℗ E<strong>in</strong> „schwuler Heiliger“ wird zum wiederbelebten„Heiligen Sebastian“, <strong>in</strong> „Still Life with Mirror“ ℗zw<strong>in</strong>gt sich Witk<strong>in</strong> zur leiblichen Erfahrung, <strong>in</strong> demer Nägel <strong>in</strong> den abgetrennten Fuß schlägt. Den Höhepunkt se<strong>in</strong>er Selbsterfahrung f<strong>in</strong>det erschließlich mit se<strong>in</strong>em Werk „Crucified Horse“. Inspiriert durch Männerbünde, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> derNachfolge Christi sahen <strong>und</strong> sich geißelten, erschuf er „Penitente“. ℗L<strong>in</strong>ks <strong>und</strong> rechts <strong>von</strong> „Jesus“f<strong>in</strong>den sich Dysmas <strong>und</strong> Gestas als tote Kapuz<strong>in</strong>eräffchen wieder. Deren Katalognummernveranlassten Witk<strong>in</strong> dazu, dem Gekreuzigten <strong>die</strong> Nummer auf den Körper zu schreiben <strong>und</strong> erschufsomit, ohne erste Intention, e<strong>in</strong> verwirrendes Mahnmal für den Holocaust. Witk<strong>in</strong> durchbrichtwahrlich jedes Vorstellungsvermögen <strong>und</strong> wir s<strong>in</strong>d geneigt ihn für <strong>die</strong> Pietätlosigkeit <strong>und</strong>Blasphemie zu verurteilen. ℗ Doch würden wir damit unrecht tun, denn alle Beteiligten, Ärzte,Protagonisten, Angehörige <strong>und</strong> Modelle haben übere<strong>in</strong>stimmend den höchst respektvollen <strong>und</strong>sensiblen Umgang gelobt, den Witk<strong>in</strong> im Umgang mit den sterblichen Überresten zeigte. Se<strong>in</strong>eWerke mit toten Babies <strong>und</strong> Leichen stehen auch symbolisch für <strong>die</strong> ewige Suche nach derverstorbenen Zwill<strong>in</strong>gsschwester, womit aber auch gleichzeitig ihrer Gedacht wird. Se<strong>in</strong>eArrangements s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e visuelle creatio ex nihilo <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong>e Würdigung expost. Zu dem Mystiker, Schamanen <strong>und</strong> Künstler Witk<strong>in</strong> gesellt sich noch der Alchimist, der <strong>in</strong> derZusammenstellung der Elemente e<strong>in</strong>e Synthese <strong>und</strong> Neuerschaffung sucht. Witk<strong>in</strong>sRequisitenkammer, oder sollte man besser Asservatenkammer sagen, be<strong>in</strong>haltete jedes Element<strong>und</strong> e<strong>in</strong> jedes f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz. Alles brodelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em riesigen Kessel, dessen philosophischerInhalt mit den Gewürzen Mystik, Religion, Kultur <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> zu e<strong>in</strong>er neuen Substanz kocht, <strong>die</strong> esso <strong>in</strong> der Photographie nie gegeben hat <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Form wohl auch nicht mehr geben wird.℗ <strong>Joseph</strong> <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> <strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d Künstler, <strong>die</strong> fest an <strong>die</strong> schöpferischen Kraft der <strong>Kunst</strong>glauben; <strong>in</strong> ihr <strong>die</strong> Urkraft der Natur <strong>und</strong> Gottes erkennen <strong>und</strong> versuchen, sie uns aufunterschiedliche Art begreiflich zu machen. Beide sehen den leidenden Menschen, der Hilfebenötigt, um <strong>die</strong> ihn ihm liegende Kraft zur Neugestaltung se<strong>in</strong>er selbst zu aktivieren. OhneProbleme kann ich beide als Überbr<strong>in</strong>ger <strong>von</strong> Botschaften göttlicher <strong>und</strong> natureller Art, da ihnen<strong>die</strong> Geheimnisse offenbart worden s<strong>in</strong>d, welche sie im Umgang mit Natur <strong>und</strong> Mensch erst Schrittfür Schritt erkennen konnten. Der große Unterschied zwischen <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> Witk<strong>in</strong> liegt jedoch <strong>in</strong> derAuffassung, <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> als „Lebensform“ anzusehen. Während Witk<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> als Spiegel <strong>und</strong>Werkzeug nutzt, überschritt <strong>Beuys</strong> <strong>die</strong>se L<strong>in</strong>ie, <strong>in</strong> dem er <strong>Kunst</strong> der Normativität se<strong>in</strong>es18
<strong>Kunst</strong>begriffes unterwarf. Für Witk<strong>in</strong> ist <strong>Kunst</strong> e<strong>in</strong> Ideal, für <strong>Beuys</strong> wurde es zur Ideologie. Auchwenn <strong>die</strong>se Ideologie immer positiv fokussiert war, so zeigte sich <strong>in</strong> den Ause<strong>in</strong>andersetzungen mit<strong>Beuys</strong>, dass se<strong>in</strong>e Idee e<strong>in</strong>er„Regel für <strong>die</strong> Menschwerdung“ nicht <strong>von</strong> jedem getragen wurde.Hier schließt sich der Kreis <strong>und</strong> endet der Weg zu e<strong>in</strong>em besseren Verständnis moderner <strong>Kunst</strong>.Vielleicht hilft <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>führung nicht nur <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> Witk<strong>in</strong> besser zu verstehen, sondern lässtzukünftig nicht zu schnell über <strong>die</strong> Werke anderer Moderner Künstler urteilen. Moderne <strong>Kunst</strong>zeigt nicht <strong>die</strong> Welt wie sie ist.. sondern wie sie <strong>in</strong>divuell gesehen <strong>und</strong> wahrgenommen wird. Undes steckt immer mehr h<strong>in</strong>ter dem Werk, wie im ersten Blick ersche<strong>in</strong>t.19