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Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer (In epistula ad ...

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HEILIGERJOHANNESCHRYSOSTOMOS<strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong><strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>


Chrysostomus († 407)<strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong> <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>(<strong>In</strong> <strong>epistula</strong> <strong>ad</strong> Rom<strong>an</strong>os commentarius)Generiert von der elektronischen BKVvon Gregor Emmenegger / Uwe Holtm<strong>an</strong>nText ohne GewährText aus: Des heiligen Kirchenlehrers Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomus Erzbischofs von Konst<strong>an</strong>tinopel<strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong> <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> / aus dem Griechischen übers. von JosefJatsch. (Des heiligen Kirchenlehrers Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomus ausgewä<strong>hl</strong>te Schriften Bd. 5-6; Bibliothekder Kirchenväter, 1. Reihe, B<strong>an</strong>d 39 und 42) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet,1922.Vorwort1. Einleitung (Josef Jatsch)<strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong> <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong><strong>die</strong> <strong>Römer</strong> (<strong>In</strong> <strong>epistula</strong> <strong>ad</strong> Rom<strong>an</strong>os commentarius)ERSTE HOMILIE. Einleitung.1.2.ZWEITE HOMILIE. Kap. I, V. 1—7.1.2.3.4.DRITTE HOMILIE. Kap. I, V. 8—17.1.2.3.4.5.6.VIERTE HOMILIE. Kap. I, V. 18—25.1.2.3.4.FÜNFTE HOMILIE. Kap. 1, V. 26 und 27.1.2.3.4.SECHSTE HOMILIE. Kap. 1, V. 28—31 undKap. II, V. 1—16.1.2.3.4.5.6.7.SIEBENTE HOMILIE. Kap. II, V. 17—28 undKap. III. V. 1—8.1.2.3.4.5.1


6.ACHTE HOMILIE. Kap. III, V. 9—31.1.2.3.4.5.6.7.8.9.NEUNTE HOMILIE. Kap. IV, V. 1—21.1.2.3.4.5.6.7.8.9.ZEHNTE HOMILIE. Kap. IV, V. 23—25 undKap. V, V. 1-11.1.2.3.4.ELFTE HOMILIE. Kap. V, V. 12—21 und Kap.VI, V. 1—4.1.2.3.4.5.6.ZWÖLFTE HOMILIE. Kap. VI, V. 5—18.1.2.3.4.5.2DREIZEHNTE HOMILIE. Kap. VI, V. 19—23u. Kap. VII, V. 1—13.1.2.3.4.5.6.7.8.9.VIERZEHNTE HOMILIE. Kap. VII, V. 14—25u. Kap. VIII, V. 1—11.1.2.3.4.5.6.7.7.9.10.11.FÜNFZEHNTE HOMILIE. Kap. VIII, V. 12—27.1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.SECHZEHNTE HOMILIE. Kap. VIII, V. 28—39.1.2.3.


4.5.6.SIEBZEHNTE HOMILIE. Kap. IX, V. 1—33.1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.ACHTZEHNTE HOMILIE. Kap. X, V. 1—13.1.2.3.4.5.NEUNZEHNTE HOMILIE. Kap. X, V. 14—21u. Kap. XI. V. 1—6.1.2.3.4.5.6.7.ZWANZIGSTE HOMILIE. Kap. XI. V. 7—36.1.2.3.4.5.6.7.8.EINUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap. XII,V. 1—3.1.32.3.4.ZWEIUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XII, V. 4—13.1.2.3.4.5.DREIUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XII V. 14—21.1.2.3.4.VIERUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XIII, V. 1—10.1.2.3.4.5.FÜNFUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XIII, V. 11—14.1.2.3.4.SECHSUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XIV, V. 1—13.1.2.3.4.5.6.SIEBENUNDZWANZIGSTE HOMILIE Kap.XIV, V. 14—23.1.


2.3.4.ACHTUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XIV, V. 25—27 und Kap. XV, V. 1—7.1.2.3.4.NEUNUNDZWANZIGSTE HOMILIE. Kap.XV, V. 8—13.1.2.3.DREISSIGSTE HOMILIE. Kap. XV, V. 14—24.1.2.3.4.5.EINUNDDREISSIGSTE HOMILIE. Kap. XV,V. 25—33 und Kap. XVI, V. 1—5.1.2.3.4.ZWEIUNDDREISSIGSTE HOMILIE.XVI, V. 5—16.1.2.3.4.5.DREIUNDDREISSIGSTE HOMILIE.XVI, V. 17—24.1.2.3.4.Kap.Kap.4


Vorwort1. Einleitung 1Josef Jatsch1. Allgemeine Einleitung.Kaum ein <strong>an</strong>deres Buch der Hl. Schrift ist sooft und mit soviel Aufw<strong>an</strong>d von geistigerKraft, freilich auch mit so weit ausein<strong>an</strong>dergehendenResultaten von den christlichenTheologen aller Jahrhunderte kommentiertworden wie der Brief <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong><strong>Römer</strong>.Daß der <strong>Römer</strong>brief den Scharfsinn derTheologen zur Untersuchung reizte, mehr alsjede <strong>an</strong>dere der <strong>hl</strong>. Schriften, liegt in der gewaltigenGed<strong>an</strong>kenmacht, <strong>die</strong> in ihm besc<strong>hl</strong>ossenruht. Die schwierigsten Problemeder christlichen Glaubenslehre wirft er auf,wie: Heilserl<strong>an</strong>gung durch alttestamentlicheGesetzestreue und neutestamentlichen Glauben,das Verhältnis von Sünde und Gesetz,Ver<strong>die</strong>nst und Gn<strong>ad</strong>e, eigener Mitwirkung<strong>zum</strong> Heil und göttlicher Vorherbestimmung,<strong>die</strong> Dogmen von der Erbsünde und der Erlösungdurch Christus, und h<strong>an</strong>delt über <strong>die</strong>seFragen in oft recht verwickelten Ged<strong>an</strong>kengängen.Den ersten <strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Römer</strong>briefeschrieb griechisch Origenes. <strong>In</strong> der Urschriftverloren geg<strong>an</strong>gen, besitzen wir denselbennur in einer lateinischen Bearbeitung durchRufinus (Migne, P. gr. XIV, 831—1294). Dieserhat jedoch <strong>die</strong> Urschrift nach eigenemGutdünken gekürzt oder auch erweitert, sodaß sich nicht immer genau feststellen läßt,was Urschrift und was Zugabe ist. Der ältestelateinische <strong>Kommentar</strong> ist der <strong>des</strong> Ambrosi-1 Aus: Des heiligen Kirchenlehrers Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomus Erzbischofs vonKonst<strong>an</strong>tinopel <strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong> <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> / ausdem Griechischen übers. von Josef Jatsch. (Des heiligen KirchenlehrersJoh<strong>an</strong>nes Chrysostomus ausgewä<strong>hl</strong>te Schriften Bd. 5-6; Bibliothek derKirchenväter, 1. Reihe, B<strong>an</strong>d 39 und 42) Kempten; München : J. Kösel : F.Pustet, 1922.5aster aus der Zeit <strong>des</strong> Papstes Damasus(366—384). <strong>In</strong> der h<strong>an</strong>dschriftlichen Überlieferung<strong>die</strong>ses <strong>Kommentar</strong>s wird als sein Verfasserein Hilarius gen<strong>an</strong>nt, den der <strong>hl</strong>. Augustinusirrtümlich für Hilarius von Poitiershielt. Wer <strong>die</strong>ser Hilarius war, ist nicht festzustellen,jedenfalls war es nicht der <strong>hl</strong>.Ambrosius, dem seit Kassiodors Zeiten <strong>die</strong>se„Commentaria in tredecim epistolas B. Pauli“ zugeschrieben wurden. Seitdem E-rasmus den Irrtum <strong>des</strong> Kassiodor aufgedeckthat, heißt der Autor gewöhnlich Ambrosiaster,d. i. Pseudo-Ambrosius (Migne, P. l.XVII, 45— 184). Ein dritter <strong>Kommentar</strong> <strong>des</strong><strong>Römer</strong>briefes der in <strong>die</strong> Zeit vor Joh<strong>an</strong>nesChrysostomus hinaufreicht, ist der <strong>des</strong> <strong>hl</strong>.Ephraem <strong>des</strong> Syrers (ca. 306—373), „eineziemlich sprunghafte und flüchtige Besprechungausgewä<strong>hl</strong>ter Stellen“ 2 . Er ist in armenischerÜbersetzung erhalten (herausg. vonden Mechitaristen, Venedig 1836) und wurdevon derselben Genossenschaft später ins Lateinischeübertragen (S. Ephraem Syri comm.in epist. D. Pauli a patribus Mekitharististr<strong>an</strong>slati, Venetiis 1893, 2—46).2 Zahn, Der Brief <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>, 1910, S. 24.


Chrysostomus († 407)<strong>Kommentar</strong> <strong>zum</strong> <strong>Briefe</strong> <strong>des</strong><strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> (<strong>In</strong><strong>epistula</strong> <strong>ad</strong> Rom<strong>an</strong>os commentarius)ERSTE HOMILIE. Einleitung.1. EinleitungImmer wenn ich aus den <strong>Briefe</strong>n <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>vorlesen höre — und es ist <strong>die</strong>s wöchentlichzweimal der Fall, oft aber auch dreimalund viermal, wenn wir nämlich Gedächtnistageheiliger Märtyrer feiern —, erfreue ichmich dar<strong>an</strong>, den Schall <strong>die</strong>ser geistigen Posaunezu genießen. Ich gerate in Entzückenund erglühe vor Sehnsucht, wenn ich <strong>die</strong>semir so liebe Stimme vernehme, und eskommt mir vor, als sähe ich den Apostel, imSprechen begriffen, wie leibhaftig vor mirstehen. Ich bedaure es, und es tut mir weh,daß nicht alle <strong>die</strong>sen M<strong>an</strong>n kennen, wie sie essollten, sondern daß m<strong>an</strong>che so wenigKenntnis von ihm haben, daß sie nicht einmal<strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> seiner <strong>Briefe</strong> genau wissen. Daskommt aber nicht von Wissensunfähigkeit,sondern weil sie nicht beständig mit <strong>die</strong>semHeiligen vertrauten Umg<strong>an</strong>g pflegen wollen.Denn auch wir d<strong>an</strong>ken unser Wissen vonihm, wenn wir ein solches besitzen, nicht unsererBegabung und Geistesschärfe, sonderndem beständigen Umg<strong>an</strong>g mit <strong>die</strong>sem M<strong>an</strong>neund unserer innigen Verehrung für ihn.Denn geliebte Menschen kennen vor allen<strong>an</strong>dern ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> gut, welche sie lieben, weilsie ihnen am Herzen liegen. Das will auchunser Heiliger ausdrücken, wenn er im <strong>Briefe</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> Philipper sagt; „Wie es billig ist, daßich für euch <strong>die</strong>se Gesinnung hege, weil icheuch im Herzen habe, in meinen B<strong>an</strong>den und6bei der Verteidigung und Befestigung <strong>des</strong>Ev<strong>an</strong>geliums“ 3 . Wenn ihr darum nur derVorlesung (aus dem Apostel) mit Zuneigungfolgen wollt, so braucht ihr nichts weiter;denn untrüglich ist das Wort Christi, das ergesprochen hat: „Suchet, und ihr werdet finden,klopfet <strong>an</strong>, und es wird euchaufget<strong>an</strong> werden“ 4 . Weil aber <strong>die</strong> Mehrza<strong>hl</strong>der hier Versammelten <strong>die</strong> Sorge um <strong>die</strong>Kindererziehung, um Weib und Hausst<strong>an</strong>dauf sich hat, sind sie nicht in der Lage, sichg<strong>an</strong>z einer solchen Arbeit hinzugeben. Darumseid wenigstens bereit, <strong>die</strong> von <strong>an</strong>derngesammelten Ged<strong>an</strong>ken <strong>an</strong>zunehmen, undlaßt euch <strong>die</strong> Anhörung ihres Vortrages wenigstensso sehr <strong>an</strong>gelegen sein wie den Erwerbvon Geld. Wenn es auch fast eineSch<strong>an</strong>de ist, nur eine solche Sorgfalt voneuch zu verl<strong>an</strong>gen, so bin ich doch damit zufrieden,wenn ihr nur <strong>die</strong>se aufbringt. Unzä<strong>hl</strong>igeÜbelstände schreiben sich her von derUnkenntnis der <strong>hl</strong>. Schriften; von da quilltder Sc<strong>hl</strong>amm der vielen Irrlehren auf, daraufgeht das sorglose Leben so vieler zurück, davonkommt es her, daß ihre Arbeiten ohneErtrag sind. Denn ger<strong>ad</strong>e so wie <strong>die</strong> <strong>des</strong> AugenlichtesBeraubten nicht ihre ger<strong>ad</strong>en Wegegehen können, ebenso müssen <strong>die</strong>, welchekein Auge haben für das Licht, das aus dengöttlichen Schriften stra<strong>hl</strong>t, in vielen Dingenund beständig irren, da sie ja in dichtesterFinsternis dahinschreiten. Damit <strong>die</strong>s nichtgeschehe, wollen wir unsere Augen für <strong>die</strong>Lichtstra<strong>hl</strong>en der apostolischen Worte offenhalten. Denn <strong>die</strong> Sprache <strong>die</strong>ses Apostels ü-berstra<strong>hl</strong>t ja <strong>an</strong> Gl<strong>an</strong>z <strong>die</strong> Sonne, und alle<strong>an</strong>dern übertrifft er durch seinen Lehrvortrag.Weil er sich mehr als sie abgemüht hat,darum hat er auch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl. Geistesin vollem Maße auf sich gezogen. Das k<strong>an</strong>nich nicht bloß aus seinen <strong>Briefe</strong>n beweisen,sondern auch aus der Apostelgeschichte.Denn wenn es irgendwo erforderlich war,öffentlich aufzutreten, wiesen (<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern3 Phil. 1, 7.4 Matth. 7, 7.


Apostel) <strong>die</strong>s immer ihm zu. Darum wurdeer von den Heiden für Hermes gehalten, weiler das Wort in seiner Gewalt hatte.Im Begriff, auf den vorliegenden Brief überzugehen,müssen wir zunächst <strong>die</strong> Zeitbestimmen, um <strong>die</strong> er geschrieben wordenist. Er ist nämlich nicht, wie viele meinen,früher als alle <strong>an</strong>dern <strong>Briefe</strong> geschrieben,wo<strong>hl</strong> aber früher als alle aus Rom geschriebenen,jedoch später als <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern, wennauch nicht später als alle <strong>an</strong>- dern. Diebeiden <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther sind vor <strong>die</strong>senabgeschickt worden. Das ist nämlich auseiner Stelle am Sc<strong>hl</strong>usse <strong>des</strong> vorliegenden<strong>Briefe</strong>s ersichtlich, wo es heißt: „Jetzt aberreise ich nach Jerusalem, den (dortigen) Heiligeneinen Dienst zu leisten; Mazedonienund Achaia haben es nämlich für gut befunden,eine Sammlung zu ver<strong>an</strong>stalten zugunstender Armen unter den Heiligen in Jerusalem5 . Den Korinthern schreibt der Apostel:„Wenn es dafür steht, daß auch ich reise, sosollen sie mit mir reisen 6 ; er meint damit <strong>die</strong>,welche das (gesammelte) Geld dorthin überbringensollten. Daraus geht hervor, daß ihmzur Zeit, als er <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther schrieb, seineReise (nach Jerusalem) noch zweifelhaft war,als er aber <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> schrieb, sie ihm bereitsfestst<strong>an</strong>d. Hält m<strong>an</strong> <strong>die</strong>s zusammen, soist ersichtlich, daß der Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong>se nachdem <strong>an</strong> jene geschrieben ist. Der Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong>Thessalonicher scheint mir aus noch frühererZeit zu sein als der <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther. Dennim ersten Brief <strong>an</strong> sie erwähnt er auch <strong>die</strong>seAlmosensammlung, wenn er sagt: „Was aber<strong>die</strong> Bruderliebe betrifft, so haben wir nichtnötig, auch darüber zu schreiben; ihr seid javon Gott selbst belehrt, daß ihr ein<strong>an</strong>der liebensollt; ihr tut <strong>die</strong>s ja auch allen Brüderngegenüber“ 7 . D<strong>an</strong>n erst schrieb er den Korinthernund brachte ihnen dasselbe zur Anzeige,wenn er sagte: „Ich kenne ja eure Bereitwilligkeit,beizusteuern, von der ich zu eu-5 Röm. 15, 25. 26.6 1 Kor. 16, 4.7 1 Thess. 4, 9. 10.7rem Lobe den Mazedoniern rühmend erzä<strong>hl</strong>e,daß Achaia schon seit Jahresfrist damitfertig ist; und ger<strong>ad</strong>e der Wetteifer mit euchwar es, der viele <strong>an</strong>gespornt hat“ 8 . Damitzeigt er <strong>an</strong>, daß er mit ihnen vorher bereitsdarüber gesprochen hatte. Der <strong>Römer</strong>brief istalso aus späterer Zeit als <strong>die</strong>se <strong>Briefe</strong>, aberder erste unter den aus Rom geschriebenen.Denn der Apostel hatte <strong>die</strong> St<strong>ad</strong>t der <strong>Römer</strong>noch nicht betreten, als er den vorliegendenBrief schrieb. Dies deutet er <strong>an</strong>, wenn er sagt:„Ich sehne mich, euch zu sehen, damit ich euch etwas geistige Gabe mitteile zueurer Stärkung“ 9 . Von Rom aus schrieb erden Philippern; darum heißt es: „Es lasseneuch alle Heiligen grüßen, besonders <strong>die</strong> ausdem Hause <strong>des</strong> Kaisers“ 10 . Den Hebräernschrieb er ebenfalls von da aus. Darum sagter, daß sie alle <strong>die</strong> aus Italien grüßen lassen 11 .Auch der Brief <strong>an</strong> Timotheus schickte er vonRom aus ab, als er in B<strong>an</strong>den lag. Dieser Briefscheint mir der letzte von allen zu sein. Esgeht <strong>die</strong>s aus dem Sc<strong>hl</strong>usse <strong>des</strong>selben hervor:„Denn ich werde schon geopfert, und <strong>die</strong>Zeit meiner Auflösung steht bevor“ 12 . Daßaber <strong>Paulus</strong> sein Leben in Rom besc<strong>hl</strong>oß, istallgemein bek<strong>an</strong>nt. Auch der Brief <strong>an</strong> Philemonist einer der letzten; denn der Apostelschrieb ihn in seinem letzten Greisenalter.Darum heißt es in demselben: „Als der Greis<strong>Paulus</strong>, nun aber auch in B<strong>an</strong>den um ChristiJesu willen“ 13 . Dem Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong> Kolosser freilichgeht er noch vor<strong>an</strong>; und das ist wiederaus der Sc<strong>hl</strong>ußstelle ersichtlich. Den Kolossernnämlich schreibt <strong>Paulus</strong>: „Tychikus wirdeuch alles kundtun, den ich mit Onesimus,dem treuen und geliebten Bruder, geschickthabe“ 14 . Es war <strong>die</strong>s aber derselbe Onesimus,<strong>des</strong>sentwegen er den Brief <strong>an</strong> Philemon geschriebenhatte. Daß es nicht ein <strong>an</strong>derer war,der denselben Namen hatte wie jener, geht8 2 Kor. 9, 2.9 Röm. 1, 11.10 Phil. 4, 22.11 Hebr. 18, 24 .12 2 Tim. 4, 6 .13 Philem. 9.14 Kol. 4. 7—9.


aus der Erwähnung <strong>des</strong> Archippus hervor.Diesen hatte sich nämlich <strong>Paulus</strong> im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong>Philemon <strong>zum</strong> Mitfürsprecher in der Angelegenheit<strong>des</strong> Onesimus erkoren; denselbenführt er auch im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Kolosser <strong>an</strong>,wenn er sagt: „Sagt dem Archippus: Habacht auf das Amt, das du übernommen hast,damit du es voll verwaltest!“ 15 . Mir scheintauch der Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater dem <strong>an</strong> <strong>die</strong><strong>Römer</strong> vor<strong>an</strong>zugehen. Wenn er in der Bibeleine <strong>an</strong>dere Stelle einnimmt, so ist das nichtsAuffallen<strong>des</strong>. So lebten ja auch <strong>die</strong> zwölfPropheten der Zeit nach nicht hinterein<strong>an</strong>der,sondern weit vonein<strong>an</strong>der entfernt;in der Reihenfolge der Bibel jedoch kommensie hinterein<strong>an</strong>der. Aggäus, Zacharias undder Engel(prophet) 16 weissagten nach Ezechielund D<strong>an</strong>iel und l<strong>an</strong>ge nach Jonas undSophonias und den <strong>an</strong>dern allen; gleichwo<strong>hl</strong>stehen sie in derselben Reihe mit jenen allen,von denen sie doch der Zeit nach so sehr abstehen.2.Niem<strong>an</strong>d halte <strong>die</strong>se Arbeit für eine nebensäc<strong>hl</strong>icheund eine solche Untersuchung füreine überflüssige Spielerei; denn <strong>die</strong> Zeit, inwelcher <strong>die</strong> einzelnen <strong>Briefe</strong> abgefaßt wordensind, unterstützt uns nicht wenig bei unsernUntersuchungen. So sehe ich, daß <strong>Paulus</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> und <strong>an</strong> <strong>die</strong> Kolosser über<strong>die</strong>selben Dinge schreibt, aber nicht in gleicherWeise über dasselbe, sondern <strong>an</strong> jenemit großer Herablassung (zu ihren falschenAnsichten), wenn er z. B. sagt: „Den, derschwach ist für den Glauben, nehmt auchauf, nicht um Meinungen <strong>zum</strong> Austragen zubringen; denn der eine glaubt alles essen zudürfen, der Schwache aber ißt nur Gemüse“17 . Den Kolossern schreibt er über densel-ben Gegenst<strong>an</strong>d, aber mit mehr Ger<strong>ad</strong>heit:„Wenn ihr abgestorben seid mit Christus,was stellt ihr noch Regeln auf, als lebtet ihr inder Welt: ‚Faß ja nicht <strong>an</strong>, koste nicht, rühr’nicht <strong>an</strong>’? Alles das sind Dinge, <strong>die</strong> Verderbenbringen durch Mißbrauch, zur Überwindung<strong>des</strong> Fleisches sind sie nichts nutze" 18 .Ich finde für <strong>die</strong> Verschiedenheit keinen <strong>an</strong>dernGrund als <strong>die</strong> Zeit, in der es geschah.Am Anf<strong>an</strong>g war es nötig, sich herabzulassen,nachher nicht mehr. So k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> den Apostelnoch <strong>an</strong> vielen <strong>an</strong>dern Stellen <strong>die</strong>selbeSchreibweise befolgen sehen. So pflegen es jaauch der Arzt und der Lehrer zu machen.Der Arzt beh<strong>an</strong>delt <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>ken am Anf<strong>an</strong>geihrer Kr<strong>an</strong>kheit nicht ebenso wie gegen Endederselben, und der Lehrer geht mit den Kindern,welche <strong>die</strong> Anf<strong>an</strong>gsgründe <strong>des</strong> Wissenslernen, nicht ebenso um wie mit Schülern,<strong>die</strong> der Vollendung ihres Wissens obliegen.Den <strong>an</strong>dern (Christengemeinden) schriebder Apostel durch irgendeine (bestimmte)Ursache und Ver<strong>an</strong>lassung bewogen; imBrief <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther bringt er <strong>die</strong>s <strong>zum</strong>Ausdruck, wenn er sagt: „Worüber Ihr mirgeschrieben habt“ 19 , und den Galatern hält er(<strong>die</strong> Ver<strong>an</strong>lassung <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s), gleich eing<strong>an</strong>gsund während <strong>des</strong> g<strong>an</strong>zen <strong>Briefe</strong>s vorAugen. Aus welchem Grunde und warumschrieb er den Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>? Er scheintihnen ja das Zeugnis zu geben, daß sie g<strong>an</strong>zguter Gesinnung vollkommen seien, voll jeglichenWissens, imst<strong>an</strong>de, sogar <strong>an</strong>dern Ermahnungenzu geben. Warum schrieb er alsoeinen Brief <strong>an</strong> sie? „Wegen der Gn<strong>ad</strong>e Gottes“,sagt er, „<strong>die</strong> mir gegeben ist dazu, einDiener Jesu Christi zu sein“. Deshalb sagt ereing<strong>an</strong>gs: „So bin ich, was <strong>an</strong> mir liegt, bereit,auch euch, <strong>die</strong> ihr zu Rom seid, das Ev<strong>an</strong>geliumzu verkünden“ 20 . Wenn er sagt, siekönnten sogar <strong>an</strong>dern Ermahnungen gebenund Ähnliches, so ist das mehr eine Vernei-15 Ebd. 4, 17.16 Malachias, wo<strong>hl</strong> der Engel gen<strong>an</strong>nt mit Bezug auf <strong>die</strong> Stelle 8. 1.17 Röm. 14, 1. 2.818 Kol. 2, 20 22. -19 Kor. 7, 1.20 Röm. 1, 14. 15


gung vor ihnen und ein Mittel, sich ihreGunst zu erwerben; denn auch für sie war eseine Notwendigkeit, durch einen Brief aufden rechten Weg gewiesen zu werden. Weiler noch nicht zu ihnen hatte kommen können,darum weist er <strong>die</strong>sen Leuten den rechtenWeg auf eine doppelte Weise: durch denNutzen, den sie aus dem <strong>Briefe</strong> ziehen konnten,und d<strong>ad</strong>urch, daß er ihnen sein (persönliches)Erscheinen in Aussicht stellt. So war<strong>die</strong>se heilige Seele geartet: <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Weltnahm er in sein Herz auf und trug alle darin.Als <strong>die</strong> nächste Verw<strong>an</strong>dtschaft betrachteteer <strong>die</strong>, welche aus dem (gleichen) Verhältniszu Gott hervorgeht. Als ob er der Vater allergeworden wäre, so liebte er sie, ja eine größereLiebe noch als jeder (leibliche) Vater legteer <strong>an</strong> den Tag. So ist <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl. Geistes;sie geht über das natürliche Kindschaftsverhältnisund ist der Quell einer noch innigerenLiebe. Das ist besonders <strong>an</strong> der Seele<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> zu sehen. Unter dem Einfluß <strong>die</strong>- ser Liebe nahm er gewissermaßenFlügel <strong>an</strong>; beständig war er auf dem Wege,alle zu besuchen, nirgends machte er Haltund rastete aus. Nachdem er das Wort Christigehört hatte: „Petrus, liebst du mich? Weidemeine Schafe“ 21 , womit <strong>die</strong>ser den höchstenAusdruck der Liebe gekennzeichnet hatte,befliß er sich <strong>des</strong>selben mit überschwänglichemEifer.Ahmen also auch wir den Apostel nach! Habenwir nicht <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheit, g<strong>an</strong>zeStädte und Völker zu lehren, so führe einjeder wenigstens seine Hausgenossen, seinWeib, seine Kinder, seine Freunde, seineNachbarn auf den rechten Weg! Niem<strong>an</strong>dwende mir ein: „Ich bin zu ungelehrt, zuschwerfällig dazu.“ Niem<strong>an</strong>d war ungelehrterals Petrus, niem<strong>an</strong>d schwerfälliger als<strong>Paulus</strong>. Dieser gesteht es ja selbst und schämtsich <strong>des</strong>sen nicht, wenn er sagt: „Bin ich auchschwerfällig in der Rede, so doch nicht in derErkenntnis“ 22 . Und doch haben <strong>die</strong>ser21 Joh. 21, 15.22 2 Kor, 11, 6.9Schwerfällige und jener Ungelehrte unzä<strong>hl</strong>igeWeltweise überwunden, unzä<strong>hl</strong>ige Schönredner<strong>zum</strong> Schweigen gebracht. Das habensie alles zust<strong>an</strong>de gebracht durch ihren Eiferund <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes. Welche Entschuldigungwerden wir haben, <strong>die</strong> wir nicht zw<strong>an</strong>zigLeute gewonnen, nicht einmal unsernHausgenossen das Heil gebracht haben? Allesleere Ausrede und eitler Vorw<strong>an</strong>d! NichtUngelehrtheit, nicht Unbeholfenheit hindert<strong>die</strong> Unterweisung, sondern Trägheit undSc<strong>hl</strong>äfrigkeit. — Laßt uns also abschütteln<strong>die</strong>se Sc<strong>hl</strong>äfrigkeit, laßt uns allen Eifer aufwendenfür unsere Angehörigen, damit wirhienieden in reichem Maße Seelenfriedengenießen, wenn wir <strong>die</strong>, welche uns nahestehen, auf den Weg der Furcht Gottes führen,und im Jenseits unendlicher Güter teilhaftigwerden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebeunseres Herrn Jesus Christus, durch den undmit dem Ehre sei dem Vater zugleich mitdem Hl. Geiste in alle Ewigkeit. Amen. ZWEITE HOMILIE. Kap. I, V. 1—7.1.Kap. I, V. 1—7.V. 1: „<strong>Paulus</strong>, ein Diener Jesu Christi, berufenerApostel, auserwä<strong>hl</strong>t für das Ev<strong>an</strong>gelium Gottes“,V. 2: „welches er zuvor durch seine Propheten inden heiligen Schriften versprochen hatte.“Moses hat den fünf von ihm geschriebenenBüchern nirgends seinen Namen beigesetzt,<strong>des</strong>gleichen nicht <strong>die</strong> Geschichtschreibernach ihm; aber auch Matthäus nicht, nochJoh<strong>an</strong>nes noch Markus noch Lukas. Dagegensetzt der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> allen seinen <strong>Briefe</strong>n seinenNamen vor<strong>an</strong>. Warum? Weil <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern<strong>an</strong> Anwesende schrieben; darum war es unnötig,sich selbst als <strong>an</strong>wesend erscheinen zulassen, <strong>Paulus</strong> aber schickte seine Schreiben


in <strong>die</strong> Ferne und in Briefform; darum war <strong>die</strong>Beisetzung seines Namens notwendig. Wenner <strong>die</strong>s nur im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hebräer nicht tat,so geschah es mit Vorbedacht. Er war nämlichden Juden verhaßt; damit sie nun nicht,wenn sie seinen Namen hörten, von vornehereinfür seine Rede unzugänglich wurden,verschwieg er ihnen denselben und verschafftesich so bei ihnen Gehör. Was <strong>die</strong>Propheten und Salomon betrifft, <strong>die</strong> ihreNamen beisetzten, so überlasse ich es euch,zu untersuchen, warum es <strong>die</strong> einen taten,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern nicht. Ihr müßt ja nicht alles vonmir erfahren, sondern sollt auch selbst eurenGeist <strong>an</strong>strengen, damit ihr nicht zu denkfaulwerdet.„<strong>Paulus</strong>, ein Diener Jesu Christi.“— Warum änderte wo<strong>hl</strong> Gott den Namen<strong>des</strong> Apostels und n<strong>an</strong>nte ihn, den Saulus,<strong>Paulus</strong>? — Damit er nicht <strong>des</strong>wegen als geringer<strong>an</strong>gesehen werde unter den Aposteln,sondern <strong>die</strong>selbe Auszeichnung besitze wiedas Haupt der Jünger und so ihrem Kreiseum so enger einverleibt werde. Christi „Diener“nennt er sich, und das nicht ohneGrund. Es gibt verschiedene Arten, (Gott gegenüber)Diener zu sein. Die eine schreibtsich von der Erschaffung her; in <strong>die</strong>sem Sinneheißt es: „Alles <strong>die</strong>net dir“ 23 , ebenso:„Mein Diener Nabuchodonosor“ 24 ; denndas Werk, das jem<strong>an</strong>d geschaffen hat, ist zuseinem Dienste da. Eine <strong>an</strong>dere Art, Dienerzu sein, kommt vom Glauben her; davonheißt es: „D<strong>an</strong>k sei aber Gott, daß ihr Knechteder Sünde gewesen, aber von Herzen gehorsamgeworden seid jenem Lehrinhalte, indem ihr unterwiesen wurdet“ 25 . Eine dritteArt gründet sich auf eine besondere Lebensführung.<strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne heißt es: „Moses,mein Diener, ist gestorben“ 26 . Wenn auch alleJuden Gottes Diener waren, so leuchtete dochMoses g<strong>an</strong>z besonders hervor durch seineLebensführung. Da nun <strong>Paulus</strong> nach allen23 Ps. 118, 91.24 Jer. 25, 9.25 Röm. 6. 17.26 Jos. 1, 2.10<strong>die</strong>sen Beziehungen ein Diener (Gottes) war,darum setzt er <strong>die</strong>sen Namen als seine höchsteWürde vor<strong>an</strong>, indem er spricht: „Ein DienerJesu Christi“. Diese zwei Namen reiht erso <strong>an</strong>ein<strong>an</strong>der, daß darin ein Aufsteigen vonunten nach oben liegt. Denn der Name Jesuskam durch einen Engel vom Himmel herab,als er aus der Jungfrau geboren ward; Christusaber heißt er von der Salbung, <strong>die</strong> ebenfallsseinen (<strong>an</strong>genommenen) Leib betrifft. —Mit was für Öl, fragt m<strong>an</strong>, ist er d<strong>an</strong>n gesalbtworden? — Nicht mit wirklichem Öl, sondernmit dem Geiste. Solche pflegt <strong>die</strong> Hl.Schrift „Gesalbte“ zu nennen. Das wichtigstebei der Salbung ist ja der Geist; das Öl gehörtdazu nur nebenbei. Und <strong>an</strong> welcher Stelleder Schrift werden solche, <strong>die</strong> nicht mit Ölgesalbt sind, doch „Gesalbte“ gen<strong>an</strong>nt? Da,wo es heißt: „Tastet nicht <strong>an</strong> meine Gesalbtenund tuet kein Leid meinen Propheten!“ 27 .Damals gab es gar nicht <strong>die</strong> Zeremonie derÖlsalbung.„Berufener Apostel.“— Ständig nennt sich <strong>Paulus</strong> „berufen“. Erbringt damit seine D<strong>an</strong>kbarkeit <strong>zum</strong> Ausdruck:er habe nicht das Heil gesucht und(durch eigenen Fleiß) gefunden, sondern ersei von Gott berufen worden und habe nur dem Ruf Folge geleistet. <strong>In</strong> demselbenSinne nennt er auch <strong>die</strong> Christen „berufeneHeilige“. Freilich waren <strong>die</strong>se nur <strong>zum</strong>Glauben berufen; ihm dagegen war noch etwasg<strong>an</strong>z <strong>an</strong>deres <strong>an</strong>vertraut worden, dasApostelamt nämlich, ein unschätzbar hohesGut, größer als alle Gn<strong>ad</strong>engaben und sie alleumfassend. Was braucht m<strong>an</strong> mehr davon zusagen, als daß es das Amt ist, welches Christusselbst auf Erden ausübte und das er beiseinem Scheiden ihnen übergab? Darum ruft<strong>Paulus</strong>, <strong>die</strong> Würde der Apostel preisend:„Wir sind also Ges<strong>an</strong>dte <strong>an</strong> Christi Statt, indemGott gleichsam durch uns ermahnt“ 28 ,— d, h. wir stehen <strong>an</strong> Christi Stelle.„Auserwä<strong>hl</strong>t für das Ev<strong>an</strong>gelium Gottes.“27 Ps. 104. 15.28 2 Kor. 5, 20.


— Wie in einem Haushalte für <strong>die</strong> verschiedenenVerrichtungen je eine Person bestimmtist, so sind auch in der Kirche <strong>die</strong> verschiedenenÄmter <strong>an</strong> einzelne Personen verteilt.Es scheint mir übrigens, daß der Apostelnicht bloß <strong>an</strong>deuten will, er sei wie durch dasLos berufen worden, sondern er sei von obendazu vorausbestimmt gewesen. So sagt auchJeremias, Gott habe zu ihm gesagt; „Eh’ duhervorgingest aus dem Mutterschoß, heiligteich dich und verordnete dich <strong>zum</strong> Prophetenfür <strong>die</strong> Völker“ 29 . Denn da er <strong>an</strong> eine stolze,prunkvolle St<strong>ad</strong>t schrieb, lag ihm dar<strong>an</strong>, nachjeder Richtung zu zeigen, daß seine BerufungGottes Werk sei; Gott habe ihn berufen, Gotthabe ihn auserwä<strong>hl</strong>t. Das tut er, um seinem<strong>Briefe</strong> Glaubwürdigkeit und gute Aufnahmezu sichern.„Für das Ev<strong>an</strong>gelium Gottes“Also nicht Matthäus allein ist ein Ev<strong>an</strong>gelistoder Markus, wie auch <strong>Paulus</strong> nicht alleinein Apostel ist, sondern auch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern; a-ber er heißt in besonderer Weise Apostel, wiejene „Ev<strong>an</strong>gelisten“. „Ev<strong>an</strong>gelium“ froheBotschaft — nennt er es, nicht bloß mit Rücksichtauf <strong>die</strong> bereits empf<strong>an</strong>genen Güter,sondern auch mit Rücksicht auf <strong>die</strong>, welchees für <strong>die</strong> Zukunft im Jenseits in Aussichtstellt. Wieso k<strong>an</strong>n er aber sagen, daßGott durch ihn verkündigt werde? „Auserwä<strong>hl</strong>tfür das Ev<strong>an</strong>gelium Gottes.“ — Nun,Gott, war ja auch vor dem Ev<strong>an</strong>gelium denMenschen bek<strong>an</strong>nt, aber eigentlich doch nurden Juden, und auch denen allen nicht so,wie es sein sollte. Sie k<strong>an</strong>nten ihn nämlichnicht in seiner Eigenschaft als Vater und fabeltenim Alten Bunde viel von ihm, was seinergar nicht würdig war. Darum sagteChristus: „Die wahren Anbeter werden erstkommen“, und: „Der Vater will solche haben,<strong>die</strong> ihn <strong>an</strong>beten“ 30 . Später dagegen offenbarteer sich mit dem Sohne der g<strong>an</strong>zenWelt. Das war es, was Christus vorausverkündete,wenn er sprach: „Damit sie Dich29 Jer. 1, 5.30 Joh. 4, 23.11erkennen, den einzig wahren Gott, und dendu ges<strong>an</strong>dt hast, Jesus Christus“ 31 . „Ev<strong>an</strong>gelium“— Frohbotschaft — Gottes nennt er es,um dem Hörer gleich von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> Mut <strong>zum</strong>achen. Er kam ja nicht mit einer traurigenKunde, wie <strong>die</strong> Propheten mit Vorwürfenund Anklagen und Mahnungen, sondern miteiner frohen Botschaft, und zwar einer frohenBotschaft Gottes, einer Botschaft von unermeßlichenSchätzen ewig dauernder, unveränderlicherGüter. — „Welches er zuvordurch seine Propheten in den heiligen Schriftenverheißen hatte.“ Es heißt ja: „Der Herrwird geben das Wort den Freudenbotschafternmit großer Kraft“ 32 . Und wiederum:„Wie schön sind <strong>die</strong> Füße derer, <strong>die</strong> Friedensbotschaftbringen“ 33 .2.Siehst du, wie Name und Art <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliumsbereits im Alten Testamente enthaltensind? Nicht bloß mit Worten, will der Apostel(mit Bezug auf <strong>die</strong> <strong>an</strong>geführten Stellen)sagen, verkünden wir das Ev<strong>an</strong>gelium, sondernauch durch Taten. Es ist ja auch nichtsMensc<strong>hl</strong>iches, sondern etwas Göttliches, Unsagbares,g<strong>an</strong>z und gar Übernatürliches. Weilm<strong>an</strong> ihm aber den Vorwurf machte, es seieine Neuerung, so zeigt der Apostel, daß esälter sei, als <strong>die</strong> Griechen uns in den Prophetenim voraus beschrieben. Wenn es nichtgleich von Anf<strong>an</strong>g zutage trat, so lages <strong>an</strong> denen, <strong>die</strong> es nicht zulassen wollten.„Abraham, euer Vater“, heißt es, „hat gefro<strong>hl</strong>ockt,daß er meinen Tag sehen werde; er sahihn und freute sich“ 34 . Wieso heißt es d<strong>an</strong>naber, daß „viele Propheten und Gerechte d<strong>an</strong>achverl<strong>an</strong>gten, zu sehen, was ihr sehet, undsahen es nicht“? 35 So, will das heißen, sahen31 Ebd. 17, 3.32 Ps. 67, 12 .33 Is. 02, 7.34 Joh. 8, 56.35 Matth. 13, 17.


12sie es nicht, wie ihr es sehet und höret, inkörperlicher Gestalt mitsamt den sichtbarenZeichen. — Beachte hier, wie l<strong>an</strong>ge vorheralles das vorausverkündigt war! Denn wennGott etwas Großes in Szene setzen will, so tuter es l<strong>an</strong>ge im voraus kund und ebnet ihm<strong>die</strong> Wege, daß es Gehör findet, wenn es geschieht.„<strong>In</strong> den heiligen Schriften.“— Die Propheten drückten nämlich das, wassie sagten, nicht bloß in Worten aus, sondernsie schrieben es auch nieder; ja, sie schriebenes nicht bloß nieder, sondern sie drückten esauch in figürlichen H<strong>an</strong>dlungen aus; so Abraham,als er Isaak zur Opferung führte, Moses,als er <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge erhöhte, als er seineHände ausstreckte gegen Amalek, als er dasOsterlamm opferte.V. 3: „Von seinem Sohne, der dem Fleische nachaus dem Gesc<strong>hl</strong>echte Davids geboren ward“Was soll das heißen, <strong>Paulus</strong>? Vorher hast duunsern Geist einen Höhenflug nehmen lassen,hast unsagbar Großes unserer Ph<strong>an</strong>tasievorgezaubert, hast uns vom Ev<strong>an</strong>gelium gesprochen,und zwar vom Ev<strong>an</strong>gelium Gottes,hast uns den Reigen der Propheten vorgeführtund uns gezeigt, wie sie alle vor vielenJahren Zukünftiges geweissagt haben; undnun führst du uns wieder zurück zu David?Von welchem Menschen, sag’ <strong>an</strong>, sprichst duda, dem du Jesses Sohn <strong>zum</strong> Vater gibst? Wiestimmt das zur Erhabenheit <strong>des</strong> vorher Gesagten?— Wo<strong>hl</strong> stimmt es dazu; denn nichtvon einem bloßen Menschen, will er sagen,ist <strong>die</strong> Rede; darum habe ich beigesetzt:„Dem Fleische nach“, um damit <strong>an</strong>zudeuten,daß er auch eine Abstammung dem Geistenach habe. Und warum ging er vonjener aus, nicht von <strong>die</strong>ser, der höheren? Weilauch Matthäus, Lukas und Markus von jenerausgingen. Denn wer <strong>zum</strong> Himmel emporführenwill, muß von unten nach oben führen.<strong>In</strong> derselben Ordnung ging es auch beider Heilstatsache zu. Zuvörderst sahen <strong>die</strong>Apostel den Erlöser als Menschen auf derErde, und von da aus lernten sie ihn erkennenals Gott. Denselben Lehrg<strong>an</strong>g hält auchsein Schüler ein. Er spricht zuerst von Abstammung<strong>des</strong> Erlösers dem Fleische nach,nicht als ob sie <strong>die</strong> erste wäre, sondern umden Zuhörer von <strong>die</strong>ser zu jener zu führen.V. 4: „Der bestimmt war <strong>zum</strong> Sohne Gottes inKraft und im Geiste der Heiligung durch <strong>die</strong> AuferstehungJesu Christi von den Toten“Aus der sonderbaren Wortfügung ist es unklar,was der Apostel sagen will; darum mußsie aufgelöst werden. Was will er sagen? Wirverkünden ihn als Sprößling aus dem Gesc<strong>hl</strong>echteDavids, sagt er; und das ist klar.Woher wissen wir aber, daß <strong>die</strong>ser, derMenschgewordene, Gottes Sohn ist? Zunächstvon den Propheten. Darum spricht er:„Was er zuvor durch seine Propheten in denheiligen Schriften versprochen hatte.“ Das istkeineswegs ein geringfügiger Beweisgrund.Zweitens von der Art seiner Abstammung,<strong>die</strong> er selbst <strong>an</strong>gibt, wenn er spricht: „Ausdem Gesc<strong>hl</strong>echte Davids dem Fleische nach.“Damit entsprach er dem Gesetze der Natur.Drittens von den Wundern, <strong>die</strong> er wirkte unddurch <strong>die</strong> er einen Beweis seiner großenKraft gab. Das will jenes „in Kraft“ sagen.Viertens von dem Geiste, den er denen gab,<strong>die</strong> <strong>an</strong> ihn glaubten und durch den er alleheilig machte; darum heißt es: „im Geiste derHeiligung“. Nur in Gottes Macht lag es, sogroße Geschenke zu geben. Fünftens von derAuferstehung <strong>des</strong> Herrn. Er war nämlich dererste und der einzige, der sich selbst erweckte.Auf <strong>die</strong>ses Zeichen wies er darum selbsthin als auf das geeignetste, <strong>die</strong> Unverschämtheitder Gegner <strong>zum</strong> Schweigen zubringen: „Löset, brechet <strong>die</strong>sen Tempel ab,und in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“36 , und: „Wenn ihr mich werdet erhöht haben von der Erde, d<strong>an</strong>n werdetihr erkennen, daß ich es bin“ 37 , und wiederum:„Dieses Gesc<strong>hl</strong>echt verl<strong>an</strong>gt ein Zeichen,und es wird ihm kein <strong>an</strong>deres Zeichen gege-36 Joh. 2, 1937 Joh. 8, 28.


en werden als das Zeichen <strong>des</strong> Jonas“ 38 .Was will jenes „bestimmt“ sagen? Offenkundiggemacht, kenntlich gemacht, von <strong>an</strong>dernunterschieden, von der allgemeinen Meinungund dem allgemeinen Urteil einerk<strong>an</strong>nt aufGrund der Propheten, der wunderbaren Geburtdem Fleische nach, der aus den Wunderzeichenhervorleuchtenden Kraft, derdurch den Geist verliehenen Heiligung, derAuferstehung endlich, durch <strong>die</strong> er <strong>die</strong> Gewaltherrschaft<strong>des</strong> To<strong>des</strong> brach.V. 5: „Durch den wir empf<strong>an</strong>gen haben Gn<strong>ad</strong>eund Apostelamt <strong>zum</strong> Gehorsam <strong>des</strong> Glaubens“Beachte den d<strong>an</strong>kbaren Sinn <strong>des</strong> Dieners!Nichts will er als sein, sondern alles als vomHerrn kommend betrachtet wissen. Auch derGeist ist sein Geschenk. Darum sprach er:„Ich habe euch noch vieles zu sägen, aber ihrkönnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jenerGeist der Wahrheit kommen wird, so wird ereuch in alle Wahrheit einführen“ 39 . Und wiederum:„Sondert mir ab den <strong>Paulus</strong> und Barnabas“40 . Und im Korintherbriefe heißt es:„dem einen wird durch den Geist verliehendas Wort der Weisheit, einem <strong>an</strong>dern dasWort der Wissenschaft“ 41 , und: „Er teilt allesaus, wie er will.“ <strong>In</strong> der Predigt <strong>an</strong> <strong>die</strong> Milesier:„<strong>In</strong> welcher euch der Hl. Geist gesetzthat zu Hirten und Bischöfen“ 42 . Siehst du,wie er das, was dem Hl. Geiste zukommt, alsSache <strong>des</strong> Sohnes bezeichnet, und was demSohne zukommt, als Sache <strong>des</strong> Hl. Geistes?„Gn<strong>ad</strong>e und Apostelamt“ . — Das heißt: nichtwir haben es bewirkt, daß wir Apostel gewordensind; denn nicht durch unsere Müheund Arbeit haben wir <strong>die</strong>se Würde erl<strong>an</strong>gt,sondern wir haben Gn<strong>ad</strong>e empf<strong>an</strong>gen, undvon oben ist uns als Geschenk <strong>die</strong>ses Amtübertragen worden. 3.38 Matth. 12, 39.39 Joh. 16, 12. 13.40 Apg. 13, 2.41 1 Kor. 12, 8. 11.42 Apg. 20, 2813„Zum Gehorsam <strong>des</strong> Glaubens“ — Also nicht<strong>die</strong> Apostel haben es erwirkt, sondern <strong>die</strong>ihnen zuvorkommende Gn<strong>ad</strong>e. Ihnen oblages, umherzuziehen und zu predigen; zu ü-berzeugen aber, das st<strong>an</strong>d bei Gott, der inihnen wirkte, wie Lukas sagt: „Er öffnete ihrHerz“ 43 , und wieder: „Denen gegeben ist, zuhören das Wort Gottes.“ „Zum Gehorsam.“Der Apostel sagt nicht: „Zur Forschung“,oder: „Zur Beweisführung“, sondern: „ZumGehorsam.“ Wir sind nämlich nicht ges<strong>an</strong>dt,will er sagen, Vernunftbeweise zu führen,sondern wiederzugeben, was wir empf<strong>an</strong>genhaben. Denn wenn der Herr etwas sagt, dürfen<strong>die</strong> Hörer <strong>an</strong> seinem Wort nicht <strong>die</strong> Silbenstechen und es viel hin- und herdrehen,sondern sie müssen es einfach <strong>an</strong>nehmen. Sowaren auch <strong>die</strong> Apostel nur dazu ges<strong>an</strong>dt, zusagen, was sie gehört hatten, nicht aber vonihrem Eigenen etwas hinzuzufügen; und unsbleibt nichts <strong>an</strong>deres übrig, als zu glauben. —An was zu glauben? „An seinen Namen.“Wir sollen nicht nach seinem Wesen forschen,sondern <strong>an</strong> seinen Namen glauben.Denn der war es, welcher auch Wunderwirkte. „Im Namen Jesu“, heißt es, „steh’ aufund w<strong>an</strong>dle“ 44 . Dazu gehört Glaube; durchVernünfteln läßt es sich nicht erfassen.V. 6: „Unter allen Völkern, unter welchen auchihr seid als Berufene Jesu Christi“Was heißt das? Hatte denn <strong>Paulus</strong> allen Völkerngepredigt? Daß er von Jerusalem nachIllyrien gereist und von da zurück bis <strong>an</strong> <strong>die</strong>Grenzen der Erde gel<strong>an</strong>gt ist, geht aus dem<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> hervor. Aber wenn erauch nicht zu allen gekommen ist, so ist das,was er sagt, doch nicht Lüge. Er spricht nämlichnicht von sich allein, sondern auch vonden zwölf Aposteln und allen, <strong>die</strong> mit ihnendas Wort verkündigten. Übrigens, wenn m<strong>an</strong><strong>die</strong>ses Wort auch nur auf <strong>Paulus</strong> allein beziehenwollte, so könnte m<strong>an</strong> ihm nicht widersprechen,wenn m<strong>an</strong> nämlich seinen Eifer43 Apg. 16, 14.44 Ebd. 3, 6.


etrachtet, und wie er bis zu seinem Todenicht aufhörte, überall zu predigen. Betrachte, wie er das ihm gemachte Geschenk(das Apostelamt) hochhält und wie eres als ein großes und viel erhabeneres als das<strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong> nachweist! Das alttestamentlichePredigtamt bezog sich nur auf einVolk; seines dagegen umfaßt L<strong>an</strong>d und Meer.— Betrachte auch dabei, wie <strong>Paulus</strong> jederSchmeichelei abhold ist! Er spricht zu den<strong>Römer</strong>n, <strong>die</strong> (damals) den Gipfelpunkt derg<strong>an</strong>zen Menschheit einnahmen; und dochgesteht er ihnen nicht mehr zu als den <strong>an</strong>dernVölkern. Mögen sie auch sonst den <strong>an</strong>dernüber sein und sie beherrschen, im Geistlichenhaben sie, meint er, keinen Vorzug;sondern wie wir allen Völkern predigen, willer sagen, so auch euch, und zä<strong>hl</strong>t sie so untereinem mit den Thrakern und Skythen auf.Hätte er nämlich nicht das ausdrücken wollen,so wäre es überflüssig gewesen zu sagen:„Unter welchen auch ihr seid“. Das tut er,um ihren Hochmut und ihre Einbildung zudämpfen. Er lehrt sie, daß sie den <strong>an</strong>derngleich seien; <strong>des</strong>wegen fügt er hinzu: „Unterwelchen auch ihr seid Berufene Jesu Christi“,d.h. zu denen auch ihr gehört. Er sagt nicht,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern gehören zu euch, sondern ihr gehörtzu den <strong>an</strong>dern. Denn wenn in JesusChristus nicht Sklave und nicht Freier ist, umso mehr nicht König und nicht Privatm<strong>an</strong>n;denn auch ihr seid berufen worden und nichtvon selbst gekommen.V. 7 „An alle Geliebte Gottes, <strong>die</strong> in Rom sind,berufene Heilige, Gn<strong>ad</strong>e euch und Friede vonGott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus.“Beachte, wie oft der Apostel das Wort „berufen“<strong>an</strong>wendet! „Berufener Apostel“,spricht er; „unter welchen auch ihr seid Berufene“;„<strong>an</strong> alle Berufenen, <strong>die</strong> in Rom sind.“Diese Wiederholung ist nicht umsonst: erwill damit auf <strong>die</strong> Wo<strong>hl</strong>tat der Berufungaufmerksam machen. Weil es wahrscheinlichwar, daß es unter den Gläubigen sowo<strong>hl</strong> solchein leitenden Stellungen und den besten14Klassen Angehörige wie auch Arme und Privatleutegab, sieht er von der Ungleichheitder Lebensstellungen ab und gibt allen nureinen einzigen Titel. Wenn nun in notwendigerenund geistlichen Dingen Sklaven undFreien alles gemeinsam ist, wie: <strong>die</strong> Liebe zu Gott, <strong>die</strong> Berufung <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>gelium,<strong>die</strong> Annahme <strong>an</strong> Kin<strong>des</strong>statt, Gn<strong>ad</strong>e, Friede,Heiligung und alles übrige, wie wäre es nichtäußerste Torheit, unter denen, <strong>die</strong> Gott verbundenund in größeren Dingen gleichwertiggemacht hat, einen Unterschied gelten zulassen auf Grund ihres irdischen Berufes?Darum treibt <strong>die</strong>ser heilige M<strong>an</strong>n gleich vonAnf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> <strong>die</strong>se gefährliche Kr<strong>an</strong>kheit ausund leitet hin zur Mutter alles Guten, zurDemut. D<strong>ad</strong>urch wurde den Sklaven ihreStellung erleichtert. Sie lernten nämlich einsehen,daß ihnen aus ihrem Sklavenst<strong>an</strong>dkein Sch<strong>ad</strong>en erwachse, da sie ja doch <strong>die</strong>wahre Freiheit genössen. Auch <strong>die</strong> Herrenerhielten eine gute Lehre, <strong>die</strong> nämlich, daßihnen <strong>die</strong> Freiheit nichts nütze sei, wenn sienicht in bezug auf den Glauben vor<strong>an</strong>gingen.Damit m<strong>an</strong> aber sehe, daß <strong>Paulus</strong> damit nichtVerwirrung <strong>an</strong>richten wolle, indem er etwaalles durchein<strong>an</strong>der mische, sondern daß erden wahrsten St<strong>an</strong><strong>des</strong>unterschied kenne,schrieb er nicht einfach: An alle, <strong>die</strong> zu Romsind, sondern mit der Unterscheidung: „denGeliebten Gottes“. Darin besteht der wahrsteSt<strong>an</strong><strong>des</strong>unterschied, und daraus wirdzugleich ersichtlich, woher <strong>die</strong> Heiligungkommt.4.Woher also kommt <strong>die</strong> Heiligung? Von derLiebe. Nachdem er gesagt hat: „<strong>an</strong> <strong>die</strong> Geliebten“,setzt er hinzu: „<strong>die</strong> berufenen Heiligen“,und deckt so auf, wo <strong>die</strong> Quelle allesGuten für uns liegt. „Heilige“ nennt er alleGläubigen, — „Gn<strong>ad</strong>e euch und Frieden“. Otausendfach segensvoller Gruß! Dieses Wort


hatte auch Christus <strong>die</strong> Apostel beim Betretender Häuser als erstes sprechen geheißen.Darum hebt auch <strong>Paulus</strong> überall damit <strong>an</strong>:„Gn<strong>ad</strong>e und Friede.“ Der Krieg, den Christusbis <strong>an</strong>s Ende geführt hat, war kein kleiner,sondern er war vielgestaltig, allseitig undl<strong>an</strong>gwierig; er wurde geführt nicht durchunsere Anstrengungen, sondern durch seineGn<strong>ad</strong>e. Da nun <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e ein Geschenk derLiebe, der Friede aber ein Geschenk derGn<strong>ad</strong>e ist, will der Apostel, indem er in seinerBegrüßung Gn<strong>ad</strong>e und Friede nebenein<strong>an</strong>derstellt, beide fest <strong>an</strong>ein<strong>an</strong>der gekettetwissen, so daß niemals wieder ein neuerKrieg ausbreche, und er bittet den Geber von beiden, daß er sie fest verbundenfortdauern lasse, indem er spricht: „Gn<strong>ad</strong>eeuch und Friede von Gott, unserm Vater unddem Herrn Jesus Christus.“ — Beachte, wiehier das „von“ dem Vater und Sohne gemeinschaftlichist, was das gleiche bedeutetwie „aus ihm“. Er sagt nicht: Gn<strong>ad</strong>e undFriede von Gott dem Vater durch unsernHerrn Jesus Christus, sondern: von Gott demVater und unserm Herrn Jesus Christus. O,was doch <strong>die</strong> Liebe Gottes vermag! AusFeinden und Verworfenen werden wir aufeinmal Heilige und Kinder. Wenn er dasWort „Vater“ ausspricht, deutet er damit dasBeziehungswort „Kinder“ <strong>an</strong>. Wenn er abervon Kindern spricht, deckt er einen Schatzvon Gütern auf.Laßt uns immerdar einen W<strong>an</strong>del führen,würdig solchen Geschenkes, indem wir denFrieden und <strong>die</strong> Heiligung bewahren! Die<strong>an</strong>dern Würden sind ja vergänglich und entschwindenmit dem gegenwärtigen Leben;auch sind sie käuflich um Geld. Der Sachenach sollte m<strong>an</strong> sie gar nicht Würden nennen,sondern sie sind es nur dem Namennach. Ihr Wesen besteht ja nur darin, daßm<strong>an</strong> aufgebauschte Gewänder trägt und voneinem Troß von Dienern umschmeicheltwird. Dagegen wird uns <strong>die</strong>ses von Gott verlieheneGeschenk der Heiligung und Kindschaftnicht einmal durch den Tod entrissen,15sondern es verklärt (unser Leben) hieniedenund geht mit uns hinüber ins künftige Leben.Wer nämlich <strong>die</strong> (Gottes-) Kindschaft bewahrtund über seine Heiligung sorgfältigwacht, der lebt um vieles verklärter und seligerals der, welcher eine Herrscherkroneträgt und in Purpur gekleidet ist. Er genießtin <strong>die</strong>sem gegenwärtigen Leben viel innerenFrieden und wird aufrecht gehalten durchfrohe Hoffnung, er ist nicht (inneren) Stürmenund Aufregungen ausgesetzt, sondernist allzeit in seinem <strong>In</strong>nern vergnügt. DennSeelenfrieden und Seelenfreude schafft wederein großes Reich noch viel Geld nochMachtdünkel noch Körperkraft noch Tafelfreudennoch Kleiderpracht noch irgend etwasIrdisches, sondern einzig und allein innereRechtschaffenheit und ein gutes Gewissen.Wer sich das rein erhält, der mag inLumpen gekleidet sein und mit dem Hunger kämpfen, er ist doch wo<strong>hl</strong>gemuterals <strong>die</strong>, welche im Lebensgenüsse schwelgen,wie <strong>an</strong>dererseits jem<strong>an</strong>d mit einem bösenGewissen, mag er umgeben sein mit allemmöglichen Reichtum, doch der unglücklichstevon allen ist. So war auch <strong>Paulus</strong>, obzwarer Hunger und Blöße litt und täglich Geißelstreichenausgesetzt war, doch frö<strong>hl</strong>ichenSinnes und genoß mehr Lebensfreude als <strong>die</strong>Könige seiner Zeit. Achab dagegen, obzwarer König war und in allerlei Genüssenschwelgte, stöhnte voll Angst, nachdem erjene Sünde beg<strong>an</strong>gen hatte, und sein Gesichtwar eingefallen vor der Sünde wie nach derselben.— Wollen wir also Freude genießen,so laßt uns vor allem <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>echtigkeit fliehenund der Tugend nachstreben! Andersläßt sich <strong>die</strong>s nicht erreichen, auch wenn wirden Königsthron bestiegen. Darum spricht<strong>Paulus</strong>: „Die Frucht <strong>des</strong> Geistes ist Liebe,Freude, Frieden“ 45 . Diese Frucht also laßt unspflegen, damit wir hier wahre Lebensfreudegenießen und das zukünftige Reich erwerbendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres Herrn45 Gal. 5, 22.


Jesus Christus, mit welchem Ehre sei demVater zugleich mit dem Hl. Geiste nun undallezeit bis in alle Ewigkeit. Amen.DRITTE HOMILIE. Kap. I, V. 8—17.1.Kap. I, V. 8—17.V.8: „Vor allem d<strong>an</strong>ke ich meinem Gott durchJesus Christus für euch alle, daß euer Glaube inder g<strong>an</strong>zen Welt verkündet wird.“Diese Einleitung entspricht der heiligen Seeleund ist darnach <strong>an</strong>get<strong>an</strong>, alle zu lehren, zuBeginn guter Worte und Taten Gott zu huldigenund ihm nicht bloß für <strong>die</strong> eigenen gutenWerke zu d<strong>an</strong>ken, sondern auch für <strong>die</strong><strong>an</strong>derer. Das macht <strong>die</strong> Seele rein von Neidund Mißgunst und macht Gott den D<strong>an</strong>kbarennoch ge- neigter. Darum sagt derApostel <strong>an</strong>derswo: „Gelobt sei Gott und derVater unseres Herrn Jesus Christus, der unsgesegnet hat mit allem geistlichen Segen“ 46 .D<strong>an</strong>k sagen sollen nicht bloß <strong>die</strong> Reichen,sondern auch <strong>die</strong> Armen; nicht bloß <strong>die</strong> Gesunden,sondern auch <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>ken; nichtbloß <strong>die</strong> vom Glück Begünstigten, sondernauch <strong>die</strong> von Unglück Heimgesuchten. DennGott zu d<strong>an</strong>ken, wenn alles gut geht, istnichts Besonderes; wenn aber ein widrigerWind weht, wenn der Nachen schw<strong>an</strong>kt undumkippen will — d<strong>an</strong>n noch d<strong>an</strong>ksagen, dasist ein vollgiltiges Zeugnis von Ausdauerund D<strong>an</strong>kbarkeit. Darum ist auch Job gekröntworden; er hat dem Teufel das unverschämteMaul gestopft und klar erwiesen,daß er, als es ihm wo<strong>hl</strong> erging, nicht <strong>des</strong> irdischenBesitzes wegen d<strong>an</strong>kbar war, sondernaus reiner Liebe zu Gott. — Beachte weiter,wofür <strong>Paulus</strong> d<strong>an</strong>ksagt: Nicht für irdischeund vergängliche Dinge, wie für Herrschaft,46 Eph. 1, 2.16Macht und Ruhm — denn <strong>die</strong> sind nicht derRede wert —, sondern für wirkliche Güter,den Glauben und das Freisein von Menschenfurcht.Und mit welch tiefem Empfindend<strong>an</strong>kt er! Er spricht nicht einfach: „Gott“,sondern: „meinem Gott“. Auch <strong>die</strong> Prophetentun das; sie beziehen das allen Gemeinsameauf sich allein. Kein Wunder, daß sie estun. Geht ihnen ja Gott selbst mit seinem Beispielevor<strong>an</strong>, wenn er von sich seinen Dienerngegenüber spricht. So nennt er sich immerGott Abrahams, Isaaks und Jakobs. „Daßeuer Glaube in der g<strong>an</strong>zen Welt verkündetwird.“ — Was? Die g<strong>an</strong>ze Welt hat vernommenvom Glauben der <strong>Römer</strong>? Jawo<strong>hl</strong>, unddas ist nichts Unwahrscheinliches. Die St<strong>ad</strong>twar ja nicht verborgen, sondern wie auf einemBerggipfel gelegen und allseits sichtbar.Du aber beachte einmal <strong>die</strong> Kraft der Missionspredigt,wie sie in kurzer Zeit durch Zöllnerund Fischer bis selbst in <strong>die</strong> Hauptst<strong>ad</strong>tgedrungen ist, und wie Syrer <strong>die</strong> Lehrer undFührer von <strong>Römer</strong>n geworden sind! ZweiDinge bezeugt der Apostel von seinen Zuhörernals recht get<strong>an</strong>: daß sie geglaubt habenund daß sie frei waren von Menschenfurcht,und zwar so frei, daß der Ruf davonin <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt gedrungen ist. Denn euerGlaube, spricht er, wird in der g<strong>an</strong>zen Weltverkündet. „Der Glaube“, nicht Wortgezänke,nicht Silbenstechereien, nicht Vernünfteln.Und doch gab es dort viele Hindernissefür <strong>die</strong> Lehre. Die <strong>Römer</strong>, eben erst Herren<strong>des</strong> Erdkreises geworden, bildeten sich vielein und lebten in Reichtum und Genuß dahin.Da brachten Fischer <strong>die</strong> Botschaft vomEv<strong>an</strong>gelium, Juden, Stämmlinge von Juden,einem verhaßten und von allen verabscheutenVolke. Dazu geboten sie <strong>die</strong> Anbetung<strong>des</strong> Gekreuzigten, der im Judenl<strong>an</strong>de erzogenwar. Und mit <strong>die</strong>ser Glaubenslehre verkündetenihre Lehrer ein strenges Leben unddas Leuten, <strong>die</strong> nur nach Genuß lechzten undnur das Gegenwärtige schätzten. Und <strong>die</strong>,welche es verkündeten, waren arme Leuteohne Bildung und ohne Geburts<strong>ad</strong>el. Aber


nichts von dem hielt das Wort in seinem Laufeauf. So groß war <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong> Gekreuzigten,daß er überall das Wort verbreitete.„Er wird verkündet“, sagt er, „in der g<strong>an</strong>zenWelt.“ Er sagt nicht: „Er wird offenbart“,sondern: „Er wird verkündet“, gleichsam alsob ihn alle im Munde trügen. Wo er dasselbeden Thessalonichern bezeugt, fügt er nochetwas <strong>an</strong>deres bei. Nachdem er nämlich gesagthat: „Von euch aus erscholl das WortGottes“, fügt er hinzu: „so daß wir nicht nötighaben, etwas davon zu sagen“ 47 . DieSchüler nämlich waren in den R<strong>an</strong>g der Lehrergetreten, indem sie durch ihr freimütigesBekenntnis alle im Glauben unterwiesen undsie <strong>an</strong> sich zogen. Nirgends machte <strong>die</strong> Missionspredigthalt, sondern verbreitete sichrascher als Feuer über den Erdkreis. An <strong>die</strong>serStelle aber heißt es bloß, daß der Glaubeverkündigt wird. G<strong>an</strong>z gut sagt er, daß erverkündigt wird; er deutet damit nämlich <strong>an</strong>,daß den Worten nichts hinzugefügt undnichts weggenommen werden darf. Aufgabe<strong>des</strong> Überbringers einer Kunde ist es ja, daß erdas meldet, was ihm gesagt worden ist. Darumwird auch der Priester „Engel“, das istÜberbringer einer Kunde, oder „Bote“ gen<strong>an</strong>nt,weil er nicht sein eigenes verkündet,sondern das, was er von dem hat,der ihn schickt. Dort (in Rom) hatte ja auchPetrus gepredigt; aber das Werk <strong>die</strong>ses giltdem <strong>Paulus</strong> wie sein eigenes, so frei ist er,wie ich oben sagte, von aller Mißgunst.V. 9: „Denn mein Zeuge ist Gott dem ich <strong>die</strong>nein meinem Geiste im Ev<strong>an</strong>gelium seines Sohnes.“2.Aus einem apostolischen Herzen kommen<strong>die</strong>se Worte, sie bekunden väterliche Fürsorge.Was will der Apostel damit sagen, undweswegen ruft er Gott <strong>zum</strong> Zeugen <strong>an</strong>? Von47 1 Thess. 1, 8.17seiner Zuneigung (zu den <strong>Römer</strong>n) war soeben<strong>die</strong> Rede. Da er sie aber noch niemalsgesehen hatte, darum ruft er keinen Menschen<strong>zum</strong> Zeugen <strong>an</strong>, sondern den, der indas <strong>In</strong>nerste <strong>des</strong> Herzens schaut. Er hattegesagt, daß er sie liebe, und als Zeichen davon<strong>an</strong>geführt, daß er beständig für sie betenund daß er zu ihnen kommen wolle; da aberdas nicht äußerlich sichtbar war, so nimmt erseine Zuflucht zu einer g<strong>an</strong>z glaubwürdigenZeugenschaft. K<strong>an</strong>n sich wo<strong>hl</strong> einer von unsrühmen, daß er bei seinen Gebeten daheimder vielen gedenke, welche <strong>die</strong> Kirche bilden.Ich glaube nicht. Aber <strong>Paulus</strong> betete zu Gottnicht für eine einzige St<strong>ad</strong>t, sondern für dengesamten Erdkreis, und das nicht einmal o-der zweimal oder dreimal, sondern beständig.Jem<strong>an</strong>den nur beständig im Gedächtnissehaben, k<strong>an</strong>n nicht geschehen ohne großeLiebe zu ihm; seiner aber noch im Gebeteeingedenk sein und beständig eingedenksein, bedenke, eine wie große Zuneigungund Liebe <strong>die</strong>s verrät! Wenn er aber sagt:„Dem ich <strong>die</strong>ne in meinem Geiste, in demEv<strong>an</strong>gelium seines Sohnes“, so offenbart eruns damit Gottes Gn<strong>ad</strong>e und zugleich seineeigene Demut: Gottes Gn<strong>ad</strong>e, daß er ihn miteinem so großen Werke betraut hat; seineeigene Demut, weil er nicht seinem Eifer,sondern dem Beist<strong>an</strong>d <strong>des</strong> Geistes alles zuschreibt.Der Zusatz „in dem Ev<strong>an</strong>gelium“bezeichnet <strong>die</strong> Art <strong>des</strong> Dienstes. Es gibt nämlichviele und verschiedene Arten <strong>des</strong> Dienstesim allgemeinen und <strong>des</strong> Gottes<strong>die</strong>nstesim besonderen. Wie bei den Königen zwaralle dem einen Herrscher unterstehen, abernicht alle denselben Dienst leisten — der eine<strong>die</strong>nt als Heer- führer, der <strong>an</strong>dere alsStädteverwalter, wieder ein <strong>an</strong>derer alsSchatzmeister —, so ist es auch in geistlichenDingen: der eine verehrt Gott und <strong>die</strong>nt ihmdamit, daß er glaubt und sein Leben gut einrichtet,der <strong>an</strong>dere damit, daß er Fremdegastfreundlich aufnimmt, ein dritter damit,daß er der Armenpflege obliegt. So war esauch bei den Aposteln selbst: Steph<strong>an</strong>us und


<strong>die</strong> mit ihm waren, <strong>die</strong>nten Gott durch Witwenfürsorge,ein <strong>an</strong>derer durch Wortverkündigung.Zu <strong>die</strong>sen gehörte <strong>Paulus</strong>, derGott durch <strong>die</strong> Missionspredigt verehrte. Baswar seine Art <strong>des</strong> Dienstes, dazu war er bestellt.Darum ruft er nicht allein Gott <strong>zum</strong>Zeugen <strong>an</strong>, sondern er sagt auch, daß er vonihm mit einem Amte betraut worden sei.Darin liegt ein Hinweis, daß er, durch sogroßes Vertrauen ausgezeichnet, doch nichtden <strong>zum</strong> Zeugen von Lügen <strong>an</strong>rufen werde,der ihn mit dem Amte betraut hat. D<strong>an</strong>ebenwill er auch <strong>an</strong>zeigen, daß <strong>die</strong> Liebe undSorge für sie seine Pflicht sei. Damit sie nichtsagen können: Wer und woher bist du, daßdu sagst, du hättest für eine so große Kaiserst<strong>ad</strong>tSorge zu tragen? weist er darauf hin,daß <strong>die</strong>se Sorge für ihn Pflicht sei, da ihm<strong>die</strong>se Art <strong>des</strong> Dienstes, das Ev<strong>an</strong>gelium zupredigen, aufgetragen sei. Wer einen solchenBeruf hat, der hat <strong>die</strong> Pflicht, derer zu gedenken,<strong>die</strong> sein Wort einmal <strong>an</strong>nehmen sollen.Auch deutet er noch etwas <strong>an</strong>deres <strong>an</strong>mit den Worten: „in meinem Geiste“; daßnämlich <strong>die</strong>se Religion viel erhabener sei als<strong>die</strong> hellenische und <strong>die</strong> jüdische. Die hellenischeist falsch und sinnlich; <strong>die</strong> jüdische istzwar wahr, aber auch sinnlich; <strong>die</strong> Religionder Kirche aber steht im Gegensatz zur hellenischenund auf einer viel höheren Stufe als<strong>die</strong> jüdische. Denn nicht durch Schafe undKälber und Opferrauch und Opferduft geschiehtunsere Gottesverehrung, sonderndurch <strong>die</strong> Seele, <strong>die</strong> ein Geist ist. Das wollteauch Christus ausdrücken, wenn er sprach:„Gott ist ein Geist, und <strong>die</strong> ihn <strong>an</strong>beten, müssenihn im Geiste und in der Wahrheit <strong>an</strong>beten“48 .„<strong>In</strong> dem Ev<strong>an</strong>gelium seines Sohnes.“ Obenhat er gesagt, das Ev<strong>an</strong>gelium sei das <strong>des</strong>Vaters, hier nennt er es das <strong>des</strong> Sohnes;so nennt er es ohne Unterschied bald <strong>des</strong>Vaters, bald <strong>des</strong> Sohnes. Er k<strong>an</strong>nte ja jenesheilige Wort, daß das, was <strong>des</strong> Vaters ist,auch dem Sohne gehört, und das, was <strong>des</strong>Sohnes ist, auch dem Vater gehört: „Alles“,heißt es, „was mein ist, ist dein, und was deinist, ist mein“ 49 .„Daß ich ohne Unterlaß eurer gedenke inmeinen Gebeten.“ — Das ist echte Liebe. Einessagt er scheinbar, und vier Dinge legt erhinein: daß er ihrer gedenkt, daß er ihrer ohneUnterlaß gedenkt, daß er ihrer im Gebetegedenkt, und daß es sich dabei um wichtigeDinge h<strong>an</strong>delt.V. 10: „Und ich bitte, daß ich doch einmal soglücklich sein möge mit Gottes Willen, zueuch zu kommen; denn ich sehne mich, euchzu sehen.“Siehst du, wie sehr er wünscht, sie zu sehen,und sie doch nicht gegen das Wo<strong>hl</strong>gefallenGottes sehen will, sondern wie seine Sehnsuchtmit Gottesfurcht verbunden ist? Erliebt sie und fü<strong>hl</strong>t sich zu ihnen hingetrieben;und doch, so sehr er sie liebt, will er sie nichtsehen gegen das Wo<strong>hl</strong>gefallen Gottes. Das istechte Liebe, nicht wie wir lieben, <strong>die</strong> wir aufbeiden Seiten <strong>die</strong> Schr<strong>an</strong>ken der Liebe zuüberschreiten pflegen. Denn entweder liebenwir niem<strong>an</strong>den, oder wenn wir etwa jem<strong>an</strong>denlieben, so lieben wir dem Wo<strong>hl</strong>gefallenGottes zuwider und h<strong>an</strong>deln so in beidenFällen gegen das göttliche Gesetz. Wenn esmißlich ist, das zu sagen, so ist es noch mißlicher,daß es geschieht.3.Und wie lieben wir d<strong>an</strong>n dem Wo<strong>hl</strong>gefallenGottes zuwider? fragt m<strong>an</strong>. — Wenn wirChristus, wie er Hunger leidet, nicht beachten,dagegen übersehen, Kindern, Freundenund Verw<strong>an</strong>dten mehr als nötig verabreichen.Brauche ich mehr davon zu sagen?Wenn jeder sein Gewissen erforscht, wird erauf vielerlei derartige H<strong>an</strong>dlungen stoßen.48 Joh. 4, 24.1849 Joh. 17, 10.


Aber jener heilige M<strong>an</strong>n war nicht so; erverst<strong>an</strong>d es sowo<strong>hl</strong> zu lieben, als auch zulieben, wie es recht ist und wie es sich ziemt;er übertraf alle im Lieben und überschrittdoch nicht <strong>die</strong> Grenzen der Liebe.Sieh, wie bei<strong>des</strong> überschwenglich in ihmglüht, Furcht Gottes und Sehnsucht nach den<strong>Römer</strong>n. Sein beständiges Beten, mit dem ernicht aussetzte, auch wenn er nicht erhörtwurde, war ein Beweis seiner heißen Liebe;sein Bleiben trotz all seiner Liebe, gehorsamdem Winke Gottes, ein Beweis seiner überausgroßen Frömmigkeit. Ein <strong>an</strong>dermal, als erdreimal den Herrn um etwas gebeten und esnicht nur nicht empf<strong>an</strong>gen hatte, sondernsogar das Gegenteil, sagte er doch großenD<strong>an</strong>k dafür, daß er nicht war erhört worden.So war sein Auge in allen Dingen auf Gottgerichtet. Hier jedoch empfing er zwar, abernicht w<strong>an</strong>n er es haben wollte, sondern später,und er murrte nicht darob. Das sage ich,damit wir nicht mißmutig werden, wenn wirgar nicht Erhörung finden oder erst später.Sind wir ja doch nicht besser als <strong>Paulus</strong>, derfür bei<strong>des</strong> D<strong>an</strong>k sagt, und das mit Fug undRecht. Nachdem er sich nämlich einmal deralles leitenden H<strong>an</strong>d übergeben und sich ihrerFügung unterworfen hatte, wie der Tondem Töpfer, folgte er Gottes Führung, wohinimmer es gehen mochte. Er hat gesagt, daß ersich sehne, <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> zu sehen, und sprichtnun auch den Grund seines Verl<strong>an</strong>gens aus.Welcher ist <strong>die</strong>s?V. 11: „Damit ich euch etwas geistige Gabemitteile zu eurer Stärkung.“Nicht ohne Zweck, wie heutzutage vieleunnötige und zwecklose Reisen machen,wollte er reisen, sondern notwendiger undsehr dringlicher Dinge halber. G<strong>an</strong>z ausdrücklichwill er aber das nicht sagen, sondernnur <strong>an</strong>deutungsweise. Er sagt nämlichnicht: Damit ich euch lehre, damit ich euchunterweise, damit ich das noch Fe<strong>hl</strong>endevervollständige, sondern: „Damit ich euchetwas mitteile.“ Er will damit <strong>an</strong>deuten, daßer ihnen nicht sein Eigenes geben, sondern19das mitteilen werde, was er empf<strong>an</strong>gen habe.Und hier wä<strong>hl</strong>t er noch einen einschränkendenAusdruck, indem er spricht: „etwas“.Etwas Weniges, heißt das, und nach dem geringenMaß meiner Kraft. Und wasist denn <strong>die</strong>ses Wenige, das du nun mitteilenwillst? Das ist, spricht er, „zu eurer Stärkung“.Also auch das ist Gn<strong>ad</strong>e, nicht zu w<strong>an</strong>ken,sondern festzustehen. Wenn du jedoch von„Gn<strong>ad</strong>e“ hörst, so meine nicht, daß damit derLohn der freien Willensentsc<strong>hl</strong>ießung aufgegebenwerde. Denn den Ausdruck „Gn<strong>ad</strong>e“gebraucht <strong>Paulus</strong> nicht, um <strong>die</strong> Tat der freienWillensentsc<strong>hl</strong>ießung zu mißachten, sondernum dem Stolz auf <strong>die</strong> eigene Tat einen Riegelvorzuschieben. Werde darum auch nichtkleinmütig, wenn <strong>Paulus</strong> sie eine Gn<strong>ad</strong>engabenennt. Denn aus übergroßer D<strong>an</strong>kbarkeitpflegt er auch <strong>die</strong> guten Werke „Gn<strong>ad</strong>engaben“zu nennen, weil uns dazu denn dochauch ein gut Teil Anregung von obenkommt. Durch <strong>die</strong> Worte: „zu eurer Stärkung“deutet er versteckt <strong>an</strong>, daß sie einerstarken Zurechtrichtung bedürfen. Was ernämlich sagen will, ist das: Seit l<strong>an</strong>ger Zeitschon hatte ich das Verl<strong>an</strong>gen und denWunsch, euch zu sehen aus keinem <strong>an</strong>derenGrunde, als um euch fest zu machen, zu stärkenund in der Furcht Gottes zu kräftigen,damit ihr nicht immerfort hin und herschw<strong>an</strong>ket. Aber so sagte er es nicht; denn erhätte sie damit zu hart <strong>an</strong>gefaßt. Er gibt esihnen darum durch eine <strong>an</strong>dere gelindereWendung zu verstehen; indem er nämlichsagt: „zu eurer Stärkung“ deutet er daraufhin. Weil aber auch das noch schwer erträglichwar, mildert er es durch einen Zusatz.Damit sie nämlich nicht sagen könnten: Was?schw<strong>an</strong>ken wir denn, lassen wir uns dennhin und her treiben und bedürfen wir denndeines Zuspruches, um fest zu stehen?nimmt er einen solchen Einw<strong>an</strong>d vorweg,indem er sagt:V. 12: „Das ist, um in eurer Mitte uns mitsammenzu ermuntern durch unsern wech-


selseitigen Glauben, den euren und den meinen.“Wie wenn er sagen wollte: Argwöhnt nicht,als sagte ich das, um gegen euch eine Anklagezu erheben. Nicht so war jenes Wort gemeint;sondern was wollte ich sagen? Ihrhabt viele Dr<strong>an</strong>gsale auszustehen gehabt voneuren Verfolgern; es verl<strong>an</strong>gte mich darum,euch zu sehen, um euch zu trösten,vielmehr nicht bloß um euch zu trösten, sondernum auch selbst Trost zu schöpfen.4.Sieh da <strong>die</strong> Weisheit <strong>des</strong> Lehrers! Er sagt: Zueurer Stärkung; er weiß, daß <strong>die</strong>ses Wort vonden Schülern hart und lästig empfundenwird und sagt: „um euch zu ermuntern“.Aber auch das klingt noch etwas hart, wennauch nicht so hart wie das frühere. Er sc<strong>hl</strong>eiftdarum nochmals <strong>die</strong> Härte davon ab undmildert den Ausdruck nach jeder Richtung,um ihn <strong>an</strong>nehmbar zu machen. Er sagt nichteinfach: „zu ermuntern“, sondern: „uns zusammenzu ermuntern“; aber auch damitbegnügt er sich noch nicht, sondern er machtnoch einen <strong>an</strong>dern mildernden Zusatz, indemer sagt: „durch unsern wechselseitigenGlauben, den euren und den meinen“. O,welche Demut! Er tut so, als ob er selbst ihrerbedürfe und nicht nur sie seiner; er erhebt<strong>die</strong> Schüler in den R<strong>an</strong>g von Lehrern undbe<strong>an</strong>sprucht für sich gar keinen Vorr<strong>an</strong>g,sondern stellt sich auf den St<strong>an</strong>dpunkt völligerGleichheit. Der Gewinn liegt auf beidenSeiten, sagt er; ich bedarf der Ermunterungdurch euch und ihr durch mich. Und wie sollsie uns werden? „Durch unsern wechselseitigenGlauben, den euren und den meinen.“ Esist wie mit dem Feuer: Wenn jem<strong>an</strong>d vieleLampen zusammen <strong>an</strong>zündet, bringt er einestarke Beleuchtung hervor; so geht es gewöhnlichauch bei den Gläubigen. Wenn wirjeder für sich und vonein<strong>an</strong>der getrennt sind,20so sind wir etwas kleinmütig; wenn wir unsaber mit Gleichgesinnten vereint sehen, soschöpfen wir daraus große Ermunterung, Dudarfst nämlich nicht <strong>die</strong> jetzige Zeit <strong>zum</strong>Vergleich her<strong>an</strong>ziehen, wo mit Gottes Gn<strong>ad</strong>ein St<strong>ad</strong>t und L<strong>an</strong>d, ja selbst in der Einöde,sich za<strong>hl</strong>reiche Gemeinden von Gläubigenfinden, und wo der Unglaube selten gewordenist, sondern du mußt <strong>an</strong> <strong>die</strong> damaligeZeit denken, wo es ein Glück war, wenn einLehrer seine Schüler zu sehen bekam oderwenn Brüder aus der einen St<strong>ad</strong>t solche auseiner <strong>an</strong>dern zu sich kommen sahen. Um a-ber das Gesagte deutlicher zu machen, wollenwir uns eines Beispiels be<strong>die</strong>nen: Wennes einmal geschehen sollte, was Gott ver- hüte, daß wir in das L<strong>an</strong>d der Perseroder der Skythen oder <strong>an</strong>derer Barbaren abgeführtwürden und in den dortigen Städtenzu zweit oder dritt zerstreut lebten, und wirwürden auf einmal jem<strong>an</strong>den von hier kommensehen, stelle dir vor, was das für uns fürein Trost wäre! Seht ist nicht, wie Eingekerkertevor Freude aufspringen wenn sie einenihrer Bek<strong>an</strong>nten sehen? Wundere dich nicht,wenn ich jene Zeiten mit Kriegsgef<strong>an</strong>genschaftund Kerkerhaft vergleiche. Denn nochviel schwereres Ungemach erlitten jene: Zerstreutund verb<strong>an</strong>nt, in Hungersnot undKrieg, in täglicher To<strong>des</strong>furcht, nicht sichervor ihren eigenen Freunden, Hausgenossenund Verw<strong>an</strong>dten, lebten sie auf der g<strong>an</strong>zenErde wie in einem fremden L<strong>an</strong>de und hattenes viel sc<strong>hl</strong>echter als <strong>die</strong>, welche in derFremde leben müssen. Darum sagt der Apostel:„Zu eurer Stärkung und um uns mitsammenzu ermuntern durch unsern wechselseitigenGlauben.“ Das sagte er, nicht alsob er ihre Hilfe nötig hätte; das sei ferne!Denn wie sollte <strong>die</strong>se Säule der Kirche, stärkerals Eisen und Stein, <strong>die</strong>ser geistige Diam<strong>an</strong>t,der für unzä<strong>hl</strong>ige Städte ausreichte,Hilfe nötig haben? Nein, sondern nur, damitsein Wort nicht lästig empfunden werde undseine Zurechtweisung nicht zu scharf ausfalle,sagte er, daß er ihrer Ermunterung bedür-


fe. Wenn übrigens jem<strong>an</strong>d <strong>die</strong> Stelle so erklärenwollte, daß <strong>Paulus</strong> den Trost und <strong>die</strong>Freude über das Wachstum <strong>des</strong> Glaubensmeine, so dürfte <strong>die</strong>se Deutung auch nichtunrichtig sein. Wenn du nun, hätten sie sagenkönnen, das Verl<strong>an</strong>gen, den Wunsch und<strong>die</strong> Absicht hast, Ermunterung zu empf<strong>an</strong>genund Ermunterung zu spenden, was hältdich d<strong>an</strong>n ab, zu kommen? Um <strong>die</strong>sem Einwurfzu begegnen, fährt er fort:V. 13: „Ich will aber nicht, daß euch unbek<strong>an</strong>ntbleibe, meine Brüder, daß ich mir oft vorgenommenhabe, zu euch zu kommen, bis jetzt jedochward ich verhindert.“Sieh da, ein hohes Maß von Knechtsgehorsamund einen Beweis großer D<strong>an</strong>kbarkeit!Daß er verhindert wurde, sagt er; warum,sagt er aber nicht. Er untersucht nicht dasGebot <strong>des</strong> Herrn, sondern folgt ihm nur, obgleiches nahe lag, sich Ged<strong>an</strong>ken darüber <strong>zum</strong>achen, warum wo<strong>hl</strong> Gott einer soglänzenden und großen St<strong>ad</strong>t, auf welche derg<strong>an</strong>ze Erdkreis seine Blicke richtete, so l<strong>an</strong>geden Genuß vorenthielt, einen so großen Lehrerzu hören. Denn wer es über <strong>die</strong> Hauptst<strong>ad</strong>tgewinnt, dem fallen <strong>die</strong> unter ihr stehendenStädte leicht zu; wer dagegen <strong>an</strong> derResidenzst<strong>ad</strong>t vorbeigeht und sich auf <strong>die</strong>untergeordneten Städte wirft, der läßt <strong>die</strong>Hauptsache außer acht. Aber <strong>Paulus</strong> zerbrichtsich darüber nicht den Kopf, sondernunterwirft sich dem Ratsc<strong>hl</strong>üsse der Vorsehung.Er bekundet d<strong>ad</strong>urch seine eigene seelischeZucht und lehrt uns alle, niemals vonGott Rechenschaft zu fordern über das, wasgeschieht, wenn auch seine Fügungen vielenunbegreiflich vorkommen. Sache <strong>des</strong> Herrnallein ist es, <strong>an</strong>zubefe<strong>hl</strong>en, Sache der Knechte,zu gehorchen. Darum sagt er zwar, daß erfolgt, nicht aber, warum. Auch ich weiß esnicht, will er sagen. Frag’ mich darum nichtnach dem Willen und der Absicht Gottes.Spricht ja auch nicht das Werk <strong>zum</strong> Meister:„Warum hast du mich so gemacht?“ 50 Wa-50 Röm, 9, 20.21rum, sage mir, willst du das ergründen?Weißt du nicht, daß er Sorge trägt um alles,daß er weise ist, daß er nicht grundlos h<strong>an</strong>deltund blindlings? Daß er dich mehr liebtals deine Eltern, daß er <strong>an</strong> Fürsorglichkeiteinen Vater übertrifft und <strong>an</strong> Zärtlichkeit eineMutter? Frage also nicht mehr, dringenicht weiter ein; laß dir das <strong>zum</strong> Trost genügen;auch <strong>die</strong> Sache der <strong>Römer</strong> war damalsweise geführt. Ist dir das Wie unbek<strong>an</strong>nt, solaß dich das nicht verdrießen. Das ist ja demGlauben eigen, das Wie nicht zu kennen unddoch das Daß der Vorsehung gelten zu lassen.5.<strong>Paulus</strong> hat also richtig erreicht, was ihm amHerzen lag. Und das war? Zu beweisen, daßer nicht aus Mißachtung gegen <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>nicht zu ihnen gekommen war, sondern daßer trotz seines heftigen Verl<strong>an</strong>gens darnachdar<strong>an</strong> gehindert war. Nachdem er sich vondem Vorwurf der Trägheit rein gewaschenund sie überzeugt hat, daß sein Verl<strong>an</strong>gen,sie zu sehen, nicht geringer war als das ihrige,führt er ihnen wieder einen <strong>an</strong>dern Beweis seiner Liebe <strong>an</strong>. Wennauch gehindert, sagt er, st<strong>an</strong>d ich doch nichtdavon ab, den Versuch zu erneuern; aber sooft ich es versuchte, immer ward ich wiedergehindert. Ich habe aber den Versuch nieaufgegeben; so habe ich mich zwar dem WillenGottes nicht widersetzt, aber auch <strong>die</strong>Liebe zu euch immer bewahrt. Denn daß eres sich vornahm, (zu ihnen zu kommen,) undnicht davon abließ, war ein Beweis seinerZuneigung zu ihnen; daß er aber, als immerein Hindernis eintrat, sich nicht widersetzte,war ein schöner Beweis seiner Liebe zu Gott.„Um auch bei euch einige Frucht zu gewinnen.“— Obzwar er schon oben <strong>die</strong> Ursache seinesVerl<strong>an</strong>gens ausgesprochen und ihre Berechtigunggezeigt hat, so führt er sie doch hier


nochmals <strong>an</strong>, um einer falschen Meinung beiihnen kräftig entgegen zu wirken. Rom warnämlich eine berühmte St<strong>ad</strong>t, <strong>die</strong> nicht ihresgleichenhatte auf der g<strong>an</strong>zen Welt. Für vielewar darum einzig das Verl<strong>an</strong>gen, sie zu sehen,der Beweggrund ihrer Reise dahin. Damitnun <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> nicht denselben Beweggrundbei <strong>Paulus</strong> vermuteten oder damit sienicht argwöhnten, er wolle nur <strong>des</strong>halb zuihnen kommen, um sich seiner Bek<strong>an</strong>ntschaftmit ihnen rühmen zu können, führt er zuwiederholten Malen <strong>die</strong> Ursache seines Verl<strong>an</strong>gens<strong>an</strong>. Früher hatte er gesagt: „Damitich euch etwas geistige Gabe mitteile, sehnteich mich, euch zu sehen.“ Hier wird er nochdeutlicher: „Um einige Frucht auch bei euchzu gewinnen wie auch bei den übrigen Völkern.“Sie, das Herrschervolk, nennt er indemselben Atem mit den von ihnen beherrschtenVölkern. Trotz ihrer unzä<strong>hl</strong>igenTrophäen und Siege, trotz ihrer gl<strong>an</strong>zvollenKonsuln setzt er sie auf <strong>die</strong> gleiche Stufe mitden Barbaren. Und das mit vollem Recht;denn da, wo der Adel <strong>des</strong> Glaubens gilt, gibtes keinen Unterschied zwischen Barbarenund Hellenen, zwischen Fremdlingen undBürgern, sondern alle stehen <strong>an</strong> Würde aufgleich hoher Stufe. Beachte, wie der Apostelauch hier einen bescheidenen Ausdruckwä<strong>hl</strong>t! Er sagt nicht: Um zu lehren und in derReligion zu unterweisen, sondern was? „Umeinige Frucht zu gewinnen“; und nicht einfach„Frucht“, sondern „einige Frucht“; wie- der drückt er herab, was durch ihngeschieht, wie er oben gesagt hat: „Um etwasmitzuteilen.“ D<strong>an</strong>n demütigt er auch sie einigermaßen,wie oben gesagt, indem er hinzusetzt:„Wie auch bei den übrigen Völkern.“Nicht weil ihr reich seid und mehr besitzt als<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern, trage ich weniger Sorge um <strong>die</strong>übrigen; denn nicht Reiche suchen wir, sondernGläubige. Wo sind nun <strong>die</strong> Weisen derGriechen mit ihren l<strong>an</strong>gen Bärten, ihren Philosophenmäntelnund ihrer Einbildung?Griechenl<strong>an</strong>d und <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Barbarenwelthat der Zeltmacher umgew<strong>an</strong>delt. Dagegen22hat der von ihnen so hoch gerühmte und gefeiertePlato, der dreimal <strong>die</strong> Reise nach Sizilienmachte, mit all seinem Wortgeprängeund seinem glänzenden Rufe es nicht übereinen einzigen Fürsten vermocht, sondernmußte kläglich abziehen, nachdem er sogar(vorübergehend) <strong>die</strong> Freiheit eingebüßt hatte.Dieser Zeltmacher aber hat nicht bloß Sizilienund nicht bloß Italien, sondern den g<strong>an</strong>zenErdkreis durchmessen. Bei seinem Predigenließ er nicht ab von seinem H<strong>an</strong>dwerk, sondernnähte auch da Felle zusammen undst<strong>an</strong>d einer Werkstätte vor. Und dar<strong>an</strong> stießensich auch <strong>die</strong> Vornehmen nicht, wie billig;denn nicht H<strong>an</strong>dwerk und ehrliche Arbeitmacht einen Lehrer verächtlich, sondernTrug und Irrlehre. Darum verlachten jenePhilosophen schon <strong>die</strong> Athener, auf <strong>die</strong>sendagegen horchen auch <strong>die</strong> Barbaren, ungebildeteund gemeine Leute. Denn das Ev<strong>an</strong>geliumist Gemeingut aller; es kennt wederSt<strong>an</strong><strong>des</strong>unterschied noch nationalen Vorr<strong>an</strong>gnoch sonst etwas dergleichen. Nur Glaubengehört dazu, nicht philosophisches Wissen.Darum ver<strong>die</strong>nt es auch <strong>die</strong> höchste Bewunderung,nicht bloß weil es Segen und Heilbringt, sondern auch weil es bequem undleicht zugänglich und für alle leicht faßlichist. Das ist ja überhaupt der Vorsehung Gotteseigen, daß sie ihre Schöpfungen allen alsGemeingut darbietet. So macht sie es mit derSonne, dem Monde, der Erde, dem Meereund allen <strong>an</strong>dern Geschöpfen. Sie teilt vonihren Segnungen nicht den Reichen und denWeisen mehr mit und den Armen weniger,sondern bietet allen den gleichen Genuß davondar. Ger<strong>ad</strong>e so machte sie es mit demEv<strong>an</strong>- gelium, und das um so mehr,weil es noch notwendiger ist als jene <strong>an</strong>dernnatürlichen Gaben. Darum sagt auch <strong>Paulus</strong>öfter: „Allen Völkern“. Hierauf will er ihnenzeigen, daß nicht er ihnen eine Gn<strong>ad</strong>e erweise,sondern daß er einen Auftrag <strong>des</strong> Herrnerfülle. Er weist sie daher zur D<strong>an</strong>kbarkeitgegen Gott, den Geber von allem, <strong>an</strong>, indemer spricht:


V. 14: „Griechen und Nichtgriechen, Weisenund Ungebildeten bin ich verpflichtet.“Das sagte er auch im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther.Er sagt es, um damit alles Gott zuzuschreiben.V. 15: „So bin ich, was <strong>an</strong> mir liegt, bereit,auch euch, <strong>die</strong> ihr zu Rom seid, das Ev<strong>an</strong>geliumzu verkünden.“6.O hochherzige Seele! Ein Werk voller Gefahrennimmt er auf sich, eine Seereise, Widerwärtigkeiten,Nachstellungen, Empörungen.Denn wenn er einer so großen St<strong>ad</strong>t predigenwollte, <strong>die</strong> von der Gottlosigkeit g<strong>an</strong>z beherrschtwar, mußte er sich wo<strong>hl</strong> auf einenHagel von Widerwärtigkeiten gefaßt machen,wie er denn auch in <strong>die</strong>ser St<strong>ad</strong>t seinLeben ließ, enthauptet auf Befe<strong>hl</strong> <strong>des</strong> damaligenHerrschers. Wiewo<strong>hl</strong> er nun so Schweresfür sich voraussah, lähmte ihn das dochnicht, sondern er fü<strong>hl</strong>te sich eher <strong>an</strong>gespornt,sehnte sich mit Schmerzen darnach und warbereit dazu. Darum sagt er: „So bin ich, was<strong>an</strong> mir liegt, bereit, auch euch, <strong>die</strong> ihr zuRom seid, das Ev<strong>an</strong>gelium zu verkünden.“V. 16: „Denn ich schäme mich nicht <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums.“Was sagst du, <strong>Paulus</strong>? Du solltest sagen: Ichrühme mich, ich schätze mich glücklich, ichbin stolz darauf; das sagst du nicht, sondern,was minder ist, daß du dich nicht schämst,ein Ausdruck, <strong>des</strong>sen wir uns von erhabenenDingen nicht zu be<strong>die</strong>nen pflegen. Was willer also damit gesagt haben und warum wä<strong>hl</strong>ter <strong>die</strong>sen Ausdruck, obzwar er doch sonst inFreudentönen vom Ev<strong>an</strong>gelium spricht, höherals vom Himmel? Im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galatersagt er ja: „Ferne sei es von mir, mich zurühmen, außer im Kreuze unseres Herrn JesusChristus.“ 51 Warum sagt er also hier51 Gal. 6, 14.23nicht: „Ich rühme mich“, sondern:„Ich schäme mich nicht“? Die <strong>Römer</strong> warenstark eingenommen für irdische Größe; siewaren stolz auf ihren Reichtum, ihre Weltherrschaft,ihre Siege und ihre Kaiser. Dieseletzteren setzten sie den Göttern gleich undlegten ihnen auch <strong>die</strong> Namen von solchenbei; sie erwiesen ihnen auch göttliche Ehren,indem sie ihnen Tempel und Altäre errichtetenund Opfer darbrachten. Diesen von Stolzso aufgeblasenen Leuten sollte <strong>Paulus</strong> Jesusverkündigen, den vermeintlichen Sohn einesZimmerm<strong>an</strong>ns, aufgezogen im Judenl<strong>an</strong>deim Hause eines armen Weibes, einen M<strong>an</strong>nohne Trab<strong>an</strong>ten, ohne Schätze, der sogar alsVerurteilter zwischen Räubern gestorben warund viel sonstige Schmach gelitten hatte. Eswar <strong>an</strong>zunehmen, daß sie sich von Schamwürden überm<strong>an</strong>nen lassen, da sie nochnichts wußten von den sonstigen erhabenenGeheimnissen <strong>des</strong> Christentums. Darum sagter: „Ich schäme mich nicht“, und will damitjene lehren, sich zunächst nur nicht zu schämen.Er wußte wo<strong>hl</strong>, daß sie bald, wenn sienur einmal auf den rechten Weg gebrachtwären, dazu kommen würden, sich sogar zurühmen. — Auch du schäme dich nicht,wenn du jem<strong>an</strong>den sagen hörst: Den Gekreuzigtenbetest du <strong>an</strong>? Sc<strong>hl</strong>age nicht <strong>die</strong>Augen nieder, sondern rühme dich freudigund lege das Bekenntnis ab mit freiem Blickund offener Stirn. Er, wenn er wieder fragt:Den Gekreuzigten betest du <strong>an</strong>? so <strong>an</strong>tworteihm: Ja, aber doch keinen Ehebrecher, dochkeinen Vatermörder, doch keinen Kin<strong>des</strong>mörder— denn das sind ihre Götter alle —,sondern den, der durch das Kreuz <strong>die</strong> Dämonenverstummen und ihre tausenderleiBlendwerke zunichte gemacht hat. DasKreuz, um unseretwillen getragen, ist ja einWerk der unaussprec<strong>hl</strong>ichen Liebe Gottes zuuns Menschen, ein Zeichen seiner ü-berschwenglichen Erbarmung. Zu denen, <strong>die</strong>mit ihrer Wortkunst pra<strong>hl</strong>en und mit ihrerWeltweisheit groß tun, spricht <strong>Paulus</strong>: Ichhabe es längst aufgegeben, Sc<strong>hl</strong>üsse zu küns-


teln, ich predige fort<strong>an</strong> das Kreuz und schämemich <strong>des</strong>sen nicht. Denn.„eine Kraft Gottes ist es <strong>zum</strong> Heile.“— Es gibt nämlich auch eine Kraft Gotteszur Strafe; <strong>die</strong>se ist gemeint, wenn esvon der Bestrafung der Ägypter heißt: „Dasist meine gewaltige Kraft.“ Auch eine KraftGottes <strong>zum</strong> Verderben gibt es; von <strong>die</strong>serheißt es: „Fürchtet den, der Leib und Seeleins Verderben stürzen k<strong>an</strong>n“ 52 . Darum sagter: Nicht dergleichen bringe ich, nichts vonStrafe und nichts von Rache, sondern nurHeil. Doch was? Kündigt denn das Ev<strong>an</strong>geliumnicht auch solche Dinge <strong>an</strong>? Ist nicht darinauch <strong>die</strong> Rede von der „Hölle“ 53 , der „äußerstenFinsternis“ 54 , dem „giftigenWurm“? 55 ) Denn nirgend <strong>an</strong>derswoher alsaus dem Ev<strong>an</strong>gelium haben wir Kenntnisdavon. Wie k<strong>an</strong>n er also sagen, er sei eineKraft Gottes <strong>zum</strong> Heile? Doch höre, wasfolgt:„Für einen jeden, der dar<strong>an</strong> glaubt, für den Judenzuerst und d<strong>an</strong>n für den Griechen.“— Also nicht für alle einfachhin, sondernfür alle, <strong>die</strong> es einnehmen. Du magst <strong>des</strong>halbein Heide gewesen sein, voll jeglicher Bosheit,du magst ein Skythe, ein Barbar, ja dumagst wie ein wil<strong>des</strong> Tier gewesen sein, sog<strong>an</strong>z ohne Vernunft und voller Laster, hastdu einmal das Wort vom Kreuze <strong>an</strong>genommenund bist du getauft worden, so hast dudas alles ausgelöscht. — Warum heißt es hieraber: „Für den Juden zuerst und d<strong>an</strong>n fürden Griechen“? Was soll <strong>die</strong>se Unterscheidung?Sonst hat er ja öfter gesagt, daß wederVorhaut noch Beschneidung etwas gilt. Warummacht er hier einen Unterschied undsetzt den Juden vor den Griechen? Was solldas heißen? Jedenfalls nicht, daß der Jude,weil er vor<strong>an</strong> steht, mehr Gn<strong>ad</strong>e empfängt;denn <strong>die</strong>se wird dem einen wie dem <strong>an</strong>dernin gleichem Maße zuteil. Das „Zuerst“ besagtnur einen Vorzug in der Aufein<strong>an</strong>derfolge.52 Matth. 10, 28.53 Matth. 5, 22; 10, 28; 18, 9; Mark. 9, 46; Luk. 12, 6.54 Matth. 8. 12; 22, 13; 25, 30.55 Mark. 9, 43; 46 u. 47.24Nicht ein größeres Maß von Gerechtigkeitempfängt der, von dem es heißt, daß er „zuerst“empfängt, sondern seine Auszeichnungbesteht darin, daß er als erster der Reihenfolgenach empfängt. So ist es ja auchbei den „zu Erleuchtenden“ 56 — ihr Eingeweihtenwißt, was das heißt —; sie eilen alleder Taufe zu, aber nicht alle kommen in derselbenStunde dar<strong>an</strong>, sondern der eine alserster, der <strong>an</strong>dere als zweiter. Der als ersterdar<strong>an</strong> kommt, empfängt nicht mehr als derzweite, und <strong>die</strong>ser nicht mehr als der, welchernach ihm kommt, sondern alle genießendasselbe. Das „Zuerst“ besagt also hier nurein Voraussein im Gen<strong>an</strong>ntwerden, nicht a-ber ein Mehr <strong>an</strong> Gn<strong>ad</strong>e!Nachdem er gesagt hat: „<strong>zum</strong> Heile“, hebter den Wert <strong>des</strong> Geschenkes noch mehr hervor,indem er zeigt, daß es sich nicht bloß auf<strong>die</strong> Gegenwart beziehe, sondern es noch weiterreiche. Dies drückt er aus, indem er sagt:V. 17: „Denn Gerechtigkeit Gottes offenbartsich darin aus dem Glauben <strong>zum</strong> Glauben, wiegeschrieben steht: Der Gerechte wird leben ausdem Glauben.“Wer gerechtfertigt ist, wird nämlich nichtbloß im Diesseits leben, sondern auch im Jenseits.Doch nicht allein das, sondern nochetwas <strong>an</strong>deres deutet er damit <strong>an</strong>, nämlichden Gl<strong>an</strong>z und <strong>die</strong> Herrlichkeit eines solchenLebens. Es gibt auch ein Heilbleiben, das mitSch<strong>an</strong>de verbunden ist, so z. B. bleiben m<strong>an</strong>cheheil, weil ihnen durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Königsihre Strafe nachgesehen wird. Damitnun niem<strong>an</strong>d so etwas vermute, wenn er vonHeil hört, fügt der Apostel hinzu: „Gerechtigkeit“,und zwar nicht deine Gerechtigkeit,sondern <strong>die</strong> Gerechtigkeit Gottes; er deutetzugleich damit <strong>an</strong>, daß <strong>die</strong>se reich bemessenund leicht erteilt werde. Du brauchst sienicht durch Schweiß und Anstrengung zuerwerben, sondern als Geschenk von obenwird sie dir zuteil, wenn du nur eines mit-56 Φωτιζόμενοι, illumin<strong>an</strong>di, <strong>die</strong> oberste Klasse der Katechumenen, <strong>die</strong>unmittelbar vor der Taufe (φωτισμός = illuminatio) st<strong>an</strong>den. Im Abendl<strong>an</strong>dehießen sie meist competentes (sc. baptismum).


ingst: den Glauben. Weil aber eine solcheLehre kaum glaublich erscheint, nämlich daßauch der Ehebrecher und Wollüstige, derGrabschänder und Zauberer mit einem Malenicht bloß seiner Strafe ledig, sondern auchein Gerechter wird, und zwar einGerechter im höchsten Sinne <strong>des</strong> Wortes, sobekräftigt er seine Lehre mit einem Hinweisauf den Alten Bund. Durch eine kurze Andeutungbreitet er vor dem geistigen Auge<strong>des</strong>sen, der zu schauen vermag 57 , ein unermeßlichesMeer von Beispielen aus. Nachdemer nämlich gesagt hat: „Aus dem Glauben<strong>zum</strong> Glauben“, verweist er <strong>die</strong> Zuhörerzurück auf jene Beispiele von Menschen imAlten Testamente, <strong>die</strong> Gott <strong>zum</strong> Heile geführthat, wie im Hebräerbriefe mit großerWeisheit ausgeführt ist, und zeigt, daß auchdamals Gerechte und Sünder ohne Unterschiedgerechtfertigt worden seien. Dort hatder Apostel Rahab und Abraham nebenein<strong>an</strong>dergen<strong>an</strong>nt. Hier begnügt er sich aber miteinem kurzen Verweis darauf, um raschenSchrittes zu einem <strong>an</strong>dern Thema überzugehen.Wieder bekräftigt er seine Rede durchdas Zeugnis der Propheten. Er führt Habakuk<strong>an</strong>, der uns zuruft, wer da leben wolle,könne <strong>die</strong>s nicht <strong>an</strong>ders als durch den Glauben.Denn „der Gerechte“, sagt er, „wird lebenaus dem Glauben“; er meint das zukünftigeLeben im Jenseits. Da <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engeschenkeGottes alle unsere Begriffe übersteigen,bedürfen wir freilich dazu <strong>des</strong> Glaubens58 . Aber der stolze und eingebildeteMensch, der Dünkelhafte wird niemals dazugel<strong>an</strong>gen. Die Ketzer sollen nur auf <strong>die</strong>Stimme <strong>des</strong> Geistes hören. Das Um und Aufihrer kunstgerechten Sc<strong>hl</strong>üsse ist das: Siegleichen Irrgängen und Rätseln, sie habennirgends einen Ausg<strong>an</strong>g, sie bieten demDenken keinen festen Untergrund und habenihren Ursprung im Dünkel. Den Glaubenmögen solche Weltweise nicht <strong>an</strong>nehmen,damit sie sich nicht den Anschein geben, alshätten sie kein Wissen von himmlischenDingen, und dabei verlieren sie sich in tausenderleiVernünfteleien. Du Armer, Unglücklicherund tausendmal Beweinenswerter!Wenn dich jem<strong>an</strong>d fragt, wie Himmelund Erde geworden sind — doch was sag’ich Himmel und Erde —, wie du selbst gewordenbist, wie du aufgewachsen und großgeworden bist, da schämst du dich nicht,nichts darüber zu wissen? Wenn a-ber vom Eingeborenen <strong>die</strong> Rede ist, stürzestdu dich in den Abgrund <strong>des</strong> Verderbens,bloß <strong>des</strong>wegen, weil es deiner unwürdig zusein scheint, nicht alles über ihn zu wissen.Unwürdig ist vielmehr deine Disputiersucht,deine un<strong>an</strong>gebrachte Wißbegierde. Doch wasspreche ich von übersinnlichen Lehren?Auch von den Übeln <strong>des</strong> irdischen Lebenswerden wir nicht <strong>an</strong>ders befreit als durchden Glauben. D<strong>ad</strong>urch leuchteten alle jeneMänner der Vorzeit hervor, ein Abraham, einIsaak, ein Jakob. D<strong>ad</strong>urch ist auch <strong>die</strong> Huregerettet worden, <strong>die</strong> im Alten und <strong>die</strong> imNeuen Testamente. „Durch den Glauben“,heißt es, „ging Rahab, <strong>die</strong> Hure, nichtzugrunde zugleich mit den Ungläubigen, dasie <strong>die</strong> Kundschafter aufgenommen hatte“ 59 .Sie sprach nicht etwa bei sich selbst: Wiekönnen <strong>die</strong>se der Gef<strong>an</strong>genschaft eben Entronnenen,<strong>die</strong>se herumziehenden Nom<strong>ad</strong>enuns besiegen, <strong>die</strong> wir im Besitz einer St<strong>ad</strong>tmit Mauern und Türmen sind? Hätte sie sobei sich gesprochen, so hätte sie sich selbstund jene <strong>an</strong>dern ins Verderben gestürzt, einSchicksal, welches <strong>die</strong> Voreltern derer erlittenhatten, <strong>die</strong> damals durch sie gerettetwurden. Denn jene hatten, als sie riesenhaftgroße Männer erblickten, ungläubig gefragt,wie es möglich sein werde, <strong>die</strong>se zu besiegen,und sie kamen dafür um ohne Krieg und ohneSc<strong>hl</strong>acht. Siehst du daraus, was für einAbgrund der Unglaube und was für eineSchutzwehr der Glaube ist? Jener hat Hunderttausendeins Verderben gestürzt, <strong>die</strong>ser57 d. h. <strong>des</strong>sen, der schriftkundig ist und darum <strong>die</strong> Andeutung versteht.58 Nämlich, um sie als wirklich <strong>an</strong>zuerkennen.2559 Hebr. 11, 31.


hat ein Hurenweib nicht bloß selbst gerettet,sondern auch zur Retterin eines großen Volkesgemacht.Da wir nun <strong>die</strong>ses und noch mehr als <strong>die</strong>seswissen, so laßt uns niemals von Gott Rechenschaftverl<strong>an</strong>gen für das, was er geschehenläßt, sondern <strong>an</strong>nehmen, was immer er <strong>an</strong>ordnet.Laßt uns auch d<strong>an</strong>n nicht herumklügelnund viel hin und her überlegen, wennsein Befe<strong>hl</strong> dem mensc<strong>hl</strong>ichen Denken nichtam Platz zu sein scheint. Was scheint wenigeram Platz zu sein, als daß ein Vater seineneinzigen rechtbürtigen Sohn sc<strong>hl</strong>achten soll?Und doch klügelte der Gerechte, dem <strong>die</strong>sbe- fo<strong>hl</strong>en wurde, nicht <strong>an</strong> dem Befe<strong>hl</strong>herum, sondern nahm ihn <strong>an</strong> im Vertrauenauf <strong>die</strong> hohe Würde <strong>des</strong>sen, der ihngegeben hatte, und gehorchte ihm. Ein <strong>an</strong>dermalward einem von Gott befo<strong>hl</strong>en, einenPropheten zu sc<strong>hl</strong>agen. Weil es ihm vorkam,als sei so etwas nicht am Platze, klügelte erdar<strong>an</strong> herum, <strong>an</strong>statt einfach zu gehorchen,und erlitt dafür <strong>die</strong> schwerste Strafe 60 , der<strong>an</strong>dere aber, der ihn sc<strong>hl</strong>ug, machte sich Gottgefällig. Und Saul, der dem Willen Gottesentgegen Menschen das Leben rettete, kamum den Thron und erlitt unerträgliches Leid.So ließen sich noch mehr Beispiele auffinden,<strong>die</strong> alle <strong>die</strong> Lehre enthalten, daß m<strong>an</strong> bei denAnordnungen Gottes nicht nach dem Grundfragen dürfe, sondern sich ihnen einzig undallein fügen und gehorchen müsse. Wenn esaber schon gefährlich ist, <strong>an</strong> Befe<strong>hl</strong>en Gottesherumzuklügeln, und es denen, <strong>die</strong> sie hinundherüberlegen, <strong>die</strong> schwerste Strafe zuzieht,was werden <strong>die</strong> für eine Entschuldigunghaben, welche sich über viel geheimnisvollereund mit heiliger Scheu zu beh<strong>an</strong>delndeDinge den Kopf zerbrechen, z. B. wieGott Vater den Sohn gezeugt habe, auf welcheWeise, was seine Wesenheit sei?Mit <strong>die</strong>sem Wissen bereichert, laßt uns dennden Glauben, <strong>die</strong>se Wurzel alles Guten, bereitwillig<strong>an</strong>nehmen, damit wir wie in einemwindstillen Hafen dahinsegeln, uns <strong>die</strong> richtigenGlaubenslehren bewahren, den Laufunseres Lebens dahin richten, wo uns keineGefahr droht, sondern ewige Güter erwartendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, mit welchem dem Vater seiRuhm, Herrschaft, Ehre und Anbetungzugleich mit dem Hl. Geiste von Ewigkeit zuEwigkeit Amen. VIERTE HOMILIE. Kap. I, V. 18—25.1.Kap. I, V. 18—25.V. 18: „Denn es offenbart sich Gottes Strafgerichtvom Himmel her über jede Gottlosigkeit undUngerechtigkeit von Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wahrheitim B<strong>an</strong>ne der Ungerechtigkeit gef<strong>an</strong>gen halten.“Beachte das kluge Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wieer mit heil- und segenverheißenden Wortenbeginnt und d<strong>an</strong>n <strong>die</strong> Rede hinüberleitet aufGed<strong>an</strong>ken, <strong>die</strong> Furcht einflößen sollen. Er hatoben davon gesprochen, daß das Ev<strong>an</strong>geliumHeil und Leben bringe, daß es eine Kraft Gottessei, daß es Heil und Gerechtigkeit wirke;nun kommt er mit Ged<strong>an</strong>ken, <strong>die</strong> geeignetsind, bei denen Furcht zu erregen, <strong>die</strong> esnicht halten. Da nämlich <strong>die</strong> Mehrza<strong>hl</strong> derMenschen sich nicht so sehr durch Verheißungvon Heil und Segen als durch <strong>die</strong>Furcht vor Unheil zur Tugend leiten läßt, sosucht der Apostel seine Leser von beiden Seitenher zu gewinnen. Aus demselben Grundehat auch Gott nicht bloß das Himmelreichverheißen, sondern auch mit der Hölle gedroht.Auch <strong>die</strong> Propheten haben in derselbenWeise zu den Juden gesprochen. Sie mischenbeständig Verheißungen und Drohungenunterein<strong>an</strong>der. So sc<strong>hl</strong>ägt denn auch<strong>Paulus</strong> in seiner Rede verschiedene Töne <strong>an</strong>,und zwar nicht beliebig, sondern das HeilundSegenverheißende stellt er vor<strong>an</strong>, das60 3 Kön. 20, 35. 36.26


Unheilvolle läßt er nachfolgen. Dabei bringter <strong>zum</strong> Ausdruck, wie jenes der vorgefaßtenAbsicht Gottes entspringe, <strong>die</strong>ses aber eineFolge schuldbaren Leichtsinnes der Menschensei. So stellt auch der Prophet das Gutevor<strong>an</strong>, wenn er spricht: „Wenn ihr willig seidund mir gehorcht, sollt ihr <strong>des</strong> L<strong>an</strong><strong>des</strong> Gutgenießen; wenn ihr euch aber weigert, undeuch <strong>zum</strong> Zorne neigt, soll das Schwert euchfressen“ 61 . Auf <strong>die</strong>selbe Weise geht <strong>Paulus</strong>hier in seiner Rede vor. Gebt acht! Christus,sagt er, ist gekommen und hat Sündenvergebunggebracht, Gerechtigkeit und Leben; aber nicht so ohne weiteres, sonderndurch das Kreuz. Das Große und Staunenswertestedabei ist nicht, daß er uns so reichenSegen gebracht, sondern daß er so viel gelittenhat. Mißachtet ihr seine Geschenke, d<strong>an</strong>nbricht das Unheil über euch herein. „Denn esoffenbart sich“, sagt er, „Gottes Strafgerichtvom Himmel her.“ Wieso läßt sich das erweisen?Wenn ein Gläubiger so fragt, d<strong>an</strong>nführen wir ihm <strong>die</strong> Aussprüche Christi <strong>an</strong>; istes aber ein Ungläubiger, ein Heide, d<strong>an</strong>nmacht ihn <strong>Paulus</strong> mundtot mit dem nun folgendenHinweis auf das Gericht Gottes. Erführt so den unwiderleglichen Nachweis ausder Geschichte der Heiden selbst. Das istnämlich das g<strong>an</strong>z Sonderbare bei <strong>Paulus</strong>, daßer den Bestreitern der christlichen Wahrheitnachweist, wie sie selbst durch das, was sieTag für Tag tun und reden, ihre Übereinstimmungmit derselben bekunden. Dochdavon später; jetzt wollen wir uns <strong>an</strong> denvorliegenden Text halten. Also:„Denn es offenbart sich Gottes Strafgerichtvom Himmel her.“ Jawo<strong>hl</strong>, das ist gar oftschon hier auf Erden der Fall, z. B. bei Hungersnot,Pest und Krieg. Da erleidet jeder imbesondern und alle zusammen gemeinsamStrafe. Was ist aber das Befremdliche <strong>an</strong> derStrafe, <strong>die</strong> d<strong>an</strong>n (im Jenseits) kommen wird?Daß sie größer ist (als alle irdische Strafe),daß sie alle trifft und daß sie nicht denselbenZweck hat: <strong>die</strong> <strong>die</strong>sseitige Strafe hat nämlichden Zweck der Besserung, <strong>die</strong> jenseitige dender Wiedervergeltung. Das bringt auch <strong>Paulus</strong><strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er spricht: „Wirwerden nun gezüchtigt wie Kinder, damitwir nicht mit der Welt verdammt werden“ 62 .Jetzt kommt ja gar m<strong>an</strong>chen vieles nicht alsein Strafgericht von oben vor, sondern alsVerschulden von Menschen; d<strong>an</strong>n aber wir<strong>des</strong> offenkundig sein, daß <strong>die</strong> Strafe von Gottkommt, wenn er nämlich als Richter auf demschrecklichen Throne sitzen und <strong>die</strong> einen inden Feuerofen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern in <strong>die</strong> äußersteFinsternis und wieder <strong>an</strong>dere zu <strong>an</strong>dern unentrinnbaren,unerträglichen Strafen abführenlassen wird. Warum sagt er aber nichtoffen so: „Der Menschen- sohn wirdkommen mit Zehntausenden von Engeln undRechenschaft fordern von einem jeden“, sondern:„es offenbart sich das Strafgericht Gottes“?— Seine Zuhörer waren erst Neugetaufte;darum sucht er sie zunächst durch etwaszu gewinnen, was von ihnen ohne Schwierigkeitzugest<strong>an</strong>den wurde. Außerdemscheint es mir, daß er mit Rücksicht auf <strong>die</strong>Heiden seine Rede so einleitet; später kommter ja auf das Gericht Christi zu sprechen.„Über jede Gottlosigkeit und Ungerechtigkeitvon Menschen, welche <strong>die</strong> Wahrheit imB<strong>an</strong>ne der Ungerechtigkeit gef<strong>an</strong>gen halten.“— Hier bringt der Apostel <strong>zum</strong> Ausdruck, daes viele Wege der Gottlosigkeit gibt, der Wegder Wahrheit aber nur einer ist. Denn buntund vielgestaltig und unterschiedlich ist derIrrtum, <strong>die</strong> Wahrheit aber ist eine. Zunächstmeint er das wo<strong>hl</strong> in bezug auf <strong>die</strong> Glaubenslehre;in der Folge bezieht er es auch auf dasLeben, indem er von Ungerechtigkeit derMenschen spricht. Und in der Tat gibt es vielerleiUngerechtigkeiten. Bei der einen h<strong>an</strong>deltes sich um den Besitz, so z. B. wenn einerseinem Nebenmenschen Sch<strong>ad</strong>en dar<strong>an</strong> zufügt;bei einer <strong>an</strong>dern um <strong>die</strong> Weiber, sowenn einer sich von seinem Eheweibe trennt61 Is. 1, 19—20.2762 1 Kor. 11, 32.


und <strong>die</strong> Ehe eines <strong>an</strong>dern zerstört. Auch dasversteht <strong>Paulus</strong> unter „Übervorteilen“, wenner spricht: „Daß keiner zu weit gehe und seinenBruder im Geschäfte nicht übervorteile“63 . Andere wieder treten zwar nicht demWeibe und dem Besitze, wo<strong>hl</strong> aber der Ehre<strong>des</strong> Nächsten nahe. Auch das ist Ungerechtigkeit.„Denn ein guter Name ist besser alsviel Reichtum“ 64 . M<strong>an</strong>che (Erklärer) sind derAnsicht, daß <strong>die</strong> Ausdrücke („Gottlosigkeit“und „Ungerechtigkeit“) von <strong>Paulus</strong> nur inbezug auf <strong>die</strong> Glaubenslehren gemeint seien.Es hindert aber nichts, abzunehmen, daß eres auf bei<strong>des</strong> (sowo<strong>hl</strong> auf <strong>die</strong> Glaubenslehrenwie auch auf das sittliche Verhalten) bezieht.Was aber das heißt: „welche <strong>die</strong> (christliche)Wahrheit durch Ungerechtigkeit gef<strong>an</strong>genhalten“, ersieh aus dem, was folgt: V. 19: „Weil das Erkennbare <strong>an</strong> Gottunter ihnen offenkundig geworden ist; denn Gotthat es ihnen ja kundgemacht.“2.Aber sie haben <strong>die</strong> Gott gebührende Ehrehölzernen und steinernen Götzen erwiesen.Wenn einem <strong>die</strong> Schätze <strong>des</strong> Königs <strong>an</strong>vertrautworden wären mit dem Auftrage, sie zu<strong>des</strong> Königs Ehre zu verwenden, er aber versc<strong>hl</strong>eudertesie <strong>an</strong> Diebe und Dirnen undGaukler und schaffte ihnen mit dem Gelde<strong>des</strong> Königs ein glänzen<strong>des</strong> Leben, wie würdeein solcher, als der schwersten Majestätsbeleidigungschuldig, bestraft werden! Ebensohaben auch <strong>die</strong> Heiden, welche <strong>die</strong> Kenntnisvon Gott und seiner Herrlichkeit empf<strong>an</strong>genhatten, d<strong>ad</strong>urch <strong>die</strong> Wahrheit gleichsam „gef<strong>an</strong>gengehalten im B<strong>an</strong>ne der Ungerechtigkeit“,daß sie <strong>die</strong> Gott gebührende VerherrlichungGötzenbildern zuteil werden ließenund haben so gegen <strong>die</strong> Kenntnis von Gott,soviel <strong>an</strong> ihnen lag, eine Ungerechtigkeit be-g<strong>an</strong>gen, da sie <strong>die</strong>selbe nicht zu dem gehörigenZwecke verwendeten. Ist euch nun dasGesagte klar geworden oder soll ich es nochklarer wiederholen? Es wird wo<strong>hl</strong> notwendigsein, es zu wiederholen. Was ist also der Sinn<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>-Wortes? Gott hat den Menschenvon Haus aus <strong>die</strong> Kenntnis von sich mitgegeben;aber <strong>die</strong> Heiden haben <strong>die</strong>se Gotteserkenntnis<strong>an</strong> hölzerne und steinerne Figurenweggeworfen und so gegen <strong>die</strong> Wahrheiteine Ungerechtigkeit beg<strong>an</strong>gen, allerdingsnur soweit <strong>die</strong>s in ihrer Macht lag; denn <strong>die</strong>Wahrheit über Gott bleibt ja trotz alledemunverändert bestehen und behält ihre Ehreunverrückt. Woher weißt du aber, lieber <strong>Paulus</strong>,daß Gott den Heiden <strong>die</strong>se Kenntnis vonsich von Hause aus mitgegeben hat? „Weil“,sagt er, „das Erkennbare <strong>an</strong> ihm offenkundiggeworden ist.“ Aber das ist ja doch nur eineBehauptung, kein Beweis. Beweis mir dochund zeig mir es, daß <strong>die</strong> Gotteserkenntnisoffen vor ihnen lag und daß sie freiwillig davonabirrten! Woher wäre sie ihnen denn offenkundig?Hatte sich Gott ihnen etwakundget<strong>an</strong> durch eine Stimme von oben?Nein; aber er hat etwas get<strong>an</strong>, was mehr alseine solche Stimme auf sie einwirken konnte:er hat ihnen <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schöpfungvor Augen gestellt, so daß der Gelehrte wieder Ungelehrte, der Skythe und der Barbar,durch <strong>die</strong> Betrachtung ihrer Schönheit belehrt,zu Gott emporsteigen k<strong>an</strong>n. Deshalbsagt der Apostel:V. 20: „Denn das Unsichtbare <strong>an</strong> ihm ist seitWelterschaffung <strong>an</strong> denen, <strong>die</strong> sich darüber Ged<strong>an</strong>kenmachen, sichtbar geworden.“So hatte ja auch der Prophet gesagt: „DieHimmel erzä<strong>hl</strong>en <strong>die</strong> Herrlichkeit Gottes“ 65 .Was werden darum <strong>die</strong> Heiden <strong>an</strong> jenemTage <strong>des</strong> Gerichtes sagen können? Wir habendich nicht erk<strong>an</strong>nt? — So habt ihr denn nichtden Ruf <strong>des</strong> Himmels vernommen, den ereinem entgegenschickt, wenn m<strong>an</strong> ihn nur<strong>an</strong>schaut? Mußte euch nicht <strong>die</strong> Ordnung <strong>des</strong>63 1 Thess. 4. 6.64 Sprichw. 22, 1.2865 Ps. 18, 2.


Alls lauter als Drommetenschall in <strong>die</strong> Ohrentönen? Habt ihr nicht in einemfort <strong>die</strong> unverrückbarenGesetze vor euch gesehen, nachdenen sich der Wechsel von Tag und Nachtvollzieht? Nicht <strong>die</strong> feste und unverrückbareOrdnung von Winter und Frü<strong>hl</strong>ing und der<strong>an</strong>dern Jahreszeiten? Nicht <strong>die</strong> Regelmäßigkeitin der Bewegung <strong>des</strong> Meeres, bei all seinemRauschen und Wogen? Nicht <strong>die</strong> schöneOrdnung im Weltall, das durch seine Schönheitund Größe den Schöpfer kundtut? Dasalles und viel mehr noch faßt <strong>Paulus</strong> zusammen,wenn er spricht: „Denn das Unsichtbare<strong>an</strong> ihm ist seit Welterschaffung denen, <strong>die</strong>sich darüber Ged<strong>an</strong>ken machen, sichtbar geworden:seine ewige Majestät und Gottheit,so daß sie keine Entschuldigung haben.“ Dasletztere war ja wo<strong>hl</strong> freilich nicht der Zweck,warum Gott <strong>die</strong> Welt erschuf, wenn er auchtatsäc<strong>hl</strong>ich erreicht worden ist. Nicht um denHeiden <strong>die</strong> Entschuldigung abzuschneiden,hat er eine solche Predigt (wie sie <strong>die</strong> sichtbareSchöpfung hält) ver<strong>an</strong>laßt, sondern damitsie zu seiner Erkenntnis gel<strong>an</strong>gen sollten.Sind sie trotzdem zu <strong>die</strong>ser Erkenntnis nichtgel<strong>an</strong>gt, so haben sie sich selbst jede Entschuldigungabgeschnitten.Hierauf legt <strong>Paulus</strong> dar, wieso sie sich jedeEntschuldigung abgeschnitten haben. V. 21: „Weil sie, obwo<strong>hl</strong> sie Gott erk<strong>an</strong>nten, ihmdoch nicht als Gott Ehre erwiesen.“Das ist das eine ihrer schweren Verschulden;das <strong>an</strong>dere, das auf das erste folgt, ist, daß sieGötzenbilder <strong>an</strong>beteten. Es ist <strong>die</strong>s <strong>die</strong>selbeAnklage, wie sie Jeremias erhebt, wenn erspricht: „Zwei üble Dinge hat <strong>die</strong>ses Volkget<strong>an</strong>: mich haben sie verlassen, <strong>die</strong> Quellelebendigen Wassers, und sich löcherige Zisternengegraben“ 66 . Als ein Zeichen davon,daß sie Gott zwar erk<strong>an</strong>nten, aber von <strong>die</strong>serErkenntnis einen ungehörigen Gebrauchmachten, führt d<strong>an</strong>n der Apostel <strong>an</strong>, daß sieeine Mehrheit von Göttern <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nten. Erfährt darum fort: „Obwo<strong>hl</strong> sie Gott erk<strong>an</strong>n-66 Jer. 2, 13.29ten, haben sie ihm doch nicht als Gott Ehreerwiesen.“ Er gibt auch den Grund <strong>an</strong>, warumsie in <strong>die</strong>se Torheit verfielen. Und welcherist es? Sie kehrten durch ihr Pochen auf<strong>die</strong> Vernunft in allem das Unterste zu oberst.Er spricht <strong>die</strong>s aber nicht so aus, sondern gebrauchtnoch einen viel sc<strong>hl</strong>agenderen Ausdruck.Er sagt:„Sie verfielen auf Ungereimtheiten bei ihrenVerh<strong>an</strong>dlungen für und wider, und ihr unverständigesHerz wurde mit Finsternis gesc<strong>hl</strong>agen.“— Wenn es jem<strong>an</strong>d unternimmt, in mondloserNacht einen unbek<strong>an</strong>nten Weg zu gehenoder auf dem Meere zu fahren, so gel<strong>an</strong>gt ernicht nur nicht <strong>an</strong>s Ziel, sondern er findetbald seinen Unterg<strong>an</strong>g. Ebenso haben auch<strong>die</strong> Heiden kläglichen Schiffbruch erlitten,als sie es unternahmen, den Weg <strong>zum</strong> Himmelzu gehen, dabei aber das Licht wegwarfenund sich dafür der Finsternis ihrer Vernunft<strong>an</strong>vertrauten. Sie suchten in Körpernden Körperlosen und in Gestalten denGestaltlosen. Nebstdem führt der Apostelaber auch noch einen <strong>an</strong>dern Grund ihrerVerirrung <strong>an</strong>, indem er sagt:V.22: „Sie n<strong>an</strong>nten sich Weise und wurden zuNarren.“Da sie sich viel von sich einbildeten, hieltensie es unter ihrer Würde, den Weg zu gehen,den ihnen Gott zu gehen befo<strong>hl</strong>en hatte, undvers<strong>an</strong>ken dabei in törichte Vernünfteleien.Im folgenden führt der Apostel <strong>die</strong>sen Unterg<strong>an</strong>g im Meeressturm näher ausund zeigt zugleich, wie kläglich und unentschuldbarderselbe sei, indem er sagt:V.23: „Und sie vertauschten <strong>die</strong> Herrlichkeit <strong>des</strong>unvergänglichen Gottes mit der Nachbildungeines vergänglichen Menschen, von Vögeln, Vierfüßlernund Kriechtieren.“3.Der erste Vorwurf gegen <strong>die</strong> Heiden ist, daßsie Gott nicht f<strong>an</strong>den; der zweite, daß sie gute


und offenkundige Gelegenheiten dazu hatten;der dritte, daß sie sich für Weise ausgaben;der vierte, daß sie Gott nicht nur nichtgefunden hatten, sondern daß sie <strong>die</strong> ihmgebührende Verehrung auf Dämonen undhölzerne und steinerne Götzenbilder übertrugen.Auch im Korintherbriefe demütigt<strong>Paulus</strong> den Stolz der Heiden, aber nicht inder gleichen Weise wie hier. Dort gibt er ihnengewissermaßen einen Hieb mit demKreuze, indem er spricht: „Etwas Törichtesbei Gott ist immer noch weiser als <strong>die</strong> Menschen“67 . Hier aber zieht er, ohne einen Vergleich<strong>an</strong>zustellen, ihre Weisheit ger<strong>ad</strong>ezuins Lächerliche, indem er darauf hinweist,daß sie Torheit sei und nur pra<strong>hl</strong>erischerSchein. Damit du ferner siehst, daß sie <strong>die</strong>Gotteserkenntnis besaßen, <strong>die</strong>selbe aber aufsolche Weise preisgaben, sagt er: „Sie vertauschten.“Wer etwas vertauscht, der gibtetwas hin, was er hat. Sie wollten nämlichetwas mehr finden und hielten sich darumnicht innerhalb der gegebenen Grenzen undschritten über <strong>die</strong>selben hinweg. Sie wareneben neuerungssüchtig. Es liegt das überhauptim Wesen der Griechen. Ihre Weisentraten darum gegenein<strong>an</strong>der auf; Aristoteleserhob sich gegen Plato, gegen <strong>die</strong>sen knurrten<strong>die</strong> Stoiker, kurz, einer war der Feind <strong>des</strong><strong>an</strong>dern. M<strong>an</strong> sollte sie daher nicht so bewundernwegen ihrer Weisheit als sie vielmehrverabscheuen und hassen, weil sie eben d<strong>ad</strong>urchzu Toren geworden sind. Denn wärensie nicht so versessen gewesen auf ihre Vernunftweisheit,auf ihre Sc<strong>hl</strong>üsse und Trugsc<strong>hl</strong>üsse,so wäre es ihnen nicht so erg<strong>an</strong>gen,wie es ihnen erg<strong>an</strong>gen ist. — Hieraufspinnt der Apostel seine Anklage gegen sienoch weiter aus und zieht ihren g<strong>an</strong>zen Götzen<strong>die</strong>nstins Lächerliche. War schon dasVertauschen (der Gotteserkenntnis) überhauptlächerlich, so war es g<strong>an</strong>z und gar unentschuldbar,daß es gegen solche Dinge geschah.Gegen wen vertauschten sie den wah-67 1 Kor. 1, 25.30ren Gott und was für Dingen erwiesen siegöttliche Ehre? Betreffs der Gottheit hättensie sich über Fragen wie folgende Ged<strong>an</strong>kenmachen sollen: daß es einen Gott gebe, daß erder Herr aller Dinge sei, daß er sie aus demNichtsein ins Dasein gerufen habe, daß erseine Vorsehung und Fürsehung walten lasse;denn darin bestehe ja <strong>die</strong> Ehre der Gottheit.Welchen Dingen aber erwiesen sie solche?Nicht einmal Menschen, sondern Bildernvon Menschen. Ja, sie blieben dabeinicht einmal stehen, sondern sie kamen herabbis zu den unvernünftigen Tieren oder vielmehrzu Bildnissen derselben. Beachte da dasweise Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wie er zwei äußersteGrenzpunkte festsetzt: nach oben Gott,nach unten Kriechtiere — eigentlich nichteinmal Kriechtiere, sondern deren Nachbildungen—, um den Heiden ihren hellenWahnsinn recht klar vor Augen zu halten.Die Kenntnis, <strong>die</strong> sie von dem hätten habensollen, der unvergleic<strong>hl</strong>ich erhaben ist überalle Dinge, machten sie den niedrigsten allerGeschöpfe <strong>die</strong>nstbar. — Doch was hat das,fragst du, mit den Weisheitslehrern der Heidenzu tun? Doch ja, das Gesagte geht allessie <strong>an</strong>; denn sie waren es, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Erfinderalles <strong>des</strong>sen, <strong>die</strong> Ägypter, zu Lehrern hatten.Sogar Plato, dem Anscheine nach der fähigsteKopf unter ihnen, tut sich etwas zugutedarauf, und sein Lehrer Sokrates hatte eineheilige Scheu vor solchen Götzen. Ließ docher dem Äskulap einen Hahn opfern, worauszu verstehen ist, daß <strong>die</strong> Bilder von unvernünftigenTieren, sogar von Kriechtieren, alsGötter galten. Neben den Kriechtieren k<strong>an</strong>nm<strong>an</strong> auch den Apollo und den Dionysos (unter<strong>die</strong> Götter eingereiht) sehen. M<strong>an</strong>che von<strong>die</strong>sen Weisheitslehrern haben sogar Stiere,Skorpionen, Drachen und allerh<strong>an</strong>d <strong>an</strong>deresGewürm in den Himmel versetzt. Allenthalbengab sich der Teufel Mühe, <strong>die</strong> Menschenbis herab zu den Bildern von Kriechtieren zubringen und ihn (den wahren Gott)herabzusetzen bis unter <strong>die</strong> vernunftlosestenaller Tiere, während Gott sie emporführen


wollte <strong>zum</strong> Himmel. Nicht allein daraus,sondern auch <strong>an</strong>derswoher k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> ersehen,daß sogar der Höchststehende unter denHeiden (Plato) dem geschilderten Götzen<strong>die</strong>nstergeben war. Wo er nämlich <strong>die</strong> Dichter(als Zeugen) <strong>an</strong>führt und sagt, m<strong>an</strong> müsseihnen in ihren Lehren über <strong>die</strong> Götter Glaubenschenken, bringt er (als Beweis) nichts<strong>an</strong>deres vor als eine Menge solchen Plundersund meint, m<strong>an</strong> müsse <strong>die</strong>se vielen Lächerlichkeitenfür <strong>die</strong> wahre Gotteslehre halten.V. 24: „Darum übergab sie Gott in den Lüstenihres Herzens zur Unreinigkeit, daß sie unterein<strong>an</strong>dersich ihre eigenen Leiber schänden ließen.“Hier weist der Apostel darauf hin, daß aucham Umsturz der Gesetze <strong>die</strong> Gottlosigkeitschuld war. Das „übergab“ ist hier soviel wie„überließ“. Wenn ein Heerführer bei zunehmenderHeftigkeit der Sc<strong>hl</strong>acht davongeht,so übergibt er seine Soldaten den Feinden,nicht so, daß er sie ger<strong>ad</strong>e zu ihnen hinstößt,sondern daß er sie ohne seine Hilfe läßt. Sozog sich auch Gott von den Heiden zurück,nachdem er von seiner Seite alles get<strong>an</strong> hatte,sie aber das von ihm Dargebotene nicht <strong>an</strong>nehmenmochten und so sie selbst zuerst ihnverlassen hatten. Sieh nur! Er hatte ihnen alsPredigt von ihm das g<strong>an</strong>ze Weltall vor Augengestellt; er hatte ihnen Verst<strong>an</strong>d undVernunft gegeben, womit sie imst<strong>an</strong>de waren,das Rechte zu erkennen. Doch von nichtsvon allem dem machten sie Gebrauch zu ihremHeil, sondern sie verkehrten es sogar insGegenteil. Was sollte Gott noch weiter tun?Sie mit Gewalt zwingen, zu ihm zu kommen?Das ist nicht das richtige Mittel, jem<strong>an</strong>denauf den Pf<strong>ad</strong> der Tugend zu führen. Es bliebalso nichts <strong>an</strong>deres übrig, als sie sich selbstzu überlassen, damit sie auf <strong>die</strong>se Weisedurch Erfahrung klug würden und von ihrenschändlichen Gelüsten abließen. Wenn einköniglicher Prinz seinem Vater zur Sch<strong>an</strong><strong>des</strong>ich in <strong>die</strong> Gesellschaft von Dieben, Räubernund Grabschändern begibt und den Umg<strong>an</strong>gmit solchen Leuten dem väterlichen Hausevorzieht, so ist am besten, sein Vater31läßt ihn gehen, bis er durch <strong>die</strong> Erfahrungbelehrt wird über <strong>die</strong> Größe seiner Torheit.4.Warum nennt aber der Apostel kein <strong>an</strong>deresLaster mit Namen, z. B, Neid, Geiz u. dgl.sondern bloß Unzucht? Nun, ich glaube, erspielte damit auf Zustände <strong>an</strong>, wie sie seinenZuhörern und den Empfängern seines <strong>Briefe</strong>sbek<strong>an</strong>nt waren. — „Zur Unreinigkeit, daß sieunterein<strong>an</strong>der sich ihre eigenen Leiberschänden ließen.“ Beachte da <strong>die</strong> recht treffendeAusdrucksweise <strong>des</strong> Apostels! Siebrauchten, will er sagen, gar nicht <strong>an</strong>dere, <strong>die</strong>sie schändeten, sondern das, was ihnen ihreFeinde hätten <strong>an</strong>tun können, das taten siesich selbst <strong>an</strong>. D<strong>an</strong>n faßt er noch einmal denGrund (der sittlichen Verirrungen) auf, indemer sagt:V. 25: „Sie vertauschten <strong>die</strong> Wahrheit Gottes mitder Lüge, sie brachten ihre Weihegeschenke undOpfergaben den Geschöpfen dar und setzten denSchöpfer beiseite.“Was g<strong>an</strong>z besonders lächerlich ist, führt derApostel im einzelnen <strong>an</strong>, was weniger groberscheint, im allgemeinen; <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Beweisführungläuft aber darauf hinaus, zu zeigen,daß <strong>die</strong> Anbetung der Geschöpfe ein Merkmal<strong>des</strong> Heidentums ist. Beachte auch, wasder Apostel noch für ein Wort beifügt! Ersagt nicht bloß: „Sie brachten ihre Opfergabenden Geschöpfen dar“, sondern: „undsetzten dabei den Schöpfer beiseite“. Im g<strong>an</strong>zenAbschnitt erhebt er gegen <strong>die</strong> Heiden<strong>die</strong>sen Vorwurf, durch <strong>die</strong>sen Beisatz aberspricht er ihnen jedwede Entschuldigung ab.„Der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen.“— Doch d<strong>ad</strong>urch, will er sagen, erlitt Gottkeinen Sch<strong>ad</strong>en. Er bleibt ja doch gepriesenin Ewigkeit. Hiermit bringt der Apostel <strong>zum</strong>Ausdruck, daß Gott <strong>die</strong> Heiden nicht etwasich selbst überlassen hat, um sich <strong>an</strong> ihnenzu rächen; er litt ja nicht d<strong>ad</strong>urch. Mochten


sie ihn schmähen, er wurde durch ihreSchmähungen; nicht getroffen, seine Ehreerfuhr keine Minderung, er ist und bleibtdoch der Gepriesene allezeit. Wird ja doch oft auch ein Mensch d<strong>ad</strong>urch, daßer sich der Weisheit befleißt, unverletzbardurch Schmähungen, um wieviel mehr mußes nicht Gott sein, der seinem Wesen nachunsterblich und unveränderlich ist, <strong>des</strong>senEhre unverlierbar und un<strong>an</strong>tastbar ist.Auch Menschen werden Gott ähnlich, wennsie nicht zu verletzen sind durch Schimpf,den ihnen <strong>an</strong>dere <strong>an</strong>tun wollen, wenn siedurch Schmähungen von <strong>an</strong>dern nicht geschmäht,durch Hiebe nicht getroffen, durchVerspottungen sich nicht verspottet fü<strong>hl</strong>en.Ja, wie ist das möglich? fragst du. Nun, es istmöglich, g<strong>an</strong>z wo<strong>hl</strong> möglich, wenn du dichnämlich nicht kränkst, was immer geschehe.Ja, sagst du, wie soll ich mich denn nichtkränken? Nun, sag’ mir, wenn dein kleinesKind gegen dich unartig ist, faßt du das etwaals Beleidigung auf? Kränkst du dich darüber?Keineswegs. Ja, wenn du dich kränktest,wür<strong>des</strong>t du da nicht lächerlich? <strong>In</strong> <strong>die</strong>selbeStimmung müssen wir uns nun demNebenmenschen gegenüber versetzen, undwir werden nichts Un<strong>an</strong>genehmes zu erleidenhaben. Sind ja doch solche, welche unsschmähen, unverständiger als kleine Kinder.Wir wollen nicht ängstlich bestrebt sein, jakeine Beleidigung zu erfahren, und wennuns eine <strong>an</strong>get<strong>an</strong> wird, sie zu ertragen wissen.D<strong>an</strong>n ist unsere Ehre wirklich sicher.Wieso? Weil das letztere (auf keine Beleidigungzu achten) bei dir steht, das erstere (dirkeine zuzufügen) beim <strong>an</strong>dern. Siehst dunicht, wie der Diam<strong>an</strong>t den verwundet, derauf ihn sc<strong>hl</strong>ägt? Ja, sagst du, das hat der Diam<strong>an</strong>tvon Natur aus. Und du k<strong>an</strong>nst freigewollt das sein, was jenem von Natur auszukommt. Wieso? Siehst du nicht, daß <strong>die</strong>Jünglinge im Feuerofen nicht verbrennenund D<strong>an</strong>iel in der Löwengrube unversehrtbleibt? Auch jetzt k<strong>an</strong>n das geschehen. Umgebenuns ja auch Löwen — der Zorn, <strong>die</strong>32böse Lust —; sie haben scharfe Zähne undzerfleischen den, welcher ihnen in den Rachenfällt. Sei du darum ein <strong>an</strong>derer D<strong>an</strong>ielund laß <strong>die</strong> Leidenschaften nicht ihre Zähnein deine Seele sc<strong>hl</strong>agen. — Aber, sagst du, beiD<strong>an</strong>iel war das G<strong>an</strong>ze rein ein Werk derGn<strong>ad</strong>e. Ja, aber <strong>die</strong> Tat <strong>des</strong> freien Willens wardoch voraus geg<strong>an</strong>gen. So steht auch uns <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e zur Seite, wenn wir uns ebenfallsso bewähren wollen. Mögen uns <strong>die</strong>seBestien auch hungernd umlauern, sie werdenuns nicht <strong>an</strong>packen. Denn wenn sie scheuzurückweichen beim Anblick <strong>des</strong> Leibes einesDieners (Gottes), wie werden sie erst Ruhegeben, wenn sie Glieder Christi — dassind nämlich <strong>die</strong> Gläubigen — vor sich sehen?Geben sie aber keine Ruhe, d<strong>an</strong>n liegt<strong>die</strong> Schuld <strong>an</strong> denen, <strong>die</strong> sich ihnen (als Beute)vorwerfen. Denn es gibt auch viele, <strong>die</strong><strong>die</strong>sen Löwen einen reichen Schmaus darbieten,indem sie Huren aushalten, Ehen zerstören,<strong>an</strong> Feinden Rache nehmen. Solche werdenfreilich zerrissen, bevor sie noch am Boden<strong>an</strong>l<strong>an</strong>gen. Dem D<strong>an</strong>iel widerfuhr <strong>die</strong>snicht, aber auch uns wird es nicht widerfahren,ja es wird für uns noch viel günstigerausfallen als für ihn. Dem D<strong>an</strong>iel fügten <strong>die</strong>Löwen bloß keinen Sch<strong>ad</strong>en zu; uns werden<strong>die</strong> Beleidiger, wenn wir wachsam sind, sogarnoch Nutzen bringen. So wurde ja auch<strong>Paulus</strong> bereichert ger<strong>ad</strong>e durch seine Verfolger,Job durch seine vielen Schicksalssc<strong>hl</strong>äge,Jeremias durch <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>ammgrube, Noëdurch <strong>die</strong> Sintflut, Abel durch seines BrudersArglist, Moses durch <strong>die</strong> Mordgier, so Elisäus,so ein jeder jener großen Männer: nichtdurch geruhsames Wo<strong>hl</strong>leben, sonderndurch Leiden und Trübsale erwarben sie sichihre herrlichen Ruhmeskronen. Darumsprach auch Christus, der wo<strong>hl</strong> wußte, daßdas <strong>die</strong> Vorbedingung zu wahrem Ruhm sei,zu seinen Jüngern: „<strong>In</strong> der Welt werdet ihrBedrängnis haben; aber vertraut, ich habe <strong>die</strong>Welt überwunden“ 68 . — Was sagst du nun68 Joh. 16, 33.


aber dazu, wendet m<strong>an</strong> ein: Sind denn nichtdoch auch viele zusammengebrochen unterder Last der Trübsale? Nicht durch <strong>die</strong> Trübsale<strong>an</strong> und für sich, sondern durch ihre eigeneSchwachmütigkeit. — Aber der (d<strong>ad</strong>roben), der zugleich mit der Versuchungauch den glücklichen Ausg<strong>an</strong>g und <strong>die</strong> Kraftgibt, sie zu überstehen, stehe uns allen beiund reiche uns seine H<strong>an</strong>d, auf daß wir einmalruhmvoll verherrlicht werden und <strong>die</strong>himmlische Krone erl<strong>an</strong>gen durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>eund Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mitwelchem dem Vater und dem Hl. Geiste seiEhre, Ruhm und Herrlichkeit jetzt und allezeitbis in alle Ewigkeit. Amen. FÜNFTE HOMILIE. Kap. 1, V. 26und 27.1.Kap. 1, V. 26 und 27.V. 26: „Darum überließ sie Gott den sch<strong>an</strong>dbarstenLeidenschaften. Vertauschten ja ihre Weiber<strong>die</strong> naturgemäße Befriedigung <strong>des</strong> Triebes miteinem solchen wider <strong>die</strong> Natur.“V. 27: „Ebenso gaben <strong>die</strong> Männer den naturgemäßenUmg<strong>an</strong>g mit dem Weibe auf und entbr<strong>an</strong>ntenin Gier gegenein<strong>an</strong>der.“Alle Leidenschaften sind schändlich; ammeisten aber doch <strong>die</strong> Gier von Männernnach Männern. Unter <strong>die</strong>sen Sünden leidetnämlich <strong>die</strong> Seele und wird mehr zusch<strong>an</strong>denals der Leib unter Kr<strong>an</strong>kheiten. Beachte,wie der Apostel den Heiden auch hier <strong>die</strong>Entschuldigung abschneidet wie oben, wo ervon den Irrungen im Glauben gesprochenhat. Von den Weibern sagt er nämlich: „Vertauschtensie ja <strong>die</strong> naturgemäße Befriedigung<strong>des</strong> Triebes.“ Es k<strong>an</strong>n niem<strong>an</strong>d, will ersagen, zu ihrer Entschuldigung vorbringen,daß sie <strong>an</strong> dem naturgemäßen gesc<strong>hl</strong>echtlichenVerkehr gehindert gewesen und <strong>des</strong>halbdazu gekommen seien; auch nicht, daß33sie <strong>des</strong>wegen auf <strong>die</strong>se wahnsinnige Verirrungverfallen seien, weil sie ihre gesc<strong>hl</strong>echtlicheLust nicht <strong>an</strong>ders befriedigen konnten.„Vertauschen“ k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nur etwas, wasm<strong>an</strong> hat. So sagte der Apostel auch, als ervon den Verirrungen im Glauben sprach:„Sie vertauschten <strong>die</strong> Wahrheit Gottes mitder Lüge.“ Von den Männern bringt er dasselbe<strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er sagt: „Sie gabenden naturgemäßen Umg<strong>an</strong>g mit demWeibe auf.“ Wie den Weibern, so nimmt derApostel auch den Männern jede Entschuldigung.Er klagt sie nämlich <strong>an</strong>, nicht daß sieeinen Genuß hatten, ihn aber aufgaben undauf einen <strong>an</strong>dern kamen, sondern daß sie dennaturgemäßen Gesc<strong>hl</strong>echtsgenuß verschmähtenund dem widernatürlichen nac<strong>hl</strong>iefen.D<strong>an</strong>n ist ja auch das, was gegen <strong>die</strong> Natur ist,immer mit mehr Schwierigkeiten verbundenund weniger <strong>an</strong>genehm; sie konnten daherauch nicht geltend machen, sie hätteneben einen Genuß haben wollen. Der richtigeGenuß ist ja ger<strong>ad</strong>e der naturgemäße. Aberwenn Gott einmal aufgegeben ist, d<strong>an</strong>n stehteben bald alles auf dem Kopfe. Darin lag ger<strong>ad</strong>eder Grund, daß nicht bloß ihre Glaubenslehrehöllisch war, sondern auch ihr Lebenteuflisch. Oben, wo der Apostel von denGlaubenslehren sprach, zog er das Weltallher<strong>an</strong> und <strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>iche Vernunft. Er sagte,vermöge der ihnen von Gott verliehenenErkenntnisgabe hätten sie sich g<strong>an</strong>z gutdurch den Anblick der Schöpfung <strong>zum</strong>Schöpfer können führen lassen; weil sie esaber nicht wollten, so seien sie unentschuldbar.Hier setzt er <strong>an</strong> <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong> Weltallsden naturgemäßen Genuß, den sie mit mehrBehagen g<strong>an</strong>z unbedenklich und ohneSch<strong>an</strong>de hätten haben können. Sie wolltenaber nicht; darum sind sie jeder Entschuldigungbar und Frevler gegen <strong>die</strong> Natur. DasSch<strong>an</strong>dvollste dabei ist aber, daß auch Weiber<strong>die</strong>sen Gesc<strong>hl</strong>echtsverkehr suchten, <strong>die</strong>doch mehr Scham hätten haben sollen als <strong>die</strong>Männer. Bewunderungswert ist auch hierwieder <strong>die</strong> Besonnenheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wie er,


34vor zwei sich entgegenstehende Aufgabengestellt, beide g<strong>an</strong>z vortrefflich zu lösen versteht.Er wollte sich nämlich zart ausdrückenund doch auch den Hörer etwas uns<strong>an</strong>ft <strong>an</strong>fassen.Bei<strong>des</strong> zugleich geht nun nicht, sonderneins steht dem <strong>an</strong>dern im Wege. Drücktm<strong>an</strong> sich zart aus, so k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> den Zuhörernicht scharf <strong>an</strong>lassen; will m<strong>an</strong> ihm aber <strong>die</strong>Meinung sagen, d<strong>an</strong>n muß m<strong>an</strong> auch dasKind beim rechten Namen nennen. Dieseweise und heilige Seele verst<strong>an</strong>d es nun aber,bei<strong>des</strong> g<strong>an</strong>z vortrefflich ins Werk zu setzen.D<strong>ad</strong>urch, daß <strong>Paulus</strong> das Wort „Natur“ einfügt,vergrößert er einerseits <strong>die</strong> Anklage,erzielt aber <strong>an</strong>dererseits eine zarte Ausdrucksweise,indem er <strong>die</strong>ses Wort wie alsHülle benützt.Nachdem der Apostel zuerst <strong>die</strong> Weiberscharf <strong>an</strong>gelassen hat, wendet er sich zu denMännern, indem er sagt: „Ebenso gaben <strong>die</strong>Männer den naturgemäßen Umg<strong>an</strong>g mit denWeibern auf.“ Das ist ja fürwahr ein Bild <strong>des</strong>äußersten Verderbens, wenn beide Gesc<strong>hl</strong>echtervon Fäulnis zerfressen sind, wennM<strong>an</strong>n und Weib gegenein<strong>an</strong>der wie Feindeh<strong>an</strong>deln, während doch der M<strong>an</strong>n der Lehrer <strong>des</strong> Weibes und das Weib <strong>die</strong>Gehilfin <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes sein soll. Beachte hier,wie treffend der Apostel <strong>die</strong> Ausdrückewä<strong>hl</strong>t. Er sagt nicht: „sie liebten ein<strong>an</strong>der“oder „sie begehrten ein<strong>an</strong>der“, sondern: „sieentbr<strong>an</strong>nten in Gier gegenein<strong>an</strong>der“. Siehstdu, wie da alles überschäumende Gier ist, <strong>die</strong>sich nicht in ihren Grenzen zu halten vermag?Denn jeder Trieb, der einmal <strong>die</strong> ihmvon Gott gesetzten Grenzen überspringt,geht nach Absonderlichkeiten und Widernatürlichkeiten.So kommt es m<strong>an</strong>chmal vor,daß Leute <strong>die</strong> Lust nach Speise verlieren unddafür Erde und Steinchen versc<strong>hl</strong>ingen, oder<strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> von heftigem Durst ergriffenwerden, sich nach Pfütze sehnen. So entbr<strong>an</strong>ntenauch jene Heiden zu <strong>die</strong>ser unnatürlichenLiebe. Fragst du aber, woher <strong>die</strong>seÜbersp<strong>an</strong>ntheit der sinnlichen Begierde kam,so ist <strong>die</strong> Antwort: Von ihrer Gottverlassenheit.Und woher ihre Gottverlassenheit? Vonder Übertretung <strong>des</strong> Gesetzes, wodurch sieihn zuerst verlassen hatten.„Männer verübten Schändlichkeit mit Männern.“2.Glaube nicht, will der Apostel sagen, ihreKr<strong>an</strong>kheit sei ein bloßes Begehren gewesen,wenn du hörst, daß sie „entbr<strong>an</strong>nten“. Dieweitere Folge ihrer Schwachherzigkeit wares, daß sie auch ihre Begierlichkeit entflammte.Darum sagt der Apostel hier nicht wie<strong>an</strong>derswo: „sie wurden hingezogen“ oder„sie wurden übereilt“, sondern: „sie verübten“.Sie setzten <strong>die</strong> Sünde also in Form einerTat, ja nicht bloß einer Tat im allgemeinen,sondern einer solchen mit Wissen und Willen.Er sagt auch nicht „böse Lust“, sondernger<strong>ad</strong>ezu: „Schändlichkeit“. Sie schändetennämlich <strong>die</strong> Natur und traten <strong>die</strong> Gesetze mitFüßen. Sieh nun <strong>die</strong> große Verwirrung, <strong>die</strong>auf beiden Seiten einriß, das Oberste wurdezu unterst gekehrt, das Unterste zu oberst.Sich selbst und ein<strong>an</strong>der gegenseitig zu Feindengeworden, beg<strong>an</strong>nen sie mitein<strong>an</strong>dereinen unglückseligen Krieg, vielverzweigtund wechselreich, der mehr gegen das (Natur-)Gesetz verstieß als jeder <strong>an</strong>dere Bürgerkrieg.Sie führten ihn in vier verschiedenenFormen, <strong>die</strong> alle leer und ungesetzlich waren.Dieser Krieg war in der Tat nichtbloß zweifach und dreifach, sondern sogarvierfach. Schau <strong>an</strong>! Ich sage: M<strong>an</strong>n und Weibsollten eins sein. Heißt es ja: „Sie werdenzwei sein in einem Fleisch“ 69 . Das bewirkteder Trieb nach (gesc<strong>hl</strong>echtlichem) Verkehr; erverb<strong>an</strong>d <strong>die</strong> beiden Gesc<strong>hl</strong>echter mitein<strong>an</strong>der.Diesen natürlichen Trieb nun hob derTeufel auf, indem er ihm eine <strong>an</strong>dere Richtunggab. Er trennte <strong>die</strong> Gesc<strong>hl</strong>echter von-69 Gen. 2, 24.


ein<strong>an</strong>der, indem er dem Gesc<strong>hl</strong>echtstrieb eine<strong>an</strong>dere Art von Befriedigung bot, und bewirkte,daß aus einem (Fleische) zwei Teilewurden, im Gegensatz zu Gottes Gesetz.Denn <strong>die</strong>ses spricht: „Sie werden zwei sein ineinem Fleisch“; der Teufel dagegen hat daseine in zwei geteilt. Sieh da <strong>die</strong> eine Form <strong>des</strong>Krieges! Weiter stachelte er beide Teile sowo<strong>hl</strong>gegen sich selbst wie auch gegenein<strong>an</strong>der<strong>zum</strong> Kriege auf. Die Weiber begingenFrevel gegen Weiber, nicht bloß gegen Männer,<strong>die</strong> Männer wieder st<strong>an</strong>den gegenein<strong>an</strong>derauf und gegen das Weibergesc<strong>hl</strong>echt wiein einem nächtlichen Kampfe. Siehst du d<strong>ad</strong>en zweiten und dritten Krieg, ja den viertenund fünften? Es kommt nämlich noch ein<strong>an</strong>derer dazu. Außerdem sündigten sie nämlichauch gegen <strong>die</strong> Natur selbst. Weil derTeufel wußte, daß der (natürliche) Trieb <strong>die</strong>Gesc<strong>hl</strong>echter zusammenführt, darum bemühteer sich, <strong>die</strong>ses B<strong>an</strong>d zu zerreißen. Auf<strong>die</strong>se Weise wird nicht bloß aus M<strong>an</strong>gel <strong>an</strong>Nachkommenschaft das mensc<strong>hl</strong>iche Gesc<strong>hl</strong>echtnaturgemäß <strong>zum</strong> Aussterben gebracht,sondern auch d<strong>ad</strong>urch, daß <strong>die</strong> beidenGesc<strong>hl</strong>echter gegenein<strong>an</strong>der <strong>zum</strong> Kampfeaufgestachelt werden.„Und empfingen <strong>die</strong> Vergeltung für ihre Verirrung,wie sie sich gebührte, <strong>an</strong> sich selbst“. —Sieh, wie der Apostel wieder auf <strong>die</strong> Quelle<strong>des</strong> Übels zurückkommt, <strong>die</strong> Gottlosigkeitnämlich, <strong>die</strong> in den Glaubenslehren der Heidenlag! Er nennt (<strong>die</strong> gesc<strong>hl</strong>echtlichen Verirrungen)ger<strong>ad</strong>ezu <strong>die</strong> „Vergeltung“ für jeneSünde. Hätte er von den Höllenstrafen gesprochen,so hätte er bei den Gottlosen unddenen, <strong>die</strong> <strong>an</strong> einer solchen LebensführungGefallen f<strong>an</strong>den, kaum Glauben gefunden,ja, er wäre wo<strong>hl</strong> gar verlacht worden.Darum zeigt er, wie in einem solchenGenusse selbst <strong>die</strong> Strafe liege. Wenn sieselbst es nicht merken, sondern sich nochwo<strong>hl</strong> fü<strong>hl</strong>en dabei, mag dich das nicht wundern.Tun ja auch Wahnsinnige und Gehirnkr<strong>an</strong>kem<strong>an</strong>chmal sich selbst wehe und treibenDinge <strong>zum</strong> Erbarmen; <strong>an</strong>dere beklagen35sie darob, sie selbst aber lachen dazu undhaben ihre helle Freude <strong>an</strong> ihren tollenStücklein. Wir sagen <strong>des</strong>wegen nicht, daß sieum so unglücklicher dar<strong>an</strong> sind, je wenigersie von ihrem Zust<strong>an</strong>d wissen. Denn nichtauf das Urteil der Kr<strong>an</strong>ken kommt es <strong>an</strong>,sondern auf das der Gesunden. Bei den Heidenallerdings schien <strong>die</strong>ser Brauch [<strong>die</strong> Päderastie]uralt, ja Gesetz zu sein. Hatte docheiner ihrer Gesetzgeber 70 den Sklaven verboten,sich trocken zu salben und Knabenliebezu treiben, und <strong>die</strong>ses Vorrecht, oder vielmehr<strong>die</strong>se Schändlichkeit, nur den Freieneingeräumt. So hielt denn das hochweiseVolk der Athener und sein großer Solon <strong>die</strong>senBrauch nicht für eine Schändlichkeit,sondern für vornehm, zu gut für den St<strong>an</strong>dder Sklaven und nur für Freie passend. Auchviele <strong>an</strong>dere Bücher von Weltweisen k<strong>an</strong>nm<strong>an</strong> finden, <strong>die</strong> <strong>an</strong>gesteckt sind von <strong>die</strong>serKr<strong>an</strong>kheit. Deswegen werden wir aber <strong>die</strong>senBrauch doch nicht ordnungsgemäß nennen,sondern wir halten <strong>die</strong>, welche ein solchesGesetz <strong>an</strong>nahmen, für erbarmungswürdigeund höchst beweinenswerte Menschen.Denn sie lassen <strong>an</strong> sich dasselbe geschehenwie Huren, ja noch etwas viel Traurigeres.Denn der gesc<strong>hl</strong>echtliche Verkehr mit <strong>die</strong>senist zwar auch unerlaubt, aber doch naturgemäß;<strong>die</strong>ser <strong>an</strong>dere dagegen ist gegen dasGesetz und gegen <strong>die</strong> Natur. Wenn es garkeine Hölle gäbe und keine Strafe dafürdrohte, so läge schon in <strong>die</strong>ser Sünde selbst<strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>immste Strafe. Wenn du sagst, siefü<strong>hl</strong>en sich wo<strong>hl</strong> dabei, so sprichst du ebendamit eine Verschärfung der Strafe aus.Wenn ich jem<strong>an</strong>den nackt herumlaufen sehe,den Körper g<strong>an</strong>z mit Kot beschmiert, und ichsähe, daß er sich nicht im min<strong>des</strong>tenzu verbergen sucht, sondern sich noch etwasdarauf einbildet, so würde ich nichts Gutesfür ihn darin sehen, sondern ich würde ihnum so mehr bedauern, weil er seine Sch<strong>an</strong>de70 Solon, wie Plutarch in <strong>des</strong>sen Lebensbeschreibung berichtet: „Sichtrocken salben“ ist gleichbedeutend „wettkämpfen“, wozu <strong>die</strong> Trockensalbung<strong>die</strong> Vorbereitung war.


nicht einmal fü<strong>hl</strong>t. Erlaubt mir noch ein <strong>an</strong>deresBeispiel, um das Frevelhafte dar<strong>an</strong>noch besser aufzuzeigen. Eine Jungfrau würdedazu verurteilt, mit Tieren eingesperrtsich von ihnen begatten zu lassen, und siewürde mit der Zeit <strong>an</strong> <strong>die</strong>sem Gesc<strong>hl</strong>echtsverkehrGefallen finden; wäre sie nicht um sobedauernswerter, weil sie eben <strong>des</strong>wegen,daß sie ihren sc<strong>hl</strong>immen Zust<strong>an</strong>d nicht fü<strong>hl</strong>t,nicht von ihm befreit werden k<strong>an</strong>n? Das istdoch jedem einleuchtend. Ist nun <strong>die</strong>ser Zust<strong>an</strong>drecht sc<strong>hl</strong>imm, so ist es der in Re<strong>des</strong>tehende nicht weniger. Denn von den eigenenLeuten schimpflich beh<strong>an</strong>delt zu werden,ist trauriger als von Fremden. SolcheKnabenschänder, behaupte ich, sind sc<strong>hl</strong>immerals Menschenmörder; denn es ist besser,zu sterben, als so geschändet zu leben. DerMörder trennt <strong>die</strong> Seele vom Leibe; ein solcheraber stürzt <strong>die</strong> Seele mitsamt dem Leibeins Verderben. Welche Sünde immer du mirnennen magst, du k<strong>an</strong>nst mir keine nennen,<strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Widernatürlichkeit gleich käme.Wenn <strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>ken ein Gefü<strong>hl</strong> dafür hätten,was ihnen geschieht, sie würden tausendmallieber sterben als so etwas erdulden.3.Nein, nein, es gibt nichts, was sc<strong>hl</strong>immer wäreals <strong>die</strong>ser Frevel. Wenn der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> vonder Hurerei sagt: „Jede Sünde, <strong>die</strong> etwa einMensch begeht, ist außerhalb seines Leibes;der Hurer aber sündigt gegen seinen eigenenLeib“ 71 , was sollen wir erst von <strong>die</strong>semWahnsinn sagen, der so viel sc<strong>hl</strong>immer ist als<strong>die</strong> Hurerei, daß es sich gar nicht ausdrückenläßt? Zu einem solchen muß ich nicht bloßsagen: Du bist ein Weib geworden, sondernauch: Du hast dein M<strong>an</strong>nsein verloren; dubist nicht umgew<strong>an</strong>delt worden in eine Frau,du bist aber auch nicht geblieben, was du71 1 Kor. 6, 18.36warst, sondern du bist ein Verräter <strong>an</strong> beidenGesc<strong>hl</strong>echtern geworden und ver<strong>die</strong>nst vonMännern und Frauen davongejagt und mitSteinen beworfen zu werden, weil du beideGe- sc<strong>hl</strong>echter geschändet hast. Damitdu begreifst, welch große Sch<strong>an</strong>de darinliegt, so sag’ mir, wür<strong>des</strong>t du nicht vor einemdavonlaufen als vor einem Verderber, deretwa zu dir käme und dir kundtäte, er wolledich aus einem Menschen zu einem Hundemachen? Aber sieh, nicht zu einem Hundehast du dich aus einem Menschen selbst gemacht,sondern zu einem noch viel verächtlicherenWesen. Ein Hund ist doch immerhinzu etwas gut, eine solche M<strong>an</strong>neshure aberzu nichts. Was würde m<strong>an</strong> dazu sagen, wenneiner drohte, er werde machen, daß MännerKinder gebären und entbinden? Würden wirdarüber nicht in Zorn geraten? Und dochsieh, Männer, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>se wahnsinnige Verirrunggeraten sind, tun sich selbst noch etwasviel Ärgeres <strong>an</strong>. Es ist nicht dasselbe, derg<strong>an</strong>zen Natur nach in ein Weib verw<strong>an</strong>deltzu werden oder ein Weib zu werden unddabei doch ein M<strong>an</strong>n zu bleiben, eigentlichvielmehr weder <strong>die</strong>s noch jenes. Willst du dirnoch durch eine <strong>an</strong>dere Erwägung einenrichtigen Begriff machen von der alles übersteigendenGröße <strong>die</strong>ser Sünde, so frag’ dich,warum wo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Gesetzgeber solche bestrafen,welche <strong>an</strong>dere entm<strong>an</strong>nen. Du wirst sehen,aus keinem <strong>an</strong>dern Grunde, als weil solche<strong>die</strong> Natur verstümmeln. Und doch tunsie noch kein so großes Unrecht; denn solcheVerschnittene bleiben ja doch oft auch nachihrer Verstümmelung noch brauchbare Menschen.Es gibt aber kein nichtsnutzigeres Geschöpfals einen solchen zur Hure gewordenenM<strong>an</strong>n. Denn nicht bloß <strong>die</strong> Seele, sondernauch der Leib eines M<strong>an</strong>nes, der sich soetwas hat <strong>an</strong>tun lassen, ist entehrt, und ersollte überall ausgestoßen werden. WelcheHöllenstrafen werden groß genug sein fürsolche Menschen? Solltest du aber lächeln,wenn du von Höllenstrafen hörst und <strong>an</strong> jenesFeuer nicht glauben, so denk <strong>an</strong> Sodoma!


Ja, ja, da sehen wir ein Bild der Hölle schonim gegenwärtigen Leben. Weil nämlich viele<strong>an</strong> das, was nach der Auferstehung kommt,nicht glauben wollen, wenn sie jetzt von einemunauslösc<strong>hl</strong>ichen Feuer hören, darumhat sie Gott durch ein Beispiel aus dem Diesseitsbelehrt. Es ist <strong>die</strong>s der Br<strong>an</strong>d und derFeuerregen von Sodoma. Davon wissen <strong>die</strong>zu erzä<strong>hl</strong>en, <strong>die</strong> dort gewesen sind und <strong>die</strong>Spuren jenes göttlichen Strafgerichtesund das Vernichtungswerk der vom Himmelhernieder gefahrenen Blitze gesehen haben 72 .Bedenke wie groß <strong>die</strong> Sünde sein muß, <strong>die</strong>das höllische Feuer vor der Zeit in Erscheinungtreten läßt! Weil viele sich um bloßeWorte nicht kümmern, darum hat ihnen Gottdurch Taten ein Bild der Hölle in einer g<strong>an</strong>zeigenen Art vor Augen geführt. Jener Regenwar ein Widerspruch in sich selbst [Feuerund Regen], wie auch der Gesc<strong>hl</strong>echtsverkehrder Sodomiten ein Widerspruch gegen<strong>die</strong> Natur war. Jener Regen überschwemmtedas L<strong>an</strong>d wie <strong>die</strong> Gier ihre Seelen. Er hatte<strong>die</strong> gegenteilige Wirkung von einem gewöhnlichenRegen; er regte den Schoß derErde nicht nur nicht <strong>an</strong>, Früchte hervorzubringen,sondern machte sie unbrauchbar zurAufnahme von Samen. So war auch der Gesc<strong>hl</strong>echtsverkehrder Männer von Sodoma: ermachte den Körper noch unbrauchbarer. Wasgibt es nur Fluchwürdigeres als eine solchemännliche Hure, was Niederträchtigeres? O,der Tollheit, o, der Torheit! Woher ist nur<strong>die</strong>se Leidenschaft hereingekommen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>mensc<strong>hl</strong>iche Natur verwüstet wie ein Fein<strong>des</strong>heer(das L<strong>an</strong>d), ja noch um soviel ärger,als <strong>die</strong> Seele höher steht als der Leib! O ihr,<strong>die</strong> ihr unvernünftiger seid als <strong>die</strong> Tiere,schamloser als <strong>die</strong> Hunde! Denn bei denenkommt ein solcher Gesc<strong>hl</strong>echtsverkehr garnie vor; <strong>die</strong> Natur kennt ihre eigenen Grenzen.Ihr aber würdigt unser Gesc<strong>hl</strong>echt bisunter <strong>die</strong> Tiere herab. — Woher kommennun aber <strong>die</strong>se Übel? Von der Genußsucht,72 Vgl. Josophus Flavius, De bello J<strong>ad</strong>aico 1. IV, c. 8.37von der Nichtkenntnis Gottes. Denn hat m<strong>an</strong>einmal <strong>die</strong> Furcht Gottes abgelehnt, d<strong>an</strong>n istes auch um alles <strong>an</strong>dere Gute geschehen.4.Damit uns das nun nicht widerfahre, darumlaßt uns <strong>die</strong> Furcht Gottes immer recht lebhaftvor Augen haben! Denn nichts, garnichts ist dem Menschen so verderblich, alswenn er sich von <strong>die</strong>sem Anker losreißt, wieihm <strong>an</strong>dererseits auch nichts so zur Rettung<strong>die</strong>nt, als wenn er beständig seinen Blickdarauf gerichtet hält. Wenn wir schon <strong>an</strong>gesichtsvon Menschen uns vor Sündenmehr hüten, wenn wir schon in Gegenwartbesserer Sklaven uns scheuen, etwas Unstatthafteszu tun, bedenke, welche Sicherunges uns geben muß, wenn wir Gott vorAugen haben! Nie wird uns der Teufel <strong>an</strong>gehen,wenn wir uns so halten, weil ja sein Bemühendoch vergeblich wäre. Sieht er unsdagegen draußen herumschweifen und ohneZügel einhergehen, d<strong>an</strong>n wird er uns baldg<strong>an</strong>z von der Herde abschneiden, da wir ihmja selbst <strong>die</strong> H<strong>an</strong>dhabe dazu bieten. Wieleichtsinnigen Sklaven, <strong>die</strong> notwendige Besorgungen,derentwegen sie von ihren Herrenhinausgeschickt worden sind, außer achtlassen und zwecklos und müßig mit Leutenherumlungern, <strong>die</strong> sie zufällig treffen, und so<strong>die</strong> Zeit vergeuden, so wird es auch uns ergehen,wenn wir von den Geboten Gottesabweichen. Wir stehen d<strong>an</strong>n nämlich auchherum und bewundern Reichtum, Körperschönheitund <strong>an</strong>dere Dinge, <strong>die</strong> uns nichts<strong>an</strong>gehen, ähnlich wie jene Sklaven denKunststücklein von armen Gauklern zuschauen.Wenn sie d<strong>an</strong>n zu spät nach Hausekommen, erwartet sie harte Züchtigung.M<strong>an</strong>che von ihnen kommen g<strong>an</strong>z von ihremWege ab, indem sie solchen Gauklern nac<strong>hl</strong>aufen.Wir wollen nun aber nicht so h<strong>an</strong>deln;denn wir haben ja viele und dringende


Geschäfte aufbekommen. Wenn wir unbekümmertum <strong>die</strong>se solche sinnlose Dingebegaffen und damit unsere g<strong>an</strong>ze Zeit unnützvergeuden, so werden wir dafür auchschwere Strafe erleiden. Nun, und willst dudich wirklich einmal unterhalten, so hast duja genug <strong>an</strong>dere Dinge, <strong>die</strong> du bewundernmagst und nach denen du jederzeit Verl<strong>an</strong>genhaben darfst, Dinge, <strong>die</strong> nicht lächerlichsind, sondern Bewunderung und Lob vollaufver<strong>die</strong>nen. Wer Lächerlichkeiten <strong>an</strong>staunt,der ist oft auch darnach und sc<strong>hl</strong>immer alsder Possenreißer. Damit dich ein solcherVorwurf nicht treffe, steh sogleich ab vonsolchem Gehaben!Was stehst du z. B., sag’ mir nur, mit offenemMunde vor dem Reichtum und sehnst dichdarnach? Was siehst du dar<strong>an</strong> so Bewundernswertes,das deine Blicke fesseln könnte?Die goldbeschirrten Pferde? <strong>die</strong> Sklaven,fremdländische und verschnittene? <strong>die</strong>Prachtgewänder? <strong>die</strong> verweic<strong>hl</strong>ichte Seele,<strong>die</strong> darin steckt? Den stolzen Blick ?das Umschwärmtsein? den Trubel ? Stehtdenn das alles dafür, daß m<strong>an</strong> es bewundert?Was haben denn eigentlich solche Leute vorausvor den armen Teufeln, <strong>die</strong> auf demMarkte t<strong>an</strong>zen und pfeifen? Hungrige Bettlersind sie auch — <strong>an</strong> Tugend. Einen T<strong>an</strong>z führensie auf, der noch viel lächerlicher ist, indemsie sich nämlich herumtreiben bald <strong>an</strong>reichbesetzten Tafeln, bald in den Gemächernliebeslustiger Weiber, bald in einemSchwarm von Schmeic<strong>hl</strong>ern und Schmarotzern.Wenn sie dabei goldenen Schmuck <strong>an</strong>sich tragen, so sind sie um so bemitleidenswerter,weil sie da gar etwas <strong>zum</strong> Gegenst<strong>an</strong>dihrer Sorge machen, was nicht sie selbstsind. Schau nicht auf das äußere Gew<strong>an</strong>d,sondern decke ihre Seele auf und schau, obsie nicht aus tausend Wunden blutet, ob sienicht in Lumpen gehüllt, ob sie nicht einsamund verlassen ist. Was nützt sie da ihrwahnsinniges Streben nach Dingen, <strong>die</strong> außerhalbihres Ich liegen? Es ist viel besser, einBettler zu sein und ein tugendhaftes Leben38zu führen, als ein König zu sein mit Lastertaten.Denn der Bettler genießt ein volles inneresGlück; seine äußere Not kommt ihm garnicht <strong>zum</strong> Bewußtsein wegen seines innerenReichtums. Ein König dagegen, der seinGlück in Dingen sucht, <strong>die</strong> nicht mit seinemIch in Beziehung stehen, empfindet in seinem<strong>In</strong>nern <strong>die</strong> größte Pein, in seiner Seele, in seinenGed<strong>an</strong>ken, in seinem Gewissen, <strong>die</strong> dochseine steten Begleiter in <strong>die</strong>sem Leben sind.<strong>In</strong> <strong>die</strong>ser Überzeugung laßt uns also <strong>die</strong>goldgewirkten Kleider beiseite legen, laßtuns vielmehr nach Tugend streben und derSeelenwonne, <strong>die</strong> ihr folgt! So werden wir imJenseits wie im Diesseits wie bei einem Festma<strong>hl</strong>schmausen durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebeunseres Herrn Jesus Christus, mit welchemdem Vater und dem Hl. Geiste sei Ehre,Ruhm und Herrlichkeit bis in alle Ewigkeit.Amen.SECHSTE HOMILIE. Kap. 1, V. 28—31und Kap. II, V. 1—16.1. Kap. 1, V. 28—31 und Kap. II, V. 1—16.V. 28: „Und wie sie ihrerseits gar keinen Wertdarauf legten, eine rechte Erkenntnis von Gott zubesitzen, so überließ sie Gott seinerseits ihremverkehrten Sinn, das Ungehörige zu tun.“Damit es nicht den Anschein bekomme, alssei <strong>die</strong> l<strong>an</strong>ge Strafrede gegen <strong>die</strong> Knabenschändungauf <strong>die</strong> (christlichen) <strong>Römer</strong> gemünztgewesen, darum geht der Apostel imfolgenden auf <strong>an</strong>dere Arten von Sünden ü-ber; er bringt damit zugleich auch <strong>die</strong> Redeauf <strong>an</strong>dere Leute. Auch sonst führt der Apostel,wenn er zu den Gläubigen von Sündenspricht und sie als zu meidende hinstellenwill, immer <strong>die</strong> Heiden als Beispiel <strong>an</strong>, so z.B. wenn er sagt: „Nicht in leidenschaftlicherGier wie <strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong> von Gott nichts wis-


sen“ 73 , und wieder: „Damit ihr nicht betrübtseid wie <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern, <strong>die</strong> keine Hoffnung haben“74 . <strong>In</strong> derselben Weise bringt er auch hier<strong>zum</strong> Ausdruck, daß es sich um Sünden derHeiden h<strong>an</strong>dle und spricht ihnen jede Entschuldigungab; denn nicht aus Unwissenheit,sagt er, gehen jene Lastertaten hervor,sondern aus gewollter Absicht. Darum sagter nicht: „und wie sie Gott nicht erk<strong>an</strong>nten“,sondern: „Und wie sie keinen Wert darauflegten, von Gott eine rechte Erkenntnis zubesitzen.“ Das Wesen der Sünde, will er sagen,liege mehr in einem verkehrten Urteilund in Eigensinn als in einem Hingerissenwerden.Er bringt damit <strong>zum</strong> Ausdruck, daß<strong>die</strong> Sünden nicht, wie m<strong>an</strong>che Irrlehrer behaupten,im Fleische ihren Sitz haben, sondernim Geiste, im Verl<strong>an</strong>gen nach dem Bösen;da liege <strong>die</strong> Quelle aller Übel. Denn isteinmal der Geist irre geleitet, d<strong>an</strong>n kommtauch alles <strong>an</strong>dere aus der Bahn und gehtdrunter und drüber, wie wenn der Wagenlenkernichts wert ist. V 29: „Sie warenvoll jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Habsucht,Sc<strong>hl</strong>echtigkeit“Beachte <strong>die</strong> Reihenfolge! Sie waren voll, sagter, „jeglicher“ Ungerechtigkeit. Er nennt zuerst<strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>echtigkeit im allgemeinen undführt d<strong>an</strong>n einzelne Arten derselben <strong>an</strong>; dabeihäuft er <strong>die</strong> Namen.„Voll Neid und Mord“Der letztere kommt vom ersteren, wie es sichin der Geschichte von Abel und Joseph zeigt.D<strong>an</strong>n fährt er fort:„Voll Streit, Heimtücke, Gemeinheit“V. 30: „Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter,Frevler“Der Apostel zä<strong>hl</strong>t da unter den VorwürfenDinge auf, <strong>die</strong> m<strong>an</strong>chen bel<strong>an</strong>glos scheinenkönnten; d<strong>an</strong>n steigert er wieder <strong>die</strong> Anklageund steigt zur höchsten Spitze der Sündenempor, wenn er sagt: „Pra<strong>hl</strong>hänse“. Dennsc<strong>hl</strong>immer als das Sündigen selbst ist es, sichnoch etwas darauf einzubilden. Darum73 1 Thess. 4, 6.74 Ebd. 13.39macht er den Korinthern denselben Vorwurf,indem er sagt: „Und da seid ihr noch eingebildet“75 . Denn wenn jem<strong>an</strong>d schon allesVer<strong>die</strong>nst verliert, der auf ein gutes Werkeingebildet ist, welche Strafe wird erst derver<strong>die</strong>nen, welcher sich gar auf seine Sündenetwas einbildet? Ein solcher k<strong>an</strong>n ja gar nichtin sich gehen. D<strong>an</strong>n heißt es weiter:„Erfinderisch im Bösen“— Damit drückt der Apostel aus, daß sie sichnicht genügen ließen <strong>an</strong> dem, was (<strong>an</strong> Bösem)bereits da war, sondern daß sie nochNeues dazu erf<strong>an</strong>den. Das zeigt wieder, daßsie mit Absicht und Vorbedacht sündigten,nicht hingerissen und überwältigt (von derLeidenschaft). Nachdem nun der Apostel dasBöse im einzelnen <strong>an</strong>geführt und auch gezeigthat, daß sie auch gegen das natürlicheGesetz verstoßen haben — „sie waren ungehorsamgegen <strong>die</strong> Eltern“ — kommt er imfolgenden auf <strong>die</strong> Wurzel so großen Verderbens,indem er sie „lieblos und treulos“nennt. Auf <strong>die</strong>selbe Ursache <strong>des</strong> Bösenweist auch Christus hin, wenn er spricht:„Wenn <strong>die</strong> Sünde überh<strong>an</strong>d nimmt, wird <strong>die</strong>Liebe gar vieler erkalten“ 76 . Dasselbe sagtauch <strong>Paulus</strong> hier. Er nennt sie:V. 31: „Treulos, lieblos, rücksichtslos, erbarmungslos“.und zeigt damit <strong>an</strong>, daß sie auchdas Geschenk der Natur preisgegeben hatten.Wir haben nämlich von Natur aus eine gewisseZuneigung zuein<strong>an</strong>der, wie eine solcheauch <strong>die</strong> Tiere besitzen. Denn „je<strong>des</strong> Wesen“,heißt es, „liebt seinesgleichen und derMensch seinen Nächsten“ 77 . Aber <strong>die</strong> Menschenwaren wilder als <strong>die</strong> Tiere.So hat nun der Apostel <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheit aufgezeigt,<strong>die</strong> als Folge sc<strong>hl</strong>echter Glaubenslehren<strong>die</strong> Welt befallen hat, und klargelegt, daß <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Kr<strong>an</strong>kheit herkomme von der Sorglosigkeitder Kr<strong>an</strong>ken selbst. Im folgenden legter dar, wie er es bei den Glaubenslehren ge-75 1 Kor. 5, 2.76 Matth. 24, 12.77 Sir. 13, 19.


macht hat, daß sie auch darin unentschuldbarsind. Er sagt:V. 32: „Sie kennen recht wo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Forderung derGerechtigkeit Gottes, daß <strong>die</strong>, welche so etwastun, den Tod ver<strong>die</strong>nen, und doch tun sie solchesnicht bloß, sondern sie zollen noch denen Beifall,<strong>die</strong> es tun“Zwei Einwände hat hier der Apostel im Sinneund be<strong>an</strong>twortet sie beide g<strong>an</strong>z sc<strong>hl</strong>agend.Du sagst, meint er, du habest nicht gewußt,was zu tun sei? Nun, hast du das wirklichnicht gewußt, so liegt <strong>die</strong> Schuld bei dir; duhast Gott, der es dir zu wissen tun wollte,den Rücken gekehrt. Übrigens habe ich dirsoeben durch vielerlei Gründe darget<strong>an</strong>, daßdu (das Gesetz Gottes) g<strong>an</strong>z wo<strong>hl</strong> kennst unddarum mit Wissen und Willen sündigst. Aberdu wirst von den Leidenschaften dazu hingerissen?Warum wirkst du aber d<strong>an</strong>n zurSünde mit und lobst sie? „Sie tun solchesnicht bloß“, heißt es, „sondern sie zollennoch denen Beifall, <strong>die</strong> es tun.“ Diesen zweitenEinw<strong>an</strong>d, der sc<strong>hl</strong>immer ist und unentschuldbar,hebt der Apostel besonders hervor,um ihn abzutun. Wer <strong>die</strong> Sündelobt, ist viel sc<strong>hl</strong>echter als der, welcher siebegeht. Das stellt also der Apostel zunächstfest und verstärkt im folgenden noch <strong>die</strong> Begründung,indem er so sagt:Kap. II, V. 1: „Darum bist du unentschuldbar, oMensch, jeder, der da richtet; denn worin du einen<strong>an</strong>dern richtest, darin verurteilst du dichselbst.“Das sagt er wo<strong>hl</strong> mit Bezug auf <strong>die</strong> (herrschende)Stellung, <strong>die</strong> damals Rom einnahm;<strong>die</strong>se St<strong>ad</strong>t hatte nämlich zu jener Zeit <strong>die</strong>Herrschaft über <strong>die</strong> Welt inne. Er will damitalso gesagt haben: „Du nimmst dir selbst <strong>die</strong>Entschuldigung, wer immer du sein magst:“Denn wenn du z. B. einen Ehebrecher verurteilstund du bist selbst ein solcher, d<strong>an</strong>n hastdu dir mit deinem Urteilsspruch dein eigenesUrteil gesprochen, wenn dich auch sonst garniem<strong>an</strong>d vor Gericht zieht.V.2: „Wir wissen nämlich recht gut, daß GottesUrteil über <strong>die</strong>, welche solches tun, der Wahrheitgemäß ist.“Damit nämlich nicht jem<strong>an</strong>d sage: Ich bin bisjetzt ohne Strafe davongekommen, will derApostel Furcht einflößen. Er sagt, daß es beiGott nicht so zugehe wie bei den Menschenhier auf Erden. Hier wird der eine bestraftund der <strong>an</strong>dere, der dasselbe get<strong>an</strong> hat,kommt davon. Bei Gott ist es aber nicht so.Daß da der Richter das Rechte kennt, sprichtder Apostel aus; woher er es kennt, fügt ernicht bei; es wäre überflüssig gewesen. Bezüglichder Gottlosigkeit legt er aber bei<strong>des</strong>dar: sowo<strong>hl</strong> daß der, welcher gottlos h<strong>an</strong>delt,Gott kennt, als auch, woher er ihn kennt,nämlich aus der Schöpfung. Weil <strong>die</strong>se Quellenicht allen bek<strong>an</strong>nt war, darum nennt ersie eigens. Hier aber übergeht er <strong>die</strong> Quelle(der Erkenntnis, <strong>die</strong> Gott selbst hat) mit Stillschweigen,weil sie allgemein bek<strong>an</strong>nt ist. —Wenn der Apostel sagt: „jeder, der da richtet“,spricht er nicht allein von den Berufsrichtern,sondern auch von Privatleuten undUntert<strong>an</strong>en.2.Alle Menschen richten nämlich <strong>die</strong> Fe<strong>hl</strong>enden,wenn sie auch nicht ger<strong>ad</strong>e einen Richterstu<strong>hl</strong>inne- haben und keineScharfrichter und keinen Halsblock; sie richtensie in ihren Gesprächen, bei ihren Zusammenkünftennach dem Richterspruch,den ihnen ihr Gewissen eingibt. Niem<strong>an</strong>dwird sich unterf<strong>an</strong>gen, zu sagen, daß ein E-hebrecher keine Strafe ver<strong>die</strong>nt. Aber nur<strong>an</strong>dere, sagt der Apostel, verurteilen sie,nicht sich selbst. Darum setzt er ihnen scharfzu, indem er sagt:V. 3: „Meinst du etwa, o Mensch, der du <strong>die</strong>richtest, welche solches tun, während du dasselbetust, du wer<strong>des</strong>t dem Gerichte Gottes entgehen?“40


Bisher hat der Apostel <strong>die</strong> Verschuldung dergesamten (heidnischen) Menschheit in Glaubenund Tun aufgezeigt, daß <strong>die</strong> Heiden,obwo<strong>hl</strong> sie begabt waren mit Verst<strong>an</strong>d und<strong>die</strong> Schöpfung als Führerin hatten, dochnicht bloß Gott den Rücken gekehrt, sondernsich sogar den Abbildern von Kriechtierenzugekehrt haben, daß sie <strong>die</strong> Tugend verachtetund dem natürlichen Triebe folgend sichdem Laster in <strong>die</strong> Arme geworfen haben, obzwar<strong>die</strong>s sogar gegen <strong>die</strong> Natur war. Nungeht er einen Schritt weiter und zeigt, daß<strong>die</strong>, welche solches tun, auch Strafe zu gewärtigenhaben. Auf eine Strafe hat er schonhingewiesen, als er von ihrem Tun sagte: „Sieempfingen <strong>die</strong> Vergeltung für ihre Verirrung,wie sie sich gebührte, <strong>an</strong> sich selbst.“ Da sieaber <strong>die</strong>se Strafe nicht achten, nennt er eine<strong>an</strong>dere, vor der sie sich sehr fürchteten. Erhat <strong>die</strong>selbe übrigens schon früher <strong>an</strong>gedeutet;denn wenn er sagt, daß das Urteil Gottesder Wahrheit gemäß ist, so will er damit auchnichts <strong>an</strong>deres gesagt haben. Er führt <strong>die</strong>senGed<strong>an</strong>ken aber noch weiter aus, indem erspricht: „Meinst du etwa, o Mensch, der du<strong>die</strong> richtest, welche solches tun, während dudasselbe tust, du wer<strong>des</strong>t dem Gerichte Gottesentgehen?“ Du bist dem Urteilsspruche,durch dich selbst gefällt, nicht entg<strong>an</strong>genund solltest dem Gottes entgehen? Wermöchte so etwas behaupten? Du hast dirselbst dein Urteil sprechen müssen; so großwar <strong>die</strong> Strenge <strong>die</strong>ses Gerichtshofes, daß dudeiner selbst nicht schonen konntest. Wievielmehr wird dasselbe nicht erst Gott tun müssen,der sündenlose, überaus gerechte Gott?Du hast dich selbst schuldig erken- nen müssen; Gott aber sollte dich freisprechenund loben? Wie hätte das einenSinn? Also ver<strong>die</strong>nst du eine größere Strafeals der, den du schuldig gesprochen hast;denn es ist nicht dasselbe, einfach eine Sündebegehen oder <strong>die</strong>selbe selbst wiederholen,nachdem m<strong>an</strong> sie <strong>an</strong> einem <strong>an</strong>dern gestrafthat. Siehst du, wie der Apostel <strong>die</strong> Anklagesteigert? Denn wenn du, sagt er, einen, der41einen geringen Fe<strong>hl</strong>er beg<strong>an</strong>gen hat, strafst,obwo<strong>hl</strong> du selbst dar<strong>an</strong> bist, <strong>die</strong> Sch<strong>an</strong>de (derSünde) auf dich zu l<strong>ad</strong>en, wie sollte nichtGott, bei dem <strong>die</strong> Sündensch<strong>an</strong>de ausgesc<strong>hl</strong>ossenist, dich strafen, der du in größerenStücken fe<strong>hl</strong>st, und dich nicht verurteilen,nachdem du schon verurteilt bist durch deineeigene Vernunft? Wen<strong>des</strong>t du aber ein, daßdu dir zwar deiner Strafwürdigkeit bewußtbist, daß du dir aber mit Rücksicht auf GottesL<strong>an</strong>gmut nichts daraus machst und straflosauszugehen hoffst, weil du nicht gleich gestraftwirst: so solltest du ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegenb<strong>an</strong>gen und beben. Denn nicht dazu erfolgtder Aufschub der Strafe, daß du keine Strafeerlei<strong>des</strong>t, sondern dazu, daß dich eine vielschwerere trifft, wenn du, was Gott verhüte,ungebessert bleibst. Darum fährt der Apostelfort:V. 4: „Oder mißachtest du den Reichtum seinerGüte, seiner Nachsicht und L<strong>an</strong>gmut, und weißtdoch, daß Gottes Güte dich zur Buße leitet?“<strong>In</strong>dem der Apostel <strong>die</strong> L<strong>an</strong>gmut Gottes preistund zeigt, daß <strong>die</strong>, welche auf sie bauen, dengrößten Gewinn aus ihr ziehen können —der Gewinn ist nämlich der, daß sie <strong>die</strong> Sünderzur Buße zieht —, vermehrt er <strong>die</strong> Furcht.Denn so wie Gottes L<strong>an</strong>gmut denen, <strong>die</strong> siesich, wie es sein soll, zunutze machen, <strong>die</strong>Ursache zu ihrem Heile wird, so bringt siedenen, <strong>die</strong> sie mißachten, größere Strafe. Esist eine oft gehörte Rede; Gott ist gütig undl<strong>an</strong>gmütig; er will keine Strafe. Wenn du dasnachsprichst, sagt der Apostel, so sprichst dunur eine Erhöhung deiner Strafe aus. SeineGüte zeigt Gott <strong>des</strong>wegen, damit du von denSünden ablassen, nicht damit du ihrer nochmehr begehen sollst. Läßt du nicht ab vonihnen, so wird <strong>die</strong> Strafe um so furchtbarersein. M<strong>an</strong> darf daher nicht sündigen, weilGott l<strong>an</strong>gmütig ist, und darf nicht<strong>des</strong>sen gute Absicht <strong>zum</strong> Anlaß der Und<strong>an</strong>kbarkeitmachen. Ist er auch l<strong>an</strong>gmütig,so straft er doch gewiß. Woraus geht dashervor? Aus den folgenden Worten. Ist <strong>des</strong>Bösen viel geworden und haben <strong>die</strong> Bösen


noch keine Strafe erhalten, so werden sie siesicher erst erhalten. Denn wenn Menschen soetwas nicht übersehen, wie wird es Gott ü-bersehen? Darum bringt der Apostel <strong>die</strong> Redeauf das Gericht. <strong>In</strong>dem er nämlich zeigt,daß der Straffälligen, wenn sie nicht Bußetun, recht viele sind, ferner, daß sie hieniedennicht gestraft werden, kommt er wie vonselbst auf das Gericht, das ein sehr schweressein wird. Er sagt:V. 5: „Mit deiner Verstocktheit und deinem unbußfertigenHerzen häufst du dir nur (Gottes)Zorn.“Wenn sich etwas nicht durch Güte erweichenund nicht durch Furcht umbiegen läßt,was gibt es da Verhärteteres? Nachdem derApostel <strong>die</strong> Liebe Gottes aufgezeigt hat,weist er d<strong>an</strong>n hin auf seine Strafe und sagt,daß sie unerträglich sei für den, der sichsonst nicht bekehren läßt. Beachte da, welchtreffender Worte er sich be<strong>die</strong>nt! „Du häufstdir“, sagt er, „den Zorn.“ Damit drückt eraus, daß Gott selbst der Zorn ferne liegt unddaß nicht der Richter, sondern der Gerichtetedar<strong>an</strong> schuld ist. „Du häufst dir“, heißt es ja,nicht Gott dir. Er hat ja alles get<strong>an</strong>, was erkonnte; er hat dir <strong>die</strong> Fähigkeit gegeben, dasGute zu unterscheiden von dem Bösen, er hatL<strong>an</strong>gmut <strong>an</strong> den Tag gelegt, er hat zur Bußegerufen, er hat den schrecklichen Gerichtstag<strong>an</strong>gedroht, alles um dich zur Umkehr zu bewegen;wenn du nun trotz alledem auf deinemWege bleibst, so „häufst du dir denZornam Tage <strong>des</strong> Zornes und der Offenbarung und<strong>des</strong> Strafgerichtes Gottes“.— Damit du nicht, wenn du von Zorn hörst,<strong>an</strong> <strong>die</strong> Leidenschaft <strong>des</strong> Zornes denkst, setztder Apostel bei: „<strong>des</strong> Strafgerichtes Gottes“.Treffend sagt er auch: „Am Tage der Offenbarung.“D<strong>an</strong>n wird nämlich offenbar werden,was ein jeder nach Recht und Gerechtigkeitzu empf<strong>an</strong>gen hat. Hier auf Erden tunnämlich viele <strong>an</strong>- dern ungerechterweiseKränkungen <strong>an</strong> und sind gegen sie42feindlich gesinnt; dort wird <strong>die</strong>s nicht derFall sein.V. 6: „Er wird einem jeden vergelten nach seinenWerken: den einen, <strong>die</strong> in unerschütterlichemDienst einer guten Sache …“3.Nachdem der Apostel in einem erschreckendenund ernsten Ton vom zukünftigen Gerichtund der Bestrafung gesprochen hat,führt er nun nicht, wie m<strong>an</strong> erwarten sollte,<strong>die</strong> Schilderung <strong>die</strong>ses Strafgerichtes weiteraus, sondern er bringt <strong>die</strong> Rede auf etwasErfreulicheres: <strong>die</strong> Belohnung <strong>des</strong> Guten. Ersagt so: „den einen, <strong>die</strong> in unerschütterlichemDienst einer guten SacheHerrlichkeit und Ehre und Unsterblichkeit suchen,ewiges Leben“— Hier muntert er <strong>die</strong> auf, welche in ihrenTrübsalen mutlos geworden sind, und zeigt,daß m<strong>an</strong> nicht auf den Glauben allein seinZutrauen setzen dürfe; denn jenes Gerichtprüfe auch <strong>die</strong> Werke. — Beachte, wie derApostel, wenn er vom Jenseits spricht, außerst<strong>an</strong>de,<strong>die</strong> himmlischen Güter im einzelnenzu nennen, nur <strong>die</strong> Worte „Herrlichkeit“ und„Ehre“ gebraucht. Denn da jene Güter allemensc<strong>hl</strong>ichen Verhältnisse übersteigen, hater kein Bild zur Verfügung, um von ihneneine richtige Vorstellung zu geben. Er stelltsie uns dar, so gut es geht, durch Worte, unterdenen wir uns etwas Großes denken, wie„Herrlichkeit“, „Ehre“, „Leben“. Das sind ja<strong>die</strong> Güter, nach denen das Streben der Menschengeht; aber jene himmlischen sind <strong>die</strong>sennicht gleich, sondern viel besser, schon<strong>des</strong>wegen, weil sie unvergänglich und ewigsind. Siehst du, wie uns der Apostel gewissermaßenwie durch <strong>die</strong> Türspalte einenBlick tun läßt auf <strong>die</strong> Auferstehung <strong>des</strong> Leibes,indem er das Wort „Unsterblichkeit“ausspricht? Gemeint ist <strong>die</strong> Unsterblichkeit<strong>des</strong> vergänglichen Leibes. Weil das aber noch


nicht genug war, setzt er d<strong>an</strong>n noch hinzu:„Herrlichkeit und Ehre“. Denn wir werdenzwar alle unsterblich auferstehen, aber nichtalle zur Herrlichkeit, sondern <strong>die</strong> einen zurBestrafung, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern zur Herrlichkeit. V. 8: „Für <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern dagegen, <strong>die</strong> nachihrem Kopf weiter machen …“Wieder spricht der Apostel denen, <strong>die</strong> imLaster dahinleben, Verzeihung ab; er zeigtnämlich, daß sie aus Hartnäckigkeit undFahrlässigkeit in <strong>die</strong> Sünde gefallen sind —„und der Wahrheit nicht nachgeben, sondern derUngerechtigkeit sich überlassen.“— Sieh da eine weitere Anklage! Denn welcheEntschuldigung sollte jem<strong>an</strong>d haben, derdas Licht flieht und <strong>die</strong> Finsternis aufsucht?Der Apostel sagt auch nicht: „überwältigtund beherrscht“, sondern: „<strong>die</strong> sich der Ungerechtigkeitüberlassen“. Daraus sollst duersehen, daß der Fall in <strong>die</strong> Sünde eine Tatder freien Wa<strong>hl</strong>, daß <strong>die</strong> Sünde nicht einZw<strong>an</strong>g ist.„Ungn<strong>ad</strong>e und Zorn, Bedrängnis und Angstüber jede Seele eines Menschen, der Böses tut.“— D. h. ob jem<strong>an</strong>d auch reich ist, eine St<strong>an</strong><strong>des</strong>person,gar ein Herrscher, auf niem<strong>an</strong>dennimmt jener Richterspruch Rücksicht. Da giltnicht R<strong>an</strong>g und Würde.Nachdem nun der Apostel <strong>die</strong> übergroßeSchwere der Kr<strong>an</strong>kheit dargelegt und <strong>die</strong>Entstehungsursache derselben festgestellt —daß sie von der Fahrlässigkeit der Kr<strong>an</strong>kenselbst kommt —, auf den Ausg<strong>an</strong>g hingewiesen— daß <strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>ken zugrunde gehenmüssen — und <strong>die</strong> Leichtigkeit der Heilungbetont hat, spricht er den Juden wieder einegrößere Strafe zu. Denn wer mehr Unterweisunggenossen hat, der ver<strong>die</strong>nt eine größereStrafe, wenn er das Gesetz übertritt. Darumwerden wir, wenn wir sündigen, um so mehrgestraft, je gescheiter oder je mächtiger wirsind. Bist du reich, so verl<strong>an</strong>gt m<strong>an</strong> von dirmehr Geld als von einem Armen, bist du gescheiter,so mehr Achtung auf das Gesetz,beklei<strong>des</strong>t du ein Amt, hervorstechendere43gute Taten; so wird überall deine Leistungnach deiner Kraft bemessen.V. 10: „Herrlichkeit und Ehre und Friede jedem,der das Gute betreibt, dem Juden in erster Linieund dem Heiden.“Welchen Juden meint er da, und von welchemHei- den ist da <strong>die</strong> Rede? Vondenen, <strong>die</strong> vor der Ankunft Christi lebten.Noch ist nämlich <strong>die</strong> Erörterung nicht bis in<strong>die</strong> Zeiten der Gn<strong>ad</strong>e ge<strong>die</strong>hen, sondern esist noch <strong>die</strong> Rede von den Zeiten vorher.Trotzdem räumt der Apostel schon jetzt mitdem Unterschied zwischen Juden und Heidenauf. Er tut es schon hier, damit m<strong>an</strong> nichtmeine, wenn er später, von der Gn<strong>ad</strong>enzeitsprechend, es tut, daß er etwas Neues undetwas Lästiges vorbringe. Denn wenn in denZeiten vorher, wo <strong>die</strong> Sonne der Gn<strong>ad</strong>e nochnicht so erstra<strong>hl</strong>te, wo das Judentum bei allen<strong>an</strong>gesehen und hochberühmt war und alseine Auszeichnung galt, wenn damals keinUnterschied best<strong>an</strong>d, was ließe sich für einGrund dafür geltend machen für <strong>die</strong> spätereZeit, da <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e in solcher Fülle erschienenwar? Darum legt der Apostel hier mit solchemNachdruck den Finger darauf. Denn istder Leser einmal darüber belehrt, daß <strong>die</strong>sschon in früherer Zeit so gewesen ist, wird eres um so mehr für <strong>die</strong> Zeit <strong>des</strong> Glaubenszugeben. Unter „Heiden“ meint hier der A-postel nicht <strong>die</strong> Götzen<strong>an</strong>beter, sondern jeneGottesverehrer, welche dem natürlichen Gesetzenach alles, was zur Frömmigkeit gehört,beobachteten mit Ausnahme der Satzungen<strong>des</strong> Judentums. Solche waren Melchisedechund seine Leute, ein solcher warJob, solche waren <strong>die</strong> Niniviten, ein solcherwar Kornelius. So arbeitet also der Apostelschon jetzt der Niederlegung der Scheidew<strong>an</strong>dzwischen Beschnittenen und Unbeschnittenenvor. Er hebt <strong>die</strong>se Unterscheidungschon jetzt auf, und zwar so, daß m<strong>an</strong>seine Absicht kaum merkt und meint, er seidurch den notwendigen Zusammenh<strong>an</strong>g derRede darauf geführt worden. Es ist <strong>die</strong>s einestete Eigenheit <strong>des</strong> klugen Verfahrens <strong>des</strong>


Apostels. Hätte er nämlich <strong>die</strong>s [<strong>die</strong> gleicheBeh<strong>an</strong>dlung von Juden und Heiden seitensGottes] von der Zeit der Gn<strong>ad</strong>e behauptet, sowäre <strong>die</strong>se Behauptung verdächtig erschienen.Weil er aber da im Zusammenh<strong>an</strong>gedarauf zu sprechen kommt, wo er von derSündhaftigkeit spricht, <strong>die</strong> von der g<strong>an</strong>zenMenschheit Besitz genommen hatte, und vonder Lasterhaftigkeit, <strong>die</strong> von den damaligenMenschen auf <strong>die</strong> Spitze getrieben wordenwar, macht er seine Lehre unverdächtig. 4.Daß er aber in <strong>die</strong>ser Absicht seine Ged<strong>an</strong>kenfolgeso formt, ist aus der g<strong>an</strong>zen Stelleersichtlich. Wenn ihm nicht dar<strong>an</strong> gelegengewesen wäre, <strong>die</strong>s zu erweisen, hätte ernach den Worten: „Mit deiner Verstocktheitund deinem unbußfertigen Herzen häufst dudir nur Gottes Zorn am Tage <strong>des</strong> Zornes“,mit <strong>die</strong>sem Punkte Sc<strong>hl</strong>uß machen können.Der Gegenst<strong>an</strong>d war <strong>zum</strong> Absc<strong>hl</strong>uß gebracht.Weil es aber nicht <strong>des</strong> Apostels Absichtwar, bloß von dem zukünftigen Gerichtzu sprechen, sondern auch zu zeigen, daßder Jude nichts vor dem Heiden voraus habe,damit jener sich nichts einbilde, darum gehter noch weiter, und zwar in <strong>die</strong>ser Ged<strong>an</strong>kenfolge:— merk auf! Er hat den Leser inFurcht gesetzt; er hat ihm den Tag <strong>des</strong> Schreckens<strong>an</strong>gekündigt; er hat ausgesprochen,wie sc<strong>hl</strong>imm es sei, in der Sünde zu leben; erhat gezeigt, daß niem<strong>an</strong>d aus Unkenntnis(<strong>des</strong> Gesetzes) sündige und darum nichtstraflos ausgehen werde, sondern daß er,wenn nicht gleich, so doch g<strong>an</strong>z gewiß einmalseine Strafe erfahren werde. Daraus willer nun <strong>die</strong> Folgerung ableiten, daß <strong>die</strong>Kenntnis <strong>des</strong> jüdischen Gesetzes nicht unbedingtnotwendig sei; denn nach den Werkenrichtet sich Strafe und Lohn, nicht nach Beschnitten-oder Nichtbeschnittensein. Nachdemder Apostel gesagt hat, daß der Heide44g<strong>an</strong>z gewiß seine Strafe erfahren werde, und,<strong>die</strong>s <strong>an</strong>genommen, gefolgert hat, daß er auchseine Belohnung bekommen werde, hat erdamit darget<strong>an</strong>, daß Gesetz und Beschneidungeigentlich nebensäc<strong>hl</strong>ich seien. Damitwill er hauptsäc<strong>hl</strong>ich <strong>die</strong> Juden, treffen; denn<strong>die</strong>se waren ungemein eingebildet. Erstenseinmal hielten sie es unter ihrer Würde, mitden <strong>an</strong>dern Völkern auf eine Stufe gestellt zuwerden, und zweitens f<strong>an</strong>den sie es lächerlich,daß der Glaube alle Sünden tilgen solle.Darum hat der Apostel zuerst <strong>an</strong> <strong>die</strong> Heiden,von denen <strong>die</strong> Rede ist, eine Strafpredigtgehalten, damit er d<strong>an</strong>n unauffällig und mitFreimut den Juden <strong>die</strong> Wahrheit sagen könne.Im weiteren Verlauf der Rede, wo er auf<strong>die</strong> Bemessung der Strafe zu sprechenkommt, zeigt er, daß der Jude von seinemGesetze nicht nur keinen Nutzen habe, sonderndaß es sogar seine Lage noch erschwere.Diese Folge zieht er aus dem oben Gesagten.Denn wenn der Heide <strong>des</strong>wegen unentschuldbarist, weil er trotz Schöpfung undVernunft, <strong>die</strong> ihm Wegweiser zu Gott waren,nicht besser geworden ist, um wieviel unentschuldbarerwird der Jude sein, der nebstallem dem noch durch das Gesetz Belehrungempf<strong>an</strong>gen hat. Nachdem nun der Apostelden Juden dazu gebracht hat, <strong>die</strong>se Sc<strong>hl</strong>ußfolgerungin bezug auf <strong>die</strong> Sünden der Heidengelten zu lassen, nötigt er ihn wider seinenWillen dazu, <strong>die</strong>s auch in bezug auf sichselbst zu tun. — Um übrigens <strong>die</strong>ser seinerErörterung gute Aufnahme zu verschaffen,lenkt der Apostel jetzt <strong>die</strong> Rede auf erfreulichereDinge, indem er sagt: „Herrlichkeitund Ehre und Friede jedem, der das Gutebetreibt, dem Juden in erster Linie und demHeiden.“ Hienieden mag jem<strong>an</strong>d besitzen,soviel er will, er besitzt es immer nur untervielerlei Kämpfen, ob er auch reich ist odereine St<strong>an</strong><strong>des</strong>person oder gar ein König.Wenn schon nicht mit einem Nebenmenschen,so gerät er doch öfter mit sich selbst inZwiespalt und hat vielfach zu kämpfen inseinem <strong>In</strong>nern. Nicht so ist es dort im Jen-


seits, sondern dort ist alles Ruhe ohne Störungund wahrer Friede.Nachdem der Apostel aus dem oben Gesagtengefolgert hat, daß auch <strong>die</strong>, welche dasjüdische Gesetz nicht haben, zu demselbenGenuß der ewigen Seligkeit gel<strong>an</strong>gen können,führt er als weiteren Grund dafür <strong>an</strong>:V. 11: „Denn bei Gott gilt kein Ansehen der Person.“Wenn er sagte, daß der Jude wie der Heidegestraft wird, wenn sie sündigen, bedarf <strong>die</strong>skeiner weiteren Begründung. Wenn er aber<strong>die</strong> Behauptung aufstellt, daß auch der Heidebelohnt werde, so erfordert <strong>die</strong>s eine nähereBegründung; denn es müßte verwunderlichund widerspruchsvoll erscheinen, daß einer,der weder von Gesetz noch Propheten gehörthat, für gute Werke belohnt werden soll.Darum bereitete der Apostel, wie ich schonsagte, seine Leser darauf vor, wo er von denZeiten sprach, <strong>die</strong> der Gn<strong>ad</strong>e vorausgehen,damit sie ihm später, wenn er von der Zeitder Gn<strong>ad</strong>e sprechen wird, um so leichter Beifallzollen. Denn da ist er g<strong>an</strong>z unverdächtig,da er ja nicht etwas behauptet, was in seinem<strong>In</strong>teresse liegt. Nach den Worten: „Herr- lichkeit und Ehre und Friede jedem, derdas Gute betreibt, dem Juden in erster Linieund dem Heiden“, fährt er fort: „Denn beiGott gilt kein Ansehen der Person.“ Wahrhaftig,<strong>die</strong>se Begründung ist sc<strong>hl</strong>agend! <strong>Paulus</strong>führt nämlich aus, daß es widersinnigwäre und Gott gar nicht entspräche, wenn esnicht so wäre; denn d<strong>an</strong>n gäbe es ja ein Ansehender Person. Das gibt es aber bei Gottnicht. Er sagt in<strong>des</strong> nicht: „Wenn dem nichtso wäre, so gäbe es bei Gott ein Ansehen derPerson“, sondern etwas zarter: „Denn beiGott gilt kein Ansehen der Person.“ D. h.Gott schaut nicht auf <strong>die</strong> Beschaffenheit derPerson, sondern das Unterscheidende für ihnliegt im Werke. Damit bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck,daß den Juden vom Heiden nur <strong>die</strong>Person, nicht <strong>die</strong> Werke unterscheiden. Dementsprechend war zu sagen: Nicht weil dereine ein Jude, der <strong>an</strong>dere ein Heide ist, wird45der eine belohnt, der <strong>an</strong>dere bestraft, sonderndas eine wie das <strong>an</strong>dere geschieht mit Rücksichtauf <strong>die</strong> Werke. Doch der Apostel sagtnicht so — er hätte nämlich d<strong>ad</strong>urch denZorn der Juden erregt —, sondern er bringtnoch etwas <strong>an</strong>deres, wodurch er ihrenHochmut niederdrückt und sie für <strong>die</strong> Annahme(seiner oben vorgetragenen Lehre vonder Gleichheit der Juden und Heiden) empfänglichermacht. Was ist das? Das, was folgt:V. 12: „Die ohne das Gesetz gesündigt haben,werden auch verloren gehen ohne das Gesetz, und<strong>die</strong> in dem Gesetze gesündigt haben, werdendurch das Gesetz gerichtet werden.“Hier zeigt der Apostel, daß Jude und Heidenicht bloß gleichartig seien, wie ich schonsagte, sondern daß der Jude durch das Geschenk<strong>des</strong> Gesetzes sogar noch eine Belastungerfahre; denn der Heide wird ohne Gesetzgerichtet. Das „ohne Gesetz“ will aberhier nicht einen Nachteil besagen, sonderneinen Vorteil, nämlich den, daß er das Gesetznicht <strong>zum</strong> Ankläger hat. Denn <strong>die</strong>ses „ohnedas Gesetz“ ist dasselbe, wie wenn er sagte:Er wird, abgesehen von dem Maßstab <strong>des</strong>Gesetzes, einzig und allein aus Gründen dernatürlichen Vernunft verurteilt werden. DerJude aber „in dem Ge- setze“ d h.nach der Anklage, <strong>die</strong> Natur und Gesetz gegenihn vorbringen; denn je größerer Fürsorgeer sich erfreut hat, <strong>des</strong>to größer wird auch<strong>die</strong> Strafe für ihn sein.5.Siehst du daraus, wieviel mehr der Apostelden Juden <strong>die</strong> Notwendigkeit nahelegt, sichum <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e zu bemühen? Da sie nämlichbehaupteten, sie bedürften der Gn<strong>ad</strong>e nicht,da sie durch das Gesetz allein gerechtfertigtseien, zeigt er ihnen, daß sie der Gn<strong>ad</strong>e nochmehr bedürftig seien als <strong>die</strong> Heiden, da ihnen<strong>die</strong> Strafe noch mehr bevorstehe. —


46D<strong>an</strong>n führt er noch einen <strong>an</strong>deren Grund zurVerteidigung seiner Behauptung <strong>an</strong>:V. 13: „Denn nicht <strong>die</strong> Hörer <strong>des</strong> Gesetzes sindgerecht bei Gott.“Treffend setzt der Apostel hinzu: „bei Gott“;denn bei den Menschen können sie wo<strong>hl</strong> unt<strong>ad</strong>eligerscheinen und sich etwas darauf zugutetun, bei Gott aber steht <strong>die</strong> Sache g<strong>an</strong>z<strong>an</strong>ders.„Nur <strong>die</strong> Befolger <strong>des</strong> Gesetzes werden gerechtfertigtwerden“ — Siehst du, mit welchemNachdruck der Apostel <strong>die</strong> Rede ins Gegenteilwendet? Wenn du meinst, sagt er, durchdas Gesetz gerettet zu werden, so steht dirder Heide d<strong>ad</strong>urch vor<strong>an</strong>, daß er als Befolger<strong>des</strong>sen erscheint, was ihm ins Herz geschriebenist. — Aber wie ist es möglich, fragst du,daß jem<strong>an</strong>d, der nicht Hörer (<strong>des</strong> Gesetzes)ist, ein Befolger (<strong>des</strong>selben) sein k<strong>an</strong>n? Nichtallein das ist möglich, <strong>an</strong>twortet der Apostel,sondern noch viel mehr als das. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>nnämlich nicht bloß, ohne ein Hörer <strong>des</strong> Gesetzeszu sein, doch ein Befolger <strong>des</strong>selbensein, sondern m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n ein Befolger auchnicht sein, trotzdem m<strong>an</strong> ein Hörer gewesenist. Dasselbe spricht der Apostel später nochklarer und mit noch mehr Nachdruck aus,wenn er sagt: „Einen <strong>an</strong>dern belehrst du,dich selber aber belehrst du nicht?“ Nunführt er vorläufig das erstere näher aus.„Denn wenn <strong>die</strong> Heidenvölker, <strong>die</strong> das Gesetznicht haben, von Natur <strong>die</strong> Forderungen <strong>des</strong> Gesetzes erfüllen, so sind sie, <strong>die</strong> kein Gesetzhaben, sich selbst Gesetz.“Ich verwerfe nicht das Gesetz, will der A-postel sagen, sondern ich rechtfertige <strong>die</strong>Heiden eben daraus. Siehst du, wie er, währender <strong>die</strong> überragende Stellung <strong>des</strong> Gesetzesuntergräbt, doch keine H<strong>an</strong>dhabe zu derBeschuldigung bietet, als mißachte er dasGesetz, sondern wie er im Gegenteil dasG<strong>an</strong>ze so dreht, als halte er eine Lobrede aufdas Gesetz, als stelle er es als etwas Großesdar? Wenn er von der „Natur" spricht, someint er damit <strong>die</strong> natürliche Vernunft. Erzeigt, daß <strong>die</strong> Heiden besser seien als <strong>die</strong> Juden,ja noch mehr, eben ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegenbesser, weil sie das Gesetz nicht empf<strong>an</strong>genhaben und das nicht besitzen, worauf sich<strong>die</strong> Juden soviel zugute tun. Eben darum,sagt er, sind <strong>die</strong> Heiden der Bewunderungwert, daß sie <strong>des</strong> Gesetzes nicht bedurftenund doch <strong>die</strong> Forderungen <strong>des</strong> Gesetzes alleerfüllten. Die Werke <strong>des</strong> Gesetzes, nicht <strong>des</strong>senBuchstaben gruben sie in ihre Seelen ein.Der Apostel sagt nämlich:V. 15: „Sie zeigen ja, daß das Gesetzeswerk ihnenins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnenzugleich Zeuge ist, wobei ihre eigenen Ged<strong>an</strong>kensich gegenseitig <strong>an</strong>klagen und lossprechen“V. 16: „am Tage, da Gott das Verborgene derMenschen richten wird meinem Ev<strong>an</strong>gelium nachdurch Jesus Christus.“Siehst du, wie der Apostel wieder jenen Tag(<strong>des</strong> Gerichtes) vor Augen stellt und her<strong>an</strong>zieht,um <strong>die</strong> Juden in ihrem <strong>In</strong>nern zu erschütternund ihnen zu zeigen, daß <strong>die</strong> mehrBelohnung ver<strong>die</strong>nen, welche ohne Gesetzsich Mühe gegeben haben, <strong>die</strong> Forderungen<strong>des</strong> Gesetzes zu erfüllen? Hier sei ver<strong>die</strong>nterweiseaufmerksam gemacht auf <strong>die</strong> bewundernswerteKlugheit <strong>des</strong> Apostels. Seineg<strong>an</strong>ze Beweisführung läuft darauf hinaus, zuzeigen, daß der Heide über dem Juden stehe;in der g<strong>an</strong>zen Ged<strong>an</strong>kenkette und auch amSc<strong>hl</strong>uß derselben spricht er aber <strong>die</strong>sen Satznicht ausdrücklich aus, um den Juden nichtzu reizen. Um klarer zu machen, was ich gesagthabe, will ich <strong>die</strong> Worte <strong>des</strong> Apostels noch einmal <strong>an</strong>führen. Nachdemer gesagt hatte: „Nicht <strong>die</strong> Hörer <strong>des</strong>Gesetzes, sondern <strong>die</strong> Befolger <strong>des</strong>selbenwerden gerechtfertigt werden“, wäre es folgerichtiggewesen, fortzufahren: Wenn nun<strong>die</strong> heidnischen Völker, welche das Gesetznicht haben, auf Antrieb der Natur das tun,was <strong>des</strong> Gesetzes ist, so sind sie viel besserals <strong>die</strong>, welche durch das Gesetz belehrt sind.Das sagt er aber nicht, sondern er hält innemit der Lobrede auf <strong>die</strong> Heiden und spinntden Vergleich zwischen Heiden und Juden


nicht weiter aus, damit seine Ausführungenauch dem Juden <strong>an</strong>nehmbar werden. Er fährtdarum nicht so fort, wie ich es sagte, sondernwie? „Denn wenn <strong>die</strong> Heidenvölker, <strong>die</strong> dasGesetz nicht haben, von Natur <strong>die</strong> Forderungen<strong>des</strong> Gesetzes erfüllen, so sind sie, <strong>die</strong>kein Gesetz haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigenja, daß das Gesetzeswerk ihnen ins Herzgeschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnenzugleich Zeuge ist.“ Statt <strong>des</strong> Gesetzes genügtdas Gewissen und <strong>die</strong> Vernunft. Damitzeigt er wieder, daß Gott den Menschen mitder Fähigkeit geschaffen habe, <strong>die</strong> Tugend zuwä<strong>hl</strong>en und das Laster zu fliehen. Wunderedich nicht, daß der Apostel dasselbe einmalund zweimal und noch öfter beweist. Ermußte nämlich <strong>die</strong>sen Hauptpunkt g<strong>an</strong>z besondersstark betonen, um dem Einw<strong>an</strong>d zubegegnen: Warum ist Christus erst jetzt gekommen?Wo blieb <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Zeit vorher <strong>die</strong>(göttliche) Leitung? Gegen <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>dwendet er sich nebenbei, indem er zeigt, daßauch in den Zeiten vor Christus, auch vor derGesetzgebung (<strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>) <strong>die</strong> Menschennatursich der (göttlichen) Leitung erfreute.Denn das, was erkennbar ist <strong>an</strong> Gott,war ihnen offenbar, und auch Gut und Böswußten sie zu unterscheiden und richtetend<strong>an</strong>ach ihre <strong>an</strong>dern Mitmenschen. Das machter ihnen ger<strong>ad</strong>e <strong>zum</strong> Vorwurf, wenn er sagt:„Worin du einen <strong>an</strong>dern richtest, darin verurteilstdu dich selbst.“ Gegen <strong>die</strong> Juden trittaber außerdem noch das Gesetz als Anklägerauf, nicht bloß <strong>die</strong> Vernunft und das Gewissen.— Weshalb fügt der Apostel hinzu:„wobei ihre eigenen Ged<strong>an</strong>ken sich <strong>an</strong>klagenund lossprechen“? Denn wenn sie das Gesetzgeschrieben in sich tragen und das Gesetzeswerkaufweisen, was hat da noch <strong>die</strong> Vernunft<strong>an</strong>- zuklagen? Nun, der Apostelmeint <strong>die</strong>s nicht bloß von guten Werken(im Sinne <strong>des</strong> Gesetzes), sondern von demg<strong>an</strong>zen Gebiete <strong>des</strong> sittlichen Tuns. An jenemTage werden unsere eigenen Ged<strong>an</strong>ken auftreten,teils zur Anklage, teils zur Verteidigung;einen <strong>an</strong>dern Ankläger wird der47Mensch bei jenem Gerichtshofe gar nicht nötighaben. — Hierauf sagt er, um <strong>die</strong> Furchtzu vermehren, nicht: „<strong>die</strong> Sünden der Menschen“,sondern: „das Verborgene der Menschen“.Nachdem er nämlich gesagt hat: „Du,der du <strong>an</strong>dere richtest, <strong>die</strong> solches tun, un<strong>des</strong> doch selbst tust, glaubst du denn, daß dudem Gerichte Gottes entgehen wirst?“ fährter fort — damit du nicht bloß dasselbe Urteilerwartest, wie du es selbst fällst, sonderndamit du weißt, daß das Urteil Gottes nochstrenger ist —: „das Verborgene der Menschen“,und fügt hinzu: „meinem Ev<strong>an</strong>geliumnach“. Menschen richten nämlich nurüber äußere H<strong>an</strong>dlungen. Oben hat er nurvom Vater gesprochen; aber weil er seineZuhörer noch mehr in Furcht setzen will,bringt er nun auch Christus in <strong>die</strong> Rede herein.Aber er tut es nicht ohne weiteres, sondernerst nachdem er <strong>des</strong> Vaters Erwähnungget<strong>an</strong>. D<strong>ad</strong>urch erhöht er <strong>die</strong> Würde <strong>des</strong>Predigtamtes. Unser Predigtamt, will er damitsagen, bringt dasselbe zu Verkündigung,was vorher schon <strong>die</strong> Natur verkündigt hat.6.Siehst du, wie klug der Apostel seine Zuhörer<strong>an</strong> das Ev<strong>an</strong>gelium und <strong>an</strong> Christus her<strong>an</strong>bringtund sie <strong>an</strong> dasselbe fesselt? Wie erihnen <strong>zum</strong> Bewußtsein bringt, daß unser Lebensich nicht bloß auf das Diesseits beschränkt,sondern weiter reicht? Es ist derselbeGed<strong>an</strong>ke, den er oben ausgesprochenhat: „Du häufst dir Zorn auf den Tag <strong>des</strong> Gerichtes“78 und hier wieder: „Gott wird dasVerborgene der Menschen richten.“Es gehe daher jeder mit seinem Gewissen zuRate, denke nach über seine Verfe<strong>hl</strong>ungenund gebe sich genaue Rechenschaft darüber,damit wir nicht mit der Welt verdammt werden.Denn furchtbar ist jenes Gericht, schau-78 Das Wort ὀργή heißt sowo<strong>hl</strong> „Zorn“ als „Strafgericht“.


erlich der Richterstu<strong>hl</strong>, voller Schrecken <strong>die</strong>abzulegende Rechenschaft, ein Stromvon Feuer fließt daher: „Ein Bruder erlöset j<strong>an</strong>icht, erlöset ein <strong>an</strong>derer Mensch? 79 Denk <strong>an</strong>das, was im Ev<strong>an</strong>gelium gesagt ist von denhin- und hereilenden Engeln, von dem versperrtenHochzeitssaale, von den nicht verlöschendenLampen, von den Mächten <strong>die</strong> <strong>zum</strong>Feuerofen sc<strong>hl</strong>eppen! Stelle dir auch das vor:Eine geheime Sündentat jem<strong>an</strong><strong>des</strong> von unswürde bloß vor <strong>die</strong>ser Versammlung <strong>an</strong>sLicht gezogen. Würde sich ein solcher nichtwünschen, lieber zu vergehen und daß sich<strong>die</strong> Erde vor ihm auftue, als so viele Zeugenseiner Sünde zu haben? Was werden wir erstd<strong>an</strong>n erleiden, wenn vor der g<strong>an</strong>zen Weltalles <strong>an</strong>s Licht gezogen werden wird auf <strong>die</strong>serso glänzenden allseits sichtbaren Schaubühne,wo alle, Bek<strong>an</strong>nte und Unbek<strong>an</strong>nte,ihre Blicke auf uns richten werden! Aber ach!womit suche ich zu schrecken! Mit Furchtvor den Menschen! Sollte ich es nicht vielmehrtun mit Furcht vor Gott und seinemVerdammungsspruch? Wie wird uns d<strong>an</strong>n<strong>zum</strong>ute sein, sag’ mir, wenn wir werden gebundenund zähneknirschend hinausgeworfenwerden in <strong>die</strong> äußerste Finsternis! Waswerden wir erst machen, wenn wir — wasdas Schrecklichste von allem ist — Gott unter<strong>die</strong> Augen treten sollen! Hat jem<strong>an</strong>d Gefü<strong>hl</strong>und Verst<strong>an</strong>d, so heißt es für ihn schon <strong>die</strong>Hölle ausstehen, wenn er aus Gottes Augenverwiesen wird; aber weil das von vielennicht schwer empfunden wird, darum drohtGott mit dem Feuer. Eigentlich sollten wirbetrübt sein, nicht wenn wir gestraft werden,sondern wenn wir sündigen. Höre nur, wie<strong>Paulus</strong> weint und klagt über Sünden, für <strong>die</strong>ihm keine Strafe bevorst<strong>an</strong>d, „ich bin nichtwürdig“, spricht er, „Apostel zu heißen, weilich <strong>die</strong> Kirche verfolgt habe“ 80 . Höre auchDavid, wie er, obzwar freigesprochen vonder Strafe, doch <strong>die</strong> Strafe Gottes über sichherabruft, weil er glaubt, Gott beleidigt zuhaben. Er spricht: „Deine H<strong>an</strong>d komme übermich und über das Haus meines Vaters 81 .Gott beleidigt zu haben, ist viel sc<strong>hl</strong>immer alsgestraft zu werden. Nun sind wir aber so erbärm-lich gesinnt, daß wir uns,wenn es keine Hölle gäbe, nicht leicht zu einerguten Tat bewegen ließen. Darum hättenwir eigentlich <strong>die</strong> Hölle, wenn schon wegennichts <strong>an</strong>derem, <strong>des</strong>wegen ver<strong>die</strong>nt, weil wirsie mehr fürchten als Christus. Doch nicht so(gesinnt) war der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>, sondern g<strong>an</strong>zdas Gegenteil. Weil aber wir <strong>an</strong>ders (gesinnt)sind, darum werden wir zur Hölle verdammt.Wenn wir Christus so liebten, wiewir sollten, würden wir erkennen, daß essc<strong>hl</strong>immer als <strong>die</strong> Hölle ist, den Geliebtenbeleidigt zu haben. Weil wir ihn aber nicht(so) lieben, erkennen wir auch <strong>die</strong> Größe derStrafe nicht, <strong>die</strong> darin liegt. Und das ist es,was ich am meisten beklage und beweine.Was hat Gott nicht alles get<strong>an</strong>, um von unsgeliebt zu werden? Was hat er alles ins Werkgesetzt? Was hat er unterlassen? Wir habengefrevelt gegen ihn, und doch hatte er unsnichts zuleid get<strong>an</strong>, sondern uns unaussprec<strong>hl</strong>ichviele und große Wo<strong>hl</strong>taten erwiesen;wir haben uns abgew<strong>an</strong>dt von ihm, unddoch hatte er uns zu sich gerufen und auf alleWeise <strong>an</strong> sich zu ziehen gesucht. Aber auchda hat er uns nicht gestraft, sondern er istuns nachgeg<strong>an</strong>gen und hat uns, <strong>die</strong> Fliehenden,festgehalten. Wir aber haben nach ihmgesc<strong>hl</strong>agen und sind <strong>zum</strong> Teufel übergelaufen.Und auch jetzt ließ er nicht aus, sonderner schickte uns unzä<strong>hl</strong>ige (Boten) nach, <strong>die</strong>uns zurückrufen sollten: Propheten, Engel,Patriarchen. Wir aber haben ihre Botschaftnicht nur nicht <strong>an</strong>genommen, sondern wirhaben ihnen, als sie zu uns kamen, Schmach<strong>an</strong>get<strong>an</strong>. Und trotz alledem gab er uns nochnicht auf, sondern nach Art glühender Liebhaber,<strong>die</strong> sich verschmäht sehen, ging erherum und klagte es allen, <strong>die</strong> er traf, demHimmel, der Erde, dem Jeremias, dem Mi-79 Ps. 48, 8.80 1 Kor. 15, 9.4881 2 Kor. 24, 17.


chäas, nicht um sich über uns zu beschweren,sondern nur um sich selbst zu rechtfertigenfür sein Verhalten. Ja, er trat sogar in der Personseiner Propheten vor <strong>die</strong> hin, <strong>die</strong> sichvon ihm abgewendet hatten, bereit, ihnenRechenschaft zu geben; er forderte sie auf,mit ihm zu rechten, er lud sie, <strong>die</strong> für allestaub waren, ein zu einer Unterredung mitihm. „Mein Volk“, spricht er, „was habe ichdir get<strong>an</strong>? Oder womit habe ich dich betrübt?Antworte mir!“ 82 Auf alles das hinhaben wir seine Propheten ermordet, gesteinigtund <strong>an</strong>dere Übeltaten vollführt. Undwas tat er daraufhin? Nicht mehr Propheten,nicht mehr Engel, nicht mehr Patriarchens<strong>an</strong>dte er, sondern — seinen Sohn. Getötetwurde auch der Sohn, als er kam; und nichteinmal das erlöschte seine Liebe, sondernfachte sie noch mehr <strong>an</strong>; er fährt fort, auchnach der Tötung seines Sohnes zu rufen, zubitten und alles zu tun, damit wir uns zu ihmzurückwenden. Und <strong>Paulus</strong> ruft: „An ChristiStatt sind wir Ges<strong>an</strong>dte, als wenn Gott selbstdurch uns ermahnte“ 83 .7.Aber durch nichts von alledem hat er unsgewinnen können. Er hat uns aber auch d<strong>an</strong>och nicht verlassen, sondern er fährt fort,mit der Hölle zu drohen, das Himmelreichzu verheißen, um uns so <strong>an</strong> sich zu ziehen.Wir aber bleiben immer noch verstockt. Wask<strong>an</strong>n es wo<strong>hl</strong> Sc<strong>hl</strong>immeres geben als solcheGefü<strong>hl</strong>losigkeit? Wenn uns ein Mensch solchesget<strong>an</strong> hätte, wären wir nicht oft und oftseine Sklaven geworden? Und Gott, der esget<strong>an</strong> hat, kehren wir den Rücken! O, <strong>des</strong>Leichtsinnes ! O, der Und<strong>an</strong>kbarkeit! Wirleben in Sünden und Lastern dahin, undwenn wir je einmal ein klein wenig Gutestun, d<strong>an</strong>n zä<strong>hl</strong>en wir es nach Art und<strong>an</strong>kba-rer Sklaven mit großer Genauigkeit her undrechnen haarklein aus, was wir dafür zu erhaltenhaben und ob der Lohn dem Geleistetenentspricht. Der Lohn wird in<strong>des</strong> größersein, wenn du nicht in der Hoffnung aufLohn h<strong>an</strong>delst. So reden und rechnen ist eher<strong>die</strong> Sprache <strong>des</strong> Mietlings als <strong>des</strong> d<strong>an</strong>kbarenDieners. M<strong>an</strong> muß alles um Christi willentun, nicht um <strong>des</strong> Lohnes willen. Denn auch<strong>die</strong> Hölle hat er in der Absicht <strong>an</strong>gedrohtund den Himmel verheißen, damit er selbstvon uns geliebt werde.Lieben wir ihn also, wie wir ihn lieben sollen!Denn darin liegt der große Lohn, darin dasHimmelreich und selige Lust, darin Genußund Ruhm und Ehre, darin Licht, darin tausendfältigeSeligkeit, <strong>die</strong> kein (mensc<strong>hl</strong>iches)Wort ausdrücken, kein (mensc<strong>hl</strong>icher) Geistfas- sen k<strong>an</strong>n. — Doch ich weiß nicht,wie ich mich mit meiner Rede soweit versteige,daß ich von Menschen, welche irdischeMacht und Herrlichkeit nicht verachten, verl<strong>an</strong>ge,sie möchten um Christi willen dashimmlische Reich verachten. Gleichwo<strong>hl</strong> habenjene großen und edlen Männer einen solchenGr<strong>ad</strong> der Liebe erreicht. Höre nur, wiePetrus für ihn entflammt ist, und ihn höherschätzt als Seele und Leben und alles. Als erihn verleugnet hat, da ist er betrübt nicht nurder Strafe wegen, sondern weil er ihn, deninnig Geliebten verleugnet hat. Das war fürihn bitterer als jede Strafe. Und alle <strong>die</strong>seBeweise seiner Liebe gab er, bevor er <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl. Geistes empf<strong>an</strong>gen, und <strong>die</strong>seGesinnung kommt in seinem Reden beständig<strong>zum</strong> Ausdruck: „Wohin gehst du?“ undvorher: „Zu wem sollen wir gehen?“ 84 undwiederum: „Ich folge dir, wohin immer dugehen magst.“ 85 Jesus war seinen Apostelneben alles, und nicht einmal der Himmel mitseiner Herrlichkeit galt ihnen so viel, wie ihrGeliebter. Denn du bist uns alles das, sagtensie. Und was Wunder, daß Petrus so gesinntwar? Höre nur was auch der Prophet spricht:82 Mich. 6, 8.83 2 Kor. 5, 20.4984 Joh. 13, 36 u. , 69. 685 Matth. 8. 19.


„Was habe ich im Himmel, und was habe ichgewollt auf der Erde?“ 86 Mit <strong>an</strong>deren Worten:Weder droben (im Himmel) noch hierunten (auf der Erde) verl<strong>an</strong>ge ich nach etwas<strong>an</strong>derem als nur nach dir. Das nenne ich Liebe,das nenne ich Freundschaft. Wenn wireinmal so lieben, d<strong>an</strong>n gilt uns weder dasGegenwärtige etwas noch das Zukünftige imVergleich zu dem Gegenst<strong>an</strong>d unserer Liebe,und wir gewinnen den Himmel im Genußseiner Liebe. Wie soll das möglich sein? heißtes. Wenn wir uns zu Gemüte führen, wie oftwir ihn beleidigen, nachdem er uns tausenderleiWo<strong>hl</strong>taten erwiesen, er aber fortfährt,uns zu sich zu rufen; wie oft wir <strong>an</strong> ihm vorbeilaufen,er aber fortfährt uns zu sich zurufen; wie oft wir <strong>an</strong> ihm vorbeilaufen, eraber uns nicht aus dem Auge läßt, uns nac<strong>hl</strong>äuft,uns <strong>an</strong>lockt, <strong>an</strong> sich zieht: wenn wiruns das und Ähnliches zu Gemüte führen,werden wir imst<strong>an</strong>de sein, eine solche Liebesglutin uns zu entfachen. Wenn derjenige,der so liebt, ein g<strong>an</strong>z armseligerMensch wäre, der <strong>an</strong>dere aber, der so geliebtwird, wäre ein König, müßte m<strong>an</strong> vor derGröße solcher Liebe nicht Achtung haben?G<strong>an</strong>z gewiß. Nun ist aber das Verhältnis ger<strong>ad</strong>eumgekehrt. Unaussprec<strong>hl</strong>ich ist <strong>die</strong>Schönheit und <strong>die</strong> Herrlichkeit und derReichtum <strong>des</strong>sen, der liebt, unsere Armseligkeitdagegen ist groß. Ver<strong>die</strong>nen darum wir,armselig und elend, wie wir sind, nicht tausendfältigeStrafe dafür, daß wir <strong>die</strong>se seinegroße, staunenswerte, überschwengliche Liebezu uns damit erwidern, daß wir sie verschmähen?Er braucht nichts von dem Unsrigen,und doch hört er nicht auf, uns zu lieben.Wir brauchen aber sehr nötig (vieles)von ihm, und doch widerstreben wir seinerLiebe! Und doch ziehen wir ihm Reichtumvor und <strong>die</strong> Freundschaft der Menschen,körperliche Bequemlichkeit, hohe Stellungund Herrlichkeit, während er uns nichts vorzieht!Er hatte einen einziggeborenen erha-86 Ps. 72, 25.50benen Sohn, und auch <strong>des</strong>sen schonte ernicht wegen uns; wir aber ziehen ihm vielesvor! Ver<strong>die</strong>nen wir also nicht <strong>die</strong> Strafe derHölle, wenn sie auch zweimal und dreimalund tausendmal so groß wäre? Was könnenwir sagen, wenn wir <strong>die</strong> Befe<strong>hl</strong>e <strong>des</strong> Teufelsden Gesetzen Christi vorziehen? Wenn wirunser Heil preisgeben, indem wir <strong>die</strong> Werkeder Bosheit höher halten als den, der alles füruns gelitten hat? Welche Verzeihung, welcheEntschuldigung gibt es dafür? — Keine.Stehen wir also fest fürderhin! Lassen wiruns nicht in den Abgrund reißen; wachen wirauf, erwägen wir alles das und erweisen wirihm Ehre durch <strong>die</strong> Werke — denn es istnicht genug, es durch Worte zu tun —, damitwir bei ihm <strong>die</strong> Herrlichkeit genießen! Möge<strong>die</strong>se uns allen zuteil werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>eund Liebe unseres Herrn Jesus Christus,mit welchem dem Vater zugleich mit demHl. Geiste sei Ehre, Macht und Herrlichkeitjetzt und allezeit und bis in alle Ewigkeit.Amen.SIEBENTE HOMILIE. Kap. II, V. 17—28 und Kap. III. V. 1—8.1.Kap. II, V. 17—28 und Kap. III. V. 1—8.V. 17: „Siehe, du heißt ein Jude und ruhst aufdem Gesetz und rühmst dich in Gott und kennstseinen Willen, weißt klarzulegen das Unterscheidende,belehrt vom Gesetze.“Der Apostel hat bisher gesagt, daß dem Heidennichts abgehe zu seiner Rettung, soferner nur ein Befolger <strong>des</strong> Gesetzes sei, und hatjenen bewundernswerten Vergleich durchgeführt;nunmehr führt er <strong>die</strong> Vorzüge der Juden<strong>an</strong>, auf <strong>die</strong> sie sich gegenüber den Heidenetwas einbildeten. Der erste große Vorzugwar ihr Name, so wie jetzt der Name


„Christ“ ein solcher ist. Der Name machteauch damals viel aus. Darum macht er damitden Anf<strong>an</strong>g. Beachte nun, wie scharf er unterscheidet!Er sagt nicht „Du bist ein Jude“,sondern: „Du heißt ein Jude und rühmst dichin Gott“, d. h. als seist du geliebt von ihmund bevorzugt vor den <strong>an</strong>dern Menschen. Eswill nur scheinen, als habe der Apostel bei<strong>die</strong>sen Worten ihre Einbildung und ihre großeRuhmredigkeit im Auge; er deutet <strong>an</strong>, daßsie <strong>die</strong>ses große Geschenk nicht zu ihremHeile benützten, sondern zur Herabsetzungund Verachtung der <strong>an</strong>dern. — „Und kennstseinen Willen, weißt klarzulegen das Unterscheidende“.Auch selbst das ist ein Nachteil,wenn das Werk dazu fe<strong>hl</strong>t. Gleichwo<strong>hl</strong>schien es ihnen ein Grund <strong>zum</strong> Stolze zusein. Er wä<strong>hl</strong>t darum <strong>die</strong> Worte mit scharferUnterscheidung. Er sagt nicht: „Du tust“,sondern: „Du erkennst und weißt klarzulegen“;zur Ausführung kommst du aber nicht.V. 19: „Du bil<strong>des</strong>t dir ein, ein Führer der Blindenzu sein.“ Auch hier sagt er wieder nicht:„Du bist ein Führer von Blinden“, sondern:„Du bil<strong>des</strong>t dir ein“, du gibst vor, es zu sein.Denn groß war der Dünkel der Juden. Darumgebraucht der Apostel hier fast <strong>die</strong>selbenWorte, mit denen sich jene rühmten. Sieh,wie sie im Ev<strong>an</strong>gelium sprechen: „Dubist g<strong>an</strong>z in Sünden geboren und willst unslehren?“ 87 Sie dünkten sich hoch erhaben ü-ber alle. Das will <strong>Paulus</strong> rügen. Darum fährter fort, <strong>die</strong> einen zu erheben, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern herabzudrücken,damit er den Juden auf <strong>die</strong>seWeise mehr zusetze und <strong>die</strong> Anklage nochschwerer gestalte. Er verstärkt denselbenGed<strong>an</strong>ken, indem er ihn in verschiedenenGed<strong>an</strong>ken wiederholt.V. 20: „Da bil<strong>des</strong>t dir ein, ein Führer der Blindenzu sein, ein Licht denen, <strong>die</strong> in Finsternis sitzen,ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer derUnmündigen, der ein Bild der Wissenschaft undder Wahrheit im Gesetze besitze.“87 Joh. 9, 34.51Er sagt abermals nicht: im Gewissen, imH<strong>an</strong>deln, im Rechttun, sondern: „im Gesetze“.Was der Apostel oben von den Heidengesagt hat, das sagt er auch hier. Dort sagteer: „Worin du einen <strong>an</strong>dern richtest, darinverurteilst du dich selbst.“ Dasselbe sagt erhier.V. 21: „Einen <strong>an</strong>dern belehrst du, dich selbstbelehrst du nicht.“Dort gebraucht er übrigens eine schärfereAusdrucksweise, hier eine gelindere. Er sagtnicht: Darum ver<strong>die</strong>nst du größere Strafe,weil du so große Gn<strong>ad</strong>en empf<strong>an</strong>gen undkeine davon, wie du solltest, benützt hast,sondern er kleidet seine Rede in <strong>die</strong> Formeiner Frage, indem er spricht: „Einen <strong>an</strong>dernbelehrst du, dich selbst belehrst du nicht?“ —Betrachte in<strong>des</strong> noch von einer <strong>an</strong>dern Seitedas kluge Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>! Er führt lauterVorzüge der Juden <strong>an</strong>, welche nicht eineFrucht ihrer eigenen Bemühung, sondern einGeschenk von oben waren, und zeigt, daß sieihnen bei ihrer Sorglosigkeit nicht nur nutzlosgewesen seien, sondern ihnen sogar nocheine Vergrößerung der Strafe eingetragenhaben. Denn der Name „Jude“ war nicht ihrVer<strong>die</strong>nst, ebensowenig, daß sie das Gesetzempf<strong>an</strong>gen hatten, noch auch das <strong>an</strong>dere, daser aufzä<strong>hl</strong>t, sondern das alles war ein Werkder Gn<strong>ad</strong>e von oben. Früher hat er gesagt, daß das Hören <strong>des</strong> Gesetzes nichts nütze,wenn nicht das H<strong>an</strong>deln dazu komme.„Nicht <strong>die</strong> Hörer <strong>des</strong> Gesetzes“, sagt er,„sind gerecht bei Gott.“ Jetzt zeigt er nochmehr: Daß nicht bloß das Hören <strong>des</strong> Gesetzes,sondern, was viel mehr als das Hören ist,daß auch das Lehren <strong>des</strong>selben dem keinenVorzug gewährt der bloß lehrt, aber selbstnicht tut, was er lehrt. Ja, nicht allein keinenVorzug gewährt es, sondern es gereicht zurgrößeren Strafe. Er gebraucht dabei einentreffenden Ausdruck. Er sagt nämlich nicht:Du hast das Gesetz empf<strong>an</strong>gen, sondern:„Du ruhst auf dem Gesetze.“ Der Judebrauchte sich nicht ab<strong>zum</strong>ühen, er brauchtenicht herumzugehen und zu suchen, was zu


tun sei, sondern er hatte es bequem; das Gesetzzeigte ihm den Weg, der zur Tugendführt. Denn wenn auch <strong>die</strong> Heiden <strong>die</strong> natürlicheVernunft besitzen, weswegen der Apostelvon ihnen rühmt, daß sie, ohne Hörer <strong>des</strong>Gesetzes zu sein, alles tun, so hatten es <strong>die</strong>Juden doch viel leichter. Wenn du einwen<strong>des</strong>t:Ich bin nicht bloß Hörer <strong>des</strong> Gesetzes,sondern ich unterrichte darin, so vermehrtdas nur deine Strafwürdigkeit. Weil sich <strong>die</strong>Juden darauf viel einbildeten, <strong>des</strong>wegenmachten sie sich ger<strong>ad</strong>e recht lächerlich.Wenn er sagt: „Führer der Blinden, Erzieherder Unverständigen, Lehrer der Unmündigen“,so drückt er damit ihren Stolz aus. Erzeigt nämlich, wie hochmütig sie ihre Proselytenbeh<strong>an</strong>delten, daß sie ihnen solche Namengaben.2.52Daß er ihre vermeintlichen Lobestitel <strong>an</strong>führt,tut er <strong>des</strong>wegen, weil er weiß, daß sie<strong>die</strong> Grundlage einer um so schwereren Anklagebilden. — „Der ein Bild der Wissenschaftund der Wahrheit im Gesetze besitze.“Das ist so, wie wenn jem<strong>an</strong>d, der ein Bildnis<strong>des</strong> Königs besitzt, ihn trotzdem nicht d<strong>an</strong>achmalen k<strong>an</strong>n, während ihn <strong>an</strong>dere, denenkeines zur Verfügung steht, auch ohneein Vorbild richtig darstellen. Nachdem derApostel ihre Ruhmestitel <strong>an</strong>geführt hat, <strong>die</strong>sie von Gott hatten, spricht er von ihrenschwachen Seiten, <strong>die</strong> ihnen <strong>die</strong> Propheten<strong>zum</strong> Vorwurf machen, und führt sie einzelnvor. „Du belehrst einen <strong>an</strong>dern, dich selbstbelehrst du nicht.“ „Du predigst, m<strong>an</strong>dürfe nicht ste<strong>hl</strong>en und stie<strong>hl</strong>st selbst.“V. 22: „Du sagst, m<strong>an</strong> solle nicht ehebrechen undbrichst selbst <strong>die</strong> Ehe; du verabscheust <strong>die</strong> Götzenbilderund schän<strong>des</strong>t das Heiligtum.“Es war nämlich streng verboten, Dinge, <strong>die</strong>mit dem Götzen<strong>die</strong>nst in Beziehung st<strong>an</strong>den,auch nur zu berühren, weil sie als etwas Verabscheuungswürdigesgalten. Aber <strong>die</strong>Geldgier, <strong>die</strong> euch beherrscht, will der Apostelsagen, hat euch dazu gebracht, das Gesetzauch in <strong>die</strong>sem Punkte zu übertreten.V. 23: „Du rühmst dich <strong>des</strong> Gesetzes, entehrstaber Gott durch Übertretung <strong>des</strong> Gesetzes.“Zwei Beschuldigungen wirft er da auf odereigentlich drei: daß sie (Gott) verunehren,daß sie ihn durch das verunehren, wodurchsie selbst (von ihm) geehrt worden sind, unddaß sie den verunehren, der sie selbst geehrthat, ein Übermaß von Und<strong>an</strong>kbarkeit. D<strong>an</strong>nführt er den Propheten als ihren Anklägerauf, damit es nicht den Anschein habe, alsführe er Klage aus persönlichen Gründen,zuerst kurz, gedrängt und im allgemeinen,später im einzelnen, einmal Isaias, d<strong>an</strong>n, alser <strong>die</strong> Anklagen häuft, David. Nicht ich, istder Sinn seiner Worte, sage das, um euch zuschmähen, sondern hört nur, was Isaias sagt:V. 24: „Der Name Gottes wird eurethalben gelästertunter den Heiden.“Sieh da, wieder eine zweifache Anklage.Nicht genug, sagt er, daß sie selbst gegenGott freveln, sie bringen auch <strong>an</strong>dere dazu.Was ist also <strong>die</strong> Belehrung nütze, wenn ihreuch selbst nicht belehrt? Aber oben sprichter nur davon allein, hier aber geht er auchaufs Gegenteil über. Nicht bloß euch selbstbelehrt ihr nicht, sondern auch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dernbelehrt ihr nicht über ihr Tun; und was nochviel sc<strong>hl</strong>immer ist, ihr belehrt sie nicht nurnicht über <strong>die</strong> Forderungen <strong>des</strong> Gesetzes,sondern ihr lehrt sie ger<strong>ad</strong>e das Gegenteil,nämlich Gott lästern, was dem Gesetz entgegenist. Aber <strong>die</strong> Beschneidung istdoch etwas Großes, sagst du. Das gesteheauch ich zu, aber nur d<strong>an</strong>n, wenn sie eineBeschneidung <strong>des</strong> <strong>In</strong>nern ist. Beachte denZusammenh<strong>an</strong>g, wie der Apostel ger<strong>ad</strong>e <strong>an</strong>der rechten Stelle <strong>die</strong> Rede darauf bringt! Erhat nicht gleich mit der Beschneidung begonnen,weil sie in hoher Meinung st<strong>an</strong>d;sondern erst nachdem er gezeigt hat, daß <strong>die</strong>Juden sich in größeren Stücken verfe<strong>hl</strong>t haben,ja daß sie sogar der Gotteslästerung


schuldig sind. Erst als er den Zuhörer dazugebracht hat, sie zu verurteilen und als er sieihres Vorzuges entkleidet hat, d<strong>an</strong>n erstbringt er <strong>die</strong> Rede auf <strong>die</strong> Beschneidung,d<strong>an</strong>n erst als er sicher ist, daß niem<strong>an</strong>d fürsie Partei ergreifen wird. Er sagt:V. 25: „Die Beschneidung nützt zwar, wenn dudas Gesetz erfüllst.“Es wäre möglich gewesen, <strong>die</strong> Beschneidungin <strong>an</strong>derer Weise als unwirksam zu erklären,nämlich zu sagen: Was ist <strong>die</strong> Beschneidung?Doch nicht eine gute Tat <strong>des</strong>sen, der sieträgt? Auch nicht <strong>die</strong> Bekundung eines gutenVorhabens? Sie wird ja in einem unreifenAlter vorgenommen, und <strong>die</strong> in der Wüsteblieben alle l<strong>an</strong>ge Zeit unbeschnitten. Aus<strong>die</strong>sen und vielen <strong>an</strong>deren Gründen hättem<strong>an</strong> zur Einsicht kommen können, daß sienicht gar so notwendig sei. Jedoch gleichwo<strong>hl</strong>geht der Apostel nicht von da aus, umsie als unwirksam zu erklären, sondern voneiner Seite, <strong>die</strong> sehr günstig war — von Abraham.Denn der Sieg ist vollständig, wenngezeigt wird, daß ihr ger<strong>ad</strong>e von der SeiteGeringschätzung zuteil wird, von welcher sieden Juden verehrungswürdig war. Er hätteebenso sagen können, daß auch <strong>die</strong> Propheten<strong>die</strong> Juden Unbeschnittene nennen. Aberdas ist kein Fe<strong>hl</strong>er der Beschneidung, sondernderer, <strong>die</strong> sie mißbrauchten. Worauf esihm <strong>an</strong>kommt, ist, zu zeigen, daß sie im tugendhaftestenLeben keine Rolle spielt. Dasfolgert er weiter unten. Doch hier führt erden Patriarchen (Abraham) noch nicht <strong>an</strong>,sondern er geht der Beschneidung von einer<strong>an</strong>dern Seite zu Leibe. Später erst, als er vomGlauben spricht, lenkt er seinen Blick auf ihn,wenn er sagt: „Wie ward der Glaubedem Abraham <strong>an</strong>gerechnet? Als Beschnittenemoder als Unbeschnittenem?“ Sol<strong>an</strong>genämlich der Apostel gegen den Heiden undUnbeschnittenen im Kampfe steht, will ernichts davon sagen, um nicht verletzend zuwerden; wie aber <strong>die</strong> Beschneidung in Gegensatz<strong>zum</strong> Glauben tritt, zieht er schärfergegen sie los.53Bis hieher richtet sich der Kampf <strong>des</strong> Apostelsgegen das Nichtbeschnittensein. Darumsänftigt er seine Rede und sagt: „Die Beschneidungnützt wo<strong>hl</strong>, wenn du das Gesetzerfüllst;bist du aber ein Übertreter <strong>des</strong> Gesetzes, so istdeine Beschneidung Vorhaut geworden.“— Von zweierlei Unbeschnittensein und vonzweierlei Beschneidung spricht hier der A-postel, wie auch von zweierlei Gesetz. Es gibtnämlich ein natürliches Gesetz und ein geschriebenes;aber in der Mitte zwischen beidenliegt das Gesetz, welches sich durch <strong>die</strong>Werke äußert. Gib nun acht, wie er <strong>die</strong>se drei(Gesetze) <strong>an</strong>schaulich darstellt. Er sagt:„Denn wenn <strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong> kein Gesetz haben…“ welches Gesetz, sag mir? — Das geschriebene.„… von Natur <strong>die</strong> Forderungen<strong>des</strong> Gesetzes erfüllen …“ welches Gesetzes?— Des Gesetzes, das sich durch <strong>die</strong> Werkeäußert, „… so sind sie, welche kein Gesetzhaben …“ welches Gesetz? — Das geschriebene,„… sich selbst Gesetz.“ Wieso? <strong>In</strong>demsie das natürliche Gesetz <strong>an</strong>wenden. „Solchetragen zur Schau das Werk <strong>des</strong> Gesetzes.“Welches? Des Gesetzes, das sich durch dasTun äußert. Jenes, das Buchstabengesetz,liegt außer uns, <strong>die</strong>ses, das Naturgesetz, liegtin uns, das dritte liegt im H<strong>an</strong>deln. Das einetun Buchstaben kund, das <strong>an</strong>dere <strong>die</strong> Natur,das dritte <strong>die</strong> H<strong>an</strong>dlungen. Dieses dritte tutnot, seinetwegen bestehen <strong>die</strong> beiden <strong>an</strong>dern,das Naturgesetz und das Buchstabengesetz;wenn das nicht in Erscheinung tritt, d<strong>an</strong>nsind jene nutzlos, ja sie sind sogar <strong>zum</strong> größtenSch<strong>ad</strong>en. Vom Naturgesetz drückt <strong>die</strong>sder Apostel aus in den Worten: „Worin dueinen <strong>an</strong>dern richtest, darin verurteilst dudich selbst“; vom geschriebenen aber: „Dupredigst, m<strong>an</strong> solle nicht ste<strong>hl</strong>en und stie<strong>hl</strong>st selbst.“ Ebenso gibt es auchzweierlei Unbeschnittenheit, eine natürlicheund eine moralische; auch zweierlei Beschneidung,eine, <strong>die</strong> am Fleische, und eine<strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> am Willen vollzogen wird. Wennz. B. jem<strong>an</strong>d am achten Tage beschnitten


wird, so ist das <strong>die</strong> fleisc<strong>hl</strong>iche Beschneidung;tut aber jem<strong>an</strong>d alles, was im Gesetzesteht, so ist das eine seelische Beschneidung.Und das ist <strong>die</strong>, welche <strong>Paulus</strong> vor allem fordertoder vielmehr das Gesetz selbst.3.54Sieh also, wie er sie (<strong>die</strong> fleisc<strong>hl</strong>iche Beschneidung)dem Wortlaute nach zwar zugibt,in Wirklichkeit aber aufhebt. Er sagtnämlich nicht: Die Beschneidung ist überflüssig,sie ist Unsinn, sie ist unnütz, sondernwas sagt er? „Die Beschneidung nützt wo<strong>hl</strong>,wenn du das Gesetz erfüllst.“ Er gibt sie vorläufigzu, indem er sagt: Ja, ich gestehe zu,ich widerspreche nicht, daß <strong>die</strong> Beschneidungetwas Gutes ist; jedoch w<strong>an</strong>n? Wennsie von der Beobachtung <strong>des</strong> Gesetzes begleitetist. „Bist du aber ein Übertreter <strong>des</strong> Gesetzes,so ist deine Beschneidung Vorhaut geworden.“Er sagt nicht: Sie nützt nichts, umnicht den Anschein zu erwecken, als wolle ersie beschimpfen; sondern er spricht zuerstdem Juden das Beschnittensein ab, d<strong>an</strong>nverwirft er ihn. Auf <strong>die</strong>se Weise trifft derSchimpf nicht <strong>die</strong> Beschneidung, sondernden, der ihrer durch eigene Lässigkeit verlustiggeg<strong>an</strong>gen ist. Wie <strong>die</strong> Richter Männer inhohen Ehrenstellen, <strong>die</strong> bei Begehung großerVerbrechen verhaftet worden sind, erst ihrerWürde entkleiden und d<strong>an</strong>n erst <strong>die</strong> Strafeüber sie aussprechen, so verfährt <strong>Paulus</strong>.Nachdem er gesagt hat: „Bist du aber ein Ü-bertreter <strong>des</strong> Gesetzes“, fährt er fort: „… soist deine Beschneidung Vorhaut geworden.“Auf <strong>die</strong>se Weise hat er gezeigt, daß der Judeeigentlich unbeschnitten ist; und nun verurteilter ihn ohne Bedenken.V. 26: „Wenn nun der Unbeschnittene <strong>die</strong> Vorschriften<strong>des</strong> Gesetzes hält, wird da nicht seineVorhaut in Beschneidung umgew<strong>an</strong>delt werden?“Sieh, was er macht! Er sagt nicht, daß <strong>die</strong>Unbeschnittenheit <strong>die</strong> Beschneidung übertrifft— d<strong>ad</strong>urch hätte er ja bei seinen Zuhörernsehr <strong>an</strong>gestoßen —, son- derndaß <strong>die</strong> Unbeschnittenheit in Beschneidungumgew<strong>an</strong>delt worden ist. Er untersucht weiter,was <strong>die</strong> Beschneidung sei und was <strong>die</strong>„Vorhaut“. Er sagt, <strong>die</strong> Beschneidung bestehein einer guten H<strong>an</strong>dlungsweise, <strong>die</strong> Vorhautin einer sc<strong>hl</strong>echten. Den Unbeschnittenen,der sich einer guten H<strong>an</strong>dlungsweise befleißt,be<strong>an</strong>sprucht er für <strong>die</strong> Beschneidung,den Beschnittenen dagegen mit einem verderbtenLeben verweist er unter den Begriff„Vorhaut“. Den Vorzug gibt er d<strong>an</strong>n demUnbeschnittenen. Er sagt aber nicht „demUnbeschnittenen“, sondern er setzt dafür <strong>die</strong>H<strong>an</strong>dlungsweise, indem er sagt: „Wird d<strong>an</strong>icht deine Vorhaut in Beschneidung umgew<strong>an</strong>deltwerden?“ Er sagt auch nicht „<strong>an</strong>gesehenwerden“, sondern „umgew<strong>an</strong>deltwerden“, was nachdrucksvoller ist. So hat erauch oben nicht gesagt: „Deine Beschneidungist als Vorhaut <strong>an</strong>gesehen worden“,sondern „ist Vorhaut geworden“.V. 27: „Und es wird dich richten <strong>die</strong> natürlicheVorhaut…“Du siehst, daß der Apostel zweierlei Vorhautkennt, eine im natürlichen und eine im übertragenenSinne; hier spricht er von der natürlichen,aber er bleibt nicht dabei stehen, sondernfährt fort:„… <strong>die</strong> das Gesetz beobachtet, dich, der du beiSchrift und Beschneidung ein Übertreter <strong>des</strong> Gesetzesbist.“— Beachte da seine überaus feinsinnige Unterscheidung!Er sagt nicht, daß <strong>die</strong> natürlicheVorhaut <strong>die</strong> Beschneidung richten wird,sondern er setzt zwar immer da, wo etwasRühmenswertes zu sagen ist, das Wort „Vorhaut“,wo dagegen etwas Nachteiliges ausgesagtwerden muß, läßt er nicht <strong>die</strong> Beschneidungals schuld <strong>an</strong> dem Nachteil erscheinen,sondern den beschnittenen Juden.Er fürchtet nämlich, sonst beim Zuhörer <strong>an</strong>zustoßen.Auch sagt er nicht: Dich, der duGesetz und Beschneidung hast, sondern nochzurückhaltender: „Dich, der du bei Schrift


und Beschneidung ein Übertreter <strong>des</strong> Gesetzesbist“; d. h. <strong>die</strong> Vorhaut in <strong>die</strong>sem Sinne(nämlich bei Gesetzesbeobachtung) rettet derBeschneidung <strong>die</strong> Ehre, denn ihr ist Unrechtgeschehen (nämlich von dem Beschnittenen,der das Gesetz übertreten hat); auchkommt sie dem Gesetz zu Hilfe, denn ihm istGewalt <strong>an</strong>get<strong>an</strong> worden; so stellt er einleuchten<strong>des</strong> Siegeszeichen auf. Der Sieg istger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen ein glänzender, weil nichtder Jude vom Juden, sondern von dem Unbeschnittenengerichtet wird, so wie wenn esheißt: „Die Männer von Ninive werden aufstehenund <strong>die</strong>ses Gesc<strong>hl</strong>echt verurteilen“ 88 .Der Apostel tut also dem Gesetz keinen Abbruch<strong>an</strong> seiner Ehre — im Gegenteil, er hatgroße Hochachtung davor —, sondern seinT<strong>ad</strong>el gilt dem, der sich gegen das Gesetzvergeht. Nachdem er <strong>die</strong>s klar gemacht hat,umgrenzt er weiter freisinnig den Begriff„Jude“ und legt dar, daß er nicht den Judenund nicht <strong>die</strong> Beschneidung verwerfe, sondernger<strong>ad</strong>e den Nicht-Juden und den Nicht-Beschnittenen. Scheinbar rettet er der Beschneidung<strong>die</strong> Ehre, aber doch zerstört er<strong>die</strong> hohe Meinung von ihr, indem er sie nurinsoweit gelten läßt, als sie einen Erfolg(nämlich im sittlichen Leben) aufweist. Erzeigt nämlich, daß gar kein Unterschied bestehezwischen einem Juden und einem Unbeschnittenen,ja daß sogar der Unbeschnittenehöher stehe, wenn er acht hat auf sich;das sei der eigentliche Jude. Darum sagt er:V. 28: „Denn nicht wer es im Äußeren ist, ist einJude, noch ist Beschneidung, <strong>die</strong> äußerliche, <strong>die</strong>am Fleische.“— hier gibt er denen einen Merks, <strong>die</strong> allesnur <strong>des</strong> äußeren Scheines wegen tun —,„sondern wer es im <strong>In</strong>nern ist, ist ein Jude, undBeschneidung ist eine solche <strong>des</strong> Herzens, demGeiste und nicht dem Buchstabe nach.“88 Matth. 12, 41.554.Mit <strong>die</strong>sen Worten sc<strong>hl</strong>ießt er alles Körperlicheaus; denn <strong>die</strong> Beschneidung war etwasÄußerliches, ebenso <strong>die</strong> Sabbate und <strong>die</strong> Opferund <strong>die</strong> Reinigungen. Das alles ist inbegriffenin den Worten: „Denn nicht das Äußerlichemacht den Juden aus.“ Da aber <strong>die</strong>Beschneidung ein hohes Ansehen genoß, sodaß selbst der Sabbat hinter ihr zurückst<strong>an</strong>d,verbreitet er sich mit Recht mehr über sie.Mit dem Worte: „Im Geiste“ arbeitet er derHeilsordnung der Kirche vor und kommt auf den Glauben zu sprechen; denn <strong>die</strong>serhat nur sein Lob bei Gott, wenn er imHerzen und im Geiste lebt. Warum zeigt er<strong>des</strong> weiteren nicht, daß der Heide, wenn errecht h<strong>an</strong>delt, dem Juden, der recht h<strong>an</strong>delt,nicht nachsteht, sondern daß der Heide,wenn er recht h<strong>an</strong>delt, vor dem Juden, derein Gesetzesübertreter ist, den Vorzug hat?Um den Sieg (über <strong>die</strong> Beschneidung) nichtzweifelhaft erscheinen zu lassen. Denn wenndas einmal zugegeben ist, d<strong>an</strong>n ist <strong>die</strong> Beschneidungnotwendigerweise abget<strong>an</strong>, un<strong>des</strong> ist klar geworden, daß es g<strong>an</strong>z und garnur auf das (gute) Leben <strong>an</strong>kommt. Wennnämlich der Heide ohne alles das gerettet,der Jude aber mit allem dem der Strafe verfällt,d<strong>an</strong>n ist das Judentum aufgehoben. Untereinem „Heiden“ versteht aber der Apostelwieder nicht einen Götzen<strong>an</strong>beter, sonderneinen gottesfürchtigen und tugendhaftenMenschen, der nur der Vorschriften <strong>des</strong> (mosaischen)Gesetzes entbehrt.Kap. III, V. 1: „Was hat nun der Jude voraus?“Nachdem der Apostel durch den Satz: „DasÄußerliche macht den Juden nicht aus, sonderndas <strong>In</strong>nere“, alles ausgesc<strong>hl</strong>ossen hat:das Hörersein (<strong>des</strong> Gesetzes), das Lehren(<strong>des</strong>selben), den Namen „Jude“, <strong>die</strong> Beschneidungund alles <strong>an</strong>dere, sieht er einenEinw<strong>an</strong>d auftauchen und tritt ihm entgegen.Welches ist <strong>die</strong>ser Einw<strong>an</strong>d? Wenn alles das,könnte jem<strong>an</strong>d sagen, nichts nützt, wozu istd<strong>an</strong>n das (jüdische) Volk auserwä<strong>hl</strong>t und


wozu ist ihm das Gesetz gegeben worden?Was tut nun der Apostel? Wie löst er ihn?Auf <strong>die</strong>selbe Weise wie oben. Er hat auchdort sein Loblied auf <strong>die</strong> Juden gesungen; erhat Gottes Wo<strong>hl</strong>taten, nicht aber ihre gutenWerke verherrlicht. Er hat ihnen denselbenVorwurf gemacht wie der Prophet, derspricht: „Nicht also tat er allen Völkern undoffenbarte ihnen nicht seine Satzungen“ 89 ,und Moses wiederum spricht: „Fraget, objemals dergleichen geschehen, ob jemals einVolk <strong>die</strong> Stimme Gottes aus der Mitte <strong>des</strong>Feuers gehört habe und am Leben gebliebensei?“ 90 Ebenso verfährt der Apostelhier. Oben, wo er von der Beschneidungsprach, sagte er nicht: <strong>die</strong> Beschneidungnützt nichts ohne das (rechte) Leben, sondern:<strong>die</strong> Beschneidung nützt in Verbindungmit dem rechten Leben. Es ist dasselbe, abermilder ausgedrückt. Und wieder nach:„…Bist du aber ein Übertreter <strong>des</strong> Gesetzes“,sagt er nicht: So nützt dir <strong>die</strong> Beschneidungnichts, sondern: „D<strong>an</strong>n ist deine BeschneidungVorhaut geworden.“ Und hierauf sagter wieder nicht: Die Vorhaut wird <strong>die</strong> Beschneidungrichten, sondern: „Dich, den Gesetzesübertreter“.Er läßt <strong>die</strong> Satzungen unberührtund trifft nur <strong>die</strong> Menschen. Ebensomacht er es hier. Er wendet sich selbst ein:„Was hat also der Jude voraus?“ und <strong>an</strong>twortetnicht darauf: Nichts, sondern er gibt demWortlaute nach zwar einen Vorzug zu; durchdas Folgende hebt er ihn aber wieder auf,indem er zeigt, daß sie eben <strong>die</strong>ses Vorzugeswegen gestraft werden würden. Wieso? Ichwill es sagen, indem ich den Einw<strong>an</strong>d mitseinen eigenen Worten vortrage: „Was hatalso der Jude voraus“, fragt er, „oder was ist<strong>die</strong> Beschneidung nütze?“V. 2: „Gar viel allerdings. Zuvörderst nämlich,daß sie mit den Aussprüchen Gottes betraut wurden.“Siehst du, wie ich oben sagte, daß der Apostelnirgends ihre guten Werke, sondern <strong>die</strong>89 Ps. 147, 20.90 Deut. 5, 26.56Wo<strong>hl</strong>taten Gottes aufzä<strong>hl</strong>t? Was soll das heißen:Sie wurden betraut? Es soll heißen, daßsie das Gesetz eingehändigt bekommen, daßGott sie einer so großen Auszeichnung würdigerachtete, wie <strong>die</strong> ist, ihnen Offenbarungenvon oben <strong>an</strong>zuvertrauen. Ich weiß zwar,daß einige das: „sie wurden betraut“ nichtauf <strong>die</strong> Juden beziehen, sondern auf <strong>die</strong> Aussprüche,d. h. daß (von ihnen) das Gesetzgeglaubt wurde; jedoch das Folgen<strong>des</strong>c<strong>hl</strong>ießt <strong>die</strong>se Deutung aus. Erstlich einmalsoll ja in <strong>die</strong>sen Worten ein Vorwurf liegen;der Apostel will zeigen, daß <strong>die</strong> Juden einegroße Wo<strong>hl</strong>tat von oben genossen, daß sieaber dafür großen Und<strong>an</strong>k bewiesen. Fernerist <strong>die</strong>s aus dem Folgenden ersichtlich; erfährt nämlich fort:V. 3: „Was nun, wenn einige nicht glaubten?“Wenn sie aber nicht glaubten, wiek<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> sagen, daß <strong>die</strong> Aussprüche Gottesgeglaubt wurden? Was will also der Apostelsagen? Daß Gott ihnen das <strong>an</strong>vertraute, nichtaber, daß sie seinen Worten Glauben schenkten.Was hätte d<strong>an</strong>n das Folgende für einenSinn? Er fährt nämlich fort: „Was nun, wenneinige nicht glaubten?“ Und was darauffolgt, erweist dasselbe; er fügt nämlich bei:„Wird wo<strong>hl</strong> ihr Unglaube <strong>die</strong> Treue Gottes aufheben?Das sei ferne!“— Das also, womit sie betraut wurden,nennt der Apostel Gottes Geschenk. Beachtehierbei wieder seine Klugheit! Den Vorwurfgegen sie führt er wieder nicht als seine Behauptung<strong>an</strong>, sondern in Form eines Einw<strong>an</strong><strong>des</strong>,wie wenn er sagte: Aber du wirstvielleicht fragen: Was ist eine solche Beschneidungnütze? Sie machten ja doch nichtden Gebrauch davon, wie sie sollten; siewurden mit dem Gesetze betraut undschenkten ihm keinen Glauben. Bisher ist ernicht in der Rolle eines scharfen Anklägersgegen <strong>die</strong> Juden aufgetreten, sondern indemer scheinbar Gott gegen ihre Anschuldigungenin Schutz nimmt, kehrt er <strong>die</strong> Anklagegegen sie selbst um. Was machst du geltend,


fragt er, daß sie ihm keinen Glauben schenkten?Was beweist das gegen Gott? W<strong>an</strong>deltdenn <strong>die</strong> Und<strong>an</strong>kbarkeit der Beschenkten <strong>die</strong>wo<strong>hl</strong>wollende Gesinnung Gottes um? Bewirktsie, daß <strong>an</strong>get<strong>an</strong>e Ehre keine Ehre sei?Das ist gemeint, wenn er spricht: „Wird wo<strong>hl</strong>ihr Unglaube <strong>die</strong> Treue Gottes aufheben? Dassei ferne!“ Es ist, als wenn jem<strong>an</strong>d sagte: Ichhabe dem so und so eine Ehre <strong>an</strong>tun wollen;wenn nun er <strong>die</strong> Ehrung nicht mag, so trägtdas mir keinen Vorwurf ein und wirft keinschiefes Licht auf meine menschenfreundlicheGesinnung, sondern ist ein Beweis vonder Gefü<strong>hl</strong>losigkeit <strong>des</strong> <strong>an</strong>dern. Doch <strong>Paulus</strong>sagt nicht bloß das, sondern noch viel mehr,nämlich, daß ihr Unglaube nicht bloß nichtGott zur Last gelegt werden könne, sonderndaß er seine menschenfreundliche Gesinnungund seine Absicht, sie zu ehren, in einemnoch helleren Lichte erstra<strong>hl</strong>en lasse.Gott steht nämlich da als einer, der auch demeine Ehre <strong>an</strong>tut, der im Begriffe steht, ihnselbst zu verunehren. 5.Siehst du, wie er ihnen ger<strong>ad</strong>e das, woraufsie so stolz waren, zu ihrer eigenen Verschuldungumstempelt? Gott hat ihnen sogroße Ehre <strong>an</strong>get<strong>an</strong>, er hat von seinemWo<strong>hl</strong>wollen nicht gelassen, obzwar er voraussah,was kommen wird, und sie haben<strong>die</strong> Ehrengeschenke selbst dazu benützt, gegenihn zu freveln. Er sagt: „Was aber, wenneinige ihm keinen Glauben schenkten?“ währen<strong>des</strong> doch wo<strong>hl</strong> alle am Glauben habenfe<strong>hl</strong>en lassen. Um jedoch nicht als ein allzuscharfer Ankläger und als ein Feind der Judenzu erscheinen, spricht er nicht einfach<strong>die</strong>se geschichtliche Tatsache aus, sondernkleidet das, was wirklich geschehen ist, in <strong>die</strong>Form eines Annahmesatzes, indem erspricht:„Gott bleibe wahrhaft, sei auch jeder Mensch einLügner.“57—Was er damit sagen will, ist etwa das: Ichbehaupte nicht, daß einige Gott keinen Glaubenschenkten; wenn du willst, nimm <strong>an</strong>, alleseien ungläubig gewesen. Was tatsäc<strong>hl</strong>ichgeschehen ist, gibt er bedingungsweise zu,um nicht in den Verdacht der Feindseligkeitzu kommen. Aber auch das, sagt er, <strong>die</strong>ntdazu, Gott nur noch mehr zu rechtfertigen.Was heißt: zu rechtfertigen? Wenn m<strong>an</strong> einmaldas sichten und nebenein<strong>an</strong>derstellenwollte, was Gott für <strong>die</strong> Juden get<strong>an</strong>, undwas sie Gott <strong>an</strong>get<strong>an</strong> haben, d<strong>an</strong>n steht derSieg auf seiten Gottes, und alles von ihm istRechttun. Nachdem er das mit eigenen Wortenklar gemacht hat, führt er noch den Propheten<strong>an</strong>, der auch ein Verdammungsurteilüber sie ausspricht, wenn er sagt:„Auf daß du gerecht erfunden wirst in deinenWorten und den Sieg zugesprochen erhältst,wenn m<strong>an</strong> über dich urteilt“. 91—Er hat von seiner Seite alles get<strong>an</strong>, sie aberwurden keineswegs besser. — Hierauf bringter noch einen <strong>an</strong>dern Einw<strong>an</strong>d vor, der auftauchenkönnte, indem er sagt:V. 5: „Wenn aber unsere Ungerechtigkeit GottesGerechtigkeit ins Licht setzt, was sollen wir daraussc<strong>hl</strong>ießen? Ist Gott nicht ungerecht,wenn er in seinem Zorne straft? — mensc<strong>hl</strong>ichgesprochen.“Das sei ferne! — Der Apostel erweist denEinw<strong>an</strong>d als irrig, indem er eine unsinnigeFolgerung daraus ableitet. Da das aber etwasunklar ist, muß ich mich deutlicher erklären.Was will er also sagen? Gott hatte den JudenEhre <strong>an</strong>get<strong>an</strong>, sie aber haben ihn frevelhaftmißachtet. Das hat ihm den Sieg über sie verschafft;denn es gab ihm Gelegenheit, seinegroße Liebe zu den Menschen <strong>an</strong> den Tag zulegen, <strong>die</strong> sich darin äußert, daß er ihnenauch d<strong>an</strong>n noch Ehre <strong>an</strong>tut, wenn sie sich sogegen ihn benehmen. Da könnte jem<strong>an</strong>d sagen:Nun gut; wenn wir gegen Gott frevelnund Unrecht tun, so verschaffen wir ihm d<strong>ad</strong>urcheigentlich einen Sieg, den nämlich, daß91 Ps. 50, 6.


seine Gerechtigkeit in ihrem g<strong>an</strong>zen Gl<strong>an</strong>zeerstra<strong>hl</strong>t. Warum werde ich aber d<strong>an</strong>n gestraft,da ich, doch durch meinen Frevel <strong>die</strong>Ursache seines Sieges geworden bin? — Wielöst nun der Apostel <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d? Wiegesagt, indem er eine unsinnige Folgerungdaraus ableitet. Wenn du, sagt er, <strong>die</strong> Ursacheseines Sieges geworden bist und hinterdreingestraft wirst, so geschieht damit einUnrecht von Seiten Gottes; bist du aber nichtungerecht und wirst doch gestraft, so hast dudamit Gott nicht zu einem Siege verholten.Beachte auch <strong>die</strong> Bedachtsamkeit <strong>des</strong> Apostels(im Ausdruck)! Nach den Worten: „IstGott nicht ungerecht, wenn er in seinem Zornestraft?“ fügt er bei: „mensc<strong>hl</strong>ich gesprochen“.Er will sagen: Wie m<strong>an</strong> nach mensc<strong>hl</strong>ichenBegriffen zu reden pflegt. Denn dasgerechte Urteil Gottes übertrifft bei weitemdas, was uns gerecht vorkommt, und hat <strong>an</strong>dereunerforsc<strong>hl</strong>iche Gründe. — Weil daseben Vorgetragene etwas unklar war, wiederholter denselben Ged<strong>an</strong>ken noch einmal:V. 7: „Denn wenn <strong>die</strong> Wahrhaftigkeit Gottesger<strong>ad</strong>e durch mein Lügengewebe zu seiner Verherrlichung<strong>an</strong>s Licht kommt, was werde ich d<strong>an</strong>och als Sünder zur Rechenschaft gezogen?“Wenn Gott, soll das heißen, infolge deinesUngehorsams als menschenfreundlich, gerechtund gütig offenbar wird, so solltest dunicht gestraft, sondern be- lohnt werden.Wenn aber dem so ist, d<strong>an</strong>n wird ja zurWahrheit jene sinnlose Rede, <strong>die</strong> im Mundevieler ist, daß aus dem Bösen das Gute hervorgeheund daß schuld am Guten das Bösesei; und notwendigerweise muß eines von<strong>die</strong>sen beiden gelten. Entweder erscheintGott, wenn er straft, ungerecht, oder er trägteinen Sieg davon infolge unserer Bosheit,wenn er nicht straft. Bei<strong>des</strong> ist über <strong>die</strong> Maßenungereimt. Der Apostel erweist <strong>die</strong>sauch d<strong>ad</strong>urch als falsch, daß er <strong>die</strong> Heidenals <strong>die</strong> Erfinder solcher Lehren einführt; er istoffenbar der Meinung, es genüge zur Kennzeichnungsolchen Gere<strong>des</strong>, <strong>die</strong> Person dererzu kennen, <strong>die</strong> es aufgebracht haben. Denn58sie waren es, <strong>die</strong> einst uns <strong>zum</strong> Spott sagten:Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraushervorgehe! Darum sagt er mit offenkundigerBeziehung darauf weiter:V. 8: „Sollten wir da nicht, wie wir geschmähtwerden und wie m<strong>an</strong>che uns nachsagen, daß wir<strong>die</strong>sen Grundsatz vertreten, wirklich Böses tun,damit Gutes daraus hervorgehe? Die Verurteilungsolcher ist offensichtlich.“Es ist nämlich ein Ausspruch <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>:„Wo <strong>die</strong> Sünde überh<strong>an</strong>d genommen, da warüberschwenglich geworden <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e“ 92 .M<strong>an</strong>che hatten ihn <strong>des</strong>wegen verspottet und,indem sie <strong>die</strong>sen Worten einen falschen Sinnunterlegten, gesagt, m<strong>an</strong> müsse sich <strong>an</strong>s Bösehalten, um das Gute zu genießen. Das hatteaber <strong>Paulus</strong> nicht gesagt. <strong>In</strong>dem er nun seinemWorte den richtigen Sinn gibt, sagt er:Was also? Sollen wir in der Sünde verharren,damit <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e überschwenglich werde?Das sei ferne! Von verg<strong>an</strong>genen Zeiten, willer sagen, habe ich damals gesprochen, nichtdamit wir in Zukunft darnach h<strong>an</strong>deln. Erweist <strong>die</strong>se Unterstellung auch d<strong>ad</strong>urch zurück,daß er sagt, es sei ein solcher Sinn übrigensauch g<strong>an</strong>z unmöglich. Wie sollten wir,sagt er, wenn wir der Sünde abgestorbensind, in ihr noch fürderhin leben?6.Gegen <strong>die</strong> Heiden hatte es der Apostel leichtgehabt, loszugehen; denn ihr Lebenwar sehr verderbt. War dagegen das Lebender Juden auch sichtlich voller Nac<strong>hl</strong>ässigkeit,so hatten sie doch wichtige Deckmäntel:das Gesetz und <strong>die</strong> Beschneidung; ferner daßGott mit ihnen verkehrt und sie zu Lehrernaller gesetzt hatte. Der Apostel hat sie darumaller <strong>die</strong>ser Vorzüge entkleidet und gezeigt,daß sie ihretwegen um so mehr würden gestraftwerden. Auf dasselbe läuft auch hier92 Röm. 5, 20.


seine Sc<strong>hl</strong>ußfolgerung hinaus. Denn wennLeute, <strong>die</strong> solches tun, sagt er, nicht gestraftwerden, d<strong>an</strong>n gilt notwendig <strong>die</strong> gotteslästerlicheRede: „Lasset uns Böses tun, damitGutes daraus hervorgehe.“ Wenn aber einesolche Rede gottlos ist, und wenn <strong>die</strong>, welchesie im Munde führen, Strafe ver<strong>die</strong>nen — dasliegt in den Worten: „Die Verurteilung solcherist offensichtlich“ —, d<strong>an</strong>n ist es g<strong>an</strong>zoffenbar, daß <strong>die</strong> Juden, (von denen der A-postel spricht,) strafbar sind. Denn wenn <strong>die</strong>schon Strafe ver<strong>die</strong>nen, welche eine solcheRede im Munde führen, wieviel mehr <strong>die</strong>,welche nach ihr h<strong>an</strong>deln; sind aber <strong>die</strong> Judenstrafbar, d<strong>an</strong>n sind sie es als Sünder. Dennder, welcher <strong>die</strong> Strafe verhängt, ist ja nichtein Mensch, daß er auch ein irriges Urteilfällen könnte, sondern der alles gerecht ordnendeGott. Wenn sie aber gerechterweisegestraft werden, d<strong>an</strong>n haben auch <strong>die</strong>, welcheuns <strong>zum</strong> Spott jene Rede aufbrachten,damit unrecht; denn Gott hat alles get<strong>an</strong> undtut alles, um unsern W<strong>an</strong>del zu einem leuchtendenzu machen und ihm allseits <strong>die</strong> rechteRichtung zu geben.Lasset uns nicht sorglos dahinleben, d<strong>an</strong>nwerden wir imst<strong>an</strong>de sein, auch <strong>die</strong> Heidenvon ihrem Irrwege abzubringen. Wenn wiraber mit dem Munde zwar weise Reden führen,in unseren H<strong>an</strong>dlungen aber verächtlichsind, mit was für Augen sollen wir da <strong>die</strong>Heiden <strong>an</strong>schauen? Mit was für Lippen über<strong>die</strong> Glaubenslehren (zu ihnen) reden? DerHeide wird nämlich zu jedem von uns sagen:Du h<strong>an</strong>delst nicht recht in den geringen Dingen(<strong>des</strong> gewöhnlichen Lebens); wie willstdu uns viel Höheres lehren? Du hast nochnicht gelernt, daß <strong>die</strong> Habsucht ein Übel ist;wie willst du uns weise Reden halten überhimmlische Dinge? Oder weißt du es, daß sieein Übel ist? D<strong>an</strong>n ist deine Verfe<strong>hl</strong>ung nochgrößer, da du sündigst mit Wissen.Doch was rede ich von den Heiden! Auchunsere eigene Religion gestattet uns nichtsolchen Freimut im Reden, wenn unser Lebenein verderbtes ist. Denn „<strong>zum</strong> Sünder“,59heißt es, „spricht Gott: Was schwatzest duvon meinen Satzungen?“ 93 Als <strong>die</strong> Juden inder Gef<strong>an</strong>genschaft von den Persern einmal<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>gen und gebeten wurden, ihnen ihreGesänge <strong>des</strong> Herrn vorzusingen, da scheutensie sich, es zu tun und sprachen: „Wie sollenwir singen den Ges<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Herrn im fremdenL<strong>an</strong>de?“ 94 Wenn es aber unerlaubt war,im L<strong>an</strong>de der Barbaren <strong>die</strong> Aussprüche Gotteszu singen, um wieviel mehr unerlaubtwird es einer Barbarenseele sein? Eine Barbarenseeleaber ist <strong>die</strong> Seele <strong>des</strong> Hartherzigen.Denn wenn das Gesetz den Gef<strong>an</strong>genen, <strong>die</strong>im fremden L<strong>an</strong>de Sklaven von Menschengeworden waren, Schweigen auferlegte, soist es um vieles gerechter, daß <strong>die</strong>, welcheSklaven der Sünde und so gewissermaßenAngehörige eines fremden Reiches gewordensind, <strong>zum</strong> Schweigen gebracht werden. Obzwarjene Juden Musikinstrumente besaßen— es heißt ja: „An den Weiden inmitten jenesL<strong>an</strong><strong>des</strong> hingen wir unsere Harfen auf“ —, sowar es ihnen doch nicht gestattet. So ist esauch uns, obzwar wir Mund und Zunge —<strong>die</strong> Sprachwerkzeuge — besitzen, nicht erlaubt,nach Gefallen zu sprechen, sol<strong>an</strong>ge wirSklaven der Sünde sind, <strong>die</strong> härtere Herrschaftausübt als alle Barbaren. Sag’ mir, waswillst du zu einem Heiden sagen, der einRäuber und ein Geizhals ist? Etwa: Laß abvon deinem Götzen<strong>die</strong>nste? Erkenne denwahren Gott, und lauf nicht dem Silber unddem Golde nach? Wird er dich nicht auslachenund sprechen: Halte zuerst dir selbstsolche Reden? Es ist nämlich nicht dasselbe,wenn ein Heide Götzen<strong>die</strong>nst treibt und einChrist sich derselben Sünde (durch den Geiz)schuldig macht. Wie werden wir imst<strong>an</strong><strong>des</strong>ein, <strong>an</strong>dere von jenem Götzen<strong>die</strong>nste abzubringen,wenn wir selbst nicht davon lassen?Wir sind ja uns selbst mehr unsere Nächstenals jenen. Wenn wir nun uns selbst nicht ü-ber- zeugen lassen, wie werden wir<strong>an</strong>dere überzeugen? Denn wenn der, welcher93 Ps. 49, 16.94 Ebd. 136, 4.


seinem eigenen Hause nicht gut vorzustehenweiß, auch <strong>die</strong> Kirche nicht verwalten k<strong>an</strong>n,wie wird jem<strong>an</strong>d, der seiner eigenen Seelenicht vorzustehen weiß, imst<strong>an</strong>de sein, <strong>an</strong>derezurecht zu richten? Sag’ mir nicht, daß duja kein Götzenbild aus Gold <strong>an</strong>betest, sondernzeig’ mir lieber, daß du nicht das tust,was dir das Gold befie<strong>hl</strong>t. Es gibt nämlichverschiedene Arten von Götzen<strong>die</strong>nst: dereine hält den Mammon für seinen Herrn, ein<strong>an</strong>derer hält den Bauch für seinen Gott undwieder ein <strong>an</strong>derer eine <strong>an</strong>dere höchstschmä<strong>hl</strong>iche Leidenschaft. Du opferst ihnennicht Rinder wie <strong>die</strong> Heiden? Aber du tötest— was noch sc<strong>hl</strong>echter ist — ihnen zuliebedeine eigene Seele! Du beugst nicht deineKnie vor ihnen und betest sie nicht <strong>an</strong>? Aberdu tust mit voller Bereitwilligkeit alles, wasimmer sie dir befe<strong>hl</strong>en mögen, <strong>die</strong>se deineHerren: der Bauch, das Gold, <strong>die</strong> Leidenschaft!Die Heiden waren <strong>des</strong>wegen verabscheuungswert,weil sie <strong>die</strong> Leidenschaftenvergötterten: <strong>die</strong> sinnliche Gier stellten siedar als Aphrodite, den Zorn als Ares, <strong>die</strong>Trunkenheit als Dionysos. Wenn auch du dirnicht Götzenbilder schnitzest wie jene, sounterwirfst du dich doch mit aller Bereitwilligkeiteben <strong>die</strong>sen Leidenschaften, machst<strong>die</strong> Glieder Christi zu Gliedern einer Hureund stürzest dich in <strong>an</strong>dere Sünden.Darum ermahne ich euch, zu beherzigen, wieübergroße Torheit <strong>die</strong>s ist, und <strong>die</strong>sen Götzen<strong>die</strong>nst— denn so nennt <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong> Habsucht— zu fliehen, nicht bloß <strong>die</strong> Sucht nachGeld, sondern auch <strong>die</strong> böse Begierde nachKleiderpracht, nach Tafelfreuden und nachallem <strong>an</strong>dern. Denn viel schwerer werdenwir gestraft werden, wenn wir den Gesetzen<strong>des</strong> Herrn nicht gehorchen. „Der Knecht“,heißt es ja, „der den Willen seines Herrnkennt und ihn doch nicht tut, wird vieleStreiche erhalten“ 95 . Damit wir <strong>die</strong>ser Strafeentrinnen und uns und <strong>an</strong>dern nützlich werden,laßt uns alle Bosheit aus der Seele ent-fernen und der Tugend nachstreben! Daswerde uns allen zuteil durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e undLiebe unseres Herrn Jesus Christus,mit welchem dem Vater zugleich mit demHl. Geiste sei Ruhm, Ehre und Herrlichkeitjetzt und allezeit bis in alle Ewigkeit. Amen.ACHTE HOMILIE. Kap. III, V. 9—31.1.Kap. III, V. 9—31.V. 9: „Wie nun? Haben wir etwas voraus? G<strong>an</strong>zund gar nicht. Wir haben ja schon oben bewiesen,daß alle, Juden und Heiden, unter Sünde stehen“,V. 10: „wie geschrieben steht: Nicht einer istgerecht“,V. 11: „nicht einer ist verständig, nicht einersucht Gott.“V. 12: „Alle sind abgewichen, allesamt taugennichts, keiner h<strong>an</strong>delt recht, auch nicht einer.“V. 13: „Ein offenes Grab ist ihr Sc<strong>hl</strong>und, mit ihrenZungen reden sie trägerisch, Natterngift birgtsich hinter ihren Lippen“;V. 14: „von Flächen und Gehässigkeiten ist vollihr Mund“;V. 15: „ihre Füße sind eilig, Blut zu vergießen“;V. 16: „Leid und Elend ist auf ihren Wegen“;V. 17: „den Weg <strong>des</strong> Friedens kennen sie nicht.“V. 18: „Gottesfurcht ist nicht vor ihren Augen.“Angeklagt hat der Apostel <strong>die</strong> Juden, <strong>an</strong>geklagt<strong>die</strong> Heiden. Es erübrigt nun zu sprechenvon der Gerechtigkeit durch den Glauben.Denn wenn das Naturgesetz nichts nützewar noch auch das geschriebene mehr leistete,sondern wenn beide <strong>die</strong>, welche d<strong>an</strong>ac<strong>hl</strong>ebten, nur mehr belasteten und nur umsostrafwürdiger erscheinen ließen, d<strong>an</strong>n bliebnotwendig nichts übrig als das Heil ausGn<strong>ad</strong>e. Sprich uns also davon, <strong>Paulus</strong>, undzeig’ es uns! Aber noch traut er sich nicht,weil er <strong>die</strong> Frechheit der Juden kennt. Erbringt darum <strong>die</strong> Rede wieder auf <strong>die</strong> An-95 Luk. 12, 47.60


klagen gegen sie. Er führt zunächstDavid als Ankläger vor, der weitläufig dasselbesagt, was Isaias alles in Kürze vorbringt.Damit legt er ihnen einen gewaltigenZaum <strong>an</strong>, damit sie nicht aus können unddamit keiner seiner Zuhörer, wenn <strong>die</strong> Redeauf den Glauben kommen wird, sich ihr entsc<strong>hl</strong>agenkönne, weil im vorhinein festgenommendurch <strong>die</strong> Anklagen der Propheten.Drei Vorwürfe sind es, <strong>die</strong> ihnen der Prophetmacht: daß sie alle Böses get<strong>an</strong> hätten; daßsie nicht einmal ab und zu etwas Gutes get<strong>an</strong>,sondern nur reine Bosheit verübt hätten,und daß sie <strong>die</strong>s alles mit aller Absicht get<strong>an</strong>hätten. Ferner, damit sie nicht sagen könnten:„Wie, wenn etwa das auf <strong>an</strong>dere gemeintist?“ fährt er fort:V. 19: „Wir wissen aber, daß alles, was das Gesetzsagt, zu denen gesprochen ist, <strong>die</strong> unter demGesetze stehen.“Darum führt er nach Isaias, der nach ihremeigenen Zugeständnis gegen sie aufgetretenwar, David <strong>an</strong>, um zu zeigen, daß <strong>des</strong>senWorte <strong>die</strong>selbe Folgerung zulassen. Was lagdenn für eine Notwendigkeit vor, will er sagen,daß der Prophet, der zu eurer Besserungges<strong>an</strong>dt war, <strong>an</strong>dern Vorwürfe mache? Undauch das Gesetz war nicht <strong>an</strong>deren gegeben,sondern euch. Warum sagt er aber nicht:„Wir wissen, daß alles, was der Prophet sagt,sondern; „was das Gesetz sagt“? Weil <strong>Paulus</strong>das g<strong>an</strong>ze Alte Testament „Gesetz“ zu nennenpflegt. So sagt er <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle:„Hört ihr nicht das Gesetz, daß Abrahamzwei Söhne hatte?“ 96 Hier nennt er <strong>die</strong> PsalmenGesetz, indem er spricht: „Wir wissen,daß alles, was das Gesetz sagt, zu denen gesprochenist, <strong>die</strong> unter dem Gesetze stehen.“— D<strong>an</strong>n zeigt er, daß das nicht bloß der Anklagewegen gesagt sei, sondern wieder zudem Zwecke, damit das Gesetz dem Glaubenden Weg bahne. Darin stimmen Altes undNeues Testament zusammen, daß <strong>die</strong> Anklagenund Vorwürfe überhaupt dazu erhobenwerden, damit d<strong>ad</strong>urch bei den Hörern demGlauben eine herrliche Pforte eröffnet werde.Da nämlich den Juden ger<strong>ad</strong>e ihre hohe Meinungvon sich selbst <strong>zum</strong> Verderben war —dasselbe sagt er weiter unten: „Da sie <strong>die</strong> Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen,und bloß ihre eigene aufrecht erhaltenwollen, so unterstellen sie sich nicht derGerechtigkeit Gottes 97 —, so haben Gesetzund Propheten im voraus ihren Stolz gefälltund ihre Einbildung niedergehalten, damitsie zur Einsicht ihrer eigenen Sünden kämen,ihre g<strong>an</strong>ze Anmaßung ablegten und, sich deräußersten Gefahr bewußt, mit aller Bereitwilligkeitdem entgegeneilten, der ihnen Hinwegnahmeihrer Sünden brachte, und Gn<strong>ad</strong>eerl<strong>an</strong>gten durch den Glauben. Das deutet<strong>Paulus</strong> auch hier <strong>an</strong>, wenn er spricht: „Wirwissen, daß alles, was das Gesetz sagt, zudenen gesprochen ist, <strong>die</strong> unter dem Gesetzestehen,damit jeglicher Mund <strong>zum</strong> Schweigen gebrachtwerde und <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt Gott (auf Gn<strong>ad</strong>e undUngn<strong>ad</strong>e) <strong>an</strong>heimgegeben werde.“— Hier zeigt er nämlich, daß <strong>die</strong> Juden garnicht Ursache haben, sich auf ihre (guten)Werke zu verlassen, und daß sie nur mitWorten unverschämt pra<strong>hl</strong>en. Darum gebrauchter auch passend <strong>die</strong> Redewendung:„damit jeder Mund <strong>zum</strong> Schweigen gebrachtwerde“; er drückt damit aus ihre unverschämte,grenzenlose Pra<strong>hl</strong>erei und das geflissentlicheZügeln ihrer Zunge; denn wieein nicht eingedämmter Strom ließ sie sichgehen; aber der Prophet brachte sie <strong>zum</strong>Schweigen. Wenn <strong>Paulus</strong> sagt: „Damit jederMund <strong>zum</strong> Schweigen gebracht werde“, sagter nicht, daß sie darum gesündigt hätten,damit ihr Mund <strong>zum</strong> Schweigen gebrachtwerde, sondern sie seien darum gescholtenworden, damit sie nicht vergessen sollten,daß sie eben damit gesündigt hatten.„Und damit <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt Gott (auf Gn<strong>ad</strong>eund Ungn<strong>ad</strong>e) <strong>an</strong>heimgegeben werde.“ Der96 Gal. 4, 21 u. 226197 Röm. 10, 3.


Apostel sagt nicht: „der Jude“, sondern: „<strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Welt“; denn der Satz: „damit jeglicherMund <strong>zum</strong> Schweigen gebracht werde“ istauf jene (<strong>die</strong> Juden) gemünzt, wenn es auchnicht offen ausgesprochen wird, damit <strong>die</strong>Rede nicht zu herb ausfalle. Das <strong>an</strong>dere aber:„Damit <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt sich vor Gott schuldiggebe“, ist sowo<strong>hl</strong> von den Juden wie auchvon den Heiden gesagt. Es trägt <strong>die</strong>snicht wenig dazu bei, dem Hochmut jener(der Juden) einen Dämpfer aufzusetzen,wenn sie auch hier keinen Vorzug bekommenvor den Heiden, sondern in gleicherWeise als verloren erklärt werden gemäß derHeilslehre (<strong>des</strong> Neuen Bun<strong>des</strong>). „Auf Gn<strong>ad</strong>eund Ungn<strong>ad</strong>e <strong>an</strong>heimgegeben“ (ὑπόδικος)wird eigentlich nur jener gen<strong>an</strong>nt, der außerst<strong>an</strong>deist, sich selbst zu verteidigen, sondernder Hilfe eines <strong>an</strong>dern bedarf. Das war ja derZust<strong>an</strong>d von uns allen: Wir waren verlorenin bezug auf unser Seelenheil.V. 20: „Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnisder Sünde“ 98 .Wieder versetzt der Apostel dem Gesetz einenHieb, freilich mit Schonung. Denn dasGesagte ist keine Anklage gegen das Gesetz,sondern gegen <strong>die</strong> leichtfertige Auffassung<strong>des</strong>selben durch <strong>die</strong> Juden. Gleichwo<strong>hl</strong> zielter hier darauf ab, nachzuweisen, daß es stark<strong>an</strong> innerer Schwäche leide, weil er ja später<strong>die</strong> Rede auf den Glauben überleiten will.Wenn du auf das Gesetz stolz bist, will ersagen, so gereicht dir dasselbe vielmehr zurBeschämung. Er sagt das aber nicht so scharf,sondern wieder mild: „Denn durch das Gesetzkommt Erkenntnis der Sünde.“ Also istauch <strong>die</strong> Strafe größer, aber durch <strong>die</strong> Schuldder Juden. Denn das Gesetz trug dazu bei,dich <strong>die</strong> Sünde erkennen zu lassen. DeineSache war es, sie zu fliehen. Hast du sie nunnicht geflohen, so hast du deine Strafe nurerschwert, und der Wegweiser „Gesetz“ hat98 Vor <strong>die</strong>sem Satze steht im 20. Vers folgender: ‚Denn durch <strong>die</strong> Werke<strong>des</strong> Gesetzes wird kein Mensch vor ihm gerechtfertigt.’ Im <strong>Kommentar</strong> ist<strong>die</strong>ser Satz überg<strong>an</strong>gen.62dich nur auf den Weg zu größerer Bestrafunggeführt.2.Nachdem nun der Apostel <strong>die</strong> Furcht gesteigerthat, kommt er im folgenden auf <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e, und nachdem er ein großes Verl<strong>an</strong>gennach Sündenvergebung geweckt hat,sagt er:V. 21: „Jetzt aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeitvon Gott geoffenbart worden.“ EtwasGroßes spricht er hier aus, etwas, das einerl<strong>an</strong>gen Ausein<strong>an</strong>dersetzung bedarf. Dennwenn <strong>die</strong> der Strafe nicht entgingen, welcheunter dem Gesetze lebten, ja sogar eine nochschwerere Belastung davon hatten, wiekommt es, daß m<strong>an</strong> ohne Gesetz nicht bloßder Strafe entgehen, sondern auch gerechtwerden k<strong>an</strong>n? Zwei Hauptpunkte stellt erhier auf: Gerechtfertigt werden und ohneGesetz eines solchen Gutes teilhaftig werden.Darum sagt er nicht einfach „Gerechtigkeit“,sondern „Gerechtigkeit von Gott“; aus derWürde der Person macht er klar sowo<strong>hl</strong> dengrößeren Wert <strong>des</strong> Geschenkes als auch <strong>die</strong>Möglichkeit, es zu gewähren; denn Gott ist jaalles möglich. Auch sagt er nicht: „sie wurdegegeben“, sondern: „sie wurde geoffenbart“;damit vermeidet er den Vorwurf, daß es sichum etwas Neues h<strong>an</strong>dle. „Geoffenbart“ besagtnämlich, daß etwas von früher her daist, aber verborgen war und nun zur Schaugestellt wird. Doch nicht allein das, sondernauch <strong>die</strong> folgenden Worte drücken aus, daßes sich um nichts Neues h<strong>an</strong>dle. Nachdem ernämlich gesagt hat: „sie wurde geoffenbart“,fährt er fort:„bezeugt vom Gesetz und den Propheten“— Laß dich nicht d<strong>ad</strong>urch beunruhigen, willer sagen, daß <strong>die</strong> Gerechtigkeit von Gott erstjetzt gegeben wurde, und laß dich nicht irremachen(durch <strong>die</strong> Meinung), als sei sieetwas Neues und Fremdartiges; haben von


ihr ja doch Gesetz sowo<strong>hl</strong> wie Propheten imvoraus gesprochen. Zum Teil hat er es durch<strong>die</strong> vorausgeg<strong>an</strong>gene Ausein<strong>an</strong>dersetzungklar gemacht, <strong>zum</strong> Teil will er es erst tun.Oben hat er den Habakuk <strong>an</strong>geführt, der daspricht: „Der Gerechte wird leben aus demGlauben“ 99 ; weiter unten wird er Abrahamund David uns dasselbe sagen lassen. Denndas Wort <strong>die</strong>ser Persönlichkeiten galt bei denJuden viel; war ja der eine Patriarch undProphet, der <strong>an</strong>dere ein König und Prophet,und beiden war <strong>die</strong> frohe Botschaft (von derGn<strong>ad</strong>e im Neuen Testament) zuteil geworden.Darum tut auch Matthäus am Anf<strong>an</strong>gseines Ev<strong>an</strong>geliums beider zuvörderst Erwähnung,und d<strong>an</strong>n erst führt er <strong>die</strong> Stamm-eltern nach der Reihenfolge auf.Nachdem er nämlich gesagt hat: „Buch derAbstammung Jesu Christi“, nennt er nachAbraham nicht gleich den Isaak und Jakob,sondern sofort nach Abraham erwähnt erDavid; dabei ist auffallend, daß er vor Abrahamden David setzt, indem er so sagt: „<strong>des</strong>Sohnes Davids, <strong>des</strong> Sohnes Abrahams“; undd<strong>an</strong>n beginnt er aufzuzä<strong>hl</strong>en den Isaak, denJakob und alle <strong>die</strong> folgenden. Darum führtsie auch hier der Apostel ausdrücklich <strong>an</strong>und sagt: „Gerechtigkeit von Gott, bezeugtdurch das Gesetz und <strong>die</strong> Propheten“. Damitaber niem<strong>an</strong>d sage: „Wie sollen wir gerettetwerden, ohne selbst dazu etwas mitgewirktzu haben?“ zeigt er, daß auch wir nichts Geringesdazu beigetragen haben, ich meineden Glauben. Nachdem er also gesagt hat:„Gerechtigkeit Gottes“, fährt er fort:V. 22: „Durch den Glauben für alle und überalle, <strong>die</strong> da glauben.“Hier könnte wieder der Jude in Aufregunggeraten, da er keine Vorzugsstellung nebenden <strong>an</strong>dern bekommt, sondern einfach derg<strong>an</strong>zen übrigen Welt beigezä<strong>hl</strong>t wird. Um<strong>die</strong>s zu vermeiden, schreckt ihn der Apostelwieder mit Furcht, indem er fortfährt:„Denn es ist kein Unterschied.“99 Röm. 1, 17. Vgl. Hab, 2, 4.63V. 23: „Denn alle haben gesündigt.“Sag’ mir also nicht: Der ist ein Grieche, derein Skythe, der ein Thrakier. Wir befindenuns alle in derselben Lage. Magst du auchdas Gesetz überkommen haben, so hast duaus dem Gesetze nur eins gelernt, (nämlich)<strong>die</strong> Sünde zu erkennen (d. h. zu erkennen,was Sünde ist), nicht aber, ihr zu entgehen.Damit <strong>die</strong> Juden ferner nicht sagen können:„Wenn wir auch gesündigt haben, so dochnicht so wie jene“, fährt er fort:„und entbehren alle <strong>des</strong> Ruhmes vor Gott“— Hast du auch nicht genau so gesündigtwie <strong>an</strong>dere, so entbehrst du doch genau so<strong>des</strong> Ruhmes vor Gott; denn du gehörst einmalunter <strong>die</strong>, welche (Gott) beleidigt haben;solchen aber gebührt nicht Ruhm, sondernBeschämung. Aber fürchte dich nicht! Ichhabe das gesagt, nicht um dich in Verzweiflungzu stürzen, son- dern um dir<strong>die</strong> Barmherzigkeit <strong>des</strong> Herrn kundzutun. Erfährt daher fort:V. 24: „Gerechtfertigt geschenkweise durch seineGn<strong>ad</strong>e, durch <strong>die</strong> Erlösung in Christo Jesu“,V. 25: „den Gott im voraus bestimmt hatte <strong>zum</strong>Sühnopfer durch den Glauben in seinem Blute<strong>zum</strong> Erweis seiner Gerechtigkeit.“Beachte, durch wie vielfache Beweisgründeer das, was er gesagt hat, bekräftigt! Den erstenBeweisgrund nimmt er her von der Würdeder Person; denn nicht ein Mensch ist der,welcher solches bewirkt, daß ihm <strong>die</strong> Kraftdazu fe<strong>hl</strong>en könnte, sondern Gott, der allesvermag; von Gott ist ja <strong>die</strong> Gerechtigkeit,sagt er. Den zweiten nimmt er her vom Gesetzund den Propheten. Erschrick nicht,wenn du hörst „ohne Gesetz“! Denn im Gesetzeselbst ist im Schatten dasselbe enthalten.Den dritten (Beweisgrund) nimmt er hervon den Opfern <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>; <strong>des</strong>wegensagt er: „in seinem Blute“; damit erinnert ersie <strong>an</strong> <strong>die</strong> damals geopferten Schafe und Kälber.Denn wenn das Sc<strong>hl</strong>achten unvernünftigerTiere, will er sagen, von Sünden lösenkonnte, um wieviel mehr wird es <strong>die</strong>ses Blutimst<strong>an</strong>de sein. Er sagt auch nicht einfach


„Lösung“ (λυτρώσεως), sondern „Erlösung“(ἀπολυτρώσεως) als wollte er <strong>an</strong>deuten, wirsollten nicht mehr in <strong>die</strong>selbe Knechtschaftkommen. Auch „Sühnopfer“ nennt er ihn<strong>des</strong>wegen, weil er ausdrücken will, daß,wenn das Vorbild solche Kraft hatte, <strong>die</strong>Wahrheit <strong>die</strong>selbe Wirkung in viel höheremMaße haben werde. Um wieder auszudrücken,daß es sich dabei um nichts Neues undNie-Dagewesenes h<strong>an</strong>dle, sagt er, es sei „imvoraus bestimmt“ gewesen; und zwar sagter: „Gott hatte ihn im voraus bestimmt“, undzeigt damit <strong>an</strong>, daß es ein Werk <strong>des</strong> Vaterssei, in gleicher Weise aber auch eins <strong>des</strong> Sohnes.Der Vater hatte es im voraus bestimmt,und der Sohn hat das G<strong>an</strong>ze mit seinem Blutezur Vollendung gebracht. — „Zum Erweisseiner Gerechtigkeit.“ Was heißt: „Erweis derGerechtigkeit“? Gleichwie (bei Gott) „Erweisseines Reichtums“ besagt, daß er nicht bloßselbst reich sei, sondern auch <strong>an</strong>dere reichmache, „Erweis <strong>des</strong> Lebens“, daß er nicht bloß selbst lebe, sondern auchTote <strong>zum</strong> Leben erwecke, und „Erweis seinerKraft“, daß er nicht bloß selbst Kraft besitze,sondern auch Schwachen Kraft verleihe: sobesagt „Erweis seiner Gerechtigkeit“, daß ernicht bloß selbst gerecht ist, sondern auch<strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> im Sündenelend liegen, im Augenblickgerecht machen könne. So deutetder Apostel selbst, was unter „Erweis“ zuverstehen sei, wenn er fortfährt:V. 26: „damit er selbst gerecht sei und gerechtmache den, der den Glauben hat <strong>an</strong> Jesus.“3.Also nur nicht unsc<strong>hl</strong>üssig sein! Nicht ausden Werken (nämlich <strong>des</strong> alttestamentlichenGesetzes), sondern vom Glauben (kommt <strong>die</strong>Rechtfertigung). Auch der Gerechtigkeit, <strong>die</strong>von Gott kommt, ja nicht ausweichen wollen!Denn zweifach ist das Gute <strong>an</strong> ihr, einmaldaß sie leicht zu erwerben ist, und d<strong>an</strong>n, daß64sie allen zugänglich ist. Auch kein Sichschämenund kein Erröten! Denn wenn Gottselbst <strong>an</strong>kündigt, was er <strong>an</strong> dir tun will, jawenn er sich, sozusagen, eine Ehre darausmacht und sich’s <strong>zum</strong> Ruhme gereichen läßt,warum sollst du dich <strong>des</strong>sen schämen unddas zu verbergen trachten, was dein Herrsich zur Ehre rechnet? — Nachdem der A-postel also im Zuhörer den Mut gehoben hat,indem er das, was früher geschehen ist, einenErweis der Gerechtigkeit Gottes nennt,drängt er wieder den, der lässig und säumigist, zu kommen, durch Furcht dazu, indem erspricht:„Wegen unserer eigenen Ohnmacht infolge derfrüher geschehenen Sünden.“Beachte, wie der Apostel <strong>die</strong> Juden beständig<strong>an</strong> ihre Verirrungen erinnert! Oben sagt er:„Denn durch das Gesetz kommt <strong>die</strong> Erkenntnisder Sünde“; d<strong>an</strong>n wieder: „Alle habengesündigt“; hier aber tut er es noch kräftiger.Er sagt nämlich nicht: „wegen der Sünden“,sondern: „wegen der Ohnmacht“ 100 d.i. <strong>des</strong> todähnlichen Zust<strong>an</strong><strong>des</strong> (infolgeder früheren Sünden). Es gab nämlichgar keine Hoffnung mehr, (aus eigener Kraft)gesund zu werden, sondern wie ein gichtgelähmterKörper einer H<strong>an</strong>d von oben bedarf,so auch <strong>die</strong> in todähnlichem Zust<strong>an</strong>d befindlicheSeele. Und noch sc<strong>hl</strong>immer, der Apostelvergrößert den Vorwurf, indem er <strong>die</strong> Ursachen(warum <strong>die</strong> Seele in todähnliche Ohnmachtgesunken sei) <strong>an</strong>gibt. Wieso? Er sagt,der Ohnmachtszust<strong>an</strong>d sei eingetreten beiGottes L<strong>an</strong>gmut. Ihr habt keinen Grund,euch auszureden, will er sagen, als hättet ihrnicht viel L<strong>an</strong>gmut und Erbarmen von SeitenGottes genossen. Die Worte: „in der gegenwärtigenZeit“ enthalten den Hinweis aufGottes L<strong>an</strong>gmut und Liebe. Zu einer Zeit,100 Da der Autor selbst das Wort πάρεσις später gleichsetzt mit νέκρωσις,k<strong>an</strong>n er es hier nicht im Sinne von „Hinwegnahme“ oder „Vergebung“verst<strong>an</strong>den haben, wie es <strong>zum</strong>eist übersetzt wird (Allioli, Visping, Arnoldi),sondern es muß ihm eine synonyme Bedeutung haben mit „ertöten“.Wimmer übersetzt es mit „Erlahmung durch frühere Sünden“. Der Vergleichmit einem gichtgelähmten Körper, der später von Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomusselbst gemacht wird, läßt <strong>die</strong>se Übersetzung oder eine ähnlicheals <strong>die</strong> richtige erscheinen. Ich wä<strong>hl</strong>e einen Ausdruck, der noch mehr dasTodähnliche <strong>des</strong> Wortes πάρεσις enthält; „Ohnmacht“.


will er sagen, als wir bereits aufgegeben waren,als uns das Urteil schon gesprochen war,als das Übel den Höhepunkt und <strong>die</strong> Sündendas Übermaß erreicht hatten, da zeigte erseine Macht, damit du erkennen lernst, welcheFülle von Gerechtigkeit bei ihm wohnt.Denn wäre <strong>die</strong>s gleich im Anf<strong>an</strong>g geschehen,so wäre es uns nicht so wunderbar und unerwartetvorgekommen wie jetzt, wo alleärztliche Kunst <strong>an</strong> ihr Ende gekommen war.V.27: „Wo ist also das Rühmen? Es ist ausgesc<strong>hl</strong>ossen.Durch welches Gesetz? Durch das derWerke? Nein, sondern durch das Gesetz <strong>des</strong>Glaubens.“<strong>Paulus</strong> bemüht sich sehr, zu zeigen, daß derGlaube eine größere Kraft entfaltete, als sichdas Gesetz je vorstellen konnte. Nachdem ernämlich gesagt hat, Gott rechtfertige denMenschen durch den Glauben, kommt erwieder zurück auf das Gesetz. Und er sagtnicht: „Wo sind also <strong>die</strong> guten Werke derJuden? Wo das Rechttun?“ sondern: „Wo istdas Rühmen?“ Überall bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck,daß sie bloß großtun, als hät- ten sie etwas vor den <strong>an</strong>dern voraus,daß sie aber kein entsprechen<strong>des</strong> Werk vorweisenkönnen. Auf <strong>die</strong> Frage: „Wo ist alsodas Rühmen?“ <strong>an</strong>twortet er nicht: „Es ist verschwundenund ist dahin“, sondern: „Es istausgesc<strong>hl</strong>ossen“, was mehr <strong>die</strong> Nebendeutunghat: Es ist nicht mehr <strong>an</strong> der Zeit; es istnämlich nicht <strong>die</strong> Zeit dazu. Denn gleichwie,wenn das Gericht bevorsteht, keine Zeitmehr ist zur Umkehr, auch nicht beim bestenWillen dazu, so hatten auch jene keine Zeitmehr, ihr Rechttun nach dem Gesetze (alsSchutz) vor sich zu halten, nachdem einmaldas Urteil gefällt war, das auf Verwerfungaller lautete, und als derjenige schon <strong>an</strong>gekommenwar, welcher <strong>die</strong>ses Unheil durch<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>zum</strong> Guten wenden sollte. Wennes je am Platze war, sich auf <strong>die</strong> eigenen gutenWerke zu verlassen, so war <strong>die</strong> Zeit dazuvor seiner (<strong>des</strong> Erlösers) Ankunft. Nachdemaber er <strong>an</strong>gekommen war, der <strong>die</strong> Rettungdurch den Glauben brachte, war <strong>die</strong> Zeit65vorüber, wo m<strong>an</strong> selbst darum kämpfenmußte. Wie alles eigene Bemühen als vergeblicherwiesen war, brachte er <strong>die</strong> Rettungdurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e. Darum kam er erst jetzt,damit m<strong>an</strong> nicht sagen könne: Wenn er amAnf<strong>an</strong>g erschienen wäre, so wäre es trotzdemmöglich gewesen, durch das Gesetz Rettungzu erl<strong>an</strong>gen und durch eigene Arbeit undgute Werke. Um eine solche Keckheit in <strong>die</strong>Schr<strong>an</strong>ken zu weisen, hält er sich sol<strong>an</strong>ge bei<strong>die</strong>sem Ged<strong>an</strong>ken auf. Es soll g<strong>an</strong>z klar ausallem (was er sagt) hervorgehen, daß sie (<strong>die</strong>Juden) sich selbst nicht genügten, sonderndaß sie durch seine (<strong>des</strong> Erlösers) Gn<strong>ad</strong>e gerettetwerden mußten. Darum fährt er auchoben nach den Worten „<strong>zum</strong> Erweis der Gerechtigkeit“fort: „in der gegenwärtigenZeit“. Wenn m<strong>an</strong>che <strong>die</strong>s nicht zugeben, soh<strong>an</strong>deln sie etwa so, wie ein Verbrecher, der,außerst<strong>an</strong>de, sich vor Gericht reinzuwaschen,verurteilt wird und seiner Bestrafung entgegensieht;d<strong>an</strong>n aber, durch einen Gn<strong>ad</strong>enakt<strong>des</strong> Königs freigelassen, nach seiner Freilassung<strong>die</strong> Unverschämtheit hat, sich zu rühmenund zu behaupten, er habe überhauptnichts verbrochen. Bevor der Gn<strong>ad</strong>enerweisgegeben wurde, hätte er <strong>die</strong>s beweisen müssen;nachdem er aber einmal da ist, gibt eskein Rühmen mehr. Derselbe Fall trifft beiden Juden zu. Von Haus aus warensie verloren; darum kam für sie der Erlöser.Durch sein bloßes Kommen machte er ihremRühmen ein Ende; denn wer vorgibt, ein„Lehrer der Unmündigen“ zu sein auf dasGesetz pocht und sich einen „Erzieher derVerst<strong>an</strong><strong>des</strong>schwachen“ nennt, dabei aberebenso eines <strong>an</strong>dern bedarf, der ihn belehrtund ihm Rettung bringt, der hat doch wo<strong>hl</strong>keine Ursache, sich zu rühmen. Wenn schonvorher „<strong>die</strong> Beschneidung zur Vorhaut gewordenwar“, so um so mehr jetzt, da sie alsausgeschaltet erscheint sowo<strong>hl</strong> für <strong>die</strong> Zeitvorher wie für <strong>die</strong> nachher. Das deutet derApostel <strong>an</strong> durch das Wort „ausgesc<strong>hl</strong>ossen“und zugleich auch das Wie. Wie wurde also(ihr Rühmen) ausgesc<strong>hl</strong>ossen? Durch wel-


ches Gesetz? Durch das der Werke? Nein,sondern durch das Gesetz <strong>des</strong> Glaubens.4.Sieh, auch den Glauben nennt der Apostel„Gesetz“. Er behält <strong>die</strong>selben Namen bei, umden Schein der Neuheit zu vermeiden. Wasist das für ein Gesetz, das <strong>des</strong> Glaubens? Gerettetwerden durch Gn<strong>ad</strong>e. Hier legt er denFinger auf <strong>die</strong> Macht Gottes, der nicht bloßrettet, sondern auch rechtfertigt und verherrlicht,und das ohne Werke (unsererseits) dazunötig zu haben, sondern er verl<strong>an</strong>gt nurGlauben. Das sagt er aber, um den <strong>zum</strong>Glauben gekommenen Juden bescheiden <strong>zum</strong>achen, und um den noch nicht <strong>zum</strong> Glaubengekommenen niederzudrücken und ihnso <strong>zum</strong> Kommen zu bewegen. Denn sollteder Jude, welcher bereits Rettung (durch denGlauben) erl<strong>an</strong>gt hat, sich noch immer etwaseinbilden auf sein Gesetz, so muß er nun hören,daß eben <strong>die</strong>ses Gesetz ihm den Mundsc<strong>hl</strong>ießt, daß es ihn <strong>an</strong>klagt, daß es ihm <strong>die</strong>Rettung abspricht und das Rühmen aussc<strong>hl</strong>ießt.Der <strong>an</strong>dere aber, der noch nicht <strong>zum</strong>Glauben gekommen ist, wird eben d<strong>ad</strong>urchgedemütigt und wird leichter sich <strong>zum</strong>Glauben bekehren lassen. Siehst du da dasWesen <strong>des</strong> Glaubens? Wie er ein Aufgebender früheren Heilshoffnung (auf Grund derguten Werke) ist und nicht einmal mehr einRühmen damit gestattet?V. 28: „Wir halten also dafür, daß der Menschdurch den Glauben gerechtfertigt werdeohne Werke <strong>des</strong> Gesetzes.“Nachdem der Apostel dargelegt hat, daß <strong>die</strong>Heiden, wenn sie den Glauben <strong>an</strong>genommenhaben, den Juden sogar über sind, spricht ermit aller Offenheit weiter über den Glaubenund berichtigt einige Vorstellungen, welche<strong>die</strong> Juden beunruhigten. Zwei Dinge warenes besonders, welche <strong>die</strong> Juden verwirrten:Erstens, wieso es möglich sein solle, ohne66Werke (<strong>des</strong> alttestamentlichen Gesetzes) Rettungzu finden, da doch sie mitsamt ihrenWerken keine hatten finden können; undzweitens, ob es gerecht sei, daß <strong>die</strong> Unbeschnittenenihnen gleichgestellt werden sollten,<strong>die</strong> sie doch so l<strong>an</strong>ge Zeit <strong>die</strong> Führungdurch das Gesetz genossen hatten. Das zweiteverwirrte sie noch mehr als das erste. Darumwendet er sich <strong>die</strong>sem Punkte besonderszu, nachdem er den ersten erledigt hat. Soverwirrend war jenes zweite für <strong>die</strong> Juden,daß sie sogar später noch, als sie den Glaubenschon <strong>an</strong>genommen hatten, dem PetrusVorstellungen machten wegen <strong>des</strong> (heidnischenHauptm<strong>an</strong>ns) Kornelius und dem, wasdamit im Zusammenh<strong>an</strong>ge st<strong>an</strong>d. Er sagtalso: „Wir halten also dafür, daß der Menschdurch den Glauben gerechtfertigt werde ohneWerke <strong>des</strong> Gesetzes.“ Er sagt nicht: „DerJude“ oder „der, welcher unter dem Gesetzesteht“, sondern er wä<strong>hl</strong>t ein Wort von weitemUmf<strong>an</strong>ge und öffnet <strong>an</strong>gelweit <strong>die</strong> Tore<strong>zum</strong> ewigen Heil. Er wendet nämlich dasWort <strong>an</strong>, welches <strong>die</strong> Natur bezeichnet undsagt: „Der Mensch“.Hierauf nimmt er von da aus Gelegenheit,einen Einw<strong>an</strong>d zu lösen, der ihm eigentlichnicht gemacht wird. Es lag aber doch nahe,daß <strong>die</strong> Juden, wenn sie hörten, der Glaubemache alle Menschen gerecht, sich darüberaufhielten und dar<strong>an</strong> Anstoß nähmen; darumfährt er fort:V. 29: „Ist er denn bloß ein Gott der Juden?“Er will damit etwa sagen: Warum kommt esdir denn ungehörig vor, daß alle MenschenRettung finden sollen? Ist denn Gott beschränktauf einen Teil (der Menschheit)? Erwill so dartun, daß sie in ihrem Be- streben, <strong>die</strong> Heiden beiseite zu schieben, eigentlicheher <strong>die</strong> Ehre Gottes schmälern,wenn sie nämlich nicht zugeben wollen, daßer der Gott aller sei. Ist er aber der Gott aller,d<strong>an</strong>n trägt er auch Vorsorge für alle; trägt eraber Vorsorge für alle, d<strong>an</strong>n muß er auch allein gleicher Weise Rettung finden lassen


durch den Glauben. Darum sagt der Apostel:„Ist er denn bloß ein Gott der Juden,nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden.“— Er ist nicht beschränkt auf einen Teil (derMenschheit), wie (<strong>die</strong> Götter) in den Fabelnder Griechen, sondern er ist allen gemeinschaftlichund einer. Darum fährt er fort:V. 30: „Weil ja Gott einer ist.“D. h. er ist ein und derselbe Herr über <strong>die</strong>sewie über jene. Und sprichst du mir von deralten Zeit, so (sage ich) auch damals gab eseine göttliche Leitung aller, wenn auch <strong>die</strong>Art und Weise verschieden war. Dir (demJuden) war das geschriebene Gesetz gegeben,jenem (dem Heiden) das natürliche Gesetz.Diese, <strong>die</strong> Heiden, waren darum nichtsc<strong>hl</strong>echter dar<strong>an</strong>, ja sie konnten sogar, wennsie wollten, den Juden über sein. Dies deutetder Apostel <strong>an</strong>, wenn er fortfährt:„(Gott), welcher sowo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Beschneidung ausdem Glauben rechtfertigt wie auch <strong>die</strong> Unbeschnittenheitdurch den Glauben.“Damit bringt er ihnen das in Erinnerung, waser früher über Unbeschnittenheit und Beschneidunggesagt hat; er hatte ihnen nämlichklar gemacht, daß zwischen beiden keinUnterschied best<strong>an</strong>den habe. Wenn aber früherkeiner best<strong>an</strong>den hat, um wieviel mehrwerden sie jetzt gleich sein? Diesen Ged<strong>an</strong>kenwill er nun noch klarer herausarbeiten;er zeigt nämlich, wie beide in gleicher Weise<strong>des</strong> Glaubens bedürfen.V. 31: „Tun wir also das Gesetz ab“,fährt er fort,„durch den Glauben? Das sei ferne! Im Gegenteilwir machen es fest.“ Siehst du da <strong>des</strong>Apostels Klugheit, <strong>die</strong> auf so Verschiedenesbedacht ist, daß m<strong>an</strong> es kaum sagen k<strong>an</strong>n?Durch den Ausdruck „wir machen es (dasGesetz) fest“ zeigt er <strong>an</strong>, daß es nichtfestst<strong>an</strong>d, sondern in Auflösung begriffenwar. Beachte dabei auch <strong>die</strong> überragendeGeisteskraft <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> und mit welcher Geschicklichkeiter sein Ziel zu erreichen weiß!Hier tut er nämlich dar, daß der Glaube demGesetze nicht bloß nicht <strong>zum</strong> Unterg<strong>an</strong>ge67gereiche, sondern daß er ihm sogar eine Stützesei, wie <strong>an</strong>dererseits das Gesetz demGlauben als Vorläufer <strong>die</strong>nte. Denn jenes gabim voraus Zeugnis von <strong>die</strong>sem — „er warbezeugt durch das Gesetz und <strong>die</strong> Propheten“,heißt es ja — und <strong>die</strong>ser — der Glaube— machte jenes — das Gesetz — fest, da esim W<strong>an</strong>ken war. Wieso machte er es fest?fragt m<strong>an</strong>. Nun, was war <strong>die</strong> Aufgabe <strong>des</strong>Gesetzes, und weswegen geschah alles (unterseiner Herrschaft)? Um den Menschen gerechtzu machen. Aber das brachte das Gesetznicht zust<strong>an</strong>de. Denn „wir waren Sünderall<strong>zum</strong>al“, heißt es. Der Glaube kam undvollbrachte es; denn wie einer glaubte, wurdeer auch gerecht. Damit war <strong>des</strong> GesetzesZweck erreicht. Worauf alles im Gesetze hinauslief,das brachte der Glaube zur Erfüllung.Er hat es also nicht abget<strong>an</strong>, sondernzur Vollendung geführt. — Drei Dinge hatalso der Apostel hier darget<strong>an</strong>: (Erstens,) daßes möglich ist, auch ohne Gesetz gerechtfertigtzu werden; zweitens, daß das Gesetz <strong>die</strong>Rechtfertigung nicht zuwege brachte, unddrittens, daß der Glaube nicht im Widerspruchsteht mit dem Gesetze. Weil ger<strong>ad</strong>edas letztere <strong>die</strong> Juden besonders beängstigte— der vermeintliche Gegensatz zwischenGlauben und Gesetz —, darum zeigt er mehr,als es der Jude wünschen k<strong>an</strong>n, daß nicht nurkein Gegensatz bestehe, sondern daß beide— Glaube und Gesetz — einträchtig auf dasselbeZiel hinarbeiten. Das hörten ja <strong>die</strong> Judenger<strong>ad</strong>e gerne.5.Ein so großer Gn<strong>ad</strong>enerweis, wie der ist, daßwir gerechtfertigt worden sind, erfordert a-ber auch einen W<strong>an</strong>del darnach. Zeigen wireinen Eifer, wie er eines solchen Geschenkeswürdig ist! Wir bekunden ihn aber, wenn wir <strong>die</strong> Mutter aller Tugenden,<strong>die</strong> Liebe, mit allem Eifer wahren. Die Liebe


esteht nicht in leeren Worten, nicht infreundlichen Grüßen allein, sondern sie erweistsich darin, daß m<strong>an</strong> durch Werke hervorleuchtetwie: <strong>die</strong> Armut lindern, denKr<strong>an</strong>ken mitfü<strong>hl</strong>end Dienste leisten, von Gefahrenbefreien, Bedrängten beistehen, weinenmit den Weinenden, sich freuen mit denFrö<strong>hl</strong>ichen. Auch das letztere ist ein Liebeserweis.M<strong>an</strong> könnte meinen, es sei <strong>die</strong>s etwasKleines, <strong>die</strong>ses Sichfreuen mit den Frö<strong>hl</strong>ichen;und doch ist es eigentlich etwas Großesund erfordert <strong>die</strong> Einsicht eines Weisen; undwir werden viele finden, <strong>die</strong> Beschwerlicheresvollbringen, doch in <strong>die</strong>sem Punkte versagen.Viele weinen mit den Weinenden, siefreuen sich aber nicht mit den Frö<strong>hl</strong>ichen,sondern vergießen Tränen, wenn <strong>an</strong>dere sichfreuen. Das ist aber Mißgunst und Neid. Esist darum kein geringes gutes Werk, sich zufreuen, wenn sich der Mitbruder freut, sondernes ist größere Tugend als das erstere; ja,es ist nicht allein mehr als das Weinen mitden Weinenden, sondern sogar mehr als dasBeistehen in Gefahren. Schon viele nämlich,<strong>die</strong> mit <strong>an</strong>dern, <strong>die</strong> in Gefahr waren, sichselbst Gefahren unterzogen, empf<strong>an</strong>denSchmerz darüber, daß <strong>an</strong>dere in Ehre undAnsehen st<strong>an</strong>den. Das heißt, sich von Mißgunstbeherrschen lassen. Und doch kostetjenes Mühe und Anstrengung, <strong>die</strong>ses abernur einen inneren Akt <strong>des</strong> Willens. Trotzdembringen viele, <strong>die</strong> jenes Schwerere vermögen,<strong>die</strong>ses Leichtere nicht zust<strong>an</strong>de, sondern siegrämen sich ab und möchten vergehen, wennsie mit<strong>an</strong>sehen müssen, daß <strong>an</strong>dere in Ehrenstehen, wenn sie Zeuge sein müssen, wie derKirche genützt wird durch Predigt oder aufirgendeine <strong>an</strong>dere Weise 101 . K<strong>an</strong>n es wo<strong>hl</strong>etwas Verwerflicheres geben? Ein solcherkämpft übrigens nicht bloß gegen seinenBruder <strong>an</strong>, sondern auch gegen den WillenGottes. Bedenke das daher und ma-101 M<strong>an</strong>che meinen, daß hier auf das Verhalten <strong>des</strong> Severi<strong>an</strong> von Gabalaund <strong>des</strong> Theophilus von Alex<strong>an</strong>drien Chrysostomus gegenüber <strong>an</strong>gespieltsei. Da <strong>die</strong>s jedoch nicht sicher aus der Stelle hervorgeht, k<strong>an</strong>n <strong>die</strong>selbenicht als Beweis dafür <strong>an</strong>geführt werden, daß <strong>die</strong> Homilien über den<strong>Römer</strong>brief zu Konst<strong>an</strong>tinopel gehalten worden seien.68che <strong>die</strong>ser (Seelen-) Kr<strong>an</strong>kheit ein Ende! Tustdu es schon nicht aus Wo<strong>hl</strong>wollen gegendeinen Nächsten, so mache dich doch freivon tausend Übeln aus Wo<strong>hl</strong>wollen gegendich selbst! Was bringst du Krieg in deineGed<strong>an</strong>kenwelt? Was erfüllst du mit Aufruhr<strong>die</strong> Seele? Was entfesselst du einen solchenSturm in ihr? Was bringst du alles drunterund drüber? Wie k<strong>an</strong>nst du in solcher Verfassungum Nac<strong>hl</strong>aß der Sünden bitten?Denn wenn Gott solchen nicht <strong>die</strong> Sündenvergibt, welche <strong>die</strong> gegen sie beg<strong>an</strong>genennicht nachsehen, wie wird er denen Verzeihunggewähren, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Unrecht zuzufügentrachten, <strong>die</strong> ihnen selbst keines <strong>an</strong>get<strong>an</strong>haben? Das ist ja doch ein Beweis äußersterBosheit. Solche führen in Gemeinschaft mitdem Teufel Krieg gegen <strong>die</strong> Kirche. Ja sogarnoch viel sc<strong>hl</strong>immer ist so etwas; denn gegenden Teufel k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auf der Wache sein;solche aber tragen <strong>die</strong> Maske der Freundschaftund legen heimlich Feuer <strong>an</strong>. Freilichstürzen sie sich dabei zuerst selbst hinein; sieleiden <strong>an</strong> einer Kr<strong>an</strong>kheit, <strong>die</strong> nicht nur keinMitleid erregen k<strong>an</strong>n, sondern eher <strong>zum</strong> Lachenherausfordert. Sag’ mir, warum weinstdu bloß und zitterst und bist niedergesc<strong>hl</strong>agen?Was ist Schreckliches geschehen? daßdeinem Mitbruder Auszeichnung und Ehreund Ruhm zuteil wird? Solltest du dich d<strong>an</strong>icht bekränzen, dich freuen und Gott preisen,daß ein Glied von dir ausgezeichnet undgeehrt wird? Aber nein, du grämst dich, daßGott geehrt wird. Siehst du, wohin deinKrieg zielt? Aber nicht daß Gott, sagst du,sondern daß dein Bruder geehrt wird. Aberdurch <strong>die</strong>sen geht ja <strong>die</strong> Ehre weiter bis aufGott hinauf und folglich — auch der durchdich entfachte Krieg. — Aber nein, sagst du,das macht mich nicht betrübt, sondern ichmöchte, daß Gott durch mich geehrt werde.D<strong>an</strong>n freue dich, wenn dein Bruder Ruhmgenießt, und Gott wird durch dich (wiederum)geehrt, wenn nämlich alle sagen: Gelobtsei Gott, der solche Diener hat, <strong>die</strong> g<strong>an</strong>z freisind von aller Mißgunst und sich gegenseitig


freuen über das ihnen zuteil gewordene Gute!Doch was rede ich von Bruder? Wenn erauch dein Partei- und persönlicher Feind wäre,und Gott würde durch ihn geehrt, so müßtest du ihn dir eben <strong>des</strong>wegen<strong>zum</strong> Freunde machen. Du aber machst dirden Freund <strong>zum</strong> Feind weil Gott geehrt wirddurch <strong>die</strong> Ehrung jenes. Wenn jem<strong>an</strong>d deinenKörper von einer Kr<strong>an</strong>kheit geheilt hätte,der vorher dein Feind war, du wür<strong>des</strong>t ihnhernach unter deine besten Freunde rechnen.Dagegen erachtest du einen, der früher deinFreund war als deinen Feind, weil er denLeib Christi, das ist <strong>die</strong> Kirche, verherrlicht?Wie könntest du auf eine <strong>an</strong>dere Weise sodeutlich <strong>zum</strong> Ausdruck bringen, daß deinKrieg Christus gilt? Darum wenn auch einerWunder wirkte, wenn er auch ein jungfräulichesLeben führte, wenn er fastete, wenn erauf der bloßen Erde sc<strong>hl</strong>iefe! und wenn erdurch solche Tugend bis <strong>an</strong> <strong>die</strong> Engel hinaufreichte,so ist er doch, wenn er mit <strong>die</strong>semLaster behaftet ist, ein größerer Verbrecherals alle und ein ärgerer Gesetzesverletzer alsein Ehebrecher, ein Hurer, ein Dieb oder einEhrabschneider.6.Und damit niem<strong>an</strong>d meine Rede einer Übertreibungbeschuldige, so möchte ich gerneeine Frage <strong>an</strong> euch stellen. Wenn jem<strong>an</strong>dFeuer und eine Hacke nähme und <strong>die</strong>ses(Gottes-) Haus <strong>an</strong>zündete und den Altar zerstörte,würde ihn nicht jederm<strong>an</strong>n von denAnwesenden mit Steinwürfen davonjagen alseinen Verbrecher und Frevler? Was nun,wenn jem<strong>an</strong>d eine noch gefräßigere Flammeals gewöhnliches Feuer — ich meine denNeid — hereinbringt, eine Flamme, <strong>die</strong> zwarnicht Häuser aus Steinen zerstört und einengoldenen Altar zernichtet, dafür aber etwasKostbareres als <strong>die</strong> Mauern und den Altarzerstört und verwüstet, das von unseren69Lehrern aufgerichtete (geistige) Gebäude,wie soll der einer Verzeihung würdig sein?Es wende mir niem<strong>an</strong>d ein: Er versucht esöfter nur, bringt es aber nicht zust<strong>an</strong>de. Nachder Absicht wird <strong>die</strong> Tat beurteilt. So hatauch Saul den David getötet, wenngleich esihm nicht gel<strong>an</strong>g. Bedenkst du denn nicht,frage ich, daß du den Schafen Christi nachstellst,wenn du dem Hirten Krieg <strong>an</strong>sagst,jenen Schafen, für <strong>die</strong> Christus sein Blut vergossenhat, und für <strong>die</strong> er uns (Hirten) alleszu tun und zu leiden befa<strong>hl</strong>? Denkst du dennnicht dar<strong>an</strong>, daß dein Herr deineEhre gesucht hat und nicht <strong>die</strong> seinige, duaber nicht <strong>die</strong> Ehre deines Herrn suchst, sonderndeine eigene? Und doch, wenn du seinesuchtest, d<strong>an</strong>n wür<strong>des</strong>t du auch deine finden;suchst du aber deine statt seine, wirstdu niemals auch jene genießen.Welches Heilmittel gibt es nun dafür? — Wirwollen alle gemeinsam beten und einmütigfür sie unsere Stimme erheben, wie für <strong>die</strong>Besessenen 102 . Sie sind ja um so viel sc<strong>hl</strong>immerdar<strong>an</strong> als <strong>die</strong>se, als ihre Raserei einefreiwillige ist. Gebet braucht <strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>kheitund viel Fürbitte. Denn wenn schon der,welcher seinen Bruder nicht liebt, wenn erauch sein Vermögen hingibt, wenn er auchim Gl<strong>an</strong>z der Märtyrerkrone erstra<strong>hl</strong>t, dochnichts Besonderes gilt, bedenke, welcherStrafe der würdig sein wird, welcher gegeneinen <strong>an</strong>dern feindselig auftritt, der ihm garkein Unrecht zugefügt hat! Ein solcher istsc<strong>hl</strong>echter als <strong>die</strong> Heiden. Denn wenn wirschon vor <strong>die</strong>sen nichts voraus haben, wennwir bloß <strong>die</strong> lieben, welche uns lieben, wo,sag’ mir, wird erst der seinen Platz bekommen,welcher <strong>die</strong> mit Mißgunst verfolgt, welcheihn lieben? Sogar sc<strong>hl</strong>immer als Kriegführenist das mißgünstige Verfolgen. Dennwer Krieg führt, steht davon ab, sobald <strong>die</strong>Ursache <strong>des</strong> Krieges geschwunden ist. DerMißgünstige dagegen wird nie <strong>zum</strong> Freunde.102 Für <strong>die</strong> Besessenen (ἐνεργούμενοι) wurden in den gottes<strong>die</strong>nstlichenVersammlungen der alten Kirche gemeinsame Gebete verrichtet nebendem privaten Exorzismus über sie. Der Diakon rief <strong>zum</strong> Gebet für siedurch eine eigene Formel auf. Vgl. Constit. Apost. VIII, 7.


Der Kriegführende geht offen vor, der Mißgünstigeversteckt; jener hat oft einen plausiblenGrund <strong>zum</strong> Kriege, <strong>die</strong>ser keinen <strong>an</strong>dernals Wut und teuflische Gesinnung.Womit soll m<strong>an</strong> eine solche Seele vergleichen?Mit welcher Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge? mit welcherNatter? mit welchem Wurme? mit welchem<strong>In</strong>sekt? Es gibt nichts Verworfeneres, nichtsSc<strong>hl</strong>echteres als eine solche Seele. Das, ja dasist es, was <strong>die</strong> kirc<strong>hl</strong>ichen Gemeinden verwüstet,was <strong>die</strong> Glaubensspaltungen erzeugt,was <strong>die</strong> Bruderh<strong>an</strong>d (<strong>des</strong> Kain) bewaffnetund sie mit dem Blute <strong>des</strong> Gerechten benetztund <strong>die</strong> Gesetze der Natur nicht geachtetund dem Tode <strong>die</strong> Tore geöff- netund jenen Fluch verwirklicht hat und jenenUnseligen nicht denken ließ, weder <strong>an</strong> <strong>die</strong>gemeinsame Abstammung noch <strong>an</strong> <strong>die</strong> Elternnoch <strong>an</strong> etwas <strong>an</strong>deres sondern ihn so in Wutversetzte und zu solcher Raserei <strong>an</strong>trieb, daßer auch dem Rufe Gottes nicht nachgab, dersprach: „Er soll nach dir sich wenden, unddu sollst über ihn herrschen“ 103 . Und wiewo<strong>hl</strong>er ihm <strong>die</strong> Sünde nac<strong>hl</strong>ieß und denBruder ihm unterstellte, blieb doch <strong>die</strong>seKr<strong>an</strong>kheit so unheilbar, daß ihr Gift trotzaller möglichen Heilmittel hervorbrach.Weswegen grämst du dich d<strong>an</strong>n (Kain), duunseligster unter allen Menschen? Daß Gottgeehrt wird? Aber das ist ja teuflisches Denken.Oder daß dein Bruder bei ihm in Gunststeht? Aber es liegt ja <strong>an</strong> dir, ihn darin nocheinzuholen. Willst du ihn (im Wettstreit) besiegen,so töte ihn doch nicht; schaffe ihnnicht aus dem Wege, sondern laß ihn leben,damit dir <strong>die</strong> Möglichkeit eines Wettstreitesbleibe, und trage den Sieg davon über deinenlebenden Nebenbu<strong>hl</strong>er. So wird dir einestra<strong>hl</strong>ende Siegeskrone werden. Tötest duihn aber, so erklärst du dich damit selbst alsÜberwundener. Doch von all dem will derNeid nichts wissen. Was strebst du nach Ehrein solcher Einsamkeit? Sie waren ja <strong>die</strong> einzigenzwei, <strong>die</strong> damals <strong>die</strong> Erde bewohnten.Doch nichts von all dem hielt ihn zurück.Das alles sc<strong>hl</strong>ug er sich aus dem Sinn undtrat auf <strong>die</strong> Seite Sat<strong>an</strong>s <strong>zum</strong> Kampfe; denn<strong>die</strong>ser war neben Kain damals der Führer imKampfe. Nicht genug dar<strong>an</strong>, daß der Mensch<strong>zum</strong> Sterben verurteilt war, suchte er durch<strong>die</strong> Art <strong>des</strong> To<strong>des</strong> das Schauspiel noch tragischerzu machen und überredete <strong>zum</strong> Brudermorde.Er, der niemals genug Elend aufuns gehäuft sieht, trieb und drängte, daß derRichterspruch ins Werk gesetzt werde. Wiejem<strong>an</strong>d, der seinen Feind gefesselt und <strong>zum</strong>Tode verurteilt sieht, darnach lechzt, ihnnoch, bevor er aus der St<strong>ad</strong>t hinausgeführtwird, drinnen tot zu sehen und <strong>die</strong> Zeit (biszur Ausführung <strong>des</strong> Urteils) nicht erwartenk<strong>an</strong>n, so machte es damals der Teufel. Trotzdemer gehört hatte, daß der Mensch zur Erdezurückkehren werde, gelüstete es ihn doch, noch etwas mehr zu sehen:den Sohn früher gestorben als der Vater, denBruder als den Mörder <strong>des</strong> Bruders, einenvorzeitigen, gewaltsamen Tod.7.Siehst du, zu was Großem der Neid führt?Wie er <strong>die</strong> unersättliche Gier <strong>des</strong> Teufels befriedigtund ihm ein Ma<strong>hl</strong> vorgesetzt hat, wieer sich’s wünschte? Fliehen wir darum <strong>die</strong>seKr<strong>an</strong>kheit! Es ist unmöglich, es ist unmöglich,jenem Feuer zu entrinnen, das dem Teufelbereitet ist, wenn wir uns nicht frei machenvon <strong>die</strong>sem Siechtum. Wir werden unsaber freimachen davon, wenn wir uns zuGemüte führen, wie sehr Christus uns geliebthat, er, <strong>des</strong>sen Gebot es ist, daß wir ein<strong>an</strong>derlieben. Wie hat doch er uns geliebt! Seinkostbares Blut hat er dahingegeben für uns,seine Feinde, <strong>die</strong> wir ihm das größte Unrecht<strong>an</strong>get<strong>an</strong> hatten. H<strong>an</strong>dle auch du so deinemBruder gegenüber! Das ist ja sein Wort: „Einneues Gebot gebe ich euch, daß ihr ein<strong>an</strong>der103 Gen. 4, 7.70


lieb habet, wie ich euch geliebt habe“ 104 .Doch vielmehr, bei <strong>die</strong>sem Maßstab bleibt esnicht. Er hat das für seine Feinde get<strong>an</strong>; duwillst dein Blut nicht hingeben für deinenBruder? (Nun gut,) aber was vergießt du seinBlut und h<strong>an</strong>delst so dem Gebote (Christi)ger<strong>ad</strong>e entgegen? Ferner, was er tat, tat ernicht aus Schuldigkeit; du aber erfüllst eineSchuldigkeit, wenn du es tust. Auch jenerKnecht, der zehntausend Talente geschenkterhielt und hundert Denare davon einforderte,wurde nicht bloß dafür gestraft, daß er(das Geld) einforderte, sondern dafür, daß erdurch <strong>die</strong> Wo<strong>hl</strong>tat nicht besser gewordenwar; daß er seinem Herrn, der den Anf<strong>an</strong>ggemacht hatte (mit dem Schenken), nichtnachfolgte und auch seinerseits <strong>die</strong> Schuldschenkte. Denn er hätte seinem Mitknechtgegenüber nur seine Schuldigkeit get<strong>an</strong>,wenn er so geh<strong>an</strong>delt hätte. Bei allem, waswir tun, erfüllen wir ja nur eine Schuldigkeit,wenn wir es tun. Darum hat er selbst gesagt:„Wenn ihr alles get<strong>an</strong> habt, so saget: Wir sindunnütze Knechte; denn was wir zu tunschuldig waren, haben wir get<strong>an</strong>.“ 105 Mögen wir also ein Liebeswerk verrichten,mögen wir Geld ausspenden <strong>an</strong> <strong>die</strong> Bedürftigen,so erfüllen wir nur eine Pflicht,nicht nur weil er selbst im Wo<strong>hl</strong>tun (uns)vor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>gen ist, sondern auch weil wirnur das, was ihm gehört, austeilen. Was beraubstdu dich also selbst <strong>des</strong>sen, worüberdu nach seinem Willen (wirklich) Herr seinsollst; darum hat er dir ja geboten, es einem<strong>an</strong>dern zu geben, damit es auf <strong>die</strong>se Weisewirklich dein Besitz werde. Sol<strong>an</strong>ge du esnämlich selbst behältst, ist es nicht dein Besitz;gibst du es aber einem <strong>an</strong>dern, d<strong>an</strong>n bekommstdu es eigentlich erst in deinen wirklichenBesitz. Übrigens, welche Liebesgabekäme der seinigen gleich? Er gab sein Bluthin für seine Feinde, wir nicht einmal unserGeld für den Wo<strong>hl</strong>täter; er das Blut, das seineigenes war, wir nicht das Geld, das gar nicht104 Joh. 13, 34.105 Luk. 17, 10.71uns gehört; er vor uns, wir nicht einmal nachihm; er für unser Heil, wir nicht einmal zuunserem eigenen Nutzen; denn ihm kommtnichts zugute von unserer Liebestat, sondernder g<strong>an</strong>ze Gewinn fällt uns zu. Das ist ja derGrund, warum uns befo<strong>hl</strong>en ist, das unsrigewegzuschenken, damit wir nicht darumkommen. Wenn jem<strong>an</strong>d einem kleinen Knabenein Geldstück schenkt, so trägt er ihmauf, es sorgfältig einzustecken oder es seinemDiener zur Aufbewahrung zu übergeben,damit nicht jeder, der Lust hat, es ihm raube;so macht es Gott mit uns. Gib, spricht er, demBedürftigen, damit dir nicht dein Vermögenein <strong>an</strong>derer abnehme, etwa ein Schmarotzeroder der Teufel oder ein Dieb oder zu allerletztder Tod. Sol<strong>an</strong>ge du es in der H<strong>an</strong>dhast, ist es nicht sicher verwahrt; gibst du esaber mir vermittelst der Armen, so hüte ichalles mit Sorgfalt und stelle es dir zu seinerZeit zurück mit reichen Zinsen. Ich nehme esin Empf<strong>an</strong>g, nicht um es dir zu nehmen, sondernum es zu vermehren, um es mit dergrößten Sorgfalt zu hüten, um es dir aufzubewahrenfür jene Zeit, wo niem<strong>an</strong>d mehrleihen, niem<strong>an</strong>d mehr Erbarmen üben wird.Was gäbe es für ein größeres Ungeheuer, alswir wären, wenn wir nach solchen Anerbietungenuns dennoch nicht herbeiließen, ihmzu leihen? So werden wir d<strong>an</strong>n mutterseelenalleinund nackt und arm bei ihm <strong>an</strong>kom-men, ohne das, was uns <strong>an</strong>vertrautwar, weil wir es ihm nicht in Verwahrunggegeben haben, der es am sorgfältigsten gehütethätte; und dafür werden wir <strong>die</strong> äußersteStrafe erleiden. Was werden wir auf<strong>die</strong> Anklage erwidern können, um dem Unterg<strong>an</strong>gvorzubeugen? Welchen Verteidigungsgrundvorbringen? Welche Entschuldigung?Warum gabst du nichts? (wird esheißen.) Mißtrautest du, daß du zurückbekommenwür<strong>des</strong>t? Was hat das aber für einenSinn? Wie sollte der, welcher dir gab,ohne daß du ihm gegeben hattest, dir nachhernicht geben, nachdem er es empf<strong>an</strong>genhat? Aber der Anblick (<strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>) macht dir


Freude? Gib es also eben darum um so bereitwilligerhin, damit du dort um so mehrFreude genießest, wo dir niem<strong>an</strong>d das deinerauben wird; behältst du es aber, so hast dutausenderlei Gefahren zu bestehen. Denn wieein Hund, der einem Knaben ein Stück Brotoder Kuchen aus der H<strong>an</strong>d reißen will, sogeht der Teufel <strong>die</strong> Reichen <strong>an</strong>. Übergebenwir also (unsern Besitz) dem Vater! Sieht dasder Teufel, so macht er sich gleich davon;wenn er gewichen sein wird, d<strong>an</strong>n wird dirder Vater alles zurückgeben im zukünftigenLeben, wo jener (dir) nicht mehr nachstellenk<strong>an</strong>n. Wahrhaftig, es ist kein Unterschiedzwischen kleinen Knaben, <strong>die</strong> von Hundenbelästigt werden, und den Reichen; allesrings um sie bellt sie <strong>an</strong>, zupft und zieht <strong>an</strong>ihnen, nicht bloß Menschen, sondern auchunheilvolle Leidenschaften: Schwelgerei,Trunkenheit, Schmarotzerei und Genußsuchtjeder Art. Wenn wir Geld ausleihen wollen,da suchen wir uns Leute aus, <strong>die</strong> viel Zinsengeben und sich so d<strong>an</strong>kbar erweisen; hieraber machen wir das Gegenteil: Gott, der soerkenntlich ist, daß er nicht nur ein Hundertstel,sondern hundertfach zurückgibt,den lassen wir fahren und suchen dafürSchuldner, <strong>die</strong> uns nicht einmal das Kapitalzurückgeben.8.72Was gibt uns denn der Bauch zurück, der dasmeiste versc<strong>hl</strong>ingt? Kot und Unrat. Was derEhrgeiz? Neid und Mißgunst. Was <strong>die</strong> Habsucht?Kummer und Sorge. Was <strong>die</strong> Genußsucht?Die Hölle und den giftigen Wurm.Das sind <strong>die</strong> Schuldner der Reichen; <strong>die</strong> Zinsen, <strong>die</strong> sie za<strong>hl</strong>en, sind Beschwernisseim Diesseits und Verderben im Jenseits.Solchen, sagen wir, wollen wir unser Geldleihen bei solcher Gefahr, und Christus wollenwir es nicht <strong>an</strong>vertrauen, der dafür denHimmel <strong>an</strong>bietet, unsterbliches Leben, unaussprec<strong>hl</strong>icheGüter? Was für eine Entschuldigungwerden wir haben? Warumgibst du es nicht dem, der es gewiß zurückgibtund mehr zurückgibt? Etwa, weil er eserst nach l<strong>an</strong>ger Zeit zurückgibt? Er gibt es ja(oft) schon im Diesseits zurück. Untrüglichist sein Wort: „Suchet zuerst das Himmelreich,so wird euch das alles obendrein gegebenwerden“ 106 . Sieh da ein Übermaß vonWo<strong>hl</strong>wollen! Das Jenseitige, spricht er, wirddir ungemindert aufgehoben, das Diesseitigegebe ich obendrein als Zulage. Außerdemvermehrt dir ein Empf<strong>an</strong>g nach l<strong>an</strong>ger Zeitden Reichtum; <strong>die</strong> Zinsen davon werden umso größer. So sehen wir ja auch Geldverleiherähnlich h<strong>an</strong>deln; sie verborgen ihr Geld lieber<strong>an</strong> solche, <strong>die</strong> es erst nach l<strong>an</strong>ger Zeit zurückza<strong>hl</strong>en.Wer nämlich gleich das G<strong>an</strong>zezurückgibt, der unterbricht den Fortlauf derZinsen; wer es dagegen für längere Zeit behält,der macht damit den Ertrag größer. Alsobei Menschen sehen wir einen Aufschub(der Za<strong>hl</strong>ung) nicht ungerne, ja wir führeneinen solchen sogar absichtlich herbei; beiGott dagegen benehmen wir uns so engherzig,daß wir zögern und Bedenken tragen?Und doch gibt er uns, wie gesagt, schon imDiesseits (m<strong>an</strong>ches) aus dem <strong>an</strong>geführtenGrunde, den größeren Rest aber hebt er unsfürs Jenseits auf und sichert uns so das G<strong>an</strong>ze.Die Größe <strong>des</strong>sen, was uns dort gegebenwerden wird, und <strong>die</strong> Schönheit <strong>des</strong> dort zuerwartenden Geschenkes geht bei weitemüber <strong>die</strong> Nichtigkeit <strong>des</strong> gegenwärtigen Lebens.Ist es doch gar nicht möglich, in <strong>die</strong>servergänglichen und hinfälligen Leiblichkeitjener unvergänglichen Kronen teilhaftig zuwerden und in <strong>die</strong>sem geräuschvollen,sturmbewegten, wechselvollen und mühereichenirdischen Dasein jenes unw<strong>an</strong>delbarenund ungestörten Glückes zu genießen. Wennein Schuldner, während du dich in einemfremden L<strong>an</strong>de befän<strong>des</strong>t ohne Dienerund ohne sonstige Möglichkeit, etwas106 Matth. 6, 83.


heimzuschaffen, dir <strong>an</strong>kündigte, er wolle dir(dort) dein Kapital zurückerstatten, so wür<strong>des</strong>tdu inständig bitten, er möge es nicht inder Fremde, sondern zu Hause tun. Jene geistigen,unsagbar (großen) Güter dagegenwillst du schon im Diesseits in Empf<strong>an</strong>gnehmen? Welche Torheit! Wenn du sie hieniedenbekommst, so bekommst du nur Vergängliches;wenn du aber <strong>die</strong> Zeit im Jenseitsabwartest, d<strong>an</strong>n wird dir Gott Unvergänglichesund Unverlierbares geben; wenn du(deinen Lohn) hienieden (ausgeza<strong>hl</strong>t) bekommst,bekommst du Blei, wenn aber dort,so ge<strong>die</strong>genes Gold. Dabei hat er dir aber <strong>die</strong>gegenwärtigen Güter nicht entzogen; dennjener Verheißung hat er eine <strong>an</strong>dere beigefügt,indem er sagt, daß, wer dem Jenseitigennachstrebt, hundertfach in <strong>die</strong>ser Welt empf<strong>an</strong>genund das ewige Leben als seinen Anteilerhalten wird“ 107 .Eure Schuld ist es darum, wenn ihr nichthundertfach zurückbekommt, weil ihr demnicht geborgt habt, der <strong>die</strong> Macht hat, so vielfachzurückzugeben. Alle haben so viel bekommen,<strong>die</strong> ihm gegeben haben, auch wennsie nur wenig gegeben haben. Was war esdenn Großes, sag’ mir, was Petrus hingab?Nichts als ein zerrissenes Netz, eine Angelruteund ein Angelhaken. Aber wie hat ihmGott dafür <strong>die</strong> Türen allerorts in der Weltaufget<strong>an</strong>, L<strong>an</strong>d und Meer ihm freigemacht,wie haben ihn alle in ihre Häuser gel<strong>ad</strong>en!Sie verkauften sogar ihren Besitz und legtenden Erlös zu seinen Füßen nieder; nicht ihmauf <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d zä<strong>hl</strong>ten sie ihn, das trauten siesich gar nicht; eine solche Verehrung hegtensie für ihn, abgesehen von ihrer Freigebigkeit.Ja, das war auch Petrus, wen<strong>des</strong>t du ein.Was ist das (für ein Einw<strong>an</strong>d), mein Lieber?Das Versprechen (Jesu) galt doch nicht demPetrus allein; er sagte doch nicht: „Du, Petrus,wirst allein hundertfach zurückbekommen“,sondern: „Jeder, der Haus oder Brüderverläßt, wird hundertfach zurückerhalten“;107 Matth. 19, 29.73denn er kennt keinen Unterschied in denPersonen, sondern nur in der Ver<strong>die</strong>nstlichkeitder guten Werke. „Aber“, heißtes, „ich habe einen Haufen Kinder undmöchte sie wo<strong>hl</strong>bemittelt zurücklassen.“Nun gut, warum arbeiten wir d<strong>an</strong>n aber daraufhin, daß sie arm werden? Denn gesetztauch, du vermachst ihnen alles, so vertraustdu doch ihr Alles wieder nur einer unsicherenObhut <strong>an</strong>; wenn du ihnen aber Gott alsMiterben und Vormund hinterlassest, so hastdu ihnen damit unermeßlichen Reichtumhinterlassen. Ger<strong>ad</strong>e so wie uns Gott nichtverteidigt, wenn wir selbst uns rächen, dagegender H<strong>an</strong>del wider Erwarten gut ausfällt,wenn wir ihn ihm überlassen, so geht es auchmit dem Gelde: wenn wir selbst uns damitabmühen, so steht Gott ab von der Sorge dafür;wenn wir dagegen alles ihm übergeben,so bringt er unsern Besitz und dazu noch unsereKinder in volle Sicherheit. Wunderst dudich, daß <strong>die</strong>s bei Gott so geschieht? K<strong>an</strong>nm<strong>an</strong> dasselbe doch auch bei Menschen beobachten.Wenn du (bei deinem Tode) niem<strong>an</strong>denvon deinen Verw<strong>an</strong>dten mit derVormundschaft über deine Kinder betraust,so wird sich m<strong>an</strong>cher, der <strong>die</strong>ses Amt sonstrecht gern übernommen hätte, oft scheuen(es tatsäc<strong>hl</strong>ich auszuüben) und sich davonzurückhalten; wenn du ihm aber <strong>die</strong> Vormundschaftüberträgst, so fü<strong>hl</strong>t er sich d<strong>ad</strong>urchauf das höchste geehrt und wird sich<strong>die</strong> größte Mühe geben, sein Bestes zu tun.9.Willst du also deinen Kindern großen Reichtumhinterlassen, so hinterlaß ihnen GottesVormundschaft. Wie sollte er, der ohne deinZutun dir Seele und Leib und Leben geschenkthat, wenn er von dir einen Erweissolcher Hochherzigkeit sieht, daß du nämlichdas Erbe deiner Kinder mit ihm teilst, wiesollte er d<strong>an</strong>n <strong>die</strong>sen nicht alle Sc<strong>hl</strong>eußen <strong>des</strong>


Reichtums öffnen? Wenn schon Elias dafür,daß er mit ein wenig Me<strong>hl</strong> genährt wordenwar, weil er sah, daß jenes Weib ihm denVorzug vor ihren Kindern gab, in dem kleinenHaushalt der Witwe für Küche und Kellersorgte, stelle dir vor, welche Erkenntlichkeitder Herr <strong>des</strong> Elias zeigen wird! Schauenwir also nicht darauf, wie reich wir unsereKinder zurücklassen, sondern wie tugendhaft!Denn wenn sie auf ihren Reichtum pochen,werden sie keine Sorge habenum etwas <strong>an</strong>deres in der Meinung, ihrsc<strong>hl</strong>echter sittlicher W<strong>an</strong>del sei gedecktdurch ihr vieles Geld. Wenn sie dagegen wissenwerden, daß sie <strong>des</strong> Trostes irdischenGutes entbehren, werden sie sich mit allenKräften bemühen, in reichem TugendlebenTrost zu suchen für ihre Armut. Hinterlaßihnen darum nicht Reichtum, damit du ihnenTugend hinterlassest. Es ist ja doch höchsteUnbesonnenheit, bei Lebzeiten <strong>die</strong> Kindernicht zu Herren von allem zu machen, nachdem Tode dagegen ihrer jugendlichen Ungebundenheitvolle Freiheit zu gewähren; dennsol<strong>an</strong>ge wir leben, können wir sie zur Rechenschaftziehen, ihnen bei sc<strong>hl</strong>echter Verwendung(<strong>des</strong> Reichtums) vernünftig zuredenund ihnen einen Zügel <strong>an</strong>legen; gebenwir ihnen aber bei unserm Absterben denGebrauch <strong>des</strong> Reichtums frei, so stoßen wir<strong>die</strong> armen bedauernswerten Kinder, verwaistund voll jugendlichen Leichtsinnes, wie siesind, hinaus in ein Meer voller Klippen, wirschüren Feuer (um sie) <strong>an</strong> und gießen Öl in<strong>die</strong> gefährliche Glut. Darum nochmals, willstdu dein Erbe in Sicherheit zurücklassen, sohinterlaß deinen Kindern Gott als ihrenSchuldner und händige ihm ihr Schuldbuchein. Wenn sie selbst das Geld in Empf<strong>an</strong>gnehmen, werden sie nicht wissen, wem sie esübergeben sollen, und sie werden m<strong>an</strong>chenSchmarotzern und Leuten, <strong>die</strong> ihnen keinenD<strong>an</strong>k wissen, <strong>zum</strong> Opfer fallen; wenn du esvorweg bei Gott auf Zinsen <strong>an</strong>legst, so bleibtdein Schatz in Sicherheit und wird dir mitaller Bereitwilligkeit zurückgestellt. Gott hat74sogar seine Freude dar<strong>an</strong>, wenn er uns zurückgibt,was er uns schuldet; er sieht solchelieber, <strong>die</strong> ihm auf Zinsen geliehen haben, als<strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> ihm nicht geliehen haben, undliebt <strong>die</strong> am meisten, denen er am meistenschuldet. Willst du daher ihn dauernd <strong>zum</strong>Freunde haben, so mach’ dir ihn d<strong>ad</strong>urchrecht viel <strong>zum</strong> Schuldner. Kein Geldverleiherfreut sich so darüber, daß er Schuldner hat,wie Christus sich freut, daß er Gläubiger hat.Ja, er flieht solche, denen er nichts schuldigist, und sucht <strong>die</strong> auf, bei denen er in Schuldensteht.Tun wir also alles, um ihn <strong>zum</strong> Schuldner zubekommen! Jetzt ist gelegene Zeit dazu, [beiihm] Geld <strong>an</strong>zulegen, jetzt befindet er sich inNot. Wenn du ihm jetzt nicht gibst,nach deinem Hing<strong>an</strong>ge braucht er dich nichtmehr. Hier auf Erden dürstet er, hier hungerter; er dürstet aber, weil er nach deinem Heildurstig ist. Darum geht er als Bettler, darumgeht er nackt einher um dir <strong>zum</strong> ewigen Lebenzu verhelfen. Übersieh ihn also nicht! Erwill ja nicht gespeist werden, sondern Speisereichen, nicht ein Kleid bekommen, sonderneins geben, dir nämlich das goldene Ehrenkleid,das königliche Prachtgew<strong>an</strong>d verschaffen.Siehst du nicht, wie Ärzte, <strong>die</strong> ihr Amtrecht ernst nehmen, wenn sie Kr<strong>an</strong>ken einB<strong>ad</strong> bereiten, auch selbst b<strong>ad</strong>en, obzwar siees nicht nötig haben? So tut auch Christusalles Mögliche dir zuliebe in deiner Kr<strong>an</strong>kheit.Darum fordert er nicht mit Gewalt vondir, damit er dir recht reic<strong>hl</strong>ich vergeltenkönne, damit du siehst, daß er nicht aus eigenerNot bettelt, sondern um deiner Notabzuhelfen. Darum kommt er in dürftigemKleid zu dir und streckt seine H<strong>an</strong>d dir entgegen.Wenn du ihm auch nur einen Hellerreichst, er verschmäht ihn nicht; und wenndu seiner nicht achtest, er steht nicht ab, sonderner kommt wieder zu dir. Er will ja sosehnsüchtig, gar so sehnsüchtig unser Heil.Verachten wir also das Geld, damit wir nichtvon Christus verachtet werden! Wenn wir eshienieden (gar zu ängstlich) hüten, werden


wir gänzlich darum kommen im Diesseitsund im Jenseits. Wenn wir es aber recht freigebigausteilen, werden wir es gut haben in<strong>die</strong>sem und jenem Leben. Wer also reichwerden will, werde arm, damit er reich werde;er teile aus, um zusammenzuhäufen; erzerstreue, um zu sammeln. Wenn dir dasaber befremdlich und widerspruchsvoll vorkommt,so schau’ hin auf den Säm<strong>an</strong>n undbedenke, daß auch <strong>die</strong>ser nicht <strong>an</strong>deres mehrbekommen k<strong>an</strong>n, als wenn er das, was er hat,ausstreut und das, was ihm sicher ist, hinwirft.Säen also auch wir aus, bebauen wirdas Saatfeld <strong>des</strong> Himmels, damit wir einmaleine reiche Ernte haben und der ewigen Güterteilhaftig werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e undLiebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchemdem Vater zugleich mit dem Hl. Geistesei Ehre, Macht und Herrlichkeit jetzt undallezeit bis in alle Ewigkeit. Amen. NEUNTE HOMILIE. Kap. IV, V. 1—21.1.Kap. IV, V. 1—21.V. 1: „Was können wir also sagen, daß Abraham,unser Vater, erl<strong>an</strong>gt habe dem Fleische nach?“V. 2: „Denn wenn er durch Werke gerechtfertigtworden ist, so hat er wo<strong>hl</strong> Ruhm, aber nicht beiGott.“Der Apostel hat (im vorausgehenden) gesagt,daß <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt vor Gott Schuldnergeworden, daß alle gesündigt haben, daß esauf eine <strong>an</strong>dere Weise keine Rettung gebe alsdurch den Glauben; im folgenden bemüht ersich, darzulegen, daß eine solche Rettungkeineswegs eine Sch<strong>an</strong>de bedeute, sonderneher ein glänzender Ruhmestitel sei, ein Titelgrößeren Ruhmes sogar als <strong>die</strong> (Rettung)durch <strong>die</strong> Werke. Da nämlich ein Gerettetwerdenmit eigener Beschämung etwas Entehren<strong>des</strong><strong>an</strong> sich hat, so beseitigt der Apostel75im folgenden <strong>die</strong>sen Anstoß. Er hat <strong>die</strong>s übrigensschon früher <strong>an</strong>gedeutet, wenn ernicht bloß von einer „Rettung“, sondern auchvon einer (d<strong>ad</strong>urch erl<strong>an</strong>gten) „Gerechtigkeit“sprach. „Die Gerechtigkeit Gottes“,heißt es (oben), „wird <strong>an</strong> ihm offenbar“ 108 .Wer so gerettet worden ist, ist gerettet alsGerechter und damit zugleich ausgezeichnet.Und nicht bloß Gerechtigkeit besagt (ein solchesGerettetwerden), sondern auch ein SichoffenbarenGottes. Gott offenbart sich abernur in ruhmvollen, glänzenden, großen Dingen.Übrigens bringt der Apostel <strong>die</strong>s auchim vorausgehenden durch seine Redeweise<strong>zum</strong> Ausdruck. Er wendet nämlich <strong>die</strong> (rhetorische)Frageform <strong>an</strong>, was er immer tut,wenn er recht klar werden oder etwas mitrechtem Nachdruck behaupten will. So tut eres <strong>an</strong> den obigen Stellen. „Was hat also derJude voraus?“ fragt er, und: „Was haben alsowir voraus?“, und wiederum: „Wo ist dasRühmen? Es ist ausgesc<strong>hl</strong>ossen“, und hier:„Was können wir also sagen, daß Abraham,unser Vater... ?“ Da nämlich <strong>die</strong> Judensoviel Wesens damit machten, daß derPatriarch und Gottesfreund als erster <strong>die</strong> Beschneidunggehabt habe, will der Apostelzeigen, daß auch Abraham durch den Glaubengerechtfertigt wurde. Darin lag ein vollerSieg. Daß einer gerettet wird durch denGlauben, der keine Werke aufzuweisen hat,das ist nichts Absonderliches; daß aber einM<strong>an</strong>n, der durch seine Gesetzeswerke hervorstach,nicht von da aus, sondern durchden Glauben gerecht wurde, das war etwasStaunenswertes und setzte <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong>Glaubens ins hellste Licht. Deshalb übergehter alle <strong>an</strong>dern und führt <strong>die</strong> Rede auf ihn.„Einen Vater dem Fleische nach“ nennt ihnder Apostel; er benimmt damit den Juden <strong>die</strong>Meinung, als seien nur sie echte Kinder Abrahams,und arbeitet dem Beweise vor, daßauch <strong>die</strong> Heiden <strong>des</strong>sen Kinder seien. „Dennwenn Abraham durch Werke gerechtfertigt108 Röm. 1, 17.


worden ist, so hat er wo<strong>hl</strong> Ruhm, aber nichtbei Gott.“ Oben hat er gesagt und es mit gutenGründen bewiesen, daß Gott Beschnittenewie Unbeschnittene durch den Glaubengerecht macht; nun zeigt er dasselbe am BeispieleAbrahams noch überzeugender, als eres <strong>an</strong>gekündigt hat. Er läßt gleichsam denGlauben mit den Werken kämpfen undgruppiert den g<strong>an</strong>zen Kampf um den Gerechten(seligen Abraham). Nicht ohne gutenGrund. Er gibt ihm einen ehrenden Titel, indemer ihn „Urvater“ nennt, und hebt damit<strong>die</strong> Notwendigkeit hervor, ihm in allemnachzufolgen. Er will etwa sagen: Nenne mirnicht irgendeinen Juden, führe nicht den o-der jenen <strong>an</strong>; ich gehe zurück auf den erstenvon allen, von dem <strong>die</strong> Beschneidung denUrsprung genommen hat. „Wenn nun Abraham“,sagt er, „durch <strong>die</strong> Werke gerechtfertigtworden ist, so hat er Ruhm, aber nichtbei Gott.“Das ist etwas unklar gesprochen; ich muß esdarum klarer machen. — Zweierlei Ruhmgibt es nämlich: einen solchen von den Werkenher und einen <strong>an</strong>dern vom Glauben.Durch <strong>die</strong> Wendung: „Wenn er durch <strong>die</strong>Werke gerechtfertigt worden ist, hat erRuhm, aber nicht bei Gott“, zeigt der Apostel<strong>an</strong>, daß m<strong>an</strong> auch vom Glauben einen Ruhmhaben könne, und zwar einen vielgrößeren. Die große Stärke <strong>die</strong>ses Beweisesliegt vorzüglich darin, daß <strong>Paulus</strong> aus demGegensatz den Beweis führt: Das Erl<strong>an</strong>gen<strong>des</strong> Heils durch <strong>die</strong> (eigenen) Werke gibtGrund, sich zu rühmen und zuversichtlich zusein; aber viel mehr noch, zeigt er, ist <strong>die</strong>sbeim Glauben der Fall. Denn wer sich mitseinen Werken rühmt, hat nur seine eigenenMühen, <strong>die</strong> er in den Vordergrund stellenk<strong>an</strong>n; wer sich dagegen rühmen darf, Gottgeglaubt zu haben, der hat weit mehr Grund<strong>zum</strong> Rühmen, da er Gott dem Herrn Ehreerwiesen und ihn verherrlicht hat. Dennworauf ihn <strong>die</strong> sichtbare Natur nicht geführthat, das hat er sich zeigen lassen durch denGlauben <strong>an</strong> Gott; und damit hat er eine echte76Liebe zu ihm <strong>an</strong> den Tag gelegt und ist einlauter Verkünder seiner Macht geworden.Das ist aber der Beweis für eine hochgemuteSeele, ein vernünftiges Urteil und eine hoheErkenntniskraft. Nicht ste<strong>hl</strong>en und nicht töten,das treffen auch Durchschnittsmenschen;aber glauben, daß Gott auch Unmöglichesvermag, dazu gehört eine hochgemute Seele,<strong>die</strong> sich Gott g<strong>an</strong>z und gar hingibt; das istdas Zeichen echter Liebe. Zwar erweist auchder Gott Ehre, welcher seine Gebote erfüllt;viel größere aber der, welcher durch denGlauben ein Weiser wird. Denn jener unterwirftsich Gott, <strong>die</strong>ser aber bekommt von ihm<strong>die</strong> richtige Ansicht, und d<strong>ad</strong>urch ehrt undbewundert er ihn mehr, als wenn er es durchGesetzeswerke tut. Ein solches Rühmen giltnämlich dem Menschen, der <strong>die</strong>se Werkeget<strong>an</strong> hat; das <strong>an</strong>dere aber ist ein VerherrlichenGottes und gilt g<strong>an</strong>z und gar nur Gott.Das Rühmen eines solchen besteht darin, daßer sich eine große Vorstellung von Gottmacht, so daß <strong>die</strong> Ehre auf Gott übergeht.Darum spricht der Apostel, „bei Gott“ habeein solcher Ruhm; aber nicht bloß in <strong>die</strong>semSinne, sondern auch noch in einem <strong>an</strong>dern.Der Ruhm <strong>des</strong> Gläubigen besteht nämlichferner auch darin, daß er nicht bloß Gottwahrhaft liebt, sondern auch darin, daß ervonseiten Gottes große Ehrung und Liebeerfährt. Wie er selbst Gott liebt, indem er sicheine große Vorstellung von ihm macht — dasist ja das Wesen der Liebe —, so liebt Gottwieder ihn, indem er ihn, den tausendfachSchuldigen, nicht nur von den Strafenfreispricht, sondern ihn auch <strong>zum</strong> Gerechtenmacht. Ein solcher hat also allenGrund, sich zu rühmen, da er (von Gott) großerLiebe würdig erachtet wird.V. 3: „Denn was sagt <strong>die</strong> Schrift? Abrahamglaubte Gott, und das ward ihm <strong>an</strong>gerechnet zurGerechtigkeit.“V. 4: „Dem aber, der selbst Arbeit leistet, wird derLohn nicht nach Gn<strong>ad</strong>e, sondern nach Schuldigkeitzuerk<strong>an</strong>nt.“


Also ist das letztere mehr? fragst du. Keineswegs;denn auch dem, der glaubt, wird(ein Lohn) zuerk<strong>an</strong>nt; es würde ihm aber einsolcher nicht zuerk<strong>an</strong>nt werden, wenn ernicht auch selbst etwas dazu beigetragen hätte.2.So hat also auch er Gott <strong>zum</strong> Schuldner, undzwar <strong>zum</strong> Schuldner nicht g<strong>an</strong>z gewöhnlicherDinge, sondern großer und erhabener.Nachdem er nämlich <strong>die</strong> Seelengröße und<strong>die</strong> Erkenntniskraft eines solchen (der Gottglaubt) beleuchtet hat, sagt er nicht einfach:„Dem, der glaubt“, sondern:V. 5: „Dem, der glaubt <strong>an</strong> den, welcher den Gottlosenrechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit<strong>an</strong>gerechnet.“Bedenke nur, was das heißt, überzeugt seinund <strong>die</strong> frohe Gewißheit haben, daß Gotteinen Menschen, der sein g<strong>an</strong>zes bisherigesLeben in Gottlosigkeit verbracht hat, in einemAugenblick nicht bloß freimachen k<strong>an</strong>nvon seiner Strafe, sondern ihn auch zu einemGerechten umschaffen und ihn jener unsterblichenEhren würdig erachten k<strong>an</strong>n. Schätze(<strong>die</strong>se Auszeichnung) nicht etwa <strong>des</strong>wegengeringer ein, weil sie ihm gn<strong>ad</strong>enweise zuerk<strong>an</strong>ntwird. Ger<strong>ad</strong>e das zeichnet den Gläubigenam meisten aus, daß er so große Gn<strong>ad</strong>egenießt, so großen Glauben hat. Und sieh,auch <strong>die</strong> Gegengabe ist größer. Jenem (das istdem, der <strong>die</strong> Gesetzeswerke get<strong>an</strong> hat) wirddafür ein Lohn gegeben, <strong>die</strong>sem aber (das ist,der das Ver<strong>die</strong>nst <strong>des</strong> Glaubens hat) Gerechtigkeit.Nun ist aber Gerechtigkeit viel mehrals Lohn; denn Gerechtigkeit sc<strong>hl</strong>ießt vielfachenLohn in sich. Nachdem derApostel <strong>die</strong>s bisher am Beispiele <strong>des</strong> Abrahamnachgewiesen hat, führt er nun auchDavid <strong>an</strong> als Zeugen für das Gesagte. — Wassagt also David? Wen preist er selig? Den,der auf seine Werke pocht, oder den, der77Gn<strong>ad</strong>e genossen hat, dem das Geschenk derSündenvergebung zuteil geworden ist?Wenn ich sage Seligpreisung, so nenne ichden Gipfelpunkt alles Guten. Denn wie Gerechtigkeitmehr ist als Lohn, so ist Seligkeitmehr als Gerechtigkeit. Der Apostel hat klargemacht,daß <strong>die</strong> Gerechtigkeit das Besseresei, und zwar nicht bloß d<strong>ad</strong>urch, daß er Abrahamals Beispiel <strong>an</strong>führte, sondern auchdurch eine Sc<strong>hl</strong>ußfolgerung: — „er hatRuhm“, heißt es, „aber nicht bei Gott.“ —Nun weist er noch auf eine <strong>an</strong>dere Weise ihreVortrefflichkeit nach, nämlich indem er Davidals Zeugen dafür <strong>an</strong>führt:V. 6: „Dieser preist den so Gerechtfertigten selig,indem er spricht“:V. 7: „Selig, deren Missetaten nachgelassen sind“109. Der Apostel scheint da ein nicht zutreffen<strong>des</strong>Zeugnis vorzubringen. Es heißt ja nicht:Selig sind, denen der Glaube zur Gerechtigkeit<strong>an</strong>gerechnet ward. Er tut <strong>die</strong>s aber mitAbsicht, nicht aus Unkenntnis, um nämlichden Beweis zu verstärken. Denn wenn derschon selig ist, der Vergebung durch Gn<strong>ad</strong>eempf<strong>an</strong>gen hat, so ist es noch viel mehr derGerechtfertigte, der den Glauben <strong>an</strong> den Taggelegt hat. Wo es aber heißt Seligpreisung, daist alle Sch<strong>an</strong>de abget<strong>an</strong> und Ruhm da in Fülle;denn selig gepriesen werden geht überalle Arten von Lohn und allen Ruhm. Darumbelegt er auch den Vorzug jenes (das ist <strong>des</strong>Werktätigen) nicht durch ein Schriftzeugnis,wenn er sagt: „Dem aber, der selbst Arbeitleistet, wird der Lohn nicht nach Gn<strong>ad</strong>e zuerk<strong>an</strong>nt“;wo es sich aber darum h<strong>an</strong>delt, denVorzug <strong>des</strong> Glaubens herauszustellen, daführt er ein Schriftzeugnis <strong>an</strong>, indem er sagt:„Wie David spricht: Selig, deren Missetatennachgelassen und deren Sünden zugedecktworden sind.“ — Was sagst du denn, meintder Apostel, daß du nicht nachSchuldigkeit, sondern nach Gn<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> Sündenvergebungerhalten hast? Sieh doch, ge-109 Ps. 31, 1.


<strong>ad</strong>e ein solcher ist selig gepriesen. Davidhätte ihn aber nicht selig gepriesen, wenn ernicht wüßte, daß ein solcher hoher Ehre teilhaftigsei 110 .Der Apostel fragt im weiteren nicht: DieseSündenvergebung, wird sie nur den Beschnittenenzuteil? sondern was fragt er?V. 9: „Diese Seligpreisung“(was mehr war als Sündenvergebung),„wird sie nur den Beschnittenen zuteil oder auchden Unbeschnittenen?“Die Frage ist also <strong>die</strong>, auf welcher Seite <strong>die</strong>sesGute und Große stehe, auf seiten der Beschnittenheitoder der Nichtbeschnittenheit.Beachte da, wie der Apostel mehr beweist,als nötig ist! 111 Er zeigt nämlich, daß es (dasist das Gut der Seligpreisung) der Unbeschnittenheitnicht nur nicht fernbleibe, sonderndaß es ger<strong>ad</strong>e vor der Beschneidungseinen Platz habe. Der Seligpreisende selbst,David, war beschnitten, und er redete zu Beschnittenen.Sieh nun, wie <strong>Paulus</strong> sich Mühegibt, das, was (von der Seligpreisung) gesagtist, auf den Unbeschnittenen zu beziehen. Erfaßt nämlich Gerechtigkeit und Seligpreisungzusammen und zeigt, daß sie beide ein unddasselbe sind; d<strong>an</strong>n fragt er, wie Abrahamgerechtfertigt worden sei; denn wenn <strong>die</strong>Seligpreisung dem Gerechten zuteil wird,Abraham aber ein Gerechter wurde, so wollenwir sehen, ob er es als Beschnittenerwurde oder als Unbeschnittener. Als Unbeschnittenersagt er:V. 10: „Wie wurde ihm“(sein Glaube zur Gerechtigkeit)„<strong>an</strong>gerechnet? Als er beschnitten oder noch unbeschnittenwar? Nicht als er beschnitten, sondernals er noch unbeschnitten war. Wir sagen nämlich,daß dem Abraham der Glaube zurGerechtigkeit <strong>an</strong>gerechnet wurde“ 112 .Oben hat er (einfach) <strong>die</strong> Schrift <strong>an</strong>geführt.(„Denn was sagt <strong>die</strong> Schrift?“ heißt es, „Abrahamglaubte Gott, und es wurde ihm zur110 Vers 8 <strong>des</strong> Schrifttextes ist überg<strong>an</strong>gen.111 So ist wo<strong>hl</strong> am besten das Wort ὑπερβολή zu übersetzen.112 Der letzte Satz steht nicht im Text <strong>des</strong> <strong>Römer</strong>briefes.78Gerechtigkeit <strong>an</strong>gerechnet.“) Hier legt er <strong>die</strong>Sonde <strong>an</strong> <strong>die</strong> (einzelnen) Worte und weistnach, daß (dem Abraham), als er noch unbeschnittenwar, <strong>die</strong> Gerechtigkeit zuteil gewordensei. — Hierauf löst er einen <strong>an</strong>dernEinw<strong>an</strong>d, der auftauchen könnte. Wenn Abraham,heißt es, gerechtfertigt wurde, als ernoch unbeschnitten war, wozu kam d<strong>an</strong>n <strong>die</strong>Beschneidung? Er <strong>an</strong>twortet:V. 11: „Als Zeichen empfing er sie und als Siegelder Gerechtigkeit aus dem Glauben, <strong>die</strong> ihm zuteilgeworden war, während er noch unbeschnittenwar.“Siehst du, wie er damit den Juden (als AbkömmlingenAbrahams) eine Nebenstellung<strong>an</strong>weist oder ihnen <strong>die</strong> Unbeschnittenen beizä<strong>hl</strong>t?Denn wenn Abraham gerechtfertigtund gekrönt wurde, da er noch unbeschnittenwar, später aber <strong>die</strong> Beschneidung empfing,so kamen ja <strong>die</strong> Juden erst später zu ihmin Beziehung; also ist er zuerst Vater der Unbeschnittenen,<strong>die</strong> ihm wegen <strong>des</strong> Glaubenszugehören, und d<strong>an</strong>n erst der Beschnittenen.Er ist nämlich in zweifacher Weise Stammvater.Siehst du da den leuchtenden Vorr<strong>an</strong>g<strong>des</strong> Glaubens? Bevor <strong>die</strong>ser nicht da war,wurde der Patriarch nicht gerechtfertigt.Siehst du, wie <strong>die</strong> Unbeschnittenheit (für <strong>die</strong>Rechtfertigung) kein Hindernis ist? Er warunbeschnitten, und das hinderte ihn nicht,gerechtfertigt zu werden. Also kommt <strong>die</strong>Beschneidung nach dem Glauben (der Zeitnach).3.Was wunderst du dich noch, daß <strong>die</strong> Beschneidungnach dem Glauben kommt, dasie ja auch nach der Unbeschnittenheitkommt? Ja sie kommt nicht allein der Zeitnach hinter dem Glauben, sondern auch demWerte nach, und zwar so weit, wie das Zeichenhinter der Sache, wofür es das Zeichenist, etwa wie das mili- tärische Ab-


zeichen hinter dem Soldaten. Wozu bedurfteAbraham denn „eines Siegels“? fragst du. Erselbst bedurfte keines. Wozu erhielt er esdenn? Um gemeinsamer Vater aller Gläubigenzu werden, sowo<strong>hl</strong> derer durch Beschneidungwie auch derer im unbeschnittenenZust<strong>an</strong>de; also nicht einfach derer, <strong>die</strong>beschnitten sind. Darum fährt er fort:V. 12: „Nicht bloß derer, welche <strong>die</strong> Beschneidunghaben.“Denn wenn er Vater der Unbeschnittenenwurde, nicht einfach <strong>des</strong>wegen, weil er unbeschnittenwar und in <strong>die</strong>sem Zust<strong>an</strong>de gerechtfertigtwurde, sondern weil (Unbeschnittene)ihm in seinem Glauben nacheiferten:so ist er um so weniger Vater der Beschnittenenbloß seiner Beschneidung wegen,wenn nicht der Glaube (der Beschnittenen)dazu kommt. Die Beschneidung empfing er,damit wir beide, sagt er, ihn <strong>zum</strong> Stammvaterhaben und <strong>die</strong> Unbeschnittenen <strong>die</strong> Beschnittenennicht zurückstoßen. Siehst du,wie <strong>die</strong>se (<strong>die</strong> Unbeschnittenen) ihn früher<strong>zum</strong> Stammvater haben? Wenn aber <strong>die</strong> Beschneidungihre Ehrwürdigkeit hat, weil sie<strong>die</strong> Gerechtigkeit bekundet, so ist ihr <strong>die</strong> Unbeschnittenheitdoch um ein nicht Geringesd<strong>ad</strong>urch voraus, daß ihr <strong>die</strong> Gerechtigkeitwirklich zuteil ward vor der Beschneidung.Du k<strong>an</strong>nst Abraham also d<strong>an</strong>n <strong>zum</strong> Stammvaterhaben, wenn du seinen Fußstapfen <strong>des</strong>Glaubens nachw<strong>an</strong>delst und dich nicht aufdas Gesetz steifst und damit ein großes Wesenmachst. Welchen Glaubens? Sag’ mir.„Des Glaubens im Zust<strong>an</strong>de der Unbeschnittenheit.“Wieder dämpft er den Stolz der Juden,indem er <strong>an</strong> <strong>die</strong> Zeit denken läßt, da <strong>die</strong>Rechtfertigung statthatte. Gut sagt er auch:„in den Fußstapfen“, damit du gleichwie Abraham<strong>an</strong> <strong>die</strong> Auferstehung der Toten glaubest;denn auch der hat seinen Glauben ger<strong>ad</strong>ein <strong>die</strong>sem Punkte bewährt.Somit, wenn du <strong>die</strong> Unbeschnittenheit verwirfst,wisse sicher, daß dir auch <strong>die</strong> Beschneidung(<strong>an</strong> sich) nichts nützt; denn wenndu nicht „in den Fußstapfen <strong>des</strong> Glaubens“79w<strong>an</strong>delst, k<strong>an</strong>nst du tausendmal beschnittensein und bist doch kein Abkömmling Abrahams.Er hat ja <strong>die</strong> Beschneidung<strong>des</strong>wegen bekommen, damit dich der Unbeschnittenenicht verwerfe. Verl<strong>an</strong>ge sie darumnicht von <strong>die</strong>sem; für dich ist sie eine Hilfegeworden, nicht für jenen. Aber, sagst du,sie ist ja doch ein Zeichen der Gerechtigkeit.Ja, aber auch das nur zu deinem Vorteil; jetztist sie übrigens auch das nicht mehr; denndamals bedurftest du sinnlicher Zeichen,jetzt sind sie nicht mehr notwendig. Konntem<strong>an</strong> denn nicht, fragst du, <strong>an</strong> dem Glauben<strong>die</strong> Tugend seiner Seele erkennen? Freilichkonnte m<strong>an</strong> es; aber du bedurftest <strong>die</strong>ser Zugabe(wie es <strong>die</strong> Beschneidung ist). Denn duahmtest <strong>die</strong> Tugend der Seele (<strong>des</strong> Abraham)nicht nach, ja warst nicht einmal imst<strong>an</strong>de,<strong>die</strong>selbe zu erkennen; darum wurde dir <strong>die</strong>sichtbare Beschneidung gegeben, damit dumit Hilfe <strong>die</strong>ses körperlichen Mittels zurWeisheit der Seele geführt wer<strong>des</strong>t und damitdu durch willige Annahme <strong>die</strong>ser höchstehrwürdigen Zeremonie dazu erzogen wer<strong>des</strong>t,den Stammvater nachzuahmen und ihnzu verehren. Das war <strong>die</strong> Absicht Gottesnicht bloß bei der Beschneidung, sondernauch bei allen <strong>an</strong>dern Einrichtungen, wie denOpfern, den Sabbaten und Festen. Daß Abrahamin deinem <strong>In</strong>teresse <strong>die</strong> Beschneidungempfing, das höre aus dem folgenden. Nachdemder Apostel gesagt hat, daß er sie empf<strong>an</strong>genhabe als ein Zeichen und ein Siegel,setzt er auch <strong>die</strong> Ursache hinzu, indem ersagt: „Damit er der Vater der Beschnittenenwerde“, nämlich derer, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> geistigeBeschneidung <strong>an</strong>nehmen; denn wenn du nur<strong>die</strong>se hast, d<strong>an</strong>n brauchst du nichts weiter.Denn ein Zeichen ist <strong>die</strong> körperliche Beschneidungnur d<strong>an</strong>n, wenn <strong>die</strong> Sache, vonder sie ein Zeichen ist, <strong>an</strong> dir zu sehen ist,das ist der Glaube; hast du den nicht, d<strong>an</strong>nhört das Zeichen auf, ein Zeichen zu sein. Zuwas denn ein Zeichen, zu was ein Siegel,wenn nichts zu versiegeln ist? Das wäre so,wie wenn euch jem<strong>an</strong>d einen Geldsack zeig-


te, der ein Siegel trägt, innen aber leer ist. Soist auch <strong>die</strong> Beschneidung ein lächerlichDing, wenn nicht innerlich der Glaube da ist.Denn wenn sie ein Zeichen der Gerechtigkeitist, du aber keine Gerechtigkeit hast, hast duauch kein Zeichen mehr. Darum hast du j<strong>ad</strong>as Zeichen empf<strong>an</strong>gen, damit du dich um<strong>die</strong> Sache be- mühest, von der dudas Zeichen <strong>an</strong> dir trägst. Willst du nun dasletztere haben ohne <strong>die</strong> erstere, d<strong>an</strong>n bedurftestdu jenes überhaupt nicht. Das ist es nichtallein, was <strong>die</strong> Beschneidung kundmacht, <strong>die</strong>Gerechtigkeit, sondern <strong>die</strong> Gerechtigkeitauch im Zust<strong>an</strong>de der Unbeschnittenheit. Esmacht also <strong>die</strong> Beschneidung eigentlichnichts <strong>an</strong>deres kund, als daß sie überflüssigist.V. 14: „Denn wenn <strong>die</strong> unter dem Gesetze Stehendenzu Erben bestimmt sind, d<strong>an</strong>n ist derGlaube nichtig gemacht und <strong>die</strong> Verheißung aufgehoben“113. Der Apostel hat den Beweis geführt, daßder Glaube notwendig ist, daß er älter ist als<strong>die</strong> Beschneidung, daß er stärker ist als dasGesetz, daß er das Gesetz auf festen Grundstellt. Denn wenn alle gesündigt haben, so ister notwendig; wenn auch der Unbeschnittene(durch den Glauben) gerechtfertigt wordenist, so ist er älter; wenn durch das Gesetz <strong>die</strong>Erkenntnis der Sünde kommt, der Glaubeaber ohne das Gesetz in <strong>die</strong> Erscheinung tritt,so ist er stärker; wenn er bezeugt wird durchdas Gesetz und das Gesetz auf festen Grundstellt, so sind Glaube und Gesetz nicht ein<strong>an</strong>derentgegen, sondern in Freundschaftmitein<strong>an</strong>der verbunden. Nun zeigt er wiedervon einer <strong>an</strong>dern Seite, daß es unmöglichwar, durch das Gesetz jene Erbschaft zu erhalten.Er hat Glaube und Beschneidung nebenein<strong>an</strong>dergestellt und ersterem den Siegzuerk<strong>an</strong>nt; nun führt er wieder den Glaubenauf im Gegensatz <strong>zum</strong> Gesetze, indem ersagt: „Denn wenn <strong>die</strong> unter dem GesetzeStehenden Erben sind, d<strong>an</strong>n ist der Glaube113 Hier ist V. 13 <strong>des</strong> Schrifttextes überg<strong>an</strong>gen.80nichtig gemacht.“ Damit m<strong>an</strong> nicht einwende,es sei möglich, den Glauben zu habenund das Gesetz zu beobachten, zeigt der A-postel, daß <strong>die</strong>s ausgesc<strong>hl</strong>ossen sei. Dennwer am Gesetze festhält als dem Mittel <strong>zum</strong>Heil, der schätzt <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong> Glaubens zuniedrig ein. Darum sagt er: „Der Glaube wirdnichtig gemacht“, d. h. <strong>die</strong> Schenkung <strong>des</strong>Heils aus Gn<strong>ad</strong>e ist ja d<strong>an</strong>n unnötig; d<strong>an</strong>nk<strong>an</strong>n ja der Glaube seine Kraft nicht erweisenund „<strong>die</strong> Verheißung ist aufgehoben“. Eskönnte nämlich der Jude sagen: Was braucheich den Glauben? Wenn das wahr ist, d<strong>an</strong>nwird mit dem Glauben zugleichauch <strong>die</strong> Verheißung aufgegeben.4.Beachte, wie der Apostel in seinem Kampfegegen <strong>die</strong> Juden von oben, von ihrem Patriarchenher, ausgeht! Er hat nämlich gezeigt,daß <strong>die</strong> Gerechtigkeit durch den Glaubenererbt sei, und nun zeigt er das gleiche vonder Verheißung. Damit nämlich nicht etw<strong>ad</strong>er Jude sage: Was kümmert es mich, daßAbraham durch den Glauben gerechtfertigtworden ist, sagt <strong>Paulus</strong>: Auch das, was dirnicht gleichgültig ist, <strong>die</strong> Verheißung derErbschaft, k<strong>an</strong>n ohne den Glauben nicht insWerk gesetzt werden. Damit erschreckt er sieam meisten. Was für eine Verheißung? fragstdu. Die, daß er der Erbe der Welt sein werde,und daß alle in ihm gesegnet werden sollen.Und wieso soll <strong>die</strong>se Verheißung aufgehobenwerden? fragst du weiter.V. 15: „Weil das Gesetz Zorn schafft; wo nämlichkein Gesetz ist, da gibt es auch keine Übertretung.“Wenn es aber Zorn schafft und der Übertretungschuldig macht, d<strong>an</strong>n macht es auchfluchverfallen. Solche aber, <strong>die</strong> dem Fluchund der Rache und der Übertretung verfallensind, sind doch nicht würdig, zu erben, sonderneher gestraft und verworfen zu werden.


Was geschieht nun? Es kommt der Glaubeund bringt <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e mit sich 114 , so daß <strong>die</strong>Verheißung in Erfüllung geht. Denn woGn<strong>ad</strong>e, da Vergebung; wo aber Vergebung,da gibt es keine Strafe. Ist aber einmal <strong>die</strong>Strafe hinweggenommen und <strong>die</strong> Gerechtigkeituns zuteil geworden durch den Glauben,d<strong>an</strong>n besteht kein Hindernis mehr, daß wirauch Erben werden der Verheißung.V. 16: „Darum also aus dem Glauben, damit ausGn<strong>ad</strong>e, daß sicher sei <strong>die</strong> Verheißung Gottes derg<strong>an</strong>zen Nachkommenschaft, nicht bloß der aufGrund <strong>des</strong> Gesetzes, sondern auch der auf Grund<strong>des</strong> Glaubens Abrahams, der da aller Vater ist.“Siehst du, daß der Glaube nicht bloß das Gesetzauf festen Grund stellt, sondern auch <strong>die</strong>Verheißung Gottes nicht zusch<strong>an</strong>denwerden läßt, das Gesetz dagegen, überseine Zeit hinaus beobachtet, den Glaubenaufhebt und der Verheißung ein Hindernisist? Darum zeigt er, daß der Glaube nicht nurnicht überflüssig, sondern so notwendig ist,daß es ohne ihn keine Heilserl<strong>an</strong>gung gibt.Denn das Gesetz schafft Zorn; alle haben esnämlich übertreten; der Glaube dagegen läßtden Zorn von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong> gar nicht aufkommen.„Denn wo kein Gesetz ist“, sagt er, „daist auch keine Übertretung.“ Siehst du ein,wie der Glaube nicht nur <strong>die</strong> Sünde, nachdemsie geschehen ist, tilgt, sondern sie garnicht entstehen läßt? Deswegen sagt er: „AusGn<strong>ad</strong>e“. Wozu? Nicht zur Beschämung, sondern„daß sicher sei <strong>die</strong> Verheißung Gottesder g<strong>an</strong>zen Nachkommenschaft“. ZweierleiGutes stellt hier der Apostel fest: Das Geschenkist sicher und es kommt der g<strong>an</strong>zenNachkommenschaft zu; er bezieht (unter <strong>die</strong>Nachkommenschaft) auch <strong>die</strong> Heiden einund zeigt, daß <strong>die</strong> Juden nicht dazu gehören,wenn sie dem Glauben widerstreben. Daserstere (Verw<strong>an</strong>dtschaftsverhältnis zu Abraham,nämlich das der Heiden durch denGlauben) ist fester als das letztere (d. i. dasder Juden durch fleisc<strong>hl</strong>iche Abstammungvon ihm). Der Glaube bringt dir keinenSch<strong>ad</strong>en, widerstreb ihm nicht; sondern errettet dich, nachdem dich das Gesetz in Gefahrgebracht hat. Nachdem er gesagt hat:„der g<strong>an</strong>zen Nachkommenschaft“, zieht erdem Begriff der Nachkommenschaft eineGrenze. Welcher Nachkommenschaft? „Deraus dem Glauben“, sagt er; damit bezieht er<strong>die</strong> Heiden in <strong>die</strong> Verw<strong>an</strong>dtschaft (Abrahams)ein und zeigt, daß sich <strong>die</strong> auf Abrahamnichts einbilden dürfen, welche nichtglauben gleichwie er. Beachte auch noch einedritte Wirkung <strong>des</strong> Glaubens: Er begründetein engeres Verw<strong>an</strong>dtschaftsverhältnis mitdem gerechten Abraham und macht ihn <strong>zum</strong>Stammvater von mehr Nachkommen. Darumsagt er nicht bloß „Abrahams“, sondern „derda unser, der Gläubigen, Vater ist“. D<strong>an</strong>nbesiegelt er <strong>die</strong>ses Wort mit einem Schriftzeugnisse:V. 17: „Wie geschrieben steht: Ich habe dich <strong>zum</strong>Vater vieler Völker gemacht“ 115 . Siehstdu da, wie <strong>die</strong>se Anordnung von oben <strong>an</strong>ausgeht? Was nun, fragst du, wenn der A-postel das auch von den Ismaeliten oder denAmalekitern oder den Aparenern meint? Imweiteren G<strong>an</strong>ge der Rede zeigt er klarer, daß<strong>die</strong>s nicht von jenen gesagt sei. Vorläufigsc<strong>hl</strong>ägt er ein <strong>an</strong>deres Thema <strong>an</strong>, durch welcheser aber auch das beweist; er bestimmtnämlich <strong>die</strong> Art <strong>die</strong>ses Verw<strong>an</strong>dtschaftsverhältnisses(mit Abraham) und beh<strong>an</strong>delt <strong>die</strong>Frage mit großem Scharfsinn. Was sagt er?„wie Gott, dem er glaubte“. Was er damitsagen will, ist folgen<strong>des</strong>: Wie Gott nicht einTeilgott ist, sondern der Vater aller, so auchAbraham; und weiter: Wie Gott Vater istnicht im Sinne natürlicher Abstammung,sondern im Sinne einer Verbindung mit ihmdurch den Glauben, so auch Abraham; dennihn macht der Gehorsam <strong>zum</strong> Vater von unsallen. Weil nämlich <strong>die</strong> Juden <strong>die</strong>se (geistige)Verw<strong>an</strong>dtschaft (mit Abraham) für nichtserachteten, dagegen <strong>an</strong> jener roheren (der114 Neben ἐφελκομένη τῇ χάριτι gibt es eine Lesart: τὴν χάριν <strong>die</strong> unssinngemäßer erscheint.81115 Gen. 17, 4.


fleisc<strong>hl</strong>ichen) festhielten, darum zeigt er, daß<strong>die</strong> geistige Verw<strong>an</strong>dtschaft eine solche ineinem eigentlicheren Sinne sei, indem er Gottin den Beweis hineinzieht. D<strong>an</strong>eben setzt erauch das ins Licht, daß Abraham Vater gewordensei <strong>zum</strong> Lohn für seinen Glauben.Wenn er nicht in <strong>die</strong>sem Sinne Vater wäreund wäre er es (im wörtlichen Sinne) bezüglichaller Bewohner <strong>des</strong> Erdkreises, so wäredoch das Wort „wie“ (Gott) nicht am Platze,und das Geschenk Gottes (nämlich <strong>die</strong> VaterschaftAbrahams) hätte geringeren Wert 116 .Sag mir, was ist es Besonderes, Vaterderer zu sein, <strong>die</strong> von ihm abstammen;<strong>die</strong>se Ehre k<strong>an</strong>n jedem widerfahren. Das Besondereliegt darin, daß er <strong>die</strong> von Gott alsKinder <strong>zum</strong> Geschenk erhielt, welche er nichtder Natur nach als solche hatte.5.Willst du also glauben, daß der Patriarch geehrtwurde, so glaube, daß er Vater aller ist.Nachdem der Apostel aber gesagt hat: „WieGott, dem er glaubte“, bleibt er nicht dabeistehen, sondern fährt fort: „der <strong>die</strong> Toten lebendigmacht und dem ruft, was nicht ist,sowie dem, was ist.“ Damit lenkt er schon imvoraus <strong>die</strong> Rede auf <strong>die</strong> Auferstehung. Sie istihm schon zu dem vorliegenden Thema <strong>die</strong>nlich.Denn wenn Gott imst<strong>an</strong>de ist, Tote lebendigzu machen, und so das, was nicht ist,wie das, was ist, hervorzubringen, so ist er116 Hier steht im griechischen Text ein Satz, der den Sc<strong>hl</strong>üssel zur Übersetzungder g<strong>an</strong>zen Stelle gibt, den ich aber in der Übersetzung übergehe,weil er in der vorausgehenden Übersetzung selbst verwendet worden ist: τὸγὰρ κατέναντι, ὁμοίως ἐστί. Das Wort κατέναντι übersetzt <strong>die</strong> Valuta mit„<strong>an</strong>te“. Ihr folgt <strong>die</strong> deutsche Übersetzung von Bisping: „im AngesichteGottes“. Arnoldi übersetzt es mit: „<strong>des</strong>wegen weil“, doch gibt <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeStelle keinen rechten Sinn. Die Thalhofersche „Bibliothek der Kirchenväter“übersetzt „ähnlich wie“, m. E. g<strong>an</strong>z sinngemäß. Die Übersetzung„vor Gott“ oder „im Angesichte Gottes“ kommt dem Sinne nach mit <strong>die</strong>serüberein, nur braucht jene eine weitere Erklärung, um verst<strong>an</strong>den zu werden.Der Sinn der Stelle ist offenbar folgender. Abraham ist nicht Vater derGläubigen im wörtlichen Sinne, sondern seine Vaterschaft ist eine solchenach der Absicht Gottes („vor Gott“) oder eine solche im geistigen Sinne,wie auch Gott in <strong>die</strong>sem Sinne Vater aller Menschen ist. Die VaterschaftAbrahams ist also „wie“ <strong>die</strong> Gottes. Chrysostomus selbst setzt παντέναντι= ὁμοίως. Darum übersetze ich es oben mit „wie“ und lasse hier <strong>die</strong>seErklärung weg.82auch imst<strong>an</strong>de, solche, <strong>die</strong> nicht (dem Fleischenach) von Abraham abstammen, zu seinenKindern zu machen. Darum sagt er nicht:„der das, was nicht ist, wie das, was ist, hervorbringt“,sondern: „der ruft“, um <strong>die</strong>Leichtigkeit besser auszudrücken. So wie esuns leicht ist, das, was ist, zu rufen, so ist esihm noch leichter, ja viel leichter, dem, wasnicht ist, Sein zu verleihen.Nachdem der Apostel <strong>die</strong> unaussprec<strong>hl</strong>icheGröße <strong>des</strong> Geschenkes Gottes geschildertund auf <strong>des</strong>sen Allmacht verwiesen hat, zeigter, daß auch der Glaube <strong>des</strong> Abraham solchenGeschenkes würdig gewesen sei, damitm<strong>an</strong> nicht etwa glaube, es sei ihm unver<strong>die</strong>nt<strong>die</strong>se Ehre widerfahren. Er berichtigt das Urteil<strong>des</strong> Zuhörers, damit sich der Jude nichtaufrege und kopfschüttelnd einwende: Wiekonnten solche, <strong>die</strong> nicht (Abrahams) Kinderwaren, seine Kinder werden? Er kommt alsowieder auf den Patriarchen zu sprechen undsagt:V. 18: „Er glaubte wider <strong>die</strong> Hoffnung <strong>an</strong> <strong>die</strong>Hoffnung, daß er Vater vieler Völkerwerden würde gemäß dem, was ihm gesagt worden:So wird deine Nachkommenschaft sein.“Wieso glaubte er wider <strong>die</strong> Hoffnung <strong>an</strong> <strong>die</strong>Hoffnung? Wider <strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>iche Hoffnung<strong>an</strong> <strong>die</strong> von Gott ihm gemachte Hoffnung? Erweist hin auf das Große <strong>des</strong> (verheißenen)Ereignisses und daß <strong>die</strong> Verheißung; trotzdemkeinen Zweifel zulasse. Das sind gegensätzlicheDinge, aber der Glaube bringt sie inÜbereinstimmung. So zu sprechen von denoben erwähnten Nachkommen <strong>des</strong> Ismaelwäre nicht am Platze gewesen; denn <strong>die</strong>sewaren seine Nachkommen nicht dem Glaubennach, sondern der Natur nach. Aber denIsaak zieht der Apostel in <strong>die</strong> Rede; dennnicht auf jene Völker bezog sich der Glaube<strong>des</strong> Abraham, sondern auf den, der aus demunfruchtbaren Weibe hervorgehen sollte.Wenn es also ein Lohn, war, Vater vielerVölker zu werden, so sind offenbar nur <strong>die</strong>Völker gemeint, auf <strong>die</strong> sich der Glaube <strong>des</strong>


83Abraham bezog. Damit du dich überzeugst,daß <strong>die</strong>se gemeint sind, höre, was folgt:V. 19: „Und er ward nicht schwach im Glauben;er dachte weder <strong>an</strong> seinen erstorbenen Leib, [derschon beinahe hundert Jahre alt war, noch <strong>an</strong> denerstorbenen Schoß der Sara].“Siehst du, wie der Apostel einerseits <strong>die</strong>Hindernisse vor Augen stellt, <strong>an</strong>dererseitsden hochgemuten Sinn <strong>des</strong> Gerechten, derüber sie hinwegschritt? Wider <strong>die</strong> Hoffnung,sagt er, <strong>des</strong>sen, was verheißen war. Das istdas erste Hindernis. Der Patriarch hatte nichtdas Beispiel eines <strong>an</strong>dern Abraham vor sich,der etwa unter gleichen Umständen einenSohn bekommen hatte. Die hinter ihm kamen,konnten auf ihn schauen, er aber aufniem<strong>an</strong>den als auf Gott allein. Darum sagtauch der Apostel: „wider <strong>die</strong> Hoffnung“.D<strong>an</strong>n der erstorbene Leib, das zweite Hindernis,und der erstorbene Schoß der Sara,ein drittes und viertes.V. 20: „An der Verheißung Gottes zweifelte ernicht mißtrauisch.“Gott hatte ihm keinen Beweis geliefert, keinWunderzeichen gewirkt, sondern es warenbloße Worte, durch <strong>die</strong> ihm Dingeverheißen wurden, welche <strong>die</strong> Natur nichtversprach. Und doch heißt es „er zweifeltenicht“. Der Apostel sagt nicht „er war nichtungläubig“, sondern „er zweifelte nicht“, dasheißt, er bedachte sich nicht, er schw<strong>an</strong>ktenicht trotz aller Hindernisse. Daraus ersehenwir, daß, wenn Gott noch so Unmöglichesverheißt, der aber, <strong>an</strong> den <strong>die</strong> Verheißunggerichtet ist, sie nicht <strong>an</strong>nimmt, <strong>die</strong> Nichterfüllungderselben nicht in der Natur derDinge begründet ist, sondern in der Torheit<strong>des</strong>sen, der (<strong>die</strong> Verheißung) nicht <strong>an</strong>nimmt.„Sondern er war stark im Glauben.“ Beachtedas kluge Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>! Es war <strong>die</strong>Rede gewesen von solchen, <strong>die</strong> Gesetzeswerkeverrichten, und solchen, <strong>die</strong> glauben; dalegt nun der Apostel dar, daß ein solcher, derglaubt, eigentlich mehr zu tun hat als jener<strong>an</strong>dere und daß er größerer Kraft dazu bedarf,daß er sich viel Gewalt <strong>an</strong>tun und keinergeringen Mühe unterziehen muß. DieJuden schätzten nämlich den Glauben gering,als ob dazu keine Anstrengung gehöre. Dagegentritt nun der Apostel auf und zeigt,daß nicht bloß zur Übung der Selbstbeherrschungoder einer ähnlichen Tugend, sondernauch <strong>zum</strong> Glauben Kraft<strong>an</strong>strengungund noch mehr erforderlich sei. Denngleichwie jener Kraft nötig hat, um ausschweifendeGed<strong>an</strong>ken abzuweisen, so hatauch <strong>die</strong>ser Seelenstärke nötig, um <strong>die</strong> Eingebungen<strong>des</strong> Unglaubens abzuwehren. Wieerl<strong>an</strong>gt er nun <strong>die</strong>se Kraft? Durch den Glauben,sagt der Apostel, nicht durch <strong>die</strong> Tätigkeitder Vernunft, indem er etwa über <strong>die</strong>Tatsache hin- und hergrübelt. Auf <strong>die</strong>se Weisewäre er (Abraham) unterlegen. Wie kamer aber zu <strong>die</strong>sem Glauben? Der Apostel sagt:V. 21: „<strong>In</strong>dem er Gott <strong>die</strong> Ehre gab, g<strong>an</strong>z und garüberzeugt, daß <strong>die</strong>ser das, was er verheißen, auchzu erfüllen imst<strong>an</strong>de sei.“Also ger<strong>ad</strong>e das heißt Gott ehren, nichtdurch eigene Geistesarbeit der Sache auf denGrund kommen wollen, wie <strong>an</strong>dererseits einsolches Bemühen Sünde ist. Wenn wir aberschon d<strong>ad</strong>urch Gott <strong>an</strong> seiner Ehre Abbruchtun, daß wir Dingen von geringerer Bedeutungauf den Grund kommen wollen, sowerden wir für un- sern Frevel umso schwerere Strafe erleiden, wenn wir <strong>an</strong>der mensc<strong>hl</strong>ichen Geburt <strong>des</strong> Herrn herumklügeln.Denn wenn es schon unstatthaft ist,über <strong>die</strong> Art und Weise der AuferstehungUntersuchungen <strong>an</strong>zustellen, so um so mehrüber jenes unaussprec<strong>hl</strong>iche und ehrwürdigeGeheimnis. Auch sagt er nicht, er glaubteeinfach, sondern „er war g<strong>an</strong>z und gar überzeugt“.Das ist so der rechte Glaube; er istklarer als ein Vernunftbeweis und hat mehrÜberzeugungskraft. Er läßt sich auch nichtdurch einen Einw<strong>an</strong>d, der etwa von der Vernunfthergenommen ist, ins W<strong>an</strong>ken bringen.Wer nur durch Worte sich hat überreden lassen,k<strong>an</strong>n umgestimmt werden; wer aber imGlauben fest geworden ist, der hat seine Ohrenwie mit einem Walle umgeben gegen Re-


den, <strong>die</strong> den Glauben untergraben. Wenn derApostel also sagt, Abraham sei durch denGlauben gerechtfertigt worden, so drückt erdamit zugleich aus, daß jener durch seinenGlauben auch Gott verherrlicht habe; unddas geschieht hauptsäc<strong>hl</strong>ich durch den Lebensw<strong>an</strong>del.Denn: „Lasset euer Licht leuchtenvor den Menschen, auf daß sie eure gutenWerke sehen und den Vater preisen, der imHimmel ist“ 117 . Sieh, das bezieht sich offenbarauch auf den Glauben. Wiederum, wie<strong>die</strong> Werke Kraft erfordern, so auch der Glaube.Bei jenen hat öfter auch der Körper seinenTeil am Schweiß, <strong>die</strong>ser dagegen ist einzigein Werk der Seele. Daher ist <strong>die</strong> Anstrengungdabei um so größer, weil <strong>die</strong> Seele denKampf ohne Gehilfen zu bestehen hat.6.Siehst du, wie der Apostel alles, was von denWerken gilt, in noch höherem Maße vomGlauben aussagt, als: Das Ruhmhaben vorGott, <strong>die</strong> Notwendigkeit der Kraft dazu, dasMühevolle dar<strong>an</strong> und wiederum <strong>die</strong> VerherrlichungGottes. Mit den Worten, daß Gottimst<strong>an</strong>de ist, zu erfüllen, was er versprochenhat, will er, scheint mir, prophetisch auf dasJenseits hinweisen. Denn Gott hat ja nichtbloß Verheißungen für das Diesseits, sondernauch für das Jenseits gemacht, ja <strong>die</strong> ersteren sind nur ein Schattenbild derletzteren. Nicht glauben ist also der Beweiseines schwäc<strong>hl</strong>ichen, kleinlichen und armseligenGeistes. Wenn uns daher m<strong>an</strong>che denGlauben <strong>zum</strong> Vorwurf machen, so wollenwir ihnen <strong>zum</strong> Gegenvorwurf ihren Unglaubenmachen; seinetwegen sind sie als armselige,kleine, schwache Geister zu werten,nicht viel besser als Esel. Denn wie das Glaubeneiner edlen, hochgemuten Seele eigen ist,so das Nicht-Glauben einer unvernünftigen,gemeinen, zu viehischer Dummheit herabgesunkenen.Überlassen wir sie darum ihremSchicksal und halten wir es mit dem Patriarchen;geben wir Gott <strong>die</strong> Ehre, wie auch ersie ihm gab. Was bedeutet es aber, wenn esheißt: „er gab Gott <strong>die</strong> Ehre“? Er <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nteseine Größe 118 , seine grenzenlose Macht; erbekam den richtigen Begriff von ihm undgew<strong>an</strong>n so <strong>die</strong> feste Überzeugung von derWahrheit seiner Verheißungen.So wollen denn auch wir Gott verherrlichensowo<strong>hl</strong> durch den Glauben als auch durchWerke, damit auch wir <strong>zum</strong> Lohn von ihmverherrlicht werden. Es heißt ja: „Die michehren, will auch ich ehren.“ Wenn uns auchkein <strong>an</strong>derer Lohn zuteil würde, so wäre dasschon Ehre, Gott verherrlichen zu dürfen.Denn wenn schon Menschen sich auf dasallein etwas einbilden, daß sie Königen Lobredenhalten dürfen, wenn sie auch sonstnichts davon haben, bedenke, welche Ehre esfür uns sein muß, unsern Herrn zu verherrlichen,und welche Strafe, wenn wir <strong>die</strong> Ursachesind, daß er gelästert wird! Und dochwill er auch seine Verherrlichung nur unseretwegen;denn er selbst bedarf dergleichennicht. Was für ein Abst<strong>an</strong>d, meinst du, bestehtwo<strong>hl</strong> zwischen Gott und den Menschen?Etwa ein solcher wie zwischen einemMenschen und einem Wurme? Oder zwischeneinem Engel und einem Wurm? Ichwill noch gar nichts gesagt haben, wenn ich<strong>die</strong>sen Abst<strong>an</strong>d nenne; denn es ist überhauptunmöglich, einen solchen bestimmt <strong>an</strong>zugeben.Möchtest nun du von Würmerneine große <strong>an</strong>zugeben. Möchtestnun du von Würmern eine große und herrlicheEhrung verl<strong>an</strong>gen? Gewiß nicht. Wennalso du bei deiner Ehrsucht keine solchewillst, wie sollte denn Gott, der frei von <strong>die</strong>serLeidenschaft und hocherhaben darüberist, sie von dir wollen? Aber gleichwo<strong>hl</strong>, ober ihrer auch nicht bedarf, erklärt er, sie zuverl<strong>an</strong>gen — deinetwegen. Denn wenn er117 Die eingeklammerten Worte fe<strong>hl</strong>en in den meisten H<strong>an</strong>dschriften.84118 Field zieht <strong>die</strong> Lesart „μαγαλοσύνην“ der <strong>an</strong>dern „δικαιοσύνην“ vor.


deinetwegen es auf sich genommen hat, einKnecht zu werden, was wunderst du dich,wenn er aus demselben Grunde auch <strong>an</strong>deresauf sich nimmt? Nichts hält er seiner unwürdig,was zu unserem Heile gereicht.Da wir <strong>die</strong>s nun wissen, so lasset uns jedeSünde fliehen, durch welche er gelästertwird! Denn „wie vor dem Angesicht derSc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge“, heißt es, „fliehe vor der Sünde“ 119 ;wenn du dich ihr näherst, wird sie dich beißen.Sie selbst kommt nämlich nicht zu uns,sondern wir suchen sie freiwillig auf. Gotthat es so eingerichtet, damit der Teufel nichtübermächtig werde; denn sonst, könnte j<strong>an</strong>iem<strong>an</strong>d gegen seine Gewalt aufkommen.Darum hat ihn Gott wie einen Räuber undGewalttätigen beiseite gesetzt. Wenn er nichtjem<strong>an</strong>den in <strong>die</strong> Hände bekommt, der waffenlosund allein in seinen Sc<strong>hl</strong>upfwinkelkommt, wagt er nicht, ihn <strong>an</strong>zugehen; wenner uns nicht durch <strong>die</strong> Wüste w<strong>an</strong>dern sieht,traut et sich nicht, nahe zu kommen. DieWüste <strong>des</strong> Teufels aber ist nichts <strong>an</strong>deres als<strong>die</strong> Sünde. Wir brauchen daher den Schild<strong>des</strong> Glaubens, den Helm <strong>des</strong> Heiles, dasSchwert <strong>des</strong> Geistes, und zwar nicht bloßdazu, nichts Übles zu erleiden, sondern auch,um ihm das Haupt abzusc<strong>hl</strong>agen, wenn ereinen Angriff machen wollte. Wir brauchenauch unablässiges Gebet, damit er unter unsernFüßen zertreten werde. Er ist unverschämtund frech, auch wenn er von untenher kämpft; aber gleichwo<strong>hl</strong> siegt er auch so.Schuld dar<strong>an</strong> ist, daß wir uns nicht bemühen,einen höheren St<strong>an</strong>d einzunehmend als biswohin seine Streiche reichen. Er ist nämlichnicht imst<strong>an</strong>de, sich hoch zu erheben, sonderner kriecht am Boden. Sein Bild ist daherauch <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge. Wenn ihn Gott von Anf<strong>an</strong>g<strong>an</strong> in <strong>die</strong>se Lage versetzt hat,so um so mehr jetzt. Wenn du aber nicht wissensolltest, was das heißt „von unten herkämpfen“, so will ich versuchen, dir <strong>die</strong> Art<strong>die</strong>ses Kampfes klar<strong>zum</strong>achen. Was heißt119 Eccl. 21, 2.85also „von unten her kämpfen“? Es heißt, vonDingen aus Angriffe machen, <strong>die</strong> hier unten(auf der Erde) liegen: von der Sinnenlust,dem Reichtum, (kurz) von allen den Dingenher, <strong>die</strong> dem irdischen Leben <strong>an</strong>gehören.Wenn daher der Teufel jem<strong>an</strong>den sich <strong>zum</strong>Himmel emporschwingen sieht, wird erschon gleich fürs erste einen solchen nicht<strong>an</strong>greifen können; d<strong>an</strong>n aber, sollte er esdoch versuchen, wird er sofort wieder zuBoden fallen. Fürchte dich nicht! er hat jakeine Füße; sei ohne Sorge! er hat ja keineFlügel. Auf der Erde kriecht er hin und inirdischen Dingen (liegt seine Stärke). Habealso nichts gemein mit der Erde, und duwirst keine Anstrengung brauchen (um zusiegen). Einen Kampf Aug’ in Aug’ kennt ernicht, sondern wie eine Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge hält er sichversteckt im Dornengestrüpp; im trügerischenReichtum lauert er meistenteils auf.Wenn du das Dornengestrüpp weghauest,wendet er sich gleich zu feiger Flucht; wenndu es verstehst, göttliche Zaubersprüche gegenihn <strong>an</strong>zuwenden, wird er gleich Wundenbekommen. Und wir haben, ja wir habengeistige Zaubersprüche, den Namen unseresHerrn Jesus Christus und <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong> Kreuzes.Dieser Zauberspruch vertreibt den (höllischen)Drachen nicht bloß aus seinenSc<strong>hl</strong>upfwinkeln und sc<strong>hl</strong>eudert ihn ins Feuer,sondern heilt auch Wunden.7.Und wenn auch viele, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Zauberspruchgesprochen haben, nicht geheilt wordensind, so geschah <strong>die</strong>s wegen ihres Kleinglaubens,nicht wegen der Kraftlosigkeit <strong>des</strong>Spruches. Auch um Jesus haben sich vielegedrängt und gestoßen — ohne Gewinn; dasblutflüssige Weib hingegen berührte nichteinmal seinen Leib, sondern nur den Saumseines Klei<strong>des</strong> und hemmte damit das l<strong>an</strong>gjährigeRinnen <strong>des</strong> Blutes. Dieser Name (Je-


sus) ist ein Schrecken für <strong>die</strong> bösen Geister,<strong>die</strong> Leidenschaften und <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheiten. Mitihm wollen wir uns schmücken, mit ihm unsschützen! So ist auch <strong>Paulus</strong> groß geworden,obzwar er von Natur aus so war wie wir; aber der Glaube hat aus ihm einen<strong>an</strong>dern Menschen gemacht, und so groß warseine Wirkung (in ihm), daß sogar seineKleider eine große Heilkraft bekamen.Welche Entschuldigung werden nun wirver<strong>die</strong>nen, wenn der Schatten und <strong>die</strong> Kleiderjener den Tod vertrieben, bei uns hingegennicht einmal <strong>die</strong> Gebete <strong>die</strong> Leidenschaftendämpfen? Was ist schuld dar<strong>an</strong>? Die großeVerschiedenheit der Gesinnung bei dergleichen gemeinsamen Natur. Denn obzwarer <strong>die</strong>selbe Erziehung und Nahrung genoßwie wir, <strong>die</strong>selbe Erde bewohnte und <strong>die</strong>selbeLuft atmete, übertraf er uns doch bei weitem<strong>an</strong> <strong>an</strong>dern Dingen: <strong>an</strong> Eifer, <strong>an</strong> Glaube,<strong>an</strong> Liebe. Ahmen wir ihn also nach, bringenwir es dazu, daß auch durch uns ChristusLob erschalle! Er verl<strong>an</strong>gt darnach mehr alswir; zu <strong>die</strong>sem Zwecke hat er sich ja <strong>die</strong>sesMusikinstrument gebildet und will nunnicht, daß es lautlos bleibe und unbenutzt,sondern will es immer zu Händen haben.Warum hältst du es also nicht gestimmt für<strong>die</strong> Künstlerh<strong>an</strong>d, sondern läßt seine Saitensc<strong>hl</strong>aff werden und abgesp<strong>an</strong>nt durchSchwelgerei und machst für ihn <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeZither unbrauchbar, <strong>an</strong>statt, wie du solltest,ihre Saiten zu sp<strong>an</strong>nen zu melodischemKl<strong>an</strong>g und sie einzustreichen mit geistigemSalz? Wenn Christus unsere Seele so vorbereitetsieht, wird er auf ihr spielen, und d<strong>an</strong>nwirst du sehen, wie <strong>die</strong> Engel und <strong>die</strong> Erzengelund <strong>die</strong> Cherubim dazu t<strong>an</strong>zen. Machenwir uns also würdig <strong>die</strong>ser heiligen Hände!Rufen wir ihn, daß er spiele auf der Zitherunseres Herzens! Ja es bedarf nicht einmaleines Rufes. Halte es nur würdig der Berührungdurch ihn, und er wird dir zuvorkommen.Denn wenn er schon solchen, <strong>die</strong> nurMiene machen (ihn auf der Zither ihres Herzensspielen zu lassen), entgegen eilt — so86war es bei <strong>Paulus</strong>; ehe er es noch gewordenwar, hatte Christus schon ein Loblied aufihm zu spielen erdacht —, wie sollte er untätigbleiben, wenn er (das <strong>In</strong>strument) bereitsieht? Wenn aber Christus aufspielt, d<strong>an</strong>nwird gewiß auch der Heilige Geist dabei stehen,und d<strong>an</strong>n sind wir herrlicher als derHimmel; zwar haben wir nicht <strong>die</strong> Sonneund den Mond in unseren Körpern, aber denHerrn der Sonne und <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> und derEngel; der wohnt und w<strong>an</strong>delt in uns. Das sage ich, nicht daß wir Tote <strong>zum</strong>Leben erwecken oder Aussätzige rein machen,sondern daß wir ein Wunderzeichensehen lassen, welches größer ist als alle <strong>an</strong>dern— <strong>die</strong> Liebe. Wo <strong>die</strong>ses hehre Gut sichfindet, da tritt gleich der Sohn Gottes dazuneben dem Vater, und <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl.Geistes leuchtet auf. Denn, so heißt es ja, „wozwei oder drei in meinem Namen versammeltsind, da bin ich mitten unter ihnen“ 120 .Großer Zuneigung und innig Liebenden istes eigen, <strong>die</strong> geliebten Menschen um sichhaben zu wollen. Wer sollte denn, wirst dusagen, so erbärmlich sein, daß er nicht denWunsch hätte, Christus bei sich zu haben? —Wir (<strong>an</strong>tworte ich), <strong>die</strong> wir mitein<strong>an</strong>der imStreite liegen. — Da wird mir vielleicht jem<strong>an</strong>dins Gesicht lachen und fragen: Wassagst du? Du siehst uns ja alle innerhalb derselbenWände, in derselben kirc<strong>hl</strong>ichen Gemeinschaft,in derselben Hürde einträchtigbeiein<strong>an</strong>der, mit niem<strong>an</strong>dem im Streit, unterder Obhut <strong>des</strong>selben geistlichen Hirten; gemeinsamerheben wir <strong>die</strong> Stimme, hören <strong>die</strong>Predigt <strong>an</strong>, schicken Gebete <strong>zum</strong> Himmelempor, und du sprichst von Kampf undStreit. — Jawo<strong>hl</strong>, ich spreche von Kampf undbin <strong>des</strong>wegen nicht von Sinnen, stehe nichtaußer der Wirklichkeit. Ich sehe, was ich sehe,und weiß gar wo<strong>hl</strong>, daß wir innerhalbderselben Hürde unter demselben Hirtenleben; aber ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen beweine ich esso sehr, daß wir bei soviel Gemeinsamkeit im120 Matth. 18, 20.


Streite liegen. Und was siehst du hier fürStreit? fragt m<strong>an</strong>. Hier zwar keinen; aberkaum sind wir ausein<strong>an</strong>der geg<strong>an</strong>gen, schuldigteiner den <strong>an</strong>dern <strong>an</strong>, ein <strong>an</strong>derer sprichtg<strong>an</strong>z offen Schmähungen aus, ein <strong>an</strong>derer istvoll Neid, wieder ein <strong>an</strong>derer ist geizig, räuberischund gewalttätig, ein <strong>an</strong>derer pflegtunreine Liebe und wieder ein <strong>an</strong>derer spinnttausenderlei Ränke. Ja, wenn es möglich wäre,eure 121 Seelen bloßzulegen, da würdet ihrdas alles genau sehen und zur Einsichtkommen, daß ich nicht von Sinnen bin.8.Seht ihr nicht, wie <strong>die</strong> Soldaten eines Heeres,wenn Frieden ist, <strong>die</strong> Waffen ablegenund ohne Wehr und Waffen ins feindlicheLager hinübergehen? Wenn sie aber <strong>die</strong> Waffen<strong>an</strong>legen, Wachposten und Vorpostenausstellen, <strong>die</strong> Nächte sc<strong>hl</strong>aflos zubringenund Wachfeuer <strong>an</strong>zünden, d<strong>an</strong>n deutet dasalles nicht auf Frieden, sondern auf Krieg.Dasselbe ist nun auch bei uns zu sehen: Wirbeobachten ein<strong>an</strong>der scharf, passen aufein<strong>an</strong>derauf und flüstern einer dem <strong>an</strong>dern insOhr; wenn wir einen her<strong>an</strong>kommen sehen,schweigen wir gleich still und brechen allesab. Das ist doch nicht <strong>die</strong> Art von Leuten, <strong>die</strong>ein<strong>an</strong>der trauen, sondern von solchen, <strong>die</strong>sich vorein<strong>an</strong>der hüten. — Aber das tun wir,heißt es, nicht, um ein Unrecht zu tun, sondernum keines zu erleiden. Das tut mir ebenger<strong>ad</strong>e leid, daß wir unter Brüdern leben undsolche Wachsamkeit nötig haben, um keinUnrecht zu erleiden, daß wir solche Wachfeuer<strong>an</strong>zünden und Wach- und Horchpostenausstellen müssen. Schuld dar<strong>an</strong> ist <strong>die</strong> Lüge,<strong>die</strong> große Hinterlist, der große M<strong>an</strong>gel <strong>an</strong>Liebe, der unversöhnliche Krieg. Da mochtem<strong>an</strong> ja oft bei den Heiden mehr gegenseitigesVertrauen finden als bei den Christen. Wiesollte m<strong>an</strong> sich doch darob schämen, wie esbeweinen, wie beklagen!— Was soll aber ic<strong>hl</strong>eiden? sagst du; der und der ist so ungezogen,so boshaft. Wo bleibt da doch deineSelbstbeherrschung? Wo <strong>die</strong> apostolischenGesetze, <strong>die</strong> uns befe<strong>hl</strong>en, einer <strong>des</strong> <strong>an</strong>dernLast zu tragen? Wenn du mit deinem Mitbrudernicht lieb umzugehen verstehst, wiewirst du es mit einem Fremden imst<strong>an</strong><strong>des</strong>ein? Wenn du ein Glied deines eigenen Körpersnicht zu benützen verstehst, wie wirstdu imst<strong>an</strong>de sein, ein frem<strong>des</strong> her<strong>an</strong>zuziehenund mit dir zu vereinigen? Ach, wie michdas schmerzt! Ich möchte Ströme von Tränenweinen wie jener Prophet, wenn ich so überdas Feld Umblicke und unzä<strong>hl</strong>ige Feinde erschaue,viel sc<strong>hl</strong>immere als jene waren. Ersah fremdländische Feinde daherstürmenund rief aus: „Mein Herz, wie tut mir’sweh 122 . Doch ich sehe Leute, <strong>die</strong> einem unddemselben Feldherrn unterstehen, wie sieaufein<strong>an</strong>der losgehen, ein<strong>an</strong>der beißen, sichgegenseitig <strong>die</strong> Glieder zerfetzen, <strong>die</strong> einen wegen Geld, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern wegenRuhm; wieder <strong>an</strong>dere sehe ich, wie sieein<strong>an</strong>der verlachen und verhöhnen ohne jedenGrund und Zweck und ein<strong>an</strong>der unzä<strong>hl</strong>igeWunden sc<strong>hl</strong>agen; Tote sehe ich, <strong>die</strong>sc<strong>hl</strong>immer dar<strong>an</strong> sind als <strong>die</strong> auf demSc<strong>hl</strong>achtfeld Gefallenen; der Name „Bruder“ist nur mehr leerer Schall. Ach, ich k<strong>an</strong>n garnicht genug klagen über <strong>die</strong>ses Trauerspiel!So habt doch Scheu, habt doch Scheu vor <strong>die</strong>semTische, <strong>an</strong> dem wir alle teilnehmen, vorChristus, der für uns gesc<strong>hl</strong>achtet ward undder als Opfer darauf liegt! Wenn Räuber gemeinsamSalz gegessen haben, so sind sienicht mehr Räuber denen gegenüber, mitwelchen sie es genossen haben; <strong>die</strong> Tischgemeinschaftändert ihr Benehmen um, siemacht Leute, <strong>die</strong> wilder waren als Bestien,zahmer als Lämmer. Wir aber, <strong>die</strong> wir <strong>an</strong> einemsolchen Tisch teilgenommen, eine solcheSpeise gemeinsam genossen haben, ergreifen121 Eine <strong>an</strong>dere Lesart ist „unsere Seelen“.87122 Jer. 4, 19.


gegenein<strong>an</strong>der <strong>die</strong> Waffen; wir sollten es liebergegen den Teufel tun, der Krieg führtgegen uns allesamt. Eben <strong>des</strong>wegen werdenwir immer schwächer, jener dagegen stärkermit jedem Tag. Denn nicht in gemeinsamemBund mitein<strong>an</strong>der kämpfen wir gegen ihn,sondern im Bunde mit ihm ziehen wir gegenein<strong>an</strong>derzu Felde, und unter seinemKomm<strong>an</strong>do stellen wir uns <strong>zum</strong> Kampfe,während wir doch nur ihn allein bekämpfensollten. Ihn lassen wir ungeschoren, und gegenunsere Brüder schnellen wir <strong>die</strong> Pfeileab. Was für Pfeile? fragst du. — Die der Zungeund <strong>des</strong> Mun<strong>des</strong>. Denn nicht bloß L<strong>an</strong>zenund Pfeile machen Wunden, sondern auchWorte, ja <strong>die</strong> noch viel ärgere als jene. — Undwie können wir <strong>die</strong>sen Krieg zu Ende bringen?fragst du. Wenn du dir vorstelltest, daßdu bei jeder üblen Nachrede gegen deinenBruder Kot aus deinem Munde speiest; wenndu dir vorstelltest, daß du, so oft du ein GliedChristi schmähest, dir in dein eigenes Fleischbeißest, daß du dir jenes unbestec<strong>hl</strong>iche undschreckliche Gericht nur um so mehr verschärfest,daß der Pfeil, den du auf ihn abschnellst,nicht ihn, sondern dich, den Schützen,tötet. Aber er hat dir ein Unrecht zugefügt,dir Übles get<strong>an</strong>? So seufze, aber schmähenicht! Weine, nicht über das erlittene Unrecht,sondern über sein Verderben, wie auch Jesus über Judas weinte, nichtweil er selbst gekreuzigt wurde, sondern weilihn jener verraten hatte. Er hat gegen dichgefrevelt, dich beschimpft? Rufe zu Gott umbaldiges Erbarmen für ihn! Es ist ja dein Bruder,er entstammt demselben Mutterschoßwie du, er ist ein Glied von dir, er ist zu demselbenTisch berufen wie du. Aber er gehtnur um so mehr auf mich los, sagst du. Umso größer und um so reic<strong>hl</strong>icher der Lohn.Um so eher soll m<strong>an</strong> den Zorn gegen ihn fahrenlassen, weil er ja ohnehin arg gesc<strong>hl</strong>agenist, weil der Teufel ihm eine Wunde versetzthat.9.Versetz’ ihm also nicht auch du noch eine,stürz’ dich nicht zugleich mit ihm ins Verderben!Sol<strong>an</strong>ge du selbst stehst, wirst duauch ihm noch aufhelfen können; wenn duaber auch zu Fall gekommen bist durch Zurückgebender Schmährede, wer wird euchd<strong>an</strong>n mehr aufhelfen? Der <strong>an</strong>dere, so verwundet,wie er ist? Aber er liegt ja am Bodenund k<strong>an</strong>n nicht. Oder etwa du, der du mitihm gefallen bist? Wie sollst du einem <strong>an</strong>dern<strong>die</strong> H<strong>an</strong>d reichen können, da du sie dirselbst nicht reichen k<strong>an</strong>nst? Bleib also wackeraufrecht stehen, halte den Schild vor undzieh’ durch L<strong>an</strong>gmut den Toten aus demSc<strong>hl</strong>achtgetümmel. Der Zorn hat ihm eineWunde gesc<strong>hl</strong>agen? Sc<strong>hl</strong>ag ihm nicht auchnoch eine, sondern leg zuerst deine Wehrbeiseite! Wenn wir uns gegenein<strong>an</strong>der so benehmen,so wird uns bald allen geholfensein. Wenn wir aber gegenein<strong>an</strong>der <strong>die</strong> Waffenergreifen, d<strong>an</strong>n braucht es keinen Teufelmehr zu unserm Verderben. Jeder Krieg istverderblich, am meisten aber der Bürgerkrieg.Unser Krieg ist aber noch verderblicherals der Bürgerkrieg, um soviel mehr, als<strong>die</strong> Gesetze, <strong>die</strong> uns zu einer Gemeinde, ja zueiner Mühe vereinigen, erhabener sind. Einsthat den Abel sein Bruder getötet und hatBruderblut vergossen; aber der Mord, vondem ich rede, ist ein um so größeres Verbrechen,als unsere Verw<strong>an</strong>dtschaft näher undder Tod, um den es sich h<strong>an</strong>delt, ein solchersc<strong>hl</strong>immerer Art ist. Kam traf den Leib (seinesBruders), du aber zückst das Schwertgegen <strong>die</strong> Seele. Aber (sagst du), du mußtestzuvor Unrecht leiden? Nicht Unrecht leiden,sondern Unrecht tun, das heißt inWahrheit Unrecht leiden. Sieh nur: Kain warder Mörder, Abel der Gemordete. Und doch,wer war der eigentlich Tote? Der, welchernach seinem Tode noch schrie — es heißt ja:„Das Blut deines Bruders Abel schreit zu88


mir“ 123 — oder der, welcher zwar lebte, aberin Zittern und Beben? Fürwahr, <strong>die</strong>ser letzterewar bedauernswerter als jeder Tote. Siehstdu also, wie es besser ist, ein Unrecht zu leiden,und sollte es auch den Tod bringen? Dalerne erkennen, wie es sc<strong>hl</strong>immer ist, ein Unrechtzu tun, und sollte es gleich bis <strong>zum</strong>Blutvergießen gelingen. Kain hat seinen Bruderniedergesc<strong>hl</strong>agen, er hat ihn aus demWege geräumt, ja; aber <strong>die</strong>ser wurde gekrönt,jener bestraft. Abel wurde ungerechterweisehingesc<strong>hl</strong>achtet, aber im Tode nochwurde er <strong>zum</strong> Ankläger, <strong>zum</strong> Sieger, <strong>zum</strong>Bezwinger. Der Überlebende verstummte,ward beschämt und gesc<strong>hl</strong>agen und erreichtedas Gegenteil von dem, was er wollte. Er töteteihn, weil er ihn (von Gott) geliebt sah, inder Meinung, er werde ihm d<strong>ad</strong>urch auch<strong>die</strong> Liebe rauben. Doch im Gegenteil, nochgrößeren Liebeserweis rief er hervor; Gottfragte nach dem Toten nur noch mehr, wenner sprach: „Wo ist dein Bruder Abel?“ 124Nicht ausgelöscht hast du (will Gott sagen)<strong>die</strong> Liebe durch deinen Neid, sondern <strong>an</strong>gefacht;nicht gemindert hast du seine Ehredurch deinen Mord, sondern gemehrt. Früherhatte ihn Gott dir untergeordnet (als denjüngeren Bruder), nachdem du aber getötethast, nimmt er als Toter Rache <strong>an</strong> dir; so großwar meine Liebe zu ihm. Wer war also da derGerichtete? Der Strafer oder der Gestrafte?Der, welcher solcher Ehre genoß von Gott,oder der, welcher einer neuartigen und sonderbarenStrafe überliefert wurde? Sol<strong>an</strong>ge erlebte, spricht Gott gleichsam, hast du deinenBruder nicht gefürchtet, fürchte ihn jetzt, daer tot ist! Du hast nicht gezittert, als du dar<strong>an</strong>warst, ihm das Schwert hineinzustoßen; vonimmerwährendem Zittern seist du befallen,nachdem du sein Blut vergossen! Bei seinenLebzeiten war er dein Sklave, und doch wolltestdu ihn nicht leiden; darummußte er sterben, und nun ist er dein furchtbarerHerr! Laßt uns das beherzigen, Gelieb-123 Gen. 4, 10 .124 Ebd. 4, 9.89te, laßt uns fliehen den Neid, auslöschen <strong>die</strong>Bosheit, uns gegenseitige Liebe erweisen,damit wir <strong>die</strong> Früchte davon ernten im gegenwärtigenLeben wie auch im zukünftigendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, dem sei Ehre und Herrlichkeitin alle Ewigkeit! Amen. ZEHNTE HOMILIE. Kap. IV, V. 23—25 und Kap. V, V. 1-11.1.Kap. IV, V. 23—25 und Kap. V, V. 1-11.V. 23: „Nicht aber um seinetwegen allein war<strong>des</strong> geschrieben, daß es ihm zur Gerechtigkeit <strong>an</strong>gerechnetwurde“,V. 24: „sondern auch um unseretwillen, denen es(ebenfalls) <strong>an</strong>gerechnet werden soll, wenn wir <strong>an</strong>den glauben, der Jesus, unsern Herrn, von denToten auferweckt hat.“Viel Großes hat der Apostel von Abrahamgesagt, von seinem Glauben, seiner Gerechtigkeitund der Ehre, <strong>die</strong> ihm von Gott zuteilwurde. Damit nun nicht etwa der Zuhörereinwende: Was geht das alles uns <strong>an</strong>? erwurde ja doch nur gerechtfertigt, stellt derApostel uns gleich wieder (<strong>zum</strong> Vergleich)neben den Patriarchen. So groß ist <strong>die</strong> (umgestaltende)Macht <strong>des</strong> geistigen Wortes: Esspricht dem Heiden, der eben erst (<strong>zum</strong>Christentum) gekommen ist, der noch keineWerke get<strong>an</strong> hat, nicht nur nicht weniger zuals dem (gewöhnlichen) Juden, der gläubiggeworden ist, sondern auch nicht weniger alsdem Patriarchen, ja sogar, wenn ich etwasVerwunderliches sagen soll, viel mehr. Dennso hoch ist unser Adel, daß der Glaube jenesM<strong>an</strong>nes nur ein Schattenbild <strong>des</strong> unsrigen ist.— Der Apostel sagt auch nicht: „Wenn esihm <strong>an</strong>gerechnet wurde, so in gleicher Weiseauch uns“, um <strong>die</strong>s nicht als einen bloßenVernunftsc<strong>hl</strong>uß erscheinen zu lassen. Er


spricht vielmehr mit Berufung auf <strong>die</strong> Hl.Schrift und stellt seine Behauptung g<strong>an</strong>z alsSchriftwort hin. Wozu <strong>an</strong>ders, will er sagen,steht das geschrieben, als daß wir daraus erkennenlernen, daß auch wir ebenso gerechtfertigtwerden? Wir haben ja demselben Gottgeglaubt, <strong>die</strong>selben Dinge, wenn auch nichtger<strong>ad</strong>e mit Bezug auf <strong>die</strong>selben Personen. —Bei Erwähnung unseres Glaubens kommt erauch, wie ihm <strong>die</strong>s geläufig ist, auf <strong>die</strong> unaussprec<strong>hl</strong>icheMenschenliebe Gottes zusprechen mit Hinweis auf das Kreuz. Dies tuter, indem er spricht: V. 25: „Welcherunserer Sünden wegen überliefert ward und auferst<strong>an</strong>denist unserer Rechtfertigung wegen.“— Beachte wie er <strong>die</strong> Ursache <strong>des</strong> To<strong>des</strong>Christi im einem Atem <strong>zum</strong> Beweis seinerAuferstehung macht! Weshalb wurde er gekreuzigt?fragt er. Nicht wegen einer persönlichenSünde, und das geht hervor aus seinerAuferstehung. Denn wenn er ein Sünder war,wie konnte er auferstehen? Wenn er aberauferst<strong>an</strong>den ist, so geht daraus klar hervor,daß er kein Sünder war; wenn er aber keinSünder war, warum wurde er d<strong>an</strong>n gekreuzigt?— Für <strong>an</strong>dere. — Wenn aber für <strong>an</strong>dere,d<strong>an</strong>n ist er g<strong>an</strong>z sicher auferst<strong>an</strong>den. — Damitnämlich nicht jem<strong>an</strong>d einwende: Wiekönnen wir, <strong>die</strong> wir unter dem Joch so vielerSünden seufzen, gerechtfertigt werden? Darumweist er auf den hin, der alle Sünden,hinweggenommen hat. Der Apostel hat dabei<strong>die</strong> Absicht, seine Rede zu bekräftigen einerseitsdurch Hinweis auf den Glauben <strong>des</strong>Abraham, durch welchen <strong>die</strong>ser gerechtfertigtwurde, <strong>an</strong>derseits durch Hinweis auf dasLeiden <strong>des</strong> Heil<strong>an</strong><strong>des</strong>, durch welches wir vonden Sünden befreit worden sind. <strong>In</strong> demselbenAtem wie von seinem Tode spricht erauch von seiner Auferstehung. Er ist ja nichtgestorben, um (auch d<strong>an</strong>n noch) Strafwürdigeund Schuldige zu haben, sondern um eineWo<strong>hl</strong>tat zu bringen; er ist gestorben und auferst<strong>an</strong>den,um Gerechte zu schaffen.Kap. V, V. 1: „Gerechtfertigt also durch denGlauben, laßt uns Frieden haben mit Gott durchunsern Herrn Jesus Christus.“— Was will das „Laßt uns Frieden haben“sagen? Einige erklären es dahin, daß wirnicht einen Kampf heraufbeschwören sollen,indem wir darauf hinarbeiten, das Gesetzwieder einzuführen. Mir scheint aber, daßhier <strong>die</strong> Rede ist von unserem Lebensw<strong>an</strong>del.Nachdem nämlich der Apostel l<strong>an</strong>g und breitvom Glauben gesprochen hat und von derGerechtigkeit auf Grund der Gesetzeswerke,fügt er <strong>die</strong>sen Satz hinzu. Er will der Meinungentgegentreten, daß das Gesagte einGrund sei, nun unbekümmert sich gehen zulassen; er sagt darum: „Laßt uns Frieden halten“,d. h. laßt uns nicht mehr sündigen, laßt uns nicht mehr zu unseremfrüheren W<strong>an</strong>del zurückkehren. Denndas heißt Krieg führen gegen Gott. — Aberwie ist es möglich, fragt er, nicht mehr zusündigen? — Wie ist das Frühere möglichgeworden? Wenn wir nämlich, da wir unterdem Joch so vieler Sünden seufzten, durchChristus von allen befreit worden sind, sowerden wir doch viel leichter durch ihn in<strong>die</strong>sem Zust<strong>an</strong>de bleiben können. Ist es j<strong>ad</strong>och nicht das gleiche, einen Frieden zu bekommen,und einen bereits gewährten aufrechtzuerhalten.Erwerben ist immer schwierigerals behalten. Und doch ist das Schwierigereleicht und zur Tat geworden. Es wirduns darum auch das Leichtere ausführbarwerden, sofern wir nur <strong>an</strong> dem festhalten,der uns auch jenes <strong>an</strong>dere hat ausführen helfen.Übrigens scheint hier der Apostel <strong>an</strong>zudeuten,daß (der neue sündenlose W<strong>an</strong>del)nicht bloß möglich, sondern auch billig sei.Denn wenn uns Christus versöhnt hat, nachdemwir niedergerungen waren, so ist es billig,in <strong>die</strong>sem Zust<strong>an</strong>d der Aussöhnung zuverbleiben und ihm auf <strong>die</strong>se Weise Erkenntlichkeitzu zeigen, damit es nicht den Anscheinhat, als habe er Ruc<strong>hl</strong>ose und Und<strong>an</strong>kbaremit dem Vater versöhnt.90


V. 2: „Durch ihn haben wir ja Zutritt erhaltenim Glauben.“— Wenn er uns, da wir ferne von ihm waren,herbeigeholt hat, so wird er uns um so mehrbei sich festhalten, da wir nahe bei ihm sind.2.Beachte nur, wie der Apostel überall zweiDinge nebenein<strong>an</strong>der stellt: das, was Christusget<strong>an</strong> hat, und das, was wir tun müssen!Das, was Christus get<strong>an</strong> hat, ist m<strong>an</strong>nigfaltigund vielerlei und verschiedenartig. Denn erist für uns gestorben, er hat uns mit Gott versöhnt,er hat uns Zutritt zu ihm verschafftund uns unaussprec<strong>hl</strong>iche Gn<strong>ad</strong>e geschenkt.Wir aber brauchen nur den Glauben dazu zutun. Darum sagt er:„Im Glauben zu <strong>die</strong>ser Gn<strong>ad</strong>e, in der wir stehen.— Was für eine Gn<strong>ad</strong>e ist da wo<strong>hl</strong> gemeint?Die Gn<strong>ad</strong>e, der Gotteserkenntnis gewürdigt,vom Irrtum befreit worden zu sein,<strong>die</strong> Wahrheit zu erkennen und aller jenerGüter teilhaftig geworden zu sein, <strong>die</strong> mitder Taufe verbunden sind. Dazu hat er unsZutritt verschafft, daß wir alle <strong>die</strong>se Geschenkebekommen — nicht bloß Vergebungder Sünden und Befreiung davon, sondernauch den Genuß von tausenderlei köstlichenDingen. Doch er blieb dabei nicht stehen,sondern verhieß uns noch <strong>an</strong>dere unaussprec<strong>hl</strong>iche,alle Vorstellung und alle Begriffeübersteigende Güter. Darum macht der A-postel beide namhaft; mit dem Wort „<strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e“ bezeichnet er <strong>die</strong> gegenwärtigen, <strong>die</strong>wir schon empf<strong>an</strong>gen haben; mit den Worten„wir rühmen uns der Hoffnung auf <strong>die</strong> HerrlichkeitGottes“weist er hin auf alles das, was uns (im Jenseits)bevorsteht. — Gut gewä<strong>hl</strong>t ist auch derAusdruck„in der wir stehen“.Das ist nämlich der Gn<strong>ad</strong>e Gottes eigen: siehat kein Ende und kennt keine Grenzen,91sondern strebt immer höher, was bei mensc<strong>hl</strong>ichenDingen nicht der Fall ist. Ich nehme<strong>an</strong>, jem<strong>an</strong>d hat eine herrschende Stellungund Ruhm und Macht dazu erl<strong>an</strong>gt, so bleibter darin doch nicht beständig „stehen“, sonderner fällt bald um. Wenn sie ihm auchkein Mensch entreißt, so doch g<strong>an</strong>z gewißder Tod, wenn er einmal kommt. Bei denDingen dagegen, <strong>die</strong> uns Gott gibt, ist esnicht so. Weder ein Mensch, noch <strong>die</strong> Zeit,noch <strong>die</strong> Umstände, selbst nicht der Teufel,auch nicht der Tod, wenn er kommt, k<strong>an</strong>n sieuns nehmen; im Gegenteil, wenn wir sterben,d<strong>an</strong>n halten wir sie erst recht fest und genießensie immer mehr. Darum, wenn du <strong>an</strong> <strong>die</strong>zukünftigen Güter nicht recht glauben willst,denk <strong>an</strong> <strong>die</strong> gegenwärtigen, <strong>die</strong> du bereitsempf<strong>an</strong>gen hast, und glaub’ auch <strong>an</strong> jene.Deswegen sagt der Apostel: „Und wir rühmenuns der Hoffnung auf <strong>die</strong> HerrlichkeitGottes“, damit du daraus ersiehst, was füreine Gesinnung der Gläubige haben müsse.Es muß sich sicher fü<strong>hl</strong>en nicht allen <strong>des</strong> ihmbereits Gegebenen, sondern auch <strong>des</strong> Zukünftigenger<strong>ad</strong>e so, als ob es ihm gegebenwäre. M<strong>an</strong> rühmt sich <strong>des</strong>sen, was m<strong>an</strong>schon im Besitze hat. Weil nun <strong>die</strong> Hoffnungauf das Zukünftige so fest und bestimmt sein soll, wie wenn es sich um Gegebenesh<strong>an</strong>delte, darum sagt er, daß wir uns <strong>des</strong>Zukünftigen rühmen; er nennt es „HerrlichkeitGottes“ . Wenn es nämlich zur HerrlichkeitGottes beiträgt, d<strong>an</strong>n kommt es gewiß,wenn nicht unseretwegen, so Gottes wegen.— Doch was sag’ ich, fährt er fort, daß bloß<strong>die</strong> zukünftigen Güter <strong>des</strong> Rühmens wertseien? Sogar <strong>die</strong> gegenwärtigen Übel könnenGegenst<strong>an</strong>d <strong>des</strong> Rühmens sein und uns ver<strong>an</strong>lassen,auf sie stolz zu sein. Darum fährt erfort:V. 3: „Aber nicht allein <strong>die</strong>s, sondern wir rühmenuns auch der Trübsale.“Erwäge, wie groß <strong>die</strong> zukünftigen Güter seinmüssen, wenn wir sogar stolz sein dürfen aufdas scheinbar Trübselige dar<strong>an</strong>! So herrlichist <strong>die</strong> Gabe Gottes und so frei von jedem


un<strong>an</strong>genehmen Beigeschmack! Im gewöhnlichenLauf der Dinge haben Kämpfe ihre Mühe,ihre Qual und ihr Ungemach; erst Siegeskronenund Siegespreise bringen Wonne.Hier ist es aber nicht so, sondern <strong>die</strong> Kämpfesind nicht weniger wonnereich als <strong>die</strong> Siegespreise.Weil nämlich damals <strong>die</strong> Kämpfehäufig waren, das himmlische Reich aber ersterhofft wurde, <strong>die</strong> Leiden greifbar gegenwärtigund <strong>die</strong> Freuden in ferner Sicht waren,und weil <strong>die</strong>s schwächeren Naturen den Mutbenehmen konnte, darum verteilt der Apostel<strong>an</strong> sie schon vor der großen Krönung amEnde einzelne Siegespreise, indem er sagt,m<strong>an</strong> müsse sich auch der Trübsale rühmen.Er sagt auch nicht: „Ihr müßt euch rühmen“,sondern: „Wir rühmen uns.“ Er sagt „wir“und führt damit sich selbst als Beispiel zurAufmunterung vor. Weil aber <strong>die</strong>ser Ausspruchseltsam und widersinnig scheinenkonnte, daß nämlich jem<strong>an</strong>d, der mit demHunger kämpft, in B<strong>an</strong>den liegt, gefoltert,mißh<strong>an</strong>delt und beschimpft wird, sich nochrühmen soll, darum beweist er ihn. Nochmehr Grund <strong>zum</strong> Rühmen, sagt er, bietenicht bloß <strong>die</strong> Zukunft, sondern schon <strong>die</strong>Gegenwart; denn <strong>die</strong> Trübsale seien <strong>an</strong> sichetwas Gutes. Warum? Weil sie zur St<strong>an</strong>dhaftigkeiterziehen. Nach den Worten: „Wirrühmen uns der Trübsale, gibt er gleich denGrund dafür <strong>an</strong>, indem er sagt: „Weil wir wissen, daß Trübsal St<strong>an</strong>dhaftigkeitbewirkt.“— Beachte da wieder <strong>die</strong> Gew<strong>an</strong>dtheit <strong>des</strong><strong>Paulus</strong>, wie er es versteht, <strong>die</strong> Rede auf dasGegenteil hinüberzulenken. Die Trübsalewaren es besonders, <strong>die</strong> in den damaligenChristen Mißtrauen betreffs der zukünftigenGüter wachrufen und sie zur Verzagtheitbringen konnten; nun sagt der Apostel, ger<strong>ad</strong>ewegen der Trübsale müsse m<strong>an</strong> Mut fassenund ger<strong>ad</strong>e ihretwegen dürfe m<strong>an</strong> <strong>an</strong> derZukunft nicht verzweifeln. „Denn <strong>die</strong> Trübsalbewirkt St<strong>an</strong>dhaftigkeit“, sagt er, undd<strong>an</strong>n:92V. 4: „Die Geduld Bewährung, Bewährung aberHoffnung“,V. 5: „<strong>die</strong> Hoffnung aber läßt nicht zusch<strong>an</strong>denwerden.“— Die Trübsale haben nicht bloß nichts insich, was <strong>die</strong> Hoffnung nehmen, sondern garvieles, was sie beleben k<strong>an</strong>n. Die schönsteFrucht, welche <strong>die</strong> Trübsal schon im Diesseitsbringt, ist <strong>die</strong> St<strong>an</strong>dhaftigkeit, und daß sieden, der auf <strong>die</strong> Probe gestellt worden ist,bewährt erscheinen läßt. Sie hat auch ihr Gutesin betreff der Zukunft im Jenseits; sie läßtnämlich <strong>die</strong> Hoffnung in uns aufleben. Dennnichts ist mehr geeignet, <strong>die</strong> Hoffnung zubeleben, als ein gutes Gewissen.3.Niem<strong>an</strong>d, der ein rechtes Leben geführt hat,ist ohne Hoffnung auf eine zukünftige Vergeltung;dagegen wünschen viele von denen,<strong>die</strong> ein träges Leben führen, von ihrem bösenGewissen gefoltert, daß es kein Gericht undkeine Vergeltung gäbe. Was also? Sind jene(zukünftigen) Güter nur Gegenst<strong>an</strong>d vonHoffnungen? Allerdings; aber nicht von gewöhnlichenmensc<strong>hl</strong>ichen Hoffnungen, <strong>die</strong>trügerisch sind und den Hoffenden zusch<strong>an</strong>denwerden lassen, weil der, auf den sie gesetztsind, entweder stirbt, oder wenn er lebt,seinen Sinn ändert. Nicht so steht es mit unsererHoffnung, sondern <strong>die</strong>se ist fest begründetund schw<strong>an</strong>kt nicht. Denn der, <strong>des</strong>senVersprechungen sie gilt, lebt immerwährend;wir aber, <strong>die</strong> wir das Versprochene genießensollen, werden, wenn wir auch sterben,wieder auferstehen. Gar nichts k<strong>an</strong>n unszusch<strong>an</strong>den werden lassen, als hatten wiruns eitlen und schw<strong>an</strong>ken Hoffnun- gen hingegeben. — Durch solche Wortebenimmt der Apostel seinen Zuhörern g<strong>an</strong>zund gar jede Bedenklichkeit. Er bleibt aberdabei nicht stehen, sondern bringt <strong>die</strong> Redewieder auf <strong>die</strong> zukünftigen Güter im Jenseits;


denn er weiß wo<strong>hl</strong>, daß <strong>die</strong> schwächeren Seelenzwar <strong>die</strong> gegenwärtigen suchen, aberdoch auch in ihnen ihr Genüge nicht finden.Die Hoffnung auf <strong>die</strong> zukünftigen Güterstützt er durch den Hinweis auf <strong>die</strong> bereitsempf<strong>an</strong>genen. Damit nämlich nicht jem<strong>an</strong>dsagen könne: „Was aber, wenn Gott unsnichts schenken will? Daß er es k<strong>an</strong>n, daß erewig ist und lebt, wissen wir alle; woher aberwissen wir, daß er (uns Gn<strong>ad</strong>e gewähren)will?“ — Aus dem, was uns bereits zuteilgeworden ist. — Und was ist das? — DieLiebe, <strong>die</strong> er gegen uns bewiesen hat. — Dufragst, was er uns get<strong>an</strong> hat? — Er hat unsden Hl. Geist gegeben. Darum fügt er denWorten: „Die Hoffnung läßt nicht zusch<strong>an</strong>denwerden“ gleich das als Beweis bei:„Da <strong>die</strong> Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossenist.“ Er sagt nicht: „Sie ist uns geschenkt“,sondern: „sie ist ausgegossen“.Damit bringt er Gottes Freigebigkeit <strong>zum</strong>Ausdruck. Das größte Gut, das es gibt, hat eruns geschenkt; nicht den Himmel oder <strong>die</strong>Erde oder das Meer, sondern was kostbarerist als alles das, was aus Menschen Engelmacht und Gotteskinder und Brüder Christi.— Und das ist? — Der Hl. Geist. — WollteGott uns nicht nach der Arbeit eine reicheKrone schenken, so hätte er uns nicht vorderselben so hohe Güter geschenkt. Nun offenbarter aber <strong>die</strong> Glut seiner Liebe d<strong>ad</strong>urch,daß er uns nicht hie und da und mit Kleinigkeitenbeschenkte, sondern <strong>die</strong> Quelle allesGuten selbst über uns ergoß, und das bevorwir noch in den Kampf getreten waren. Solltestdu (<strong>des</strong> Siegespreises) nicht g<strong>an</strong>z würdigsein, verzage nicht! Du hast eine mächtigeFürsprecherin bei deinem Richter — seineLiebe. Darum verlegt der Apostel <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeBegründung für den Satz: „Die Hoffnungläßt nicht zusch<strong>an</strong>den werden“ nicht in unsereguten Werke, sondern in <strong>die</strong> Liebe Gottes.Nachdem der Apostel von der Gabe <strong>des</strong> Hl.Geistes gesprochen hat, geht erwieder über auf den Kreuzestod Christi, indemer spricht:93V. 6: „Und ist ja Christus, da wir noch schwachwaren, zur bestimmten Zeit für (uns) Sündergestorben.“V. 7: „Sonst stirbt kaum jem<strong>an</strong>d für einen Gerechten;für den Guten zu sterben, dürfte sichvielleicht noch jem<strong>an</strong>d entsc<strong>hl</strong>ießen.“V. 8: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns (d<strong>ad</strong>urch).“Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist folgender: Wennschon jem<strong>an</strong>d es nicht leicht über sich bringt,für einen tugendhaften Menschen zu sterben,d<strong>an</strong>n mache dir eine Vorstellung von derLiebe deines Herrn (zu dir), wenn er nicht fürTugendhafte, sondern für Sünder und Fein<strong>des</strong>ich kreuzigen ließ. Dasselbe sagt er auch imfolgenden:„Wenn, da wir Sünder waren,“V. 9: „Christus für uns gestorben ist, so werdenwir um so mehr nun, da wir durch sein Blut gerechtfertigtsind, errettet werden durch ihn vomZorne.“V. 10: „Denn wenn wir, da wir noch Feinde waren,versöhnt wurden mit Gott durch den Todseines Sohnes, um wieviel mehr werden wir,nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden inseinem Leben.“Diese Worte scheinen eine reine Wiederholung(<strong>des</strong> vorher Gesagten) zu sein; sie sin<strong>des</strong> aber nicht, wenn m<strong>an</strong> näher zusieht. —Schau <strong>an</strong>: Der Apostel will seine Zuhörer<strong>zum</strong> Glauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> zukünftigen Dinge bringen;er geht (zu <strong>die</strong>sem Zwecke) zuerst ausvon der Auffassung <strong>des</strong> Gerechten (überdenselben Gegenst<strong>an</strong>d), indem er sagt, <strong>die</strong>sersei voll überzeugt gewesen, daß„Gott mächtig genug ist, zu erfüllen, was er verheißenhat.“— D<strong>an</strong>n geht er aus von der bereits geschenktenGn<strong>ad</strong>engabe, d<strong>an</strong>n von den Trübsalen;auch sie seien geeignet, uns zur Hoffnungzu führen; und wiederum vom Hl.Geiste, den wir empf<strong>an</strong>gen haben; sc<strong>hl</strong>ießlichbeweist er dasselbe ausgehend vom Tode(Christi) und unserer früheren Sündhaftigkeit.Es scheint, wie gesagt, damit ein unddasselbe gesagt zu sein; es lassen sich aber


zwei und drei und mehr Dinge darin finden:Erstens, daß (Christus) gestorben ist;zweitens, daß er für Sünder gestorben ist;drittens, daß er uns versöhnt, erlöst, gerechtfertigt,unsterblich gemacht, daß er uns zuSöhnen und Erben erhoben hat. M<strong>an</strong> mußalso, will der Apostel sagen, um sich imGlauben zu befestigen, nicht <strong>an</strong> den Tod(Christi) allein denken, sondern auch <strong>an</strong> das,was uns durch <strong>die</strong>sen Tod zuteil gewordenist. Schon das allein, daß er für uns, <strong>die</strong> wir ineinem solchen Zust<strong>an</strong>d waren, gestorben ist,war der höchste Erweis von Liebe; wenn esaber klar wird, daß er in seinem Tode unsnoch beschenkt, so reich beschenkt, uns, solcheunwürdige Menschen beschenkt, d<strong>an</strong>noffenbart das ein Übermaß (von Liebe) undmuß den Schwachgläubigsten <strong>zum</strong> Glaubenbringen. Denn kein <strong>an</strong>derer ist es ja, der unsretten soll, als der, welcher uns, da wir nochSünder waren, so geliebt hat, daß er sichselbst dahingab. Begreifst du jetzt, was füreine Beweiskraft für <strong>die</strong> Hoffnung auf <strong>die</strong>zukünftigen Dinge <strong>die</strong>se Stelle hat? Vorherwaren zwei Dinge in bezug auf unsere Erlösungschwer begreiflich: Sünder zu sein und(doch) durch den Tod unseres Herrn erlöstwerden zu sollen. Das war schwer glaublich,bevor es Tatsache geworden war, und bedurftegroßer Liebe, daß es Tatsache wurde.Jetzt, wo bei<strong>des</strong> verwirklicht ist, ist das übrigeleichter geworden. Wir sind ja GottesFreunde geworden, und eines (Sühne-) To<strong>des</strong>bedarf es nicht mehr. Wenn Gott mit uns alsFeinden so schonend verfuhr, daß er seinesSohnes nicht schonte, wie sollte er nicht aufunserer Seite stehen, nachdem wir seineFreunde geworden sind und es nicht mehrgilt, den Sohn dahinzugehen? Daß einer (einen<strong>an</strong>dern) oft nicht rettet, kommt daher,daß er es entweder nicht will, oder, wenn eres will, nicht k<strong>an</strong>n. Keines von beiden läßtsich von Gott sagen, nachdem er seinen Sohndahingegeben hat. (D<strong>ad</strong>urch hat er gezeigt,daß er uns retten will.) Daß er es auch k<strong>an</strong>n,hat er d<strong>ad</strong>urch gezeigt, daß er uns als Sünder94gerechtfertigt hat. Was k<strong>an</strong>n uns also nocheis Hindernis sein, <strong>die</strong> zukünftigen Güter zuerl<strong>an</strong>gen? Gar nichts.Weiter: Damit du dich nicht schämst undnicht errötest, wenn du Worte hörst wie:„Sünder“, „Feinde“, „Schwachmütige“, „Gottlose“, höre,was der Apostel ferner sagt:V. 11: „Doch nicht allein <strong>die</strong>s, sondern wir rühmenuns auch in Gott durch unseren Herrn JesusChristus, durch welchen wir nun <strong>die</strong> Versöhnungerl<strong>an</strong>gt haben.“— Was soll heißen: „Doch nicht allein <strong>die</strong>s“?— Wir sind nicht allein gerettet worden, willder Apostel sagen, sondern wir können unsauch noch rühmen, und zwar ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>sen,weswegen m<strong>an</strong> glauben könnte, daß wir unsvor Scham verkriechen sollten. Ger<strong>ad</strong>e daßwir bei einem solchen Sündenleben gerettetworden sind, ist doch das beste Zeichen dafür,daß wir von unserem Retter — (Gott) —sehr innig geliebt werden. Nicht durch Engeloder Erzengel, sondern durch seinen Eingeborenenhat er uns gerettet. Die Tatsache allein,daß er uns gerettet hat, ferner daß er unsbei einem solchen (Sünden-) Zust<strong>an</strong>de gerettethat, und noch dazu, daß er es durch seinenEingeborenen get<strong>an</strong> hat, und nicht bloßdas, sondern daß er es durch das Blut <strong>die</strong>sesseines Eingeborenen get<strong>an</strong> hat, das allesflicht uns unzä<strong>hl</strong>ige Ruhmeskränze. Es gibtkeinen gleich triftigen Grund, sich zu rühmenund voll Zuversicht zu sein, als (dasBewußtsein), von Gott geliebt zu werden undihn, der uns liebt, wiederzulieben. Das ist es,was <strong>die</strong> Engel so herrlich macht, <strong>die</strong> Herrschaftenund <strong>die</strong> Mächte, das ist erhabenerals Königswürde; darum setzt <strong>die</strong>s auch <strong>Paulus</strong>über <strong>die</strong> königliche Würde; darum preiseich selig <strong>die</strong> körperlosen Mächte, daß sie ihn(Gott) lieben und in allem gehorchen. Von dakommt es, daß sie auch der Prophet bewundert,wenn er spricht: „Die ihr gewaltig <strong>an</strong>Kraft, vollziehet seinen Willen.“ 125 . Von da125 Ps. 102, 20.


kommt es, daß auch <strong>die</strong> Seraphim Isaias feiert,indem er ihre große Tugend daraus erweist,daß sie jenem Throne der Herrlichkeitnäherstehen, ein Zeichen der größten Liebe.4.So ahmen denn auch wir jene überirdischenMächte nach! Streben wir eifrig darnach,nicht bloß nahe am Throne zu stehen,sondern auch den in uns innewohnendzu haben, der auf dem Throne sitzt! Er hat jaauch solche geliebt, <strong>die</strong> ihn haßten, und liebtsie noch immer. Er „läßt ja <strong>die</strong> Sonne aufgehenüber Böse und Gute und regnen überGerechte und Ungerechte“ 126 . Liebe also ihn,der dich liebt! Er liebt dich ja. — Wie kommtes aber, fragst du, daß er, wenn er uns liebt,Hölle und Strafe und Rache <strong>an</strong>gedroht hat?— Eben wieder aus Liebe. Um deine Bosheitabzutun, um dich durch <strong>die</strong> Furcht wiedurch einen Zügel zurückzuhalten von demreißenden Strom <strong>des</strong> Bösen, tut er alles undsetzt er alles ins Werk. Durch Liebes und Unliebeszügelt er deinen Dr<strong>an</strong>g nach unten,zieht dich <strong>an</strong> sich und hält dich zurück vonaller Sünde, <strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>immer ist als <strong>die</strong> Hölle.Wenn du über <strong>die</strong>se Rede lachst und tausendmallieber in der Sünde leben willst, alseinen Tag l<strong>an</strong>g gestraft werden, so nimmtmich das nicht wunder. Es ist <strong>die</strong>s nur einZeichen deiner wenig edlen Art, zu denken,deiner Betäubung, deiner heillosen Seelenerkr<strong>an</strong>kung.Wenn kleine Kinder den Arzt sehen,wie er mit Feuer oder einem Schnittmesser<strong>an</strong> sie her<strong>an</strong>kommt, so fahren sie zurückund strampeln, heulen und kratzen und wollenlieber <strong>an</strong> der beständig schmerzendenEiterbeule ihres Körpers zugrunde gehen, alseine kurze Un<strong>an</strong>nehmlichkeit ausstehen, umd<strong>an</strong>n wieder gesund zu sein. VernünftigeLeute wissen aber, daß kr<strong>an</strong>k sein sc<strong>hl</strong>immer126 unleserlich95ist, als geschnitten werden, wie es auchsc<strong>hl</strong>immer ist, zu sündigen, als gestraft zuwerden. Das eine bedeutet, geheilt werdenund gesund sein, das <strong>an</strong>dere, in beständigemSiechtum zugrunde gehen. Daß aber Gesundheitbesser ist als Siechtum, ist jedemklar. So sind auch Raubmörder beweinenswert,nicht wenn ihnen der Brustkorb eingebrochenwird, sondern wenn sie Mauerneinbrechen und morden. Wenn <strong>die</strong> Seelemehr wert ist als der Leib — wie es dennauch so ist — so soll m<strong>an</strong> gerechterweiseauch den Verlust derselben mehr betrauernund beweinen. Wenn sie es aber selbst nichtempfindet, d<strong>an</strong>n ist sie um so mehr zu beklagen.Die, welche von unreiner Liebe brennen,sind bemitlei- denswerter als <strong>die</strong>,welche im hitzigen Fieber liegen, und <strong>die</strong>Betrunkenen mehr als <strong>die</strong>, welche auf <strong>die</strong>Folterb<strong>an</strong>k gesp<strong>an</strong>nt sind. — „Wenn aber<strong>die</strong>se Dinge sc<strong>hl</strong>echter sind“, fragst du, „warumgeben wir ihnen d<strong>an</strong>n den Vorzug?“ —Weil vielen Menschen sonderbarerweise dasSc<strong>hl</strong>echtere gefällt und sie es wä<strong>hl</strong>en, währendsie am Besseren vorbeigehen. Das k<strong>an</strong>nm<strong>an</strong> beobachten in bezug auf Speisen, Lebensführung,Lebensberuf, sinnlichen Genuß,Weiber, Häuser, Sklaven, Felder, kurz inallem. Sag mir, was ist vergnüglicher, derGesc<strong>hl</strong>echtsgenuß mit Weibern oder mitMännern? Mit Weibern oder mit Eselinnen?Gleichwo<strong>hl</strong> finden wir viele, <strong>die</strong> Weiber verschmähen,dagegen mit unvernünftigen Tierensich gesc<strong>hl</strong>echtlich vermischen undM<strong>an</strong>nsleiber schänden. Und doch gewährtder natürliche Genuß mehr Vergnügen alsder widernatürliche. Gleichwo<strong>hl</strong> gibt es viele,<strong>die</strong> lächerlichen und unvergnüglichen undstrafbaren Dingen nachjagen, als wären sievergnüglich. — „Sie kommen ihnen abervergnüglich vor“, wen<strong>des</strong>t du ein. — Ger<strong>ad</strong>e<strong>des</strong>wegen sind sie elend dar<strong>an</strong>, daß sie unvergnüglicheDinge für vergnüglich halten.<strong>In</strong> derselben Weise halten sie <strong>die</strong> Strafe füretwas Sc<strong>hl</strong>echteres als <strong>die</strong> Sünde. Es ist abernicht so, sondern ger<strong>ad</strong>e das Gegenteil. Denn


96wenn Strafe etwas Sc<strong>hl</strong>echtes wäre für <strong>die</strong>Sünder, so würde doch Gott nicht Sc<strong>hl</strong>echteszu Sc<strong>hl</strong>echtem hinzutun, er würde sie nichtnoch sc<strong>hl</strong>echter machen wollen. Er, der jaalles tut, um das Sc<strong>hl</strong>echte auszutilgen, wür<strong>des</strong>onach das Sc<strong>hl</strong>echte noch vermehren.Gestraft zu werden ist daher für den Fe<strong>hl</strong>endennichts Sc<strong>hl</strong>echtes, wo<strong>hl</strong> aber, bei einersolchen Verfassung nicht gestraft zu werden,gera<strong>des</strong>o wie für einen Siechen, nicht geheiltzu werden. Nichts ist ein so großes Übel wieeine unsinnige Begier. Wenn ich sage eine„unsinnige“, so meine ich eine solche nachWo<strong>hl</strong>leben oder eine solche nach eitler Ehreoder eine solche nach Macht, kurz, nach allem,was jenseits wirklicher Lebensbedürfnisseliegt. Denn wer ein so üppiges und jederSelbstzucht bares Leben führt, scheintzwar der Glücklichste von allen zu sein, istaber elender dar<strong>an</strong> als alle <strong>an</strong>dern, weil errecht sc<strong>hl</strong>imme und tyr<strong>an</strong>nische Herrinnenin seine Seele eingelassen hat. Aus <strong>die</strong>semGrunde hat uns Gott das gegenwärtigeLeben mühevoll gemacht, damit er unsbefreie von <strong>die</strong>ser Sklaverei und zur Reinheitund Freiheit hinführe. Aus demselben Grundehat er auch Strafe <strong>an</strong>gedroht und Müheund Arbeit zu unserem Lebenslos gemacht,um so <strong>die</strong> Üppigkeit zu dämpfen. So ging esmit den Juden; sol<strong>an</strong>ge sie <strong>an</strong> ihre Lehmgrubeund ihre Ziegelmacherei gefesselt waren,waren sie auch fügsam und riefen Gott unaufhörlich<strong>an</strong>; als sie aber <strong>die</strong> Freiheit genossen,da murrten sie und reizten den Herrnund stürzten sich in tausenderlei Übel.„Was sagst du aber“, fragt m<strong>an</strong>, „zu denen,<strong>die</strong> unter dem Druck der Trübsal oft verkehrtwerden?“ — Daß sie verkehrt werden,kommt nicht von der Trübsal, sondern vonihrer Schwachheit. Wenn jem<strong>an</strong>d magenkr<strong>an</strong>kist und <strong>die</strong> bittere Arznei, <strong>die</strong> er zurMagenreinigung einnimmt, ihn noch mehrherunterbringt, so geben wir nicht der Arznei<strong>die</strong> Schuld, sondern der Kr<strong>an</strong>kheit <strong>des</strong> Org<strong>an</strong>s.So ist es auch mit der geistigen Schwäche.Wer unter dem Druck der Trübsal verkehrtwird, der wird es um so mehr werden,w<strong>an</strong>n er davon frei ist; wer fällt, obzwar er<strong>an</strong>gebunden ist — das tut nämlich <strong>die</strong> Trübsal—, der um so mehr, wenn er losgelöst ist;wer verkehrt wird, obzwar er im Zügelgehalten wird, der um so mehr, wenn er ohneZügel ist.„Und wie mache ich es“, fragst du, „daß ichunter dem Druck der Trübsal nicht verkehrtwerde?“ — Bedenke, daß du sie tragen mußt,ob du willst oder nicht. Trägst du sie unterD<strong>an</strong>k (gegen Gott), d<strong>an</strong>n hast du davon reichenGewinn; trägst du sie unwillig, mißmutigund unter Lästerungen, d<strong>an</strong>n machst dud<strong>ad</strong>urch das Unglück nicht geringer, sondernvergrößerst nur den Sturm.Von <strong>die</strong>ser Erwägung geleitet, laßt uns das,was <strong>die</strong> Not uns auferlegt, <strong>zum</strong> Gegenst<strong>an</strong>dunserer freien Wa<strong>hl</strong> machen! Z. B.: Da hateiner sein vortreffliches Kind verloren, ein<strong>an</strong>derer sein g<strong>an</strong>zes Vermögen; wenn du bedenkst,daß das Geschehene nicht zu ändernist, daß es aber in deiner H<strong>an</strong>d steht, aus demunabwendbaren Schicksalssc<strong>hl</strong>age Nutzen zuziehen, indem du ihn männlich erträgst und<strong>an</strong>statt Lästerreden zu führen dem HerrnD<strong>an</strong>k sagst, so wird dir das Übel, das ohnedei- nen Willen über dich kam, sover<strong>die</strong>nstvoll, als hättest du es frei erwä<strong>hl</strong>t.Du siehst dir deinen Sohn vorzeitig entrissen?Sprich: „Der Herr hat’s gegeben, derHerr hat’s genommen.“ Du siehst dem Vermögendahin? Sprich: „Nackt bin ich ausmeiner Mutter Leibe gekommen, und nacktkehre ich dahin zurück“ 127 . Du siehst es denBösen wo<strong>hl</strong> ergehen, <strong>die</strong> Gerechten dagegenim Unglück und in tausenderlei Not undweißt den Grund dafür nicht zu finden?Sprich: „Wie ein Lasttier bin ich vor dir geworden;doch war ich immer bei dir“ 128 .Willst du den (wahren) Grund wissen, sodenke dar<strong>an</strong>, daß Gott einen Tag bestimmthat, <strong>an</strong> dem er <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt richten wird,und du wirst allen Zweifel abtun. D<strong>an</strong>n wird127 Job 1, 21.128 Ps. 72, 23.


jeder empf<strong>an</strong>gen, was er ver<strong>die</strong>nt hat wieLazarus und der Reiche. Denk <strong>an</strong> <strong>die</strong> Apostel!Sie wurden gegeißelt, verfolgt und hattentausenderlei Ungemach zu erdulden; siefreuten sich aber, gewürdigt zu werden, um<strong>des</strong> Namens Christi willen Schmach zu erdulden.So ertrag auch du es m<strong>an</strong>nhaft, wenndu kr<strong>an</strong>k bist, und sage Gott D<strong>an</strong>k dafür;d<strong>an</strong>n wirst du denselben Lohn empf<strong>an</strong>genwie jene. — Wie k<strong>an</strong>nst du aber in Kr<strong>an</strong>kheitund Ungemach dem Herrn D<strong>an</strong>k wissen?Wenn du ihn wahrhaft liebst. Wenn <strong>die</strong> dreiJünglinge im Feuerofen, wenn <strong>an</strong>dere inB<strong>an</strong>den und tausenderlei Nöten nicht aufhörten,Gott zu d<strong>an</strong>ken, d<strong>an</strong>n können es solche,<strong>die</strong> kr<strong>an</strong>k sind und in bösem Siechtum darniederliegen,um so mehr tun. Es gibt nichts,rein gar nichts, was <strong>die</strong> Liebe nicht besiegte.Ist es gar Liebe zu Gott, so ist sie erhabenerals alle <strong>an</strong>deren Arten derselben. Weder Feuernoch Ketten noch Armut noch Kr<strong>an</strong>kheitnoch Tod noch irgend etwas dergleichenkommt dem schrecklich vor, der von <strong>die</strong>serLiebe beseelt ist; alles verlacht er und fliegt<strong>zum</strong> Himmel empor; nicht weniger wo<strong>hl</strong> istihm als denen, <strong>die</strong> dort wohnen; er siehtnichts <strong>an</strong>deres, weder Himmel noch Erdenoch Meer, sondern sein Blick ist einzig gerichtetauf <strong>die</strong> Schöne jener Herrlichkeit. Wederk<strong>an</strong>n ihn das Leidvolle <strong>des</strong> gegenwärtigenLebens darniederdrücken noch das Günstige und Freudige übermütigund aufgeblasen machen.Laßt uns also lieben <strong>die</strong>se Liebe — denn ihrist nichts gleich — wegen der Gegenwartsowo<strong>hl</strong> wie wegen der Zukunft, zu allermeistaber wegen der Natur <strong>die</strong>ser Liebe selbst!Denn d<strong>an</strong>n werden wir befreit werden vonden Übeln <strong>des</strong> gegenwärtigen Lebens undvon den Strafen in der Ewigkeit und werden<strong>des</strong> Himmelreichs Freuden genießen. Übrigensist weder das Befreitsein von der Höllenoch der Genuß der himmlischen Freudenetwas Großes im Vergleich zu dem, was ichgleich sagen werde. Ein größeres Gut als allesdas ist es, Christus lieb zu haben und von97ihm geliebt zu werden. Wenn schon unterMenschen solche gegenseitige Liebe überjede <strong>an</strong>dere Wonne geht, wie wird sich aussprechen,wie begreifen lassen <strong>die</strong> Seligkeiteiner Seele, <strong>die</strong> zu Gott in ein solches Verhältnisgetreten ist? Da gibt es keine <strong>an</strong>dereMöglichkeit als einzig und allein <strong>die</strong> eigeneErfahrung. Damit wir also <strong>die</strong>se geistigeFreude, <strong>die</strong>ses selige Leben, <strong>die</strong>sen Schatztausendfältigen Gutes durch eigene Erfahrungkennen lernen, laßt uns alles hingebenund <strong>die</strong>se Liebe uns zu eigen machen zu unserereigenen Glückseligkeit und zur Verherrlichung<strong>des</strong> geliebten Gottes. Ihm sei Ehreund Herrlichkeit mit seinem eingeborenenSohne und dem Hl. Geiste jetzt und allezeitbis in alle Ewigkeit. Amen. ELFTE HOMILIE. Kap. V, V. 12—21und Kap. VI, V. 1—4.1.Kap. V, V. 12—21 und Kap. VI, V. 1—4.V. 12: „Demnach wie durch einen Menschen <strong>die</strong>Sünde in <strong>die</strong> Welt gekommen ist und durch <strong>die</strong>Sünde der Tod, und so ist der Tod auf alle Menschenübergeg<strong>an</strong>gen, weil alle in ihm gesündigthaben.“Wie <strong>die</strong> besten Ärzte immer der Wurzel derKr<strong>an</strong>kheiten nachforschen und auf <strong>die</strong> Quelle<strong>des</strong> Übels zurückgehen, so auch der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>.Er hat den Satz ausgesprochen, wir seiengerechtfertigt worden, und hat ihn bewiesenaus der Geschichte <strong>des</strong> Patriarchen, aus derMitteilung <strong>des</strong> Hl. Geistes und aus dem TodeChristi. Christus wäre ja nicht gestorben,wenn er uns nicht hätte rechtfertigen wollen.Nun führt er den Beweis weiter und gründetden in Rede stehenden Satz auf das Gegenteil,das ist auf den Tod und <strong>die</strong> Sünde. —Wie geht er dabei vor? — Er untersucht, woherder Tod gekommen und wie er zur Herrschaftgel<strong>an</strong>gt ist. Wie kam er also und ge-


l<strong>an</strong>gte er zur Herrschaft? Durch <strong>die</strong> Sünde<strong>des</strong> einen. — Was heißt: „<strong>In</strong> welchem allegesündigt haben“? — Nach dem Fall jenesersten Menschen sind von <strong>die</strong>sem her auch<strong>die</strong>, welche selbst nicht von dem Baume gegessenhaben, sterblich geworden.V. 13: „Denn bis <strong>zum</strong> Gesetze war Sünde in derWelt; Sünde aber wird nicht zugerechnet, sol<strong>an</strong>gekein Gesetz da ist.“Mit dem Ausdrucke „bis <strong>zum</strong> Gesetze“ sindm<strong>an</strong>che der Ansicht, habe der Apostel <strong>die</strong>Zeit vor der Gesetzgebung gemeint, nämlich<strong>die</strong> Zeit Abels, Noes, Abrahams bis zur Geburt<strong>des</strong> Moses. Welche Sünde gab es denndamals? — Einige sind der Ansicht, der A-postel meine <strong>die</strong> Sünde im Para<strong>die</strong>se. Diese,sagen sie, war ja nicht getilgt, sondern lebtefort in ihrer Frucht. Sie hatte nämlich denTod über <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheit gebracht,und <strong>die</strong>ser herrschte über sie wie ein Tyr<strong>an</strong>n.— Warum fügt er bei: „Sünde aber wirdnicht zugerechnet, sol<strong>an</strong>ge kein Gesetzda ist“? — Als einen Einw<strong>an</strong>d der Juden,meinen <strong>die</strong>, welche mit uns übereinstimmen,habe der Apostel das hergesetzt; er habe sagenwollen: Wenn es keine Sünde gibt ohneein Gesetz, wieso hat denn der Tod alle hingerafftvor dem Gesetze? — Mir scheint abereine <strong>an</strong>dere Erklärung besser begründet unddem Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Apostels entsprechenderzu sein. Welche denn? — Wenn derApostel sagt, daß bis <strong>zum</strong> Gesetze Sünde inder Welt war, so scheint es mir, als sage er:Nachdem das Gesetz gegeben war, herrschte<strong>die</strong> Sünde aus dem Grunde der Übertretung,und sie herrschte insoweit, inwieweit es einGesetz gab. Es k<strong>an</strong>n ja, will er sagen, gar keineSünde geben, wo es kein Gesetz gibt.Wenn nun eben <strong>die</strong>se Sünde, will er sagen,aus dem Grunde der Übertretung <strong>des</strong> Gesetzesden Tod erzeugte, wieso mußten dennalle sterben, <strong>die</strong> vor dem Gesetze gelebt hatten?Denn wenn der Tod seine Wurzel in derSünde hat, eine Sünde aber nicht <strong>an</strong>gerechnetwird, wo es kein Gesetz gibt, wieso konnteder Tod herrschen? Daraus ist ersichtlich,98daß <strong>die</strong> Sünde, von der hier <strong>die</strong> Rede ist,nicht eine (persönliche) Gesetzesübertretungist, sondern jener Ungehorsam <strong>des</strong> Adam;<strong>die</strong>ser war es, der alles ins Verderben gezogenhat. Und der Beweis dafür? — Die Tatsache,daß alle, <strong>die</strong> vor dem Gesetze lebten,gestorben sind.V. 14: „Es herrschte ja der Tod von Adam bisMoses auch über <strong>die</strong>, welche nicht gesündigt hatten.“Wie herrschte er:„<strong>In</strong> Ähnlichkeit der Übertretung Adams, welcherein Vorbild <strong>des</strong> Zukünftigen ist.“Demnach ist Adam ein Vorbild Christi. Wiesodenn? fragst du. Gera<strong>des</strong>o wie Adam fürseine Nachkommen, obwo<strong>hl</strong> <strong>die</strong>se nicht vondem Baume gegessen hatten, <strong>die</strong> Ursache <strong>des</strong>durch seinen Genuß herbeigeführten To<strong>des</strong>geworden ist, ebenso ist Christus für seineNachkommen, obzwar sie nicht gerecht h<strong>an</strong>delten,der Vermittler der Gerechtigkeit geworden,<strong>die</strong> er uns allen durch seinen Kreuzestodver<strong>die</strong>nt hat. Darum betont der Apostelimmer und immer wieder das „einen“und wiederholt es beständig. „Gleichwiedurch einen Menschen <strong>die</strong> Sünde in<strong>die</strong> Welt gekommen ist“ 129 . — „Wenn durch<strong>die</strong> Übertretung <strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielen gestorbensind 130 . — Nicht verhält es sich mit derSünde durch den einen wie mit dem Geschenk131 „Das Gericht wegen <strong>des</strong> einen zurVerdammung 132 . — „Denn wenn durch <strong>des</strong>einen Sünde der Tod herrschte durch deneinen“ 133 . — „Gleichwie also durch <strong>die</strong> Übertretung<strong>des</strong> einen“ 134 — „Gleichwie durchden Ungehorsam <strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielen zuSündern geworden sind“ 135 — Von <strong>die</strong>sem„einen“ läßt er nicht ab, damit du, wenn dirder Jude sagt: „Wie, durch das Rechttun eines,<strong>des</strong> Christus, ist <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheitgerettet worden?“ <strong>an</strong> ihn <strong>die</strong> Gegenfrage stel-129 Röm. 5, 12.130 Ebd. V. 15.131 Ebd. V. 16.132 Ebd.133 Ebd. V. 17.134 Ebd. V. 18.135 Ebd. V. 19.


len k<strong>an</strong>nst: „Wie, durch den Ungehorsameines, <strong>des</strong> Adam, ist <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheitverdammt worden?“ Und dabei ist Sündeund Gn<strong>ad</strong>e nicht einmal auf <strong>die</strong>selbe Stufe zustellen, ebensowenig wie Tod und Leben, wieTeufel und Gott, sondern es besteht einhimmelweiter Unterschied. Wenn also ausder Natur der Sache, aus der Macht <strong>des</strong>sen,der als Geber in Betracht kommt, und ausdem, was sich für ihn schickt — für Gottschickt es sich mehr, zu retten als zu strafen—, wenn aus allem dem hervorgeht, daß <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e über der Sünde steht, welchen Grundk<strong>an</strong>nst du noch haben, ungläubig zu sein? —Daß <strong>die</strong> Tatsache (der Erlösung) auch vernunftgemäßsei, führt der Apostel aus, indemer spricht:V. 15: „Aber nicht wie mit der Übertretung verhältes sich mit dem Geschenk; denn wenn durch<strong>die</strong> Übertretung <strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielen gestorbensind, so ist um so mehr <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes und dasGn<strong>ad</strong>engeschenk <strong>des</strong> einen Menschen Jesus Christusvielen reic<strong>hl</strong>ich zuteil geworden.“— Der Apostel will damit folgen<strong>des</strong> sagen:Wenn <strong>die</strong> Sünde eine solche Kraft hatte unddazu noch <strong>die</strong> Sünde eines einzigen Menschen,wie sollte nicht <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, und zwar<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes, nicht allein <strong>die</strong> <strong>des</strong> Vaters,sondern auch <strong>des</strong> Sohnes, noch darübergehen?Das hat doch viel mehr Sinn.Daß einer eines <strong>an</strong>dern wegen gestraft werde,das scheint mir nicht sonderlich viel Sinnzu haben; daß aber einer durch einen <strong>an</strong>derngerettet werde, das ist viel geziemender undvernunftentsprechender. Wenn nun jeneserstere wirklich geschehen ist, so um so mehr<strong>die</strong>ses letztere.2.99Damit hat der Apostel darget<strong>an</strong>, daß es billigund vernunftgemäß sei; war einmal <strong>die</strong>s bewiesen,d<strong>an</strong>n mußte <strong>die</strong> Sache selbst auch<strong>an</strong>nehmbar sein. Daß sie aber auch notwendigsei, beweist er im folgenden. Wie führt ernun <strong>die</strong>sen Beweis:V. 16: „Nicht wie mit der Sünde <strong>des</strong> einen verhältes sich mit dem Gn<strong>ad</strong>engeschenk; denn dortlautet der Richterspruch wegen eines auf Verdammung,hier aber wird <strong>die</strong> Begn<strong>ad</strong>igung fürviele Sünden zur Rechtfertigung.“— Was soll damit gesagt sein? Daß eine einzigeSünde imst<strong>an</strong>de war, den Tod und <strong>die</strong>Verdammnis herbeizuführen; <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e aberhat nicht bloß jene einzige Sünde hinweggenommen,sondern auch <strong>die</strong> nachher dazugekommenen. Damit nämlich das „Wie“ unddas „So“, welches vom Apostel gebrauchtwird, nicht zur Annahme verleite, als sei eingleiches Maß <strong>des</strong> Guten und <strong>des</strong> Bösen gemeint,und damit m<strong>an</strong> nicht, wenn m<strong>an</strong> vonAdam hört, der Meinung sei, nur jene Sün<strong>des</strong>ei hinweggenommen worden, welche jenerin <strong>die</strong> Welt gebracht hat, darum sagt er, daß<strong>die</strong> Hinwegnahme vieler Sünden stattgefundenhabe. Woraus geht <strong>die</strong>s klar hervor? Daraus,daß nach jenen unzä<strong>hl</strong>igen Sünden, <strong>die</strong>der im Para<strong>die</strong>se beg<strong>an</strong>genen gefolgt sind,<strong>die</strong> Sache doch noch in Rechtfertigung ausgeht.Wo aber Gerechtigkeit, da folgt notwendigerweiseauch Leben und tausenderleiGutes, wie <strong>an</strong>dererseits, wo Sünde da Tod.Denn mehr als das Leben ist <strong>die</strong> Gerechtigkeit,da sie <strong>die</strong> Wurzel <strong>des</strong> Lebens ist. Daßmit ihr viel mehr Gutes in <strong>die</strong> Welt eingezogenist und daß durch sie nicht allein jeneerste Sünde, sondern auch alle übrigen hinweggenommenworden sind, das drückt derApostel aus, wenn er sagt: „Die Begn<strong>ad</strong>igungfür viele Sünden zur Rechtfertigung“.Damit ist notwendigerweise zugleichdarget<strong>an</strong>, daß der Tod mit der Wurzel ausgerottetsei. —Nun erübrigt noch der Beweisfür das, was der Apostel früher gesagt hat,nämlich, daß das zweite (<strong>die</strong> Begn<strong>ad</strong>igungdurch Christus) etwas Größeres sei als daserste (<strong>die</strong> Verschuldung durch Adam). Zuerstnämlich hatte er gesagt, daß, wenn <strong>die</strong>Sünde <strong>des</strong> einen allen den Tod gebracht hat,so um so mehr <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> einen imst<strong>an</strong>de


sein werde, sie zu retten. Nachher legte erdar, daß durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e nicht bloß jene eineSünde hinweggenommen worden sei, sondernauch alle <strong>an</strong>deren, ja daß nicht nur <strong>die</strong>Sünde hinweggenommen, sondern auch Gerechtigkeitobendrein gegeben worden sei;daß also Christus nicht bloß soviel gut gemachthat, als Adam gesch<strong>ad</strong>et hatte, sondernviel mehr und in viel größerem Maße.Eine so schwerwiegende Behauptung erforderteinen vollgiltigen Beweis; wie führt derApostel nun <strong>die</strong>sen?V. 17: „Denn wenn durch <strong>des</strong> einen Übertretungder Tod herrschte durch den einen, d<strong>an</strong>n werdenum so mehr <strong>die</strong>, welche <strong>die</strong> überschwengliche Fülleder Gn<strong>ad</strong>e und der geschenkten Gerechtigkeitempf<strong>an</strong>gen haben, im Leben herrschen durch deneinen Jesus Christus.“—Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist folgender: Washat dem Tod Wehr und Waffen gereicht gegen<strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheit? Bloß daß einMensch von dem (verbotenen) Baume gegessenhatte. Wenn nun der Tod eine solcheGewalt erl<strong>an</strong>gte wegen der Gesetzesübertretung<strong>des</strong> einen, und wenn es Menschen gibt,<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Gerechtigkeit empf<strong>an</strong>gen haben,und zwar in einem <strong>die</strong> Sünden weit ü-bersteigenden Maße, wie werden <strong>die</strong>se nochweiter dem Tode unterworfen sein? Darumsagt der Apostel hier nicht einfach „Gn<strong>ad</strong>e“,sondern „überschwengliche Fülle der Gn<strong>ad</strong>e“;denn nicht bloß soviel Gn<strong>ad</strong>e haben wirempf<strong>an</strong>gen, als wir zur Tilgung der Sündeger<strong>ad</strong>e brauchten, sondern viel mehr. Freigeworden sind wir von der Strafe, <strong>die</strong> Bosheithaben wir abget<strong>an</strong>, wiedergeboren, auferst<strong>an</strong>densind wir, nachdem wir den altenMenschen begraben haben, los- gekauft, gerechtfertigt, <strong>an</strong> Kin<strong>des</strong>statt<strong>an</strong>genommen, geheiligt, Brüder <strong>des</strong> eingeborenenSohnes und <strong>des</strong>sen Miterben, Gliederseines Leibes sind wir geworden; wir sindTeile seines Fleisches und vereint mit ihmwie der Körper mit dem Haupte. Alles daszusammen nennt <strong>Paulus</strong> eine „überschwenglicheFülle von Gn<strong>ad</strong>e“; er drückt100damit aus, daß wir nicht bloß ein wirksamesHeilmittel für <strong>die</strong> Wunde empf<strong>an</strong>gen haben,sondern volle Gesundheit, Schönheit, Ehre,Ruhm, lauter Gaben, <strong>die</strong> unsere Natur weitübersteigen. Jede von <strong>die</strong>sen für sich alleinwar imst<strong>an</strong>de, den Tod zu b<strong>an</strong>nen; wenn sienun alle zusammenkommen, da k<strong>an</strong>n keineSpur, kein Schatten vom Tode mehr übrigbleiben; er ist g<strong>an</strong>z und gar verschwunden.Ein Gleichnis: Jem<strong>an</strong>d läßt einen der ihmzehn Obolos schuldet, ins Gefängnis werfen,ja nicht allein ihn, sondern auch sein Weib,seine Kinder und seine Sklaven für ihn. Dakommt ein <strong>an</strong>derer und zä<strong>hl</strong>t nicht bloß <strong>die</strong>zehn Obolos her, sondern beschenkt den Gef<strong>an</strong>genennoch dazu mit tausend Talentenvon Gold, führt ihn in den Königspalast,setzt ihn auf den Herrscherthron und teiltmit ihm <strong>die</strong> höchste Ehre und allen <strong>an</strong>derenGl<strong>an</strong>z. Da wird wo<strong>hl</strong> der Schuldner nichtmehr <strong>an</strong> seine zehn Obolos denken. So ist esmit uns geschehen. Viel mehr, als wir schuldigwaren, hat Christus für uns beza<strong>hl</strong>t, umso viel mehr als der unermeßliche Oze<strong>an</strong> istim Vergleich zu einem Wassertropfen. Zweiflealso nicht mehr, o Mensch, beim Anblicksolchen Reichtums <strong>an</strong> Gutem! Grüble nichtmehr nach darüber, wie jener Funke — derTod und <strong>die</strong> Sünde — durch ein solchesMeer von Gn<strong>ad</strong>en, das darüber ausgegossenworden ist, erloschen sei. Dasselbe will <strong>Paulus</strong>ausdrücken, wenn er sagt, daß „<strong>die</strong>, welche<strong>die</strong> überschwengliche Fülle der Gn<strong>ad</strong>eund der Gerechtigkeit empf<strong>an</strong>gen haben, imLeben herrschen werden“.Nachdem der Apostel <strong>die</strong>ses klar darget<strong>an</strong>hat, nimmt er wieder den früheren Sc<strong>hl</strong>ußauf und verstärkt ihn durch <strong>die</strong> Wiederholung.Er sagt: Wenn alle wegen der Übertretungjenes einen gestraft worden sind, könnensie ebenso auch gerechtfertigt werden.Darum, spricht er: V. 18: „Gleichwie es also durch <strong>des</strong> einenÜbertretung für alle Menschen zur Verdammniskam, so auch durch <strong>des</strong> einen Gerech-


tigkeit für alle Menschen zur Rechtfertigung <strong>des</strong>Lebens.“Denselben Ged<strong>an</strong>ken führt er im folgendennoch einmal aus:V. 19: „Denn gleichwie durch den Ungehorsam<strong>des</strong> einen Menschen <strong>die</strong> vielen zu Sündern gewordensind, so werden auch durch den Gehorsam<strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielen zu Gerechten gemacht.“Die Stelle scheint keine geringe Schwierigkeitzu enthalten. Bei näherer Betrachtunglöst sich <strong>die</strong>se jedoch auch leicht. Worin liegt<strong>die</strong> Schwierigkeit? <strong>In</strong> den Worten, daß„durch den Ungehorsam <strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielenzu Sündern geworden sind“. Daß jener selbstdurch seine Sünde sterblich geworden ist,auch daß es seine Nachkommen sind, das istnichts Unwahrscheinliches. Daß aber durchseinen Ungehorsam ein <strong>an</strong>derer <strong>zum</strong> Sünderwerden soll, welche Folgerichtigkeit liegtdarin? Straffällig wird doch nur ein solcher,der aus eigenem Sünder geworden ist.3.101<strong>In</strong> welchem Sinne ist nun hier das Wort„Sünder“ zu verstehen? Mir will scheinen, essei im Sinne von „der Strafe verfallen“, „demTode über<strong>an</strong>twortet“ zu nehmen. Daß wiralle durch den Tod Adams sterblich gewordensind, hat der Apostel klar und ausführlichdargelegt. Es fragt sich aber, warum dasgeschehen ist. Die Antwort darauf gibt erhier noch nicht; denn es <strong>die</strong>nt ihm nicht zuseinem gegenwärtigen Zwecke. Er kämpftnämlich gegen den Juden, der <strong>die</strong> Rechtfertigungdurch den einen bezweifelt und belächelt.Darum weist er darauf hin, daß auch<strong>die</strong> Strafe von einem auf alle übergeg<strong>an</strong>gensei; warum das geschehen ist, setzt er nichtmehr dazu. Er sagt nämlich nichts Überflüssiges,sondern hält sich nur <strong>an</strong> das Notwendige.Nach den Regeln der Disputation warer nicht verpflichtet, mehr zu <strong>an</strong>tworten, alsder Jude gefragt hatte; darum läßt er <strong>die</strong> Frageungelöst. Sollte es aber jem<strong>an</strong>d von euchwissen wollen, so sage ich soviel, daß wirvon <strong>die</strong>semTode und <strong>die</strong>ser Verurteilung hernicht bloß keinen Sch<strong>ad</strong>en, sondern, wennwir näher zuschauen, noch Gewinn davonhaben, daß wir sterblich geworden sind; fürserste, daß wir nicht in einem unsterblichenLeibe sündigen; d<strong>an</strong>n, daß wir d<strong>ad</strong>urch unzä<strong>hl</strong>igeMöglichkeiten haben, <strong>die</strong> Tugend zuüben. Denn der Tod, der uns vor Augen stehtund erwartet wird, lehrt uns, mäßig, enthaltsam,abgetötet zu sein, und uns frei<strong>zum</strong>achenvon jeglicher Bosheit. D<strong>an</strong>n — eigentlichin erster Linie — hat uns der Tod nochmehr Gutes gebracht. Ihm d<strong>an</strong>ken wir <strong>die</strong>Kronen der Märtyrer, <strong>die</strong> Siegespreise derApostel. So ward Abel gerecht, so Abraham,der entsc<strong>hl</strong>ossen war, seinen Sohn <strong>zum</strong>Sc<strong>hl</strong>achtopfer zu bringen, so Joh<strong>an</strong>nes, derum Christi willen getötet wurde, so <strong>die</strong> dreiJünglinge im Feuerofen, so D<strong>an</strong>iel. Ja, wennwir ernstlich wollen, k<strong>an</strong>n uns nicht bloß derTod, sondern selbst der Teufel nicht sch<strong>ad</strong>en.Außerdem muß auch das gesagt werden, daßUnsterblichkeit unser harrt und daß wir nacheiner kurze Zeit währenden Tugendschuleohne Harm der zukünftigen Güter genießenwerden. Wie in einer Schule werden wir ja in<strong>die</strong>sem gegenwärtigen Leben durch Kr<strong>an</strong>kheitund Trübsal und Versuchungen undArmut und <strong>an</strong>dere scheinbare Übel dazu erzogen,einmal fähig zu werden, <strong>die</strong> zukünftigen;Güter aufzunehmen.V. 20: „Das Gesetz aber kam dazu, damit <strong>die</strong>Übertretung sich noch mehre.“— Bisher hat der Apostel dargelegt, daß vonAdam <strong>die</strong> Verdammung der g<strong>an</strong>zenMenschheit, von Christus dagegen ihre Rettungund Befreiung von der Verdammnisausgeg<strong>an</strong>gen sei. Nun wendet er sich passendwieder der Betrachtung <strong>des</strong> Gesetzes zuund benimmt <strong>die</strong> hohe Meinung davon. Ersagt: Es brachte nicht nur keinen Nutzen,keine Hilfe, sondern versc<strong>hl</strong>immerte <strong>die</strong>Kr<strong>an</strong>kheit noch durch sein Hinzukommen.


Das „damit“ drückt hier nicht eine Absichtaus, sondern eine Folge. Es wurde ja nicht inder Absicht gegeben, damit es <strong>die</strong> Sündenvermehre, sondern damit es sie mindere und<strong>zum</strong> Aufhören bringe. Die Folge war aberdas Gegenteil, und zwar ging <strong>die</strong>selbe nichtaus der Natur <strong>des</strong> Gesetzes hervor,sondern aus der Leichtfertigkeit derer, <strong>die</strong> esempfingen. — Warum sagt der Apostel nicht,„das Gesetz wurde gegeben“, sondern „dasGesetz kam dazu“? Er wollte d<strong>ad</strong>urch ausdrücken,daß das Bedürfnis nach demselbennur ein zeitweiliges, nicht ein für immer bestehen<strong>des</strong>und absolutes sei. Dasselbe drückter auch im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater in einer <strong>an</strong>derenForm aus: „Bevor der Glaube kam,wurden wir unter dem Gesetze bewachtgehalten, eingesc<strong>hl</strong>ossen bis zur zukünftigenOffenbarung <strong>des</strong> Glaubens“ 136 . Also nicht fürsich selbst, sondern für einen <strong>an</strong>deren Zweckhat das Gesetz <strong>die</strong> Herde bewacht. Weil nämlich<strong>die</strong> Juden ideallose, im Irdischen aufgehendeMenschen waren, <strong>die</strong> immer nur (zeitliche)Gaben haben wollten, so wurde ihnendas Gesetz gegeben, damit es ihnen mehr <strong>die</strong>Augen öffne, ihnen über ihren wahren Zust<strong>an</strong>deine klarere Einsicht bringe, sie nochmehr <strong>an</strong>klage und so besser im Zügel halte.Jedoch sei ohne Furcht! Nicht um <strong>die</strong> Strafezu vergrößern, ist <strong>die</strong>s geschehen, sonderndazu, daß <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e mehr erstra<strong>hl</strong>e. Darumfährt der Apostel fort:„Wo aber <strong>die</strong> Sünde sich mehrte, da war <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e noch weit überströmender.“Er sagt nicht „sie war überströmend“, sondern„weit überströmend“. Denn sie machtenicht nur frei von Strafe, sondern auch vonSünden und brachte Leben und <strong>die</strong> von miroft gen<strong>an</strong>nten Güter. Es ist mit ihr so, wiewenn jem<strong>an</strong>d einen Fieberkr<strong>an</strong>ken nicht bloßvon seiner Kr<strong>an</strong>kheit befreite, sondern ihmauch ein blühen<strong>des</strong> Aussehen gäbe, ihn starkund <strong>an</strong>sehnlich machte; oder wie einer einenHungernden nicht bloß speiste, sondern ihn136 Gal. 3, 23.102<strong>zum</strong> Herrn von viel Vermögen und zu einemhochmächtigen M<strong>an</strong>ne machte. —Und inwelchem Sinne meinte es der Apostel, wenner sagt: „Die Sünde mehrte sich“? Das Gesetzgab unzä<strong>hl</strong>ige Vorschriften; da nun <strong>die</strong> Juden<strong>die</strong>se alle übertraten, so mehrte sich <strong>die</strong> Ü-bertretung. Erkennst du nun den Unterschiedzwischen der Gn<strong>ad</strong>e und dem Gesetz? Diesestrug bei zur Ver- größerung derSchuld und Strafe, <strong>die</strong>se zur Mehrung der(göttlichen) Gaben.4.Nachdem der Apostel <strong>die</strong> unaussprec<strong>hl</strong>icheLiebe Gottes zu uns Menschen beh<strong>an</strong>delt hat,wendet er sich wieder der Frage nach demGrund und der Wurzel von Tod und vonLeben zu. Welches ist <strong>die</strong> Wurzel <strong>des</strong> To<strong>des</strong>?— Die Sünde. — Darum sagt er:V. 21: „Damit, gleichwie <strong>die</strong> Sünde herrschte<strong>zum</strong> Tode, so auch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e herrsche durch <strong>die</strong>Gerechtigkeit <strong>zum</strong> ewigen Leben durch JesusChristus, unsern Herrn.“— Damit weist der Apostel der Sünde <strong>die</strong>Rolle einer Herrscherin zu, dem Tod dagegen<strong>die</strong> eines Kriegsm<strong>an</strong>nes, der unter ihremKomm<strong>an</strong>do steht und von ihr mit Waffenausgerüstet ist. Wenn nun <strong>die</strong> Sünde demTode <strong>die</strong> Waffen gegeben hat, so ist klar, daß<strong>die</strong> Gerechtigkeit, welche <strong>die</strong> Sünde hinwegnimmtund uns aus Gn<strong>ad</strong>e zuteil gewordenist, dem Tod nicht bloß seine Waffen wegnimmt,sondern auch ihn selbst aus demWege schafft und <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Herrschaft derSünde abtut. Die Herrschaft der Gerechtigkeitist ja viel größer als <strong>die</strong> der Sünde; sie istnicht durch einen Menschen oder durch denTeufel in <strong>die</strong> Welt gebracht, sondern durchGott und <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e; sie führt unser Lebeneinem besseren Ziele, einem unendlichenGute zu. Sie hat nämlich kein Ende, und darausmagst du auch erkennen, daß sie derHerrschaft der Sünde über ist. Diese, <strong>die</strong>


Sünde, hat uns <strong>des</strong> gegenwärtigen Lebensberaubt, jene, <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, hat uns nicht bloßdas gegenwärtige, sondern auch das unsterbliche,ewige Leben als Geschenk mitgebracht.Der Vermittler aber alles <strong>des</strong>sen für uns istChristus. Sei also ohne Sorge wegen <strong>des</strong> Lebens,wenn du gerechtfertigt bist. Die Gerechtigkeit(<strong>die</strong> du hast), ist ja mehr als dasLeben; denn sie ist <strong>die</strong> Mutter <strong>des</strong>selben.Kap. VI, V. 1: „Was nun? Sollen wir verharrenin der Sünde? Das sei ferne!“— Der Apostel geht nun wieder zur sittlichenMahnrede über. Er führt sie aber nichtals ein eigenes Stück der Abh<strong>an</strong>dlung ein,um nicht von m<strong>an</strong>chen als lästig oder gar feindselig empfunden zu werden,sondern läßt sie als Folge der (vorgetragenen)Glaubenslehren erscheinen. Er be<strong>die</strong>ntsich so einer abwechselnden Darstellungsform,damit <strong>die</strong> Zuhörer nicht gegen <strong>die</strong> vorgetragenenWahrheiten eingenommen werden.<strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne sagt er auch: „Ich habeauch stellenweise etwas schärfer geschrieben“137 . Hätte er <strong>die</strong>se Vorsicht nicht gebraucht,so wäre er ihnen um so mehr als zugrob vorgekommen. — Der Apostel hat bisher<strong>die</strong> Größe der Gn<strong>ad</strong>e aus der Größe derSünden, <strong>die</strong> sie geheilt hat, nachgewiesenDas könnte nun von unverständigen Leutenals eine Aufforderung, weiter zu sündigen,aufgefaßt werden. Wenn <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, könntensie sagen, ger<strong>ad</strong>e d<strong>an</strong>n mehr in Erscheinungtritt, wenn wir viel sündigen, so wollen wirnicht aufhören, zu sündigen, damit sich <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e in noch größerer Fülle erweise. Beachte,wie der Apostel <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d widerlegt,damit m<strong>an</strong> ihn gar nicht ausspreche o-der nur in Ged<strong>an</strong>ken fasse. Zunächst durcheine abwehrende Verneinung: „Das sei ferne!“Er tut <strong>die</strong>s gewöhnlich gegenüber vong<strong>an</strong>z unsinnigen Behauptungen. D<strong>an</strong>n aberbringt er eine unwidersprec<strong>hl</strong>iche Sc<strong>hl</strong>ußfolgerung.Wie lautet sie?137 Röm. 15, 15.103V. 2: „Denn da wir der Sünde gestorben sind,wie sollten wir noch in ihr leben wollen?“— Welchen Sinn hat <strong>die</strong>ses „wir sind gestorben“?Entweder heißt es, daß wir alle infolgeund mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Sünde unser To<strong>des</strong>urteilempf<strong>an</strong>gen haben, oder daß wir fürsie tot geworden sind, erleuchtet durch denGlauben. Diese Deutung ist wahrscheinlicher;sie erhellt nämlich aus dem folgendenZusammenh<strong>an</strong>ge. Was heißt „tot gewordensein für <strong>die</strong> Sünde“? Ihr nicht mehr Untert<strong>an</strong>sein. Das hat <strong>die</strong> einfache Taufe bewirkt: siehat uns tot gemacht für <strong>die</strong> Sünde. Wir müssenuns in Zukunft eifrig und beständigbestreben, ihr nicht zu gehorchen, mag sieuns auch tausendfältig befe<strong>hl</strong>en, sondernunbeweglich zu bleiben wie ein Toter. Allerdingssagt der Apostel <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>deren Stelleauch: „Die Sünde ist gestorben.“Dort will er nämlich nahelegen, daß <strong>die</strong> Tugendleicht zu üben sei; darum spricht er <strong>die</strong>senSatz aus. Hier jedoch geht seine Absichtdahin, den Zuhörer aufzurütteln; darum beziehter den Tod auf ihn selbst. — Da dasGesagte etwas unklar ist, erklärt es der Apostelnochmals, indem er eine bewegliche Anredeformgebraucht:V. 3: „Oder wisset ihr nicht, meine Bruder, daßwir, so viele wir ihrer auf Christus getauft sind,auf seinen Tod getauft sind; begraben sind wiralso mit ihm durch <strong>die</strong> Taufe <strong>zum</strong> Tode.“— Was heißt: „Wir sind auf seinen Tod getauft“?Daß wir sterben wie er. Ein Kreuz istnämlich <strong>die</strong> Taufe. Was für Christus dasKreuz und das Grab war, das ist für uns <strong>die</strong>Taufe, wenn auch nicht in derselben Beziehung.Er starb nämlich und wurde begrabendem Fleische nach, wir erfahren bei<strong>des</strong> inbezug auf <strong>die</strong> Sünde. Darum sagt er nicht:„Zusammengepfl<strong>an</strong>zt im Tode“, sondern: „inÄhnlichkeit <strong>des</strong> To<strong>des</strong>.“ Das eine wie das<strong>an</strong>dere ist ein Tod, nur nicht in bezug aufdasselbe; der Tod Christi war ein solcher inbezug auf das Fleisch, der unsrige ist ein solcherin bezug auf <strong>die</strong> Sünde. Wie jener einwahrer und wirklicher Tod war, so ist es


auch <strong>die</strong>ser. Aber wenn auch der unsrige einwahrer und wirklicher ist, so müssen wirauch von unserer Seite dabei mitwirken.Darum fährt der Apostel fort:„Damit, gleichwie Christus auferweckt wordenist von den Toten durch <strong>die</strong> Herrlichkeit <strong>des</strong> Vaters,so auch wir w<strong>an</strong>deln in Neuheit <strong>des</strong> Lebens.“— Diese Stelle enthält neben der Ermahnungzu einem guten Leben auch einen Hinweisauf <strong>die</strong> Auferstehung. Wieso? — Glaubst du,will der Apostel sagen, daß Christus gestorbenund auferst<strong>an</strong>den ist? Wo<strong>hl</strong><strong>an</strong>, d<strong>an</strong>nglaube <strong>an</strong> dasselbe auch bei dir! Denn du bistihm darin ähnlich. Auch bei dir gibt es einKreuz und ein Grab. Wenn du mit ihm Todund Grab gemeinsam hast, so um so mehrauch Auferstehung und Leben. Ist das größereÜbel abget<strong>an</strong>, <strong>die</strong> Sünde, d<strong>an</strong>n brauchstdu wegen <strong>des</strong> kleineren, der Hinwegnahme<strong>des</strong> To<strong>des</strong>, keinen Zweifel mehrzu haben.<strong>Paulus</strong> überläßt es dem Verständnis seinerZuhörer, <strong>die</strong>se Ged<strong>an</strong>ken aus dem Gesagtenzu ersc<strong>hl</strong>ießen. Er verl<strong>an</strong>gt von uns mit Beziehungauf <strong>die</strong> zukünftige eine <strong>an</strong>dere Auferstehung,nämlich eine neue Lebensführung,eine Auferstehung schon im gegenwärtigenLeben, <strong>die</strong> in einem Umw<strong>an</strong>del der Sittenbesteht. Wenn nämlich der Unkeuschekeusch, der Geizige barmherzig, der Grobes<strong>an</strong>ftmütig wird, so findet schon hier auf Erdeneine Auferstehung statt, <strong>die</strong> eine Vorläuferinder zukünftigen ist. — Wieso ist daseine Auferstehung? — Weil <strong>die</strong> Sünde ertötetist, <strong>die</strong> Gerechtigkeit ihre Auferstehung feiert,das alte Leben verschwindet und dafürein neues, engelgleiches <strong>an</strong> seine Stelle tritt.Wenn du von einem neuen Leben hörst, sodenk <strong>an</strong> eine bedeutende Umänderung, einenbemerklichen W<strong>an</strong>del.5.Doch ach! Ich möchte weinen und laut aufseufzen,wenn ich bedenke, was für einentugendhaften W<strong>an</strong>del <strong>Paulus</strong> von uns verl<strong>an</strong>gt,und welcher Sorglosigkeit wir uns ü-berlassen. Nach der Taufe kehren wir in unserenfrüheren greisenhaften Zust<strong>an</strong>d wiederzurück; wir kehren um nach Ägypten unddenken nach dem Genuß <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nas zurück<strong>an</strong> den Knoblauch. Zehn oder zw<strong>an</strong>zig Tagenach der Erleuchtung (Taufe) sind wir schonwieder umgew<strong>an</strong>delt und treiben es wiederwie früher. Und doch verl<strong>an</strong>gt <strong>Paulus</strong> nichtbloß während einer bestimmten Za<strong>hl</strong> vonTagen einen solchen Lebensw<strong>an</strong>del von uns,sondern während unseres g<strong>an</strong>zen Lebens.Wir aber kehren zurück <strong>zum</strong> Gespieenen,und nach der Jugendfrische der Gn<strong>ad</strong>e ziehenwir uns wieder den greisenhaften Zust<strong>an</strong>dder Sünde zu. Nämlich <strong>die</strong> Geldgier,<strong>die</strong> unordentliche Genußsucht, kurz jedeSünde macht gewöhnlich den, der sie tut,greisenhaft (<strong>an</strong> der Seele). Was aber alt gewordenund greisenhaft ist, das steht demUnterg<strong>an</strong>ge nahe. <strong>In</strong> der Tat, nicht einmal amLeib ist der Verfall, wie er durch <strong>die</strong> Zeitherbeigeführt wird, so deutlich zu bemerkenwie <strong>an</strong> der Seele, wenn sie altersschwach undhinfällig wird. Da nimmt sie ein g<strong>an</strong>z undgar läppisches Wesen <strong>an</strong>, schwatztalbernes Zeug wie Altersblöde und Irrsinnige,wird widerlich, stumpfsinnig, sehr vergeßlich,triefäugig, den Menschen ein Ekelund dem Teufel eine leichte Beute. Das istder Seelenzust<strong>an</strong>d der Sünder. — Nicht soder der Gerechten; ihre Seelen sind im Gegenteiljugendfrisch und kräftig, stehen inunverwelklicher Jugendblüte und sind immerbereit zu jeglichem Kämpfen und Ringen.Die Seelen der Sünder hingegen sinkenleicht um beim geringsten Stoß und gehenzugrunde. Das meint auch der Prophet,wenn er sagt: „Gleichwie Staub, den derWind von der Erde aufweht“ 138 . So w<strong>an</strong>kelmütig,so jeder Versuchung leicht zugänglich104138 Ps. 1, 4.


sind <strong>die</strong>, welche in der Sünde leben. Sie sehennämlich nicht klar, sie hören nicht recht,sie sprechen nich deutlich, sie werden arggeplagt vom Sc<strong>hl</strong>uchzen, um den Mund rinntihnen der Geifer, Doch wenn es nur bloßerGeifer wäre, nicht etwas Häßlicheres! Abersie stoßen Worte aus, <strong>die</strong> ekliger sind als Kot;ja, was noch häßlicher ist, sie sind nicht einmalimst<strong>an</strong>de, den Geifer <strong>die</strong>ser Worte auszuspucken,sondern sie nehmen ihn in <strong>die</strong>Hände und beschmieren sich wieder mitihm, so dickflüssig wie er ist, in g<strong>an</strong>z abscheulicherWeise. Ihr empfindet vielleichtEkel bei <strong>die</strong>ser Schilderung; er wäre mehr<strong>an</strong>gebracht der (sündhaften) Tat gegenüber.Denn wenn <strong>die</strong>s schon am Leibe so garstigaussieht, wieviel mehr <strong>an</strong> der Seele! So wares bei jenem Jünglinge, der seine g<strong>an</strong>ze Habeverschwendet hatte und in <strong>die</strong> äußerste Notgeraten war; da lag er kraftloser als jeder Irrsinnigeoder Kr<strong>an</strong>ke. Aber als er den festenWillensentsc<strong>hl</strong>uß gefaßt hatte, da wurde erauf einmal wieder jung, bloß auf seine innereUmw<strong>an</strong>dlung hin. Denn nachdem er einmalgesagt hatte: „Ich werde zurückkehren <strong>zum</strong>einem Vater“ 139 , da hatte ihm <strong>die</strong>ses Wort— oder vielmehr nicht das bloße Wort, sondern<strong>die</strong> dem Worte folgende Tat — allesHeil gebracht. Er sprach nämlich nicht bloß:„Ich werde gehen“ und blieb, sondern ersprach: „Ich werde gehen“ und ging und legtejenen g<strong>an</strong>zen Weg zurück. Machen wir es auch so! Wenn wir auch über <strong>die</strong>Grenze geraten wären, laßt uns zurückkehrenins Vaterhaus und nicht zurückschreckenvor dem l<strong>an</strong>gen Wege. Wenn wir nur wollen,so wird der Rückweg leicht und kurz; nurmüssen wir <strong>die</strong> Fremde und das Ausl<strong>an</strong>dverlassen. Da ist nämlich <strong>die</strong> Sünde, <strong>die</strong> unswegführt vom Vaterhause. Laßt sie uns alsoaufgeben, damit wir bald wieder in das Hausunseres Vaters zurückkommen. Er ist ja einliebevoller Vater; er schätzt uns nach unsererUmkehr nicht weniger als <strong>die</strong> brav gebliebe-139 Luk. 15, 18.105nen Kinder, ja noch höher. Auch jenem verlorenenSohn tat sein Vater größere Ehre <strong>an</strong>und hatte größere Freude über den wiedergefundenenSohn.„Aber wie soll ich umkehren?“ fragst du. —Mach nur den Anf<strong>an</strong>g, und alles ist geschehen.Laß ab von der Bosheit und schreite darinnicht weiter vor, und du hast schon allesgewonnen. Wie bei den leiblich Kr<strong>an</strong>ken dasNichtsc<strong>hl</strong>echterwerden der Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Besserwerdensist, so geht es auch bei den seelischenÜbeln. Mach keinen Schritt vorwärts,und deine Sünde hat ein Ende. Tust du esnur zwei Tage, so geht es den dritten schonleichter; zu den drei fügst du d<strong>an</strong>n zehn,d<strong>an</strong>n zw<strong>an</strong>zig, d<strong>an</strong>n hundert, d<strong>an</strong>n das g<strong>an</strong>zeLeben. Je weiter du vorwärts schreitest,<strong>des</strong>to leichter wird dir der Weg vorkommen,und am Gipfel <strong>an</strong>gel<strong>an</strong>gt, wirst du eine Füllevon Glück genießen. — Auch damals, alsjener verlorene Sohn zurückkehrte, da gab esFlöten- und Zitherspiel, Reigen und Freudenma<strong>hl</strong>eund Festlichkeiten; und der Vater,der den Sohn für seine unzeitige Verschwendungund seine so l<strong>an</strong>ge Abwesenheit hättestrafen sollen, tat nichts von alledem, sondernbetrachtete ihn so, wie wenn er sichimmer wo<strong>hl</strong>verhalten hätte; er brachte esnicht über sich, dem Sohne auch nur einscheeles Wort zu geben, ja ihn auch nur zuerinnern <strong>an</strong> das Verg<strong>an</strong>gene, sondern er umarmteund küßte ihn, ließ das Mastkalbsc<strong>hl</strong>achten, dem Sohn ein schönes Kleid <strong>an</strong>ziehenund ihm reichen Schmuck <strong>an</strong>legen.Solche Beispiele vor Augen, laßt uns frohenMut lassen und nicht verzagen. Es macht ihmnicht so Freude, „Herr“ gen<strong>an</strong>nt zu werdenals wie „Vater“, nicht so einen Sklaven zuhaben wie einen Sohn. Das letzterewill er lieber als das erstere. Dessetwegen hater ja alles get<strong>an</strong>, was er get<strong>an</strong> hat; er hat nichteinmal seines eingeborenen Sohnes geschont,damit wir <strong>die</strong> Kindschaft erl<strong>an</strong>gen, damit wirihn nicht nur als Herrn, sondern auch als Vaterlieben. Wenn ihm das von unserer Seitezuteil wird, so rühmt er sich <strong>des</strong>sen als einer


esonderen Ehre und macht es allen kund,er, der doch nichts von uns braucht. Somachte er es mit Abraham; überall spricht er:„Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“Sie, <strong>die</strong> Diener, hatten Ursache, sichzu rühmen; doch nein, hier tut es der Herr.Darum spricht er auch zu Petrus: „Liebst dumich mehr als <strong>die</strong>se?“ 140 Damit wollte er <strong>an</strong>zeigen,daß er nichts so sehr von uns will alsdas. Darum befa<strong>hl</strong> er auch dem Abraham,seinen Sohn zu opfern, um allen zu zeigen,daß er von dem Patriarchen innig geliebtwerde. Daß er aber so innig geliebt werdenwill, kommt davon her, daß er selbst innigliebt. Darum spricht er auch zu den Aposteln:„Wer Vater oder Mutter mehr liebt alsmich, ist meiner nicht wert“ 141 .6.Darum befie<strong>hl</strong>t uns Christus auch, sogar unsereSeele, <strong>die</strong> uns doch das Teuerste vonallem ist, der Liebe zu ihm nachzusetzen; erwill eben in höchstem Maße von uns geliebtwerden. So machen auch wir es; wenn wirjem<strong>an</strong>dem nicht sonderlich zugeneigt sind,so liegt uns nicht viel <strong>an</strong> seiner Liebe, sei esauch eine mächtige und <strong>an</strong>gesehene Persönlichkeit.Lieben wir aber jem<strong>an</strong>den innig undecht, d<strong>an</strong>n mag der Geliebte noch so un<strong>an</strong>sehnlichund armselig sein, wir rechnen unsseine Gegenliebe zur größten Ehre <strong>an</strong>. Darumn<strong>an</strong>nte er es Ehre, nicht bloß von uns geliebtzu werden, sondern auch für uns jeneSchmach zu erdulden. Eine Ehre war dasdoch nur mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Liebe. Wasaber wir etwa für ihn erdulden, das heißtund ist Ehre, nicht nur mit Rücksicht auf <strong>die</strong>Liebe, sondern auch wegen der Erhabenheitund Würde <strong>des</strong>sen, der geliebt wird. WieSiegeskränzen so laßt uns den größ- ten Gefahren entgegeneilen! Laßt uns140 Joh. 21, 17.141 Matth. 10, 37.106weder Armut noch Kr<strong>an</strong>kheit noch Beschimpfungnoch Verleumdung noch selbstden Tod für etwas Schweres und Hartes erachten,wenn wir es für ihn ertragen! Sindwir weise, so können wir aus allem dem dengrößten Gewinn ziehen; <strong>an</strong>dererseits wirduns auch das Gegenteil nichts nützen, wennwir nicht weise sind. Sieh <strong>an</strong>! Es beh<strong>an</strong>deltdich jem<strong>an</strong>d verächtlich und feindselig?Wo<strong>hl</strong><strong>an</strong>, er mahnt dich, wachsam zu seinund gibt dir Gelegenheit, Gott ähnlich zuwerden. Denn wenn du den liebst, der dirNachstellungen bereitet, so bist du dem ähnlich,„der <strong>die</strong> Sonne aufgehen läßt über Böseund Gute“ 142 . — Ein <strong>an</strong>derer bringt dich umdein Vermögen? Wenn du es edelmütig erträgst,so empfängst du denselben Lohn wie<strong>die</strong>, welche ihre Habe <strong>an</strong> <strong>die</strong> Armen verteilten.„Auch den Raub eurer Güter“, heißt es,„ertrugt ihr mit Freude im Bewußtsein, daßihr ein besseres und bleiben<strong>des</strong> Gut imHimmel habt“ 143 . — Es hat dich jem<strong>an</strong>d verleumdetund geschmäht? Ob es wahr oderfalsch gewesen ist (was er gesagt hat), er hatdir den schönsten Kr<strong>an</strong>z geflochten, wenn,du <strong>die</strong> Schmähung mit Geduld erträgst. Warer ein Verleumder, so verschafft er uns großenLohn; denn „freuet euch und fro<strong>hl</strong>ocket“,heißt es, „wenn m<strong>an</strong> alles Böse widereuch fälsc<strong>hl</strong>ich redet; denn euer Lohn istgroß im Himmel“ 144 . Hat er aber <strong>die</strong> Wahrheitgesprochen, d<strong>an</strong>n bringt er uns wiedergroßen Nutzen, wofern wir nur <strong>die</strong> Nachredegeduldig ertragen. So hat auch der Pharisäer(im Ev<strong>an</strong>gelium) vom Zöllner mit WahrheitSc<strong>hl</strong>echtes ausgesagt; gleichwo<strong>hl</strong> hat er d<strong>ad</strong>urchaus einem Zöllner einen Gerechtengemacht. Was braucht m<strong>an</strong> übrigens einzelneFälle <strong>an</strong>zuführen? Es genügt, <strong>die</strong> Kämpfedurchzugehen, um alles das bis ins kleinstebestätigt zu finden. <strong>In</strong> demselben Sinne ist es,wenn <strong>Paulus</strong> sagt: „Wenn Gott für uns ist,wer ist wider uns?“ 145 — Wie wir einerseits,142 Matth. 5, 45.143 Hebr. 10, 34.144 Matth. 5, 11—12.145 Röm. 8, 31.


wenn wir guten Willen haben, auch aus WidrigemNutzen ziehen können, sowerden wir, wenn wir träge sind, nicht besserwerden trotz der günstigen Umstände.Was nützte dem Judas, sage mir, der Umg<strong>an</strong>gmit Jesus? Oder den Juden das Gesetz?Oder dem Adam das Para<strong>die</strong>s? Oder denJuden in der Wüste Moses? Darum müssenwir alles <strong>an</strong>dere fahren lassen und nur aufeines unser Augenmerk richten: wie wir unserLeben recht einrichten. Wenn wir das tun,d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n uns selbst der Teufel nichts <strong>an</strong>haben,sondern er wird uns nur um so mehrnützen, indem er uns nämlich zur Wachsamkeitver<strong>an</strong>laßt. So rüttelte <strong>Paulus</strong> auch <strong>die</strong>Ephemer d<strong>ad</strong>urch zur Wachsamkeit auf, daßer ihnen <strong>die</strong> wilde Angriffslust jenes Fein<strong>des</strong>schilderte. Wir aber liegen da und schnarchen,obzwar wir es doch mit einem sosc<strong>hl</strong>immen Feind zu tun haben. Wenn wireine Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge neben unserem Bette verstecktwußten, würden wir uns alle Mühe geben,sie unschädlich zu machen. Der Teufel aberhat seinen Sc<strong>hl</strong>upfwinkel gar in unserer Seele,und wir vermeinen in keiner Gefahr zuschweben, sondern legen uns <strong>zum</strong> Sc<strong>hl</strong>afenhin. Schuld dar<strong>an</strong> ist, daß wir ihn mit unserenleiblichen Augen nicht sehen. Und dochsollten wir ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen um so wachsamersein; denn vor einem sichtbaren Feindek<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> sich leicht hüten, dem unsichtbarendagegen k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nicht leicht entrinnen,wenn m<strong>an</strong> nicht gut gewappnet ist. Nochdazu versteht es <strong>die</strong>ser Feind, nicht ins Gesichtseine Angriffe zu machen — da wäre erja schnell gef<strong>an</strong>gen —, sondern oft spritzt ersein tödliches Gift unter dem Anscheine derFreundschaft ein. So ver<strong>an</strong>laßte er das Weib<strong>des</strong> Job, daß sie unter der Maske der Liebejenen sc<strong>hl</strong>immen Rat erteilte. So stellte er sichin der Unterredung mit Adam besorgt undgönnerhaft, indem er sprach: „Die Augenwerden euch aufgehen <strong>an</strong> dem Tage, <strong>an</strong> welchemihr essen werdet von dem Baume“ 146 .So verleitete er auch den Japhte unter demScheine der Frömmigkeit, seine Tochter zutöten und jenes ungesetzliche Opfer zu bringen.— Siehst du da seine listigen Sc<strong>hl</strong>eichwege?Siehst du seine verschiedenartig verkappteArt, uns <strong>an</strong>zugreifen? Seidarum auf der Hut und wappne dich allseitsmit geistlichen Waffen! Lerne seine Kunstgriffegenau kennen, damit du nicht von ihmgef<strong>an</strong>gen genommen wer<strong>des</strong>t, sondern ihnselbst leicht <strong>zum</strong> Gef<strong>an</strong>genen machest. Sowurde auch <strong>Paulus</strong> d<strong>ad</strong>urch seiner Herr, daßer ihn, genau durchschaute. Denn er spricht:„Seine Ansc<strong>hl</strong>äge sind uns nicht unbek<strong>an</strong>nt“147 .So wollen denn auch wir uns Mühe geben,seine Nachstellungen kennen zu lernen undzu fliehen, damit wir den Sieg über ihn davontragen,im gegenwärtigen Leben wie imzukünftigen als Sieger ausgerufen werdenund unvergänglicher Güter teilhaftig werdendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus; ihm sei zugleich mit dem Vaterund dem Hl. Geiste Ruhm, Herrlichkeitund Ehre jetzt und allezeit bis in Ewigkeit.Amen. ZWÖLFTE HOMILIE. Kap. VI, V. 5—18.1.Kap. VI, V. 5—18.V. 5: „Denn wenn wir mit ihm zusammengepfl<strong>an</strong>ztsind zur Ähnlichkeit seines To<strong>des</strong>, werdenwir es auch in der Auferstehung sein.“Ich wiederhole hier zunächst eine Bemerkung,<strong>die</strong> ich schon früher einmal gemachthabe, nämlich daß der Apostel beständig sittlicheErmahnungsreden einflicht. Er geht hiernicht so vor wie in den <strong>an</strong>deren <strong>Briefe</strong>n, <strong>die</strong>er gewöhnlich in zwei Teile gliedert, derenersten er der Erörterung von Glaubenslehren146 Gen. 3, 5.107147 2 Kor, 2, 11.


108bestimmt, den zweiten der sittlichen Ermahnung.Hier hält er es nicht so, sondern img<strong>an</strong>zen <strong>Briefe</strong> mischt er bei<strong>des</strong> durchein<strong>an</strong>der,damit seine Rede eine gefällige Formbekomme. — Von zweierlei Sterben sprichter hier, von zweierlei Tod; der eine sei vonChristus in der Taufe bewirkt worden, der<strong>an</strong>dere müsse von uns durch unser sittlichesStreben herbeigeführt werden. Daß unserefrüheren Sünden begraben worden sind, istGottes Geschenk; daß wir nach der Taufe für<strong>die</strong> Sünde tot bleiben, das soll das Werk unserereigenen sittlichen Arbeit sein, wenn wirdabei auch vielfältig <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>enhilfe Gotteserfahren. Die Taufe hat nämlich nicht bloß<strong>die</strong> Kraft, <strong>die</strong> Verfe<strong>hl</strong>ungen <strong>des</strong> verg<strong>an</strong>genenLebens zu tilgen, sondern sie beugt auch denzukünftigen vor. Wie du nun zur Tilgungjener den Glauben notwendig hattest, somußt du, um dich nicht mit späteren Sündenzu beflecken, einen Gesinnungsw<strong>an</strong>del <strong>an</strong>den Tag legen. Das rät der Apostel, wenn erspricht: „Denn wenn wir mit ihm zusammengepfl<strong>an</strong>ztsind zur Ähnlichkeit seinesTo<strong>des</strong>, werden wir es auch in der Auferstehungsein.“ — Siehst du nicht, wie der Apostelden Zuhörer d<strong>ad</strong>urch zu gewinnen trachtet,daß er ihn Gott, seinem Herrn, <strong>an</strong> <strong>die</strong> Seitestellt und eine möglichst große Ähnlichkeitzwischen Gott und ihm aufzuweisen sichbemüht? Darum sagt er nicht „<strong>zum</strong> Tode“,sondern „zur Ähnlichkeit <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“, umEinwänden vorzubeugen; denn nicht das Wesen <strong>des</strong> Menschen ist gestorben,sondern der Mensch, soweit er sündigist, d. h. seine Sündhaftigkeit. Er sagtauch nicht: „Wenn wir <strong>die</strong> Ähnlichkeit <strong>des</strong>To<strong>des</strong> mitein<strong>an</strong>der gemeinsam haben“, sondernwas? „Wenn wir zusammengepfl<strong>an</strong>ztsind.“ Durch das Wort „pfl<strong>an</strong>zen“ legt er denGed<strong>an</strong>ken <strong>an</strong> eine Frucht nahe. Wie nämlichdas Begrabenwerden <strong>des</strong> Leibes Christi in <strong>die</strong>Erde <strong>die</strong> Erlösung der Welt als Frucht gebrachthat, so hat unser Begrabenwerden indas Wasser der Taufe als Frucht <strong>die</strong> Gerechtigkeit,Heiligung, Gotteskindschaft und tausend<strong>an</strong>dere Güter gebracht; als weiteres Geschenkwird sie uns noch <strong>die</strong> Auferstehungbringen. Weil wir nun begraben worden sindin das Wasser, er aber in <strong>die</strong> Erde, wir derSünde nach, er dem Leibe nach, darum sagtder Apostel nicht: „zusammengepfl<strong>an</strong>zt <strong>zum</strong>Tode“, sondern: „zur Ähnlichkeit <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“.Ein Tod nämlich ist das eine wie das<strong>an</strong>dere, aber nicht in derselben Beziehung. —Wenn er sagt, wir seien zusammengepfl<strong>an</strong>zt<strong>zum</strong> Tode und werden es auch „zur Auferstehung“sein, so meint er hier <strong>die</strong> zukünftigeAuferstehung. Oben hatte er vom Tode gesagt:„Oder wisset ihr nicht, Brüder, daß, soviele wir ihrer getauft sind in Christus, aufseinen Tod getauft sind?“ Da hatte er nichtklar von der Auferstehung gesprochen, sondernvon dem Lebensw<strong>an</strong>del nach der Taufe;er hatte nämlich befo<strong>hl</strong>en, in einem neuenLeben zu w<strong>an</strong>deln. Er nimmt darum hier <strong>die</strong>Rede von demselben Gegenst<strong>an</strong>d wieder aufund verkündet uns <strong>die</strong> zukünftige Auferstehung.Und damit m<strong>an</strong> wisse, daß er nichtvon der Auferstehung der Taufe spreche,sondern von der unseres Leibes, darum fährter nach den Worten „wenn wir zusammengepfl<strong>an</strong>ztsind zur Ähnlichkeit seines To<strong>des</strong>“nicht fort, daß wir es auch sein werden zurÄhnlichkeit der Auferstehung, sondern (einfach):„in der Auferstehung“. Damit m<strong>an</strong>nicht sagen könne; „Wie? Wenn wir nichtgestorben sind, wie er gestorben ist, sollenwir da auferstehen, wie er auferst<strong>an</strong>den ist?Darum sagte er, wo er vom Tode spricht,nicht: „zusammengepfl<strong>an</strong>zt im Tode“, sondern:„zur Ähnlichkeit <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“; wo eraber von der Auf- erstehung spricht,sagt er nicht: „zur Ähnlichkeit der Auferstehung“,sondern: (wir werden ihm gleich sein)„in der Auferstehung selbst“ 148 . Er sagt auchnicht: „wir sind es geworden“, sondern: „wirwerden es sein“, um durch <strong>die</strong>se Redewendungwieder zu verstehen zu geben, daß <strong>die</strong>148 Der Apostel sagt übrigens tatsäc<strong>hl</strong>ich „zur Ähnlichkeit der Auferstehung“,wenn auch nicht wörtlich, so doch dem Sinne nach; er läßt nur dasWort „zur Ähnlichkeit“ den Leser ergänzen, wo er von der Auferstehungspricht.


Auferstehung (von der er spricht) noch nichtstattgefunden hat, sondern erst statthabenwird.Um seine Rede glaubwürdig zu machen, legter dar, daß <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere (geistige) Auferstehungim Diesseits schon vor jener <strong>an</strong>dern(leiblichen) stattgefunden habe, damit m<strong>an</strong>auf Grund der schon geschehenen <strong>an</strong> <strong>die</strong> zukünftigeglaube. Nachdem er nämlich gesagthat, daß wir zusammengepfl<strong>an</strong>zt sein werdenin der Auferstehung, fährt er fort:V. 6: „Das wissen wir, daß unser alter Menschist mitgekreuzigt worden, damit der Leib derSünde vernichtet werde.“Hiermit spricht der Apostel zugleich denGrund und den Beweis der zukünftigen Auferstehungaus. Er sagt nicht: „ist gekreuzigtworden“, sondern: „ist mitgekreuzigt worden“,und stellt damit der Taufe das Kreuz<strong>an</strong> <strong>die</strong> Seite. <strong>In</strong> demselben Sinne hat er auchoben gesagt: „Wir sind zusammengepfl<strong>an</strong>ztworden zur Ähnlichkeit seines To<strong>des</strong>“. —„Damit der Leib der Sünde vernichtet werde“;er meint damit nicht <strong>die</strong>sen (unsern)Leib, sondern <strong>die</strong> Sünde in ihrem g<strong>an</strong>zenUmf<strong>an</strong>ge. Wie er nämlich (<strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dernStelle) 149 das Böse überhaupt „den alten Menschen“nennt, so bezeichnet er im gleichenSinne das aus verschiedenen Teilerscheinungenbestehende Böse als „den Leib“ <strong>die</strong>ses(alten) Menschen. Daß <strong>die</strong>se Auslegung nichteine bloße Mutmaßung ist, das magst du ausdem entnehmen, was <strong>Paulus</strong> weiter sagt.Nach den Worten: „damit der Leib der Sündevernichtet werde“, fährt er fort:„und wir nicht mehr der Sünde <strong>die</strong>nen“, (d.h.): Ich verl<strong>an</strong>ge ein Totsein nicht in demSinne von Nichtmehrsein oder Sterben, sondernvon Nichtmehrsündigen. — Im folgendenmacht er <strong>die</strong>sen Ged<strong>an</strong>ken noch klarer.V. 7: „Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertigtvon der Sünde.“Vom Menschen, in jedem Sinne genommen,sagt er das. Wie der (dem Leibe nach) Ge-149 Kol. 3, 9.109storbene, wenn er tot daliegt, vom fernerenSündigen bewahrt bleibt, so soll auch der,welcher der Taufe entstiegen ist, nachdem ereinmal (der Sünde) abgestorben ist, in jederBeziehung tot bleiben für <strong>die</strong> Sünde.2.Wenn du also in der Taufe gestorben bist, sobleibe tot; kein Toter k<strong>an</strong>n ja mehr sündigen.Wenn du dennoch sündigst, so machst dudas Geschenk Gottes zunichte. — Nachdemder Apostel eine solche (entsagungsvolle)Lebensweisheit von uns verl<strong>an</strong>gt hat, stellt erauch gleich <strong>die</strong> Siegeskrone in Aussicht, indemer spricht:V. 8: „Wenn wir aber mit Christas gestorbensind.“Schon das ist der Siegeskronen größte, eingemeinsames Los zu haben mit dem Herrn.Außerdem aber, sagt er, gebe ich dir nocheinen <strong>an</strong>dern Kampfpreis. Welchen? — Dasewige Leben.„… so glauben wir“, fährt er fort, „daß wirauch leben werden mit ihm.“— Und woraus erhellt das? —V. 9: „Weil Christus, auferweckt von den Toten,nicht mehr stirbt.“Beachte hier wieder <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>agfertigkeit <strong>des</strong><strong>Paulus</strong>, und wie er den Beweis führt vomGegenteil. Es war nämlich <strong>an</strong>zunehmen, daßm<strong>an</strong>che bei den Worten „Kreuz“ und „Tod“erschrecken würden; darum zeigt er, daßm<strong>an</strong> sich ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen vielmehr freuendürfe. Sc<strong>hl</strong>ieße nicht, will er sagen, daraus,daß Christus gestorben ist, er sei sterblich.Ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen bleibt er unsterblich. DesTo<strong>des</strong> Tod ist sein Tod geworden;und nachdem er gestorben ist, stirbt er eben<strong>des</strong>wegen nicht mehr; denn er ist ja <strong>die</strong>senTodV. 10: „Für <strong>die</strong> Sünde gestorben“.— Was heißt: „für <strong>die</strong> Sünde“? — Das heißt,er war ihr nicht unterworfen, sondern er


starb unserer Sünde wegen. Er starb dafür,daß er unsere Sünde hinwegnehme, daß erihr <strong>die</strong> Nerven zerschneide und ihr alle Kraftbenehme. — Siehst du, wie der Apostel(durch <strong>die</strong>se Begründung) auch Furcht einjagt?Wenn Christus nicht ein zweites Malstirbt, so gibt es auch kein zweites Taufb<strong>ad</strong>;wenn es aber kein zweites Taufb<strong>ad</strong> gibt,d<strong>an</strong>n halte dich fern von der Sünde! Das allessagt der Apostel, um jenem Einw<strong>an</strong>d zu begegnen:„Wir wollen Böses tun, damit Gutesdaraus hervorgehe“, und dem <strong>an</strong>dern: „Wirwollen verharren in der Sünde, damit <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e sich um so mehr erweise.“ Um einesolche (irrige) Meinung mit der Wurzel auszurotten,stellt er alle <strong>die</strong>se Sätze auf.„<strong>In</strong>soweit er aber lebt, lebt er Gott“,fährt er fort; d. h. er lebt, ohne eine Auflösungbefürchten zu müssen, da er nicht mehrunter der Herrschaft <strong>des</strong> To<strong>des</strong> steht. Dennwenn er das erstemal den Tod erlitten hat,obwo<strong>hl</strong> er ihm nicht unterworfen war, sondernwegen der Sünde <strong>an</strong>derer, so wird erum so weniger jetzt sterben, nachdem er <strong>die</strong>Erlösung von der Sünde gebracht hat. Dasselbesagt der Apostel im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hebräer:„Einmal ist Christus nach Ablauf der(von Gott festgesetzten) Zeit erschienen, um<strong>die</strong> Sünde durch sein Opfer hinwegzunehmen.Und so wie es den Menschen bestimmtist, nur einmal zu sterben, so ist auch Christusnur einmal geopfert worden, um <strong>die</strong>Sünden vieler zu tilgen; das zweitemal wirder ohne Beziehung auf <strong>die</strong> Sünde denen <strong>zum</strong>Heil erscheinen, <strong>die</strong> ihn erwarten“ 150 . Damitmacht der Apostel einerseits <strong>die</strong> Kraft <strong>des</strong>Lebens nach Gott, <strong>an</strong>dererseits <strong>die</strong> Gewaltder Sünde begreiflich. Die Kraft <strong>des</strong> Lebensnach Gott (zeigt sich darin), daß Christusnicht mehr stirbt; <strong>die</strong> Gewalt der Sünde darin,daß <strong>die</strong>selbe den Tod auch überden gebracht hat, der (selbst) ohne Sündewar; wie sollte sie d<strong>an</strong>n <strong>die</strong> nicht zugrunderichten, <strong>die</strong> ihr unterworfen sind?150 Hebr. 9, 26—28.110Bisher hat er von dem Leben Christi gesprochen;damit nun nicht jem<strong>an</strong>d einwende:Was hat das für einen Bezug auf uns? fährt erfort:V. 11: „So haltet auch ihr euch für abgestorbender Sünde, lebend aber für Gott.“Treffend sagt der Apostel: „Haltet euch dafür“;denn augenscheinlich darstellen läßtsich das bisher Gesagte nicht. — Und wofürsollen wir uns halten? „Für abgestorben derSünde, lebend aber für Gott in Christus Jesus,unserem Herrn.“ Wer nämlich so lebt, derfaßt alle Tugend in sich, da er ja Jesus selbst<strong>zum</strong> Bun<strong>des</strong>genossen hat; das bedeutet das„in Christus“. Denn wenn er Tote auferweckt,wird er um so mehr imst<strong>an</strong>de sein,Lebende zu erhalten.V. 12: „Es herrsche also nicht <strong>die</strong> Sünde in euremsterblichen Leibe, so daß ihr etwa derselbengehorchet, indem ihr den Begierden <strong>des</strong>selbennachgebet.“— Der Apostel sagt nicht: „Es bleibe nicht amLeben das Fleisch“; auch nicht: „Es sei nichtkräftig“, sondern: „Die Sünde herrschenicht“. Christus ist ja nicht gekommen, <strong>die</strong>(mensc<strong>hl</strong>iche) Natur zu vernichten, sonderndem Willen <strong>die</strong> rechte Richtung zu geben.Ferner will der Apostel zu verstehen geben,daß wir nicht mit unwiderste<strong>hl</strong>icher Gewaltunter dem Joch der Sünde festgehalten werden,sondern mit freiem Willen; darum sagter nicht: „Die Sünde soll nicht eine Gewaltherrscherinsein“, was auf eine unwiderste<strong>hl</strong>icheNotwendigkeit hindeutete, sondern nur„sie soll nicht herrschen“. Es wäre ja auchwidersinnig, wenn wir, fürs Himmelreichbestimmt, <strong>die</strong> Sünde als Gebieterin über unshätten; wenn wir, zur Mitherrschaft mitChristus berufen, als Gef<strong>an</strong>gene der Sündeerfunden würden. Das wäre so, wie wennjem<strong>an</strong>d sich <strong>die</strong> Krone (<strong>die</strong> er etwa trägt)vom Haupte risse und lieber der Sklave eineswahnsinnigen Weibes, einer in Lumpen gehülltenBettlerin sein wollte. — Beachte ferner,wie der Apostel das (scheinbar) Schwere,nämlich der Sünde Herr zu werden,


als leicht darstellt und <strong>die</strong> Mühe durch einenTrost versüßt, indem er sagt: „<strong>In</strong> eurem sterblichenLeibe“. D<strong>ad</strong>urch deutet er <strong>an</strong>, daß esnur eine Zeitl<strong>an</strong>g zu kämpfen gilt und daß esbald zu Ende sein wird. Zugleich bringt eruns damit <strong>die</strong> Übel aus der früheren (Para<strong>die</strong>ses-)Zeit und <strong>die</strong> Wurzel <strong>des</strong> To<strong>des</strong> inErinnerung; denn von daher, vom Anf<strong>an</strong>g(der Menschengeschichte) her schreibt essich, daß wir sterblich sind. Aber es ist auchmöglich, einen sterblichen Leib zu haben unddoch nicht zu sündigen. Siehst du da <strong>die</strong>Macht der Gn<strong>ad</strong>e Christi? Adam kam <strong>zum</strong>Falle, als er noch nicht einen sterblichen Leibhatte, du dagegen k<strong>an</strong>nst dereinst gekröntwerden, obzwar du einen dem Tode verfallenenund ihm unterworfenen Leib hast. —Und wie herrscht <strong>die</strong> Sünde? fragt er. Nichtinfolge ihrer ihr innewohnenden Kraft, sonderninfolge deiner Lässigkeit. Darum machter nach den Worten „sie soll nicht herrschen“<strong>die</strong> Art <strong>die</strong>ser Herrschaft deutlich, indem ersagt: „so daß ihr etwa derselben (der Sünde)gehorchet, indem ihr den Begierden <strong>des</strong>selben(<strong>des</strong> Leibes) nachgebet“. — Es ist nämlichkeine Ehre, dem Leibe im Übermaße alleszu gewähren, sondern es ist <strong>die</strong>s <strong>die</strong> größteKnechtschaft und der Höhepunkt derSchmach. Denn wenn der Leib alles tun darf,was er will, d<strong>an</strong>n bringt er sich selbst um jedeFreiheit; wenn er dagegen im Zaumegehalten wird, d<strong>an</strong>n wahrt er am meistenseine eigene Würde.V. 13: „Und gebt eure Glieder der Sünde nichthin zu Waffen der Ungerechtigkeit, sondern zuWaffen der Gerechtigkeit.“3.Der Leib steht also in der Mitte zwischenSünde und Tugend, gera<strong>des</strong>o wie auch <strong>die</strong>Waffen. Die Werke der einen wie der <strong>an</strong>dernvollziehen sich durch den Gebrauch. So rüstensich der Soldat, der für das Vaterl<strong>an</strong>d111kämpft, und der Dieb, der sich gegen <strong>die</strong>Hausbewohner bewaffnet, mit denselbenWaffen. Nicht <strong>die</strong> Waffenrüstung ver<strong>die</strong>ntT<strong>ad</strong>el, sondern <strong>die</strong>, welche sich ihrer <strong>zum</strong>Bösen be<strong>die</strong>nen. Dasselbe ist auch von demFleische zu sagen; es wird <strong>die</strong>ses oder jenesnach der Zwecksetzung der Seele, nicht nachseiner eigenen inneren Beschaffenheit.So wird das Auge, wenn es fremdeSchönheit mit Wollust betrachtet, eine Waffeder Ungerechtigkeit, nicht durch seine Tätigkeit<strong>an</strong> und für sich Sache <strong>des</strong> Auges ist es,zu schauen, doch nicht sündhaft zu schauen—, sondern durch eine sündhafte Absicht;wenn du es dagegen im Zaume hältst, sowird es eine Waffe der Gerechtigkeit. Dasselbegilt von der Zunge, von den Händen undallen <strong>an</strong>dern Gliedmaßen. — Treffend nenntder Apostel <strong>die</strong> Sünde „Ungerechtigkeit“;denn wer sündigt, der fügt sich selbst oderseinem Nächsten ein Unrecht zu, mehr sichselbst als dem Nächsten. — Nun wendet sichder Apostel von der Sünde ab und der Tugendzu, indem er sagt:„Sondern stellet euch Gott zur Verfügung alssolche, <strong>die</strong> vom Tode <strong>zum</strong> Leben erwacht sind.“— Beachte, wie der Apostel schon durch denbloßen Gebrauch der (zwei) Worte eineMahnung erteilt. Er spricht dort von Sünde,hier von Gott; er weist darauf hin, welcherUnterschied zwischen <strong>die</strong>sen beiden Herrschernbesteht und stellt damit den Soldatenals aller Überlegung bar hin, welcher Gottverläßt, um sich unter <strong>die</strong> Herrschaft derSünde zu begeben. — Aber nicht allein d<strong>ad</strong>urch,sondern auch durch <strong>die</strong> folgendenWorte bekräftigt er dasselbe, indem erspricht: „als solche, <strong>die</strong> vom Tode <strong>zum</strong> Lebenerwacht sind“. D<strong>ad</strong>urch setzt er das Verderbender Sünde und <strong>die</strong> Größe <strong>des</strong> Gn<strong>ad</strong>engeschenkesGottes ins Licht. Bedenkt, sprichter, wer ihr wäret, und was ihr gewordenseid! Wer wäret ihr? Tote, dem unvermeidlichenUnterg<strong>an</strong>ge preisgegeben; es war niem<strong>an</strong>d,der euch hätte helfen können. Undwas seid ihr aus jenen Toten geworden? Le-


ende, unsterblichen Lebens teilhaftig. Unddurch wen? Durch Gott, der alles vermag. Esist darum nur recht und billig, daß ihr euchunter seinen Befe<strong>hl</strong> stellt mit einer solchenBereitwilligkeit, wie es wahrscheinlich Leutetun würden, <strong>die</strong> von den Toten <strong>zum</strong> Lebenerweckt worden wären. —„Und eure Glieder zu Waffen der Gerechtigkeit.“Also ist der Leib nichts Böses, da er ja aucheine Waffe der Gerechtigkeit werdenk<strong>an</strong>n. <strong>In</strong>dem der Apostel das Wort „Waffe“gebraucht, gibt er zu verstehen, daß unsein schwerer Krieg bevorstehe. Dazu brauchenwir eine starke Waffenrüstung, einenhochgemuten und kriegskundigen Geist, vorallem aber einen Feldherrn. Nun, ein solcherist uns erst<strong>an</strong>den, immer bereit <strong>zum</strong> Mitkämpfen;allzeit unbesiegbar, reicht er unsstarke Waffen. Es erübrigt nur ein fester Wille,<strong>die</strong>se zu führen, wie es sich gehört, demFeldherrn Gehorsam zu leisten und <strong>die</strong> Waffenfür das Vaterl<strong>an</strong>d einzusetzen. — Nachdemder Apostel uns also so große Dinge vorAugen gehalten hat, indem er <strong>an</strong> Waffen undSc<strong>hl</strong>acht und Kriege erinnert, ermuntert erwieder den Soldaten und hebt seinen Mut,indem er spricht:V. 14: „Die Sünde wird nicht mehr über euchHerr sein; denn ihr steht nicht mehr unter demGesetz, sondern unter der Gn<strong>ad</strong>e.“— Wenn <strong>die</strong> Sünde nicht mehr über uns Herrsein wird, warum mahnst du so inständig:„Die Sünde herrsche nicht in eurem sterblichenLeibe“, und: „Gebet eure Glieder derSünde nicht hin zu Waffen der Ungerechtigkeit“?Was hat <strong>die</strong>ser Satz also für einenSinn? — Der Apostel wirft ihn <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stellehin wie ein Samenkorn, das er erst späterzur Entfaltung bringen, d. h. wofür er denvollen Beweis führen will. Was will also <strong>die</strong>serSatz besagen? — Unser Leib unterlag vorder Ankunft Christi leicht der Sünde; dennzugleich mit dem Tode hatte ein g<strong>an</strong>zerSchwarm von Leidenschaften seinen Einzugin ihn gehalten. Darum fiel ihm der Wettlaufnach der Tugend nicht leicht. Noch fe<strong>hl</strong>te112ihm ja der Hl. Geist als Beist<strong>an</strong>d, noch fe<strong>hl</strong>teihm ja <strong>die</strong> Taufe, welche (<strong>die</strong> Sünde) ertötet.Wie ein ungezügeltes Roß lief er zwar, irrteaber oft ab; denn das Gesetz tat zwar kund,was zu tun und was zu lassen sei, aber außerseinen mahnenden Worten lieh es dem Ringendennichts. Nach Christi Ankunft waraber der Ringkampf erleichtert. Darum wurdenuns größere Aufgaben gestellt, da uns jaauch größere Hilfe zuteil wird. <strong>In</strong> <strong>die</strong>semSinne sprach auch Christus: „Wenn eure Gerechtigkeitnicht größer sein wird als <strong>die</strong> derSchrift- gelehrten und Pharisäer, sowerdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“151 . Allein <strong>die</strong>sen Ged<strong>an</strong>ken führt derApostel im folgenden weiter aus. An <strong>die</strong>serStelle deutet er ihn nur kurz <strong>an</strong>. Hier führt eraus, daß <strong>die</strong> Sünde nicht <strong>die</strong> Oberh<strong>an</strong>d überuns gewinnen k<strong>an</strong>n, wenn wir uns nichtselbst unter ihr Joch bücken. Für uns gibt esja nicht bloß ein Gesetz, das befie<strong>hl</strong>t, sondernauch Gn<strong>ad</strong>e, <strong>die</strong> verg<strong>an</strong>gene Sünden tilgtund gegen zukünftige Kraft gibt. Das Gesetzverhieß <strong>die</strong> Krone nach den Kampfesmühen,<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e krönt zuerst den Kämpfer undführt ihn erst d<strong>an</strong>n auf den Kampfplatz. Mirscheint übrigens, daß hier der Apostel nichtdas Leben <strong>des</strong> Gläubigen, wie es in Wirklichkeitist, im Auge hat, sondern einen Vergleichzwischen Taufe und Gesetz <strong>an</strong>stellenwill, wie er es <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>deren Stelle tut, woer sagt: „Der Buchstabe tötet, der Geist abermacht lebendig“ 152 . Denn das Gesetz bringt<strong>die</strong> Übertretung zur Anklage, <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e aberspricht von der Übertretung los. Wie alsojenes durch seine Anklage <strong>die</strong> Sünde feststellt,so bewirkt <strong>die</strong>se durch <strong>die</strong> Verzeihung,<strong>die</strong> sie gewährt, daß wir nicht mehr unterdem Joch der Sünde schmachten. Auf <strong>die</strong>seWeise bist du in zweifacher Hinsicht erlöstvon der Herrschaft der Sünde; einmal d<strong>ad</strong>urch,daß du nicht unter dem Gesetzestehst, und d<strong>an</strong>n d<strong>ad</strong>urch, daß du der Gn<strong>ad</strong>egenießest.151 Matth. 5, 20.152 2. Kor. 8, 6.


4.113Nachdem nun der Apostel den Zuhörerdurch <strong>die</strong>se Erörterung hat aufatmen lassen,stärkt er ihn weiter, indem er einen Einwurfin Form einer Ermahnung be<strong>an</strong>twortet. Ersagt so:V. 15: „Wie nun? Werden wir sündigen, weilwir nicht unter dem Gesetze sind, sondern unterder Gn<strong>ad</strong>e? Das sei ferne!“— Zuerst be<strong>die</strong>nt er sich einer starken Verneinung,weil ja so etwas doch zu unsinnigwäre; d<strong>an</strong>n lenkt er <strong>die</strong> Rede über in eineErmahnung und gibt zu verstehen, daß essich bei <strong>die</strong>sem Kampfe um etwas g<strong>an</strong>zLeichtes h<strong>an</strong>dle. Er sagt so: V. 16:„Wisset ihr nicht, daß ihr Diener <strong>des</strong>sen seid, demihr euch hingegeben habt <strong>zum</strong> Gehorsam und demihr gehorcht, entweder (Diener) der Sünde <strong>zum</strong>Tode oder <strong>des</strong> Gehorsams zur Gerechtigkeit?“— Ich will nicht reden, spricht der Apostel,von der Hölle und der großen Strafe im Jenseits,sondern nur von der Sch<strong>an</strong>de, <strong>die</strong>schon im Diesseits darin liegt, daß ihr Sklavenwerdet, und zwar freiwillig Sklaven,Sklaven der Sünde, und das um einen solchenLohn, nämlich daß ihr wieder sterbenmüßt. Denn wenn <strong>die</strong> Sünde vor der Taufeden Tod <strong>des</strong> Leibes bewirkt hat und wennzur Heilung <strong>die</strong>ser Wunde erforderlich gewesenist, daß der Herr aller Dinge in denTod ging, um das Übel gut zu machen, waswird sie erst für einen Sch<strong>ad</strong>en <strong>an</strong>richten,wenn du dich von neuem, und zwar freiwillig,unter ihr Joch begibst, nachdem du einsolches Gn<strong>ad</strong>engeschenk und <strong>die</strong> Freiheitempf<strong>an</strong>gen hattest? — Lauf also nicht <strong>die</strong>semAbgrund zu! Verrate nicht freiwillig dichselbst! Im Kriege kommt es oft vor, daß <strong>die</strong>Soldaten gegen ihren Willen verraten werden;hier aber k<strong>an</strong>n dich niem<strong>an</strong>d bezwingen,wenn du nicht selbst <strong>zum</strong> Überläuferwirst. — Nachdem der Apostel seinen Zuhörernvom St<strong>an</strong>dpunkte der bloßen Schicklichkeitzugesetzt hat, versetzt er sie inFurcht durch den Hinweis auf <strong>die</strong> Kampfpreise.Er stellt ihnen nämlich den Lohn beider— der Tugend und der Sünde — vor Augen:Gerechtigkeit und Tod, und zwar nichtden leiblichen Tod, sondern einen Tod, derweit sc<strong>hl</strong>immer ist als <strong>die</strong>ser. Denn wennChristus nicht mehr stirbt, wer wird <strong>die</strong>senTod aufheben? Niem<strong>an</strong>d. Also folgt der Sündemit Notwendigkeit (ewige) Bestrafungund Rache; denn es gibt ja d<strong>an</strong>n keinen sinnlichwahrnehmbaren Tod mehr wie im Diesseits,der dem Leben <strong>des</strong> Leibes ein Ziel setzt,indem er ihn von der Seele trennt „Der letzteFeind ist ja abget<strong>an</strong>, der Tod“ 153 . Darum ist<strong>die</strong> Strafe unsterblich. Sie trifft aber nicht <strong>die</strong>,welche (Gott) gehorsam gewesen sind; sondernim Gegenteil, ihr Lohn wird Gerechtigkeitsein und alles Gute, das <strong>die</strong>ser entsproßt. V. 17: „Gott aber sei D<strong>an</strong>k, daß ihr,ehedem Knechte der Sünde, nunmehr aber gehorsamgeworden seid von Herzen der Form der Lehre,welcher ihr übergeben worden seid.“Der Apostel hat seine Zuhörer durch denHinweis auf ihre Stellung als Diener niedergedrückt;er hat sie in Furcht gesetzt durchden Hinweis auf <strong>die</strong> Kampfpreise und ihnenzugleich eine Mahnung erteilt; nun richtet ersie wieder auf durch <strong>die</strong> Erinnerung <strong>an</strong> <strong>die</strong>empf<strong>an</strong>genen Wo<strong>hl</strong>taten. Darum weist erdarauf hin, daß sie von großen Übeln befreitworden seien, und zwar nicht durch eigeneArbeit, und daß das noch Bevorstehende umso leichter sein werde. Gleichwie jem<strong>an</strong>d einenGef<strong>an</strong>genen, den er von einem grausamenTyr<strong>an</strong>nen befreit hat, <strong>an</strong> seine (frühere)arge Bedrückung erinnert, wenn er ihnbestimmen will, nicht mehr zu seinem Bedrückerzurückzukehren, so weist auch <strong>Paulus</strong>seine Zuhörer mit Nachdruck hin auf <strong>die</strong>Übel, <strong>die</strong> ihnen (als Folge der Sünde) zugestoßenwaren; er tut <strong>die</strong>s in Form einerD<strong>an</strong>ksagung <strong>an</strong> Gott. Es lag ja in keines Men-153 1 Kor. 15, 26.


schen Macht, will er sagen, euch von allenjenen Übeln zu befreien, sondern Gott gebührtder D<strong>an</strong>k, der es gewollt und gekonnthat. — Treffend sagt er auch: „Ihr seid gehorsamgeworden von Herzen.“ Ihr seid nichtdurch innere Notwendigkeit noch durch äußereGewalt gezwungen worden, sondern ihrhabt freiwillig und mit Begeisterung denneuen Weg betreten. Darin liegt ein Lob undzugleich ein T<strong>ad</strong>el. Denn wenn ihr freiwilliggekommen seid ohne irgendeinen Zw<strong>an</strong>g,wie sollt ihr Verzeihung, wie sollt ihr Entschuldigungver<strong>die</strong>nen, wenn ihr auf denfrüheren Weg zurückkehrt? — Damit m<strong>an</strong>ferner ersehe, daß das g<strong>an</strong>ze nicht einzig undallein ihrem guten Willen, sondern auch derGn<strong>ad</strong>e Gottes zu d<strong>an</strong>ken sei, fährt er nachden Worten „gehorsam geworden seid vonHerzen“ fort: „der Form der Lehre, welcherihr übergeben worden seid“. Der Gehorsam„von Herzen“ bringt das freiwillige <strong>zum</strong>Ausdruck, das „übergeben worden sein“deutet den Beist<strong>an</strong>d Gottes <strong>an</strong>. —Was ist das,„<strong>die</strong> Form der Lehre? Recht zu leben undeinen sehr guten sittlichen W<strong>an</strong>del zu führen. V. 18: „Befreit von der Sünde, seid ihrin den Dienst der Gerechtigkeit gestellt worden.“— Zwei Geschenke Gottes nennt hier derApostel: Daß wir von der Sünde befreit wordensind, und daß wir der Gerechtigkeit <strong>die</strong>nen,was besser ist als alle Freiheit. Gott hatmit uns so geh<strong>an</strong>delt, wie wenn jem<strong>an</strong>d einWaisenkind, das von Feinden in ein frem<strong>des</strong>L<strong>an</strong>d versc<strong>hl</strong>eppt war, nicht bloß aus der Gef<strong>an</strong>genschaftbefreite, sondern ihm auch einzärtlich besorgter Vater würde und es zurhöchsten Würde gel<strong>an</strong>gen ließe. Dasselbe istuns widerfahren. Gott hat uns nicht bloß vonden alten Übeln befreit, sondern auch einem(neuen) engelgleichen Leben zugeführt; erhat uns <strong>die</strong> Bahn für einen vollkommenenW<strong>an</strong>del geebnet, er hat uns unter den Schutzder Gerechtigkeit gestellt, <strong>die</strong> alten Übel beseitigt,den alten Menschen ertötet und unszu unsterblichem Leben geführt. Laßt unsalso auf <strong>die</strong>ser Lebensbahn verharren! Es gibt114nämlich viele, <strong>die</strong> zu atmen und zu gehenscheinen, aber trotzdem sich in einemsc<strong>hl</strong>immeren Zust<strong>an</strong>d befinden als Tote.5.Es gibt übrigens verschiedene Arten <strong>des</strong> Totseins.Die eine Art ist <strong>die</strong> dem Leibe nach.Nach ihr war Abraham tot; und er war dochauch nicht tot, denn es heißt von ihm: „Gottist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen“154 . Eine <strong>an</strong>dere Art ist <strong>die</strong> <strong>des</strong> Totseinsder Seele nach; <strong>die</strong>se meint Christus,wenn er spricht: „Lasset <strong>die</strong> Toten ihre Totenbegraben“ 155 . Eine dritte, und zwar lobenswerteArt ist <strong>die</strong>, welche der christlichen Lebensweisheitentstammt; von ihr sagt der <strong>hl</strong>.<strong>Paulus</strong>: „So ertötet denn eure Glieder, <strong>die</strong> derErde gehören“ 156 . Eine vierte Axt, <strong>die</strong> derdritten zugrunde liegt, ist <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Taufebewirkte: „Unser alter Mensch ist gekreuzigtworden“ 157 , d. i. er ist ertötet worden. —<strong>In</strong> Erkenntnis <strong>die</strong>ser vierfachen Art <strong>des</strong> Totseinslasset uns jene fliehen, nachwelcher wir bei lebendigem Leibe tot sind.Dagegen lasset uns nicht fliehen das Totsein,welches das gemeinsame Los aller Menschenist. Die zwei <strong>an</strong>deren Arten <strong>des</strong> Totseins a-ber, deren eine voll Seligkeit und ein Geschenkvon Gott, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere lobenswert undvon Gott bewirkt ist, wollen wir suchen unduns zu eigen zu machen trachten. Von <strong>die</strong>senbeiden eine preist David, wenn er spricht:„Selig, denen nachgelassen sind ihre Missetaten“158 ; <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere bewundert <strong>Paulus</strong>, wenner im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater sagt: „Die Christuszugehören, haben ihr Fleisch gekreuzigt“159 . Von den zwei <strong>an</strong>dern Arten <strong>des</strong> Totseinsnennt Christus <strong>die</strong> eine verachtenswürdig:„Fürchtet nicht <strong>die</strong>, welche zwar den154 Matth. 22, 32.155 Ebd. 8, 22 .156 Kol. 3, 5.157 Röm. 6, 6 .158 Ps. 31, 1.159 Gal. 5, 24.


Leib töten, <strong>die</strong> Seele aber nicht töten können“160 ; <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere fürchtenswert: „Fürchtetden, welcher Leib und Seele in das Verderbender Hölle stürzen k<strong>an</strong>n“ 161 . Darum lassetuns <strong>die</strong> eine Art <strong>des</strong> Totseins fliehen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dereaber suchen, <strong>die</strong> gepriesene nämlichund <strong>die</strong> bewunderte, damit wir von den <strong>an</strong>dernzwei Arten <strong>die</strong> eine fliehen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dereaber fürchten. Es nützte uns ja nichts, dasSonnenlicht zu sehen, zu essen und zu trinken,wenn unser Leben nicht durch guteWerke hervorsticht. Was nützte es, sage mir,einem Könige, in einem Purpurkleid undeiner Waffenrüstung zu prunken, wenn erkeinen einzigen Untert<strong>an</strong> besäße, sondern esjedem Beliebigen möglich wäre, ihn zu beleidigenund zu beschimpfen? So ist es auch fürden Christen kein Gewinn, den Glauben zuhaben und das von der Taufe herrührendeGn<strong>ad</strong>engeschenk (d. i. <strong>die</strong> Sündenvergebung),wenn wir uns aber allen Leidenschaftenhingeben; nur noch größer ist d<strong>an</strong>n derFrevel, noch größer <strong>die</strong> Sch<strong>an</strong>de. Gera<strong>des</strong>owie jener König im Di<strong>ad</strong>em und Purpurm<strong>an</strong>teldurch sein Kleid nicht nur nichts gewinnt<strong>an</strong> Würde, sondern noch <strong>die</strong>ses durch <strong>die</strong>Schmach, <strong>die</strong> seiner Person widerfährt, verächtlichmacht, so wird auch der Gläubige,der ein verderbtes Leben führt,durch seinen Christenst<strong>an</strong>d nicht nur nichtverehrungswürdiger, sondern eher lächerlich.„Alle, <strong>die</strong> ohne das Gesetz gesündigthaben“, heißt es, „werden ohne das Gesetzverloren gehen; alle aber, <strong>die</strong> in dem Gesetzegesündigt haben, werden durch das Gesetzgerichtet werden“ 162 . Und im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong>Hebräer: „Wer das Gesetz <strong>des</strong> Moses übertretenhat, der muß ohne Erbarmen auf dasZeugnis zweier oder dreier sterben. Wievielhöhere Strafe scheint auch der zu ver<strong>die</strong>nen,der den Sohn Gottes mit Füßen getretenhat?“ 163 Und g<strong>an</strong>z mit Recht. Durch <strong>die</strong> Taufe,spricht er gleichsam, habe ich dir alle Lei-160 Matt h. 10, 28.161 Ebd.162 Röm. 2, 12.163 Hebr. 10, 28. 29.115denschaften unterworfen. Wie konnte es nungeschehen, daß du ein solches Gn<strong>ad</strong>engeschenkfreventlich weggeworfen hast undstatt <strong>des</strong> früheren ein g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>derer Menschgeworden bist? Ich habe deine früheren Verirrungentot gemacht und begraben wieWürmer; warum hast du wieder neue hervorgebracht?Denn schädlicher als Würmersind <strong>die</strong> Sünden. Jene machen den Körperverwesen, <strong>die</strong>se <strong>die</strong> Seele und verursacheneinen noch größeren Gest<strong>an</strong>k. Aber wir riechendenselben nicht; darum beeilen wir unsnicht mit der Reinigung. Der Betrunkeneweiß ja auch nicht, wie übel ihm der fauligeWein aus dem Munde riecht; der Nüchternedagegen merkt es gar wo<strong>hl</strong>. So geht es auchmit den Sünden. Wer tugendhaft lebt, hat eing<strong>an</strong>z gutes Verständnis dafür, was fürSchmutz und Unrat sie sind. Wer sich aberdem Laster hingibt, der weiß nicht einmal,wie von einer Art Betrunkenheit betäubt, daßer kr<strong>an</strong>k ist. Das ist ger<strong>ad</strong>e das Sc<strong>hl</strong>immstebeim Laster, daß es <strong>die</strong>, welche ihm verfallensind, gar nicht <strong>die</strong> Größe ihres Unglücks erkennenläßt; sie liegen im Kot und meinenWo<strong>hl</strong>gerüche zu genießen. Darum sind sienicht imst<strong>an</strong>de, sich daraus zu erheben; währendsie voller Würmer sind, gehen sie stolzeinher, als ob sie mit lauter Edelsteinen geschmücktwären. Darum wollen sie auch <strong>die</strong>seWürmer nicht töten, sondern sie nährensie und lassen sie in sich groß werden, bis<strong>die</strong>se sie zu dem Gewürm im Jenseits hinüberzerren.Die Würmer der Sündeleisten ja dem Gewürm in der Hölle Zutreiber<strong>die</strong>nste,ja nicht allein das, sondern siesind ger<strong>ad</strong>ezu <strong>die</strong> Väter <strong>die</strong>ser Würmer, <strong>die</strong>nie sterben. Heißt es ja von ihnen: „Ihr Wurmwird nicht sterben“ 164 . Sie zünden das Feuerder Hölle <strong>an</strong>, das nie erlischt.Damit nun das nicht geschehe, laßt uns <strong>die</strong>Quelle der Sünden verstopfen, laßt uns denHerd derselben ablöschen, laßt uns <strong>die</strong> tiefsteWurzel <strong>des</strong> Bösen ausreißen! Denn wenn du164 Mark. 9, 43.


einen sc<strong>hl</strong>echten Baum nur oben beschnei<strong>des</strong>t,hast du nicht viel get<strong>an</strong>, wenn unten <strong>die</strong>Wurzel bleibt und neue Schößlinge treibt. —Was ist nun <strong>die</strong> Wurzel der Sünden? — Laßdir das sagen von dem tüchtigsten Fachm<strong>an</strong>n,der das genaueste Verständnis davonhat, von dem Winzer <strong>des</strong> geistlichen Weinberges,dem Ackersm<strong>an</strong>n, <strong>des</strong>sen Feld <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Welt ist. Was ist nach seinem Urteileschuld <strong>an</strong> allen Sünden? — Die Begierdenach Hab und Gut. — „Die Wurzel aller Sünden“,spricht er, „ist <strong>die</strong> Habsucht“ 165 . Vonihr kommen Kämpfe und Feindschaften undKriege, von ihr Eifersüchteleien und übleNachreden und Verdächtigungen und Beschimpfungen,von ihr Mord und Diebsta<strong>hl</strong>und Gräberraub. Sie ist es, <strong>die</strong> nicht alleinSt<strong>ad</strong>t und L<strong>an</strong>d, sondern auch Wege, bewohnteund unbewohnte Gegenden, Berge,Sc<strong>hl</strong>uchten und Hügel, kurz alles mit Blutund Mord erfüllt. Ja nicht einmal das Meerbleibt frei von <strong>die</strong>ser Pest, sondern auch hiertreibt sie voll Wut ihr Wesen; Seeräuber machenes allenthalben unsicher und haben eineneue Art von Räuberei entdeckt. Die Naturgesetzewerden durch <strong>die</strong> Habsucht umgestoßen,<strong>die</strong> B<strong>an</strong>de der Blutsverw<strong>an</strong>dtschaftgelockert, <strong>die</strong> Eigentumsrechte verletzt. Dieungezügelte Sucht nach Geld bewaffnet solcheMörderhände nicht bloß gegen <strong>die</strong> Lebenden,sondern auch gegen <strong>die</strong> Toten. Auchnoch nach dem Tode ist m<strong>an</strong> vor ihnen nichtsicher, sondern sie erbrechen Gräber undstrecken ihre frevelhaften Hände auch gegenLeichname aus; nicht einmal den verschonensie mit ihren Nachstellungen, der schon <strong>des</strong>Lebens ledig ist. Soviel Böses du findenmagst, sei es zu Hause oder in der Öffentlichkeit,in den Gerichtssälen oder inRatsversammlungen oder in Palästen oderwo immer: du wirst sehen, daß alles aus <strong>die</strong>serWurzel entsprossen ist. Diese Sünde, ja<strong>die</strong>se Sünde ist es, welche alles mit Blut undMord erfüllt hat. Sie hat das Feuer der Hölle165 1 Tim. 6, 10.116<strong>an</strong>gezündet, sie ist schuld dar<strong>an</strong>, daß es um<strong>die</strong> Städte nicht besser bestellt ist, ja vielsc<strong>hl</strong>immer als um <strong>die</strong> Einöde. Denn vor denStraßenräubern k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> leichter auf derHut sein, weil sie nicht fortwährend auf derLauer liegen; dagegen sind ihre Genossenmitten in den Stätten um so sc<strong>hl</strong>immer, jeschwerer m<strong>an</strong> sich ihrer erhüten k<strong>an</strong>n, da sieg<strong>an</strong>z offen sich <strong>des</strong>sen erkühnen, was jenenur im geheimen treiben. Dieselben Gesetze,<strong>die</strong> dem Übel Einhalt tun sollen, benützen sieals Helfershelfer und erfüllen <strong>die</strong> Städte mitMord- und Greueltaten. Oder, sag <strong>an</strong>, ist esnicht Mord, ja sc<strong>hl</strong>immer als Mord, den Armendem Hunger auszuliefern, ihn in dasGefängnis zu werfen, ihn nicht bloß demHunger, sondern auch der Folter mit ihrentausenderlei Qualen zu übergeben? Und folterstdu ihn auch nicht selbst, bist aber <strong>die</strong>Ursache, daß es geschieht, so tust du dasselbein noch höherem Maße als <strong>die</strong> Folterknechte.Der Mörder haut einmal mit demSchwerte zu; er bereitet nur einen kurzenSchmerz und verlängert nicht weiter <strong>die</strong>Qual. Du aber verw<strong>an</strong>delst deinem Opferdurch deine Angebereien, Quälereien undNachstellungen das Licht in Finsternis undbringst ihn dazu, sich tausendmal den Todzu wünschen. Bedenke doch, wie oft du ihnstatt einemmal <strong>die</strong> To<strong>des</strong>qualen fü<strong>hl</strong>en läßt!Und das Allersc<strong>hl</strong>immste dabei ist, daß duraubst und dich bereicherst nicht unter demDruck der Armut, nicht unter dem Zw<strong>an</strong>g<strong>des</strong> Hungers, sondern damit dein Pferdegeschirr,dein Hausdach, deine Säulenkapitälein reicherem Goldschmuck pr<strong>an</strong>gen. WelcheHöllenstrafe ver<strong>die</strong>nt solches Tun, wenn dudeinen Bruder, der mit dir <strong>an</strong> unaussprec<strong>hl</strong>ichenGütern teilhaben soll und von deinemHerrn so hoch geehrt wird, wenn du den intausendfaches Unglück stürzest, um Steinwändeund Fußböden und unvernünftigeTiere zu zieren, <strong>die</strong> von <strong>die</strong>sem Schmuck garnichts wissen. Dein Hund erfreut sich sorgfältiger Pflege; dein Mitmenschdagegen, oder besser gesagt Chris-


117tus, wird deines Hun<strong>des</strong> und aller der gen<strong>an</strong>ntenDinge wegen dem bittersten Hungerpreisgegeben! Was ist sc<strong>hl</strong>immer als solcheVerkehrtheit? Was abscheulicher als solchesUnrecht? Welche Feuerströme werden hinreichen(zur Bestrafung) einer solchen Seele?Der nach Gottes Ebenbild geschaffeneMensch steht da, geschändet durch deineUnmensc<strong>hl</strong>ichkeit; aber <strong>die</strong> Köpfe der Maultiere,<strong>die</strong> deine Gattin tragen, blinken in reichemGoldschmuck, ebenso <strong>die</strong> Balken und<strong>die</strong> Decken, aus denen dein Haus besteht.Soll ein Sessel gemacht werden oder ein Fußschemel,so muß alles aus Gold oder Silbergearbeitet sein; das Glied Christi dagegen,dem zuliebe er vom Himmel herabgestiegenist und sein kostbares Blut vergossen hat, hatnicht einmal <strong>die</strong> notwendige Nahrung deinerHabsucht wegen. Deine Bettgestelle sind ü-berall mit Gold besc<strong>hl</strong>agen, <strong>die</strong> Leiber derHeiligen aber entbehren <strong>des</strong> notwendigenObdaches. Christus ist dir nicht so viel wertwie alle <strong>die</strong>se Dinge: wie Diener, wie Maultiere,wie ein Bettgestelle, wie ein Sessel, wieein Fußschemel. Noch unedlere Hausgerätenenne ich gar nicht; ich überlasse es euch, sieeuch zu denken.Wenn du das hörst und es dich dabei kaltüberläuft, so laß ab von solchem Tun, unddas Gesagte trifft dich nicht! Laß ab, hör aufmit <strong>die</strong>sem Wahnsinn! Denn aufgelegterWahnsinn ist ja <strong>die</strong> Sorge um solche Dinge.Wir wollen also <strong>die</strong>sen Dingen ein Ende machen!Wir wollen emporblicken <strong>zum</strong> Himmel— wenngleich spät genug —, wir wollen <strong>an</strong>den zukünftigen Gerichtstag denken, dasschreckliche Gericht uns vorstellen, <strong>die</strong> genaueRechenschaft und den unbestec<strong>hl</strong>ichenUrteilsspruch uns vor Augen halten! Bedenkenwir, daß Gott beim Anblick alles <strong>des</strong>sennicht Blitze vom Himmel sc<strong>hl</strong>eudert. Unddoch würde solches Tun mehr als einenBlitzstra<strong>hl</strong> ver<strong>die</strong>nen. Aber Gott tut es dennochnicht. Er läßt nicht das Meer auf unslosstürzen, er läßt nicht <strong>die</strong> Erde sich in derMitte spalten, er läßt nicht <strong>die</strong> Sonne erlöschen,er läßt nicht den Himmel mitsamt denSternen über uns einstürzen, er macht nichtder g<strong>an</strong>zen Welt kurzerh<strong>an</strong>d ein Ende, sonderner läßt sie in ihrer Ordnungfortbestehen und <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schöpfung uns<strong>die</strong>nen.Das laßt uns also bedenken und, erschüttertvon der Größe seiner Liebe zu uns, zurückkehrenzu unserer edlen Bestimmung! So wiejetzt sind wir um nichts besser als unvernünftigeTiere, ja um vieles sc<strong>hl</strong>echter. Dieselieben wenigstens ihresgleichen; <strong>die</strong> Gemeinsamkeitder Natur genügt ihnen zur gegenseitigenLiebe. Du aber hast außer der gemeinsamenMenschennatur noch tausend<strong>an</strong>dere B<strong>an</strong>de, <strong>die</strong> dich mit deinen Mitmenschenverbinden und vereinen sollten: denVorzug der Vernunft, <strong>die</strong> Gemeinsamkeit derReligion, den gemeinschaftlichen Besitz vontausend <strong>an</strong>deren Gütern; da bist du dochwilder geartet als <strong>die</strong> Tiere, wenn du so nichtigenDingen so viel Sorgfalt <strong>an</strong>gedeihen läßt,<strong>die</strong> (lebendigen) Tempel Gottes aber in Hungerund Blöße verkommen siehst, ja sie oftnoch mit tausenderlei Übeln überschüttest.Suchst du bei deinem H<strong>an</strong>deln Ehre für dich,so solltest du deinen Bruder um so viel mehrin Ehren halten als dein Pferd; denn je vorzüglicherder Gegenst<strong>an</strong>d deines Wo<strong>hl</strong>tunsist, <strong>des</strong>to herrlicher wird der Kr<strong>an</strong>z sein, derdir für deine Fürsorge gewunden werdenwird. So aber verfällst du ins Gegenteil undmerkst nicht, daß du eine Unza<strong>hl</strong> von Anklägernwider dich auf <strong>die</strong> Beine bringst; dennwer soll dich nicht t<strong>ad</strong>eln? Wer soll dichnicht der größten Grausamkeit und <strong>des</strong> Menschenhasseszeihen, wenn er sieht, daß dudas Gesc<strong>hl</strong>echt der Menschen mißachtest,dagegen das der unvernünftigen Tiere höherstellst als <strong>die</strong> Menschen, ja nicht allein Tiere,sondern sogar Hausrat? Hörst du nicht, wasder Apostel erzä<strong>hl</strong>t, nämlich, daß <strong>die</strong>, welchezuerst das Wort <strong>an</strong>genommen hatten, Häuserund Grundstücke verkauften, um ihren BrüdernNahrung zu spenden? Du aber raubstihnen ihre Häuser und Grundstücke, um ein


Pferd zu schmücken, Dachgebälk, Zimmerdecken,Mauern und Fußböden. DasSc<strong>hl</strong>immste dabei ist, daß nicht bloß Männer,sondern auch Frauen <strong>die</strong>ser Raserei verfallenund ihre Männer zu so unvernünftigemH<strong>an</strong>deln <strong>an</strong>stacheln, indem sie sie nötigen,für alles eher Ausgaben zu machen als für<strong>die</strong>se notwendigen Dinge. Und wenn sie jem<strong>an</strong>d<strong>des</strong>wegen zur Rede stellt, habensie gleich eine Ausrede bei der H<strong>an</strong>d, <strong>die</strong>aber eine schwere Anklage gegen sie enthält.Sie sagen: „Ja, es geschieht aber doch das einewie das <strong>an</strong>dere.“ — Was sagst du da? Duscheust dich nicht, so etwas auszusprechenund damit deine Pferde und Maultiere undBettgestelle und Fußschemel mit dem notleidendenChristus auf <strong>die</strong>selbe Stufe zu stellen?Ja nicht einmal auf <strong>die</strong>selbe Stufe stellstdu sie, sondern du wen<strong>des</strong>t weit mehr auffür jene Dinge, ihm aber mißt du nur eing<strong>an</strong>z geringes Maß zu. Weißt du nicht, daßalles sein Eigentum ist, du und das Deine?Weißt du nicht, daß er deinen Leib gebildet,deine Seele mit Gn<strong>ad</strong>e beschenkt, dir dasg<strong>an</strong>ze Weltall zu Diensten gestellt hat? Unddu willst ihm nicht einmal ein kleines Gegengeschenkmachen? Wenn du ein kleinesHäuschen vermietet hast, so forderst du mitaller Genauigkeit den Mietzins ein; von ihmaber hast du <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schöpfung <strong>zum</strong>Nutzgenuß, du hast <strong>die</strong>sen Erdkreis <strong>zum</strong>Wohnen, und doch willst du auch nicht einenkleinen Mietzins za<strong>hl</strong>en, sondern du wen<strong>des</strong>tdich und all das Deine auf für deine Prunksucht.Denn darauf läuft ja alles hinaus. DeinPferd wird nicht von besserer Art, hängst duauch noch so viel Schmuck darauf, und auchder Reiter nicht. Ja, der verliert noch <strong>an</strong> Beachtung;denn viele übersehen den Reiterund richten ihre Augen auf den Schmuck <strong>des</strong>Pfer<strong>des</strong>, auf <strong>die</strong> Diener, <strong>die</strong> in der Begleitungsind und vorausgehen und das Volk zurückdrängen;den M<strong>an</strong>n aber, der von <strong>die</strong>semGefolge umgeben ist, hassen sie und verabscheuensie als einen gemeinsamen Feind.Dagegen widerfährt dir so etwas nicht, wenn118du deine Seele schmückst. Nein, da windendir alle den Kr<strong>an</strong>z: Menschen und Engel undder Herr der Engelscharen.Darum, wenn du Ehre verl<strong>an</strong>gst, so laß abvon deinem jetzigen Tun! Schmücke nichtdein Haus, sondern deine Seele, damit du(wirklichen) Gl<strong>an</strong>z und Ruhm erl<strong>an</strong>gst. Soaber wie jetzt ist nichts armseliger als du; <strong>die</strong>Seele hast du leer und das Haus mit Schmucküberl<strong>ad</strong>en. Wenn du nichts auf meine Wortegibst, so höre, was ein Heide tat, und laß dichdurch <strong>die</strong> Lebensweisheit <strong>die</strong>ser beschämen.Es wird erzä<strong>hl</strong>t, daß ein solcher Heide 166 in ein prunkvoll eingerichtetesHaus kam, wo alles von Gold stra<strong>hl</strong>te undder eingelegte Marmor und <strong>die</strong> Säulen nur soglänzten. Als er sogar den Fußboden mitTeppichen belegt sah, habe er dem Herrn <strong>des</strong>Hauses ins Gesicht gespuckt. Darob zur Redegestellt, habe er ge<strong>an</strong>twortet, da er sonst nirgendsim Hause <strong>die</strong>s habe tun können, sei ergezwungen gewesen, das Gesicht <strong>des</strong> Hausherrnin solcher Weise zu verunglimpfen.Siehst du daraus, wie lächerlich ein Menschist, der nur auf äußerlichen Schmuck bedachtist, und wie verächtlich er allen Verständigenvorkommt? Und das g<strong>an</strong>z mit Recht. Wennm<strong>an</strong> deine Gattin in Lumpen gehüllt undg<strong>an</strong>z ungeachtet herumgehen ließe, dagegen<strong>die</strong> Sklavinnen herrlich kleidete, so wür<strong>des</strong>tdu das nicht ruhig hinnehmen, sondern darüberentrüstet sein und sagen, <strong>die</strong>se H<strong>an</strong>dlungsweisesei der größte Schimpf. Mach nundenselben Sc<strong>hl</strong>uß in bezug auf <strong>die</strong> Seele.Wenn du deine Wände, den Fußboden, denHausrat und alles <strong>an</strong>dere mit Schmuck bela<strong>des</strong>t,dagegen niemals auch nur ein geringesAlmosen gibst, noch irgendeine <strong>an</strong>dere Tugendübst, d<strong>an</strong>n h<strong>an</strong>delst du ger<strong>ad</strong>e nicht<strong>an</strong>ders als so, ja noch viel sc<strong>hl</strong>immer. Dennzwischen der Sklavin und der Herrin bestehtkein wesentlicher Unterschied, ein sehr großeraber zwischen der Seele und dem Leibe;wenn aber zwischen der Seele und dem Lei-166 Von Aristipp von Kyrene, geb. 404 v. Chr., wird <strong>die</strong>s erzä<strong>hl</strong>t.


e, d<strong>an</strong>n noch viel mehr zwischen deinerSeele und deinem Hause, deiner Bettl<strong>ad</strong>e,deinem Fußschemel. Welche Entschuldigungver<strong>die</strong>nst du, wenn du alle <strong>die</strong>se Dinge mitSilber bela<strong>des</strong>t, deine Seele dagegen in Lumpenlässest, schmutzig, hungrig, voller Wunden,von unzä<strong>hl</strong>igen Hunden zerrissen, unddabei noch wähnst, es komme dir eine besondereEhre zu von deinem Prunk <strong>an</strong> äußerlichenDingen. Das ist wo<strong>hl</strong> der Gipfel derTorheit, wenn m<strong>an</strong> sich mit etwas brüstet,wodurch m<strong>an</strong> lächerlich wird, Spott, Schimpfund Sch<strong>an</strong>de, ja <strong>die</strong> strengste Strafe ver<strong>die</strong>nt.Darum — das ist meine (letzte) Mahnung —laßt uns das alles bedenken und — wennauch spät — wieder nüchtern werden und zuuns selbst kommen! Laßt uns denSchmuck von den äußerlichen Dingen auf <strong>die</strong>Seele übertragen! Auf <strong>die</strong>se Weise bleibt eruns gesichert, er macht uns den Engelngleich und hilft uns zu unvergänglichen Gütern.Diese mögen uns allen zuteil werdendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, durch den und mit dem Ehresei dem Vater zugleich mit dem Hl. Geistevon Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. DREIZEHNTE HOMILIE. Kap. VI, V.19—23 u. Kap. VII, V. 1—13.1.Kap. VI, V. 19—23 u. Kap. VII, V. 1—13.V. 19: „Mensc<strong>hl</strong>ich rede ich wegen derSchwachheit eures Fleisches: Wie ihr eure Gliederin den Dienst der Unreinigkeit gestellt habt undder Sündhaftigkeit zur Sündhaftigkeit, so stelltnun eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeitzur Heiligung.“Der Apostel hat im vorausgehenden verl<strong>an</strong>gt,wir sollen genau achthaben auf unsernLebensw<strong>an</strong>del; er hat geboten, tot zu sein für<strong>die</strong> Welt, abgestorben der Bosheit und unnachgiebiggegen <strong>die</strong> Lockungen der Sünde.119Er scheint damit etwas Schweres zu verl<strong>an</strong>gen,was <strong>die</strong> natürlichen Kräfte <strong>des</strong> Menschenübersteige. Da will er nun zeigen, daßer nichts Übermäßiges fordere, nicht einmalso viel, als m<strong>an</strong> von einem Menschen, dersolche Gn<strong>ad</strong>engaben empf<strong>an</strong>gen hat, verl<strong>an</strong>gensollte, sondern etwas g<strong>an</strong>z Mäßiges undLeichtes. Den Beweis dafür führt er durcheine Gegenüberstellung. (Vorher) sagt er:„Mensc<strong>hl</strong>ich rede ich“, als ob er sagen wollte:Nach mensc<strong>hl</strong>ichem Ermessen, nach dem,was im gewöhnlichen Leben vorkommt.Durch den Ausdruck „mensc<strong>hl</strong>ich“ will derApostel das Maßvolle (seiner Forderung)ausdrücken. So sagt er auch <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>derenStelle: „Keine Versuchung ist euch <strong>an</strong>gekommenals eine mensc<strong>hl</strong>iche“ 167 , d. h. einemäßige, kleine. — „Wie ihr eure Glieder inden Dienst der Unreinigkeit gestellt habt undder Sündhaftigkeit zur Sündhaftigkeit, sostellt nun eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeitzur Heiligung.“ So groß (will ersagen) der Unterschied zwischen den zweiHerren ist, verl<strong>an</strong>ge ich (für beide) doch nurdas gleiche Maß von Dienst. Ich sollte eigentlichviel mehr fordern, und zwar um so vielmehr, als der Dienst Gottes vornehmer undbesser ist als der Dienst der Sünde. Ich verl<strong>an</strong>geaber trotzdem nicht mehr „wegen derSchwachheit“. Er sagt nicht: eures Willens, auch nicht: eurer Lust (<strong>zum</strong>Guten), sondern: „eures Fleisches“, um seineRede nicht als einen Vorwurf erscheinen zulassen. Auf der einen Seite „Unreinigkeit“,auf der <strong>an</strong>dern „Heiligung“; auf der einenSeite „Sündhaftigkeit“, auf der <strong>an</strong>dern „Gerechtigkeit“.Und wer ist so elend und unglückselig,will er sagen, daß er für denDienst Christi nicht mehr Eifer hätte als fürden Dienst der Sünde und <strong>des</strong> Teufels? Hörenur, was folgt, und du wirst klar erkennen,daß wir nicht einmal <strong>die</strong>ses Wenige aufbringen.So ger<strong>ad</strong>e heraus gesagt, wäre <strong>die</strong>s aberunglaublich erschienen und wäre nicht gut167 1 Kor. 10, 13.


aufgenommen worden; m<strong>an</strong> hätte es nichtgerne hören mögen, daß m<strong>an</strong> Christus nichtso eifrig <strong>die</strong>ne wie dem Teufel. Darum führter im folgenden den Beweis und macht ihnglaubbar, indem er <strong>die</strong> Knechtschaft (derSünde) her<strong>an</strong>zieht und zeigt, wie sie <strong>die</strong>serge<strong>die</strong>nt haben.V. 20: „Denn als ihr Knechte der Sünde waret,da waret ihr Freie der Gerechtigkeit gegenüber.“— Der Apostel will damit folgen<strong>des</strong> sagen:Als ihr in der Bosheit lebtet, in der Gottlosigkeitund den größten Lastern, da lebtet ihr insolchem Gehorsam, daß ihr g<strong>an</strong>z und garnichts Gutes tatet. Das bedeutet jenes: „Ihrwäret Freie der Gerechtigkeit gegenüber.“ Esheißt: Ihr wäret ihr nicht Untert<strong>an</strong>, sondernst<strong>an</strong>det ihr g<strong>an</strong>z und gar fremd gegenüber.Ihr habt (damals) euer Dienstverhältnis nichtgeteilt zwischen der Gerechtigkeit und derSünde, sondern habt euch der Bosheit g<strong>an</strong>zausgeliefert. Darum gebt euch auch jetzt, daihr auf <strong>die</strong> Seite der Gerechtigkeit getretenseid, g<strong>an</strong>z der Tugend hin; tuet g<strong>an</strong>z und garnichts Böses, damit ihr wenigstens auf dasgleiche Maß kommt. — Es besteht aber nichtbloß ein großer Unterschied zwischen denbei<strong>des</strong> Herren, sondern auch <strong>die</strong> Dienstbarkeitihnen gegenüber ist sehr verschieden.Auch <strong>die</strong>sen Punkt führt der Apostel mitgroßer Klarheit aus und zeigt, unter welchenVerhältnissen sie damals ge<strong>die</strong>nt haben, undunter welchen jetzt. Noch spricht er nichtvon dem Sch<strong>ad</strong>en, der ihnen aus ihrer H<strong>an</strong>dlungsweiseerwachsen ist, sondern vorläufignur von der Sch<strong>an</strong>de. V. 21: „WelcheFrucht hattet ihr damals von den Dingen, derenihr euch nun schämt?“— Die Knechtschaft war derart, daß schon<strong>die</strong> bloße Erinnerung dar<strong>an</strong> schamrot macht.Wenn nun <strong>die</strong> bloße Erinnerung beschämt,um so mehr <strong>die</strong> Tat selbst. Einen zweifachenGewinn habt ihr demnach jetzt: Ihr seid freivon der Sch<strong>an</strong>de und erkennt den Zust<strong>an</strong>d,in dem ihr euch bef<strong>an</strong>det. Früher hattet ihreinen doppelten Sch<strong>ad</strong>en: Ihr tatetSchmachwürdiges und wußtet nichts von120eurem schmachvollen Zust<strong>an</strong>d; das letztereist noch sc<strong>hl</strong>immer als das erstere. Und dochverbliebet ihr in der Knechtschaft. Nachdemder Apostel so den Sch<strong>ad</strong>en, der seinen Zuhörernaus ihrer damaligen H<strong>an</strong>dlungsweiseerwachsen war, von Seiten der Sch<strong>an</strong>denachgewiesen hat, kommt er zur Hauptsache.Was war <strong>die</strong> Hauptsache?„Das Ende von jenen Dingen ist der Tod.“Da nämlich <strong>die</strong> Sch<strong>an</strong>de jem<strong>an</strong>dem nicht garso schwerwiegend scheinen könnte, kommter mit etwas in jeder Beziehung Furchtbarem,ich meine den Tod. Und doch sollte wo<strong>hl</strong> dasvorher Gesagte schon genügt haben. Dennbedenke nur, welches Übermaß von Übeldarin liegt, daß sie, wenngleich bereits vonder Strafe befreit, doch noch immer nicht vonder Sch<strong>an</strong>de frei geworden waren. WelchenLohn, will er sagen, k<strong>an</strong>nst du für deine damaligeH<strong>an</strong>dlungsweise erwarten, wenn dubei der bloßen Erinnerung dar<strong>an</strong> auch jetztnoch, wo du doch von der Strafe befreit undin den St<strong>an</strong>d der Gn<strong>ad</strong>e versetzt bist, deinAntlitz verhüllen und erröten mußt? — Nichtso verhält sich’s mit dem Dienste Gottes.V. 22: „Nun aber befreit von der Sünde, DienerGottes geworden, habt ihr eure Frucht zur Heiligung,das Ende aber ist ewiges Leben.“— Die Frucht jenes (Dienstes der Sünde) istSch<strong>an</strong>de, auch nach der Befreiung davon; <strong>die</strong>Frucht <strong>die</strong>ses Dienstes (Gottes) ist Heiligung;wo aber Heiligung, da ist auch jegliche Zuversicht.Das Ende jenes Dienstes ist Tod, dasEnde <strong>die</strong>ses ewiges Leben. 2.Siehst du da, wie der Apostel einmal auf bereitsgeschenkte Dinge hinweist, das <strong>an</strong>deremalauf solche, <strong>die</strong> noch Gegenst<strong>an</strong>d derHoffnung sind, und wie er mit Berufung auf<strong>die</strong> bereits geschenkten den Glauben <strong>an</strong> <strong>die</strong>zukünftigen begründet, nämlich durch Hinweisauf <strong>die</strong> Heiligung den Glauben <strong>an</strong> das(ewige) Leben? Damit m<strong>an</strong> nämlich nicht


einwende, daß alle <strong>die</strong>se Dinge bloß Gegenst<strong>an</strong>dder Hoffnung seien, weist er auf bereitsgepflückte Früchte hin: Zuerst auf <strong>die</strong> Befreiungvon der Sünde und allen jenen Übeln,deren bloße Erinnerung schon schamrotmacht; zweitens auf <strong>die</strong> Aufnahme in denDienst der Gerechtigkeit; drittens auf denGenuß der Heiligung; viertens auf <strong>die</strong> Erl<strong>an</strong>gung<strong>des</strong> Lebens, und zwar nicht eines zeitlichen,sondern ewigen Lebens. Aber trotz alledem,will er sagen, seid wenigstens nurgleich eifrig im Dienste. Wenn auch der Herr(dem ihr <strong>die</strong>nt) ein viel vornehmerer ist,wenn auch ein großer Unterschied im Diensteselbst und in dem Lohn, für den ihr <strong>die</strong>nt,besteht, so verl<strong>an</strong>ge ich doch bisl<strong>an</strong>g nichtmehr Diensteifer. — Da er vorher von Waffenund einem Könige gesprochen hat, bleibter bei <strong>die</strong>ser Redefigur und fährt fort:V. 23: „Der Sold der Sünde ist der Tod; <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engabeGottes aber ewiges Leben in ChristusJesus, unserem Herrn.“— Der Apostel spricht von einem „Sold derSünde“; wo er aber von Heilvollem spricht,bleibt er nicht bei <strong>die</strong>ser Redeweise. Er sagtnicht: Der Lohn eurer guten Werke, sondern:„Die Gn<strong>ad</strong>engabe Gottes.“ Er gibt damit zuverstehen, daß sie nicht aus eigener Kraft<strong>an</strong>strengungerlöst worden seien, daß sie <strong>die</strong>Erlösung nicht als einen schuldigen Lohnempf<strong>an</strong>gen haben noch auch als eine Vergeltungund Gegengabe für geleistete Arbeit,sondern daß alles aus Gn<strong>ad</strong>e geschehen sei.Daraus ist das Übermaß (der Liebe Gottes)ersichtlich, daß er (<strong>die</strong> Menschen) nicht bloßerlöst, daß er sie nicht bloß in eine bessereLage versetzt hat, sondern daß er es ohne ihrZutun, ohne ihre Anstrengung get<strong>an</strong> hat; jaer hat sie nicht bloß erlöst, sondern er hatihnen noch viel bessere Dinge geschenkt, undalles das einzig um seines Sohneswillen. — Das alles gibt der Apostel nebenbeizu verstehen, wenn er von der Gn<strong>ad</strong>e sprichtund das Gesetz für <strong>die</strong> Zukunft abgeschafftwissen will. Damit aber <strong>die</strong>se beiden Wahrheiten<strong>die</strong> Zuhörer nicht leichtsinnig machen,121streut er immer wieder Ermahnungen einüber <strong>die</strong> Pflicht, ein geordnetes Leben zuführen, und hält sie immerfort <strong>zum</strong> Tugendstreben<strong>an</strong>. So auch wenn er den Tod „denSold der Sünde“ nennt; damit schreckt er sieauch und feit sie gegen zukünftige Gefahren.D<strong>ad</strong>urch, daß er sie <strong>an</strong> frühere Wo<strong>hl</strong>tatenerinnert, macht er sie d<strong>an</strong>kbar und sichererallen bevorstehenden Gefahren gegenüber.Nun bricht der Apostel seine Rede über sittlicheBesserung ab und geht wieder über aufdas Gebiet der Glaubenslehren, wenn er sagt:Kap. VII, V. 1: „Oder wisset ihr nicht, Brüder —ich spreche ja zu solchen, <strong>die</strong> das Gesetz kennen—.“— Nachdem der Apostel gesagt hat, daß wirder Sünde abgestorben sind, setzt er <strong>an</strong> <strong>die</strong>serStelle (seinen Zuhörern) ausein<strong>an</strong>der, daßüber sie nicht bloß <strong>die</strong> Sünde nicht mehrHerr sei, sondern auch nicht das Gesetz.Wenn aber das Gesetz nicht Herr ist, d<strong>an</strong>num so weniger <strong>die</strong> Sünde. Der Apostelsc<strong>hl</strong>ägt einen milderen Ton <strong>an</strong> und machtseinen Gegenst<strong>an</strong>d durch ein Beispiel ausdem mensc<strong>hl</strong>ichen Leben klar. Scheinbarführt er einen Beweisgrund für <strong>die</strong> in Re<strong>des</strong>tehende Wahrheit <strong>an</strong>, in Wirklichkeit sind esderen zwei. Der eine ist, daß nach dem Tode<strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes <strong>die</strong> Frau nicht mehr dem Gesetze<strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes untersteht und daß sie nichtshindert, das Weib eines <strong>an</strong>dern zu werden;der zweite, daß hier nicht bloß der M<strong>an</strong>n alsgestorben <strong>an</strong>genommen wird, sondern auchdas Weib; <strong>die</strong>ses erfreut sich d<strong>an</strong>n aus zweifachemGrunde der Freiheit. Denn wenn siedurch den Tod <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes von <strong>des</strong>sen Gewaltfrei wird, so wird sie um so mehr frei,wenn sie selbst tot erscheint. Denn wenn sieeines <strong>die</strong>ser beiden Geschehnisse von derGewalt befreit, so um so mehr, wenn beidezusammentreffen. Im Begriffe, zu <strong>die</strong>semBeweise überzugehen, beginnt er mit einemLobe seiner Zuhörer, indem er sagt: „Oderwisset ihr etwa nicht, Brüder? Ich spreche ja zu solchen, <strong>die</strong> das Gesetzkennen.“ D. h. ich spreche eine sichere und


allgemein <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nte Wahrheit aus, <strong>die</strong> euchg<strong>an</strong>z genau bek<strong>an</strong>nt ist:„Daß das Gesetz über den Menschen Herr ist,sol<strong>an</strong>ge er lebt.“Er sagt nicht: über den M<strong>an</strong>n oder über dasWeib, sondern: „über den Menschen“, das istder gemeinsame Name für beide Gesc<strong>hl</strong>echter.„Wer gestorben ist“, heißt es, „der ist gerechtfertigtvon der Sünde“ 168 . Also das Gesetzgilt nur für <strong>die</strong> Lebenden, <strong>die</strong> Verstorbenenverpflichtet es nicht mehr. Siehst du, wieer eine zweifache Freiheit <strong>zum</strong> Ausdruckbringt? — Nachdem er <strong>die</strong>s in den einleitendenWorten <strong>an</strong>gedeutet hat, bringt er <strong>die</strong> Redeauf das Weib im Beweise, indem er fortfährt:V. 2: „Denn das Weib, das unter einem M<strong>an</strong>nesteht, ist dem M<strong>an</strong>ne, sol<strong>an</strong>ge er lebt, verbundendurch das Gesetz; wenn aber der M<strong>an</strong>n stirbt,wird sie frei von dem Gesetze <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes.“V. 3: „Demnach heißt sie zu Lebzeiten ihresM<strong>an</strong>nes eine Ehebrecherin, wenn sie einem <strong>an</strong>dernM<strong>an</strong>ne sich verbindet; wenn aber ihr M<strong>an</strong>nstirbt, so ist sie frei von dem Gesetze, so daß siekeine Ehebrecherin ist, wenn sie einem <strong>an</strong>dernM<strong>an</strong>ne sich verbindet.“— Der Apostel wendet das <strong>an</strong>gezogene Beispielhin und her und erörtert es mit großerGenauigkeit; denn er verspricht sich von ihmgroße Beweiskraft. Der M<strong>an</strong>n bedeutet nachihm das Gesetz, das Weib <strong>die</strong> Gesamtheit derGläubigen. Er zieht aber nicht den Sc<strong>hl</strong>uß,der dem Vordersatz entsprechen würde. Folgerichtighätte er sagen müssen: Also, meineBrüder, ist das Gesetz nicht Herr über euch;denn es ist gestorben. Sa sagt er aber nicht,sondern er läßt es bei der Andeutung, <strong>die</strong> derVordersatz enthält, bewenden. <strong>In</strong> der Sc<strong>hl</strong>ußfolgerungnimmt er das Weib als gestorben<strong>an</strong>, um nicht seine Rede (für <strong>die</strong> Juden) verletzendzu machen, indem er sagt:„Demnach, meine Brüder, seid auch ihr totgeworden für das Gesetz.“168 Röm. 6, 7.122Es ist ja gleichgültig, ob das eine oder das<strong>an</strong>dere geschieht; bei<strong>des</strong> gewährt <strong>die</strong>selbeFreiheit. Was hindert darum den Apostel,dem Gesetze zu Gefallen zu reden, da ja <strong>die</strong>Sache selbst dabei keinen Sch<strong>ad</strong>en leidet?„Denn das Weib, das unter einem M<strong>an</strong>nesteht, ist dem M<strong>an</strong>ne, sol<strong>an</strong>ge er lebt, verbundendurch das Gesetz.“ Wo sind nun <strong>die</strong>Nörgler am Gesetze? Sie sollen hören, wieder Apostel auch da, wo für ihn eine Nötigungdazu vorliegt, doch <strong>die</strong> Würde <strong>des</strong> Gesetzesnicht herabsetzt, sondern sich über <strong>die</strong>Gewalt <strong>des</strong>selben mit Hochachtung ausspricht,wenn er sagt, daß der Jude durchdasselbe gebunden ist, sol<strong>an</strong>ge es am Lebenist, und daß Ehebrecher <strong>die</strong>jenigen heißen,welche es übertreten und außer acht lassen,sol<strong>an</strong>ge es am Leben ist. Freilich, wenn m<strong>an</strong>es verläßt, nachdem es gestorben ist, so istdas kein Wunder. Auch in mensc<strong>hl</strong>ichenVerhältnissen wird nicht get<strong>ad</strong>elt, wer dastut. „Wenn aber der M<strong>an</strong>n stirbt, wird sie freivon dem Gesetze <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes.“3.Siehst du da, wie der Apostel in dem gebrauchtenBeispiele das Gesetz als gestorbendarstellt? Aber im Sc<strong>hl</strong>ußsatze tut er es nicht.„Demnach heißt das Weib zu Lebzeiten <strong>des</strong>M<strong>an</strong>nes eine Ehebrecherin.“ Sieh, wie er sichin Anklagen gegen <strong>die</strong>jenigen ergeht, welchedas Gesetz übertreten, sol<strong>an</strong>ge es am Lebenwar. Nachdem er es aber einmal abgeschaffthat, spricht er mit aller Sicherheit los von jederVerpflichtung gegen dasselbe; demGlauben macht er damit auch keinen Sch<strong>ad</strong>en.„Denn sol<strong>an</strong>ge der M<strong>an</strong>n lebt“, sagt er,„heißt das Weib eine Ehebrecherin, wenn siesich einem <strong>an</strong>dern M<strong>an</strong>ne verbindet.“ Nunwäre es folgerichtig gewesen, fortzufahren:So werdet auch ihr, meine Brüder, nicht alsEhebrecher erachtet, wenn ihr einem <strong>an</strong>dernM<strong>an</strong>ne euch verbindet, nachdem es mit dem


Gesetz zu Ende ist. So läßt er sich aber nichtvernehmen, sondern wie?„Ihr seid tot geworden für das Gesetz.“Wenn ihr tot geworden seid, so steht ihrnicht mehr unter dem Gesetz. Denn wennnach dem Tode <strong>des</strong> M<strong>an</strong>nes dasWeib nicht mehr unter seiner Gewalt steht,so muß sie um so mehr von ihm befreit sein,wenn sie selbst gestorben ist. — Siehst du da<strong>die</strong> Weisheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wie er <strong>zum</strong> Ausdruckbringt, daß das Gesetz selbst es so gewollthabe, daß m<strong>an</strong> von ihm abstehe undeinem <strong>an</strong>dern M<strong>an</strong>ne sich verbinde? Es stehtnichts im Wege, sagt er, mit einem <strong>an</strong>dernM<strong>an</strong>ne beisammen zu sein, wenn der erstegestorben ist. Wie sollte <strong>die</strong>s auch nicht sosein, da das Gesetz ja sogar zu Lebzeiten <strong>des</strong>M<strong>an</strong>nes (der Frau) erlaubte, einen Scheidebrief<strong>an</strong>zunehmen? Davon macht er freilichkeine Erwähnung, weil es ein Vorwurf gegen<strong>die</strong> Frauen gewesen wäre; denn wenn esauch erlaubt war, so ging es dabei gleichwo<strong>hl</strong>nicht ohne Schuld ab. Wenn nämlich der A-postel durchsc<strong>hl</strong>agende Beweisgründe hat,<strong>die</strong> notwendig und einleuchtend sind, suchter keine überflüssigen. Er ist ja nicht rechthaberisch.Das ist dabei zu verwundern, daßdas Gesetz selbst uns keine Vorwürfe macht,wenn wir von ihm abfallen. Es ist auch seinWille, daß wir Christus <strong>an</strong>gehören. Es istselbst gestorben, und wir sind gestorben; auszweifachem Grunde ist also seine Herrschaftabget<strong>an</strong>.Der Apostel läßt sich jedoch damit nicht genügen,sondern er gibt auch den Grund <strong>an</strong>(warum wir in Hinkunft Christus <strong>an</strong>gehörenmüssen). Er spricht nämlich nicht einfachvom Totsein (für das Gesetz), sondernkommt wieder auf das Kreuz zu sprechen,welches <strong>die</strong>ses Totsein bewirkt habe. Er sagtnicht einfach: ihr seid frei geworden, sondern:durch den Tod <strong>des</strong> Herrn. „Ihr seid totgeworden für das Gesetz durch den LeibChristi.“ Doch nicht von da aus allein nimmtder Apostel seine Mahnung, sondern auch123von der überragenden Stellung <strong>des</strong> zweitenM<strong>an</strong>nes. Darum fährt er fort:„Damit ihr einem <strong>an</strong>dern zugehört, der von denToten auferst<strong>an</strong>den ist.“Ferner, damit sie nicht einwenden: Wie aber,wenn wir uns einem weiteren M<strong>an</strong>ne nichtzugesellen wollen? — Denn auch das Gesetzerklärt zwar <strong>die</strong> Witwe, <strong>die</strong> eine zweite Eheeingeht, nicht als Ehebrecherin, zwingt sie aber auch nicht dazu —; damit nunniem<strong>an</strong>d <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d machen könne,zeigt der Apostel, daß wir mit Rücksicht aufdas, was wir bereits erhalten haben, verpflichtetseien, <strong>die</strong>s zu wollen. Dasselbebringt er <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>deren Stelle klarer <strong>zum</strong>Ausdruck, wenn er spricht: „Ihr gehört euchnicht selbst. …Ihr seid um teuren Preis erkauft“169 , und: „Werdet nicht Sklaven derMenschen“ 170 , und wiederum: „Einer ist füralle gestorben, damit <strong>die</strong> da leben, nichtmehr sich selbst leben, sondern dem, der fürsie gestorben ist“ 171 . Dasselbe deutet <strong>Paulus</strong>auch hier <strong>an</strong>, wenn er spricht: „durch denLeib“. — D<strong>an</strong>n ermuntert er durch <strong>die</strong> Hoffnungauf eine bessere Zukunft, indem ersagt:„Damit wir Gott Frucht tragen.“Früher trugt ihr dem Tode Frucht, sagt er,nun aber Gott.V. 5: „Als wir nämlich im Fleische waren, dawirkten <strong>die</strong> sündhaften Lüste wegen <strong>des</strong> Gesetzesin unseren Gliedern, daß wir dem Tode Fruchttrugen.“Merkst du da den Gewinn vom ersten M<strong>an</strong>ne?<strong>Paulus</strong> sagt auch nicht: Als wir im Gesetzewaren — er hütet sich immer, den Häretikerneinen Anhaltspunkt zu geben —, sondern:„als wir im Fleische waren“, d. h. währendunseres sc<strong>hl</strong>echten W<strong>an</strong>dels in unseremfleisc<strong>hl</strong>ichen Leben. Er will damit nicht gesagthaben, daß wir vordem im Fleische waren,nun aber körperlos geworden herumw<strong>an</strong>deln.Wenn er das sagt, spricht er weder169 1 Kor. 6, 19—20.170 Ebd. 7, 23.171 2 Kor. 5, 15.


das Gesetz schuldig <strong>an</strong> unsern Sünden nochspricht er es frei von jedem Vorwurfe. Esspielt <strong>die</strong> Rolle eines scharfen Anklägers, indemes <strong>die</strong> Sünden aufdeckt. Denn d<strong>ad</strong>urch,daß es dem Menschen, der nicht gewillt ist,zu folgen, immer mehr Vorschriften macht,vermehrt es <strong>die</strong> Übertretungen. Darum sagter nicht: <strong>die</strong> sündhaften Lüste, <strong>die</strong> unter demGesetze statthatten, sondern: „wegen <strong>des</strong>Gesetzes“; er fügt auch nicht hinzu:statthatten, sondern sagt einfach: „wegen <strong>des</strong>Gesetzes“, d. h. <strong>die</strong> wegen <strong>des</strong> Gesetzes inErscheinung traten, offenkundig wurden.Ferner, um nicht dem Fleisch <strong>die</strong> Schuld zugeben, sagt er nicht: welche <strong>die</strong> Glieder wirkten,sondern: „welche in unsern Gliedernwirkten“. Damit drückt er aus, daß <strong>die</strong> Sündevon wo <strong>an</strong>ders her den Ursprung hat, nämlichvon der Gesinnung, <strong>die</strong> wirksam ist,nicht von den Gliedern, <strong>die</strong> in Wirksamkeitgesetzt werden. Denn <strong>die</strong> Seele ist wiederTonkünstler, <strong>die</strong> leibliche Natur wie <strong>die</strong> Zither;<strong>die</strong>se klingt auch so, wie der Künstler eswill. Nicht ihr dürfen wir eine mißtönigeWeise zur Last legen, sondern ihm.V. 6: „Nun aber sind wir befreit von dem Gesetze.“— Merkst du, wie der Apostel hier wiedersowo<strong>hl</strong> <strong>des</strong> Fleisches wie auch <strong>des</strong> Gesetzesschont? Er sagt nicht, daß das Gesetz befreitworden sei, auch nicht, daß das Fleisch befreitworden sei, sondern daß wir befreitworden sind. Und wie sind wir befreit worden?D<strong>ad</strong>urch, daß der alte Mensch, der vonder Sünde gef<strong>an</strong>gen gehalten wurde, gestorbenund begraben worden ist. Das bringt<strong>Paulus</strong> <strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er sagt:„Gestorben für das Gesetz, in welchem wir gef<strong>an</strong>gengehaltenwurden“;wie wenn er sagen wollte: Die Fessel, mit der wirgef<strong>an</strong>gen gehalten wurden, ist zerrostet, ist zerrissen,so daß <strong>die</strong> Macht, <strong>die</strong> uns gef<strong>an</strong>gen hielt,uns nicht weiter gef<strong>an</strong>gen halten k<strong>an</strong>n, nämlich<strong>die</strong> Sünde. Aber laß’ nicht nach (im Eifer), werdenicht allzu sorglos! Denn du bist befreit worden,um wieder zu <strong>die</strong>nen, freilich nicht in der gleichenWeise, sondern:„<strong>In</strong> einem neuen Geiste, nicht in dem altenBuchstaben.“— Was hat <strong>die</strong>ses Wort für einen Sinn? Wirmüssen es uns klar machen, damit wir nichtin Verwirrung geraten, wenn wir auf <strong>die</strong>seStelle stoßen. — Als Adam gesündigt hatte,will <strong>Paulus</strong> sagen, wurde auch sein Leibsterblich und den Leidenschaften unterworfen;erzeigten sich viele natürliche Gebrechen;das Roß wurde störrischer und ungezügelter.Als aber Christus kam, damachte er es uns durch <strong>die</strong> Taufe fügsamerund spornte es <strong>an</strong> mit dem Flügelsc<strong>hl</strong>ag <strong>des</strong>Geistes.4.Es ist darum nicht <strong>die</strong>selbe Rennbahn, <strong>die</strong>vor den Alten lag und <strong>die</strong> vor uns liegt; damalswar der Wettlauf nicht so leicht. Daherverl<strong>an</strong>gt Christus von uns, daß wir uns nichtbloß vom Morde freihalten, wie von den Alten,sondern auch vom Zorne; er befie<strong>hl</strong>t, daßwir uns nicht bloß <strong>des</strong> Ehebruches, sondernauch lüsterner Blicke enthalten; daß wir nichtbloß den Meineid unterlassen, sondern denEid überhaupt; er befie<strong>hl</strong>t, neben den eigenenAngehörigen auch unsere Feinde zu lieben.So hat er in allen <strong>an</strong>dern Dingen <strong>die</strong> Rennbahnweiter gemacht. Wenn wir nicht folgen,droht er mit der Hölle; damit zeigt er <strong>an</strong>, daßdas, was er fordert, nicht in das Belieben derWettkämpfer gestellt sei, wie <strong>die</strong> Jungfräulichkeitund <strong>die</strong> freiwillige Armut, sondernnotwendig geleistet werden müsse. Denn essind notwendige und streng verl<strong>an</strong>gte Dinge;wer sie unterläßt, hat <strong>die</strong> strengste Strafe zugewärtigen. Daher sagt er: „Wenn eure Gerechtigkeitnicht größer ist als <strong>die</strong> derSchriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr124


nicht in das Himmelreich eingehen“ 172 . Werauf das Himmelreich nicht sieht, der wirdsicher der Hölle verfallen. Darum sprichtauch <strong>Paulus</strong>: „Die Sünde wird über euchnicht herrschen; denn ihr seid nicht unterdem Gesetze, sondern unter der Gn<strong>ad</strong>e“; undhier wiederum: „Damit wir Gott <strong>die</strong>nen ineinem neuen Geiste, nicht in dem alten Buchstaben.“Es gibt ja keinen verdammendenBuchstaben mehr, d. i. das alte Gesetz, sonderneinen helfenden Geist. Darum war esbei den Alten etwas g<strong>an</strong>z Seltenes, wenn jem<strong>an</strong>d<strong>die</strong> jungfräuliche Keuschheit bewahrte;jetzt ist <strong>die</strong>s eine allenthalben auf dem Erdkreiseverbreitete Erscheinung. Den Tod habendamals nur einige wenige Männer verachtet;jetzt gibt es in Dörfern und Städtenunzä<strong>hl</strong>ige Scharen von Märtyrern, <strong>die</strong> nichtallein aus Männern, sondern auch aus Weibernbestehen.Nach <strong>die</strong>sen Worten löst der Apostel wiedereinen auftauchenden Einw<strong>an</strong>d undbeweist in der Lösung selbst das, was er will.Er gibt darum <strong>die</strong> Lösung nicht direkt, sondernin Form einer Widerrede, um durch <strong>die</strong>Notwendigkeit einer Antwort Gelegenheit zubekommen, das, was er will, zu sagen. Nachden Worten: „<strong>In</strong> einem neuen Geiste, nicht indem alten Buchstaben“, fährt er fort:V. 7: „Was sollen wir nun sagen? Ist das GesetzSünde? Das sei ferne!“Im vorausgehenden hat der Apostel Sätzeausgesprochen wie folgende: „Die sündhaftenLüste wirkten wegen <strong>des</strong> Gesetzes in unsernGliedern.“ — „Die Sünde soll euch nichtbeherrschen; denn ihr seid nicht unter demGesetze.“ — „Wo kein Gesetz ist, da ist auchkeine Übertretung.“ — „Das Gesetz kam dazu,damit <strong>die</strong> Sünde sich mehre.“ — „DasGesetz bringt Zorn hervor.“ — Alle <strong>die</strong>seSätze scheinen einen Vorwurf gegen das Gesetzzu enthalten. Um den daraus entstehendenVerdacht zu beseitigen, macht sich derApostel selbst einen Einw<strong>an</strong>d und sagt: „Was172 Matth. 5, 20.125nun? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne!“Bevor er <strong>an</strong> den Beweis geht, verneint er (<strong>die</strong>gestellte Frage) lebhaft, um den Zuhörer fürsich einzuwenden und ihn, wenn er sich etwagestoßen fü<strong>hl</strong>en sollte, zu beschwichtigen.Denn wenn <strong>die</strong>ser eine solche Verneinunghört, geht er, voll überzeugt von derguten Gesinnung <strong>des</strong> Apostels, mit ihm lieberauf <strong>die</strong> Untersuchung <strong>des</strong> scheinbarenWiderspruches ein und hat keinen Verdachtgegen seine Rede. Aus demselben Grundebringt auch der Apostel den Einw<strong>an</strong>d in einereigenen Form. Er sagt nämlich nicht: Wassoll ich also sagen? sondern: „Was sollen wiralso sagen?“ Es gewinnt den Anschein, alsh<strong>an</strong>dle es sich um eine Beratsc<strong>hl</strong>agung odereinen Meinungsaustausch, als werde <strong>die</strong>Schwierigkeit der versammelten Gemeindevorgelegt und als gehe sie nicht von ihm aus,sondern ergebe sich aus dem Zusammenh<strong>an</strong>gder Rede und aus der Wahrheit derTatsachen. Daß der Buchstabe tötet, dem widersprichtniem<strong>an</strong>d, will er sagen; ebenso istes g<strong>an</strong>z klar, daß der Geist lebendig macht,und auch das dürfte niem<strong>an</strong>d in Abrede stellen.Wenn nun das zugest<strong>an</strong>den wird, was sollen wir vom Gesetze sagen?Daß es Sünde ist? Das sei ferne! Lösealso den Widerspruch? Siehst du, wie sich<strong>Paulus</strong> neben sich einen Gegner vorstellt undwie er, <strong>die</strong> Miene <strong>des</strong> Lehrers <strong>an</strong>nehmend,zur Lösung schreitet? Welches ist nun <strong>die</strong>Lösung? Sünde ist zwar das Gesetz nicht,spricht er:„allein ich hätte <strong>die</strong> Sünde nicht erk<strong>an</strong>nt außerdurch das Gesetz.“— Merkst du <strong>die</strong> hohe Weisheit <strong>des</strong> Apostels?Er stellt zunächst in Form einer Antwortauf einen Einw<strong>an</strong>d fest, was das Gesetz nichtist. <strong>In</strong>dem er <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d behebt, redet erden Juden zu Gefallen und macht sie geneigt,einen weniger schwerwiegenden Vorwurfgegen das Gesetz zuzugeben. Und welcherist <strong>die</strong>ser weniger schwerwiegende Vorwurf?,,Ich hätte <strong>die</strong> Sünde nicht erk<strong>an</strong>nt außerdurch das Gesetz.“


,,Ich hätte ja von der Begierde nichts gewußt,wenn das Gesetz nicht sagte: Du sollst nicht begehren“173 .— Siehst du, wie der Apostel allmä<strong>hl</strong>ich aufzeigt,daß das Gesetz nicht bloß ein Anklägerder Sünde ist, sondern daß es ihr auch Förderungund Vorschub geleistet habe? Allerdingsmacht er auch ersichtlich, daß <strong>die</strong>s keineswegsdurch Schuld <strong>des</strong> Gesetzes so gekommensei, sondern durch <strong>die</strong> und<strong>an</strong>kbareSinnesart der Juden. Auch den M<strong>an</strong>ichäernmöchte er den Mund stopfen, <strong>die</strong> als Ankläger<strong>des</strong> Gesetzes auftraten 174 . Nachdem ernämlich gesagt hat: „Ich hätte <strong>die</strong> Sündenicht erk<strong>an</strong>nt außer durch das Gesetz, undvon der Begierde nichts gewußt, wenn dasGesetz nicht sagte: Du sollst nicht begehren“,fährt er fort:V. 8: „Die Sünde bekam aber Anlaß durch dasGebot und wirkte in mir jegliche Begierde.“5.Siehst du da, wie <strong>Paulus</strong> nichts auf das Gesetzkommen läßt? Die Sünde, sagt er, bekamAnlaß und mehrte <strong>die</strong> Begierde,nicht das Gesetz, und es geschah das Gegenteilvon dem, was das Gesetz wollte. Es wardas eine Folge der Schwäche, nicht der Bosheit.Wenn wir nämlich etwas begehren undauf ein Hindernis stoßen, so lodert <strong>die</strong>Flamme der Begierde noch höher empor.Schuld dar<strong>an</strong> ist aber nicht das Gesetz. Dieseswar vielmehr ein Hindernis, das <strong>die</strong> Verführunghemmte; <strong>die</strong> Sünde aber, d. i. deinLeichtsinn, deine böse Gesinnung,mißbrauchte das Gute <strong>zum</strong> Gegenteil. Nichtden Arzt trifft <strong>die</strong>ser Vorwurf, sondern denKr<strong>an</strong>ken, der <strong>die</strong> Arznei unrichtig gebrauchte.Denn nicht dazu hatte Gott das Gesetzgegeben, daß es <strong>die</strong> Begierde <strong>an</strong>fache, son-173 Exod. 20, 17.174 Nach August. de haeres. 46 lehrten sie, daß der Gott, welcher durchMoses das Gesetz gegeben bat, nicht der wahre Gott, sondern ein Fürst derFinsternis sei.126dern daß es sie auslösche. Das Gegenteil tratjedoch ein. Aber nicht das Gesetz trifft <strong>des</strong>wegender Vorwurf, sondern uns. Dennwenn jem<strong>an</strong>d den Fieberkr<strong>an</strong>ken, der zurUnzeit einen kü<strong>hl</strong>en Trunk begehrt, nichtden Durst stillen läßt und so <strong>die</strong> Begierdenach der verderblichen Wonne steigert, sover<strong>die</strong>nt er dafür keinen T<strong>ad</strong>el. Pflicht <strong>des</strong>Arztes war es, den Trunk zu verbieten,Pflicht <strong>des</strong> Kr<strong>an</strong>ken ist es, sich <strong>des</strong>selben zuenthalten. Was geht es das Gesetz <strong>an</strong>, daß <strong>die</strong>Sünde d<strong>ad</strong>urch Anlaß bekam? Mehren j<strong>ad</strong>och m<strong>an</strong>che sc<strong>hl</strong>echte Menschen ihreSc<strong>hl</strong>echtigkeit ger<strong>ad</strong>e infolge guter Gebote.So hat auch der Teufel den Judas d<strong>ad</strong>urch insVerderben gestürzt, daß er ihn <strong>zum</strong> Geiz verleiteteund <strong>zum</strong> Dieb von Armengeldernmachte. Aber nicht <strong>die</strong> Tatsache, daß ihm derGeldbeutel <strong>an</strong>vertraut war, hat das bewirkt,sondern seine eigene sc<strong>hl</strong>echte innere Gesinnung.So hat auch <strong>die</strong> Eva den Adam ver<strong>an</strong>laßt,von dem Baume zu essen und ihn auf<strong>die</strong>se Weise aus dem Para<strong>die</strong>se vertrieben.Aber nicht der Baum war schuld, wenn auchdurch ihn der Anlaß dazu geboten war.Wenn <strong>Paulus</strong> vom Gesetze m<strong>an</strong>chen etwasharten Ausdruck gebraucht, so darf dich dasnicht wundern. Er ist nämlich vor eine heikleAufgabe gestellt; einerseits möchte er denen,<strong>die</strong> eine <strong>an</strong>dere (d. i. falsche) Anschauungvom Gesetze haben, keine H<strong>an</strong>dhabe bieten(über ihn herzufallen), <strong>an</strong>dererseits gibt ersich große Mühe, den Gegenst<strong>an</strong>d richtigdarzustellen. Du darfst darum das hier Gesagtenicht nach dem Wortlaut neh- men, sondern mußt den Grund in Betrachtziehen, der ihn so zu sprechen ver<strong>an</strong>laßte.Bedenke auch den F<strong>an</strong>atismus der Judenund ihre beständige Eifersüchtelei, mitwelchen der Apostel aufräumen möchte; erläßt darum m<strong>an</strong>chmal das Gesetz hart <strong>an</strong>,nicht um es herabzuwürdigen, sondern umder Streitsucht der Juden ein Ziel zu setzen.Denn wenn es ein wirklicher Vorwurf gegendas Gesetz wäre, daß <strong>die</strong> Sünde d<strong>ad</strong>urch einenAnlaß bekäme, so träfe das ja auch beim


Neuen Bunde zu. Auch im Neuen Bunde gibtes eine große Anza<strong>hl</strong> von Geboten, und zwarin bezug auf wichtigere Dinge. M<strong>an</strong> sieht d<strong>ad</strong>asselbe zutreffen nicht bloß wie dort, undzwar nicht bloß betreffs der Begierde, sondernbetreffs jeder Sünde überhaupt. „Wennich nicht gekommen wäre und nicht zu ihnengesprochen hätte“, heißt es, „hätten sie keineSünde“ 175 . Es hat also hier <strong>die</strong> Sünde Ver<strong>an</strong>lassungbekommen und <strong>die</strong> größere Strafe.Und wiederum, wo <strong>Paulus</strong> von der Gna<strong>des</strong>pricht, sagt er: „Um wieviel härtere Bestrafung,meint ihr, werden <strong>die</strong> ver<strong>die</strong>nen, welcheden Sohn Gottes mit Füßen getreten haben?“176 So hat also auch hier <strong>die</strong> härtere Bestrafungihre Begründung in der größerenWo<strong>hl</strong>tat. Von den Heiden sagt derselbe <strong>hl</strong>.<strong>Paulus</strong>, sie seien <strong>des</strong>halb nicht zu entschuldigen,weil sie, mit Vernunft begabt, <strong>die</strong>Schönheit der Schöpfung erk<strong>an</strong>nten und sichhätten von <strong>die</strong>ser <strong>zum</strong> Schöpfer können führenlassen, aber aus der Weisheit Gottes nichtden gehörigen Nutzen zogen. Du siehst ausallen <strong>die</strong>sen Beispielen, daß für <strong>die</strong> Gottlosender Anlaß zu schwerer Bestrafung ger<strong>ad</strong>evon guten Dingen ausgeht. Wir werden aber<strong>des</strong>wegen keineswegs den Wo<strong>hl</strong>taten Gottes<strong>die</strong> Schuld geben, sondern wir werden sieauf das hin nur noch mehr <strong>an</strong>staunen und<strong>die</strong> Sinnesart derer t<strong>ad</strong>eln, <strong>die</strong> sie <strong>zum</strong> Gegenteilmißbraucht haben. So wollen wir esauch in bezug auf das Gesetz machen.Doch das ist leicht verständlich und hat keineSchwierigkeit; dagegen liegt ein (scheinbarer)Widerspruch in folgendem: Wie k<strong>an</strong>n <strong>Paulus</strong>sagen: Die Be- gierde wäre nichtgewesen, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte:Du sollst nicht begehren? Wenn es keine(sündhafte) Begierde gab, bevor der Menschdas Gesetz empf<strong>an</strong>gen hatte, woher kamd<strong>an</strong>n <strong>die</strong> Sintflut? woher <strong>die</strong> Zerstörung Sodomas?— Was meint also <strong>Paulus</strong>? — Ermeint einen hohen Gr<strong>ad</strong> von Begierde. Darumsagt er nicht: das Gesetz wirkte in mir175 Joh, 15, 22.176 Hebr. 10, 29.127Begierde, sondern: „jegliche Begierde“. Damitdeutet er das Mehrwerden derselben <strong>an</strong>.— Welches ist nun der Gewinn vom Gesetze,wenn es <strong>die</strong> Leidenschaft nur steigert? fragtm<strong>an</strong>. Keiner, sondern es hat viel Sch<strong>ad</strong>engebracht. Aber darin liegt keine Anklage gegendas Gesetz, sondern gegen den Leichtsinnderer, <strong>die</strong> es empf<strong>an</strong>gen hatten. DieSünde selbst war wirksam geworden, aberdurch das Gesetz. <strong>In</strong> der Absicht, warum dasGesetz gegeben war, lag <strong>die</strong>s aber nicht, sonderndas Gegenteil. Mächtiger also war <strong>die</strong>Sünde geworden, will der Apostel sagen,und stark. Aber das ist wieder keine Anklagegegen das Gesetz, sondern gegen <strong>die</strong> Und<strong>an</strong>kbarkeitder Juden.„Denn ohne das Gesetz war <strong>die</strong> Sünde tot“,d. h. nicht so zur Erkenntnis gekommen.Auch vor dem Gesetz erk<strong>an</strong>nten zwar <strong>die</strong>Menschen, daß sie gesündigt hatten, abereine klarere Erkenntnis davon bekamen sie,nachdem das Gesetz gegeben war. Darumst<strong>an</strong>den sie (nachher) unter einer schärferenAnklage; denn es ist nicht das gleiche, <strong>die</strong>Natur (allein) als Anklägerin zu haben, undneben der Natur auch noch das Gesetz, welchesalles offenbar macht.V. 9: „Ich aber lebte einst ohne Gesetz.“— W<strong>an</strong>n denn? Vor Moses. Beachte, wie derApostel sich Mühe gibt, zu zeigen, daß dasGesetz sowo<strong>hl</strong> in dem, was es leistete, wieauch in dem, was es nicht leistete, als schwereLast auf der mensc<strong>hl</strong>ichen Natur lastete.Sol<strong>an</strong>ge ich ohne Gesetz lebte, war ich mirnicht so schuldbewußt:„als aber das Gebot kam, lebte <strong>die</strong> Sünde auf“V. 10: „Ich aber starb.“— Das scheint eine Anklage gegen das Gesetzzu sein; wenn m<strong>an</strong> es aber näherbetrachtet, so ist es sogar ein Lob für dasselbe.Es hat ja der Sünde nicht das Daseinbegeben, sondern sie, <strong>die</strong> im Verborgenenwucherte, offenbar gemacht. Das ist aber eigentlichein Lob für das Gesetz. Denn vorihm sündigten <strong>die</strong> Menschen unbewußt; alses aber gekommen war, erk<strong>an</strong>nten sie we-


nigstens g<strong>an</strong>z klar, wenn sie schon keine <strong>an</strong>dereFrucht davon hatten, daß sie gesündigthatten. Das war aber schon ein beträchtlicherSchritt zur Befreiung davon. Daß es nicht zurwirklichen Befreiung von der Sünde kam,dar<strong>an</strong> war nicht das Gesetz schuld, welchesja alles Mögliche dazu get<strong>an</strong> hatte, sondern<strong>die</strong> Sinnesart der Juden, <strong>die</strong> über alle Erwartungverderbt war.6.128Das Geschehnis, daß etwas <strong>zum</strong> Sch<strong>ad</strong>enwar, was <strong>zum</strong> Nutzen sein sollte, war dochg<strong>an</strong>z gegen alle Erwartung. Darum sagt derApostel:„Und es zeigte sich, daß das Verbot, welches <strong>zum</strong>Leben gegeben war, <strong>zum</strong> Tod gereichte.“— Er sagt nicht: Es ward Tod, auch nicht: Esbrachte den Tod, sondern: „Es zeigte sich“.D<strong>ad</strong>urch drückt er das Überraschende, dasUnerwartete <strong>die</strong>ser merkwürdigen Erscheinungaus und setzt sie g<strong>an</strong>z auf Rechnungder damaligen Menschen. Wenn m<strong>an</strong> dasZiel betrachten wollte, zu dem das Gesetzhinführen sollte, will er sagen, so war <strong>die</strong>sdas Leben; dazu war es gegeben. Wenn inWirklichkeit der Tod davon ausging, so trifft<strong>die</strong> Schuld dar<strong>an</strong> <strong>die</strong>, welche das Gebot bekommenhatten, nicht das Gebot selbst, welches<strong>zum</strong> Leben führen sollte. — Noch deutlicherdrückt er dasselbe durch den nachfolgendenSatz aus:V. 11: „Denn <strong>die</strong> Sünde nahm Anlaß durch dasGebot, verführte mich und brachte mir durch dasselbeden Tod.“— Siehst du, wie der Apostel es immer gegen<strong>die</strong> Sünde hat und dabei das Gesetz von jederAnklage losspricht? Darum fährt er auchfort:V. 12: „Und so ist das Gesetz heilig und das Gebotheilig und gerecht und gut.“— Wenn es euch recht ist, so wollen wir auch<strong>die</strong> fal- schen Auslegungen <strong>an</strong>führen;d<strong>ad</strong>urch wird <strong>die</strong> unsrige klarer werden.Einige meinen, der Apostel spreche <strong>an</strong> <strong>die</strong>serStelle nicht von dem Gesetze <strong>des</strong> Moses,sondern, wie <strong>die</strong> einen meinen, vom Naturgesetze,nach der Ansicht der <strong>an</strong>dern vondem im Para<strong>die</strong>se gegebenen Gebote. Aberdem <strong>Paulus</strong> schwebt doch immer und überallals Ziel vor, darzutun, das alttestamentlicheGesetz habe aufgehört; von den beiden <strong>an</strong>dernGesetzen spricht er niemals. Und g<strong>an</strong>zmit Recht; denn ger<strong>ad</strong>e vor dem alttestamentlichenGesetze hatten <strong>die</strong> Juden zitterndeEhrfurcht und kämpften darum gegen <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e <strong>an</strong>. Für das Gebot im Para<strong>die</strong>se erscheintweder bei <strong>Paulus</strong> noch bei irgendeinem<strong>an</strong>dern der Name „Gesetz“. Damit <strong>die</strong>saber aus seinen eigenen Worten klarer werde,wollen wir etwas weiter auf <strong>die</strong>selbenzurückgehen. Nachdem der Apostel zu seinenZuhörern ausführlich über den christlichenW<strong>an</strong>del gesprochen hat, fährt er fort:„Wisset ihr nicht, Brüder, daß das Gesetzüber den Menschen Herr ist, sol<strong>an</strong>ge er lebt?Demnach seid auch ihr tot geworden für dasGesetz.“ Wenn der Apostel das von dem Naturgesetzesagt, so folgt daraus, daß wir einsolches nicht haben. Ist das aber wahr, d<strong>an</strong>nsind wir in unserem H<strong>an</strong>deln weniger vonVernunft bestimmt als <strong>die</strong> unvernünftigenTiere. Doch nein, das ist nicht so. Über dasGebot im Para<strong>die</strong>se sich in einen Streit einzulassen,ist unnötig; m<strong>an</strong> würde da nur eineüberflüssige Mühe auf sich nehmen und gegeneine ausgemachte Sache sich ereifern. —Wie ist das nun zu verstehen, wenn es heißt:„Die Sünde erk<strong>an</strong>nte ich nicht außer durchdas Gesetz“? — Damit ist nicht eine vollständigeUnkenntnis gemeint, sondern nur(das Nichtvorh<strong>an</strong>densein) einer genauerenErkenntnis. Denn wenn er das vom Naturgesetzeverstände, welchen Sinn hätten d<strong>an</strong>n<strong>die</strong> folgenden Worte: „Denn ich lebte einstohne Gesetz“? Hat ja doch weder Adam nochirgendein <strong>an</strong>derer Mensch jemals ohne Naturgesetzgelebt. Gleich bei seiner Erschaffunglegte er ihm <strong>die</strong>ses Gesetz ins Herz und


gab es der g<strong>an</strong>zen mensc<strong>hl</strong>ichen Natur <strong>zum</strong>verläßlichen Begleiter. Außerdem kommt bei<strong>Paulus</strong> nirgends der Name „Gebot“ vor fürdas Naturgesetz; dagegen nennt er das alttestamentlicheGesetz „Gebot“ auch„gerecht“ und „heilig“ und ein „Gesetz <strong>des</strong>Geistes“. Das Naturgesetz ist uns aber nichtvom Hl. Geiste gegeben worden; denn auch<strong>die</strong> Barbaren und <strong>die</strong> Heiden, kurz alle Menschenhaben es. Daraus geht hervor, daß derApostel oben und unten und überall vommosaischen Gesetze spricht. Dieses Gesetz istes auch, welches er „heilig“ nennt, wenn ersagt: „Und so ist das Gesetz heilig und dasGebot heilig und gerecht und gut.“ Dennwenn auch <strong>die</strong> Juden, nachdem sie das Gesetzerhalten hatten, unrein, ungerecht undhabsüchtig waren, so tut das der Kraft <strong>des</strong>Gesetzes keinen Abbruch, ebensowenig wieihr Unglaube <strong>die</strong> Treue Gottes nicht hinfälligmacht. So ist denn aus allem dem ersichtlich,daß <strong>Paulus</strong> hier vom Gesetze <strong>des</strong> Mosesspricht.V. 13: „So ist also das Gute mir <strong>zum</strong> Tod geworden?Mit nichten, sondern <strong>die</strong> Sünde, damitsie in Erscheinung trete als Sünde.“D. h. damit sich zeige, ein wie großes Übel<strong>die</strong> Sünde ist, der leichtfertige Wille, derDr<strong>an</strong>g <strong>zum</strong> Bösen, <strong>die</strong> Tat selbst und <strong>die</strong>verderbte Gesinnung; <strong>die</strong>se ist ja schuld <strong>an</strong>allem Übel. Der Apostel macht das Übel derSünde noch deutlicher, indem er hinweist aufdas Übermaß der Gn<strong>ad</strong>e Christi und klarmacht, von welch großem Übel er dasMenschengesc<strong>hl</strong>echt befreit habe, ein Übel,das durch <strong>die</strong> Heilmittel nur noch versc<strong>hl</strong>immert,durch <strong>die</strong> Verbote nur vergrößertwurde. Darum fährt er auch fort:„Damit <strong>die</strong> Sünde über <strong>die</strong> Maßen sündhaft werdedurch das Verbot.“Siehst du, wie der Apostel überall sich mitdem Gesetze beschäftigt und wie er ger<strong>ad</strong>edurch das, was er <strong>die</strong>sem vorwirft, immermehr <strong>des</strong>sen Kraft hervorleuchten läßt?Nicht wenig trägt zu <strong>die</strong>sem Ziele bei, daß eraufzeigt, ein wie großes Übel <strong>die</strong> Sünde sei,129und daß er ihr g<strong>an</strong>zes Gift enthüllt undkundmacht. Dies geschieht durch <strong>die</strong> Worte:„Damit <strong>die</strong> Sünde über <strong>die</strong> Maßen sündhaftwerde durch das Verbot.“ D. h. damit in Erscheinungtrete, was für ein großes Übel, wasfür ein großes Verderben <strong>die</strong> Sünde sei; undger<strong>ad</strong>e das ist zutage getreten durch dasVerbot. Hieraus beweist er zugleich<strong>die</strong> höhere Macht der Gn<strong>ad</strong>e gegenüber demGesetze; <strong>die</strong> höhere Macht, nicht den Gegensatz.Schau nicht darauf, daß <strong>die</strong>, welche dasGesetz empf<strong>an</strong>gen hatten, sc<strong>hl</strong>immer wurden,sondern lenke dein Augenmerk darauf,daß das Gesetz <strong>die</strong> Sünde nicht steigern wollte,sondern bemüht war, <strong>die</strong> vorh<strong>an</strong>deneauszurotten. Wenn es dazu nicht genug Krafthatte, so reiche ihm doch den Lorbeer für <strong>die</strong>gute Absicht. Um so mehr aber fasse <strong>an</strong>beten<strong>des</strong>Staunen über <strong>die</strong> Macht Christi, <strong>die</strong>ein so vielgestaltiges und schwer zu bekämpfen<strong>des</strong>Übel <strong>zum</strong> Verschwinden gebracht, es<strong>an</strong> der Wurzel abgeschnitten und vertilgt hat.Wenn du aber von Sünde hörst, so denkenicht <strong>an</strong> eine für sich bestehende Macht, sondern<strong>an</strong> eine sc<strong>hl</strong>imme H<strong>an</strong>dlung, <strong>die</strong> immerentsteht und vergeht, <strong>die</strong> nicht war, bevor sieentst<strong>an</strong>d, und wieder verschwindet, nachdemsie entst<strong>an</strong>den ist. Deswegen war dennauch ein Gesetz gegeben. Ein Gesetz wird j<strong>an</strong>iemals gegeben, um <strong>die</strong> Natur aufzuheben,sondern um <strong>die</strong> freiwillige sc<strong>hl</strong>echte Tat in<strong>die</strong> rechte Bahn zu lenken.7.Das wissen auch <strong>die</strong> weltlichen Gesetzgeberund überhaupt alle Menschen; sie suchen nur<strong>die</strong> aus böser Gesinnung entspringendenÜbel einzuschränken, maßen sich aber nicht<strong>an</strong>, <strong>die</strong> der mensc<strong>hl</strong>ichen Natur <strong>an</strong>haftendenauszurotten; denn das ist nicht möglich. Wasvon der Natur herkommt, ist nicht zu ändern,wie ich euch <strong>die</strong>s schon mehrfach in<strong>an</strong>dern Reden gesagt habe. — Doch lassen


wir <strong>die</strong>se Streitfragen beiseite und sprechenwir wieder über praktische Dinge <strong>des</strong> sittlichenLebens! Übrigens ist <strong>die</strong>ses nur <strong>die</strong> <strong>an</strong>dereSeite jener Streitfragen; denn wenn wirdas Böse ablegen und dafür <strong>die</strong> Tugend <strong>an</strong>nehmen,so führen wir eben d<strong>ad</strong>urch denklaren Beweis für <strong>die</strong> Lehre, daß das Bösenicht in der Natur (<strong>des</strong> Menschen) liegt. Denen,<strong>die</strong> sich mit der Frage abmühen, woherdas Böse, können wir d<strong>an</strong>n nicht bloß mitWorten, sondern mit Taten leicht Stilleseingebieten; wir selbst haben ja <strong>die</strong>selbemensc<strong>hl</strong>iche Natur wie sie und sind doch freivon der Sc<strong>hl</strong>echtigkeit, <strong>die</strong> ihnen eigen ist. —Laßt uns auch nicht immer das vor Augenhaben, daß <strong>die</strong> Tugend mühevoll ist, sonderndaß es möglich ist, recht zu h<strong>an</strong>deln;ja wenn wir mit Eifer dabei sind, so wird unsihre Übung leicht und zur Fertigkeit. Sprichstdu mir aber von der Befriedigung der Wollustdurch <strong>die</strong> Sünde, so sprich auch von ihremAusg<strong>an</strong>g; sie stürzt nämlich in den Tod,während <strong>die</strong> Tugend <strong>zum</strong> Leben führt. Fragenwir ferner, wenn es beliebt, auch nachdem, was bei der einen wie der <strong>an</strong>dern vordem Ende kommt. Da sehen wir, daß <strong>die</strong>Sünde viel Weh bringt, <strong>die</strong> Tugend aber vielLust; denn was ist, sag mir, qualvoller als einsc<strong>hl</strong>echtes Gewissen? Was dagegen <strong>an</strong>genehmerals eine schöne Hoffnung? Nichtsbrennt und drückt uns so wie eine sc<strong>hl</strong>immeErwartung; nichts hält uns so aufrecht, ja gibtuns gleichsam Flügel, wie ein gutes Gewissen.Das läßt sich aus der Erfahrung <strong>des</strong> täglichenLebens ersehen. So führen <strong>die</strong> Bewohnerder Gef<strong>an</strong>genenhäuser, <strong>die</strong> ihre Bestrafungerwarten, mögen sie auch noch so guteKost haben, doch ein viel unglücklicheresLeben als Bettler auf der L<strong>an</strong>dstraße, <strong>die</strong> sichkeiner bösen Tat bewußt sind. Denn <strong>die</strong> Erwartungihres Unglücks läßt sie nicht <strong>zum</strong>Genuß der gegenwärtigen Annehmlichkeitenkommen. Doch was rede ich von Gef<strong>an</strong>genen?Auch solche, <strong>die</strong> sich frei bewegen unddabei reich sind, aber ein böses Gewissenhaben, sind in derselben Lage; viel besser als130sie sind H<strong>an</strong>dwerker dar<strong>an</strong>, <strong>die</strong> sich deng<strong>an</strong>zen Tag mit schwerer Arbeit abplagenmüssen. Auch <strong>die</strong> Gl<strong>ad</strong>iatoren, obzwar wirsie häufig in Schenken sich betrinken,schwelgen und dem Bauche <strong>die</strong>nen sehen,bedauern wir, daß sie elender dar<strong>an</strong> sind alsalle <strong>an</strong>dern Menschen, weil der Ged<strong>an</strong>ke <strong>an</strong>den elenden Tod, der ihnen bevorsteht, ihnenjenes Wo<strong>hl</strong>leben vergällt. Wenn ihnen selbstaber <strong>die</strong>ses ihr Leben doch <strong>an</strong>genehm vorkommt,so denkt <strong>an</strong> meine Rede, <strong>die</strong> ich euchschon oft und oft wiederholt habe. Es istnicht zu wundern, daß ein Mensch, der immerfortin der Sünde lebt, das bittere Wehderselben nicht flieht. Sieh, ein so traurigesGeschäft (wie das der Gl<strong>ad</strong>iatoren) kommtdenen, <strong>die</strong> es treiben, doch liebenswert vor.Aber <strong>des</strong>wegen nennen wir sie nicht glücklich,sondern bedauern sie eben gr<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen,weil sie gar nicht wissen, in welchemElend sie stecken. — Was soll m<strong>an</strong> von denEhebrechern sagen, <strong>die</strong> für eine geringeLust eine schmä<strong>hl</strong>iche Knechtschaft,große Geldausgaben und ein wahres Kainslebenauf sich nehmen müssen? Ja, sind sienicht gewissermaßen noch sc<strong>hl</strong>immer dar<strong>an</strong>als Kain? Sie dürfen der Gegenwart nichttrauen und müssen zittern vor der Zukunft;Freund wie Feind, Mitwisser wie Nichtmitwisserhalten sie für verdächtig. Ja nicht einmalim Sc<strong>hl</strong>afe sind sie frei von <strong>die</strong>ser Unruhe;ihr böses Gewissen gaukelt ihnen böseTräume vor und setzt sie so in Schrecken. —Nicht so der, welcher sich selbst beherrscht;in Seelenruhe und großer innerer Freiheitverbringt er sein g<strong>an</strong>zes Leben. Stelle also derkurzen Lust <strong>des</strong> einen <strong>die</strong> vielen Stürme solcherBefürchtungen im Leben <strong>des</strong> <strong>an</strong>derngegenüber, der kurzen Mühe der Selbstüberwindung<strong>die</strong> stete Ruhe <strong>des</strong> Lebens, unddu wirst sehen, daß ein enthaltsames Leben<strong>an</strong>genehmer ist als ein genußtrunkenes. —Und der Habgierige, der auf Bereicherungdurch frem<strong>des</strong> Gut ausgeht, sag <strong>an</strong>, muß dernicht tausenderlei Mühe auf sich nehmen?Muß er nicht hin und her laufen, Kratzfüße


machen vor Sklaven und Freien und Türstehern,Furcht einjagen, drohen, unverschämtsein, auf der Hut sein, zittern, sich raufen,alles mit argwöhnischen Augen <strong>an</strong>sehen?Nicht so der Verächter <strong>des</strong> Reichtums; <strong>die</strong>sergenießt vielmehr ebenfalls viel Freude <strong>an</strong>seinem ruhig und sicher dahinfließendenLeben. — Und es mag jem<strong>an</strong>d <strong>an</strong>dere Gebieteder Sünde betreten, überall wird er vielAufregung, viel Klippen erblicken. Nochmehr: bei der Tugend kommt zuerst dasSchwierige, d<strong>an</strong>n das Angenehme und wirdso durch das letztere das erstere leicht gemacht.Bei der Sünde ist es umgekehrt; nachder Lust kommen <strong>die</strong> Wehen und Strafenund zerrinnt so das Vergnügen in nichts.Denn wie einer, der eine Belohnung erwartet,der gegenwärtigen Mühten nicht achtet, sok<strong>an</strong>n der <strong>an</strong>dere, der nach der Lust Strafevoraussieht, keine ungetrübte Freude genießen,weil ihm <strong>die</strong> Furcht alles vergällt. J<strong>an</strong>och mehr; wenn m<strong>an</strong> <strong>die</strong> Sache recht betrachtet,so findet m<strong>an</strong>, abgesehen von derStrafe, <strong>die</strong> für solche Dinge droht, schongleich d<strong>an</strong>n, daß m<strong>an</strong> <strong>die</strong> Sünde wagt, einbitteres Weh. 8.Wenn es beliebt, wollen wir das näher betrachtenin bezug auf solche, <strong>die</strong> frem<strong>des</strong> Gutsich <strong>an</strong>zueignen trachten, oder solche, <strong>die</strong>wie immer Reichtum zusammenscharren.Wir wollen absehen von den Befürchtungenund Gefahren, der Angst, der Unruhe, derSorge und allem dem; wir wollen <strong>an</strong>nehmen,es sei einer ohne sein Zutun reich gewordenund habe keine Sorge betreffs der Erhaltungseines Besitzes. Es kommt das zwar nicht vor,aber immerhin, nehmen wir es <strong>an</strong>! Was fürein Vergnügen hat nun ein solcher? Daß erviel zusammengescharrt hat? Aber das <strong>an</strong>und für sich gibt keine Befriedigung. Sol<strong>an</strong>geer nach mehr verl<strong>an</strong>gt, wächst seine Folterqual.Die Begierde macht nämlich erst d<strong>an</strong>n131Freude, wenn sie stille steht. Auch <strong>die</strong> Dürstendenerquicken sich erst d<strong>an</strong>n, wenn sietrinken, soviel sie wollen. Sol<strong>an</strong>ge sie aberdürsten, wird ihre Qual immer größer, wennsie auch alle Quellen leer tränken; wenn sieungezä<strong>hl</strong>te Ströme austränken, ihr böser Zust<strong>an</strong>dwird nur sc<strong>hl</strong>immer. Und so auch du;wenn du auch <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt gewännest,wenn du noch Begierde hast, so hast du deineQual um ebensoviel vergrößert, als dumehr zusammengetragen hast. Sei also nichtder Meinung, von dem vielen Zusammenscharrenwerde dir eine Freude kommen. ImGegenteil, von dem Nichtreichwerdenwollen.Wenn du begierig darnach verl<strong>an</strong>gst,reich zu werden, wirst du nie aufhören, denStachel zu spüren. Denn <strong>die</strong>se Gier ist unersättlich.Je weiter du auf <strong>die</strong>sem Wege gehst,<strong>des</strong>to weiter entfernst du dich vom Ziele.Ist also <strong>die</strong> Habsucht nicht ein Rätsel, ein Unsinn,ja der größte Wahnsinn? Laßt uns alsoabstehen von <strong>die</strong>sem Anf<strong>an</strong>g der Übel! Odervielmehr laßt uns einer solchen Begierde garnicht nahe kommen! Oder wenn wir nahegekommen sind, laßt uns gleich wieder zurückspringenvon ihr! So ermahnt der Verfasser<strong>des</strong> Buches der Sprüche betreffs einerBu<strong>hl</strong>erin: Spring zurück ohne Zaudern,betritt nicht <strong>die</strong> Schwelle ihres Hauses! 177Dasselbe sage auch ich betreffs der Geldgier.Wenn du hineingerätst und nur ein paarSchritte in das Meer <strong>die</strong>ser Leidenschaft hinein machst, wirst duschwerlich wieder zurück können. Es wirdsein wie in einem Strudel; wenn du dichnoch so sehr <strong>an</strong>strengst, du kommst nichtleicht heraus. So und noch viel sc<strong>hl</strong>immerergeht es dir, wenn du einmal in <strong>die</strong> Untiefe<strong>die</strong>ser Gier gerätst. Du richtest dich und alldas Deine zugrunde. Darum rufe ich: Hütenwir uns vor dem Anf<strong>an</strong>g! Fliehen wir auch<strong>die</strong> kleinen Sünden! Denn <strong>die</strong> großen entstehenaus den kleinen. Wer sich gewöhnt hat,bei jeder Sünde zu sagen: „Das ist nichts“,177 Sprichw. 5, 8.


der richtet bald alles zugrunde. Das hat demLaster Eing<strong>an</strong>g verschafft, das hat dem Räuber<strong>die</strong> Türe geöffnet, das hat <strong>die</strong> Mauern derSt<strong>ad</strong>t <strong>zum</strong> Einsturz gebracht, <strong>die</strong>ses je<strong>des</strong>malige:„Das ist nichts“. Auch im Körper wachsensich <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheiten zu großen aus,wenn m<strong>an</strong> sie, sol<strong>an</strong>ge sie noch klein sind,vernac<strong>hl</strong>ässigt. Wenn Esau nicht sein Erstgeburtsrechtverkauft hätte, wäre er <strong>des</strong> Vatersegensnicht unwürdig geworden; hätte ersich <strong>des</strong> Vatersegens nicht unwürdig gemacht,so hätte ihn nicht <strong>die</strong> Begierde erfaßt,<strong>zum</strong> Brudermord zu kommen. Hätte Kainnicht den ersten Platz einnehmen wollen,sondern hätte <strong>die</strong> Sache dem Willen Gottesüberlassen, so hätte er nicht den zweiten einnehmenmüssen; und hätte er auf <strong>die</strong>semzweiten Platz dem göttlichen Einspruch Gehörgeschenkt, so wäre es nicht <strong>zum</strong> Mordgekommen. Und hätte er auch nach Vollbringung<strong>des</strong> Mor<strong>des</strong> noch Reue gezeigt undnicht, als Gott ihn <strong>an</strong>rief, eine freche Antwortgegeben, so wäre ihm nicht das schrecklicheLos geworden, das ihn nachher traf.Wenn nun <strong>die</strong> Menschen vor dem Gesetzedurch ihre eigene Fahrlässigkeit nach undnach in den Abgrund <strong>des</strong> Lasters gerieten,d<strong>an</strong>n stelle dir vor, was mit uns geschehenwird, <strong>die</strong> wir auf eine größere Rennbahn berufensind, wenn wir sorgfältig auf uns achthabenund <strong>die</strong> Funken der Sünden, bevor siezur Flamme emporsc<strong>hl</strong>agen, vorweg austreten.Z. B. du schwörst öfter falsch? Bleib nichtdabei stehen, das Falschschwören zu unterlassen,sondern meide das Schwören überhaupt,und es wird dich weiter keine besondereMühe kosten. Es ist nämlich viel schwerer,keinen Meineid zu schwören, als überhauptnicht zu schwören. — Du verunglimpfstoft <strong>an</strong>dere, beschimpfst undsc<strong>hl</strong>ägst sie? Mach dir’s <strong>zum</strong> Gesetze, überhauptnicht zornig zu werden und zu schreien,und du hast mit einem Sc<strong>hl</strong>age Wurzelund Frucht zugleich beseitigt. — Du bist zurGeilheit und Wollust geneigt? Mach dir’swiederum <strong>zum</strong> Gebot, nicht einmal auf ein132Weib zu schauen, nicht ins Theater zu gehen,dich nicht auf der Gasse nach fremdenSchönheiten umzusehen. Denn es ist vielleichter, ein schönes Weib gleich nicht <strong>an</strong>zuschauen,als, wenn m<strong>an</strong> es einmal <strong>an</strong>geschautund Begierde nach ihr bekommen hat, dend<strong>ad</strong>urch erregten Aufruhr (der Gefü<strong>hl</strong>e) zustillen. Im Anf<strong>an</strong>g sind <strong>die</strong> Kämpfe immerleichter; oder vielmehr es braucht überhauptkeinen Kampf, wenn wir dem Feinde gleich<strong>die</strong> Tore versperren und nicht den Samen <strong>des</strong>Bösen in uns aufnehmen. Darum nenntChristus den schon strafbar, der ein Weibunzüchtig <strong>an</strong>schaut, um uns größere Mühezu ersparen; er befie<strong>hl</strong>t uns darum, denFeind aus dem Hause zu werfen, da er sichnoch leicht hinauswerfen läßt. Was brauchtm<strong>an</strong> sich eine überflüssige Arbeit zu leistenund sich mit den Gegnern herumzusc<strong>hl</strong>agen,wenn m<strong>an</strong> auch ohne Kampf siegen undschon vor dem Ringen den Siegespreis habenk<strong>an</strong>n? Es kostet nicht soviel Überwindung,schöne Frauen nicht <strong>an</strong>zuschauen, als sichnachher zurückzuhalten; ja das erstere kosteteeigentlich gar keine Anstrengung, wä<strong>hl</strong>en<strong>des</strong> nach einem solchen Anschauen vielSchweiß und Mühe kostet, sich zu erhalten.9.Wenn also <strong>die</strong> Mühe geringer ist, ja wenn esüberhaupt keine Anstrengung, keine Mühekostet, und wenn dabei der Gewinn viel größerist, warum stürzen wir uns da geflissentlichin ein Meer von unzä<strong>hl</strong>igen Übeln? Es istnicht bloß leichter, ein Weib nicht <strong>an</strong>zuschauen,sondern ein solcher bleibt auch reinervon der unkeuschen Begierde; wer esdagegen <strong>an</strong>schaut, der macht sich (von derunkeuschen Begierde) nur mit vieler Mühefrei, und es geht dabei nicht ohne Befleckungab, wenn er sich überhaupt davon frei macht.Denn wer ein schönes Gesicht gar nicht <strong>an</strong>schaut,der bleibt auch von der Begierde, <strong>die</strong>


aus Blicken entsteht, rein. Wer aberauch nur nach Blicken verl<strong>an</strong>gt und seineGed<strong>an</strong>ken darauf richtet, der beschmutzt sichwenigstens mit unzä<strong>hl</strong>igen Ged<strong>an</strong>kensünden,ehe er <strong>die</strong> unreine Begierde abtut, wenner sie überhaupt abtut. Darum verbietet unsChristus, damit uns <strong>die</strong>s nicht widerfahre,nicht bloß den Mord, sondern auch denZorn; nicht bloß den Ehebruch, sondern aucheinen unzüchtigen Blick; nicht bloß denMeineid, sondern das Schwören überhaupt.— Aber er bleibt bei <strong>die</strong>ser Stufe der Tugendnicht stehen, sondern nachdem er <strong>die</strong>se Gebotegegeben hatte, geht er weiter. Er hat denMord untersagt und uns geboten, rein zubleiben vom Zorn; aber er befie<strong>hl</strong>t uns auch,bereit zu sein, Unrecht zu erdulden, ja nichtbloß bereitwillig soviel davon zu erdulden,als uns unser Widersacher zufügen will, sondernnoch höher emporzusteigen und dasÜbermaß seiner Feindseligkeit durch einnoch höheres Maß unserer eigenen Mäßigungzu übertreffen. Denn er spricht nichtbloß: Wenn dich jem<strong>an</strong>d auf <strong>die</strong> rechte W<strong>an</strong>gesc<strong>hl</strong>ägt, so ertrage es großmütig und gibdich damit zufrieden, sondern er fügt hinzu,m<strong>an</strong> solle einem solchen auch noch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dereW<strong>an</strong>ge darbieten. „Halte ihm auch noch<strong>die</strong> <strong>an</strong>dere hin“ 178 , heißt es. Das ist ja derglänzendste Sieg, wenn m<strong>an</strong> dem Gegnermehr bietet, als er selbst will, wenn m<strong>an</strong> <strong>an</strong>Überschw<strong>an</strong>g eigener Geduld noch hinausgeht über <strong>die</strong> Grenzen seiner feindseligenGesinnung. Denn so wirst du seine Wut besänftigenund den Lohn für <strong>die</strong> erstere H<strong>an</strong>dlungsweisevon der zweiten her bekommen;du wirst in jenem den Zorn besänftigen.Siehst du, wie es überall in unserer eigenenMacht liegt, nichts Sc<strong>hl</strong>immes zu erdulden,nicht in der Macht derer, <strong>die</strong> es uns zufügenwollen? Ja noch mehr, es liegt nicht bloß inunserer Macht, nichts Sc<strong>hl</strong>immes zu erdulden,sondern wir haben sogar <strong>die</strong> Möglichkeit,es in eine Wo<strong>hl</strong>tat für uns umzuw<strong>an</strong>-deln. Was aber am meisten zu verwundernist, wir erleiden nicht bloß kein Unrecht,wenn wir recht haben, sondern wir empf<strong>an</strong>gennoch eine Wo<strong>hl</strong>tat sowo<strong>hl</strong> von seiten derer,<strong>die</strong> uns ein Unrecht <strong>an</strong>tun, wieauch von seiten <strong>an</strong>derer. Sieh <strong>an</strong>! Es hat dirjem<strong>an</strong>d einen Schimpf <strong>an</strong>get<strong>an</strong>? Es liegt indeiner Macht, aus dem Schimpf ein Lob fürdich zu machen. Wenn du den Schimpf mitSchimpf erwiderst, so machst du dir nurnoch größere Sch<strong>an</strong>de. Wenn du dagegenden, der dir den Schimpf <strong>an</strong>get<strong>an</strong> hat, segnest,d<strong>an</strong>n wirst du sehen, daß alle, <strong>die</strong> Zeugendavon sind, dir Lob und Beifall spendenwerden. Siehst du also, wieso wir eine Wo<strong>hl</strong>tatempf<strong>an</strong>gen von denen, durch <strong>die</strong> wir Unrechtleiden, wenn wir wollen? Dasselbe giltvon Schädigungen am Besitz, von Sc<strong>hl</strong>ägen,von allem <strong>an</strong>dern, was uns widerfahren mag.Wenn wir Böses immer mit dem Gegenteilvergelten, d<strong>an</strong>n winden wir uns einen doppeltenLorbeer; aus dem Bösen, das wir erleiden,und aus dem Guten, das wir <strong>an</strong>derntun. — Wenn also jem<strong>an</strong>d zu dir kommt unddir sagt, daß der oder jener dir Schimpf <strong>an</strong>get<strong>an</strong>hat und fortwährend bei allen sc<strong>hl</strong>echtvon dir spricht, so lobe den, der so von dirgesprochen hat, bei denen, <strong>die</strong> es dir zutragen;auf <strong>die</strong>se Weise k<strong>an</strong>nst du ihn am bestenstrafen, wenn du dich <strong>an</strong> ihm rächen willst.Denn <strong>die</strong>, welche es hören, wenn es auchg<strong>an</strong>z beschränkte Menschen wären, werdendir Lob spenden; den <strong>an</strong>dern dagegen werdensie hassen als einen Menschen, dersc<strong>hl</strong>immer ist als ein wil<strong>des</strong> Tier, weil er, ohneselbst beleidigt worden zu sein, dichkränkt, während du, obwo<strong>hl</strong> du Unrecht lei<strong>des</strong>t,doch mit dem Gegenteil vergiltst. Auf<strong>die</strong>se Weise k<strong>an</strong>nst du alles, was jener gegendich gesagt hat, als leeres Geschwätz erweisen.Wer auf eine Verleumdung hin gekränkttut, der zeigt d<strong>ad</strong>urch, daß er sich durch dasüber ihn Gesagte getroffen fü<strong>hl</strong>t; wer dagegendazu lacht, der befreit sich eben d<strong>ad</strong>urchvor den Zeugen von jedem Verdacht.178 Matth. 5, 39.133


Führe dir also vor Augen, wieviel Gutes dudir durch eine solche H<strong>an</strong>dlungsweiseschaffst! Fürs erste ersparst du dir Aufregungund Ärger. Sod<strong>an</strong>n — eigentlich sollte <strong>die</strong>s<strong>an</strong> erster Steile stehen — wenn du Sündenauf dir hast, so löschst du sie aus, wie derZöllner, der <strong>die</strong> Beschuldigung <strong>des</strong> Pharisäersgeduldig über sich ergehen ließ. Zudemerwirbst du dir, wenn du dich einer solchenH<strong>an</strong>dlungsweise befleißest, den Ruf eines Weisen; du erntest von allen vielfältigesLob und sc<strong>hl</strong>ägst jeden Verdacht nieder, deretwa aus der Nachrede entstehen könnte.Und wenn du dich <strong>an</strong> deinem Gegner rächenwillst, so erfolgt <strong>zum</strong> Überfluß auch dasnoch: Gott straft ihn für das, was er gesagthat; aber noch vor <strong>die</strong>ser Strafe versetzt ihmdeine weise Mäßigung einen schwerenSc<strong>hl</strong>ag. Denn nichts ärgert gewöhnlich <strong>die</strong>,welche uns einen Schimpf <strong>an</strong>tun, mehr, alswenn wir, denen der Schimpf zugedachtwar, darüber lachen. Wie demnach aus einerhochgemuten Denkungsart so viel Gutes erwächst,so wird aus einer engherzigen dasGegenteil erfolgen. Denn wir bringen unsselbst in Sch<strong>an</strong>de, erwecken bei unsern Mitmenschenden Anschein, daß wir uns durch<strong>die</strong> üble Nachrede getroffen fü<strong>hl</strong>en, erfüllenunsere Seele mit Unruhe, bereiten dem Feindeein Vergnügen, reizen Gott <strong>zum</strong> Zorneund fügen zu unsern früheren Sünden eineneue. — Das alles laßt uns bedenken und denAbgrund engherziger Denkungsart fliehen!Laßt uns Zuflucht nehmen <strong>zum</strong> Hafen hochherzigerGesinnung, damit wir da Ruhe findenfür unsere Seelen, wie es auch Christusverheißen hat, und der zukünftigen Güterteilhaftig werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebeunseres Herrn Jesus Christus, mit welchemsei Ehre dem Vater zugleich mit dem Hl.Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. VIERZEHNTE HOMILIE. Kap. VII, V.14—25 u. Kap. VIII, V. 1—11.1.Kap. VII, V. 14—25 u. Kap. VIII, V. 1—11.V. 14: „,Denn wir wissen, daß das Gesetz geistigist; ich aber bin fleisc<strong>hl</strong>ich, verkauft unter <strong>die</strong>Sünde.“Bisher hat der Apostel ausgeführt, daß großesUnheil geschehen, daß <strong>die</strong> Sünde stärkergeworden ist als das Gesetz, daß das Gegenteilvon dem erfolgt ist, was das Gesetz wollte,und hat damit den Zuhörer stutzig gemacht.Jetzt gibt er den Grund <strong>an</strong>, warum esso gekommen ist. Zuvörderst reinigt er dasGesetz von dem Verdacht der Schuld. Damitm<strong>an</strong> nämlich, wenn m<strong>an</strong> hört, daß <strong>die</strong> Sündedurch das Gesetz „Anlaß bekam“, daß sie„auflebte“, als es erschien, daß sie durch dasselbeden Menschen verleitete und ihm denTod brachte, damit m<strong>an</strong> nicht, sag ich, zu derMeinung komme, das Gesetz sei <strong>die</strong> Ursachevon allen <strong>die</strong>sen sc<strong>hl</strong>immen Folgen gewesen,darum beginnt er zunächst mit einer geschicktenVerteidigung <strong>des</strong>selben. Er sprichtes nicht allein frei von jeder Anklage, sondernhält ihm auch eine glänzende Lobrede.Er läßt <strong>die</strong>ses Lob nicht als seine persönliche,wo<strong>hl</strong>wollende Meinung erscheinen, sondernspricht es als allgemein geltende Anschauungaus. „Denn wir wissen“, sagt er, „daßdas Gesetz geistig ist“, als wollte er sagen:Darüber sind wir alle einer Meinung,, das istg<strong>an</strong>z offenkundig, daß es geistig ist; so weitist es entfernt, schuld <strong>an</strong> der Sünde und ver<strong>an</strong>twortlichfür das Böse zu sein, das aus ihmhervorging. Beachte, wie er es nicht bloß voneiner Anklage freispricht, sondern ihm ü-berschwengliches Lob spendet. „Geistig“nennt er es und drückt damit aus, daß es einLehrer der Tugend und ein Feind der Sün<strong>des</strong>ei. Das will das „geistig sein“ sagen: Daß esfern hält von jeder Sünde. Und das hat dasGesetz denn auch get<strong>an</strong> mit seinen Drohun-134


gen, Ermahnungen, Strafreden, Zurechtweisungenund all seinen Ratsc<strong>hl</strong>ägen zur Tugend.— Woher ist also <strong>die</strong> Sünde gekommen,fragt er, wenn der Lehrer so großartigwar? Von der Untüchtigkeit derSchüler. Darum fährt er fort: „Ich aber binfleisc<strong>hl</strong>ich“ und beschreibt damit den Menschen,wie er während und vor der Zeit <strong>des</strong>Gesetzes beschaffen war. — „Verkauft unter<strong>die</strong> Sünde.“ Im Gefolge <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, will derApostel sagen, hat auch der Schwarm derLeidenschaften Einzug gehalten. Als nämlichder Leib sterblich geworden war, da überkamihn notwendigerweise auch <strong>die</strong> Begierlichkeit,der Zorn, <strong>die</strong> Trauer und all das <strong>an</strong>dere;<strong>die</strong>se Leidenschaften erfordern aberviel Selbstzucht, damit sie nicht, wenn sie inuns emporwirbeln, <strong>die</strong> Vernunft in den Strudelder Sünde mitreißen. An und für sichwaren sie ja nicht Sünde; aber ihr ungezügeltesÜberschäumen machte sie dazu. So ist derGesc<strong>hl</strong>echtstrieb, um <strong>die</strong> Sache <strong>an</strong> der H<strong>an</strong>deines Beispieles klar<strong>zum</strong>achen, nicht Sünde.Wenn er aber ins Übermaß verfällt und nichtmehr innerhalb der Schr<strong>an</strong>ken der Ehe bleibenwill, sondern sich auf <strong>an</strong>dere Weiberrichtet, so wird daraus Ehebruch, aber nichtvon wegen der Begierde als solcher, sondernwegen ihrer Ungezügeltheit. — Betrachte daauch das weise Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>! Nachdemer das Gesetz mit einem Lobe ausgezeichnethat, geht er gleich wieder auf <strong>die</strong>Zeit vor dem Gesetze zurück, um zu zeigen,in welcher Lage unser Gesc<strong>hl</strong>echt sich damalsbef<strong>an</strong>d und zur Zeit, als es das Gesetzbekam. Er will d<strong>ad</strong>urch klarmachen, daß dasErscheinen der Gn<strong>ad</strong>e eine Notwendigkeitwar. Das zu beweisen, ist übrigens eindurchgängiges Bestreben von ihm. Mit demAusdruck „verkauft unter der Sünde“ meintnämlich der Apostel nicht bloß <strong>die</strong> Menschenwährend der Gesetzeszeit, sondern auch <strong>die</strong>,welche vorher lebten vom Anbeginn derWelt <strong>an</strong>. — D<strong>an</strong>n spricht er von der Art <strong>des</strong>Verkauft- und Ausgeliefertseins:135V. 15: „Denn das, was ich vollbringe, erkenne ichnicht.“— Was heißt: „Ich erkenne es nicht“? — Ichweiß es nicht. Und wieso das? Es sündigt j<strong>ad</strong>och niem<strong>an</strong>d in Unwissenheit. Siehst du,wie tausenderlei Ungereimtheiten herauskommenkönnen, wenn wir <strong>die</strong> Worte <strong>des</strong>Apostels nicht mit Vorsicht nehmen, undnicht auf <strong>die</strong> Absicht achten, <strong>die</strong> er mit ihnenverfolgt? Wenn sie in Unwissenheitsündigten, waren sie ja doch nicht strafwürdig.<strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne sagt er oben: „Ohne Gesetzwar <strong>die</strong> Sünde tot.“ Er will damit nichtgesagt haben, daß <strong>die</strong> damaligen Menschenbeim Sündigen überhaupt nichts davon wußten,sondern daß sie zwar darum wußten,aber nicht so genau. Darum wurden sie zwarauch gestraft, aber nicht so streng. Und wiederheißt es: „Ich hätte nichts gewußt von derBegierde.“ Der Apostel meint damit nichteine vollständige Unkenntnis, sondern nurden M<strong>an</strong>gel einer g<strong>an</strong>z klaren Erkenntnis. Erhat weiter gesagt: „Das Verbot wirkte in mirjegliche Begierde.“ Er will damit nicht gesagthaben, daß es <strong>die</strong> Begierde geschaffen habe,sondern daß <strong>die</strong> Sünde infolge <strong>des</strong> Verboteseine Steigerung der Begierde mit sich gebrachthat. Ebenso meint der Apostel hiernicht eine vollständige Unkenntnis, wenn ersagt: „Was ich vollbringe, erkenne ich nicht.“Wie konnte er sonst Freude haben am GesetzeGottes dem inneren Menschen nach? Wasbedeutet also das „Ich erkenne es nicht“? Sovielals: Ich tappe im Finstern, ich werde ü-berrascht, ich werde vergewaltigt, ich weißnicht, wie mir geschieht. So pflegen auch wirzu sagen: „Ich weiß nicht, wie der mich eingef<strong>an</strong>genhat“, und wollen damit nicht einvölliges Nichtwissen ausgedrückt haben,sondern ein gewisses Hinterg<strong>an</strong>gensein, eineÜberlistung, eine Nachstellung.„Denn nicht, was ich will, das tue ich, sondernwas ich hasse, das tue ich.“— Wie weißt du also nicht, was du vollbringst?Wenn du das Gute willst und dasBöse hassest, so ist das ja das Zeichen eines


vollständigen Wissens. Daraus ist ersichtlich,daß der Apostel mit dem Ausdruck „Was ichnicht will“ keine Aufhebung <strong>des</strong> freien Willensmeint und nicht eine unbedingte Notwendigkeitbehauptet. Denn wenn wir nichtfreiwillig, sondern gezwungen gesündigthaben, d<strong>an</strong>n hat es keinen Sinn, daß früherStrafgerichte statthatten. Aber gera<strong>des</strong>o wieder Apostel mit dem Ausdruck „Ich weiß esnicht“ nicht ein vollständiges Nichtwissengemeint hat, sondern ein solches in dem obenerklärten Sinn, so weist er auch mitdem „Was ich nicht will nicht auf eine Notwendigkeit(im H<strong>an</strong>deln) hin, sondern aufein Nichtbilligen <strong>des</strong>sen, was tatsäc<strong>hl</strong>ich geschieht.Wenn der Apostel mit den Worten:„Was ich nicht will, das tue ich“ nicht dasgemeint hätte, so hatte er ja fortfahren müssen:„Sondern, wozu ich gezwungen bin,wozu ich mit Gewalt genötigt werde, das tueich. Denn das wäre der Gegensatz <strong>zum</strong> freienWollen. Nun sagt er das aber nicht, sondernstatt <strong>des</strong>sen wä<strong>hl</strong>t er den Ausdruck: „Was ichhasse“, damit du daraus ersehen sollst, daßauch der Ausdruck: „Was ich nicht will“ <strong>die</strong>Willensfreiheit nicht aufhebt. — Was hat alsodas „Was ich nicht will“ für einen Sinn? Esheißt soviel als: Was ich nicht lobe, was ichnicht billige, was ich nicht gern habe. Im Gegensatzdazu fährt er fort: „Sondern was ichhasse, das tue ich.“V. 16: „Wenn ich aber das tue, was ich nichtwill, so stimme ich dem Gesetze bei, daß es gutsei.“2.136Siehst du da, wie bisher <strong>die</strong> Vernunft nochkeinen Sch<strong>ad</strong>en erlitten, sondern in ihrer Betätigungden ihr eigenen sittlichen Adel bewahrthat? Denn wenn sie auch dem Bösennachgeht, so tut sie es doch unter Haß gegendasselbe. Es ist <strong>die</strong>s das größte Lob sowo<strong>hl</strong>für das Naturgesetz wie auch für das geschriebene.Daß das Gesetz gut ist, will derApostel sagen, geht aus meiner Selbst<strong>an</strong>klagehervor, daß ich nämlich dem Gesetze zwarnicht gehorche, aber d<strong>an</strong>n doch meine Tathasse. Wenn gleichwo<strong>hl</strong> das Gesetz schuldist <strong>an</strong> der Sünde, wie k<strong>an</strong>n jem<strong>an</strong>d, der mitihm einverst<strong>an</strong>den ist, doch das hassen, wases zu tun befie<strong>hl</strong>t? „Ich stimme dem Gesetzebei“, heißt es ja, „daß es gut sei.“V. 17: „Nun aber vollbringe nicht ich das, sondern<strong>die</strong> in mir wohnende Sünde.“V. 18: „Denn ich weiß, daß in mir, d. h. in meinemFleische, das Gute nicht wohnt.“— Auf <strong>die</strong>se Stelle legen <strong>die</strong> den Finger, welchedas Fleisch sc<strong>hl</strong>echt machen und es ausGottes Schöpfung ausscheiden 179 .Was sollen wir dazu sagen? Dasselbe wieoben, wo vom Gesetze <strong>die</strong> Rede war: daß erhier wie dort alles der Sünde zuschreibt. Ersagt ja nicht, daß das Fleisch das vollbringt,sondern das Gegenteil: „Nicht ich vollbringedas, sondern <strong>die</strong> in mir wohnende Sünde.“Wenn er oben sagt, daß „im Fleische das Gutenicht wohnt“, so ist das noch keine Anklagegegen das Fleisch; denn wenn in ihm dasGute nicht wohnt, so ist das noch kein Beweis,daß es sc<strong>hl</strong>echt sei. Wir gestehen zwarzu, daß das Fleisch weniger vornehm ist als<strong>die</strong> Seele und daß es ihr nachsteht, behauptenaber nicht, daß es im Gegensatz zu ihrsteht, daß es ihr Feind, daß es <strong>an</strong> sichsc<strong>hl</strong>echt ist, sondern daß es der Seele untergeordnetist wie <strong>die</strong> Zither dem Zitherspieler,das Schiff dem Steuerm<strong>an</strong>n. Diese Dinge stehenauch zu denen, <strong>die</strong> mit ihnen umgehenund sie gebrauchen, nicht im Gegensatz,sondern sind ihnen g<strong>an</strong>z gefügig; demKünstler freilich sind sie nicht ebenbürtig.Wenn nun jem<strong>an</strong>d sagt, daß nicht in der Zitherund nicht in dem Schiffe <strong>die</strong> Kunst liegt,so macht er <strong>die</strong>se Werkzeuge nicht sc<strong>hl</strong>echt,sondern er macht nur den Unterschied deutlich,der zwischen ihnen und dem Künstlerbesteht. Ebenso macht auch <strong>Paulus</strong> das179 Die M<strong>an</strong>ichäer


137Fleisch nicht sc<strong>hl</strong>echt, wenn er sagt: ,,Eswohnt nicht das Gute in meinem Fleisch“,sondern macht nur den Vorr<strong>an</strong>g der Seeledeutlich. Sie ist es ja, welche <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Leitung<strong>des</strong> Schiffes und das g<strong>an</strong>ze Zitherspielin der H<strong>an</strong>d hat. Das gibt <strong>Paulus</strong> zu verstehen,wenn er der Seele <strong>die</strong> Herrschaft zuspricht.<strong>In</strong>dem er den Menschen in zwei Teilezerlegt — Leib und Seele —, sagt er, daß derLeib weniger Vernunft besitzt und auch <strong>des</strong>Gewissens entbehrt, daß er sich leidend,nicht tätig verhält. Die Seele ist der verständigereTeil; sie ist imst<strong>an</strong>de zu unterscheiden,was erlaubt ist und was nicht, aber sie istnicht stark genug, das Roß zu lenken, wie siewill. Das wäre ja wo<strong>hl</strong> nicht bloß gegen denLeib, sondern auch gegen <strong>die</strong> Seele eine Anklage,als wisse sie zwar, was zu tun sei, aberals sei sie nicht imst<strong>an</strong>de, das erk<strong>an</strong>nte Guteins Werk zu setzen. „Das Wollenliegt bei mir“, sagt er, „aber das Vollbringen <strong>des</strong>Guten finde ich nicht.“Wenn er hier wieder sagt: „Ich finde esnicht“, so meint er nicht ein Nichtwissen o-der ein Zweifeln, sondern ein schädlichesBeeinflußtsein, ein Hinterg<strong>an</strong>genwerdendurch <strong>die</strong> Sünde.V. 19: „Denn nicht das Gute, was ich will, tueich, sondern was ich nicht will, das Böse, das tueich.“V. 20: „Wenn ich aber das tue, was ich nicht will,so vollbringe nicht ich es, sondern <strong>die</strong> in mirwohnende Sünde.“— Siehst du, wie der Apostel sowo<strong>hl</strong> dasWesen der Seele als auch das Wesen <strong>des</strong> Leibesvon einer Anklage freispricht und dasG<strong>an</strong>ze auf Rechnung der sc<strong>hl</strong>echten Tatsetzt? Denn wenn <strong>die</strong> Seele das Böse nichtwill, so ist sie ohne Schuld, und wenn es derLeib nicht vollführt, so ist auch er frei davon,und das G<strong>an</strong>ze ist einzig und allein Sache <strong>des</strong>bösen Willens. Seele und Leib und Wille sindnämlich nicht ein und dasselbe; <strong>die</strong> beidenersteren sind Schöpfungen Gottes, der letztereist eine Bewegung, <strong>die</strong> von uns selbst ausgehtnach dem Ziele hin, zu dem wir sie führenwollen. Die Willenskraft ist uns <strong>an</strong>geborenund von Gott, <strong>die</strong> einzelne Willensentsc<strong>hl</strong>ießungjedoch ist unser Werk und Sacheunseres Gutdünkens.V. 21: „Ich finde also das Gesetz auf meiner Seite,wenn ich das Gute will, und daß das Böse mir<strong>an</strong>haftet.“— Eine unklare Stelle. Was soll damit gesagtsein? Ich billige das Gesetz, will der Apostelsagen, nach meinem innersten Bewußtsein;ich finde es als Bun<strong>des</strong>genossen <strong>an</strong> meinerSeite, wenn ich das Gute will, und fü<strong>hl</strong>e esals Ansporn für meinen Willen. Wie ich mitihm einverst<strong>an</strong>den bin, so heißt es <strong>an</strong>dererseitswieder meine Anschauung gut. Siehstdu, wie der Apostel zu verstehen gibt, daß<strong>die</strong> Erkenntnis <strong>des</strong> Guten und Bösen von Anf<strong>an</strong>g<strong>an</strong> in uns hineingelegt war und daß dasGesetz <strong>des</strong> Moses einerseits <strong>die</strong>se Erkenntnisgutheißt und <strong>an</strong>dererseits selbst von ihr gutgeheißenwird? Oben hat er ja nichtgesagt: Ich werde belehrt durch das Gesetz,sondern: „Ich stimme dem Gesetze bei“, weiterunten nicht: Ich werde erzogen durch dasGesetz, sondern: „Ich bin einverst<strong>an</strong>den mitdem Gesetze.“ Was heißt: „Ich bin mit ihmeinverst<strong>an</strong>den“? Ich pflichte ihm bei, daß esetwas Gutes <strong>an</strong> sich hat, wie es auch mir beipflichtet,wenn ich das Gute will. Das Gutezu wollen und das Böse nicht zu wollen, istalso von vorneherein in uns hineingelegt; alsdas Gesetz dazu kam, trat es nur als strengererT<strong>ad</strong>ler bei sc<strong>hl</strong>echten und als größererBelober bei guten H<strong>an</strong>dlungen auf. Siehst du,wie der Apostel überall dem Gesetze nur einesteigernde, eine vermehrende Wirkungzuerkennt, nichts mehr? Denn wenn es auchmich lobt, wenn auch ich einverst<strong>an</strong>den binmit ihm und ich das Gute will, so „haftet mirdoch das Böse <strong>an</strong>“, und sein Wirken ist nichtaufgehoben. Demnach wird das Gesetz demjenigen,der sich vornimmt, etwas Gutes zutun, bloß insofern ein Bun<strong>des</strong>genosse, als erselbst dasselbe will. —Nachdem der Apostel<strong>die</strong>s nun hier etwas unklar ausgesprochenhat, deutet er es im folgenden weiter aus und


macht es klarer; er zeigt, wie das Böse (demMenschen) <strong>an</strong>haftet und wie das Gesetz demjenigen,der von selbst das Gute tun will, einGesetz ist.V. 22: „Denn ich bin einverst<strong>an</strong>den mit dem GesetzeGottes dem inneren Menschen nach.“— Ich wußte ja, will er sagen, das Gute auchschon vorher; wie ich es aber auch in derSchrift enthalten finde, so pflichte ich ihmbei.V. 23: „Ich sehe aber ein <strong>an</strong>deres Gesetz, das demGesetze meiner Vernunft widerstreitet.“3.Ein Gesetz, das widerstreitet, nennt hier derApostel wieder <strong>die</strong> Sünde; ein Gesetz, nichtweil sie Ordnung schafft, sondern weil <strong>die</strong>,welche ihr ergeben sind, ihr strengen Gehorsamleisten. So nennt er auch den Mammoneinen Herrn und den Bauch einen Gott, nichtals wäre <strong>die</strong>s der ihnen zukommende R<strong>an</strong>g,sondern wegen der großen Unterwürfigkeitderer, <strong>die</strong> ihnen ergeben sind. Ebensospricht er auch von einem „Gesetz“ derSünde mit Rücksicht auf <strong>die</strong>, welche ihr so<strong>die</strong>nen und sie so ängstlich zu verlierenfürchten, wie <strong>die</strong>, welche das Gesetz empf<strong>an</strong>genhaben, <strong>die</strong>ses zu verlieren ängstlicheSorge haben. Die Sünde, will er sagen, istdem natürlichen Gesetze entgegen; <strong>die</strong>senSinn hat der Ausdruck: „dem Gesetze meinerVernunft“ D<strong>an</strong>n bringt der Apostel den Ged<strong>an</strong>ken<strong>an</strong> eine Sc<strong>hl</strong>achtlinie und einenKampf herein und läßt den g<strong>an</strong>zen Kampfgegen das natürliche Gesetz geführt werden;denn das mosaische Gesetz kam erst späterwie <strong>zum</strong> Überfluß hinzu. Aber freilich wederdas eine noch das <strong>an</strong>dere, weder das ersteredurch seine Belehrung noch das letzteredurch seine Bestätigung, hat in <strong>die</strong>semKampfe etwas Besonderes geleistet; so großist <strong>die</strong> Herrschaft der Sünde, <strong>die</strong> Siegeringeblieben ist. Dies drückt <strong>Paulus</strong> aus und138weist zugleich auf <strong>die</strong> erlittene Niederlagehin, wenn er sagt: „Ich sehe aber ein <strong>an</strong>deresGesetz, das dem Gesetze meiner Vernunftwiderstreitet und mich <strong>zum</strong> Gef<strong>an</strong>genenmacht.“ Er sagt nicht: Das mich sc<strong>hl</strong>echthinbesiegt, sondern: „Das mich <strong>zum</strong> Gef<strong>an</strong>genen<strong>des</strong> Gesetzes der Sünde macht.“ Er sagt nicht:(Zum Gef<strong>an</strong>genen) <strong>des</strong> fleisc<strong>hl</strong>ichen Triebes,auch nicht: Der Natur <strong>des</strong> Fleisches, sondern:„Des Gesetzes der Sünde“, d. h. der unbeschränktenHerrschaft, der Gewalt. Was heißtdas folgende:„Das in meinen Gliedern ist“?Was hat das für einen Sinn? Es stellt nicht <strong>die</strong>Gleichung Glieder — Sünde auf, sondernzieht vielmehr einen Strich zwischen beiden.Etwas <strong>an</strong>deres ist ja das, was in etwas <strong>an</strong>deremist, und das, worin es ist. Wie das Verbotnicht sc<strong>hl</strong>echt ist, weil durch dasselbe <strong>die</strong>Sünde Anlaß bekommen hat, so ist es auch<strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> Fleisches nicht, wenn auch <strong>die</strong>Sünde mittelst <strong>des</strong>selben den Kampf gegenuns führt. Sonst müßte ja auch <strong>die</strong> Seelesc<strong>hl</strong>echt sein, um so mehr, da sie bei unseremtun <strong>die</strong> Herrscherrolle innehat. Und doch istdem nicht so, nein, nicht so. Wenn ein räuberischerTyr<strong>an</strong>n ein prächtiges Haus, einenköniglichen Palast einnimmt, so erwächstdaraus dem Haus kein Vorwurf, sondern <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schuld trifft <strong>die</strong>, welche denRaub hinterlistig in <strong>die</strong> Wege geleitet haben.Aber <strong>die</strong> Feinde der Wahrheit sind nebenihrer Gottlosigkeit auch in Torheit verbohrtund sehen das nicht ein. Sie erheben ihreAnklagen nicht allein gegen das Fleisch, sondernlästern auch das Gesetz. Und doch,wenn das Fleisch sc<strong>hl</strong>echt ist, ist das Gesetzgut; es widerstreitet ihm ja und ist sein Gegner.Ist aber das Gesetz nicht gut, d<strong>an</strong>n istdas Fleisch gut; denn nach ihrer eigenen Lehreliegt das Gesetz mit dem Fleische imKampfe und führt Krieg mit ihm. Wie könnensie also behaupten, daß beide <strong>des</strong> Teufelsseien, da sie doch selbst lehren, daß sie ein<strong>an</strong>derentgegen sind? Siehst du, welche Torheitneben der Gottlosigkeit? Aber das ist


nicht <strong>die</strong> Lehre der Kirche. Diese verdammtnur <strong>die</strong> Sünde und lehrt, daß beide Gesetzevon Gott gegeben sind, das mosaische wiedas natürliche Gesetz, und daß sie beide derSünde feind sind, nicht dem Fleische; dasFleisch sei nicht Sünde, sondern Gottes Werkund könne uns zur Tugend recht behilflichsein, wenn wir wachsam sind.V. 24: „Ich unglückseliger Mensch! Wer wirdmich befreien von dem Leibe <strong>die</strong>ses To<strong>des</strong>?“Siehst du, wie groß <strong>die</strong> Herrschaft der Sündeist, da sie den Geist überwindet, wenn erauch mit dem Gesetze einverst<strong>an</strong>den ist?Niem<strong>an</strong>d k<strong>an</strong>n sagen, heißt das, daß <strong>die</strong>Sünde mich in ihre Gewalt bekommt, weilich das Gesetz hasse und mich davon wegwende;denn ich bin ja einverst<strong>an</strong>den mitihm, pflichte ihm bei und nehme meine Zufluchtzu ihm; und doch ist es nicht imst<strong>an</strong>de,auch nur den zu retten, der zu ihm seine Zufluchtnimmt; dagegen hat Christus auch dengerettet, der von ihm weggeflohen ist. —Siehst du daraus, wie groß der Vorr<strong>an</strong>g derGn<strong>ad</strong>e ist? Aber der Apostel drückt sichnicht so aus; er seufzt bloß und klagt laut aufwie jem<strong>an</strong>d, der keinen Helfer hat; ger<strong>ad</strong>evermittelst <strong>die</strong>ser verzweifelten Lage bringter <strong>die</strong> Macht Christi zur Anschauung, wenner sagt: „Ich unglückseliger Mensch! Werwird mich befreien von dem Leibe <strong>die</strong>sesTo<strong>des</strong>?“ — Das Gesetz vermochte es nicht,das Gewissen war nicht dazu imst<strong>an</strong>de, obwo<strong>hl</strong>ich das Gute billigte, ja nichtallein billigte, sondern gegen sein Widerspiel<strong>an</strong>kämpfte; denn durch den Ausdruck „welcheswiderstreitet“ gibt er zu verstehen, daßauch er ihm Widerst<strong>an</strong>d entgegensetzte. —Woher soll nun <strong>die</strong> Hoffnung auf Rettungkommen?V. 25: „Ich d<strong>an</strong>ke Gott durch Jesus Christus,unsern Herrn.“— Siehst du, wie der Apostel <strong>die</strong> Notwendigkeit,daß <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e erscheine, ins Lichtsetzt und daß ihr Erscheinen ein gemeinsamesWerk von Vater und Sohn ist? Wenn ernämlich dem Vater d<strong>an</strong>kt, so ist doch auch139der Sohn <strong>die</strong> Ursache <strong>die</strong>ses D<strong>an</strong>kes. Wenndu den Apostel sagen hörst: „Wer wird michbefreien von dem Leibe <strong>die</strong>ses To<strong>des</strong>“, someine nicht, daß er damit das Fleisch verklage.Er sagt ja nicht: „Leib der Sünde“, sondern:„Leib <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“, d, h. der sterblicheLeib, der dem Tode verfallen ist, ihn abernicht erzeugt. Das ist nicht ein Beweis dafür,daß er seiner Natur nach böse sei, sondernnur, daß er eine Schädigung erfahren habe.So heißt es auch von jem<strong>an</strong>dem, der von denBarbaren gef<strong>an</strong>gen worden ist, er sei bei denBarbaren, nicht weil er ein Barbar ist, sondernweil er von ihnen festgehalten wird.Ebenso wird auch der Leib „<strong>des</strong> To<strong>des</strong>“ gen<strong>an</strong>nt,weil er unter seiner Gewalt festgehaltenwird, nicht weil er ihn hervorgebrachthat. Der Apostel will darum nicht vom Leibesc<strong>hl</strong>echthin befreit werden, sondern von demsterblichen Leibe; damit deutet er <strong>an</strong>, wie ichschon öfter gesagt habe, daß der Leib denLeidenschaften unterworfen und in <strong>die</strong> Gewaltder Sünde geraten sei.4.Warum, fragst du, wurden aber d<strong>an</strong>n <strong>die</strong>Sünder bestraft, wenn <strong>die</strong> Herrschaft derSünde vor der Gn<strong>ad</strong>e eine so überwältigendewar? — Weil ihnen nur solche Gebote gegebenwaren, <strong>die</strong> sie auch unter der Herrschaftder Sünde halten konnten. Das alte Gesetzführte <strong>die</strong> Juden nicht auf <strong>die</strong> Höhe der sittlichenVollkommenheit. Es erlaubte ihnen, denReichtum zu genießen, es verbot ihnen nicht,mehrere Weiber zu haben, sich einem gerechtenZorne zu überlassen, der Gaumenlust mit Maß zu fröhnen. Ja so groß war <strong>die</strong>Herabminderung (der Pflichten), daß dasgeschriebene Gesetz sogar weniger forderte,als das natürliche Gesetz vorschrieb. So gebotdas natürliche Gesetz, daß ein M<strong>an</strong>n immernur mit einer Frau verkehre. Das brachteauch Christus, <strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er


sprach: „Der sie im Anf<strong>an</strong>ge geschaffen, hatsie als M<strong>an</strong>n und Weib geschaffen“ 180 . DasGesetz <strong>des</strong> Moses dagegen verbot weder, <strong>die</strong>eine fortzuschicken und eine <strong>an</strong>dere zu nehmen,noch auch zwei zugleich zu haben. Außerdemließen sich noch mehrere <strong>an</strong>derePunkte <strong>an</strong>führen, in welchen <strong>die</strong> Jünger <strong>des</strong>natürlichen Gesetzes denen <strong>des</strong> mosaischenGesetzes voraus waren. Die Menschen imAlten Bunde waren also nicht im Nachteile,da sie ja eine so milde Gesetzgebung hatten.Wenn sie nun auch da noch nicht Sieger überdas Böse zu bleiben vermochten, so lag <strong>die</strong>Schuld <strong>an</strong> ihrer Lässigkeit. Darum sagt <strong>Paulus</strong>dafür D<strong>an</strong>k, daß Christus uns darübernicht zur Rechenschaft zieht und nicht nurkeine entsprechende Vergeltung fordert,sondern uns sogar zu einer noch höherenLaufbahn fähig macht. Darum sagt er: „Ichd<strong>an</strong>ke Gott durch Jesus Christus.“Nun bricht der Apostel seine Rede über dasHeil, als (von seinen Hörern) zugegeben, abund geht von dem bisher Bewiesenen auseinen Schritt weiter; er spricht davon, daßwir nicht allein von den Übeln der Verg<strong>an</strong>genheitbefreit, sondern auch gegen <strong>die</strong> derZukunft gefeit seien.Kap. VIII, V. 1: „Es gibt also keine Verdammungmehr für <strong>die</strong>, welche in Christus Jesus sind undnicht nach dem Fleische w<strong>an</strong>deln.“— Das sagt der Apostel aber erst, nachdemer wieder unsern früheren Zust<strong>an</strong>d in Erinnerunggebracht hat. Unmittelbar vorher hater gesagt: „Also <strong>die</strong>ne ich selbst mit demGeiste dem Gesetze Gottes, mit dem Fleischedem Gesetze der Sünde.“ Nun fährt er fort:„Es gibt also keine Verdammung mehr für<strong>die</strong>, welche in Christus Jesus sind.“ Weil ihmaber gleich einfällt, daß viele auch nach derTaufe sündigen, so berührt er auch das, indem er nicht einfach sagt; „für <strong>die</strong>,welche in Christus Jesus sind“, sondern fügthinzu: „und nicht nach dem Fleische w<strong>an</strong>deln“.Damit gibt er zu verstehen, daß allesWeitere von unserer Fahrlässigkeit herkomme.Denn jetzt ist es möglich, nicht nach demFleische zu w<strong>an</strong>deln, vorher aber war esschwierig. — Dasselbe beweist er d<strong>an</strong>n ineiner <strong>an</strong>dern Weise, indem er fortfährt:V. 2: „Denn das Gesetz <strong>des</strong> lebenspendendenGeistes hat mich befreit.“— „Gesetz <strong>des</strong> Geistes“ nennt der Apostelhier den Hl. Geist 181 . So wie er „Gesetz derSünde“ <strong>die</strong> Sünde gen<strong>an</strong>nt hat, so nennt er„Gesetz <strong>des</strong> Geistes“ den Hl. Geist. Gleichwo<strong>hl</strong>hat er auch das Gesetz <strong>des</strong> Moses sogen<strong>an</strong>nt, wo er sagt: „Wir wissen ja, daß dasGesetz geistig ist.“ Was ist nun für ein Unterschied?Es besteht ein großer, unermeßlicher.Denn das eine Gesetz ist „geistig“, das <strong>an</strong>dere„<strong>des</strong> Geistes“. Worin unterscheidet sichnun das eine vom <strong>an</strong>dern? D<strong>ad</strong>urch, daß daseine Gesetz bloß vom Hl. Geiste gegebenwar, das <strong>an</strong>dere aber denen, <strong>die</strong> es <strong>an</strong>nehmen,den Hl. Geist selbst in reichem Maßemitteilt. Darum nennt er es auch „lebenspenden<strong>des</strong>Gesetz“ im Gegensatz <strong>zum</strong> Gesetzder Sünde, nicht <strong>zum</strong> mosaischen Gesetz.Wenn er nämlich sagt: „Es hat mich befreitvom Gesetz der Sünde und <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“, someint er damit nicht das Gesetz <strong>des</strong> Moses;denn nirgends nennt er <strong>die</strong>ses ein Gesetz derSünde. Wie reimte sich das auch damit, daßer es oft „gerecht“ und „heilig“ und „sündentilgend“nennt? Dagegen nennt er jenes „demGesetze der Vernunft widerstreitend“. Diesenschweren Krieg hat <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl.Geistes, welche der Sünde den Tod brachte,beendet. Sie hat uns den Kampf leicht gemacht;sie hat uns zuerst den Siegeslorbeerum <strong>die</strong> Stirne gewunden und d<strong>an</strong>n erst unterihrem starken Beist<strong>an</strong>de auf den Kampfplatzgeführt. — D<strong>an</strong>n geht der Apostel, wie er esimmer tut, vom Sohne auf den Hl. Geist überund vom Hl. Geist auf den Sohn undden Vater. Auf <strong>die</strong>se Weise führt er alles, wasfür uns geschehen ist, auf <strong>die</strong> Dreifaltigkeit180 Matth. 19, 4.140181 Im griechischen Texte steht bloß „Geist“. Da aber hier offenbar <strong>die</strong>dritte göttliche Person gemeint ist, so wird der Deutlichkeit wegen „Hl.Geist“ übersetzt.


zurück. <strong>In</strong> derselben Weise geht er auch hiervor. Nachdem er nämlich ausgerufen hat:.„Wer wird mich befreien von dem Leibe <strong>die</strong>sesTo<strong>des</strong>?“ zeigt er, daß <strong>die</strong>s der Vater tutdurch den Sohn. D<strong>an</strong>n wieder erscheint derHl. Geist neben dem Sohne: „Das Gesetz <strong>des</strong>lebenspendenden Geistes in Christus Jesushast mich befreit“, heißt es. — Nun erscheintwieder der Vater und der Sohn in Tätigkeit:V. 3: „Denn was dem Gesetze, weil durch dasFleisch ohnmächtig geworden, nicht möglich war,das hat Gott geleistet, indem er seinen Sohn s<strong>an</strong>dtein der Ähnlichkeit <strong>des</strong> Fleisches der Sünde: Erhat auf eine Sünde hin der Sünde im Fleische dasTo<strong>des</strong>urteil gesprochen.“— Wieder hat es den Anschein, als setze derApostel das Gesetz herab. Wenn m<strong>an</strong> abergenau zusieht, so hebt er es hoch empor, indemer zeigt, daß es sich in Übereinstimmungmit Christus befinde und vor ihm dasselbevorschreibe wie er. Er sagt ja nicht, daßam Gesetze etwas Sc<strong>hl</strong>echtes war, sondern:„Was ihm nicht möglich war“, und weiter:„Es war ohnmächtig geworden“, nicht: „Esverführte <strong>zum</strong> Bösen“, oder: „Es legte eineFalle“. Auch legt er <strong>die</strong> Ohnmächtigkeit nichtdem Gesetze zur Last, sondern dem Fleische,wenn er sagt: „Ohnmächtig geworden durchdas Fleisch.“ „Fleisch“ nennt er hier wiedernicht das Wesen <strong>des</strong> Fleisches, das, waszugrunde liegt, sondern <strong>die</strong> allzu fleisc<strong>hl</strong>icheSinnesart. Auf <strong>die</strong>se Weise spricht er sowo<strong>hl</strong>den Leib als auch das Gesetz von Anklagefrei. Das tut er nicht allein durch das bisherGesagte, sondern auch im folgenden.5.Wenn nämlich das Gesetz im Gegensatz <strong>zum</strong>Guten stände, wieso wäre da Christus ihm zuHilfe gekommen, hätte das Richtige <strong>an</strong> ihmzur vollen Auswirkung gebracht, hätte ihm<strong>die</strong> H<strong>an</strong>d geboten, indem er „der Sünde imFleische das To<strong>des</strong>urteil sprach“? Das blieb141nämlich noch zu tun übrig, nachdem ihr dasGesetz schon längst vorher in der Seele dasVerdammungs- urteil gesprochenhatte. — Was also? Hat da das Gesetz dasVorzüglichere geleistet, der Sohn Gottes dasminder Vornehme? — Keineswegs! Das allermeistedabei hat ja Gott get<strong>an</strong>; er hat dasnatürliche Gesetz gegeben und das geschriebenenoch dazu; sonst hätte das Vorzüglicherenichts genützt, wenn nicht das minderVornehme schon vorgelegen wäre. Denn wasnützt es einem, zu wissen, was er tun soll,wenn er es nicht zur Ausführung bringt? Garnichts, sondern seine Schuld wird nur nochgrößer. So hat denn auch derselbe Gott derSeele Heil erwiesen und dem Fleische einenZügel <strong>an</strong>gelegt. Das Gute zu lehren, ist jaleicht; aber den Weg zu zeigen, wie es zuvollbringen ist, das ist das Große. Und sokam denn der eingeborene Sohn Gottes undließ nicht früher ab, als bis er uns von <strong>die</strong>serSchwierigkeit befreit hatte. — Das Vorzüglicheredabei ist auch <strong>die</strong> Art <strong>des</strong> Sieges. Er hatnämlich nicht ein <strong>an</strong>deres Fleisch <strong>an</strong>genommen,sondern ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong>ses selbe schwache.Es ist so, wie wenn jem<strong>an</strong>d, der auf demMarktplatze eine g<strong>an</strong>z gemeine Höckleringeprügelt werden sieht, erklärte, er sei ihrSohn, während er in Wirklichkeit der Sohn<strong>des</strong> Königs ist, und sie auf <strong>die</strong>se Weise vorweiteren Mißh<strong>an</strong>dlungen befreite. Dasselbehat Christus get<strong>an</strong>; er hat sich als „Sohn <strong>des</strong>Menschen“ erklärt, er hat der mensc<strong>hl</strong>ichenNatur beigest<strong>an</strong>den und der Sünde das To<strong>des</strong>urteilgesprochen. Diese wagte es fort<strong>an</strong>nicht mehr, der Menschennatur Sc<strong>hl</strong>äge zuversetzen, vielmehr versetzte er ihr selbstden To<strong>des</strong>streich; und so war denn nicht dasFleisch, welches <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>äge erhalten hatte,sondern <strong>die</strong> Sünde, welche sie ausgeteilt hatte,der <strong>zum</strong> Tode verurteilte und dem Unterg<strong>an</strong>ggeweihte Teil. Das ist das Allerstaunens-würdigste.Wenn nämlich der Sieg nichtim Fleische (Christi) errungen worden wäre,so wäre <strong>die</strong> Sache nicht so staunenswürdig,weil ja auch das Gesetz es fertig brachte. Das


142Staunenswürdige liegt darin, daß der Erlöserim Bunde mit dem Fleische den Sieg davontrug;daß das von der Sünde tausendfältigverwundete Fleisch einen so glänzenden Siegüber sie err<strong>an</strong>g. Beachte einmal, wieviel dagegen alles Erwarten geschah: Das eine, daß<strong>die</strong> Sünde nicht das Fleisch besiegte; das zweite, daß <strong>die</strong> Sünde selbst besiegtwurde, und zwar ger<strong>ad</strong>e vom Fleische; — esist ja doch nicht einerlei, nicht besiegt zuwerden, oder über <strong>die</strong> sonst immer siegreicheSünde auch noch zu siegen. — Drittens,daß das Fleisch nicht bloß siegte, sondernauch ein Strafurteil vollzog. Das Fleisch(Christi) sündigte nicht; darin lag sein Nichtbesiegtwerden.Es starb aber doch, und ger<strong>ad</strong>edarin lag sein Sieg und sein Aussprechen<strong>des</strong> To<strong>des</strong>urteils (über <strong>die</strong> Sünde). DasFleisch, welches früher (für <strong>die</strong> Sünde) einGegenst<strong>an</strong>d der Geringschätzung gewesenwar, zeigte sich ihr mit einemmal als etwaszu Fürchten<strong>des</strong>. So brach es also ihre Machtund hob den Tod auf, der durch sie in <strong>die</strong>Welt gekommen war. Sol<strong>an</strong>ge <strong>die</strong> Sünde <strong>an</strong>den Menschen Sünder f<strong>an</strong>d, brachte sie mitFug und Recht den Tod über sie; als sie abereinmal auf einen Körper traf, der ohne Sündewar, und ihn doch dem Tode überlieferte, dawar sie selbst schuldbar geworden, und dasTo<strong>des</strong>urteil wurde über sie gesprochen.Siehst du, wie viele Siege da zusammenkommen?Daß das Fleisch (Christi) der Sündegegenüber nicht unterlag; daß es sie besiegteund ihr das To<strong>des</strong>urteil sprach; daß esihr nicht unbegründet das To<strong>des</strong>urteilsprach, sondern auf ein von ihr beg<strong>an</strong>genesVerbrechen hin. Dieses Verbrechen überführtees sie zuerst, und d<strong>an</strong>n erst sprach es übersie den Urteilsspruch. Das Fleisch (Christi)ging also dabei nicht einfach mit Macht undGewalt vor, sondern mit Fug und Recht. DieserGed<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>g liegt in den Worten: „Aufeine Sünde hin sprach er der Sünde im Fleischedas To<strong>des</strong>urteil“, als ob er sagte: Er ü-berführte sie zuerst eines schweren Verbrechensund d<strong>an</strong>n sprach er ihr das To<strong>des</strong>urteil.— Siehst du da, wie überall <strong>die</strong> Sündeverurteilt wird, nicht das Fleisch? Wie <strong>die</strong>sesals Sieger erscheint und als Richter über <strong>die</strong>Sünde? — Wenn es heißt, daß Gott seinenSohn „in der Ähnlichkeit <strong>des</strong> Fleisches“s<strong>an</strong>dte, so darfst du daraus nicht sc<strong>hl</strong>ießen,daß <strong>die</strong>ses Fleisch ein <strong>an</strong>deres sei. Weil ernämlich gesagt hat: „Fleisch der Sünde“,<strong>des</strong>wegen setzt er <strong>die</strong>ses „in der Ähnlichkeit“bei. Denn Christus hatte ja kein sündigesFleisch, sondern eines, das unserem sündigenzwar ähnlich, aber sündenlos war; seiner Natur nach aber war esdasselbe wie das unsrige. — Daraus ist auchersichtlich, daß nicht <strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> Fleischessc<strong>hl</strong>echt ist. Denn Christus nahm kein <strong>an</strong>deresFleisch <strong>an</strong> als das ursprüngliche und ändertenichts <strong>an</strong> seinem Wesen, als er sich <strong>zum</strong>Kampfe mit ihm rüstete. Er ließ es in seinemnatürlichen Zust<strong>an</strong>de bestehen und verschaffteihm den Lorbeer <strong>des</strong> Sieges über <strong>die</strong>Sünde. Und d<strong>an</strong>n nach dem Siege ließ er esauferstehen und machte es unsterblich.Nun könnte jem<strong>an</strong>d sagen: Was hat das füreinen Bezug auf mich, wenn solches im FleischeChristi vor sich geg<strong>an</strong>gen ist? — Es hatgar sehr auf dich Bezug. Darum fährt derApostel fort:V. 4: „Damit <strong>die</strong> rechtfertigende Wirkung <strong>des</strong>Gesetzes <strong>an</strong> uns sich erfülle, <strong>die</strong> wir nicht nachdem Fleische w<strong>an</strong>deln.“— Was heißt das: „Die rechtfertigende Wirkung“?— Die Absicht, das Ziel, das, waserreicht werden soll. Was wollte das Gesetz?Was gebot es? — Sündenlos zu sein. Das istfür uns nun durch Christus erreicht worden.Dabei hat er es auf sich genommen, denKampf durchzuführen und Sieger zu bleiben;<strong>an</strong> uns ist es, <strong>die</strong> Früchte <strong>des</strong> Sieges zu genießen.Wir werden also in Zukunft nichtmehr sündigen? Nein, wir werden nicht sündigen,wenn wir nicht als überaus leichtsinnigund schwach erscheinen wollen. Darumfügt der Apostel bei: „Die wir nicht nach demFleische w<strong>an</strong>deln.“ Damit du nämlich nichtalle eigene Bemühung aufgibst, wenn du


hörst, daß Christus dir den Krieg gegen <strong>die</strong>Sünde abgenommen hat, daß <strong>die</strong> rechtfertigendeWirkung <strong>des</strong> Gesetzes <strong>an</strong> dir sich erfüllthat, daß der Sünde im Fleische das To<strong>des</strong>urteilgesprochen worden ist, darum fügtder Apostel auch oben den Worten: „Es gibtkeine Verdammung“ den Zusatz bei: „für<strong>die</strong>, welche nicht nach dem Fleische w<strong>an</strong>deln“.Hier macht er denselben Zusatz zuden Worten: „Damit <strong>die</strong> rechtfertigende Wirkung<strong>des</strong> Gesetzes <strong>an</strong> uns sich erfülle.“ — J<strong>an</strong>icht bloß das, sondern noch viel mehr. Nachden Worten: „Damit <strong>die</strong> rechtfertigende Wirkung<strong>des</strong> Gesetzes <strong>an</strong> uns sich erfülle“ fährter nämlich fort: „Sondern nach demGeiste.“D<strong>ad</strong>urch gibt er zu verstehen, daß m<strong>an</strong> nichtbloß das Böse meiden, sondern auch das Gutetun müsse. Dir den Siegeslorbeer zu reichen,das hat Christus auf sich genommen;ihn festzuhalten, ist deine Sache. Die rechtfertigendeWirkung <strong>des</strong> Gesetzes, <strong>die</strong> darinbesteht, daß du nicht unter dem Fluchestehst, <strong>die</strong> hat Christus <strong>an</strong> dir erfüllt.6.143Wirf darum ein so großes Geschenk nichtweg, sondern bewahre dir <strong>die</strong>sen so kostbarenSchatz. Der Apostel zeigt dir ja hier, daß<strong>die</strong> Taufe uns <strong>zum</strong> Heil nicht genügt, wennwir nicht nach der Taufe ein Leben führen,das solchen Geschenkes würdig ist. So redetdenn der Apostel auch damit wieder demGesetze das Wort. Nachdem wir einmal denGlauben <strong>an</strong> Christus <strong>an</strong>genommen haben,müssen wir alles tun und ins Werk setzen,damit jene rechtfertigende Wirkung, <strong>die</strong>Christus zur Erfüllung gebracht hat, in unsverbleibe und nicht verloren gehe.V. 5: „Denn <strong>die</strong>, welche nach dem Fleische sind,sinnen auf das, was <strong>des</strong> Fleisches ist.“— Darin liegt jedoch keine Verwerfung <strong>des</strong>Fleisches. Sol<strong>an</strong>ge es sich <strong>an</strong> <strong>die</strong> ihm eigentümlicheBestimmung hält, geschieht nichtsUnrechtes. Wenn wir aber das Unterste zuoberst kehren, wenn das Fleisch <strong>die</strong> ihm eigentümlichenGrenzen überschreitet und sichgegen <strong>die</strong> Seele empört, d<strong>an</strong>n richtet es alleszugrunde und verdirbt es, und zwar nichtinfolge der ihm eigentümlichen Natur, sonderninfolge <strong>des</strong> Übermaßes und der darausfolgenden Unordnung.„Die aber nach dem Geiste sind, sinnen auf das,was <strong>des</strong> Geistes ist.“V. 6: „Denn das Sinnen <strong>des</strong> Fleisches ist Tod.“— Der Apostel sagt nicht: <strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> Fleisches,das Wesen <strong>des</strong> Leibes, sondern: „dasSinnen“; <strong>die</strong>ses k<strong>an</strong>n in <strong>die</strong> rechte Richtunggebracht, es k<strong>an</strong>n auch g<strong>an</strong>z ab- get<strong>an</strong> werden. Das sagt er, nicht umdem Fleische ein eigenes Denken zuzuschreiben— nein —, sondern er bezeichnetdamit nur den grobsinnlichen Zug unseresDenkens; er gibt ihm den Namen von demweniger edlen Teil (unserer Natur), wie erauch öfter „Fleisch“ den g<strong>an</strong>zen Menschen,der doch auch eine Seele hat, zu nennenpflegt.„Aber das Sinnen <strong>des</strong> Geistes“.— Wieder spricht er hier von einer geistigenSinnesart, wie er weiter unten sagt: „Der aber<strong>die</strong> Herzen durchforscht, weiß, was das Sinnen<strong>des</strong> Geistes ist“ 182 , und weist auf den reichenSegen für Zeit und Ewigkeit hin, derdaraus entspringt. Im Verhältnis zu demSc<strong>hl</strong>echten, welches das fleisc<strong>hl</strong>iche Sinnenmit sich bringt, ist das Gute, welches demgeistigen Sinnen eigen ist, viel größer. Dasbringt er <strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er spricht:„Leben und Frieden“.Das Widerspiel <strong>des</strong> ersteren (<strong>des</strong> Lebens) hatder Apostel bereits gen<strong>an</strong>nt: „Denn das Sinnen<strong>des</strong> Fleisches ist Tod“; das Widerspiel<strong>des</strong> <strong>an</strong>deren (<strong>des</strong> Friedens) nennt er im folgenden.Nach dem Worte „Frieden“ fährt ernämlich fort:182 Röm. 8, 27.


V. 7: „Deswegen ist das Sinnen <strong>des</strong> FleischesFeindschaft gegen Gott.“Das ist aber noch sc<strong>hl</strong>immer als der Tod.D<strong>an</strong>n zeigt er, wieso das Sinnen <strong>des</strong> FleischesTod und Feindschaft sei:„Es ordnet sich dem Gesetze Gottes nicht unterund k<strong>an</strong>n es gar nicht.“— Erschrick nicht, wenn du hörst, daß es sichgar nicht unterordnen k<strong>an</strong>n. Diese Schwierigkeitist leicht zu lösen. „Das Sinnen <strong>des</strong>Fleisches“ nennt hier der Apostel das erdhafte,grobsinnliche Denken, das den Gütern<strong>die</strong>ses Lebens und bösen Taten zugeneigt ist.Dieses Denken könne sich, sagt er, unmöglichGott unterordnen. — Wo bleibt aber daeine Hoffnung auf Heil, wenn es unmöglichist, daß ein Böser gut werde? — Das letz-tere sagt auch der Apostel gar nicht.Wie wäre denn sonst <strong>Paulus</strong> selbst zu einemsolchen geworden? Wie hätte es einen (bekehrten)Räuber geben können? Wie einenM<strong>an</strong>asses? Wie Niniviten? Wie hätte sichDavid von seinem Fall erheben können? Wiehätte Petrus nach seiner Verleugnung <strong>des</strong>Herrn wieder in sich gehen können? Wie hätteder Blutschänder wieder der Gn<strong>ad</strong>e Christieingereiht werden können? Wie hätten <strong>die</strong>Galater, „<strong>die</strong> aus der Gn<strong>ad</strong>e gefallen waren“,wieder zu ihrem früheren Adel kommenkönnen? Der Apostel sagt ja auch nicht, daßder Sc<strong>hl</strong>echte unmöglich gut werden könne,sondern daß es ihm unmöglich sei, sich Gottunterzuordnen, sol<strong>an</strong>ge er sc<strong>hl</strong>echt bleibe;daß er sich aber ändere, daß er gut werde,daß er sich d<strong>an</strong>n Gott unterordne, das seileicht möglich. Der Apostel sagt nicht, daßder Mensch sich Gott nicht unterordnenkönne, sondern daß <strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>echte Tat nichtzugleich gut sein könne, als würde er sagen:<strong>die</strong> Unkeuschheit k<strong>an</strong>n nicht Enthaltsamkeitsein, das Laster nicht Tugend. So heißt es jaauch im Ev<strong>an</strong>gelium: „Ein sc<strong>hl</strong>echter Baumk<strong>an</strong>n nicht gute Früchte bringen“ 183 . Damitwill aber Christus keineswegs <strong>die</strong> Umw<strong>an</strong>d-lung <strong>des</strong> Lasters in Tugend in Abrede stellen,sondern er meint nur, daß das Verbleiben imLaster keine guten Früchte bringen könne. Ersagt ja nicht: Ein sc<strong>hl</strong>echter Baum k<strong>an</strong>n nichtein guter Baum werden, sondern nur, daß er,sol<strong>an</strong>ge er sc<strong>hl</strong>echt bleibt, keine guten Früchtebringen könne. Daß aber eine Umw<strong>an</strong>dlungmöglich sei, zeigt er sowo<strong>hl</strong> hier wie ineiner <strong>an</strong>dern Parabel, wo er nämlich von Unkrautspricht, das Weizen wird. Eben darumverbietet er, es auszujäten, „damit ihr nichtetwa“, heißt es, „mit dem Unkraut auch denWeizen ausreißet“ 184 , d. h. den Weizen, derdaraus erst werden soll. Unter dem „Sinnen<strong>des</strong> Fleisches“ versteht also <strong>Paulus</strong> das Böse;unter dem „Sinnen <strong>des</strong> Geistes“ <strong>die</strong> erhalteneGn<strong>ad</strong>e und <strong>die</strong> aus freiem Willensentsc<strong>hl</strong>ußhervorgeg<strong>an</strong>gene Mitarbeit <strong>zum</strong> Guten. Nirgendsspricht er da von Natur und Wesen,sondern nur von Tugend und Laster, Was du nicht imst<strong>an</strong>de warst imAlten Bunde, will er sagen, das vermagst dajetzt, nämlich den rechten Weg zu gehen ohneStraucheln, wenn du nur den Beist<strong>an</strong>d <strong>des</strong>Hl. Geistes <strong>an</strong>nimmst. Es genügt aber nicht,bloß nicht nach dem Fleische zu w<strong>an</strong>deln,sondern m<strong>an</strong> muß auch nach dem Geistew<strong>an</strong>deln; denn zur Seligkeit reicht es nichthin, bloß das Böse zu meiden, sondern m<strong>an</strong>muß auch das Gute tun. Dies geschieht,wenn wir <strong>die</strong> Seele dem Hl. Geiste überlassenund das Fleisch dazu bringen, seine Bestimmungzu erkennen. Auf <strong>die</strong>se Weisevergeistigen wir es, wie wir <strong>an</strong>dererseits,wenn wir träge dahinleben, auch <strong>die</strong> Seeleverfleisc<strong>hl</strong>ichen.7.Da nun das Geschenk der Gn<strong>ad</strong>e uns nichtnach einer Naturnotwendigkeit zuteil wird,sondern durch einen freien Willensentsc<strong>hl</strong>uß183 Matth. 7, 18.144184 Ebd. 13, 29.


in unsern Besitz kommt, liegt es <strong>an</strong> dir, daseine zu werden oder das <strong>an</strong>dere. Von seitenGottes ist alles get<strong>an</strong> worden. Die Sünde widerstreitetnicht mehr dem Gesetze der Vernunft,sie nimmt <strong>die</strong>se nicht mehr gef<strong>an</strong>genwie früher; das ist alles aus und vorbei; <strong>die</strong>Leidenschaften liegen am Boden in Furchtund Zittern vor der Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Hl. Geistes.Wenn du aber selbst das Licht auslöschest,den Wagenlenker hinabstürzest, den Steuerm<strong>an</strong>nverjagst, d<strong>an</strong>n schreib dir nur selbstdeinen Sturz zu. Daß <strong>die</strong> Tugend jetzt leichtergeworden ist und infolge<strong>des</strong>sen ihre Ü-bung zugenommen hat, das magst du erkennen,wenn du <strong>die</strong> Menschengeschichte betrachtestzur Zeit der Herrschaft <strong>des</strong> Gesetzesund jetzt, da <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e erstra<strong>hl</strong>t. Was früherniem<strong>an</strong>dem möglich schien, z. B. jungfräulichesLeben, Verachtung <strong>des</strong> To<strong>des</strong> und dervielen <strong>an</strong>dern Leiden, das wird jetzt allenthalbenauf dem Erdkreise geübt. Nicht bloßbei uns, sondern auch bei den Skythen undThrakern und <strong>In</strong>dern und Persern und mehreren<strong>an</strong>dern barbarischen Völkern gibt esChöre von Jungfrauen, Scharen von Märtyrern,Gemeinden von Mönchen; ihre Za<strong>hl</strong> istgrößer als <strong>die</strong> der verheirateten; das Fastenist häufig, <strong>die</strong> freiwillige Armut wird in hohemMaße geübt — alles Dinge, von denensich <strong>die</strong> Menschen unter dem Gesetze, einenoder zwei ausgenommen, nichteinmal im Traume eine Vorstellung machenkonnten. Da du nun siehst, daß <strong>die</strong> Wahrheitder Tatsachen lauter ertönt als Trompetenschall,so sei kein Schwäc<strong>hl</strong>ing und verschwendenicht soviel Gn<strong>ad</strong>e. Denn es istnicht möglich, auch nicht nach Annahme <strong>des</strong>Glaubens, daß einer, welcher der geistlichenTrägheit frönt, selig werde. Denn der Kampfist dir leicht gemacht, damit du kämpfst undsiegst, nicht damit du sc<strong>hl</strong>äfst, nicht damit du<strong>die</strong> Größe der Gn<strong>ad</strong>e zu einem Vorw<strong>an</strong>d fürdeine Trägheit mißbrauchst und dich wiederwie früher im Sc<strong>hl</strong>amme wälzest.V. 8: „Die im Fleische sind, können Gott nichtgefallen.“145— Was heißt das? Sollen wir etwa das Fleischin Stücke hauen, damit wir Gott gefallen, sollenwir aus dem Fleische ausziehen? Befie<strong>hl</strong>stdu uns, Menschenmörder zu werden, indemdu uns Anleitung zur Tugend gibst? —Siehst du, welcher Widersinn herauskommt,wenn wir <strong>die</strong> Worte buchstäblich nehmen.„Fleisch“ nennt der Apostel hier nicht denKörper, auch nicht das Wesen <strong>des</strong> Körpers,sondern das fleisc<strong>hl</strong>iche und weltliche Leben,das lauter Schwelgerei und Unmäßigkeit istund den Menschen g<strong>an</strong>z in der Pflege <strong>des</strong>Fleisches aufgehen läßt. Gera<strong>des</strong>o nämlichwie jene, welche sich von den Flügeln <strong>des</strong>Geistes tragen lassen, auch ihren Leib vergeistigen,so machen <strong>die</strong>jenigen, welche sichdem Einfluß <strong>des</strong> Geistes entziehen und nurdem Bauch und dem Wo<strong>hl</strong>leben frönen, auchihre Seele zu Fleisch; sie ändern freilich nicht<strong>die</strong> Natur derselben um, aber sie vernichtenderen Adel. Diese Redewendung findet sichübrigens <strong>des</strong> öfteren auch im Alten Testament.Als „Fleisch“ bezeichnet es das grobsinnliche,<strong>an</strong> der Erde klebende und sinnloserWollust frönende Leben. Auch zu Noespricht Gott: „Mein Geist soll nicht in <strong>die</strong>senMenschen verbleiben, weil sie Fleischsind“ 185 . Und doch war ja auch Noe mitFleisch umkleidet. Die Anklage best<strong>an</strong>d ebennicht darin, daß <strong>die</strong> Menschen mit Fleisch umkleidet waren — das gehört ja zuihrer Natur — sondern daß sie ein fleisc<strong>hl</strong>ichesLeben führten. <strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne sagtauch <strong>Paulus</strong>: „Die im Fleische sind, könnenGott nicht gefallen“ und fährt fort:V. 9: „Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern imGeiste.“ >br>— Auch hier wieder meint derApostel nicht das Fleisch sc<strong>hl</strong>echtweg, sonderndas von den Leidenschaften hin- undhergezerrte, von ihnen tyr<strong>an</strong>nisierte Fleisch.— Warum, könnte m<strong>an</strong> fragen, hat er aberdas nicht ausdrücklich gesagt, den Unterschiednicht hervorgehoben? — Er will denZuhörer aufrichten, indem er <strong>zum</strong> Ausdruck185 Gen. 6, 8.


ingt, daß der, welcher gerecht lebt, sicheigentlich nicht mehr im Körper befindet.Das leuchtete ja jedem ein, daß ein solchergeistlicher Mensch nicht in der Sünde sei;hier behauptet aber der Apostel noch etwasviel Größeres, nämlich, daß der geistlicheMensch nicht bloß nicht in der Sünde sei,sondern daß er sich auch nicht mehr im Leibebefinde, daß er schon hienieden ein Engelgeworden, daß er sich <strong>zum</strong> Himmel emporschwingeund den Körper nur mehr so mitsich herumtrage. Sollte aber <strong>des</strong>wegen dasFleisch in deiner Achtung fallen, weil dasfleisc<strong>hl</strong>iche Leben von ihm den Namen hat,so müßtest du auch von der Welt einesc<strong>hl</strong>echte Meinung haben, weil mit ihremNamen oft <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>echtigkeit ben<strong>an</strong>nt wird;so wenn Jesus zu seinen Jüngern spricht: „Ihrseid nicht von <strong>die</strong>ser Welt“ 186 . Und zu seinenBrüdern sprach er wiederum: „Die Welt k<strong>an</strong>neuch nicht hassen, mich aber haßt sie“ 187 .Auch <strong>die</strong> Seele (als Prinzip <strong>des</strong> <strong>an</strong>imalischenLebens) müßte m<strong>an</strong> als gottentfremdet <strong>an</strong>sprechen,da der Apostel <strong>die</strong>, <strong>die</strong> auf Irrwegenw<strong>an</strong>deln, „bloß beseelt“ nennt. Dochnein, dem ist nicht so. M<strong>an</strong> darf <strong>die</strong> Wortenicht nach ihrer buchstäblichen Bedeutungnehmen, sondern muß immer auf <strong>die</strong> Absicht<strong>des</strong> Sprechenden achten und <strong>die</strong> Wort wo<strong>hl</strong>zu unterscheiden verstehen. Es gibt Worte,<strong>die</strong> etwas Gutes, <strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> etwas Sc<strong>hl</strong>echtes,und solche, <strong>die</strong> etwas in derMitte Stehen<strong>des</strong> bezeichnen. Zu den letzterengehören <strong>die</strong> Worte „Seele“ und „Fleisch“; siekönnen das eine oder das <strong>an</strong>dere bezeichnen.Dagegen k<strong>an</strong>n „Geist“ immer nur etwas Gutessein, niemals etwas <strong>an</strong>deres. „Sinnen <strong>des</strong>Fleisches“ wieder, d. h. sündiges Tun, k<strong>an</strong>nimmer nur etwas Sc<strong>hl</strong>echtes sein; denn esunterwirft sich nicht dem Gesetze Gottes.Wenn du nun deine Seele und deinen Leib inden Dienst <strong>des</strong> Guten stellst, d<strong>an</strong>n wirst duauch <strong>des</strong> Guten teilhaftig; wenn aber in denDienst <strong>des</strong> Sc<strong>hl</strong>echten, d<strong>an</strong>n nimmst du auchteil <strong>an</strong> dem Verderben, welches daraus hervorgeht,und zwar nicht weil es so in der Naturder Seele und <strong>des</strong> Fleisches liegt, sondernwegen deines freien Willens, in <strong>des</strong>sen Gewaltes liegt, das eine oder das <strong>an</strong>dere zuwä<strong>hl</strong>en. — Daß <strong>die</strong> Stelle <strong>die</strong>sen Sinn hat unddaß <strong>die</strong> zitierten Worte keineswegs eine Herabsetzung<strong>des</strong> Fleisches beinhalten, wollenwir noch genauer nachprüfen und zu <strong>die</strong>semZwecke <strong>die</strong> Worte noch einmal unter <strong>die</strong> Lupenehmen: „Ihr aber seid nicht im Fleische,sondern im Geiste.“7.Wie also? Lebten sie nicht im Fleische, sonderngingen sie ohne Körper einher? Wie hättedas einen Sinn? Ersiehst du daraus, daßder Apostel das fleisc<strong>hl</strong>iche Leben <strong>an</strong>deutet?— Aber warum heißt es d<strong>an</strong>n nicht: Ihr aberseid nicht in der Sünde? — Damit du einsehenlernst, daß Christus nicht bloß <strong>die</strong> Tyr<strong>an</strong>neider Sünde gebrochen, sondern auchdas Fleisch leichter und geistiger gemacht hatnicht d<strong>ad</strong>urch, daß er seine Natur umänderte,sondern d<strong>ad</strong>urch, daß er ihm gewissermaßenFlügel gab. So wie ein Eisen, das l<strong>an</strong>geim Feuer bleibt, selbst Feuer wird, dabeiaber seine Natur behält, so wird auch dasFleisch der Gläubigen, <strong>die</strong> den Geist haben,fort<strong>an</strong> zur Wirkungsweise <strong>des</strong> Geistes umgestaltet,es wird g<strong>an</strong>z geistig, durch unddurch gekreuzigt und zugleich mit der Seelegleichsam beflügelt. So geschah es auch derSeele <strong>des</strong>sen, der <strong>die</strong>s gesagt hat. Darum verlachteer Wo<strong>hl</strong>leben und alle Üppigkeit, f<strong>an</strong>dseine Wonne <strong>an</strong> Hunger, Geißelhieben undB<strong>an</strong>den und empf<strong>an</strong>d dabei keinen Schmerz.Das bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er voneiner „augenblicklichen und kurzen Trübsal“ 188 spricht. So gut hatte er sein186 Joh. 15, 19.187 Ebd. 7, 7.146188 2 Kor. 4, 17.


Fleisch <strong>zum</strong> Wettlauf mit dem Geiste geschult.„Wenn <strong>an</strong>ders der Geist Gottes in euch wohnt“189.— Das „wenn <strong>an</strong>ders“ gebraucht der Apostelöfter nicht im Sinne eines Zweifels, sonderneiner vollen Gewißheit <strong>an</strong> Stelle eines „da ja“,so z. B. wenn er sagt: „Wenn <strong>an</strong>ders es gerechtist bei Gott, daß er denjenigen, welcheeuch in Trübsal versetzen, mit Trübsal vergelte“190 , und wieder: „Soviel habt ihr umsonstgelitten, wenn <strong>an</strong>ders umsonst“ 191 .„Wenn aber jem<strong>an</strong>d den Geist Christi nicht hat“.— Der Apostel sagt nicht: Wenn ihr ihn nichthabt, sondern er bezieht <strong>die</strong>ses Unerfreulicheauf <strong>an</strong>dere.„So ist er nicht sein.“V. 10: „Wenn aber Christus in euch ist“ …— Abermals sagt der Apostel, daß Christusin ihnen sei. Das Unerfreuliche spricht er nurkurz und so nebenbei aus; das Tröstliche dagegenl<strong>an</strong>g und breit und mit vielen Worten,um jenes abzuschwächen. — Mit <strong>die</strong>sen Wortenwill der Apostel nicht etwa sagen, daßder Hl. Geist und Christus dasselbe seien —nein —, sondern er will ausdrücken, daß der,welcher den Hl. Geist hat, nicht bloß ChristiEigentum heißt, sondern Christus selbst auchwirklich besitzt. Es ist ja nicht möglich, daßder Hl. Geist gegenwärtig sei und Christusnicht. Denn wo eine Person der Dreifaltigkeitgegenwärtig ist, da ist auch <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Dreifaltigkeitgegenwärtig; sie ist ja unteilbar insich und eine vollständige Einheit. — Undwas geschieht d<strong>an</strong>n, „wenn Christus in euchist“? —… „So ist zwar der Leib tot in Anbetracht derSünde, der Geist aber ist Leben in Anbetracht derGerechtigkeit.“— Siehst du, welche üble Folgen es hat, wennm<strong>an</strong> den Hl. Geist nicht besitzt?Tod, Feindschaft gegen Gott, Unvermögen,<strong>an</strong> seinen Gesetzen Gefallen zu finden; m<strong>an</strong>189 1 Kor. 3, 16.190 2 Thess. 1 , 6.191 Gal. 3, 4.147ist nicht Christi Eigentum, wie es sein sollte,m<strong>an</strong> hat ihn nicht in sich wohnen. — Betrachtenun auch, wie viele gute Folgen es hat,wenn m<strong>an</strong> den Hl. Geist besitzt: M<strong>an</strong> istChristi Eigentum, m<strong>an</strong> besitzt Christusselbst, m<strong>an</strong> macht den Engeln den R<strong>an</strong>g streitig.Denn das bedeutet es, das Fleisch abgetötetzu haben, unsterbliches Leben zu leben,schon hienieden <strong>die</strong> Bürgschaft der Auferstehungzu besitzen, mit Leichtigkeit denPf<strong>ad</strong> der Tugend zu w<strong>an</strong>deln. Der Apostelsagt ja nicht, in Hinkunft lasse der Leib abvon der Sünde, sondern er sei ger<strong>ad</strong>ezu totfür sie. Damit deutet er auf <strong>die</strong> große Leichtigkeithin, <strong>die</strong> Pf<strong>ad</strong>e der Tugend zu w<strong>an</strong>deln.Ohne besondere Mühen und Anstrengungenwird in Hinkunft einem solchen derSiegeslorbeer zuteil. Darum setzt der Apostelhinzu: „für <strong>die</strong> Sünde“, damit du daraus ersiehst,daß <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> Sündhaftigkeit,nicht aber <strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> Körpers aufhebe.Denn wenn das letztere der Fall wäre, würdeauch gar m<strong>an</strong>ches wegfallen, was der Seelevon Nutzen sein k<strong>an</strong>n. Das sagt der Apostelalso nicht, sondern er will, daß der Leib, sowie er lebt und in seiner Natur verbleibt, totsei. Das ist nämlich das Zeichen, daß wir denSohn haben und der Hl. Geist in uns wohne,wenn sich unsere Leiber, soweit es darauf<strong>an</strong>kommt, eine Sünde zu begehen, in nichtsvon den im Sarge liegenden Leichnamen unterscheiden.— Erschrick aber nicht, wenn duvon Totsein hörst. Du hast ja das wahre Leben,welches kein Tod mehr dahinrafft. Dasist nämlich dem Leben <strong>des</strong> Geistes eigentümlich:Es gehört nicht mehr dem Tode, sondernim Gegenteil, es zernichtet und versc<strong>hl</strong>ingtihn, und was es aufnimmt, das erhält es unsterblich.Darum sagt der Apostel nicht alsGegenteil von „der Leib ist tot“: der Geist istlebendig, sondern: er ist Leben; er will damitzu verstehen geben, daß der Geist imst<strong>an</strong>deist, auch <strong>an</strong>dern dasselbe mitzuteilen. Hieraufregt der Apostel wieder <strong>die</strong> Aufmerksamkeit<strong>des</strong> Zuhörers <strong>an</strong>: Er nennt <strong>die</strong> Ursache<strong>des</strong> Lebens und führt <strong>die</strong> Begründung


dafür <strong>an</strong>. Die Ursache <strong>des</strong> Lebens ist <strong>die</strong> Gerechtigkeit.Denn wenn es keine Sünde gibt,tritt auch der Tod nicht in Erscheinung; wenn aber der Tod nichtin Erscheinung tritt, ist das Leben ohne Ende.V. 11: „Wenn aber der Geist <strong>des</strong>sen, der Jesusvon den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, sowird der, welcher unsern Herrn auferweckt hat,auch eure sterblichen Leiber lebendig machen umseines Geistes willen, der in euch wohnt.“— Wieder bringt der Apostel <strong>die</strong> Rede auf<strong>die</strong> Auferstehung; <strong>die</strong> Hoffnung darauf wares ja, <strong>die</strong> den Zuhörer g<strong>an</strong>z besonders stärkteund ihn festigte in Hinblick auf das BeispielChristi. Fürchte nichts davon, will er sagen,daß du einen sterblichen Leib <strong>an</strong>hast. Bewahrenur den Geist, und du wirst g<strong>an</strong>z gewißauferstehen. — Doch wie? Werden nichtauch <strong>die</strong> Leiber auferstehen, welche denGeist nicht bewahrt haben? Wieso heißt esdenn, daß „alle erscheinen müssen vor demRichterstu<strong>hl</strong>e Christi“ 192 ? Wieso ver<strong>die</strong>nt <strong>die</strong>Lehre von der Hölle Glauben? Denn wenn<strong>die</strong>, welche den Geist nicht bewahrt haben,nicht auferstehen, d<strong>an</strong>n gibt es keine Hölle.Was hat also <strong>die</strong>ses Wort <strong>des</strong> Apostels füreinen Sinn? — Alle werden zwar auferstehen,aber nicht alle <strong>zum</strong> Leben, sondern <strong>die</strong>einen zur Bestrafung, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern <strong>zum</strong> Leben.Darum sagt der Apostel nicht: Er wird sie auferwecken, sondern: „Er wird sie lebendigmachen.“ Das ist mehr als <strong>die</strong> bloße Auferstehungund wird nur dem Gerechten zuteilwerden. Er führt auch gleich den Grund einerso großen Ehre <strong>an</strong>, indem er sagt: „umseines Geistes willen, der in euch wohnt“.Wenn du daher hier auf Erden <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>Hl. Geistes aus dir vertrieben hast, wenn duohne <strong>die</strong>selbe aus der Welt schei<strong>des</strong>t, sowirst du g<strong>an</strong>z gewiß verloren gehen, wenndu auch auferstehen wirst. Wie er einerseits,wenn er d<strong>an</strong>n seinen Geist in dir erstra<strong>hl</strong>ensieht, dich nimmermehr der (ewigen) Strafeüberliefern wird, so wird er <strong>an</strong>dererseits,192 Röm. 14, 10.148wenn er sie erloschen sieht, dich nicht in denHochzeitssaal einführen, ebensowenig wiejene (törichten) Jungfrauen. — Laß also deinenLeib jetzt nicht am Leben, damit du d<strong>an</strong>nlebest; laß ihn sterben, damit erd<strong>an</strong>n nicht sterbe. Denn wenn er jetzt am Lebenbleibt, wird er d<strong>an</strong>n nicht leben; wenn eraber jetzt stirbt, wird er d<strong>an</strong>n leben. So wir<strong>des</strong> auch mit der allgemeinen Auferstehunggehen: Zuerst muß der Leib sterben und begrabenwerden, und d<strong>an</strong>n wird er unsterblichsein. Dasselbe geschah beim Taufb<strong>ad</strong>e;da wurde er auch zuerst gekreuzigt und begrabenund d<strong>an</strong>n auferweckt. Dasselbe geschahmit dem Leibe <strong>des</strong> Herrn; auch <strong>die</strong>serwurde gekreuzigt und begraben und st<strong>an</strong>dd<strong>an</strong>n auf.9.So wollen denn auch wir es halten! Wir wollenden Leib beständig abtöten in bezug aufseine Werke! Nicht sein Wesen meine ich,das sei ferne, sondern seine zu sündhaftenH<strong>an</strong>dlungen hinziehenden Triebe. Denn dasist Leben, ja das allein ist Leben, nichtsMensc<strong>hl</strong>ichem zu unterliegen, nicht den Lüstenzu <strong>die</strong>nen. Denn wer sich <strong>die</strong>sen ergibt,der wird nicht mehr (eigentlich) leben könnenwegen der gedrückten Stimmungen, derBefürchtungen und Gefahren, <strong>die</strong> davon herkommen,und der za<strong>hl</strong>losen Schwärme vonLeidenschaften. Steht einem solchen der Todin Erwartung, so stirbt er aus Angst schonvor seinem eigentlichen Tode. Ahnt erKr<strong>an</strong>kheit oder Schmach oder Armut odersonst etwas Unerwünschtes, so vergeht erund ist hin. Was gibt es Elenderes als ein solchesLeben? — Nicht so geht es dem, der einLeben im Geiste führt. Er ist erhaben überBefürchtungen, Trauer, Gefahren und jedenWechsel <strong>des</strong> Schicksals, nicht weil ihn nichtsdergleichen trifft, sondern, was weit mehr ist,weil er alles, was über ihn kommt, gering-


149schätzt. — Wie ist das aber möglich? —Wenn der Geist beständig in euch wohnt.Denn der Apostel spricht nicht bloß von einem<strong>In</strong>newohnen <strong>des</strong> Geistes für kurze Zeit,sondern von einem beständigen <strong>In</strong>newohnen.Er sagt darum auch nicht von dem Geiste,daß er wohnte, sondern daß er wohnt,und deutet damit ein beständiges Verbleiben<strong>an</strong>. Derjenige lebt also im eigentlichen Sinne<strong>des</strong> Wortes, welcher <strong>die</strong>sem Leben abgestorbenist. Darum sagt auch der Apostel: „DerGeist ist Leben in Anbetracht der Gerechtigkeit.“— Um das Gesagte noch deutlicher <strong>zum</strong>achen, nehmen wir zwei Menschen,von denen der eine Schwelgereienund Wollüsten und dem Trug <strong>des</strong> Lebensg<strong>an</strong>z hingegeben, der <strong>an</strong>dere allen <strong>die</strong>senDingen abgestorben ist. Und nun wollen wirsehen, welcher von ihnen im eigentlicherenSinne lebt. Angenommen, der eine von <strong>die</strong>senbeiden ist sehr reich und <strong>an</strong>gesehen; erhält sich Schmarotzer und Schmeic<strong>hl</strong>er undvergeudet den g<strong>an</strong>zen Tag mit Prassen undZechen. Der <strong>an</strong>dere dagegen führt in Armutund Fasten ein auch sonst strenges und enthaltsamesLeben, er nimmt nur am Abend<strong>die</strong> notwendige Nahrung zu sich, ja er bleibt,wenn du willst, auch zwei bis drei Tage g<strong>an</strong>zohne Speise. Welcher von <strong>die</strong>sen beiden lebtim eigentlicheren Sinne <strong>des</strong> Wortes? Ich weißwo<strong>hl</strong>, viele werden meinen, der, welcher siches wo<strong>hl</strong> sein läßt und sein Hab und Gutverpraßt; wir aber sind der Ansicht, daß deres ist, welcher mit Maß genießt. Nun, da wirda zweierlei Meinung sind, wollen wir einmaleinen Besuch in ihren Häusern machen,und zwar ger<strong>ad</strong>e zu einer Zeit, wo der Reicheam eigentlichsten zu leben scheint, ger<strong>ad</strong>ezur Essenszeit; wir wollen eintreten und sehen,in welchem Zust<strong>an</strong>de sich der eine undder <strong>an</strong>dere von ihnen befindet. Da werdenwir denn den einen bei seinen Büchern, beiGebet und Fasten oder einer <strong>an</strong>dern notwendigenBeschäftigung <strong>an</strong>treffen, wach undnüchtern und im Gespräche mit Gott; den<strong>an</strong>dern werden wir im Rausche förmlich untergeg<strong>an</strong>gen,nicht viel besser als einen Totendaliegen sehen. Wollen wir erst gar bis <strong>zum</strong>Abend warten, d<strong>an</strong>n werden wir sehen, wieder Tod in einem noch eigentlicheren Sinneihn überm<strong>an</strong>nt, wenn er nämlich d<strong>an</strong>n inSc<strong>hl</strong>af versinkt. Den <strong>an</strong>dern dagegen sehenwir auch in der Nacht nüchtern und wach.Von welchem von beiden können wir nunsagen, daß er in eigentlicherem Sinne lebt,von dem, der ohnmächtig daliegt, allen <strong>zum</strong>Gelächter, oder von dem <strong>an</strong>dern, der wachist und mit Gott spricht? Wenn du zu jenemhintrittst und ihm von etwas Ernstemsprichst, wirst du von ihm ebensowenig einenLaut hören wie von einem Toten. Willstdu dagegen mit dem <strong>an</strong>dern beisammensein, sei es bei Tag oder bei Nacht; so wirstdu mehr den Anblick eines Engels als einesMenschen haben und wirst ihn über himmlischeDinge mit Weisheit reden hören.Siehst du, daß der eine in einem höherenSinne lebt als alle, <strong>die</strong> leben, der <strong>an</strong>dere dagegenelender dar<strong>an</strong> ist als <strong>die</strong> Toten? Undwenn er scheinbar etwas macht, so sieht erdas eine für das <strong>an</strong>dere <strong>an</strong> und gleicht denWahnsinnigen, ja ist noch viel unglücklicherals <strong>die</strong>se. Denn wenn jem<strong>an</strong>d WahnsinnigenSchimpf <strong>an</strong>tut, so haben wir alle Mitleid mitdem Beschimpften und schelten den aus, derihm den Schimpf <strong>an</strong>tut. Sehen wir dagegen,daß einer <strong>die</strong>sem (Betrunkenen) einen Fußtrittversetzt, so werden wir nicht nur nicht<strong>zum</strong> Mitleid gestimmt, sondern geben nochdem (betrunken) Daliegenden unrecht. Istdas, sag mir, ein Leben, oder ist es nichtsc<strong>hl</strong>immer als tausendfacher Tod? Siehst duein, daß der Schwelger nicht bloß ein Toterist, sondern daß er sc<strong>hl</strong>immer dar<strong>an</strong> ist alsein Toter, unglücklicher als ein Besessener?Denn <strong>die</strong>ser wird bemitleidet, jener gehaßt;<strong>die</strong>sem verzeiht m<strong>an</strong>, jener wird für seineKr<strong>an</strong>kheit noch bestraft. Und wenn er schonvon außen so lächerlich aussieht, wie er ekligenGeifer vor dem Munde hat und nachsauer gewordenem Wein stinkt, d<strong>an</strong>n stelledir vor, wie erst seine arme Seele, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>-


sem Körper wie in einer Gruft begraben liegt,wie erst <strong>die</strong> ausschauen mag! Es ist so einAnblick, wie wenn einer eine schmucke,feingebildete, freigeborene, <strong>ad</strong>elige, schöneDame von einer groben, häßlichen, schmutzigenMagd in der gröblichsten Weise beschimpfenließe. So ist es mit der Trunkenheit.10.Welcher vernünftige Mensch würde es nichtvorziehen, tausendmal lieber zu sterben, alseinen einzigen Tag so zu leben? Wenn derTrunkenbold <strong>des</strong> <strong>an</strong>dern Tages nach so einemlächerlichen Schauspiel aufsteht undnüchtern zu sein scheint, so erfreut er sichdoch auch jetzt noch nicht klarer Besonnenheit;noch steht ihm der Nebel, der nach demGewitter der Trunkenheit aufsteigt, vor Augen.Aber nehmen wir auch <strong>an</strong>, er sei g<strong>an</strong>znüchtern, was nützt ihn das? Diese Nüchternheithat für ihn keinen <strong>an</strong>deren Nutzen,als daß er seine Ankläger deutlich vor sichsieht. Sol<strong>an</strong>ge er sich in seinem sch<strong>an</strong>dbarenZust<strong>an</strong>de befindet, hat er wenigstens den Vorteil, daß er derjenigen,<strong>die</strong> ihn verlachen, nicht gewahr wird. Istes aber Tag geworden, so verliert er auch<strong>die</strong>sen Trost. Er sieht jetzt um sich murrendeDiener, eine Frau, <strong>die</strong> sich seiner schämt.Freunde, <strong>die</strong> ihn schelten, und Feinde, <strong>die</strong>ihn auslachen. Was ist kläglicher als ein solchesLeben: bei Tage ausgelacht werden vonallen und am Abend in denselben schmä<strong>hl</strong>ichenZust<strong>an</strong>d zurücksinken!Doch was weiter? Sollen wir <strong>die</strong> Geizhälsevorführen? Das ist eine <strong>an</strong>dere Art der Trunkenheit,und zwar eine noch sc<strong>hl</strong>immere. Istsie aber eine Trunkenheit, d<strong>an</strong>n ist sie auchein Tod, und zwar ein um so viel sc<strong>hl</strong>immerer,als <strong>die</strong>se Trunkenheit ärger ist. Es istnämlich nicht einmal etwas so Schreckliches,von Wein trunken zu sein als von der Sucht150nach Geld. Denn im ersteren Falle beschränktsich der Sch<strong>ad</strong>en auf das eigene Leid; er erschöpftsich in der Bewußtlosigkeit und imsc<strong>hl</strong>ießlichen Unterg<strong>an</strong>ge <strong>des</strong> Trunkenbol<strong>des</strong>.Hier aber trifft der Sch<strong>ad</strong>en noch unzä<strong>hl</strong>ige<strong>an</strong>dere Seelen und entbrennen von allenSeiten Kriege. Wo<strong>hl</strong><strong>an</strong> denn, laßt uns einmalden einen mit dem <strong>an</strong>dern vergleichen undsehen, worin der eine mit dem <strong>an</strong>deren übereinkommtund worin der eine den <strong>an</strong>dernübertrifft, und wir wollen <strong>zum</strong> Vergleich nur<strong>die</strong>se zwei Arten von Betrunkenen her<strong>an</strong>ziehen.Mit jenem Glückseligen, der dem Geistelebt, sollen sie nicht weiter verglichen werden,sondern sie sollen nur im Verhältniszuein<strong>an</strong>der untersucht werden. Stellen wirwieder den Tisch, voll von unzä<strong>hl</strong>igen Morden,in <strong>die</strong> Mitte! Worin also kommen siemitein<strong>an</strong>der überein und gleichen ein<strong>an</strong>der?— <strong>In</strong> der Natur ihrer Kr<strong>an</strong>kheit. Die Art derTrunkenheit freilich ist eine verschiedene, da<strong>die</strong> eine vom Weine, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere vom Geldekommt. Das Leiden aber ist ähnlich. Beidewerden nämlich in ähnlicher Weise von einersinnlosen Gier erfaßt. Je mehr Becher dervom Wein trunkene leert, nach <strong>des</strong>to mehrdavon lechzt er; und je mehr der Geldliebhaberzusammenscharrt, <strong>des</strong>to mehr entfacht er<strong>die</strong> Flamme der Begierde, und <strong>des</strong>to brennendermacht er seinen Durst. Darin alsogleichen sie sich. <strong>In</strong> einem <strong>an</strong>dern Punktewieder ist der Geizige noch über (den Betrunkenen).<strong>In</strong> welchem? Darin, daß<strong>die</strong>ser etwas Naturgemäßes erleidet. DerWein ist nämlich Wärme; er steigert <strong>die</strong> natürlicheTrockenheit (<strong>des</strong> Körpers) undmacht auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong> Betrunkenen durstig.Woher kommt es aber, daß der Geizigenach immer mehr lechzt? Woher kommt es,daß er sich ger<strong>ad</strong>e d<strong>an</strong>n am ärmsten fü<strong>hl</strong>t,wenn er am reichsten geworden ist? DieseLeidenschaft ist doch g<strong>an</strong>z unverständlich,ein wahres Rätsel! — Aber betrachten wirbeide einmal, wenn es beliebt, auch nachdem Rausche! — Doch nein, der Geldgierigeist ja eigentlich niemals nach dem Rausche zu


sehen; er ist ja stets mitten darin. — Also betrachtenwir sie beide im Zust<strong>an</strong>de der Trunkenheitselbst und laßt uns sehen, welchervon beiden mehr lächerlich ist; wir wollen ihrGebaren genau beschreiben. Da können wirdenn beobachten, wie der vom Wein Berauschte,wenn der Abend her<strong>an</strong>kommt, beioffenen Augen niem<strong>an</strong>den sieht, wie er hinund her taumelt, wie er <strong>an</strong> <strong>die</strong> ihm Begegnenden<strong>an</strong>stößt, wie er sich erbricht, wie esihn herumreißt, wie er sich schamlos entblößt,mag auch seine Frau oder seine Tochteroder seine Magd oder wer immer zugegensein. Ihr lacht da laut auf? 193 — Nun wollenwir den Geizhals vorführen! Dessen Gebarengibt nicht allein Anlaß <strong>zum</strong> Lachen,sondern auch <strong>zum</strong> Verwünschen, <strong>zum</strong> Zürnen,<strong>zum</strong> Schelten. Doch laßt uns nur dasLächerliche <strong>an</strong> ihm betrachten! Er kennt e-bensowenig, wie der Betrunkene <strong>die</strong> Leute,weder Freunde noch Feinde; er ist ebensowie <strong>die</strong>ser blind bei offenen Augen. Wie derBetrunkene in allem nur Wein, so sieht derGeizhals in allem nur Geld. Auch sein Erbrechenist noch viel sc<strong>hl</strong>immer. Denn nichtSpeise speit er aus, sondern Schimpf- undSchmähreden, <strong>die</strong> Krieg und Tod zur Folgehaben können und tausendfältige Blitzsc<strong>hl</strong>ägeauf sein Haupt herabrufen. Und wie beimBetrunkenen der Leib fa<strong>hl</strong> und aufgedunsenist, so beim Geizigen <strong>die</strong> Seele. Jasogar auch sein Leib ist nicht dem Einfluß<strong>die</strong>ser Kr<strong>an</strong>kheit entzogen, sondern er leidetnoch mehr darunter; ärger als der Wein zehren<strong>an</strong> ihm Sorge, Zorn, Sc<strong>hl</strong>aflosigkeit undreiben ihn nach und nach g<strong>an</strong>z auf. Der, welchereinen Weinrausch gehabt, k<strong>an</strong>n nach derNacht wieder nüchtern sein; der Geizhalsaber ist (sozusagen) beständig trunken beiTag und bei Nacht, ob er wacht oder sc<strong>hl</strong>äft;er erduldet eine härtere Strafe als jeder Gef<strong>an</strong>gene,auch als <strong>die</strong> zu Bergwerksarbeiten193 Mit <strong>die</strong>sem Satz wendet sich der Prediger <strong>an</strong> <strong>die</strong> Zuhörer. Es war einedamalige Sitte, der wir bei Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomus öfter begegnen, daß <strong>die</strong>Zuhörer bei m<strong>an</strong>chen Stellen der Predigt Beifall klatschten, bei <strong>an</strong>dern inlautes Gelächter ausbrachen oder sonstwie ihre Gefü<strong>hl</strong>e äußerten.151oder sonst einer noch schwereren Strafe Verurteilten.11.. Ist das, sag mir, ein Leben? Ist das nichtvielmehr Tod, ja viel sc<strong>hl</strong>immer als jederTod? Der Tod setzt dem Leben <strong>des</strong> Leibes einZiel und macht frei von Spott und Sch<strong>an</strong>deund Sünde. Diese zwei Arten von Trunkenheitjedoch sc<strong>hl</strong>eudern uns ger<strong>ad</strong>e in all <strong>die</strong>seDinge hinein; sie verstopfen <strong>die</strong> Ohren, blenden<strong>die</strong> Augen, verdunkeln den Verst<strong>an</strong>d.Der Geizhals mag von nichts <strong>an</strong>derem hören,von nichts <strong>an</strong>derem reden als von Zinsenund Zinseszinsen, von schmä<strong>hl</strong>ichem Gewinn,von verhaßtem Erwerb, von Geschäften,wie sie Unfreien und Sklaven obliegen.Wie ein Hund bellt er alle <strong>an</strong>, hat gegen alleHaß, ist allen Feind, führt gegen alle Kriegohne Ver<strong>an</strong>lassung; <strong>die</strong> Armen fährt erbarsch <strong>an</strong>, <strong>die</strong> Reichen beneidet er und istkeinem Menschen gut. Hat er eine Frau undKinder und Freunde und k<strong>an</strong>n er nicht vonallen Seiten Nutzen ziehen, so betrachtet ersie als ärgere Feinde als <strong>die</strong>, welche es vonNatur aus sind. Was ist sc<strong>hl</strong>immer als einsolcher Wahnsinn? Was ist bedauernswürdiger,als wenn einer sich selbst überall Klippenschafft und Felsenriffe, Untiefen undtausenderlei Abgründe. Dabei hat er nur einenLeib und <strong>die</strong>nt nur einem Bauche. Willm<strong>an</strong> dich, Geiziger, zu einem öffentlichenAmte haben, da ziehst du dich zurück, weildu <strong>die</strong> Kosten fürchtest. Und du selbst la<strong>des</strong>tdir Mühen auf, <strong>die</strong> viel größer sind als allejene; du nimmst einen Dienst auf dich, dernicht bloß kostspieliger, sondern auch gefahrvollerist als jener, imdem du dich demMammon verschreibst. Du Armer, Unglücklicherbringst <strong>die</strong>sem sc<strong>hl</strong>immen Tyr<strong>an</strong>nennicht bloß Geld <strong>zum</strong> Opfer, sondern sogardein Blut, bloß um aus <strong>die</strong>sem hartenSklaven<strong>die</strong>nst etwas mehr zu profitieren.Siehst du denn nicht, wie jeden Tag zu den


Friedhöfen Leute hinausgetragen werden,wie sie nackt und von allem entblößt denGräbern zugeführt werden? Nichts könnensie von Hause mitnehmen, sondern sie müssensogar das, was sie <strong>an</strong>haben, den Würmernüberlassen. Diese Leute betrachte dutäglich, und deine Leidenschaft wird baldzurückgehen — es müßte denn sein, daß dusogar über den Aufw<strong>an</strong>d <strong>des</strong> Begräbnisses innoch größere Raserei gerietest.Ja, <strong>die</strong>se Leidenschaft ist sc<strong>hl</strong>imm, und <strong>die</strong>seKr<strong>an</strong>kheit furchtbar. Darum sprechen wir beijeder unserer Versammlungen über sie undliegen damit stets in den Ohren, um vielleichtdurch beharrliches Mahnen doch etwas auszurichten.Laßt es euch doch nur gesagt sein!Es gibt keine Leidenschaft, <strong>die</strong> nicht alleinam einstigen Gerichtstage, sondern auchschon vor ihm so viele und so verschiedenartigeStrafen über <strong>die</strong> Menschen brächte als<strong>die</strong>se. Denn wenn ich auch <strong>die</strong> lebenslänglichEingekerkerten, den <strong>an</strong> l<strong>an</strong>ger Kr<strong>an</strong>kheitHinsiechenden, den mit Hunger Kämpfendenoder jeden <strong>an</strong>dern (Leidenden) nennenwollte, ich k<strong>an</strong>n auf keinen hinweisen, dersoviel leidet wie der Geldliebhaber. Denngibt es etwas Sc<strong>hl</strong>immeres, als von allen gehaßtzu werden? selbst alle zu hassen? niem<strong>an</strong>demgut zu sein? niemals satt zu werden?immerwährend zu dürsten? beständigmit Hunger zu kämpfen, und zwar mit einerviel sc<strong>hl</strong>immeren Art von Hunger, als es dergemeinhin so gen<strong>an</strong>nte ist? täglich Betrübniszu haben? niemals nüchtern zu sein? beständigin Aufregungen und Sorgen zu leben?Das alles und noch mehr stehen <strong>die</strong> Geizigenaus. Wenn sie einen Gewinn haben, undwenn sie auch das Vermögen aller <strong>an</strong>derenergattert hätten, so haben sie doch keineFreude dar<strong>an</strong>, weil sie nach mehr lechzen.Haben sie aber einen Verlust, und sei’s auchnur ein Heller, so meinen sie, es habe sie eingrößeres Leid getroffen als alle <strong>an</strong>dern, undsie könnten nicht mehr leben. — Welche Redevermöchte solche Übel zu schildern!Wenn aber das Unglück schon hienieden so152groß ist, betrachte erst, was hernach kommt:den Verlust <strong>des</strong> Himmelreiches, das Verderbender Hölle, <strong>die</strong> ewigen B<strong>an</strong>de,<strong>die</strong> äußerste Finsternis, den giftigen Wurm,das Zähneknirschen, <strong>die</strong> Folterqual, <strong>die</strong>Angst, <strong>die</strong> Feuerströme, <strong>die</strong> niemals erlöschendenFeueröfen! Das alles zusammenstelle dir vor und d<strong>an</strong>n d<strong>an</strong>eben das Vergnügen,welches das Geld gewährt! Rotte d<strong>an</strong>n<strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>kheit mit der Wurzel aus, damitdu wahren Reichtum erl<strong>an</strong>gst, von <strong>die</strong>serbitteren Armut dich befreist und der gegenwärtigenund zukünftigen Güter teilhaftigwirst durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseresHerrn Jesus Christus, durch welchen und mitwelchem dem Vater sei Ehre, zugleich mitdem Hl. Geiste jetzt und allezeit und bis inEwigkeit. Amen. FÜNFZEHNTE HOMILIE. Kap. VIII,V. 12—27.1.Kap. VIII, V. 12—27.V. 12: „Demnach, Brüder, sind wir nicht demFleische schuldig, daß wir nach dem Fleische leben.“V. 13: „Denn wenn ihr nach dem Fleische lebet,werdet ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist<strong>die</strong> Werke <strong>des</strong> Fleisches ertötet, werdet ihr leben.“Nachdem der Apostel darget<strong>an</strong> hat, wie großder Lohn <strong>des</strong> geistigen Lebens sei — es läßtChristus in uns wohnen, es macht <strong>die</strong> totenLeiber wieder lebendig, es gibt Flügel <strong>zum</strong>Himmel, es macht den Weg der Tugendleichter —, spricht er <strong>die</strong> Ermahnung aus, <strong>die</strong>sich aus allem dem mit Notwendigkeit ergibt,indem er sagt:„Also dürfen wir nicht nach dem Fleische leben.“— Doch er kleidet sie nicht ger<strong>ad</strong>e in <strong>die</strong>seWorte, sondern in gewichtigere und kräftigere.— Wir sind es dem Geiste schuldig. Dennder Satz: „Wir sind nicht dem Fleische schul-


dig“, hat <strong>die</strong>sen Sinn. Der Apostel bringt allenthalbenden Ged<strong>an</strong>ken <strong>zum</strong> Ausdruck,daß alles, was von Seiten Gottes zu unseremHeil geschehen ist, keine Schuldigkeit war,sondern aus bl<strong>an</strong>ker Gn<strong>ad</strong>e hervorging; daßdagegen das, was daraufhin von unserer Seiteget<strong>an</strong> wird, nicht eine Sache <strong>des</strong> freien Beliebens,sondern unserer Schuldigkeit ist.Denn wenn er (<strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle) sagt:„Ihr seid teuer erkauft, werdet also nichtSklaven der Menschen“ 194 , so deutet er dasselbe<strong>an</strong>. Und wenn er schreibt: „Ihr gehörtnicht euch“ 195 , so bringt er dasselbe <strong>zum</strong>Ausdruck. Und wieder <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stellebringt er eben <strong>die</strong>sen Ged<strong>an</strong>ken in Erinnerung,wenn er sagt: „Wenn einer für alle gestorbenist, so sind alle gestorben; und füralle ist Christus gestorben, damit <strong>die</strong>da leben, nicht mehr für sich leben“ 196 . DiesenGed<strong>an</strong>ken bringt er auch hier <strong>zum</strong> Ausdruck,wenn er sagt: „Wir sind schuldig.“ —Nach den Worten: „Wir sind nicht dem Fleischeschuldig“, bricht er <strong>die</strong> Rede nicht ab,damit m<strong>an</strong> nämlich das Gesagte nicht auf <strong>die</strong>Natur <strong>des</strong> Fleisches beziehe, sondern er fährtfort: „daß wir nach dem Fleische leben.“Denn tatsäc<strong>hl</strong>ich sind wir ja dem Fleische garm<strong>an</strong>ches schuldig, nämlich daß wir es nähren,warm halten, ausruhen lassen, es pflegen,wenn es kr<strong>an</strong>k ist, es kleiden und ihmtausenderlei ähnliche Dienste leisten. Damitm<strong>an</strong> nun nicht meine, der Apostel wolle auch<strong>die</strong>sen Dienst aufgehoben wissen, erklärt erden Satz: „Wir sind nicht dem Fleischeschuldig“, indem er sagt: „daß wir nach demFleische leben.“ Jene Sorge um das Fleischwill ich beseitigt sehen, heißt das, <strong>die</strong> zurSünde führt, wie ich <strong>an</strong>dererseits will, daßdas geschehe, was zu <strong>des</strong> Leibes Pflege gehört.Das bringt er auch weiter unten <strong>zum</strong>Ausdruck. Nachdem er den Satz ausgesprochenhat: „Pfleget nicht den Leib“, bricht ernicht ab, sondern fährt fort: „zur Erregungvon Lüsten“ 197 . Dieselbe erzieherische Lehregibt er auch hier, wenn er sagt, daß wir zwardem Fleische schuldig sind, es zu pflegen.Laßt uns freilich nicht nach dem Fleische leben,d. h. laßt uns nicht ihm <strong>die</strong> Herrschaftüber unser Leben einräumen. Folgen soll es,nicht führen. Es soll nicht unserem Leben <strong>die</strong>Richtung geben, sondern es soll vom Geiste<strong>die</strong> Gesetze <strong>an</strong>nehmen.Nachdem der Apostel <strong>die</strong>s ausgeführt undnachgewiesen hat, daß wir Schuldner <strong>des</strong>Geistes sind, weist er d<strong>an</strong>n auf <strong>die</strong> Wo<strong>hl</strong>tatenhin, auf Grund deren wir seine Schuldnersind; dabei nennt er nicht verg<strong>an</strong>gene — undda ver<strong>die</strong>nt seine Klugheit besondere Bewunderung—, sondern zukünftige. Wiewo<strong>hl</strong>auch <strong>die</strong> ersteren dazu hingereicht hätten,führt er sie gleichwo<strong>hl</strong> jetzt nicht <strong>an</strong>; erspricht nicht von jenen unaussprec<strong>hl</strong>ichenWo<strong>hl</strong>taten der Verg<strong>an</strong>genheit, sondern vondenen der Zukunft. Denn eine einmal empf<strong>an</strong>geneWo<strong>hl</strong>tat pflegt auf <strong>die</strong> großeMehrza<strong>hl</strong> der Menschen nicht so zu wirkenwie eine noch zu erwartende zukünftige.Zu <strong>die</strong>sem Ende schreckt der Apostel zunächstdurch <strong>die</strong> Darstellung <strong>des</strong> Leidvollenund <strong>des</strong> Unheils, welches aus dem Lebennach dem Fleische hervorgeht, indem er sosagt: „Denn wenn ihr nach dem Fleische lebet,werdet ihr sterben.“ Er deutet uns damitjenen ewigen Tod <strong>an</strong>, <strong>die</strong> Strafe und Qual inder Hölle. Ja, ein solcher Mensch ist, wennm<strong>an</strong> <strong>die</strong> Sache recht besieht, schon in <strong>die</strong>semLeben gestorben, wie ich euch <strong>die</strong>s in demvor<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>genen Vortrage klar gemacht habe.„Wenn ihr aber im Geiste <strong>die</strong> Werke <strong>des</strong>Fleisches ertötet, werdet ihr leben.“ — Siehstdu, wie der Apostel nicht von der Natur <strong>des</strong>Leibes spricht, sondern von fleisc<strong>hl</strong>ichenWerken? Er sagt ja nicht: Wenn ihr im Geiste<strong>die</strong> Natur <strong>des</strong> Leibes ertötet, sondern „<strong>die</strong>Werke“, und zwar nicht alle, sondern nur <strong>die</strong>sündhaften. Das ist aus dem folgenden ersichtlich;denn wenn ihr <strong>die</strong>s tuet, „werdet194 1 Kor. 7, 23 .195 Ebd. 6, 19.196 2 Kor. 5, 14. 15.153197 Röm. 13, 14.


ihr leben“, heißt es. Wie wäre das möglich,wenn von allen Werken <strong>die</strong> Rede wäre?Denn auch das Sehen, das Hören, das Sprechen,das Gehen sind Werke <strong>des</strong> Körpers.Wenn wir <strong>die</strong>se „ertöten“ wollten, wären wirso weit entfernt davon, „zu leben“, daß wireher als Menschenmörder bestraft würden.— Welche Werke heißt er uns also ertöten?Die, welche zur Sünde hintreiben, <strong>die</strong>, welche<strong>zum</strong> Laster führen; <strong>die</strong> k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nicht<strong>an</strong>ders ertöten als durch den Geist. Die <strong>an</strong>dern(Werke <strong>des</strong> Fleisches) ertöten, hieße sichselbst vernichten, und das ist nicht recht. Jeneaber lassen sich nur durch den Geist ertöten.Ist <strong>die</strong>ser da, d<strong>an</strong>n glätten sich <strong>die</strong> Wogen,d<strong>an</strong>n geben sich <strong>die</strong> Leidenschaften und erhebensich nicht gegen uns. — Siehst du, wieder Apostel uns mit Rücksicht auf <strong>die</strong> zukünftigenWo<strong>hl</strong>taten, wie ich sagte, Mahnungengibt und dartut, daß wir Schuldnersind, nicht bloß mit Rücksicht auf <strong>die</strong> unsbereits zuteil gewordenen? Denn das, sagt er,ist nicht <strong>die</strong> einzige Wo<strong>hl</strong>tat <strong>des</strong> Hl. Geistes,daß er uns von den Sünden der Verg<strong>an</strong>genheitbefreit, sondern daß er uns auch gegenzukünftige wappnet und uns unsterblichenLebens würdig macht. — D<strong>an</strong>n kommt derApostel auf einen <strong>an</strong>dern Lohn zu sprechenund fährt fort: V. 14: „Denn alle, <strong>die</strong>sich vom Geiste Gottes treiben lassen, sind KinderGottes.“2.Dieser Siegeslorbeer ist wieder um vielesherrlicher als der vorher erwähnte. Darumsagt der Apostel nicht einfach: Denn alle, <strong>die</strong>im Geiste Gottes leben, sondern: „Alle, <strong>die</strong>sich vom Geiste Gottes treiben lassen“. Ergibt damit zu verstehen, daß der Hl. Geist sounser Leben meistern will, wie der Steuerm<strong>an</strong>ndas Schiff und der Wagenlenker <strong>die</strong>Rosse. Ja nicht bloß den Leib allein, sondernauch <strong>die</strong> Seele will er so gezügelt wissen.154Auch <strong>die</strong>se will er nicht eigenmächtig herrschenlassen, sondern er unterstellt auch sieder Herrschaft <strong>des</strong> Geistes. Damit wir unsnämlich nicht auf das Gn<strong>ad</strong>engeschenk <strong>des</strong>Taufba<strong>des</strong> verlassen und uns nachher umunsern W<strong>an</strong>del keine Sorge mehr machen,sagt der Apostel, daß du, wenn du auch <strong>die</strong>Taufe empf<strong>an</strong>gen hast, dich aber nachhernicht vom Hl. Geiste treiben läßt, <strong>die</strong> geschenkteWürde und den Vorzug der Gotteskindschaftverlierst. Darum sagt er nicht:Alle, <strong>die</strong> den Geist empf<strong>an</strong>gen haben, sondern:„Alle, <strong>die</strong> sich vom Geiste Gottes treibenlassen“, d. h. alle, <strong>die</strong> einen solchen(gottgefälligen) Lebensw<strong>an</strong>del führen, sindKinder Gottes.Nun war aber <strong>die</strong>se Würde auch den Judenzuteil geworden; denn es heißt ja: „Götterseid ihr und Söhne <strong>des</strong> Allerhöchsten, ihralle“ 198 , und wiederum: „Söhne habe ich gezeugtund groß gemacht“ 199 , und weiter: „Israelist mein erstgeborener Sohn“ 200 , und<strong>Paulus</strong> sagt: „Ihrer war <strong>die</strong> Kindschaft“ 201 .Darum weist der Apostel im folgenden denUnterschied nach, der zwischen jener und<strong>die</strong>ser Ehre besteht. Wenn auch <strong>die</strong> Namen<strong>die</strong>selben sind, sagt er, so sind es doch nicht<strong>die</strong> Sachen. Deutlich legt er <strong>die</strong>s dar, indemer den Unterschied <strong>an</strong>rührt, der sowo<strong>hl</strong> inbezug auf <strong>die</strong> h<strong>an</strong>delnden Personen als auchin bezug auf <strong>die</strong> bereits erhaltenen und nochin Aussicht stehenden Gn<strong>ad</strong>enerweise besteht.Zu- nächst weist er daraufhin, was den Juden geschenkt gewesen war.Nun, was war es denn? — „Der Geist derKnechtschaft.“ — Der Apostel fährt nämlichso fort:V. 15: „Denn ihr habt nicht wieder den Geist derKnechtschaft empf<strong>an</strong>gen zur Furcht“,— und nun unterläßt er es, den Gegenbegriffvon Knechtschaft zu nennen, das wäre „derGeist der Freiheit“, sondern er setzt einenviel höheren <strong>an</strong> <strong>des</strong>sen Stelle, den der Got-198 Ps. 81, 6 .199 Js. 1, 2.200 Exod. 4, 22 .201 Röm. 9, 4.


teskindschaft, durch welchen nämlich <strong>die</strong>Freiheit mitherbeigeführt wurde —; er sagt:„Sondern ihr habt empf<strong>an</strong>gen den Geist derKindschaft.“— Dieser letztere Ausdruck ist klar. Was aber„der Geist der Knechtschaft“ ist, das ist unklar.Es muß also erklärt werden. Ja, <strong>die</strong>serAusdruck ist nicht bloß unklar, sondern ger<strong>ad</strong>ezuunverständlich. Das Volk der Judenhatte ja doch den Hl. Geist nicht empf<strong>an</strong>gen.Was will also der Apostel hier sagen? — DieHl. Schrift (<strong>des</strong> Alten Testaments) nennt erso, weil sie etwas Geistiges war, wie er auchdas Gesetz geistig nennt und das Wasser undden Felsen und das M<strong>an</strong>na. „Denn sie alle“,heißt es, „aßen <strong>die</strong>selbe geistige Speise, undsie alle tr<strong>an</strong>ken denselben geistigenTr<strong>an</strong>k“ 202 . Auch den Felsen nennt er so, wenner spricht; „Sie tr<strong>an</strong>ken aber alle aus demgeistigen Felsen, der ihnen folgte“ 203 . Weilalle <strong>die</strong>se Dinge übernatürlich waren, darumnennt er sie „geistig“, nicht als ob <strong>die</strong>, welche<strong>an</strong> ihnen teilhatten, den Hl. Geist empf<strong>an</strong>genhätten. Und wieso war denn <strong>die</strong> Hl. Schrift<strong>des</strong> Alten Testaments „Buchstaben derKnechtschaft“? Führe dir nur einmal <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Lebensführung vor Augen (wie sie <strong>die</strong>Hl. Schrift <strong>des</strong> Alten Testaments vorschrieb),und es wird dir d<strong>an</strong>n klar werden. Strafe undentsprechender Lohn folgte den damaligenJuden auf dem Fuße und wurde ihnen zugemessenwie den Sklaven <strong>die</strong> tägliche Speise.Immer und überall schwebten ihnenSchreckbilder vor Augen. Die vorgeschriebenenReinigungen betrafen nur den Leib, <strong>die</strong>Enthaltsamkeit bezog sich nur auf <strong>die</strong> äußerenH<strong>an</strong>dlungen. Nicht so ist es beiuns, sondern da wird auf Reinheit im Denkenund auf ein reines Gewissen gehalten.Denn es heißt nicht bloß: „Du sollst nicht töten,“sondern auch: „Du sollst nicht zürnen“auch nicht bloß: „Du sollst nicht ehebrechen,“sondern auch: „Du sollst nicht unzüchtigeBlicke werfen.“ Nicht mehr aus202 1 Ko r. 10, 3—4.203 Ebd.155Furcht vor der bevorstehenden Strafe, sondernaus Liebe zu Gott sollen <strong>die</strong> Tugendund alle guten Werke hervorgehen. Auchverheißt uns Gott nicht ein L<strong>an</strong>d, das vonMilch und Honig fließt, sondern er machtuns zu Miterben seines eingeborenen Sohnes;von den gegenwärtigen Gütern lenkt er unsernBlick ab und verspricht uns <strong>zum</strong>eist nursolche Dinge zu geben, deren Empf<strong>an</strong>g sichfür Menschen schickt, <strong>die</strong> Söhne Gottes gewordensind. Nichts davon ist sinnlichwahrnehmbar, nichts körperlich, sondernalles geistig. Wenn daher jene auch Söhnegen<strong>an</strong>nt werden, so werden sie doch gehaltenwie Sklaven; wir aber haben als Freigewordene<strong>die</strong> Gotteskindschaft erl<strong>an</strong>gt, undder Himmel steht uns in Aussicht. Zu jenenhat er durch <strong>an</strong>dere gesprochen, zu uns ineigener Person. Jene taten alles, <strong>an</strong>getriebendurch <strong>die</strong> Furcht vor Strafe, wir aber, <strong>die</strong>Geistigen, tun es aus Lust und Liebe. Dasgeben sie d<strong>ad</strong>urch kund, daß sie mehr tun,als geboten ist. Jene hörten als Mietlinge undUnd<strong>an</strong>kbare nicht auf, zu murren; <strong>die</strong>se tunalles dem Vater zuliebe. Jene lohnten <strong>die</strong>Wo<strong>hl</strong>taten mit Lästerungen, wir dagegensagen D<strong>an</strong>k, auch wenn wir in Gefahrenschweben. Auch wenn Strafen für Sündernotwendig sind, ist ein großer Unterschiedhier und dort. Bei uns braucht es nicht wiebei jenen zur Bekehrung der Steinigung, derVerbrennung, der Pfä<strong>hl</strong>ung durch <strong>die</strong> Priester,sondern es genügt, daß wir vom Tische<strong>des</strong> Vaters ausgesc<strong>hl</strong>ossen und eine bestimmteAnza<strong>hl</strong> von Tagen aus seinen Augen verwiesenwerden. Bei den Juden war <strong>die</strong> Gotteskindschaftnur eine Ehre dem Namennach; hier aber hat sie einen sac<strong>hl</strong>ichen <strong>In</strong>halt;<strong>die</strong> Reinigung durch <strong>die</strong> Taufe, <strong>die</strong> Mitteilung<strong>des</strong> Hl. Geistes, <strong>die</strong> Verleihung der<strong>an</strong>dern Gn<strong>ad</strong>engüter. Und so ließe sich nochm<strong>an</strong>ches aridere <strong>an</strong>führen <strong>zum</strong> Erweis unseresAdels und der niederen Stellung jener.Alles das deutet der Apostel <strong>an</strong> durch <strong>die</strong>Worte: Geist, Furcht, Gotteskindschaft.Auch noch einen <strong>an</strong>dern Beweis da-


für, daß wir den Geist der Gotteskindschaftbesitzen, bringt er vor. Welcher ist es? Daß„wir rufen Abba, Vater“.3.Was Großes darin liegt, das wissen <strong>die</strong> Neugetauften,<strong>die</strong> g<strong>an</strong>z sinnig gelehrt werden,<strong>die</strong>ses Wort als das erste <strong>des</strong> Weihegebetesauszusprechen. 204 — Doch wie? Gaben nichtauch <strong>die</strong> Juden, fragst du, Gott den Namen„Vater“? Hörst du nicht, wie Moses spricht:„Gott, deinen Erzeuger, hast du verlassen“205 ? Hörst du nicht, wie Malachias schiltund spricht: „Ein Gott hat euch geschaffen,und einer ist euer aller Vater“ 206 ? Aber wennauch <strong>die</strong>se und mehrere ähnliche Stellen vorkommen,so finden wir doch nirgends, daß<strong>die</strong> Juden selbst Gott <strong>die</strong>sen Namen gegebenund zu ihm so gebetet hätten. Wir aber sindalle so zu beten gelehrt worden, Priester undLaien, Herrscher und Untert<strong>an</strong>en. Das ist dererste Laut, den wir von uns geben nach jenerwunderbaren Geburt, nach Empf<strong>an</strong>g jenesneuen und seltsamen Gesetzes der Wiedergeburt.Übrigens wenn auch <strong>die</strong> Juden einmalGott <strong>die</strong>sen Namen gaben, so taten sie esaus eigener Eingebung; <strong>die</strong> dagegen im Reicheder Gn<strong>ad</strong>e tun es aus Antrieb <strong>des</strong> Hl.Geistes. Denn wie es einen Geist der Weisheitgibt, durch den zu Weisen <strong>die</strong> Unweisenwerden, was aus ihrer Lehre erhellt, und einenGeist der Kraft, durch den solche, <strong>die</strong>selbst ohnmächtig sind, Tote erwecken undTeufel austreiben, und einen Geist der Heilgabeund einen Geist der Weissagung undeinen Geist der Sprachen, so gibt es auch einenGeist der Gotteskindschaft. Und wie wirden Geist der Weissagung dar<strong>an</strong> erkennen,daß der, welcher <strong>die</strong> Zukunft voraussagt,nicht aus eigener Eingebung spricht, sondernunter dem Antrieb <strong>die</strong>ser geheimnisvollenGabe, so erkennen wir auch den Geist derGotteskindschaft dar<strong>an</strong>, daß der, welcher ihnempf<strong>an</strong>gen hat, Gott den Namen „Vater“ gibt aus Antrieb <strong>des</strong> Hl. Geistes. DerApostel will zeigen, daß es sich dabei umeine g<strong>an</strong>z echte Kindschaft h<strong>an</strong>dle; darumbe<strong>die</strong>nt er sich auch der hebräischen Sprache.Er sagt nämlich nicht bloß „Vater“, sondern,Abba, Vater“; das ist der Name, mit dem <strong>die</strong>legitimen Kinder <strong>zum</strong>eist ihren Vater <strong>an</strong>reden.Nachdem nun der Apostel den Unterschiedvon Seiten <strong>des</strong> Lebensw<strong>an</strong>dels, von Seitender geschenkten Gn<strong>ad</strong>e und von sehen derFreiheit aufgezeigt hat, führt er noch einen<strong>an</strong>dern Beweis dafür <strong>an</strong>, daß unsere Kindheitden Vorzug hat. Welchen denn?V. 16: „Der Geist selbst bezeugt es zugleich mitunserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind.“— Nicht bloß der Name <strong>an</strong> sich, will derApostel sagen, gibt mir Zuversicht, sondernauch sein Ursprung. Wir sprechen nämlichso auf Eingebung <strong>des</strong> Hl. Geistes. An einer<strong>an</strong>dern Stelle bringt <strong>die</strong>s der Apostel nochdeutlicher <strong>zum</strong> Ausdruck, wo er sagt: „Gotthat den Geist seines Sohnes in unsere Herzenges<strong>an</strong>dt, der da ruft: Abba, Vater“ 207 . Washeißt das: „Der Geist bezeugt es zugleich mitunserem Geist“? Es heißt: der Hl. Geistzugleich mit der uns verliehenen übernatürlichenGn<strong>ad</strong>engabe. Der Name „Vater“kommt nicht allein von der übernatürlichenGn<strong>ad</strong>engabe, sondern auch von dem Hl.Geiste, der uns <strong>die</strong>ses Geschenk gemacht hat.Er selbst hat uns ja vermittelst <strong>die</strong>ser übernatürlichenGn<strong>ad</strong>engabe gelehrt, so zu sprechen.— Wenn aber der Hl. Geist das Zeugnisgibt, welcher Zweifel bleibt da noch übrig?Wenn ein Mensch, ein Engel oder ein Erzengeloder irgendeine <strong>an</strong>dere ähnliche Gewaltein derartiges Versprechen gemacht hätte,könnte m<strong>an</strong> füglich noch dar<strong>an</strong> zweifeln.Wenn aber das höchste Wesen selbst uns <strong>die</strong>-204 Das erste Gebet der Neugetauften war das Vaterunser.205 Deut. 32, 18.206 Mal. 2, 10.156207 Gal. 4, 6.


ses Geschenk gemacht hat und uns auchnoch bezeugt, warum es uns so zu beten geheißenhat, wo bleibt da noch ein Zweifelüber unsere Würde (als Kinder Gottes) übrig?Wenn ein König jem<strong>an</strong>den <strong>an</strong> Kin<strong>des</strong>statt<strong>an</strong>nähme und <strong>die</strong>se Ehrung allen verkündenließe, würde da jem<strong>an</strong>d von seinenUntert<strong>an</strong>en zu widersprechen wagen? V. 17: „Wenn aber Kinder, so auch Erben.“— Siehst du da, wie der Apostel nach undnach das Geschenk immer größer erscheinenläßt? Weil m<strong>an</strong> ja auch ein Kind sein k<strong>an</strong>n,ohne Erbe zu sein — denn nicht alle Kindersind erbberechtigt —, fügt er auch das hinzu,daß wir Erben sind. Die Juden aber wurden,nebst dem, daß sie <strong>die</strong>se Kindschaft nichtbesaßen, auch der Erbschaft verlustig. „Erwird <strong>die</strong> Bösen elendiglich zugrunde gehenlassen und seinen Weinberg <strong>an</strong> <strong>an</strong>dere Winzerverpachten“ 208 . Und vorher hat er gesagt:„Es werden viele vom Aufg<strong>an</strong>g und Unterg<strong>an</strong>gder Sonne kommen und mit Abrahamzu Tische sitzen; <strong>die</strong> Kinder <strong>des</strong> Reiches aberwerden hinausgewiesen werden“ 209 . Dochdabei bleibt der Apostel nicht stehen, sonderner behauptet noch etwas mehr als das.Was denn? Daß wir Erben Gottes sind. Deshalbfährt er fort:„Erben aber Gottes“.Ja noch etwas mehr; daß wir nicht bloß Erben,sondern auch„Miterben Christi“sind. Siehst du, wie es der Apostel darauf<strong>an</strong>legt, uns recht nahe <strong>an</strong> den Herrn her<strong>an</strong>zubringen?Weil nicht alle Kinder Erben sind,zeigt er, daß wir sowo<strong>hl</strong> Kinder als auch Erbensind. Weil aber nicht alle Erben eine großeErbschaft machen, zeigt er, daß bei unsauch <strong>die</strong>s zutrifft, daß wir Erben Gottes sind.Und weil es ferner geschehen k<strong>an</strong>n, daß m<strong>an</strong>Erbe Gottes sein k<strong>an</strong>n, ohne jedoch Miterbeseines eingeborenen Sohnes zu sein, zeigt er,daß wir auch <strong>die</strong>sen Vorzug haben. — Beach-208 Matth. 21, 41.209 Ebd. 8, 11. 12.157te da auch das schonende Vorgehen <strong>des</strong> A-postels. Un<strong>an</strong>genehme Dinge berührt er nurkurz, so z. B. wenn er sagt, was <strong>die</strong> erleidenwerden, welche nach dem Fleische leben, daßsie nämlich sterben werden. Wo er dagegenauf etwas Erfreuliches zu sprechen kommt,da läßt er seine Rede breit werden. Ausführlichschildert er <strong>die</strong> Erteilung <strong>des</strong> (ewigen)Lohnes und <strong>die</strong> Verschiedenheit und Größeder himmlischen Gaben. Wenn schon Kind zu sein eine unaussprec<strong>hl</strong>icheGn<strong>ad</strong>e ist, d<strong>an</strong>n bedenke erst, was es heißt,Erbe zu sein. Wenn aber das schon etwasGroßes ist, so ist es noch viel mehr, Miterbezu sein. — Weiter legt der Apostel dar, daß<strong>die</strong>s nicht bloß ein Geschenk der Gn<strong>ad</strong>e sei,und macht zugleich das Gesagte noch glaubwürdiger,wenn er fortfährt:„Wenn wir ja mitleiden, damit wir auch mitverherrlichtwerden.“— Wenn wir, heißt das, gemeinschaftlicheSache mit ihm gemacht haben im Leidvollen,so wird <strong>die</strong>s noch viel mehr im Freudvollender Fall sein. Denn wenn uns Gott mit so vielGutem beschenkt hat, als wir noch gar keingutes Werk get<strong>an</strong> hatten, wie sollte er es unsnicht noch viel mehr vergelten, wenn ersieht, daß wir uns abmühen und so Schwereserdulden?4.Der Apostel hat dargelegt, daß es sich umeine Wiedervergeltung h<strong>an</strong>dle, um das Gesagteglaubhaft zu machen und damit niem<strong>an</strong>ddar<strong>an</strong> zweifle; nun zeigt er wieder, daßes doch auch als eine Gn<strong>ad</strong>e zu betrachtensei. Das erstere hat er get<strong>an</strong>, damit er demGesagten bei Zweiflern Glauben verschaffeund damit <strong>die</strong> Empfänger nicht beschämtwerden, als seien sie immer nur geschenkweisegerettet worden. Das letztere tut er,damit m<strong>an</strong> erkenne, daß Gott mit seiner Vergeltungunsere Arbeiten bei weitem überzah-


le. Das erstere hat er ausgedrückt, wenn ergesagt hat: „Wenn wir ja mitleiden, damitwir auch mitverherrlicht werden.“ Das letztere,wenn er fortfährt und dazusetzt:V. 18: „Die Leiden der jetzigen Zeit sind garnicht zu vergleichen mit der Herrlichkeit, <strong>die</strong> <strong>an</strong>uns offenbar werden soll.“— Im vorausgehenden hat der Apostel <strong>an</strong>den geistigen Menschen <strong>die</strong> Forderung nacheinem unt<strong>ad</strong>eligen, sittlichen W<strong>an</strong>del gestellt.Er hat gesagt: „Ihr dürft nicht nach dem Fleischeleben“, d. h. ein solcher Mensch mußHerr werden über <strong>die</strong> Sinnenlust, den Zorn,<strong>die</strong> Habsucht, den Ehrgeiz, den Neid. — Hierdagegen stellt er eine noch höhere Forderungund gibt noch höhere Hoff- nung,nachdem er <strong>an</strong> alle Gn<strong>ad</strong>engeschenke, <strong>die</strong>verg<strong>an</strong>genen wie <strong>die</strong> zukünftigen, erinnerthat. Er stellt (den geistigen Menschen) nebenChristus, er erklärt ihn als einen Miterben<strong>des</strong> eingeborenen Sohnes Gottes, er sprichtihm Mut zu und führt ihm weitere Gefahrenvor Augen. Denn es ist ja nicht das gleiche,Herr zu werden über seine Leidenschaftenund jene Gefahren zu bestehen: Geißelstreiche,Hunger, Verb<strong>an</strong>nung, Fesseln, Kerker,Herumgesc<strong>hl</strong>epptwerden. Dazu gehört einenoch viel edlere und stärkere Seele. Beachteauch, wie der Apostel auf das Gemüt derKämpfenden sowo<strong>hl</strong> demütigend als auchaufmunternd einwirkt. Denn wenn er zeigt,daß der Lohn größer ist als <strong>die</strong> Arbeit, spornter sie einerseits mehr <strong>an</strong> (zur Arbeit), <strong>an</strong>dererseitsläßt er keinen Stolz aufkommen, indemer sie als überza<strong>hl</strong>t durch <strong>die</strong> Gegengabe<strong>des</strong> Siegespreises hinstellt. An einer <strong>an</strong>dernStelle sagt er: „Denn <strong>die</strong> gegenwärtigeleichte Trübsal bewirkt ein ins Übermaß gehen<strong>des</strong>Maß ewiger Herrlichkeit“ 210 . Er richtetnämlich seine Rede <strong>an</strong> solche, <strong>die</strong> schoneine höhere Weisheit besitzen. Hier stellt er<strong>die</strong> Leiden <strong>des</strong> Lebens keineswegs als leichtdar, aber er tröstet auch durch den Hinweisauf <strong>die</strong> zukünftige Vergeltung, indem er sagt:„Denn ich meine, daß <strong>die</strong> Leiden der jetzigenZeit gar nicht zu vergleichen sind.“ Er sagtauch nicht: mit der zukünftigen Ruhe, sondern,was viel mehr ist: „mit der zukünftigenHerrlichkeit“. Denn wo Ruhe ist, da ist nichtüberall auch Herrlichkeit; wo aber Herrlichkeitist, da ist immer auch Ruhe. Ferner,durch das Wort „zukünftig“ bringt er <strong>zum</strong>Ausdruck, daß sie schon da ist. Denn er sagtnicht: mit der Herrlichkeit, <strong>die</strong> zukünftig ist,sondern: „mit der zukünftigen Herrlichkeit,<strong>die</strong> offenbar werden wird.“ Er spricht da wievon einer Sache, <strong>die</strong> zwar gegenwärtig, aberverborgen ist. An einer <strong>an</strong>dern Stelle sprichter deutlicher davon: „Unser Leben ist mitChristus verborgen in Gott“ 211 . Sei also getrost,was <strong>die</strong> ewige Herrlichkeit betrifft. Sieist dir vorbereitet und wartet nur auf deineBemühung. Wenn es dich aber traurig macht, daß sie zukünftig ist, sosoll ger<strong>ad</strong>e das deine Zuversicht heben. Ebenweil sie groß und unaussprec<strong>hl</strong>ich ist undüber den gegenwärtigen Zust<strong>an</strong>d hinweggeht,ist sie für dort aufgehoben. Nicht ohneGrund hat der Apostel den Ausdruck gewä<strong>hl</strong>t:„Die Leiden der jetzigen Zeit“; erwollte damit <strong>an</strong>zeigen, daß <strong>die</strong> ewige Herrlichkeitihnen nicht bloß <strong>an</strong> Größe, sondernauch <strong>an</strong> Beschaffenheit über sei. Denn wie<strong>die</strong>se Leiden auch immer beschaffen seinmögen, sie haben mit dem gegenwärtigenLeben ein Ende. Die zukünftigen Güter dagegenwähren eine unsterbliche Ewigkeithindurch. Da sie der Apostel uns nicht imeinzelnen aufzä<strong>hl</strong>en und mit Worten schildernkonnte, so hat er sie nachdem ben<strong>an</strong>nt,was uns am meisten begehrenswert erscheint:<strong>die</strong> Herrlichkeit. Diese erscheint unsja als der Gipfel, als <strong>die</strong> Krone aller Güter.Um dem Zuhörer noch auf eine <strong>an</strong>dere Weiseden Mut zu heben, hebt der Apostel <strong>an</strong>, vonder Schöpfung zu sprechen. Zweierlei beabsichtigter mit den folgenden Worten: Geringschätzung<strong>des</strong> Gegenwärtigen und Ver-210 Kor. 4, 17.158211 Kol. 3, 3.


l<strong>an</strong>gen nach dem Zukünftigen. Ja d<strong>an</strong>ebennoch ein drittes — eigentlich <strong>an</strong> erster Stelle—, nämlich zu zeigen, wie Gott dasMenschengesc<strong>hl</strong>echt am Herzen liegt undauf eine wie hohe Stufe der Ehre er unsereNatur emporhebt. Dabei zerstört der Apostelmit <strong>die</strong>sem einzigen Satz alle Lehrgebäudeder Weltweisen über das Weltall wie Spinngewebeund Kinderspielzeug. — Doch damit<strong>die</strong>s klarer werde, wollen wir <strong>die</strong> Worte <strong>des</strong>Apostels selbst hören:V. 19: „Denn das Harren der Schöpfung ist aufdas Offenbarwerden der Kinder Gottes gerichtet“.V. 20: „Die Schöpfung ist nämlich der Vergänglichkeitunterworfen, nicht aus eigenem freienWillen, sondern um <strong>des</strong>sentwillen, der sie unterwarfauf Hoffnung hin.“— Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist folgender: DieSchöpfung liegt in schweren Wehen und erwartetund ersehnt jene Güter, von denenwir gesprochen haben. Denn „das Harren“ist eine heftige Sehnsucht nach etwas. Umseine Rede recht eindrucksvoll zu gestalten,läßt der Apostel das Weltall als Personauftreten. Das tun auch <strong>die</strong> Propheten,wenn sie „<strong>die</strong> Ströme mit den Händen klatschen,<strong>die</strong> Hügel aufhüpfen und <strong>die</strong> Berget<strong>an</strong>zen“ lassen. Ihre Absicht dabei ist nicht,daß wir <strong>die</strong>se Dinge für beseelt halten, auchnicht, daß wir ihnen Bewußtsein zuschreiben,sondern damit wir daraus ersehen, wie ü-berschwenglich groß <strong>die</strong>se Güter sind, daßsie auch <strong>die</strong> leblose Natur in ihren B<strong>an</strong>n ziehen.5.Dasselbe tun <strong>die</strong> Propheten auch öfter, wennsie von traurigen Ereignissen sprechen. Sielassen den Weinstock weinen, den Wein, <strong>die</strong>Berge und das W<strong>an</strong>dgetäfel <strong>des</strong> Tempelswehklagen, damit wir daraus das Übermaß<strong>des</strong> Unglücks ersehen. Der Apostel ahmt <strong>die</strong>Propheten nach. Er läßt <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong>159Schöpfung als Person auftreten, er läßt siestöhnen und in Wehen liegen, nicht als obm<strong>an</strong> jemals <strong>die</strong> Erde und den Himmel einenWe<strong>hl</strong>aut habe ausstoßen hören, sondern um<strong>die</strong> Überschwenglichkeit der zukünftigenGüter und <strong>die</strong> Sehnsucht nach Befreiung vonden gegenwärtigen Übeln auszudrücken. —„Der Vergänglichkeit ist <strong>die</strong> Schöpfung unterworfen,nicht aus eigenem freien Willen,sondern um <strong>des</strong>sentwillen, der sie unterworfenhat.“ — Was heißt: „<strong>die</strong> Schöpfung ist derVergänglichkeit unterworfen“? — Sie ist demUnterg<strong>an</strong>g <strong>an</strong>heimgefallen. — Um wessentwillenund warum? — Um deiner, <strong>des</strong> Menschen,willen. Als nämlich dein Leib demTod und den Leiden unterworfen wurde, sotraf auch <strong>die</strong> Erde der Fluch, und sie brachteDornen und Disteln hervor. Daß aber auchder Himmel mit der Erde altert und später ineinen besseren Zust<strong>an</strong>d versetzt werdenwird, dafür höre den Propheten, der daspricht: „Vor alters, o Herr, hast du <strong>die</strong> Erdegegründet, und das Werk deiner Hände istder Himmel. Sie werden untergehen, du aberbleibst, und alle werden sie veralten wie einGew<strong>an</strong>d, und du wirst sie zusammenlegenwie ein Kleid, und sie werden verändertwerden“ 212 . Und Isaias bringt denselben Ged<strong>an</strong>ken<strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er spricht:„Schauet <strong>zum</strong> Himmel hinauf und zur Erdehinab, daß der Himmel wie Rauchoben schwebt und <strong>die</strong> Erde wie ein Kleidveralten wird, ihre Bewohner aber werdenwie sie untergehen“ 213 . — Siehst du da, wie<strong>die</strong> Schöpfung der Vergänglichkeit <strong>die</strong>nt undwie sie auch wieder von der Vernichtungbefreit werden wird? Der Psalmist sagt ja:„Wie ein Kleid wirst du sie zusammenlegen,und sie werden verändert werden.“ Isaiasaber meint nicht einen völligen Unterg<strong>an</strong>g,wenn er sagt: „Ihre Bewohner werden wie sieuntergehen.“ Denn ihre Bewohner, d. i. <strong>die</strong>Menschen, werden keinen solchen völligenUnterg<strong>an</strong>g erfahren, sondern nur einen zeit-212 Ps. 101, 26. 27.213 Js. 51. 6.


weiligen, und sie werden ger<strong>ad</strong>e durch ihnzur Unvergänglichkeit umgew<strong>an</strong>delt werden,wie auch <strong>die</strong> Schöpfung. Das allesdrückt der Prophet durch <strong>die</strong> Worte aus:„wie sie“. Dasselbe meint auch <strong>Paulus</strong> in derweiteren Folge. Bisher spricht er freilich nurvon der Knechtschaft (in der <strong>die</strong> Schöpfungliegt); er zeigt, wessentwegen sie entst<strong>an</strong>denist und nennt als <strong>die</strong> Schuld dar<strong>an</strong> uns. —Wie also? Geschieht der Schöpfung ein Unrecht,da sie eines <strong>an</strong>deren wegen solchesleidet? Keineswegs; denn sie ist ja auch meinetwegenins Dasein getreten. Ist sie nunmeinetwegen überhaupt ins Dasein getreten,wie soll ihr ein Unrecht geschehen, wenn sieum meiner Besserung willen solches leidet?Übrigens k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> bei den seelen- und empfindungslosenGeschöpfen überhaupt nichtvon Recht und Unrecht sprechen.<strong>Paulus</strong> be<strong>die</strong>nt sich in<strong>des</strong>, nachdem er <strong>die</strong>Schöpfung als Person hat auftreten lassen,keines der <strong>an</strong>geführten Gründe, sondern eines<strong>an</strong>deren, um dem Zuhörer reic<strong>hl</strong>ichenTrost zuzusprechen. Welches denn? — Wassagst du? spricht er. Der Schöpfung ist esdeinetwegen sc<strong>hl</strong>echt erg<strong>an</strong>gen, und sie istvergänglich geworden? Aber es ist ihr damitkein Unrecht geschehen; denn sie wird auchwieder unvergänglich werden deinetwegen.Das besagt jenes „auf Hoffnung hin“. —Wenn er aber sagt: „nicht aus eigenem freienWillen ist sie unterworfen worden“, so sagter das nicht, um <strong>die</strong> Schöpfung als mit einemSelbstbestimmungsrecht ausgestattet hinzustellen,sondern damit du daraus ersehen sollst, daß das All durch Christi Fürsorgeins Dasein gerufen worden ist, nichtaber auf Grund eines erworbenen Rechtes. —Sag’ mir noch, auf welche Hoffnung hin? —„Daß auch sie wird befreit werden“.Was will das „auch sie“ besagen? Nicht duallein, sondern auch <strong>die</strong> Kreatur unter dir,<strong>die</strong> ohne Vernunft und ohne Empfindung ist,auch sie wird <strong>an</strong> den Gütern teilnehmen. „Siewird befreit werden“, heißt es, „von derKnechtschaft <strong>des</strong> Verderbens“, d. h. sie wird160nicht mehr dem Verderben unterworfen sein,sondern sie wird der Schönheit deines Körpersnachkommen. Denn gera<strong>des</strong>o wie siedem Verderben unterworfen wurde, als dues wur<strong>des</strong>t, so wird sie dir, wenn du unvergänglichwerden wirst, auch darin folgen.Das bringt der Apostel <strong>zum</strong> Ausdruck, wenner fortfährt:„Zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“,d. h. durch <strong>die</strong> Freiheit. Denn gleichwie <strong>die</strong>Amme eines, königlichen Prinzen, wenn <strong>die</strong>serzur väterlichen Herrschaft gel<strong>an</strong>gt ist,auch sein Glück mitgenießt, so auch <strong>die</strong>Schöpfung. Siehst du, wie der Mensch überall<strong>an</strong> <strong>die</strong> erste Stelle gerückt erscheint undalles seinetwegen geschieht? Siehst du auch,wie der Apostel dem Kämpfenden Trost zusprichtund hinweist auf <strong>die</strong> unaussprec<strong>hl</strong>icheLiebe Gottes? Was bist du betrübt, will ersagen, über deine Trübsale? Du erlei<strong>des</strong>t sieum deiner selbst willen, <strong>die</strong> Schöpfung umdeinetwillen. — Doch nicht allein Trostspricht er zu, sondern er gibt damit seinenWorten auch größere Glaubwürdigkeit. Dennwenn <strong>die</strong> Schöpfung Hoffnung hat, <strong>die</strong> dochdeinetwegen überhaupt ins Dasein gerufenworden ist, so mußt doch du sie noch vielmehr haben, um <strong>des</strong>sentwillen <strong>die</strong> Schöpfungjene Güter genießen soll. So geben auch<strong>die</strong> Menschen, wenn sie den Sohn gl<strong>an</strong>zvollauftreten lassen wollen, den Sklaven einschöneres Kleid dem Sohne zu Ehren. <strong>In</strong> gleicherWeise hat auch Gott <strong>die</strong> Schöpfung mitUnsterblichkeit umkleidet „zur Freiheit derHerrlichkeit der Kinder Gottes“. V.22: „Denn wir wissen, daß <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schöpfungmitseufzt und mit in Wehen liegt bis jetzt.“6.Siehst du, wie der Apostel dem Zuhörerdurch Beschämung zusetzt, als ob er sagenwollte: Setz’ dich doch nicht unter <strong>die</strong> leblose


Schöpfung herab und bleib doch nicht <strong>an</strong> dengegenwärtigen Dingen kleben! Wir dürfennicht nur nicht festhalten <strong>an</strong> ihnen, sondernmüssen vielmehr seufzen darüber, daß wirsie erst so spät verlassen dürfen. Denn wenn<strong>die</strong> Schöpfung das tut, so ist es doch nur billig,daß auch du, der du durch Vernunft ausgezeichnetbist, eine solche Sehnsucht zeigst.—Aber das ist noch kein genug starker Antrieb;darum fährt der Apostel fort:V. 23: „Aber nicht allein sie, sondern auch wirselbst, <strong>die</strong> wir doch einen Vorbesitz <strong>des</strong> Geisteshaben, seufzen in unserm <strong>In</strong>nern“,d. h. im Vorgenuß <strong>des</strong> Zukünftigen. Dennwenn einer, will er sagen, so unbeweglichwie ein Stein wäre, so müßten doch <strong>die</strong> bereitsempf<strong>an</strong>genen Gn<strong>ad</strong>engeschenke hinreichendsein, daß er sich dazu aufraffe, dengegenwärtigen Dingen den Abschied zu gebenund sich zu den zukünftigen aufzuschwingen,und das aus einer doppelten Erwägung:daß nämlich das bereits Geschenkteso groß und daß es trotz seiner Größe undMenge nur eine Vor<strong>an</strong>za<strong>hl</strong>ung ist. Wenn nunaber <strong>die</strong> Vor<strong>an</strong>za<strong>hl</strong>ung so groß ist, daß wirdurch sie von Sünden befreit und der Gerechtigkeitund Heiligkeit teilhaftig werden,ja daß <strong>die</strong> ersten Christen sogar Teufel austreibenund durch den Schatten ihrer KleiderTote auferwecken konnten, bedenke d<strong>an</strong>n,wie groß das G<strong>an</strong>ze sein muß. Und wenn <strong>die</strong>Schöpfung, <strong>die</strong> doch verst<strong>an</strong>d- und vernunftlosist und nichts davon begreift, darnachseufzt, wieviel mehr wir! — Damit der Apostelferner den Irrlehrern keine H<strong>an</strong>dhabe bieteund es nicht den Anschein bekomme, alsverwerfe er <strong>die</strong> irdische Welt, so sagt er, daß„wir seufzen“, aber nicht als Anklage gegen<strong>die</strong> irdischen Dinge, sondern aus Verl<strong>an</strong>gennach größeren. Das bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck,wenn er sagt:„auf <strong>die</strong> Gotteskindschaft wartend“— Doch sag’ mir, was soll das heißen? Immerfortsprichst du davon und rufstes uns zu, daß wir bereits Kinder (Gottes)geworden sind, nun stellst du <strong>die</strong>ses Gut als161ein solches hin, das wir erst zu erhoffen haben,indem du schreibst, daß wir darauf wartenmüssen? Er berichtigt <strong>die</strong>s durch den Zusatz:„Die endgiltige Erlösung unseres Leibes“,d. h. <strong>die</strong> vollendete Herrlichkeit 214 . Jetzt istnämlich unser Zust<strong>an</strong>d noch unsicher bis<strong>zum</strong> letzten Atemzuge. Viele, <strong>die</strong> Söhne waren,sind Hunde geworden und Gef<strong>an</strong>gene.Sind wir aber einmal mit günstiger Hoffnungabgeschieden, d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n uns das Geschenk(der Gotteskindschaft) nicht mehr genommenwerden, d<strong>an</strong>n tritt es deutlicher undgrößer hervor, d<strong>an</strong>n hat es keinen Wechselmehr zu befürchten von Tod und Sünde.D<strong>an</strong>n bleibt uns auch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e fest, wennunser Körper befreit sein wird vom Tode undvon unzä<strong>hl</strong>igen Leiden. Denn das ist d<strong>an</strong>neine endgiltige Erlösung, nicht eine nur vorübergehendeLoslösung, so daß wir nichtmehr in <strong>die</strong> frühere Gef<strong>an</strong>genschaft zurückkehren.Damit du nämlich nicht im Ungewissenbleibst, wenn du immer von der „Herrlichkeit“hörst und es nie recht klar verstehst,legt dir der Apostel <strong>die</strong> zukünftigen Güter inTeilen vor: <strong>die</strong> Verw<strong>an</strong>dlung deines Leibesund d<strong>an</strong>n <strong>die</strong> Verw<strong>an</strong>dlung der g<strong>an</strong>zenSchöpfung. Dasselbe bringt er <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>derenStelle deutlicher <strong>zum</strong> Ausdruck, wo ersagt: „Welcher den Leib unserer Niedrigkeitumgestalten wird, damit er gleichgestaltet seidem Leibe seiner Herrlichkeit“ 215 . Und <strong>an</strong>einer <strong>an</strong>deren Stelle wieder schreibt er:„Wenn aber das Sterbliche <strong>an</strong>gezogen hat <strong>die</strong>Unsterblichkeit, d<strong>an</strong>n wird sich erfüllen dasWort, das geschrieben steht: „Versc<strong>hl</strong>ungenist der Tod im Siege“ 216 . Und um zu zeigen,daß mit der Vernichtung <strong>des</strong> Leibes eineUmw<strong>an</strong>dlung der irdischen Dinge vor sich gehe, schreibt er wieder <strong>an</strong>der-214 Das Wortspiel im Griechischen: „ἀπολύτρωσις“ und im Gegensatz dazu‚λύτρωσις“ läßt sich im Deutschen nicht leicht ebenfalls durch einWortspiel wiedergeben. Απολύτρωσις bedeutet <strong>die</strong> „endgiltige und vollständigeErlösung“, λύτρωσις eine vorübergehende und teilweise.215 Phil. 3, 21.216 1 Kor. 15, 54.


wärts: „Denn <strong>die</strong> Gestalt <strong>die</strong>ser Welt vergeht“217 .V. 24: „Denn durch Hoffnung werden wir selig.“— Der Apostel hat sich im bisherigen l<strong>an</strong>gemit der Verheißung zukünftiger Dinge abgegeben.Einem im Glauben schwächeren Zuhörerhätte das etwas verdrießlich vorkommenkönnen, daß all das Gute erst zu erwartenstehe. Er hat darum früher nachgewiesen,daß es ja doch sicherer sei als das Gegenwärtigeund Sichtbare. Er hat sich auch über <strong>die</strong>uns bereits verliehenen Gn<strong>ad</strong>en verbreitetund gezeigt, daß wir uns schon im Vorbesitz<strong>die</strong>ser Güter befinden. Damit wir nun nichtalles schon im Diesseits haben wollen unduns <strong>des</strong> Adels begeben, der uns vom Glaubenkommt, sagt er: „Denn durch Hoffnungwerden wir selig.“ Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte istfolgender: M<strong>an</strong> darf nicht alles schon imDiesseits haben wollen, sondern m<strong>an</strong> mußauch hoffen. Denn das Einzige, das wir Gott<strong>zum</strong> Geschenke bringen können, ist ja, ihmGlauben zu schenken, wenn er uns Zukünftigesverspricht. Auf <strong>die</strong>sem Wege alleinkönnen wir selig werden. Verlieren wir den,d<strong>an</strong>n verlieren wir alles, was wir dem Glauben<strong>zum</strong> Opfer gebracht haben. Ich fragedich, will der Apostel sagen: Warst du nichttausenderlei Übeln unterworfen? Warst dunicht hoffnungslos verloren? War nicht derStab über dich gebrochen? Hatten dich nichtalle aufgegeben? Was hat dich nun doch gerettet?— Einzig und allein, daß du auf Gottgehofft und <strong>an</strong> das geglaubt hast, was er dirverheißen und auch wirklich gegeben hat.Etwas mehr hattest du ja nicht beizubringen.Wenn dich nun <strong>die</strong>ser Glaube gerettet hat, sohalte auch jetzt dar<strong>an</strong> fest. Wenn er dir bishersoviel Gutes eingetragen hat, wird er dichauch in betreff <strong>des</strong> Zukünftigen nicht täuschen.Er hat dich als einen Toten vorgefunden,als einen Verlorenen, einen Gef<strong>an</strong>genen,einen Feind, und hat dich zu einem Freund,einem Sohn, einem Freien, einem Gerechten,217 1 Kor. 7, 31.162einem Miterben gemacht. So viel hat er dirgebracht, als niem<strong>an</strong>d je erwartet hätte. Wiesollte er dich nach so viel Liebe undWo<strong>hl</strong>wollen in Hinkunft im Stiche lassen? —Sag’ mir also nicht: Wieder nur Hoffnungen,wieder nur Warten, wieder nur Glaube! Auf<strong>die</strong>se Weise bist du ja von allem Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>gerettet worden, und das ist ja das einzigeGeschenk, das du deinem Bräutigam <strong>an</strong>bietenk<strong>an</strong>nst. Halte also fest dar<strong>an</strong> und beharredabei! Wenn du schon hier alles haben willst,d<strong>an</strong>n hast du dein Ver<strong>die</strong>nst verloren, durchdas du hervorgeleuchtet hast. Darum fährt erfort:„Eine Hoffnung, <strong>die</strong> m<strong>an</strong> sieht, ist keine Hoffnung;denn was einer sieht, wie hofft er noch darauf?“V.25: „Wenn wir aber auf das hoffen, waswir nicht sehen, so wollen wir es mit Geduld erwarten.“D. h. wenn du schon hienieden alles habenwillst, was braucht es da noch eine Hoffnung?Denn was ist denn Hoffnung? Ein festesVertrauen auf <strong>die</strong> Zukunft. Was verl<strong>an</strong>gtdenn Gott Großes von dir, er, der dir aus seinemEigenen so viel Gutes geschenkt hat?Eines nur verl<strong>an</strong>gt er von dir — Hoffnung,damit doch du selbst auch einen Beitrag leistestzu deiner Rettung. Das deutet der Apostel<strong>an</strong>, wenn er hinzusetzt: „Wenn wir aufdas, was wir nicht sehen, hoffen, so erwartenwir es mit Geduld.“ Denn gera<strong>des</strong>o wie Gottdenjenigen krönt, der arbeitet, Ungemacherträgt und sich tausendfältig abmüht, soauch den, der hofft. Denn das Wort „Geduld“hat den Nebenbegriff von Schweißund viel Plage. Aber doch hat Gott auch dasdem Hoffenden beschert, um der Seele, wennsie müde wird, Trost zu spenden.7.Im folgenden zeigt der Apostel, daß wir auchfür <strong>die</strong>se leichte Mühe viel Beist<strong>an</strong>d genießen,indem er spricht:


163V. 26: „Desgleichen kommt auch der Geist unsernSchwachheiten zu Hilfe.“Das eine ist deine Sache, nämlich <strong>die</strong> Geduld,das <strong>an</strong>dere ist ein Geschenk <strong>des</strong> Hl. Geistes,der dich zur Hoffnung ermuntert und mittelstderselben dir wieder <strong>die</strong> Anstrengungenleicht macht. Damit du ferner einsehen lernst,daß dir <strong>die</strong>se selbe Gn<strong>ad</strong>e nicht bloß bei Arbeitenund in Gefahren zur Seitesteht, sondern auch bei scheinbar g<strong>an</strong>z leichtenAufgaben mithilft und dir immer undüberall ihren Beist<strong>an</strong>d leiht, fügt er bei:„Denn wir wissen nicht einmal (immer), um waswir beten sollen.“— Das sagt der Apostel, um <strong>die</strong> große Fürsorge<strong>des</strong> Hl. Geistes für uns <strong>zum</strong> Ausdruckzu bringen und sie zu belehren, daß nichtimmer das für zuträglich zu erachten sei, wases nach mensc<strong>hl</strong>ichem Ermessen zu seinscheint. Es lag ja nahe, daß <strong>die</strong> damaligenChristen, gegeißelt, hin und hergehetzt, vontausenderlei Übeln bedrückt, wie sie es waren,sehnsüchtig nach Ruhe verl<strong>an</strong>gten, solchevon Gott erflehten und der Meinung waren,sie sei ihnen <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e. Darum sagt er:Glaubet ja nicht, daß das, was scheinbar euch<strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e ist, es auch immer in Wirklichkeitist. Auch um das richtig zu beurteilen,bedürfen wir der Hilfe <strong>des</strong> Hl. Geistes; soschwach ist der Mensch und so ein Nichts,wenn er nur auf sich <strong>an</strong>gewiesen ist. Das istder Sinn der Worte: „Wir wissen nicht einmal,um was wir beten sollen.“ — Damit sichübrigens der Schüler solcher Unkenntnisnicht schäme, hebt der Apostel hervor, daß<strong>die</strong> Lehrer in derselben Lage seien. Er sagtnämlich nicht: Ihr wisset nicht, sondern: „Wirwissen nicht.“ Daß er das nicht aus bloßerBescheidenheit sagte, ist <strong>an</strong>derswoher ersichtlich.Unausgesetzt flehte er in seinenGebeten, er möchte Rom sehen, und docherl<strong>an</strong>gte er damals nicht, um was er flehte.Auch wegen <strong>des</strong> Stachels, der seinem Fleischgegeben war, d. i. der Gefahren, rief er oft zuGott, doch g<strong>an</strong>z ohne Erfolg. Dasselbe erfuhrim Alten Bunde Moses, der Palästina zu sehenbegehrte, Jeremias, als er für <strong>die</strong> JudenFürbitte einlegte, und Abraham, als er für <strong>die</strong>Bewohner von Sodoma fürsprach.„Aber der Geist selbst legt Fürsprache ein füruns mit unaussprec<strong>hl</strong>ichen Seufzern.“— Diese Stelle ist unklar, weil nämlich vielewunderbare Erscheinungen von damals (d. i.der Apostelzeit) jetzt aufgehört haben. Darumist es nötig, daß ich euch über den damaligenZust<strong>an</strong>d belehre, d<strong>an</strong>n wird euch gleich <strong>die</strong> Stelle klar werden. Welcheswar denn der damalige Zust<strong>an</strong>d? Allen damalsGetauften hatte Gott verschiedene Gabenverliehen, deren jede auch „Geist“ gen<strong>an</strong>ntwurde. So heißt es: „Der Geist derPropheten ist den Propheten unterworfen“ 218 .Der eine besaß <strong>die</strong> Gabe der Weissagung undsagte <strong>die</strong> Zukunft voraus; ein <strong>an</strong>derer <strong>die</strong>Gabe der Weisheit und trat als Lehrer fürviele auf; ein <strong>an</strong>derer <strong>die</strong> Gabe der Kr<strong>an</strong>kenheilungund heilte <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>ken; ein <strong>an</strong>derer<strong>die</strong> Gabe „der Kräfte“ und weckte Tote auf;ein <strong>an</strong>derer <strong>die</strong> Gabe der Sprachen und redetein verschiedenen Zungen. Neben allen <strong>die</strong>sengab es auch eine Gabe <strong>des</strong> Gebetes, undauch <strong>die</strong>se wurde „Geist“ gen<strong>an</strong>nt. Wer <strong>die</strong>seGabe besaß, betete für <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Gemeinde.Da wir nämlich oft nicht wissen, was uns<strong>zum</strong> Heile <strong>die</strong>nt, und auch solches verl<strong>an</strong>gen,was uns nicht <strong>zum</strong> Heile ist, darum kam damalsder Geist <strong>des</strong> Gebetes auf einen (in derGemeinde) herab, und <strong>die</strong>ser erhob sich füralle unter Flehen um das, was der g<strong>an</strong>zenKirche <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e war, und lehrte <strong>die</strong>s auch<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern. „Geist" nennt also der Apostel <strong>an</strong><strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong>se Gabe und <strong>die</strong> Seele, <strong>die</strong><strong>die</strong>se Gabe besitzt und zu Gott fleht undseufzt. Denn wer einer solchen Gabe gewürdigtwar, der st<strong>an</strong>d da mit großer Zerknirschung,und unter vielen inneren Seufzernwarf er sich nieder vor Gott und flehte umdas, was allen <strong>zum</strong> Heile war. Eine Erinnerungdar<strong>an</strong> ist jetzt noch der Diakon, der fürdas Volk Gebete spricht. Das also drückt218 1 Kor. 14, 32.


<strong>Paulus</strong> aus, wenn er spricht: „Der Geist selbstlegt Fürsprache ein für uns mit unaussprec<strong>hl</strong>ichenSeufzern.“V. 27: „Der aber, welcher <strong>die</strong> Herzen durchforscht.“— Siehst du, daß nicht <strong>die</strong> Rede ist vom Paraklet,sondern von dem mit dem „Geiste“erfüllten Herzen? Wäre dem nicht so, hätteder Apostel sagen müssen: Welcher denGeist durchforscht. Aber damit du erkennest,daß von einem Menschen <strong>die</strong> Rede ist, derden Geist besitzt und <strong>die</strong> Gabe <strong>des</strong> Gebeteshat, fahrt er fort: „Der, welcher <strong>die</strong>Herzen durchforscht, weiß, was das Verl<strong>an</strong>gen<strong>des</strong> Geistes ist“,— d. h. <strong>des</strong> Menschen, der im Besitz <strong>des</strong>Geistes ist, —„daß er Gott gemäß für <strong>die</strong> Heiligen fürbittet.“— Das ist nicht so gemeint, als ob ein solcherMensch Gott, der nichts davon weiß, inKenntnis setzte, sondern das geschieht, damitwir um das beten lernen, was uns nottut,und das von Gott erflehen, was ihm genehmist. Das bedeutet das „Gott gemäß“. Und sogeschah <strong>die</strong>s sowo<strong>hl</strong> <strong>zum</strong> Troste derer, <strong>die</strong>sich Gott näherten, als auch zu ihrer g<strong>an</strong>ztrefflichen Belehrung. Denn der Paraklet wares, der sowo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engaben spendete alsauch unzä<strong>hl</strong>iges Gute mitteilte. „Denn allesdas“, heißt es, „bewirkt ein und derselbeGeist“ 219 . Auch unserer Belehrung wegengeschieht <strong>die</strong>s und um <strong>die</strong> Liebe <strong>des</strong> Hl.Geistes hervortreten zu lassen, daß er soweituns zur Seite steht. Davon kommt es auch,daß der Beter Erhörung findet, weil das Gebet„Gott gemäß“ war. Siehst du, wie derApostel seine Zuhörer belehrt über <strong>die</strong> LiebeGottes zu ihnen und <strong>die</strong> Ehre, <strong>die</strong> er ihnen<strong>an</strong>tut?8.Ja, was hat Gott nicht für uns get<strong>an</strong>? — DasAll machte er vergänglich unseretwegen, ermacht es unseretwegen auch wieder unvergänglich.Die Propheten ließ er mißh<strong>an</strong>deltwerden unseretwegen, in <strong>die</strong> Verb<strong>an</strong>nungschickte er sie unseretwegen, in den Feuerofenließ er sie hinabsinken und unzä<strong>hl</strong>igeLeiden erdulden. Propheten ließ er kommenunseretwegen, auch Apostel unseretwegen.Seinen eingeborenen Sohn hat er unseretwegenhingegeben, den Teufel bestraft er unseretwegen;uns hat er zu seiner Rechten gesetzt;er litt Schmach unseretwegen. „DieSchmähungen derer, <strong>die</strong> dich schmähen“,heißt es, „fallen auf mich“ 220 . Und da wirdennoch nach so vielen Wo<strong>hl</strong>taten von ihmabgefallen sind, läßt er uns nicht fallen, sondernruft uns neuerdings und ver<strong>an</strong>laßt <strong>an</strong>dere,für uns ihn <strong>an</strong>zurufen, damit er unsGn<strong>ad</strong>e erweisen könne. So war es mit Moses. Denn zu ihm sprach er: „Laßmich, ich werde sie vertilgen“ 221 . Das tat eraber, um ihn zu ver<strong>an</strong>lassen, für sie Fürbitteeinzulegen. Und jetzt tut er dasselbe. Aus<strong>die</strong>sem Grunde gab er auch <strong>die</strong> Gabe <strong>des</strong>Gebetes. Er tut <strong>die</strong>s, nicht als ob er unser Gebetnötig hätte, sondern damit wir nach unsererRettung nicht in einen noch sc<strong>hl</strong>immerenZust<strong>an</strong>d geraten sollen. Darum sagt eröfter, daß er den Juden verzeihe im Hinblickauf David oder den oder jenen; er tut <strong>die</strong>s,um der Verzeihung einen Vorw<strong>an</strong>d zu geben.Er selbst würde ja freilich noch liebevollergegen <strong>die</strong> Menschen erscheinen, wenn ererklärte, daß er nicht im Hinblick auf <strong>die</strong>senoder jenen, sondern aus freien Stücken seinenZorn gegen sie fahren lasse; aber er wolltedas nicht, damit nicht <strong>die</strong> Art der Vergebungfür <strong>die</strong> Geretteten eine Ver<strong>an</strong>lassung zurFahrlässigkeit würde. Darum sprach er zuJeremias: „Bete nicht für <strong>die</strong>ses Volk, weil ichdich nicht erhören werde“ 222 . Er wollte abernicht, daß er aufhöre, zu beten — denn zu219 1 Kor. 12, 11.164220 Ps. 68, 10.221 Exod. 32, 10.222 Jer. 11, 14.


sehr wünschte er unser Heil —, sondern erwollte jene nur schrecken. Das wußte auchder Prophet, und er hörte darum nicht auf,zu beten. Damit du aber siehst, daß Gott mit<strong>die</strong>sen Worten den Propheten nicht vom Betenabhalten, sondern das Volk mit Schamerfüllen wollte, so höre, was Gott weiter sagt:„Oder siehst du nicht, was sie tun?“ Undwenn er zur St<strong>ad</strong>t spricht: „Wenn du dichgleich mit Lauge wäschest und viel Pottaschegebrauchtest, so bliebe dir vor mir doch derFlecken“ 223 , so sagt er das nicht, um sie inVerzweiflung zu stürzen, sondern zur Bußezu bewegen. Denn gleichwie er d<strong>ad</strong>urch, daßer über <strong>die</strong> Bewohner Ninives ohne Unterschieddas To<strong>des</strong>urteil sprach und ihnen(scheinbar) keine Hoffnung ließ, sie in Schreckensetzte und zur Buße führte, so macht eres auch hier: er bringt <strong>die</strong> Israeliten in Aufregungund verschafft dem Propheten mehrAchtung, damit sie ihn so <strong>an</strong>hören. Nachdemsie aber unheilbar kr<strong>an</strong>k blieben, und auchd<strong>an</strong>n nicht zur Vernunft kamen, als schon <strong>die</strong> übrigen in <strong>die</strong> Gef<strong>an</strong>genschaftgesc<strong>hl</strong>eppt wurden, so ermahnt er siefürs erste, im L<strong>an</strong>de zu bleiben. Als sie aber<strong>die</strong>s nicht wollten, sondern nach Ägyptenflüchteten, gab er auch das zu und verl<strong>an</strong>gtnur von ihnen, daß sie sich nicht mit den Ä-gyptern in den Götzen<strong>die</strong>nst einlassen sollten.Als sie auch das nicht befolgten, schickter den Propheten mit ihnen, damit sie nichtg<strong>an</strong>z und gar vom rechten Wege abkämen.Weil sie auf seinen Ruf nicht horchten, gehter ihnen selbst nach, weist sie zurecht undhindert sie, auf dem Wege der Bosheit weiterfortzuschreiten, so wie ein liebevoller Vaterseinem Sohn, der sich in unglücklicher Lagebefindet, immerfort helfend zur Seite stehtund ihm überallhin folgt. Darum schickteGott nicht bloß nach Ägypten den Jeremias,sondern auch nach Babylon den Ezechiel,und keiner von beiden erhob Widerspruch.Denn weil sie sahen, daß ihr Herr <strong>die</strong> Judenso innig liebte, taten auch sie unablässig dasselbe,gera<strong>des</strong>o wie ein (der Familie) wo<strong>hl</strong>gesinnterSklave Mitleid hat mit einem ungeratenenSohn, wenn er sieht, daß sein Vatersich über ihn kränkt und grämt. Was mußtensie nicht alles für ihre Volksgenossen leiden!Sie wurden zersägt, verb<strong>an</strong>nt, geschmäht,gesteinigt und erlitten tausendfältiges Ungemach.Aber nach allem dem eilten sie ihremVolke immer wieder zu Hilfe. Auch Samuelhörte nicht auf, den Saul zu beweinen,obgleich er von ihm bittere Schmähungenerfahren und Unerträgliches erduldet hatte.Aber er dachte gar nicht mehr dar<strong>an</strong>. DemVolk der Juden hat Jeremias gar geschriebeneKlagelieder gewidmet. Als ihm der persischeHeerführer <strong>die</strong> Erlaubnis gegeben hatte, sichin Ruhe und nach freier Wa<strong>hl</strong> niederzulassen,da zog er das trübselige und entbehrungsvolleBeisammensein mit seinem Volkein der Fremde dem Aufenthalte in der Heimatvor. So verließ auch Moses den königlichenHof und das Leben daselbst und eilteseinem Volke zu Hilfe. Und D<strong>an</strong>iel bliebsechsundzw<strong>an</strong>zig Tage ohne Speise undquälte sich mit dem strengsten Fasten, umGott mit seinen Volksgenossen zu versöhnen.Die drei Jünglinge im Feuerofen brachtenmitten im Feuer ihre Fürbitten für sie dar.Nicht für sich selbst waren sie in Kummer — denn sie waren ja gerettet —, sondernweil sie ger<strong>ad</strong>e damals am ehesten <strong>die</strong>Freiheit einer Bitte zu haben glaubten, legtensie Fürsprache ein für ihr Volk. Darum sprachensie: „Mit zerknirschter Seele und demütigemHerzen mögen wir aufgenommenwerden.“ 224 . Ihretwegen zerriß auch Josuaseine Kleider. Ihretwegen weinte und klagteauch Ezechiel, als er sah, wie sie niedergemetzeltwurden. Und Jeremias (?) sprach:„Laßt mich, ich muß bitter weinen“ 225 . Undfrüher einmal, da er gar nicht wagte, umVerzeihung für <strong>die</strong> Missetaten seines Volkeszu bitten, da fragt er nach dem Aufschub der223 Ebd. 2, 22.165224 D<strong>an</strong>. 3, 3 . 9225 Js. 22, 4.


Strafe, indem er spricht: „Wie l<strong>an</strong>ge,Herr?“ 226 Das Gesc<strong>hl</strong>echt der Heiligen istnämlich voller Liebe. Darum sagte auch <strong>Paulus</strong>:„So ziehet denn <strong>an</strong> als Erwä<strong>hl</strong>te Gottesund Heilige ein Herz <strong>des</strong> Erbarmens, Güteund Demut“ 227 .9.Merkst du dabei <strong>die</strong> genaue Wa<strong>hl</strong> <strong>des</strong> Ausdruckesund wie er will, daß wir beständigerbarmungsvoll sein sollen? Er sagt nichteinfach: Seid erbarmungsvoll, sondern: „Ziehet<strong>an</strong>“, um auszudrücken, daß, wie dasKleid immer mit uns ist, es auch das Erbarmensein soll. Er sagt nicht einfach „Erbarmen“,sondern „ein Herz <strong>des</strong> Erbarmens“,damit wir d<strong>ad</strong>urch <strong>an</strong> das natürliche Org<strong>an</strong><strong>des</strong> Erbarmens erinnert werden. — Aber wirtun das Gegenteil. Kommt einer und betteltuns um einen Heller <strong>an</strong>, so fahren wir ihnhart <strong>an</strong>, schimpfen und nennen ihn einenSchwindler. Macht es dir denn keine Angst,Mensch, errötest du nicht, daß da dem Bettlerstatt Brot den Schimpfnamen eines Schwindlersgibst? Wenn ein solcher auch einenSchwindel verübte, so ver<strong>die</strong>nt er eben darumMitleid, daß er durch Hunger gezwungenwird, sich auf solche Weise zu verstellen.Es liegt eben darin eine Anklage gegen unsereHartherzigkeit. Denn eben darum, weilwir nicht leicht etwas hergeben, sind <strong>die</strong> Bettlergezwungen, tau- senderlei Kniffe<strong>an</strong>zuwenden, um unsere Lieblosigkeit zuüberlisten und unsere Hartherzigkeit zu erweichen.Wenn übrigens der Arme Gold o-der Silber verl<strong>an</strong>gte, so wäre dein Verdachtnoch einigermaßen begründet. Da er dichaber nur um notdürftige Nahrung bittet, wozusolche unzeitige Bedenklichkeit, solch ü-berflüssiges Gerede von Faulheit und Müßigg<strong>an</strong>g?Sollen wirklich <strong>die</strong>se Worte fallen,226 Ebd. 6, 11.227 Kol. 3, 12.166d<strong>an</strong>n müssen wir sie <strong>an</strong> uns, nicht <strong>an</strong> <strong>an</strong>dererichten.Wenn du also vor Gott hintrittst mit der Bitteum Vergebung der Sünden, so denk <strong>an</strong> solcheSchmähworte und erkenne, daß du siemit mehr Recht von Gott solltest zu hörenbekommen als der Arme von dir. Und dochhat Gott dich noch niemals <strong>an</strong>gefahren wieetwa: „Fort mit dir, denn du bist einSchwindler! Du gehst zwar regelmäßig in <strong>die</strong>Kirche und hörst da meine Gebote, im öffentlichenLeben aber setzest du Gold und Menschenfreundschaftund Sinnenlust und alles<strong>an</strong>dere über meine Gebote. Jetzt bist du zwardemütig, nach dem Gebete aber bist du unwirschund hartherzig und lieblos. Hebe dichalso weg von hier und komm mir nicht mehrunter <strong>die</strong> Augen!“ — Solche Reden und nochmehr derart ver<strong>die</strong>nten wir zu hören. Unddoch macht uns Gott nie dergleichen Vorwürfe,sondern er ist l<strong>an</strong>gmütig, er erfülltuns unsere Bitten, soweit es <strong>an</strong> ihm liegt, ja ergibt uns mehr, als um was wir bitten. — Daslaßt uns also bedenken und <strong>die</strong> Armut derNotleidenden lindern! Und wenn sie aucheinmal eine Verstellung <strong>an</strong>wenden, laßt uns<strong>die</strong> Sache nicht gar so genau nehmen! Auchwir haben ja zu unserer Rettung gar vielNachsicht und Menschenliebe und Erbarmungnötig. G<strong>an</strong>z unmöglich, g<strong>an</strong>z unmöglichkönnen wir einmal selig werden, wennmit uns eine so genaue Prüfung vorgenommenwerden sollte, sondern wir müßtennotwendigerweise der Strafe über<strong>an</strong>twortetwerden und g<strong>an</strong>z zugrunde gehen.Seien also auch wir nicht so strenge Richter<strong>an</strong>derer, damit m<strong>an</strong> nicht auch von unsstrenge Rechenschaft fordere. Denn wir habenja Sünden auf uns, <strong>die</strong> alle Verzeihungübersteigen. Laßt uns vielmehr barmherzigsein gegen <strong>die</strong>, welche (scheinbar) unverzei<strong>hl</strong>icheFe<strong>hl</strong>er begehen, damit auchwir uns solches Erbarmen ver<strong>die</strong>nen. Wennwir <strong>an</strong>dern auch noch so viel Liebe erweisen,niemals werden wir es zu einem so hohenMaße von Liebe bringen, als wir von dem


liebevollen Gott erfahren. Ist es also nichtwidersinnig, daß wir, <strong>die</strong> wir selbst so in Notstecken, mit unsern Mitknechten gar so genauabrechnen und gegen unsern eigenenVorteil h<strong>an</strong>deln? Denn damit erklärst dunicht so sehr ihn deiner Wo<strong>hl</strong>tat unwürdig,als du dich selbst der Liebe Gottes. Wer mitseinem Mitknechte so genau Abrechnunghält, der wird um so mehr eine solche vonseiten Gottes erfahren. Laßt uns also nichtgegen uns selbst das Urteil sprechen, sondernlaßt uns auch d<strong>an</strong>n ein Almosen geben,wenn sie aus Faulheit und Leichtsinn betteln.Denn auch wir begehen ja viele — ja eigentlichalle — Sünden aus Leichtsinn, und Gottstraft uns nicht immer gleich dafür, sonderngibt uns Zeit zur Buße. Er gibt uns das täglicheBrot, er unterweist, er belehrt uns undgewährt uns alles <strong>an</strong>dere, damit wir uns <strong>an</strong>seiner Barmherzigkeit ein Beispiel nehmen.Fort also mit <strong>die</strong>ser Hartherzigkeit, hinwegmit <strong>die</strong>ser Roheit! D<strong>an</strong>n tun wir uns selbstnoch mehr etwas Gutes als <strong>an</strong>dern. Dennihnen schenken wir nur Geld und Brot undKleidung, uns selbst aber erwerben wir damit<strong>die</strong> allergrößte Herrlichkeit, <strong>die</strong> sich mitWorten gar nicht schildern läßt. Denn wirwerden unsterbliche Leiber erhalten und mitChristus verherrlicht werden und herrschen.Was das bedeutet, können wir schon hieniedenerfahren, oder vielmehr so g<strong>an</strong>z deutlichwerben wir das jetzt niemals erfahren. Damitwir aber durch Vergleich mit irdischemGlück eine schwache Vorstellung davon bekommen,so will ich es versuchen, so viel ichk<strong>an</strong>n, das Gesagte durch ein Beispiel deutlichzu machen. Sag’ mir: Wenn du altersschwachund dürftig dahinlebtest und es versprächedir jem<strong>an</strong>d, dich auf einmal jung zu machenund zurückzuversetzen in <strong>die</strong> Blüte der Jugend,dich dazu noch stark und schon <strong>zum</strong>achen trotz allen und dir <strong>die</strong> Herrschaftüber <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Erde auf tausend Jahre zuverleihen, eine Herrschaft voll tiefsten Friedens:was wür<strong>des</strong>t du für eine solche Verheißungnicht alles tun und leiden? Nun sieh,167Christus verheißt dir nicht bloß <strong>die</strong>s,sondern noch viel mehr als das; denn derUnterschied zwischen Alter und Jugend istnicht so groß wie der zwischen Vergänglichkeitund Unvergänglichkeit; und der Unterschiedzwischen einem königlichen Daseinund einem bettelarmen ist nicht so groß wieder zwischen der zukünftigen Herrlichkeitund der irdischen, sondern so groß wie derzwischen Traum und Wirklichkeit.10.Ja eigentlich habe ich damit noch gar nichtsgesagt. Kein mensc<strong>hl</strong>iches Wort ist zureichend,um <strong>die</strong> Größe <strong>des</strong> Unterschie<strong>des</strong> zuschildern, der zwischen der Zukunft und derGegenwart besteht. Was <strong>die</strong> Dauer betrifft,ist <strong>an</strong> einen Unterschied gar nicht zu denken.Denn wie sollte m<strong>an</strong> ein Leben ohne Endemit dem gegenwärtigen vergleichen können?Der Unterschied zwischen jenem Friedenund dem im Diesseits ist so groß wie derzwischen Frieden und Krieg. Und was <strong>die</strong>Unvergänglichkeit betrifft, so ist sie weit vortrefflicherwie eine reine Perle im Vergleichzu einem Lehmklumpen; oder m<strong>an</strong> müßtevielmehr sagen, der Unterschied läßt sichüberhaupt nicht schildern. Denn wenn ichauch <strong>die</strong> künftige Schönheit der Leiber mitder <strong>des</strong> Sonnenstra<strong>hl</strong>es vergleiche oder mitdem Leuchten <strong>des</strong> Blitzes, so habe ich noc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge nichts gesagt, was <strong>an</strong> jenen Gl<strong>an</strong>z her<strong>an</strong>reichte.Wieviel Geld, wieviel Leiber, jawieviel Seelen sogar sollte m<strong>an</strong> nicht hingebenfür etwas so Großes? Wenn dich jem<strong>an</strong>din einen königlichen Palast einführte undverschaffte dir <strong>die</strong> Gunst, dich mit dem Könige<strong>an</strong>gesichts aller zu unterhalten, mit ihmzu speisen und zu wohnen, du wür<strong>des</strong>t dichfür den glücklichsten Menschen schätzen.Wenn du aber <strong>zum</strong> Himmel aufsteigen, vordem Könige <strong>des</strong> Weltalls stehen, <strong>die</strong> Engel <strong>an</strong>Gl<strong>an</strong>z überstra<strong>hl</strong>en und in den Genuß jener


unaussprec<strong>hl</strong>ichen Herrlichkeit gel<strong>an</strong>gensollst, da besinnst du dich, wenn es gilt, Gelddafür hinzugeben, <strong>an</strong>statt, wie du solltest,gegebenenfalls auch das Leben hinzuopfern,vor Freude zu jubeln, zu hüpfen, wie aufFlügeln dich emporzuschwingen? Um einöffentliches Amt zu erl<strong>an</strong>gen, das dir Gelegenheitgibt, dir unredlich Geld zu machen— denn Gewinn möchte ich es nichtnennen —, gibst du dein Vermögen hin,borgst dir noch von <strong>an</strong>dern, ja hast kein Bedenken,wenn es nötig ist, sogar Weib undKinder <strong>zum</strong> Pf<strong>an</strong>d zu geben. Wenn dir aber<strong>die</strong> Herrschaft <strong>des</strong> Himmels <strong>an</strong>geboten wird,ein Amt, in dem es keinen Nachfolger gibt,wenn dir Gott nicht irgendeinen Erdenwinkel,sondern den g<strong>an</strong>zen Himmel in Besitz zunehmen befie<strong>hl</strong>t, da zauberst du und suchstAusflüchte und hältst deinen Geldsack festund bedenkst nicht, wenn der Teil <strong>des</strong> Himmels,welcher uns zugewendet ist, schon soschön und wonnevoll ist, wie erst der Teildarüber, der Himmel <strong>des</strong> Himmels sein muß.Aber weil es vorläufig nicht möglich ist, mitkörperlichen Augen das <strong>an</strong>zuschauen, sosteig in Ged<strong>an</strong>ken hinauf und stelle dich überden sichtbaren Himmel. Schau auf zu demHimmel, der darüber liegt, in <strong>die</strong> unermeßlicheHöhe, in das erstaunliche Lichtmeer, zuden Scharen der Engel, zu den unübersehbarenReihen der Erzengel, zu den <strong>an</strong>dern körperlosenMächten. D<strong>an</strong>n steige wieder herabin Ged<strong>an</strong>ken zur Erde, mach dir ein Bild vonden Dingen bei uns. Entwirf dir ein Gemäldevon dem Prunk eines irdischen Königs: EinGefolge von goldstrotzenden Männern, einGesp<strong>an</strong>n weißer Maultiere mit goldblinkendemGeschirr, mit Edelsteinen ausgelegteWagen, schneeweiße Wagenkissen, Goldplattenals Wagenverzierung, Drachenfiguren inseidene Decken eingewirkt, Schilde mit goldenenBuckeln, von <strong>die</strong>sen herablaufende,mit Edelsteinen besetzte Riemen, goldstrotzendeRosse und goldene Zügel. Wenn wiraber den König selbst erblicken, haben wirkein Auge mehr für all <strong>die</strong>se Dinge. D<strong>an</strong>n168fesselt uns einzig und allein seine Erscheinung:Sein Purpurm<strong>an</strong>tel, das Di<strong>ad</strong>em, seinSitz, <strong>die</strong> Sp<strong>an</strong>ge, <strong>die</strong> Schuhe, sein stra<strong>hl</strong>enderBlick. Das alles zusammen führe dir bis inskleinste vor dem geistiges Auge, d<strong>an</strong>n richteaber deine Ged<strong>an</strong>ken wieder davon ab nachoben auf jenen furchtbaren Tag, da Christuserscheinen wird. D<strong>an</strong>n wirst du nicht Maultiergesp<strong>an</strong>nezu sehen bekommen, auch nichtgoldene Wagen, nicht Drachenfiguren undSchilde, sondern Vorgänge, so schaudervollund furchterregend, daß selbst <strong>die</strong> himmlischenMächte erbeben werden. Es heißt ja. „Die Kräfte <strong>des</strong> Himmels werden erschüttertwerden“ 228 . D<strong>an</strong>n öffnet sich derg<strong>an</strong>ze Himmel, <strong>die</strong> Tore <strong>des</strong> Himmelsgewölbestun sich auf, der eingeborene Sohn Gottes,steigt herab, umgeben nicht von zw<strong>an</strong>zigoder hundert Speerträgern, sondern vonTausenden und Abertausenden von Engeln,Erzengeln, Cherubim, Seraphim und <strong>an</strong>dernhimmlischen Mächten. Da ist alles vollSchrecken und Furcht; <strong>die</strong> Erde öffnet sich,und was <strong>an</strong> Menschen war von Adam <strong>an</strong> biszu jenem Tage, steigt hervor, wird entrücktund stellt sich auf vor Christus, der in einemsolchen Gl<strong>an</strong>z erscheint, daß Sonne undMond und jegliches Licht vor <strong>die</strong>sem Gl<strong>an</strong>zerblassen. Welches mensc<strong>hl</strong>iche Wort ist imst<strong>an</strong>de,jene Seligkeit, jenen Gl<strong>an</strong>z, jene Herrlichkeitzu schildern! Ach, meine Seele, ichmuß weinen und laut seufzen, wenn ich bedenke,welches Glückes wir verlustig werden,welche Seligkeit wir verlieren — das giltauch mir —, wenn wir nicht etwas Großesund Bewundernswertes leisten! Es rede mirniem<strong>an</strong>d von der Hölle; denn solcher Herrlichkeitverlustig zu gehen, ist sc<strong>hl</strong>immer als<strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Hölle; aus <strong>die</strong>sem Festsaale ausgewiesenzu werden, ist sc<strong>hl</strong>immer als tausendHöllenstrafen. Und dennoch kleben wir<strong>an</strong> dem Irdischen und merken nicht <strong>des</strong> TeufelsList, der uns Kleines <strong>an</strong>bietet und unsdafür Großes nimmt, der uns eine Erdscholle228 Matth. 24, 29.


eicht, um uns dafür Gold oder vielmehr denHimmel zu rauben, der uns einen Schattenvormacht, um uns <strong>die</strong> Wahrheit zu ste<strong>hl</strong>en,der uns mit Traumbildern täuscht — dennein solches ist der irdische Reichtum —, umuns, wenn jener Tag kommt, als bettelarmdastehen zu lassen.11.Das laßt uns bedenken und endlich einmal,wenn auch spät, der Arglist <strong>des</strong> Teufels entfliehenund <strong>zum</strong> Himmlischen uns hinwenden!Wir können nicht sagen, wir hätten dasW<strong>an</strong>delbare <strong>des</strong> irdischen Lebens nicht gek<strong>an</strong>nt,da uns doch <strong>die</strong> Tatsachen selbst jedentag lauter als mit Trompetenschall seine Eitelkeit,sein lächerliches, häßliches Wesen,seine Gefahren und Abgründe kundtun. Waswerden wir also für eine Ent-schuldigung haben, wenn wir <strong>die</strong>sengefährlichen und schimpflichen Dingen soeifrig nachjagen, dagegen von denen, <strong>die</strong> unsSicherheit, Ruhm und Ehre eintragen, nichtswissen wollen und uns g<strong>an</strong>z und gar derZwingherrschaft <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong> ausliefern? Ja,der sc<strong>hl</strong>immste Fron<strong>die</strong>nst von allen ist der,welcher <strong>die</strong>sem Zwingherrn geleistet wird.Das wissen alle, <strong>die</strong> so glücklich gewesensind, sich von ihm frei<strong>zum</strong>achen. — Damitalso auch ihr <strong>die</strong>se goldene Freiheit kennenlernt, zerreißet <strong>die</strong> Fesseln, entwindet euchdem Fallstrick! Nicht Gold werde in eurenHäusern aufgespeichert, sondern, was tausendmalmehr wert ist als Gold, Almosenund Menschenliebe statt Gold. Diese gibt unsZuversicht zu Gott, jenes aber bringt unsgroße Schmach und läßt den Teufel gewaltiggegen uns schnauben. Was gibst du deinemFeinde Waffen in <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d und machst ihnstärker? Bewaffne deine eigene H<strong>an</strong>d gegenihn, verlege <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Schönheit deines Hausesin deine Seele und speichere allen Reichtumin deinem Geiste auf. Dein Gold sei im169Himmel aufbewahrt statt im Kasten und imHause. Machen wir ein Kleid daraus für unsselbst! Wir sind ja doch viel besser als unsereMauern und vorzüglicher als unser Fußboden.Warum also vernac<strong>hl</strong>ässigen wir unsselbst und wenden unsere g<strong>an</strong>ze SorgfaltDingen zu, <strong>die</strong> wir nicht mitnehmen können,wenn wir aus der Welt scheiden, ja <strong>die</strong> wiroft nicht behalten können, wenn wir auch dableiben, während wir doch in einer Weisereich werden könnten, daß wir nicht bloßhier, sondern auch dort reich ausgestatteterscheinen möchten. Denn wer seine L<strong>an</strong>dgüter,seine Häuser und sein Gold in der Seeleherumträgt, der tritt als reicher M<strong>an</strong>n auf,wo immer er erscheint. Aber wieso ist dasmöglich? fragst du. Es ist möglich und g<strong>an</strong>zleicht. Wenn du nämlich alles durch <strong>die</strong>Hände der Armen in den Himmel übertragenläßt, so überträgst du alles in deine Seele.Wenn d<strong>an</strong>n auch der Tod kommt, so kamtdir niem<strong>an</strong>d dein Vermögen nehmen, und dugehst als reicher M<strong>an</strong>n hinüber. Einen solchenSchatz im Jenseits hatte Tabitha. Nichtein prachtvolles Haus verkündete ihr Lob,nicht Mauern, nicht Steine, nicht Säulen,sondern <strong>die</strong> Leiber der Witwen, <strong>die</strong> sie gekleidet,<strong>die</strong> Trä-nen <strong>des</strong> D<strong>an</strong>kes, <strong>die</strong>ihr geflossen, der Tod, den sie geb<strong>an</strong>nt, dasLeben, das sie zurückgerufen. — SolcheSchatzkammern wollen auch wir uns <strong>an</strong>legen,solche Häuser auch wir uns bauen! Auf<strong>die</strong>se Weise werden wir bei unserer ArbeitGott <strong>an</strong> unserer Seite haben, und wir selbstwerden seine Mitarbeiter sein. Er hat ja <strong>die</strong>Armen aus dem Nichts ins Dasein gerufen,und du läßt sie, nachdem sie einmal da sind,nicht vor Hunger und sonstigem Elendzugrunde gehen, indem du sie pflegst, aufrichtestund auf jede Weise den Tempel Gotteserhältst. Gibt es etwas <strong>an</strong>deres, das dirgleichen Nutzen und gleichen Ruhm eintrüge?Solltest du aber noch nicht deutlich genugeinsehen, welche Ehre dir Gott <strong>an</strong>tut,wenn er dich <strong>die</strong> Armen unterstützen heißt,so bedenke folgen<strong>des</strong>! Wenn dir Gott solche


Kraft verliehe, daß du den Himmel stützenkönntest, wenn er einzustürzen drohte, wür<strong>des</strong>tdu das nicht für eine Auszeichnung <strong>an</strong>sehen,<strong>die</strong> alle deine Vorstellungen überstiege?Nun sieh, einer noch viel größeren Auszeichnunghat er dich gewürdigt. Denn er hatdir etwas <strong>zum</strong> Stützen <strong>an</strong>gewiesen, was vielgrößeren Wert hat als der Himmel. Das istder Mensch; ihm ist vor Gott nichts gleichvon den sichtbaren Dingen. Denn seinetwegenhat er den Himmel und <strong>die</strong> Erde und dasMeer geschaffen. <strong>In</strong> ihm zu wohnen, machtihm mehr Freude, als im Himmel zu sein.Aber obgleich wir das wissen, tragen wirdoch gar keine Sorge um <strong>die</strong>se Tempel Gottesund kümmern uns nicht um sie. Wir lassensie verfallen und bauen uns herrlicheund große Häuser. Ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen sindwir aller (wirklichen Güter) ledig und sindärmer als Bettler, weil wir <strong>die</strong>se Häuserschmücken, welche wir nicht mitnehmenkönnen, wenn wir von hinnen scheiden, undjene verfallen lassen, <strong>die</strong> wir mit uns ins Jenseitshinübernehmen könnten. Denn auch <strong>die</strong>verwesten Leiber der Armen werden auferstehen.D<strong>an</strong>n wird sie Gott, der uns Wo<strong>hl</strong>tätigkeitgegen sie befo<strong>hl</strong>en hat, vorführen undwird <strong>die</strong>jenigen loben, <strong>die</strong> sich ihrer Eingenommenhaben, und wird aller Welt kundtun,daß sie auf jede Weise ihnen aufgeholfenhaben, wenn sie bald dem Hunger, bald derBlöße und Kälte zu erliegen drohten. Abertrotzdem solches Lob uns in Aussicht steht, zögern wir noch und ziehen unszurück von <strong>die</strong>ser so schönen Sorge. UndChristus findet kein Obdach, er irrt herumfremd und nackt und hungernd. Du aberbaust dir L<strong>an</strong>dhäuser, Bäder, W<strong>an</strong>delhallenund tausend überflüssige Wohnräume, undChristus gönnst du nicht einmal ein geringesObdach; dafür schmückst du aber deine Erkerfür Raben und Geier. — Gibt es wo<strong>hl</strong> eineärgere Begriffsverwirrung, einen sc<strong>hl</strong>immerenWahnsinn als <strong>die</strong>sen? Ja, das ist derhöchste Wahnsinn, oder vielmehr, m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>ngar kein rechtes Wort dafür finden. Und170dennoch, wenn wir wollen, ist es möglich,<strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>kheit, so schwer sie ist, zu vertreiben.Ja es ist nicht bloß möglich, sondern sogarleicht, und nicht nur einfach leicht, sondernum so viel leichter ist es, von <strong>die</strong>sem(geistigen) Siechtum frei zu werden als vonkörperlichen Leiden, je größer der Arzt dafürist.Diesen Arzt also laßt uns herbeiziehen undihn bitten, daß er H<strong>an</strong>d <strong>an</strong>lege. Wir selbstaber wollen auch das Unsrige dazu mitbringen,nämlich guten Willen und Eifer. Erbraucht nichts <strong>an</strong>deres; wenn er nur das vorfindet,alles <strong>an</strong>dere wird er selbst beistellen.Laßt uns also dazu tun, so viel <strong>an</strong> uns liegt,damit wir hienieden uns ungetrübter Gesundheiterfreuen und einst der ewigen Güterteilhaftig werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e undLiebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchemsei Ehre dem Vater zugleich mit demHl. Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.SECHZEHNTE HOMILIE. Kap. VIII,V. 28—39.1. Kap. VIII, V. 28—39.V. 28: „Wir wissen aber, daß denen, <strong>die</strong> Gott lieben,alles mitwirkt <strong>zum</strong> Guten.“Diese g<strong>an</strong>ze Stelle, scheint mir, ist <strong>an</strong> solchegerichtet, <strong>die</strong> in Gefahren leben; oder vielmehrnicht bloß <strong>die</strong>se Stelle, sondern auch<strong>die</strong> vorausgehenden Sätze. Denn auch derSatz: „Die Leiden der gegenwärtigen Zeitsind nicht zu vergleichen mit der Herrlichkeit,<strong>die</strong> <strong>an</strong> uns offenbar werden soll“, undder <strong>an</strong>dere vom „Seufzen der g<strong>an</strong>zen Schöpfung“und der: „Durch Hoffnung werden wirselig“, und der weitere: „Wir wollen abwartenmit Geduld“, und der: „Wir wissen nichteinmal, um was wir beten sollen“, alle <strong>die</strong>seSätze sind zu Leidenden gesprochen. DerApostel belehrt sie, daß sie nicht immer das


verl<strong>an</strong>gen sollen, was ihnen zuträglich zusein scheint, sondern das, was der Geist eingibt.Denn gar m<strong>an</strong>ches, was ihnen wünschenswerterscheint, bringt in Wirklichkeitnur Nachteil. So glaubten auch <strong>die</strong> damaligenChristen in Rom, ein ruhiges Leben, freivon Gefahren, gesichert vor Trübsalen undSorgen, müsse ihnen zuträglich sein. KeinWunder, daß sie das glaubten; war doch der<strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> früher selbst <strong>die</strong>ser Ansicht. Als eraber später belehrt wurde, daß ihm ger<strong>ad</strong>edas Gegenteil von alledem zuträglich sei, sowünschte er nach <strong>die</strong>ser besseren Einsichtdas Gegenteil. Dreimal hatte er den Herrngebeten, daß er ihn von Gefahren befreie; alser aber von ihm <strong>die</strong> Antwort bekommen hatte:„Es genügt dir meine Gn<strong>ad</strong>e; denn <strong>die</strong>Kraft wird in der Schwachheit vollendet“ 229 ,da freute er sich von nun <strong>an</strong> der Verfolgungenund rühmte sich sogar seiner schwerenLeiden. „Ich habe Wo<strong>hl</strong>gefallen“, sagt er, „<strong>an</strong>den Verfolgungen, <strong>an</strong> Schmähungen und Nöten“ 230 . Darum sagt er auch: „Wir wissennicht, um was wir bitten sollen“, undermahnt alle, <strong>die</strong>s dem Hl. Geist zu überlassen.Denn der Hl. Geist trägt gar sehr um unsSorge, und es ist einmal so der Wille Gottes.Nachdem also der Apostel seine Zuhörer in<strong>die</strong>ser Weise ermahnt hat, läßt er <strong>die</strong> heuteverlesene Stelle folgen und bringt da einenGed<strong>an</strong>ken <strong>zum</strong> Ausdruck, der sehr geeignetwar, sie auf<strong>zum</strong>untern. „Denn wir wissen“,spricht er, „daß denen, <strong>die</strong> Gott lieben, allesmitwirkt <strong>zum</strong> Guten.“ Wenn er sagt „alles“,so meint er damit auch das, was nach unseremDafürhalten Unglück ist. Denn magauch Dr<strong>an</strong>gsal, mag Not und Armut, magGef<strong>an</strong>genschaft oder Hunger oder selbst derTod, kurz, mag was immer uns treffen, Gottist mächtig genug, alles das ins Gegenteil zuverw<strong>an</strong>deln. Auch das gehört zu seiner Allmacht,daß er uns das, was uns schwer vorkommt,leicht machen und so fügen k<strong>an</strong>n,daß es uns <strong>zum</strong> Heile wird. Darum sagt der229 2 Kor. 12, 9.230 2 Kor. 12, 10.171Apostel nicht, daß denen, <strong>die</strong> Gott lieben,nichts Sc<strong>hl</strong>immes zustößt, sondern daß esihnen „mitwirkt <strong>zum</strong> Guten“, d. h. daß Gottsich auch <strong>des</strong> Sc<strong>hl</strong>immen be<strong>die</strong>nt, um <strong>die</strong>jenigen,<strong>die</strong> davon betroffen werden, zu verherrlichen.Das ist viel mehr, als wenn er <strong>die</strong>Leiden bloß nicht über sie kommen ließe o-der sie wieder davon befreite, nachdem sieüber sie gekommen sind. So h<strong>an</strong>delte er z. B.mit den Männern im Feuerofen zu Babylon.Er hinderte es nicht, daß sie hineingeworfenwurden, er ließ auch <strong>die</strong> Flammen nichtsogleich erlöschen, als <strong>die</strong> Heiligen hineingeworfenworden waren, sondern er ließ siefortlodern und machte ger<strong>ad</strong>e d<strong>ad</strong>urch jenedrei Bekenner <strong>zum</strong> Gegenst<strong>an</strong>d um so größerenStaunens. Und in dem Leben der Apostelwirkte er solche und ähnliche Wunder fortund fort.Sind ja doch schon Menschen, <strong>die</strong> denGrundsätzen der Vernunft folgen, imst<strong>an</strong>de,<strong>die</strong> natürlichen Verhältnisse gleichsam umzuw<strong>an</strong>deln,so daß sie, obgleich sie m Armutleben, sich wo<strong>hl</strong>er zu fü<strong>hl</strong>en scheinen als <strong>die</strong>Reichen, und bei ihrem ungeachteten Lebenglänzend dastehen; um so viel mehr wirdGott imst<strong>an</strong>de sein, bei denen, <strong>die</strong> ihnlieben, solches und noch viel Größeres zubewerkstelligen. Eines nur ist notwendig,daß m<strong>an</strong> ihn in Wahrheit liebe, d<strong>an</strong>n ergibtsich alles <strong>an</strong>dere von selbst. Und so wie denen,<strong>die</strong> <strong>die</strong>se eine Bedingung erfüllen, auchdas <strong>zum</strong> Vorteil gereicht, was ihnen <strong>zum</strong>Sch<strong>ad</strong>en zu sein scheint, so bringt denen, <strong>die</strong>Gott nicht lieben, auch das Nützliche selbstSch<strong>ad</strong>en. So gereichten den Juden <strong>die</strong> Wunder,<strong>die</strong> Jesus vor ihren Augen wirkte, <strong>die</strong>weisen Lehren, <strong>die</strong> er ihnen vortrug, und <strong>die</strong>Lebensregeln, <strong>die</strong> er ihnen gab, <strong>zum</strong> Verderben.Denn um jener willen n<strong>an</strong>nten sie ihneinen vom Teufel Besessenen, um <strong>die</strong>ser willeneinen Feind Gottes, seiner Wunder wegenaber suchten sie ihm das Leben zu nehmen.Dem Räuber dagegen, der neben dem Herrnam Kreuze hing, mit Nägeln durchbohrt, mitSchmach bedeckt, von unsäglichen Schmer-


zen gefoltert, brachte das alles nicht nur keinenSch<strong>ad</strong>en, sondern er hatte davon dengrößten Gewinn. Siehst du also, wie denen,<strong>die</strong> Gott lieben, alles mitwirkt <strong>zum</strong> Guten?Bisher nun hat der Apostel von <strong>die</strong>sem soüberaus großen Glück gesprochen, das allemensc<strong>hl</strong>iche Vorstellung übersteigt. Weil esaber m<strong>an</strong>chen ger<strong>ad</strong>ezu unglaublich vorkommenkönnte, erweist er seine Glaubwürdigkeitaus Tatsachen der Verg<strong>an</strong>genheit,indem er fortfährt:„Denen, welche ihrem Entsc<strong>hl</strong>uß zufolge berufensind“ 231. — Beachte da, was von der Berufung gesagtist. Warum berief Gott nicht von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>alle Menschen? Warum berief er nicht den<strong>Paulus</strong> selbst gleich mit den <strong>an</strong>deren Aposteln?Scheint ein solcher Aufschub nicht vonNachteil zu sein? Und doch ist durch <strong>die</strong> Tatsachenerwiesen, daß darin ein Vorteil lag. —Von einem „Entsc<strong>hl</strong>uß“ spricht der Apostel,um nicht alles der Berufung zuzu- schreiben. <strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Falle hätten nämlichvoraussichtlich sowo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Heiden als auch<strong>die</strong> Juden widersprochen. Denn wenn <strong>die</strong>Berufung allein genügte, warum sind d<strong>an</strong>nnicht alle Menschen selig geworden? Darumheißt es, daß nicht <strong>die</strong> Berufung allein, sondernauch der Entsc<strong>hl</strong>uß der Berufenen <strong>zum</strong>Heil mitgewirkt hat. Die Berufung legt keinenZw<strong>an</strong>g auf, sie bringt keine Notwendigkeitmit sich. Berufen waren alle, aber nichtalle leisteten der Berufung Folge.V. 29: „Denn <strong>die</strong>jenigen, welche er vorhererk<strong>an</strong>nt,hat er auch vorherbestimmt, gleichgestaltetzu werden dem Bilde seines Sohnes.“— Siehst du da, zu welcher Würde er sie erhebt?Was der eingeborene Sohn Gottes vonNatur aus war, das sind sie — <strong>die</strong> Gottvorhererk<strong>an</strong>nt — durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e geworden.Aber der Ausdruck „gleichgestaltet“231 Das ward πρόθεσιν <strong>des</strong> Schrifttextes ist von mir im Sinne <strong>des</strong> Kommentators,nicht im Sinne <strong>des</strong> Autors übersetzt, weil sonst <strong>die</strong> folgende Erklärung<strong>die</strong>ser Stelle unverständlich wäre. Der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> meint offenbar dengöttlichen Ratsc<strong>hl</strong>uß (πρόθεσις) oder <strong>die</strong> göttliche Vorherbestimmung,nach welcher <strong>die</strong> Berufung stattfindet, während der <strong>hl</strong>. Joh<strong>an</strong>nes Chrysostomusden Entsc<strong>hl</strong>uß <strong>des</strong> Menschen, dem Rufe Gottes zu folgen, darunterversteht.172genügt dem Apostel noch nicht, sondern erfügt noch hinzu:„Damit er der Erstgeborene sei.“Aber auch dabei bleibt er noch nicht stehen,sondern er führt noch einen <strong>an</strong>deren Ged<strong>an</strong>kenein durch den Zusatz: „unter vielen Brüdern“.Damit will der Apostel unsere Verw<strong>an</strong>dtschaftmit Christus in recht helles Lichtstellen. Beachte in<strong>des</strong>, daß das alles vonChristus seiner mensc<strong>hl</strong>ichen Natur nach gilt;seiner göttlichen Natur nach ist er ja der Eingeborene(nicht der Erstgeborene).2.Ersiehst du daraus, welch große Gn<strong>ad</strong>e unsGott erwiesen hat? Gib darum keinen ZweifelnRaum betreffs der Zukunft! — Der Apostelbeweist noch von einer <strong>an</strong>deren Seite her,wie Gott um uns Sorge trägt; er sagt nämlich,daß <strong>die</strong>se hohe Würde schon in Vorbildern<strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong> <strong>zum</strong> Ausdruck gebrachtworden sei. Menschen entnehmen ihre Begriffeden Dingen, <strong>die</strong> sie vor sich haben, Gottdagegen hat das alles längst vorher besc<strong>hl</strong>ossenund schon von Ewigkeit her für uns Sorgegetragen. Darum heißt es:V. 30: „Die er vorhergesehen hat, <strong>die</strong> hat er auchberufen; und <strong>die</strong> er berufen hat, <strong>die</strong> hat er auchgerechtfertigt“— nämlich durch <strong>die</strong> Wiedergeburt im Taufb<strong>ad</strong>e—. „Die er aber gerechtfertigt hat,<strong>die</strong> hat er auch verherrlicht“,indem er über sie <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e ausgoß und siezu Kindern Gottes machte.V. 31: „Was werden wir also hierzu sagen?“Als ob er sagen wollte: So rede mir denn keinermehr von den Gefahren und den Nachstellungen,<strong>die</strong> uns von allen Seiten umgeben.Denn wenn m<strong>an</strong>che auch schon betreffsder Zukunft Bedenken haben möchten, sokönnten sie doch bezüglich der Wo<strong>hl</strong>tatenGottes, <strong>die</strong> er ihnen in der Verg<strong>an</strong>genheitgespendet hat, keinen Einspruch erheben,


daß dich Gott z. B. von Ewigkeit her geliebt,daß er dich gerechtfertigt, daß er dich durch<strong>die</strong> Spendung seiner Gn<strong>ad</strong>e verherrlicht hat.Und alles das hat dir Gott durch Mittel zuteilwerden lassen, <strong>die</strong> scheinbar recht betrübendwaren. Dinge, <strong>die</strong> nach deinem Urteil eineSchmach bedeuten, das Kreuz, <strong>die</strong> Geißelstreiche,<strong>die</strong> Gef<strong>an</strong>genenketten, sind <strong>die</strong> Mittelgewesen, durch welche er <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welterlöst hat. Wie also ihm — das ist der Ged<strong>an</strong>ke<strong>des</strong> Apostels — seine eigenen Leiden,<strong>die</strong> scheinbar ein Unglück waren, das Mittelsein mußten zur Befreiung und Rettung derg<strong>an</strong>zen Menschheit, gera<strong>des</strong>o be<strong>die</strong>nt er sichder Leiden, <strong>die</strong> du zu ertragen hast, zu deinemRuhm und deiner Verherrlichung.„Wenn Gott für uns ist, wer ist wider uns?“— Wer ist nicht gegen uns? will der Apostelsagen. Die g<strong>an</strong>ze Welt ist gegen uns und:Fürsten und Völker, Verw<strong>an</strong>dte und Mitbürger.Und doch können uns alle <strong>die</strong>se Widersacherso wenig einen Sch<strong>ad</strong>en zufügen, daßsie sogar gegen ihren Willen uns den Siegeskr<strong>an</strong>zflechten und uns vielfach nützen müssen,d<strong>an</strong>k der göttlichen Weisheit, <strong>die</strong> ihrefeindlichen Ansc<strong>hl</strong>äge zu unserem Heil undunserer Verherrlichung zu wenden versteht.Siehst du also, wie wahr es ist, daß niem<strong>an</strong>dgegen uns ist? Auch den Job hat Gott ger<strong>ad</strong>ed<strong>ad</strong>urch groß gemacht, daß er den Teufelgegen ihn in <strong>die</strong> Schr<strong>an</strong>ken treten ließ. Dieserbot gegen ihn seine Freunde auf, seine Frau,<strong>die</strong> Wunden <strong>des</strong> Aussatzes, seine Hausgenossenund tausenderlei <strong>an</strong>dere Kunstgriffe;und den- noch war gar nichts gegenihn. Aber darin liegt noch nicht einmal dasGroße, so groß es scheinen mag, sondern etwasnoch viel Größeres lag darin, daß allessogar noch für ihn ausgsing. Es war ebenGott für ihn, und darum mußte alles, auchdas, was gegen ihn zu sein schien, für ihnsein. Dasselbe traf bei den Aposteln zu. Juden,Heiden, falsche Brüder, Fürsten undVölker, Hunger und Armut und tausendDinge waren wider sie, und doch war eigentlichnichts wider sie. Denn ger<strong>ad</strong>e das war es173ja, was ihnen Ehre und Lob eingetragen undsie groß gemacht hat bei Gott und den Menschen.— Bedenke da, welch hohen Vorzug<strong>Paulus</strong> denen zuspricht, <strong>die</strong> dem Herrn imGlauben <strong>an</strong>h<strong>an</strong>gen und in Wahrheit mit ihmgekreuzigt sind, einen Vorzug, den nichteinmal ein gekrönter Fürst haben k<strong>an</strong>n. Denngegen den sind viele; einmal rüsten sich Barbarengegen ihn, d<strong>an</strong>n ziehen Feinde gegenihn zu Felde, d<strong>an</strong>n wieder verschwört sichseine Leibwache gegen ihn, d<strong>an</strong>n sind beständigviele seiner Untert<strong>an</strong>en gegen ihnaufständisch, und so bedrohen ihn hunderterleiGefahren. Gegen den wahren Christendagegen, der getreulich <strong>die</strong> Gebote Gotteserfüllt, vermag niem<strong>an</strong>d aufzukommen, wederein Mensch, noch der Teufel, noch irgendetwas <strong>an</strong>deres. Denn nimmst du ihm seinVermögen, so hast du ihm den Anspruch aufweit größeren Lohn verschafft; verleum<strong>des</strong>tdu ihn, so machst du ihn durch <strong>die</strong> Verunglimpfungvor Gott nur um so ruhmreicher;gibst du ihn dem Hunger preis, so wird seinAnsehen d<strong>ad</strong>urch nur größer und <strong>die</strong> Vergeltungreicher; und fügst du ihm den scheinbarsc<strong>hl</strong>immsten Sch<strong>ad</strong>en zu, über<strong>an</strong>twortest duihn dem Tode, so hast du <strong>die</strong> Krone <strong>des</strong> Martyriumsum sein Haupt geflochten. Wo gibtes ein Leben, so glücklich wie <strong>die</strong>ses, wonichts gegen den Menschen sein k<strong>an</strong>n, sondernwo auch selbst <strong>die</strong>, welche ihm übelwollen, ihm nicht weniger <strong>zum</strong> Nutzen sindals <strong>die</strong>, welche ihm wo<strong>hl</strong>wollen? Das meintder Apostel, wenn er sagt: „Wenn Gott füruns ist, wer ist d<strong>an</strong>n wider uns?“Aber dem Apostel war noch nicht genug, was ergesagt hatte; er bringt den größten Beweis derLiebe Gottes zu uns Menschen vor, auf den erimmer und immer wieder zurückzukommenpflegt, nämlich den Opfer- tod seines Sohnes.Nicht bloß gerechtfertigt hat er uns, will ersagen, nicht bloß (durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e) verherrlicht,nicht bloß dem Bilde seines Sohnes ähnlich gemacht,sondern er hat selbst seines Sohnes nichtgeschont unsertwegen. Darum fährt er fort:


V. 32: „Der selbst seines eigenen Sohnes nichtgeschont, sondern ihn für uns alle hingegebenhat: wie sollte er nicht auch mit ihm uns allesschenken?“— Mit starker Betonung und großer Wärmeweist der Apostel in <strong>die</strong>sen Worten auf <strong>die</strong>Liebe Gottes hin. Wie sollte uns Gott je verlassen,für <strong>die</strong> er seines Sohnes nicht geschont,sondern ihn dahingegeben hat? —Erwäge doch, was für eine Güte darin liegt,<strong>des</strong> eigenen Sohnes nicht zu schonen, sondernihn dahinzugehen, und zwar für alledahinzugehen, für Menschen ohne Wert, fürUnd<strong>an</strong>kbare, für Feinde, für solche sogar, <strong>die</strong>Gott lästern! —„Wie sollte er nicht auch mit ihm uns allesschenken?“ — Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist der:Wenn er uns seinen Sohn geschenkt hat undnicht allein geschenkt, sondern in den Toddahingegeben hat, wie k<strong>an</strong>nst du noch Zweifelhaben rücksichtlich <strong>an</strong>derer Dinge, da duden Herrn aller Dinge hast? Wie k<strong>an</strong>nst dunoch wegen deines Vermögens Besorgnissehaben, da du ja doch den Eigentümer allerDinge besitzest. Wenn er uns das Größeregeschenkt hat, als wir seine Feinde waren,wie sollte er uns das Niedere nicht schenken,nachdem wir seine Freunde geworden sind?V. 33: „Wer wird Anklage erheben gegen <strong>die</strong>,welche Gott ausgewä<strong>hl</strong>t?“3.Hier wendet sich der Apostel gegen <strong>die</strong>, welchesagen, der Glaube bringe keinen Nutzen,und nicht glauben wollen, daß eine so plötzlicheBekehrung (wie bei den <strong>zum</strong> ChristentumBekehrten) stattfinden könne. Beachteda, wie rasch der Apostel sie <strong>zum</strong> Schweigenbringt, indem er auf <strong>die</strong> hohe Würde <strong>des</strong>senhinweist, von dem <strong>die</strong> Berufung ausgeht. Ersagt nicht: Wer wird Anklage erheben gegen<strong>die</strong> Diener Gottes oder gegen <strong>die</strong>, welche <strong>an</strong>Gott glauben, sondern „gegen <strong>die</strong>, welche Gott ausgewä<strong>hl</strong>t hat“. Die Tatsacheder Auserwä<strong>hl</strong>ung selbst ist ein Beweisseiner Tugend. Wenn ein tüchtiger StallmeisterFüllen als geeignet <strong>zum</strong> schnellen Laufausmustert, so wird niem<strong>an</strong>d gegen eine solcheAuswa<strong>hl</strong> Einspruch erheben können, jaer würde sich lächerlich machen, wenn er siebekritteln wollte. Um so mehr machen sich<strong>die</strong>jenigen lächerlich, <strong>die</strong> eine Wa<strong>hl</strong> bekrittelnwollen, <strong>die</strong> Gott unter den Seelen getroffenhat.„Gott ist es, der sie rechtfertigt.“V. 34: „Wer ist, der sie verdammen wollte?“— Der Apostel sagt nicht: Gott ist es, der ihnenihre Sünden nac<strong>hl</strong>äßt, sondern, was vielmehr bedeutet: „Gott ist es, der sie rechtfertigt.“Denn wenn jem<strong>an</strong>d durch den Spruch<strong>des</strong> Richters, und eines solchen Richters, fürgerecht erklärt wird, welchen Glauben ver<strong>die</strong>ntda ein Ankläger? Demnach haben wirweder <strong>die</strong> Trübsale zu fürchten, denn Gott istmit uns; er hat es bewiesen durch das, was erget<strong>an</strong> hat; noch auch das Gerede der Juden;denn Gatt hat uns ausgewä<strong>hl</strong>t und gerechtfertigt,und was das Staunenswerte dabei ist,er hat uns gerechtfertigt durch den Opfertodseines Sohnes. Wer wird uns also verdammen,wo Gott uns den Siegeslorbeer reicht,wo Christus für uns geopfert worden ist undzu alledem auch noch für uns Fürbitte einlegt.—„Christus“ , so fährt der Apostel fort, „ist füruns gestorben, mehr noch, er ist auferst<strong>an</strong>den, erist zur Rechten Gottes, er selbst legt Fürbitte einfür uns.“— Auch jetzt, nachdem er wieder heimgeg<strong>an</strong>genist in seine Herrlichkeit, hat er nichtaufgehört, um uns Sorge zu tragen, sonderner legt Fürsprache ein für uns und behält fortund fort <strong>die</strong>selbe Liebe zu uns. Den Opfertodfür uns zu sterben, war ihm nicht genug. Dergrößte Beweis der Freundschaft ist es, nichtbloß selbst mit Freuden alles zu tun für denFreund, sondern auch noch <strong>die</strong> Hilfe eines<strong>an</strong>dern für ihn in Anspruch zu nehmen.Denn das ist es, was der Apostel durch das


Wort „er legt Fürbitte ein“ <strong>zum</strong> Ausdruckbringen wollte. Der Apostel be<strong>die</strong>nt sich da,um uns <strong>die</strong> Liebe <strong>des</strong> Herrn recht <strong>an</strong>schaulichzu machen, einer Redeweise, <strong>die</strong> von mensc<strong>hl</strong>ichen Verhältnissen hergenommenist und darum der Hoheit Christi nichtg<strong>an</strong>z <strong>an</strong>gemessen sein k<strong>an</strong>n. Mit derselbenEinschränkung müssen auch <strong>die</strong> oben gebrauchtenWorte „Gott schonte seines Sohnesnicht“ verst<strong>an</strong>den werden, wenn sie nicht zueiner widersinnigen Folgerung Ver<strong>an</strong>lassunggeben sollen. Um dich <strong>die</strong>se seine Absichterkennen zu lassen, hat der Apostel vorausgeschickt,daß der Fürbitter „zur RechtenGottes ist“; d<strong>an</strong>n läßt er erst den Satz folgen:„Er legt Fürbitte ein“. Durch den ersterenSatz hat er <strong>die</strong> vollkommene Gleichheit (<strong>des</strong>Sohnes mit dem Vater) <strong>zum</strong> Ausdruck gebracht,um d<strong>ad</strong>urch zu vermeiden, daß m<strong>an</strong>aus dem „Fürbitte einlegen“ auf eine mindereWürde <strong>des</strong> Sohnes sc<strong>hl</strong>ieße, sondern daßm<strong>an</strong> darin einzig und allein einen Beweisseiner Liebe erblicke. Denn der, welcher dasLeben aus sich hat und <strong>die</strong> Quelle alles Gutenist, der <strong>des</strong>selben Wesens ist wie der Vater,der Tote auferweckt, der selbst Lebenspendet und alles <strong>an</strong>dere wirkt wie der Vater:wie sollte der der Vermittlung eines <strong>an</strong>derenbedürfen, um uns zu helfen? Wie sollteer, der uns, Verlorene, und Verurteilte, auseigener Macht sowo<strong>hl</strong> von dem Schuldspruchebefreit als auch gerechtfertigt und zuKindern Gottes gemacht hat, der uns zuhimmlischen Ehren empor geführt und dasverwirklicht hat, was sich nie jem<strong>an</strong>d zu hoffengetraute: wie sollte der, frage ich, nachdemer das alles vollbracht und unseremensc<strong>hl</strong>iche Natur auf den königlichenThron erhoben hat, wie sollte der für leichtereDinge eine Fürbitte nötig haben? Siehst dunun, wie aus alledem hervorgeht, daß derApostel mit dem Ausdrucke „er legt Fürbitteein“ nichts <strong>an</strong>deres wollte, als ver<strong>an</strong>schaulichen,wie heiß und kräftig <strong>die</strong> Liebe <strong>des</strong> Erlöserszu uns ist? Auch vom Vater heißt es ja,daß er <strong>die</strong> Menschen ruft, um sie mit sich zu175versöhnen: „An Christi Statt sind wir ges<strong>an</strong>dt,als ob Gott selbst durch uns ermahnte“232 . Aber wenn auch Gott ermahnt undwenn auch Menschen <strong>an</strong> Christi Statt zuMenschen ges<strong>an</strong>dt werden, so erblicken wirdarin nichts, was der göttlichen Hoheit unwürdigwäre, sondern wir lesen aus allen<strong>die</strong>sen Redewendungen nur das eine heraus: das Übermaß der göttlichen Liebe.Und so auch hier.Wenn also der Hl. Geist für uns fürbittet mitunaussprec<strong>hl</strong>ichen Seufzern, wenn Christusfür uns gestorben ist und Fürsprache einlegt,wenn der Vater seines eigenen Sohnes nichtgeschont hat unsertwegen, wenn er uns ausgewä<strong>hl</strong>tund gerechtfertigt hat, was hast duda weiter noch zu fürchten? Was zagst du, d<strong>ad</strong>u so große Liebe und solche Fürsorge genießest?— Nachdem der Apostel auf <strong>die</strong> Fülle<strong>die</strong>ser göttlichen Fürsorge hingewiesenhat, setzt er <strong>die</strong> weitere Rede mit großer Zuversichtfort. Er sagt nicht einfach: So müßtdenn auch ihr Gott lieben, sondern, hingerissenvon so unaussprec<strong>hl</strong>icher Liebe, ruft eraus:V. 35: „Was also wird uns scheiden von der LiebeChristi?“— Nicht von der Liebe „Gottes“ sagt er; derName Christus und Gott bedeutet für ihnkeinen Unterschied. —„Trübsal oder Bedrängnis oder Hunger oder Blößeoder Gefahr oder Verfolgung?“— Beachte da, wie überlegt der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>seine Worte gewä<strong>hl</strong>t hat. Er führt nicht Leidenschaften<strong>an</strong>, von denen wir täglich überwundenwerden, <strong>die</strong> Liebe <strong>zum</strong> Geld, <strong>die</strong>Begierde nach Ruhm, den Tyr<strong>an</strong>nen Zorn,sondern er nennt Übel, <strong>die</strong> uns noch vielmehr Gewalt <strong>an</strong>tun als <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> imst<strong>an</strong><strong>des</strong>ind, unsere Natur zu bezwingen und, ohnedaß wir es wollen, oft <strong>die</strong> festeste Treuew<strong>an</strong>kend machen, <strong>die</strong> führt er <strong>an</strong>: Trübsaleund Bedrängnisse. Aufgezä<strong>hl</strong>t sind sie jaleicht, aber je<strong>des</strong> einzelne Wort besagt un-232 2 Kor, 5, 20.


zä<strong>hl</strong>ige schwere Kämpfe. Denn wenn er sagt„Trübsal“, so umfaßt das auch Kerker undfalsche Anklagen und alle übrigen Dr<strong>an</strong>gsale.Mit <strong>die</strong>sem einen Wort durchquert er eing<strong>an</strong>zes Meer von Gefahren und sc<strong>hl</strong>ießt in<strong>die</strong>ses eine Wort jene g<strong>an</strong>ze endlose Scharvon Leiden, <strong>die</strong> Menschen treffen können.Und doch, ihnen allen bietet er Trotz. Darumwendet er <strong>die</strong> Form der (rhetorischen) Frage<strong>an</strong>. Er will es d<strong>ad</strong>urch als unwidersprochenhinstellen, daß den Menschen, der so vonGott geliebt wird und sich einer sol- chen Fürsorge von seiner Seite erfreut,nichts von ihm scheiden k<strong>an</strong>n.4.Damit es aber nicht den Anschein habe, alswären wir in solchen Dr<strong>an</strong>gsalen verlassen,führt der Apostel den Propheten <strong>an</strong>, der vorl<strong>an</strong>ger Zeit <strong>die</strong>se Dr<strong>an</strong>gsale vorausgesagt hat,wenn er spricht:V. 36: „Um deinetwillen leiden wir den Tod deng<strong>an</strong>zen Tag, sind wir erachtet gleich Sc<strong>hl</strong>achtschafen“,d. h. sind wir aller Welt <strong>zum</strong> Leiden preisgegeben.Und doch, in allen <strong>die</strong>sen so großenDr<strong>an</strong>gsalen, in <strong>die</strong>sen traurigen Schauspielender Gegenwart ist uns der Ged<strong>an</strong>ke, warumwir leiden, genügender Trost; ja nicht alleingenügender Trost, sondern noch mehr alsdas. Denn <strong>die</strong> <strong>an</strong>geführte Stelle sagt ja, daßwir nicht für Menschen und auch nicht fürirgendeinen irdischen Zweck das leiden,sondern für den, welcher der König allerDinge ist. — Aber nicht allein Trost spendetihnen der Apostel, sondern er umwindet ihreStirne auch noch mit einem bunten, prächtigenSiegeskr<strong>an</strong>ze. Weil wir nämlich als Menschennicht fähig sind, mehrmals den Tod zuerleiden, so weist er uns nach, daß nicht einmal<strong>des</strong>wegen unser Siegespreis geschmälertwird. Denn wenn es uns auch von der Naturnur einmal zu sterben beschieden ist, so hat176es doch Gott möglich gemacht, daß wir denTod durch einen Akt unseres Willens täglicherleiden können, wenn wir wollen. Darausfolgt, daß wir so viele Siegeskronen erringenkönnen, als wir Tage leben; ja eigentlich nochviel mehr. Es ist nämlich möglich, <strong>an</strong> einemTage einmal und zweimal und öfter zu sterben.Wer dazu immer bereit ist, der k<strong>an</strong>n je<strong>des</strong>maldenselben Lohn empf<strong>an</strong>gen. Das e-ben deutet der Prophet <strong>an</strong>, wenn er spricht:„Den g<strong>an</strong>zen Tag“ (nicht: jeden Tag). DerApostel führt den Propheten auch <strong>des</strong>wegen<strong>an</strong>, weil seine Worte für <strong>die</strong> Christen überausaufmunternd sind. Jene, will er sagen, <strong>die</strong> imAlten Bunde lebten, hatten nur ein L<strong>an</strong>d fürihre Mühen zu erwarten und <strong>an</strong>dere Dinge,<strong>die</strong> mit dem gegenwärtigen Leben zu Endegehen; und doch galt ihnen das Leben fürnichts, und sie fürchteten weder Trübsalenoch Gefah- ren; welche Entschuldigungver<strong>die</strong>nen wir ihnen gegenüber, wennwir trotz der Verheißung <strong>des</strong> Himmels, derHerrschaft dort oben und unaussprec<strong>hl</strong>icherSeligkeit doch so mattherzig sind und esnicht einmal so weit bringen wie jene? DiesenGed<strong>an</strong>ken spricht freilich der Apostel nichtaus, sondern er überläßt den Zuhörern,durch eigenes Nachsinnen darauf zu kommen.Er begnügt sich damit, <strong>die</strong> Beweisstelleaus dem Propheten <strong>an</strong>zuführen. Durch <strong>die</strong>seweist er sie darauf hin, daß auch sie ihre Leiber<strong>zum</strong> Opfer bringen müßten, daß m<strong>an</strong>darüber nicht erschrecken und sich entsetzendürfe, wenn es etwa Gott so fügen sollte.D<strong>an</strong>n gibt er <strong>die</strong>ser Mahnung noch eine <strong>an</strong>dereWendung. Damit nämlich niem<strong>an</strong>d sagenkönne, das sei ja eine g<strong>an</strong>z schöne Lebensweisheit,aber es fe<strong>hl</strong>e ihr <strong>die</strong> Erprobungdurch <strong>die</strong> Tatsachen, fährt er fort: „Wir sinderachtet worden gleich Sc<strong>hl</strong>achtschafen“; ermeint damit <strong>die</strong> Apostel, <strong>die</strong> dem täglichenTod ausgesetzt waren. Siehst du hier m<strong>an</strong>nhaftenMut und zugleich geduldige Ergebung?Wie das Schaf, das <strong>zum</strong> Sc<strong>hl</strong>achtengeführt wird, keinen Widerst<strong>an</strong>d leistet, alsoauch wir.


Weil aber das Menschenherz, schwach wie esist, bei der überaus großen Menge vonKämpfen auch nach alledem noch zagt, sobetrachte, wie der Apostel den Zuhörernochmals aufrichtet und ihm Mut und Siegesgewißheitzuspricht:V. 37: „Aber in allem dem tragen wir den Siegdavon, und mehr als das, durch den, welcher unsliebt.“— Das ist das Wunderbare dabei, daß wirnicht bloß den Sieg davontragen, sonderndaß wir mit Hilfe unserer Verfolger siegen; j<strong>ad</strong>aß wir nicht einfach siegen, sondern mehrals siegen, d. h. mit Leichtigkeit ohne alleAnstrengung und Mühe. Wir brauchen unsnämlich nicht einmal wirklicher Arbeit zuunterziehen, sondern wenn wir nur denEntsc<strong>hl</strong>uß fassen, zu kämpfen, so triumphierenwir schon allenthalben über <strong>die</strong> Feinde.Und das ist g<strong>an</strong>z natürlich; Gott ist ja unserKampfgenosse. Darum darfst du es nicht unglaublichfinden, wenn wir unter Geißelstreichenüber <strong>die</strong>, welche sie uns versetzen, triumphieren;wenn wir, <strong>des</strong> L<strong>an</strong><strong>des</strong> verwie- sen, mehr Macht ausüben als <strong>die</strong>, welcheuns verb<strong>an</strong>nen; wenn wir sterbend den Siegdavontragen über <strong>die</strong> Lebenden. Wenn du<strong>die</strong> Macht und <strong>die</strong> Liebe Gottes in Rechnungziehst, wird dir ein so glänzend siegreicherAusg<strong>an</strong>g nicht mehr so gar wunderbar undgegen alle Erwartung vorkommen. Denn daswar nicht ein einfacher, gewöhnlicher Sieg,den <strong>die</strong> Apostel davontrugen, sondern einbewundernswerter, so daß sie selbst es erkennenmußten, daß ihre Verfolger nicht gegenMenschen kämpften, sondern gegen einegeheimnisvolle, unüberwindliche Macht.Schau nur, wie <strong>die</strong> Juden, als <strong>die</strong> Apostel inihrer Mitte st<strong>an</strong>den, in Verlegenheit warenund sprachen: „Was sollen wir machen mit<strong>die</strong>sen Menschen?“ 233 Es ist doch seltsam,daß sie, obwo<strong>hl</strong> sie <strong>die</strong>selben in ihrer Gewalthatten, ihnen Fesseln <strong>an</strong>legten, sie mit Rutenpeitschten, doch rat- und hilflos dast<strong>an</strong>den233 Apg. 4, 16.177und von eben denen besiegt wurden, <strong>die</strong> siezu besiegen hofften. Weder Gewaltherrschernoch Henker, weder Scharen böser Geisternoch der Fürst der Hölle selbst waren imst<strong>an</strong>de,ihrer Herr zu werden; sie alle trugeneine volle Niederlage davon und mußtensehen, daß alles fe<strong>hl</strong>sc<strong>hl</strong>ug, was sie gegen sieunternahmen. Darum sagt der Apostel mitRecht: „wir tragen den Sieg davon, und mehrals das“. Fürwahr, das war eine neue Art zusiegen, daß sie ger<strong>ad</strong>e durch das siegten, wasgegen sie gemünzt war, und niemals unterlagen,sondern immer <strong>des</strong> guten Ausg<strong>an</strong>gessicher in den Kampf gingen.V. 38: „Denn ich bin sicher, daß weder Tod nochLeben, weder Engel noch Herrschaften noch Gewalten,weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges“,V. 39: „weder Höhe noch Tiefe, noch irgend <strong>an</strong>deresErschaffene uns wird scheiden können von derLiebe Gottes, <strong>die</strong> da ist in Christus Jesus, unseremHerrn.“5.Ein großes Wort! Aber wir verstehen es nicht,weil wir nicht <strong>die</strong>selbe Liebe haben wie <strong>Paulus</strong>.Und dennoch, so groß es ist, will derApostel zeigen, daß es nichts ist der Liebegegenüber, mit welcher Gott uns umfängt; darum spricht der Apostel eserst aus, nachdem er <strong>die</strong> Liebe Gottes zu ihmgeschildert hat, damit es nicht den Anscheinhabe, als überhebe er sich. Der Sinn <strong>die</strong>serWorte ist folgender: Was ist es nötig, vonzeitlichen Dr<strong>an</strong>gsalen zu reden, von Leiden,<strong>die</strong> das Los <strong>die</strong>ses Lebens sind? Wenn mireiner von den gewaltigen Wesen <strong>des</strong> Jenseitsredete, von Tod und Leben, von Engeln undErzengeln, von der g<strong>an</strong>zen jenseitigen Welt,das alles kommt mir gering vor im Vergleichzur Liebe Christi. Wenn mir auch jem<strong>an</strong>d mitdem Tode im Jenseits drohte, der niemalsstirbt, um mich abwendig zu machen vonChristus, wenn mir jem<strong>an</strong>d nie enden<strong>des</strong>


Leben in Aussicht stellte, ich würde aucheinen solchen Antrag zurückweisen. Garnicht zu reden von irdischen Königen undKonsuln, von dem oder jenem Gewaltigen. Jawenn du mir auch von Engeln sprichst, vonallen himmlischen Mächten, von allem, wasjetzt ist und was sein wird, so erscheint mirdas alles klein und unbedeutend, alles aufder Erde und im Himmel und unter der Erdeund über dem Himmel, im Vergleich zu jenerLiebe. Und als ob das noch nicht genug wäre,<strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> ihn beseelte, auszudrücken,geht er noch über das Gesagte hinaus undfügt hinzu: „Noch irgend <strong>an</strong>deres Erschaffene“;das heißt: Selbst wenn es noch eine <strong>an</strong>dereWelt gäbe, so groß wie <strong>die</strong> sichtbareund so herrlich wie <strong>die</strong> Geisterwelt, auch siekönnte mich von jener Liebe nicht abwendigmachen. Das sagte er nicht, als ob <strong>die</strong> Engeloder <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern seligen Geister je einen Versuch<strong>die</strong>ser Art machen würden, nein, sonderner wollte nur das Übermaß der Liebeausdrücken, <strong>die</strong> er zu Christus hätte. Er liebtenämlich Christus nicht wegen der von ihmzu erwartenden Gaben, sondern er liebte <strong>die</strong>sewegen Christus, und nur eines schwebteihm als etwas Entsetzliches vor Augen, nureines fürchtete er, nämlich, daß er seine Liebeverlieren könnte. Das war ihm entsetzlicherals <strong>die</strong> Hölle selbst, wie <strong>an</strong>dererseits dasVerbleiben in <strong>die</strong>ser Liebe ihm begehrenswertervorkam als das Himmelreich selbst.O, was ist d<strong>an</strong>n von uns zu halten! Der <strong>hl</strong>.<strong>Paulus</strong> legt im Vergleich zu der Liebe Christinicht einmal auf den Himmel einen Wert,und wir ziehen <strong>die</strong>se Welt aus Kotund Lehm Christus vor? Der Apostel war um<strong>die</strong>ser Liebe willen bereit, wenn es hätte sein,müssen, sogar der Hölle <strong>an</strong>heimzufallen und<strong>des</strong> Himmels verlustig zu gehen, und wirachten nicht einmal <strong>die</strong>ses kurze Erdenlebengering? Sind wir also auch nur würdig, ihm<strong>die</strong> Schuhriemen aufzulösen, da wir <strong>an</strong>Hochherzigkeit so weit hinter ihm zurückstehen?Er achtet im Vergleich zu Christusnicht einmal das Himmelreich für etwas, wir178dagegen achten Christus selbst gering undlegen nur dem einen Wert bei, was er uns zuschenken hat. Und wollte Gott, wir schätztennur das! Aber dem ist gar nicht so; er hat unsden Himmel in Aussicht gestellt, aber wirlassen ihn fahren und laufen den g<strong>an</strong>zen Tagnur Schattenbildern und Träumen nach. Dabeiverfährt Gott in seiner Liebe und L<strong>an</strong>gmutso mit uns wie ein Vater, der sein Kindlieb hat, mit <strong>die</strong>sem, wenn es <strong>des</strong> fortwährendenUmg<strong>an</strong>ges mit ihm müde gewordenist; er wendet einen <strong>an</strong>deren Kunstgriff <strong>an</strong>.Nachdem wir nicht jene Liebe gegen ihn haben,wie sie ihm gebührt, legt er uns eineMenge <strong>an</strong>derer Dinge vor, um uns <strong>an</strong> sich zufesseln. Und dennoch harren wir nicht beiihm aus, sondern springen zurück zu unserenKinderspielen. Nicht so der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>;sondern wie ein braver, edler und liebevollerSohn sucht er einzig und allein das Beisammenseinmit seinem Vater und setzt dem alles<strong>an</strong>dere nach. Eigentlich, er tut noch mehrals ein solcher Sohn. Er schätzt den Vaternicht bloß so hoch ein wie das, was er vonihm hat, sondern wenn für ihn sein Vater inBetracht kommt, achtet er das letztere fürnichts und möchte lieber in Qual und Not <strong>an</strong>seiner Seite leben als getrennt von ihm eingemäc<strong>hl</strong>iches Leben führen.6.Entsetzen fürwahr sollte uns darum alle fassen,<strong>die</strong> wir nicht einmal um Gottes willendas Geld gering achten, oder besser gesagt,<strong>die</strong> wir nicht einmal um unserer selbst willendas Geld gering achten. <strong>Paulus</strong> erduldetem<strong>an</strong>nhaft alles um Christi willen, nicht um<strong>des</strong> Himmelreiches willen, nicht seiner eigenenEhre wegen, sondern einzig aus Liebe zuihm. Uns dagegen vermag weder Christusnoch das, was er uns zu geben hat,von den irdischen Dingen loszureißen, sondernwie Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>gen, Vipern und Schweine


und derlei Gezücht wälzen wir uns imSc<strong>hl</strong>amm. Ja fürwahr, was haben wir vorausvor jenen Tieren, wenn wir trotz so herrlicherBeispiele immer noch den Blick nach untengesenkt halten und es nicht über uns gewinnen,nur ein wenig <strong>zum</strong> Himmel aufzuschauen,Gott hat seinen Sohn für dich dahingegeben,und du gibst ihm nicht einmalein Stück Brot, ihm, der sich für dich dahingegeben,für dich geopfert hat! Deinetwegenhat der Vater seiner nicht geschont — und erwar in Wahrheit sein Sohn; du aber siehst ihnvergehen vor Hunger und bleibst kalt. Unddoch will er nur, daß du ihm etwas von demgibst, was sein Eigentum ist, daß du es ihmum deiner selbst willen gibst. Was k<strong>an</strong>n esSc<strong>hl</strong>immeres geben als solche Verkehrtheit?Deinetwegen ist er hingegeben, deinetwegengeopfert worden, deinetwegen irrt er hungerndumher; du sollst ihm etwas geben vondem, was ihm gehört, um selbst Nutzen davonzu haben, und du gibst ihm nichts! Müssendenn das nicht Menschen sein, gefü<strong>hl</strong>loserals Steine, <strong>die</strong> solcher Tatsachen ungeachtetbei ihrer teuflischen Hartherzigkeit verharren?Ach, dem Herrn war es nicht genug,den Tod am Kreuze zu leiden; er wollte auchnoch arm werden und ein Fremdling undheimatlos und nackt, er wollte in den Kerkergeworfen werden und Kr<strong>an</strong>kheit ertragen,um dich vielleicht wenigstens so zu gewinnen.Wenn du mir schon keinen D<strong>an</strong>k weißt,daß ich für dich gelitten habe, so habe wenigstensErbarmen mit meiner Armut. Undwenn du kein Mitleid haben willst mit meinerArmut, so laß dich doch durch meineKr<strong>an</strong>kheit rühren, laß dich erweichen durchmeine Gef<strong>an</strong>genschaft. Und wenn dich auchdas nicht menschenfreundlich stimmt, sobedenke doch das geringe Maß der Forderung.Es ist nichts Großes, was ich verl<strong>an</strong>ge,nur ein Stückchen Brot, ein Obdach, ein paarWorte <strong>des</strong> Trostes! Und bleibst du da nochungerührt, so sei doch gut tun <strong>des</strong> Himmelreiches,um der Belohnung willen, <strong>die</strong> ich dirverspreche. Auch darauf nimmst du keine179Rücksicht? So laß dich erweichen durch denGed<strong>an</strong>ken <strong>an</strong> <strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>iche Natur (<strong>die</strong> ichmit dir gemeinsam habe), wenn du michnackt siehst, und erinnere dich jenerNacktheit, <strong>die</strong> ich für dich am Kreuze hängendertrug; und wenn du auch das nichtwillst, so wenigstens der Blöße, <strong>die</strong> ich jetztin der Person der Armen leide. Ich litt damalsbittere Not für dich, ich erleide sie auch jetztfür dich, um dich auf <strong>die</strong> eine oder <strong>an</strong>dereWeise <strong>zum</strong> Mitleid zu bewegen. Ich fasteteeinst für dich, nun hungere ich wieder fürdich. Am Kreuze hängend litt ich Durst fürdich, jetzt dürste ich in der Person der Armen,um dich durch das eine wie durch das<strong>an</strong>dere <strong>an</strong> mich zu ziehen und dich zur Liebezu bewegen zu deinem eigenen Heil. Du bistmir zwar tausendfache Vergeltung schuldigfür meine Wo<strong>hl</strong>taten, aber ich fordere sienicht von dir wie von einem Schuldner, sondernich lohne sie dir wie eine mir freiwilliggereichte Gabe und schenke dir das Himmelreichals Gegenwert für <strong>die</strong>se kleinen Dinge.Ich sage ja nicht: Mach meiner Armut einEnde; auch nicht: Schenk mir Reichtum, obzwarich deinetwegen arm geworden bin,sondern was ich verl<strong>an</strong>ge, ist nichts als einStücklein Brot, ein Kleidungsstück, eine kleineErquickung in meinem Hunger. Undwenn ich im Kerker liege, verl<strong>an</strong>ge ich j<strong>an</strong>icht, daß du meine Ketten lösest und michbefreiest, sondern ich verl<strong>an</strong>ge nur eines, daßdu mich, der ich für dich gefesselt bin, <strong>an</strong>sehenkommest; das ist mir genug Liebe, undbloß dafür schenke ich dir den Himmel. Ichhabe dich freilich aus den schwersten Fesselnbefreit, aber ich bin damit zufrieden, wenndu mich nur im Gefängnis besuchen wolltest.Wo<strong>hl</strong> könnte ich dir ohne alles das <strong>die</strong> himmlischeKrone geben, aber ich will sie dirschuldig sein, damit du sie mit einer ArtSelbstbewußtsein tragest. Eben aus <strong>die</strong>semGrunde, obgleich ich mich selbst ernährenkönnte, gehe ich als Bettler herum, stellemich <strong>an</strong> <strong>die</strong> Türen und strecke <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d aus.Ich möchte aber so gern von dir gespeist


werden; denn ich liebe dich gar zu sehr. Darumkomme ich auch gerne zu dir zu Tisch,wie es so unter Freunden Brauch ist, und binstolz darauf. Und einst auf jener Bühne, aufder <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheit <strong>an</strong>wesend seinwird, werde ich es laut verkünden, daß esalle hören, und ich werde auf dich hinweisenals auf meinen Ernährer. Wenn wir von jem<strong>an</strong>demNahrung bekom- men, soschämen wir uns und suchen es geheim zuhalten; der Sohn dagegen, weil er uns so sehrliebt, verkündet einst, ob auch wir schweigen,was wir ihm get<strong>an</strong> haben, laut vor allerWelt unter vielen Lobsprüchen und schämtsich nicht zu sagen, daß wir ihn in seinerNacktheit bekleidet und in seinem Hungergespeist haben… 234Das alles wollen wir uns zu Gemüte führenund nicht bei bloßen Beifallsbezeugungenstehen bleiben, sondern das Gesagte auch inTat umsetzen. Denn was hilft euer Händeklatschenund Beifallrufen? Nur eines verl<strong>an</strong>geich von euch, daß ihr durch Taten denBeweis (für euer Ergriffensein durch meineWorte) liefert, daß ihr in eurem H<strong>an</strong>delnmeinen Ermahnungen Folge leistet. Das istfür mich das schönste Lob, für euch wahrerGewinn, das bringt mir mehr Ehre als eineKönigskrone. So geht denn hin und flechteteuch und mir einen solchen Kr<strong>an</strong>z durch <strong>die</strong>H<strong>an</strong>d der Armen, damit wir in <strong>die</strong>sem Lebenfrohe Hoffnung haben, und wenn wir einsthinübergehen ins <strong>an</strong>dere Leben, der ewigenGüter in ihrer g<strong>an</strong>zen Fülle teilhaftig werden.Mögen <strong>die</strong>se uns allen zuteil werden durch<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres Herrn JesusChristus, mit welchem dem Vater zugleichmit dem Hl. Geiste sei Ruhm, Herrlichkeitund Ehre jetzt und allezeit bis in alle Ewigkeit.Amen. 234 Aus dem folgenden ist zu ersehen, daß sich nach <strong>die</strong>sen Worten einlautes Beifallsklatschen der Zuhörerschaft erhob, ein damaliger Brauch,den wir vielfach in der altchristlichen Literatur bezeugt finden. Vgl. J.Zellinger, Der Beifall in der altchristl. Predigt. Festgabe für Alois Knöpfler,Freiburg i. B. 1917).180SIEBZEHNTE HOMILIE. Kap. IX, V.1—33.1.Kap. IX, V. 1—33.V. 1: „Ich sage <strong>die</strong> Wahrheit, bei Christus, undlüge nicht; zugleich bezeugt es mir mein Gewissen,beim Hl. Geiste.“Habt ihr nicht das Empfinden gehabt, daß icheuch in meinem letzten Vortrage Großes, ja<strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>iche Natur ger<strong>ad</strong>ezu Übersteigen<strong>des</strong>von der Liebe <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> zuChristus gesagt habe? Und in der Tat, es warenihrer Natur nach große Dinge, <strong>die</strong> sichkaum in mensc<strong>hl</strong>iche Worte fassen lassen.Und doch überragt <strong>die</strong> Stelle, <strong>die</strong> ich heutezu beh<strong>an</strong>deln habe, <strong>die</strong> vorausgehende nochbei weitem, so viel wie das Wort <strong>des</strong> Apostelsmein eigenes. Ich hätte es neulich nichtfür möglich gehalten, daß etwas noch Erhabenereskommen könnte; doch <strong>die</strong> Stelle, <strong>die</strong>ich euch soeben vorgelesen habe, kommt mirnoch viel großartiger vor als alles Vorausgeg<strong>an</strong>gene.Dessen war sich auch der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>bewußt, und er bringt <strong>die</strong>s in der Einleitung<strong>die</strong>ses Abschnittes <strong>zum</strong> Ausdruck. Wie jem<strong>an</strong>d,der im Begriffe steht, etwas g<strong>an</strong>z Außerordentlicheszu sagen, und bei vielen seinerZuhörer auf Unglauben zu stoßen fürchtet,beteuert er im voraus <strong>die</strong> Wahrheit <strong>des</strong>sen,was er sagen will. So pflegt m<strong>an</strong> es <strong>zum</strong>achen, wenn m<strong>an</strong> etwas sagen will, wasm<strong>an</strong>chen unglaublich vorkommen könnte,wovon m<strong>an</strong> aber selbst voll überzeugt ist.„Ich sage <strong>die</strong> Wahrheit“, spricht er, „beiChristus und lüge nicht; zugleich bezeugt esmir mein Gewissen“,V. 2: „daß ich große Trauer und unaufhörlichenKummer in meinem Herzen trage.“V. 3: „Ich wünschte, selbst <strong>an</strong>athema zu sein vonChristus weg.“— Was sagst du, <strong>Paulus</strong>? Von Christus, dendu so sehr liebst, von dem dich (wie du sagtest)weder Himmel noch Hölle, weder


Sichtbares noch Geistiges oder irgend etwas<strong>an</strong>deres soll scheiden können, von dem wünschest du nun weg <strong>an</strong>athema zusein? Was ist da geschehen? Bist du <strong>an</strong>derenSinnes geworden? Hast du deine frühereLiebe aufgegeben? — O nein, <strong>an</strong>twortet er,fürchte nichts! Ich habe sie sogar noch gesteigert.Wieso wünschest du aber jetzt <strong>an</strong>athemazu sein, verl<strong>an</strong>gst du also nach einerScheidung, nach einer Trennung von Christus,bei der es kein Wiederfinden gibt? —Eben weil ich ihn so sehr liebe, <strong>an</strong>twortet er.— Aber sag’ mir, wie und auf welche Art?Das G<strong>an</strong>ze ist mir rätselhaft. — Zunächstwollen wir, wenn es beliebt, uns darüber klarzu werden suchen, was das heißt „<strong>an</strong>athemasein“; d<strong>an</strong>n wollen wir den Apostel selbstdarüber befragen und seine unaussprec<strong>hl</strong>iche,fast wahnsinnige Liebe betrachten. —Was heißt also „<strong>an</strong>athema sein“? Höre denApostel, wie er <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>deren Stellespricht: „Wenn aber einer nicht liebt unsernHerrn Jesus Christus, der sei <strong>an</strong>athema“ 235 , d.h. der werde ausgeschieden, der werde abgesondertvon der Gemeinschaft. Wie nämlichein <strong>an</strong>athema, d. i. ein Gott gemachtes Weihgeschenk,aus dem gewöhnlichen Gebrauchausgeschieden wird und es niem<strong>an</strong>d mit denHänden berühren, ja ihm nicht einmal nahekommen darf, so belegt der Apostel hier imentgegengesetzten Sinne einen Menschen,der aus der kirc<strong>hl</strong>ichen Gemeinschaft ausgeschiedenist, mit demselben Namen; er bezeichnetihn damit als einen von den übrigenGläubigen Abgesonderten, aus ihrer GemeinschaftAusgestoßenen und verbietet allenauf das strengste, mit ihm Verkehr zupflegen. Einem Weihgeschenk (ἀνάθεμα)wagt sich niem<strong>an</strong>d zu nähern aus Ehrfurcht;von einem Ausgesc<strong>hl</strong>ossenen halten sich alleaus dem entgegengesetzten Grunde fern. DerBegriff der Absonderung ist in beiden Fällender gleiche; es findet da wie dort eine Ausscheidungaus der großen Menge statt. Nur235 1 Kor. 16, 22.181<strong>die</strong> Art der Ausscheidung ist nicht <strong>die</strong>selbe,sondern es ist in beiden Fällen eine solche imger<strong>ad</strong>e entgegengesetzten Sinne. <strong>In</strong> dem einenFalle hält m<strong>an</strong> sich ferne als von einerGott gehörigen Sache, im <strong>an</strong>deren Falle alsvon einem Gott Entfremdeten, einem aus derkirc<strong>hl</strong>ichen Gemeinschaft Ausgestoßenen.Das wollte der Apostel ausdrücken,wenn er sagte: „Ich wünsche <strong>an</strong>athema zusein von Christus weg.“ Er sagt auch nichteinfach: „ich wollte“, sondern mit noch stärkererBetonung: „Ich wünschte“. Wenn duaber auch d<strong>an</strong>n noch beunruhigt bist undauch <strong>die</strong>se Wendung noch zu schwach findensolltest, so fasse nicht bloß <strong>die</strong> Tatsacheins Auge, daß der Apostel von Christus getrenntsein wollte, sondern auch den Grund,warum er es wollte, und du wirst d<strong>an</strong>n dasÜbermaß seiner Liebe erst recht erkennen. Esist so wie mit der Beschneidung, <strong>die</strong> er (nochnach seiner Bekehrung) <strong>an</strong>dern erteilte.Wenn wir nicht <strong>die</strong>se Tatsache allein ins Augefassen, sondern auch den Grund, warumer <strong>die</strong> Beschneidung beibehielt, müssen wirihn um so mehr bewundern. Ja, er vollzognicht bloß <strong>die</strong> Beschneidung, sondern ließsich auch das Haupt scheren und brachteOpfer dar. Und doch sagen wir <strong>des</strong>wegennicht, er sei ein Jude gewesen, sondern rühmenger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen von ihm, er habe sichfreigemacht vom Judentum und sei ein aufrichtigerAnhänger von Christus gewesen.Trotzdem er <strong>die</strong> Beschneidung übte undtrotzdem er Opfer darbrachte, stempelst duihn nicht zu einem Begünstiger <strong>des</strong> Judentums,sondern rühmst ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen vonihm, daß er dem Judentum ferne gest<strong>an</strong>densei. Laß es dich also auch in gleicher Weisenicht beunruhigen, wenn du hörst, daß erdarnach verl<strong>an</strong>ge, <strong>an</strong>athem zu sein, sondernpreise ihn ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen, nachdem duden Grund kennen gelernt hast, warum er eswollte. Wenn wir nicht immer <strong>die</strong> Ursacheder H<strong>an</strong>dlungsweise ins Auge fassen, müssenwir auch den Elias einen Menschenmördernennen, und den Abraham nicht bloß


einen Menschenmörder, sondern sogar einenKin<strong>des</strong>mörder; ebenso müssen wir den Phineesund den Petrus <strong>des</strong> Mor<strong>des</strong> zeihen. Ja,du kämest dazu, nicht bloß von den Heiligen,sondern von Gott, dem Herrn aller Dinge,selbst g<strong>an</strong>z Ungehöriges zu argwöhnen,wenn du <strong>die</strong>se Regel nicht befolgen wolltest.Damit wir also nicht in <strong>die</strong>sen Fe<strong>hl</strong>er verfallen,wollen wir immer erst <strong>die</strong> Ursache, <strong>die</strong>Absicht, <strong>die</strong> Zeit und alle <strong>an</strong>dern Umstände,<strong>die</strong> eine H<strong>an</strong>dlung rechtfertigen können, unsvor Augen führen und erst d<strong>an</strong>n <strong>die</strong> H<strong>an</strong>dlungselbst untersuchen. So wollenwir es auch <strong>die</strong>ser heiligen Seele gegenüberhalten. — Was war nun der Grund, (warumer seine Trennung von Christus wünschte)?Wieder sein geliebter Jesus. Nicht seinetwegenwollte er sie, sondern er sagte: „Ichwünschte <strong>an</strong>athem zu sein von ihm weg fürmeine Brüder.“ Darin liegt ein Zeugnis fürseine Demut. Er will nicht den Anschein erwecken,als habe er damit etwas Großes vonsich gesagt und Christus einen Gefallen erwiesen.Darum fügt er noch bei: „<strong>die</strong> jaStammverw<strong>an</strong>dte von mir sind“, um so seinehochherzige Gesinnung zu verbergen. Daß eraber alles das um Christi willen wollte, dask<strong>an</strong>nst du aus den folgenden Worten heraushören.Nach den Worten: „<strong>die</strong> ja Volksgenossenvon mir sind“, fährt er nämlich fort:V. 4: „Denen <strong>die</strong> Kindschaft, <strong>die</strong> Herrlichkeit, derBund, <strong>die</strong> Gesetzgebung, der Gottes<strong>die</strong>nst und <strong>die</strong>Verheißungen gehören“,V. 5: „denen <strong>die</strong> Väter gehören und von denendem Fleische nach Christus stammt, der da Gottist über alle, hochgetobt in Ewigkeit. Amen.“2.Wieso das? fragst du. Wenn der Apostel <strong>an</strong>athema— ausgestoßen — sein wollte, damit <strong>die</strong> <strong>an</strong>dernden Glauben erl<strong>an</strong>gten; so hätte er sich dasselbeauch für <strong>die</strong> Heiden wünschen müssen;wenn er es sich bloß für <strong>die</strong> Juden wünscht, so182zeigt er damit, daß er es nicht aus Liebe zu Christuswollte, sondern aus Liebe zu seinen Stammesgenossen.— Doch nein, sage ich; wenn er es sichfür <strong>die</strong> Heiden gewünscht hätte, wäre seine Liebezu Christus nicht in derselben Weise hervorgetreten;ger<strong>ad</strong>e daß er es sich nur für <strong>die</strong> Judenwünschte, beweist, daß seinem Wunsche rein nurEifer für <strong>die</strong> Ehre Christi zugrunde lag. — Ichweiß, daß euch <strong>die</strong>se meine Behauptung sonderbarvorkommt; um euch zu beruhigen, will ich sieeuch sogleich klar zu machen suchen. — Der A-postel hat den oben <strong>an</strong>geführten Ausspruch nichtohne Grund get<strong>an</strong>. Bei den Juden seiner Zeit warnämlich folgende Klage gegen Gott allgemein: sieseien doch gewürdigt worden, Söhne Gottes zuheißen, sie hätten das Gesetz empf<strong>an</strong>gen,sie hätten <strong>die</strong> richtige Gotteserkenntnis vor allen<strong>an</strong>dern Völkern gehabt, ihnen sei so große Auszeichnungwiderfahren, sie hätten früher als <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze <strong>an</strong>dere Welt <strong>die</strong> richtige Gottesverehrunggeübt, ihnen allein seien Verheißungen undStammväter gegeben worden, ja sie seien, dasGrößte von allem, <strong>die</strong> Voreltern Christi geworden— denn das besagt der Satz: „von denen Christusdem Fleische nach stammt“ — und nun würdensie mit Schmach hinausgestoßen, und <strong>an</strong> ihreStelle träten Heiden, Menschen, <strong>die</strong> niemals einerichtige Gotteserkenntnis gehabt hätten. Solchegotteslästerliche Reden mußte nun <strong>Paulus</strong> mitSchmerz <strong>an</strong>hören. Aus Kummer darüber, wied<strong>ad</strong>urch Gottes Ehre Abbruch geschehe, wünschteer <strong>an</strong>athema zu sein, wenn es d<strong>ad</strong>urch möglichwürde, daß <strong>die</strong> Juden <strong>zum</strong> Heile gel<strong>an</strong>gten, daßsolche Gotteslästerung aufhöre und es nicht denAnschein habe, als sei Gott gegen <strong>die</strong> Nachkommenjener, denen <strong>die</strong>se glänzenden Verheißungengemacht worden waren, wortbrüchig geworden.Damit m<strong>an</strong> ersehe, wie sehr es ihn schmerze, daß<strong>die</strong> Verheißung Gottes <strong>an</strong> Abraham: „Dir will ich<strong>die</strong>ses L<strong>an</strong>d geben und deiner Nachkommenschaft“236 nicht als erfüllt gelte, darum sprach derApostel jenen Wunsch aus. — Nach <strong>die</strong>sen Wortenfährt er fort:236 1 Mos. 12, 7.


V. 6: „Nur das nicht, daß unerfüllt geblieben seiGottes Wort.“Damit bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck, daß er allesdas ertragen wolle mit Rücksicht auf dasWort Gottes, d. h. auf <strong>die</strong> dem Abraham gemachteVerheißung. <strong>In</strong> ähnlicher Weise tratauch Moses bei Gott scheinbar für <strong>die</strong> Israelitenals Fürsprecher ein, in Wirklichkeit h<strong>an</strong>delteauch er aus Sorge um <strong>die</strong> Ehre Gottes.„Laß ab von deinem Zorn gegen sie“, bitteter, „damit es nicht heiße: <strong>des</strong>wegen, weil ersie nicht retten konnte, hat er sie hinausgeführt,um sie in der Wüste zugrunde gehenzu lassen“ 237 . Ebenso sagt auch <strong>Paulus</strong>: Damites nicht heiße, daß <strong>die</strong> Verheißung Gottesunerfüllt geblieben ist, daß seine Versprechungentrügerisch gewesen sind, daß sein Wort nicht zur Tat geworden ist,darum wollte ich <strong>an</strong>athema — ausgestoßen— werden. Das alles aber konnte er nicht vonden Heiden sagen. Ihnen war keine solcheVerheißung gemacht worden, sie hatten keinewahre Gottesverehrung geübt; darum gabes keine Lästerung Gottes ihretwegen. Aberwegen der Juden, denen <strong>die</strong> Verheißung zuteilgeworden war, <strong>die</strong> vor allen <strong>an</strong>dern Gottnahest<strong>an</strong>den, derentwegen wünschte sichder Apostel solches. Du siehst also, wie wahrmeine Worte sind: Hätte der Apostel derHeiden wegen (das Anathema) gewünscht,so wäre nicht so klar <strong>zum</strong> Ausdruck gekommen,daß er es aus Rücksicht auf <strong>die</strong> EhreChristi get<strong>an</strong>. Da er aber für <strong>die</strong> Juden <strong>an</strong>athema— ausgestoßen — zu sein wünschte,so geht klar daraus hervor, daß er <strong>die</strong>ses Verl<strong>an</strong>geneinzig und allein wegen Christus hatte.Darum sagte er: „Denen <strong>die</strong> Kindschaft,<strong>die</strong> Herrlichkeit, der Gottes<strong>die</strong>nst und <strong>die</strong>Verheißung gehörte.“ Von dorther, will ersagen, kam das Gesetz, welches von Christusredete, und alle <strong>die</strong> Bündnisse bezogen sichauf sie. Von ihnen stammte Christus ab, und<strong>die</strong> Väter, welche <strong>die</strong> Verheißungen über ihnbekommen hatten, gehörten alle ihnen <strong>an</strong>.237 5 Mos. 9, 28.183Und dennoch widerfuhr ihnen das Gegenteilvon allen <strong>die</strong>sen Verheißungen; sie gingenaller Güter verlustig. Das schmerzt mich, willer sagen, und wenn es möglich wäre, ausgeschiedenzu werden aus dem Chor der Heiligen,<strong>die</strong> Christus umgeben, und los von ihmleben zu müssen — freilich nicht los von seinerLiebe, das sei ferne, denn aus Liebe gingja sein Wunsch hervor, sondern los vom Genüsseseiner Herrlichkeit —, so würde ichdas auf mich nehmen, damit m<strong>an</strong> meinenHerrn nicht weiter lästere, damit ich nichtweiter Reden <strong>an</strong>hören müßte wie folgende:Das ist doch rein <strong>zum</strong> Lachen: Den einen hater das Versprechen gegeben, den <strong>an</strong>dern hater es gehalten; von den einen stammte er ab,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern führte er <strong>zum</strong> Heile; den Vorväternder Juden hatte er Verheißungen gemacht,ihre Nachkommen ließ er im Stichund setzte Leute in den Genuß ihrer Güter,<strong>die</strong> ihn niemals vorher gek<strong>an</strong>nt hatten; jenemühten sich ab mit der Beobachtung <strong>des</strong> Gesetzesund mit dem Lesen der Weissagungender Propheten, und <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> eben erst von den Altären der Götzen hergekommenwaren, erhielten den Vorzug vorihnen. Wo ist da das Walten einer Vorsehungzu erkennen? Damit m<strong>an</strong> also, will er sagen,nicht so über meinen Herrn spreche — wennes auch mit Unrecht geschieht —, darummöchte ich gerne auf das Himmelreich undseine unaussprec<strong>hl</strong>iche Herrlichkeit verzichtenund alle Übel ertragen; mein größterTrost wäre es, keine Lästerungen mehr gegenden hören zu müssen, den ich so sehr liebe.Solltest du aber Pauli Wort noch nicht fassen,so bedenke, daß auch viele Väter oft solcheOpfer für ihre Kinder bringen. Sie nehmenfreiwillig <strong>die</strong> Trennung von ihnen auf sich,um sie in <strong>an</strong>gesehener Stellung zu sehen. Sieziehen das Glück ihrer Kinder dem Behagen<strong>des</strong> Beisammenseins mit ihnen vor.Weil wir von einer so echten Gottesliebe, wiesie <strong>Paulus</strong> hatte, weit entfernt sind, darumvermögen wir seinen Ausspruch nicht zufassen. Gibt es doch Leute — sie sind eigent-


lich gar nicht wert, den Heiligen auch nur<strong>an</strong>zuhören —, <strong>die</strong> so wenig Verständnis fürseinen Liebeseifer haben, daß sie glauben, erspreche hier vom zeitlichen Tode. Von denenmöchte ich behaupten, daß sie von <strong>Paulus</strong> sowenig Ahnung haben wie ein Blinder vomSonnenstra<strong>hl</strong>, ja noch viel weniger. EinMensch wie er, der jeden Tag dem Tod insAuge sah, der beständig in Gefahren schwebte,der ausrief: „Was wird mich scheiden vonder Liebe Christi? Etwa Trübsal oder Angst,oder Verfolgung oder Hunger?“ dem ein solchesBekenntnis nicht genügte, der sich vielmehrim Geiste aufschw<strong>an</strong>g <strong>zum</strong> Himmelund den Himmel der Himmel, der Engel undErzengel Heim und was noch darüber hinausliegt, in kühnem Geistesfluge durchmaß, derGegenwart und Zukunft, Sichtbares und Unsichtbares,Freud und Leid, und was es sonstnoch gibt, ohne jeglichen Aussc<strong>hl</strong>uß mit seinemGeiste umfaßt; ja, der, noch nicht zufriedendamit, sich sogar eine neue Welt, <strong>die</strong>noch nicht ist, in seinem Geiste schafft — dersollte, wenn er etwas g<strong>an</strong>z Großes ausdrückenwill, dabei <strong>an</strong> den zeitlichen Tod denken?3.Nein, nein; so ist es g<strong>an</strong>z gewiß nicht. Ihm soetwas zu<strong>zum</strong>uten, bringen nur Würmer,<strong>die</strong> im Staube kriechen, zust<strong>an</strong>de. Wenner den leiblichen Tod gemeint hätte, wiesohätte er gewünscht, <strong>an</strong>athema, verb<strong>an</strong>nt ausder Nähe Christi zu sein? Denn ger<strong>ad</strong>e derTod hatte ihn ja zu Christus geführt und ihnin den Genuß der ewigen Herrlichkeit gesetzt.— Andere wagen eine Auslegung, welchenoch lächerlicher ist. Nicht den Tod, sagensie, wünsche sich der Apostel, sonderneine Morgengabe, ein Weihgeschenk Christizu sein. Aber wo fände sich ein so armseliger,niedrig denkender Christ, der sich dasnicht wünschte? Und was hätte es für einen184Sinn, daß er sich <strong>die</strong>s für seine Volksgenossenwünscht? — Lassen wir also solche Hirngespinsteund solche Schwätzereien beiseite— sie ver<strong>die</strong>nen so wenig eine Widerlegungwie das Geschwätz kleiner Kinder — undkehren wir wieder <strong>zum</strong> Texte zurück.Schwelgen wir in <strong>die</strong>sem Meere der Liebe,schwimmen wir darin nach Herzenslust herum,blicken wir in <strong>die</strong> Flamme <strong>die</strong>ser unfaßbarenLiebe! Ja, m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n gar keinen Vergleichfinden, der entsprechend wäre. Dennes gibt kein Meer, das so unermeßlich, keineFlamme, <strong>die</strong> so hellglühend wäre wie <strong>die</strong>seLiebe. Kein mensc<strong>hl</strong>iches Wort vermag sievollkommen auszudrücken; nur der alleinkennt sie richtig, der sie in vollkommenstemMaße besitzt.Wo<strong>hl</strong><strong>an</strong>, laßt mich <strong>die</strong> Worte <strong>des</strong> Textes nocheinmal <strong>an</strong>führen: „Ich selbst wünschte <strong>an</strong>athema— verk<strong>an</strong>nt — zu sein.“ Was heißtdas: „Ich selbst“? Ich, der ich allein Lehrergewesen bin, der ich unzä<strong>hl</strong>ige gute Tatenvollbracht, der ich Hoffnung habe auf überreichenLohn, der ich meinen Heil<strong>an</strong>d so sehrliebe, daß ich <strong>die</strong>se Liebe zu ihm allem vorziehe,der ich in einem fort von Liebe zu ihmbrenne, der ich <strong>die</strong>ser Liebe alles <strong>an</strong>derehint<strong>an</strong>setze. Es war ihm ja nicht bloß darumzu tun, von Christus geliebt zu werden, sondernihn auch seinerseits innig zu lieben. Ja,ger<strong>ad</strong>e das war sein Hauptstreben; das alleinhatte er im Auge, dafür ertrug er alles gerne;<strong>die</strong>ser hehren Liebe genugzutun, war seineinziges Ziel bei allem. <strong>In</strong> <strong>die</strong>ser Liebesgesinnungwünscht er sich auch, <strong>an</strong>athema zusein. Doch das sollte ihm in <strong>die</strong>ser Weisenicht widerfahren. Darum geht er imfolgenden ein auf <strong>die</strong> Widerlegung der Beschuldigungen;er bringt l<strong>an</strong>dläufige falscheMeinungen vor und widerlegt sie. Bevor eraber zu der eigentlichen Widerlegung schreitet,wirft er einige vorbereitende Ged<strong>an</strong>kenhin. Wenn er nämlich sagt: „Denen <strong>die</strong> Kindschaft,<strong>die</strong> Herrlichkeit, der Bund, <strong>die</strong> Gesetzgebung,der Gottes<strong>die</strong>nst und <strong>die</strong> Verheißungengehören“, so will er damit nichts


<strong>an</strong>deres sagen, als daß Gott den Willen gehabthat, sie zu retten. Diesen Willen hat Gott<strong>zum</strong> Ausdruck gebracht durch das, was erihnen im Alten Bunde tat, d<strong>ad</strong>urch, daß erChristus von ihnen abstammen ließ und daßer ihren Vätern Verheißungen gab. Die Judenaber haben in und<strong>an</strong>kbarer Weise <strong>die</strong>sesg<strong>an</strong>ze Wo<strong>hl</strong>wollen unbeachtet gelassen. DerApostel erwähnt jene Wo<strong>hl</strong>taten Gottes alsebensoviele Beweise seiner Gn<strong>ad</strong>e, nicht aberum <strong>die</strong> Juden zu erheben. Denn <strong>die</strong> Gotteskindschaftist eine Gn<strong>ad</strong>e, ebenso <strong>die</strong>Herrlichkeit und <strong>die</strong> Verheißungen und dasGesetz. Bei Betrachtung alles <strong>des</strong>sen und beidem Ged<strong>an</strong>ken, welche Mühe sich Gott imVerein mit seinem Sohne gegeben hat, um siezu retten, ruft der Apostel laut aus: „Der dahochgelobt sei in Ewigkeit; Amen.“ Damitspricht er dem eingeborenen Sohne für allesden Juden erwiesene Gute seinen D<strong>an</strong>k aus.Was besagt es, meint er, wenn <strong>an</strong>dere Gottlästern? Wir, <strong>die</strong> wir seine Geheimnisse kennen,seine unaussprec<strong>hl</strong>ich große Weisheitund seine übergroße Vorsehung, wir wissenes sehr wo<strong>hl</strong>, daß er keine Lästerung ver<strong>die</strong>nt,sondern <strong>des</strong> höchsten Lobpreises würdigist. Aber bloß selbst <strong>die</strong>ses Bewußtsein zuhaben, genügt ihm nicht; er unternimmt es,im folgenden auch <strong>die</strong> Gründe dafür insLicht zu setzen und den Juden scharf <strong>an</strong> denLeib zu rücken. Aber nicht früher unternimmter den Angriff auf sie, als bis er dasMißtrauen, das sie gegen ihn hegen konnten,zerstreut hat. Damit es nicht den Anscheinhabe, als halte er <strong>die</strong> Juden, zu denen erspricht, für seine Feinde, sagt er weiter unten:,,Brüder, meines Herzens Wunsch undmein Flehen zu Gott ist für sie (<strong>die</strong> Juden),daß sie das Heil erl<strong>an</strong>gen möchten“ 238 . Auchhier sucht er bei allem, was er sagt, den Schein zu vermeiden, als spreche er ausFeindschaft, mag er was immer gegen sievorbringen. Darum steht er nicht <strong>an</strong>, sie seine„Stammverw<strong>an</strong>dten“ und seine „Brüder“ zunennen. Wenn er auch alles, was er spricht,aus Liebe zu Christus spricht, so sucht erdoch auch ihre Zuneigung zu gewinnen undseiner folgenden Rede gute Aufnahme zusichern. Er reinigt sich zunächst von jedemVerdacht in bezug auf das, was er gegen sievorzubringen hat, und geht d<strong>an</strong>n erst zu demGegenst<strong>an</strong>d über, der (wie er voraussieht)den Widerspruch vieler herausfordern wird.Der Apostel mußte nämlich, wie ich schonsagte, <strong>die</strong> Frage vieler gewärtigen, warumdenn <strong>die</strong> Juden, <strong>die</strong> doch <strong>die</strong> Verheißungbekommen hatten, leer ausgeg<strong>an</strong>gen, <strong>die</strong>Heiden dagegen, <strong>die</strong> niemals von einer solchenauch nur gehört, ihnen vorgezogen und<strong>zum</strong> Heil berufen worden seien. Um nun<strong>die</strong>ses Bedenken zu beheben, gibt der Apostel<strong>die</strong> Aufklärung darüber, bevor er sichnoch den Einw<strong>an</strong>d macht. Es könnte nämlichjem<strong>an</strong>d einwenden: Wie? Du bist für GottesEhre mehr besorgt als Gott selbst? Braucht erdenn deine Hilfe, damit sein Wort nicht unerfülltbleibe? Gegen einen solchen Einw<strong>an</strong>dnimmt <strong>Paulus</strong> im vornhinein Stellung, indemer bemerkt: Das habe ich gesagt, „nicht weiletwa Gottes Wort unerfüllt geblieben ist“,sondern um einen Beweis meiner Liebe zuChristus zu geben. Auch wenn es so gekommenist, sind wir nicht in Verlegenheit, willer sagen, wegen Gottes Wort und nicht umden Beweis, daß seine Verheißung eingetroffenist. Gewiß, Gott hat dem Abraham verheißen:„Dir und deiner Nachkommenschaftwill ich <strong>die</strong>ses L<strong>an</strong>d geben“ 239 , und: „Gesegnetsollen werden in deiner Nachkommenschaftalle Völker“ 240 . Laßt uns aber einmalsehen, was unter <strong>die</strong>ser Nachkommenschaftzu verstehen ist, sagt er. Denn nicht alle, <strong>die</strong>von Abraham abstammen, sind seine wahreNachkommenschaft. Darum heißt es weiter:„Nicht alle, <strong>die</strong> von Israel abstammen, sind echteIsraeliten.“ V. 7: „noch auch alle Kinder,<strong>des</strong>wegen weil sie Abrahams Nachkommensind.“238 Röm. 10, 1.185239 1 Mos. 12, . 7240 Ebd. 12, 3.


4.Wenn dir nur einmal klar sein wird, was unterAbrahams Nachkommenschaft zu verstehenist, d<strong>an</strong>n wirst du auch <strong>die</strong> seiner Nachkommenschaftgegebene Verheißung verstehenund einsehen, daß Gottes Wort nicht unerfülltgeblieben ist. Sag’ also, was ist unter<strong>die</strong>ser Nachkommenschaft zu verstehen?Nicht ich gebe <strong>die</strong> Erklärung, sagt er, sonderndas Alte Testament, wenn es dort heißt:„<strong>In</strong> Isaak wird dir Nachkommenschaft zuteilwerden“ 241 . Was heißt: „<strong>In</strong> Isaak“? Erkläre es!V. 8: „Das heißt: Nicht <strong>die</strong> Kinder <strong>des</strong> Fleisches,<strong>die</strong> sind Kinder Gottes, sondern <strong>die</strong> Kinder derVerheißung, <strong>die</strong> werden als Nachkommenschaftverst<strong>an</strong>den.“Beachte da den Scharfsinn und den hohenSt<strong>an</strong>dpunkt der Betrachtungsweise <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>!<strong>In</strong> seiner Erklärung sagt er nicht, daßnicht <strong>die</strong> Kinder <strong>des</strong> Fleisches Kinder Abrahamssind, sondern daß sie nicht „KinderGottes“ sind. Er stellt eine Verbindung zwischenVerg<strong>an</strong>genheit und Gegenwart herund zeigt, daß auch Isaak nicht ein Kind Abrahamssc<strong>hl</strong>echtweg war. Der Sinn seinerWorte ist der: Alle <strong>die</strong>, welche nach Art <strong>des</strong>Isaak (von Abraham) abstammen, <strong>die</strong> sindKinder Gottes und zugleich NachkommenAbrahams. Denn <strong>des</strong>wegen hat Gott gesagt:„<strong>In</strong> Isaak wird dir Nachkommenschaft zuteilwerden.“ Du sollst daraus ersehen, daß nur<strong>die</strong>, welche in derselben Weise Abraham<strong>zum</strong> Vater haben wie Isaak, im eigentlichenSinne <strong>die</strong> Nachkommenschaft Abrahamssind. Wie hatte nun Isaak den Abraham <strong>zum</strong>Vater? Nicht nach dem Gesetze der Natur,nicht infolge der Zeugungskraft <strong>des</strong> Abraham,sondern kraft der Verheißung Gottes.Was heißt: „Kraft der Verheißung Gottes“?V. 9: („Die Worte der Verheißung sind <strong>die</strong>se:)Um <strong>die</strong>se Zeit werde ich kommen, und Sara wirdeinen Sohn haben“ 242.Diese Verheißung aus dem MundeGottes war es, <strong>die</strong> Isaak Sein und Leben gab.Aber <strong>die</strong> weiblichen Gebärorg<strong>an</strong>e wirktendoch auch mit? Ja, aber nicht ihre Lebenskraft,sondern <strong>die</strong> Kraft der Verheißung Gottesbrachte das Kind zur Welt. — <strong>In</strong> derselbenWeise sind auch wir (wieder) geborenworden durch das Wort Gottes. Auch imTaufb<strong>ad</strong>e ist <strong>die</strong> zeugende und gebärendeKraft das Wort Gottes; denn „im Namen <strong>des</strong>Vaters, <strong>des</strong> Sohnes und <strong>des</strong> Hl. Geistes“ sindwir getauft worden. Das ist eine Geburt nichtnach den Gesetzen der Natur, sondern kraftder Verheißung Gottes. Ebenso wie er <strong>die</strong>Geburt <strong>des</strong> Isaak vorausverkündigte und sied<strong>an</strong>n erst geschehen ließ, hat er auch unsere(Wieder-) Geburt durch alle Propheten l<strong>an</strong>geZeit voraus <strong>an</strong>gekündigt und sie d<strong>an</strong>n erstverwirklicht. Siehst du da, wie groß sich Gottgezeigt hat und wie er seine großen Verheißungenmit aller Leichtigkeit hat in Erfüllunggehen lassen?Wenn aber <strong>die</strong> Juden behaupten sollten, jenes:„<strong>In</strong> Isaak wird dir Nachkommenschaftzuteil werden“ besage, daß alle, <strong>die</strong> von I-saak abstammen, zur NachkommenschaftAbrahams gerechnet werden, so würde darausfolgen, daß auch <strong>die</strong> Idumäer und alle<strong>an</strong>deren Abkömmlinge Abrahams als seineSöhne gelten mußten; denn ihr StammvaterEsau war ein Sohn <strong>des</strong> Isaak. Nun gelten aber<strong>die</strong> Idumäer nicht nur nicht als AbrahamsKinder, sondern sie sind ein ihm g<strong>an</strong>z undgar fernstehen<strong>des</strong> Volk. Siehst du, daß nicht<strong>die</strong> Kinder, <strong>die</strong> dem Fleische nach von Abrahamabstammen, <strong>des</strong>wegen schon KinderGottes sind, und daß durch <strong>die</strong> Art der natürlichenAbstammung (der wahren KinderAbrahams) <strong>die</strong> Wiedergeburt durch <strong>die</strong> Taufevorgebildet war? Was dort das natürlicheGebärorg<strong>an</strong>, ist hier das Wasser. Aber wie241 1 Mos. 21, 12.186242 Ebd. 18, 10.


187hier alles eine Wirkung <strong>des</strong> Hl. Geistes ist, sodort alles eine solche der Verheißung. Kälterals Wasser war das mütterliche Gebärorg<strong>an</strong>der Sara infolge der Unfruchtbarkeit und <strong>des</strong>Alters. — Führen wir was also den hohenAdel unserer Abstammung recht zu Gemüte,und erweisen wir uns seiner würdig durchunser Leben! Nichts Fleisc<strong>hl</strong>iches, nichts Irdischeshat dar<strong>an</strong> teil. Also wollen auch wirnichts dergleichen <strong>an</strong> uns tragen.Denn weder Beisc<strong>hl</strong>af noch fleisc<strong>hl</strong>iche Begierdenoch Umarmung noch Sinnenlust,sondern einzig: <strong>die</strong> Liebe Gottes war <strong>die</strong> wirkendeUrsache <strong>die</strong>ser unserer Wiedergeburt.Wie dort im hoffnungslosen Alter der Sara,so tritt hier im eingetretenen Greisenalter derSünde der neue Isaak zutage, und alle sindwir Kinder Gottes und NachkommenschaftAbrahams geworden.V. 10: „Aber nicht allein sie (<strong>die</strong> Sara), sondernauch <strong>die</strong> Rebekka (empfing <strong>die</strong> Verheißung), <strong>die</strong>allein von Isaak, unserem Vater, Kinder hatte.“— Schwer und umstritten war <strong>die</strong> Frage, <strong>die</strong>der Apostel hier aufrollt. Darum erörtert ersie nach mehreren Richtungen hin und suchtvon allen Seiten <strong>die</strong> auftauchenden Bedenkenzu lösen. Denn wenn es etwas Unbegreiflichesund Unerwartetes war, daß <strong>die</strong> Judennach den so großen Verheißungen, <strong>die</strong> ihnengemacht worden waren, leer ausgingen, soist es noch viel unbegreiflicher, daß wir inden Besitz ihrer Güter eingetreten sind, <strong>die</strong>wir nie dergleichen erwartet hatten. Es istdasselbe, wie wenn ein königlicher Prinz,dem der Thron seines Vaters verheißen ist,unter das gewöhnliche Volk zurückgestoßenwürde und <strong>an</strong> seiner Stelle ein verurteilterSchwerverbrecher, den m<strong>an</strong> aus dem Gefängnissegeholt hat, den Thron erhielte, derjenem gebührt. Wie willst du so etwas rechtfertigen?fragt m<strong>an</strong>. Damit, daß der Sohn <strong>des</strong>Thrones unwürdig war? Aber der <strong>an</strong>dere istes auch und noch viel mehr. Also sollten sieentweder beide bestraft oder beide ausgezeichnetwerden. Ebenso liegt der Fall mitden Heiden und den Juden, ja, noch viel widerspruchsvoller.Daß sie alle unwürdig waren,hat der Apostel oben <strong>zum</strong> Ausdruck gebracht,wo er sagte: „Alle haben gesündigtund entbehren <strong>des</strong> Ruhmes vor Gott“ 243 . DasMerkwürdige dabei ist aber, daß, obzwar alleunwürdig waren, nur ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> Heiden dasHeil erl<strong>an</strong>gten. Nebstdem könnte m<strong>an</strong> ein<strong>an</strong>deres Bedenken aufwerfen und sagen:Wenn Gott seine Verheißungen den Judengegenüber nicht erfüllen wollte, warum hater sie ihnen gemacht? Menschen, <strong>die</strong> nicht in <strong>die</strong> Zukunft schauen können, lassensich ja oft täuschen und verheißen solchenGeschenke, <strong>die</strong> sich nachher als unwürdigerweisen. Gott jedoch, der <strong>die</strong> Gegenwartund <strong>die</strong> Zukunft voraussieht, wußte g<strong>an</strong>zgenau im voraus, daß <strong>die</strong> Juden sich seinerVersprechungen unwürdig machen und darumdas Versprochene nicht erhalten würden;warum hat er ihnen also überhaupt etwasversprochen?5.Wie löst nun <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong>se Schwierigkeit?D<strong>ad</strong>urch, daß er darlegt, wer das Israel ist,dem jene Verheißungen gelten. War das geschehen,d<strong>an</strong>n war zugleich der Beweis erbracht,daß alle Verheißungen Gottes in Erfüllunggeg<strong>an</strong>gen seien. Der Apostel tut <strong>die</strong>smit den Worten: „Denn nicht alle, <strong>die</strong> vonIsrael abstammen, sind echte Israeliten.“Darum gebraucht er nicht den Namen Jakob,sondern Israel, ein Name, der <strong>an</strong> Tugend, <strong>an</strong>einen Gerechten, <strong>an</strong> ein Geschenk von obenund <strong>an</strong> Schauen Gottes denken läßt. Aber,wendet m<strong>an</strong> ein, „es haben doch alle gesündigtund entbehren <strong>des</strong> Ruhmes vor Gott“.Wenn also alle gesündigt haben, wie kommtes, daß <strong>die</strong> einen das Heil erl<strong>an</strong>gten, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dernaber verloren gingen? — Weil nicht allekommen wollten. Soviel es auf Gott <strong>an</strong>kam,243 Röm. 3, 23.


188gel<strong>an</strong>gten alle <strong>zum</strong> Heil; denn dazu berufenwaren sie alle. Er sagt das aber nicht ger<strong>ad</strong>ezuheraus, sondern er löst <strong>die</strong> Frage auf einemweiten Umwege. Er führt <strong>an</strong>dere Beispiele<strong>an</strong> und stellt eine <strong>an</strong>dere Frage, wie erauch oben eine sehr große Schwierigkeitdurch Her<strong>an</strong>ziehung einer <strong>an</strong>dern gelöst hat.Er hatte nämlich <strong>die</strong> Frage aufgeworfen, wiesoinfolge der Gerechtigkeit Christi alle übrigen<strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Gerechtigkeit teilhaben konnten,und hat zur Lösung <strong>die</strong>ser Frage das BeispielAdams <strong>an</strong>geführt, indem er sagte:„Denn wenn durch <strong>die</strong> Übertretung <strong>des</strong> einender Tod herrschte, so werden um somehr <strong>die</strong>, welche <strong>die</strong> überschwengliche Fülleder Gn<strong>ad</strong>e empf<strong>an</strong>gen haben, im Leben herrschen.“Den Fall Adams löst er aber nicht,sondern den <strong>des</strong> <strong>an</strong>dern mit Hilfe <strong>des</strong>selben;er macht klar, daß es doch eine größere Berechtigunghabe, daß Christus, der für <strong>die</strong>Menschen gestorben ist, auf sie einen Einflußhabe, wenn er wolle. Daß alle gestraftworden seien wegen der Sünde eines einzigen,das kommt vielen unbegründet vor; daßaber alle gerechtfertigt worden seien durch<strong>die</strong> Gerechtigkeit eines einzigen, das magbegründeter und Gott <strong>an</strong>gemessener sein.Aber gleichwo<strong>hl</strong> klärte er das Geheimnis, dasim Falle Adams liegt, nicht auf; denn je unaufgeklärteres blieb, <strong>des</strong>to mehr waren <strong>die</strong>Juden <strong>zum</strong> Stillschweigen gezwungen. DieSchwierigkeit, <strong>die</strong> im Falle Christi liegt, wirdauf den Fall Adams übertragen, und d<strong>ad</strong>urchgewinnt der erstere <strong>an</strong> Klarheit. So verfährtder Apostel auch hier. Er löst <strong>die</strong> eine Fragedurch eine <strong>an</strong>dere. Er hat es ja mit den Judenzu tun. Daher klärt er <strong>die</strong> Beispiele, <strong>die</strong> er(aus ihrer Geschichte) her<strong>an</strong>gezogen hat,nicht vollständig auf; er brauchte es nämlichin einem Wortgefechte mit Juden nicht zutun. Er benützt aber jene Beispiele dazu, um<strong>die</strong> eigene Sache klarer zu machen. Waswunderst du dich, will er sagen, daß von denJuden <strong>die</strong> einen das Heil erl<strong>an</strong>gten, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dernnicht? Sieht m<strong>an</strong> ja doch, daß es in alterZeit mit den Patriarchen ebenso ging. Warumwird nur Isaak Abrahams Nachkommegen<strong>an</strong>nt, da <strong>die</strong>ser doch auch der Vater Ismaelsund vieler <strong>an</strong>derer war? (Du wen<strong>des</strong>tein,) seine Mutter war eine Sklavin? Aberwas hat das für einen Bezug auf den Vater?Doch ich will mich bei <strong>die</strong>sem Fall nicht weiteraufhalten; er mag fallen gelassen werdenwegen <strong>des</strong> Sklavenst<strong>an</strong><strong>des</strong> der Mutter. Wassollen wir aber von den Söhnen der Chetturasagen? Waren sie nicht Freigeborene als Söhneeiner Freien? Warum genossen sie nichtdasselbe Vorrecht wie Isaak? Ja, was führeich <strong>die</strong>se <strong>an</strong>? Rebekka war <strong>die</strong> einzige vollberechtigteGattin Isaaks, und sie gebar zweiKnaben; beide hatten Isaak <strong>zum</strong> Vater. Obzwarsie nun beide denselben Vater hatten,von derselben Mutter waren, demselbenMutterschoß entsproßten, väterlicher- undmütterlicherseits leibliche Brüder und nochdazu Zwillingsbrüder waren, genossen siedoch nicht <strong>die</strong>selben Rechte. Hier k<strong>an</strong>nst du<strong>die</strong> Schuld nicht auf den Sklavenst<strong>an</strong>d derMutter schieben wie bei Ismael, auch nichtdarauf, daß sie von zwei verschiedenen Mütterngeboren waren wie <strong>die</strong> Söhne der Chetturaund der Sara; sie kamen sogar zur selbenStunde zur Welt. Darum greift <strong>Paulus</strong>ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong>ses Beispiel als das klarste auf:„Nicht allein bei Isaak traf das zu“, „sondernauch Rebekka hatte nur von Isaak, unseremVater, Kinder.“V. 11: „Sie waren noch nicht geboren und hattennoch nichts Gutes oder Böses get<strong>an</strong>, damit derRatsc<strong>hl</strong>uß Gottes nach freier Wa<strong>hl</strong> bestehe“,V. 12 „nicht ver<strong>an</strong>laßt durch gute Werke, sonderneinzig hervorgeg<strong>an</strong>gen aus dem freien Willen<strong>des</strong>sen, der sie berief, da ward ihr gesagt:“V. 13: „Der Ältere wird dem Jüngeren <strong>die</strong>nen,wie geschrieben steht: „Jakob habe ich geliebt,Esau aber gehaßt.“Warum wurde nun der eine geliebt, der <strong>an</strong>deregehaßt? Warum war der eine Knecht,der <strong>an</strong>dere der Herr? Weil der eine sc<strong>hl</strong>echt,der <strong>an</strong>dere aber gut war. Und doch waren sienoch nicht geboren, wurde der eine schonausgezeichnet und der <strong>an</strong>dere verworfen;


denn sie waren noch nicht geboren, da sagteGott schon: „Der Ältere wird dem Jüngeren<strong>die</strong>nen.“ Warum sagte nun Gott das? Weil ernicht wie ein Mensch auf den Verlauf derDinge zu warten braucht, um zu sehen, wasgut und was sc<strong>hl</strong>echt ist, sondern weil erschon voraus weiß, daß der gut und dersc<strong>hl</strong>echt sein wird. Dasselbe traf bei den Israelitenzu, nur in einer noch auffallenderenWeise. Was rede ich, will der Apostel sagen,von Esau und Jakob, von denen ja der einesc<strong>hl</strong>echt und der <strong>an</strong>dere gut war? Die Israelitenhatten alle <strong>die</strong>selbe Sünde; hatten sie jaalle das goldene Kalb <strong>an</strong>gebetet. Und dochf<strong>an</strong>den <strong>die</strong> einen (vor Gott) Erbarmen, <strong>die</strong><strong>an</strong>dern nicht. Denn es heißt: „Ich werde micherbarmen, wessen ich mich erbarmen will,und begn<strong>ad</strong>igen, wen ich begn<strong>ad</strong>igen will.“Dasselbe k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auch <strong>an</strong> denen bewahrheitetsehen, <strong>die</strong> von Gott gestraft wordensind. Was sagst du zu Pharao? Warum wurdeer so schwer bestraft? Weil er harten Herzensund unbotmäßig war? Aber war er esallein und sonst niem<strong>an</strong>d? Warum wurdealso nur er so schwer bestraft? Warum n<strong>an</strong>nteer bei den Juden „ein Nichtvolk seinVolk“, und warum würdigte er wiedernicht alle derselben Auszeichnung?„Wenn sie auch sind“, heißt es, „wie derS<strong>an</strong>d am Meere, so wird doch nur ein übriggebliebenerTeil gerettet werden“ 244 . Warumnur ein übriggebliebener Teil? Siehst du, wieder Apostel absichtlich Schwierigkeiten inMenge aufwirft? Und g<strong>an</strong>z mit Recht. Wenndu nämlich den Gegner in Verlegenheit bringenwillst, d<strong>an</strong>n halte mit der Lösung derFrage zurück! Wenn es sich zeigt, daß ernicht weiß, wo aus und wo ein, warum sollstdu dich in Gefahr begeben? Was sollst du ihnkecker machen d<strong>ad</strong>urch, daß du nur dir <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Schwierigkeit aufhalsest?6.Nun sag’ mir doch, Jude, der du so vieleZweifel hast und keinen zu lösen imst<strong>an</strong>debist, was behelligst du uns mit der Frage, warumGott ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> Heiden berufen habe?Ich k<strong>an</strong>n übrigens den richtigen Grund <strong>an</strong>geben,warum <strong>die</strong> Heiden gerechtfertigtworden sind, ihr aber leer ausgeg<strong>an</strong>gen seid.Welches ist nun <strong>die</strong>ser Grund? Daß jene ausdem Glauben, ihr aber aus den Werken <strong>des</strong>Gesetzes <strong>die</strong> Rechtfertigung erhofft habt. <strong>In</strong><strong>die</strong>sem Widerstreit habt ihr in jeder Beziehungden kürzeren gezogen. „Denn da sie<strong>die</strong> Gerechtigkeit Gottes nicht erkennen“,heißt es, „und bloß ihre eigene geltend machenwollen, haben sie sich der GerechtigkeitGottes nicht unterworfen“ 245 . Darin liegt, umdas G<strong>an</strong>ze noch einmal kurz zusammenzufassen,<strong>die</strong> Lösung der g<strong>an</strong>zen Schwierigkeit,wie sie <strong>die</strong>se heilige Seele gibt. Damit es abernoch klarer wird, wollen wir das Gesagtenoch einmal Punkt für Punkt durchgehenund uns dabei vor Augen halten, daß dasBemühen <strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> darauf gerichtet ist,in allem, was er sagt, zu zeigen, daß Gott allein<strong>die</strong> Würdigen kennt, daß aber keinMensch dazu imst<strong>an</strong>de ist; daß, wenn einMensch auch noch so genaue Kenntnis zuhaben scheint, er sich doch oft in seinem Urteileirrt. Nur Gott, der <strong>die</strong> Geheimnisse <strong>des</strong><strong>In</strong>nern kennt, weiß g<strong>an</strong>z genau, wer Belohnungund wer Bestrafung und Verdammungver<strong>die</strong>nt. Er hat darum auch schon gar m<strong>an</strong>che,<strong>die</strong> von den Menschen für gut gehalten wurden, überführt und bestraft,und solche, <strong>die</strong> für sc<strong>hl</strong>echt galten, belohntund gezeigt, daß sie das nicht seien, alswas sie galten. Er fällt eben sein Urteil nichtnach der Meinung der Menschen, sondernnach seiner eigenen g<strong>an</strong>z genauen und g<strong>an</strong>zuntrüglichen Erkenntnis; er braucht nichtden Ausg<strong>an</strong>g einer Sache abzuwarten, um zusehen, wer gut und wer sc<strong>hl</strong>echt ist.244 Is. 10, 22.189245 Röm. 10, 3.


Um in<strong>des</strong> <strong>die</strong> Worte <strong>des</strong> Apostels nicht wiederunklar zu machen, wollen wir auf sieselbst zurückgehen. „Aber nicht allein, sondernauch Rebekka hatte Kinder von einemeinzigen.“ Ich könnte ja auch, will der Apostelsagen, von den Kindern der Chetturasprechen, aber ich tue es nicht; ich will vielmehr,um einen vollständigen Sieg davonzutragen,nur <strong>die</strong> zwei <strong>an</strong>führen, <strong>die</strong> Kinder<strong>des</strong>selben Vaters und derselben Mutter waren.Beide stammten ja von Rebekka ab undvon Isaak, dem vollbürtigen Sohn, dem berühmtenund vor allen ausgezeichnetenM<strong>an</strong>ne, von dem es hieß: „<strong>In</strong> Isaak wird dirNachkommenschaft zuteil werden“; vonihm, der unser aller Vater geworden ist.Wenn er aber unser aller Vater ist, d<strong>an</strong>n solltenauch seine Nachkommen unsere Vätersein. Aber es ist nicht so. Siehst du, wie esnicht allein bei Abraham zutrifft, sondernauch bei seinem Sohn, und wie immer undüberall Glaube und Tugend das hervorstechendeund unterscheidende Merkmal echterAbstammung von ihnen sind? Bei den KindernAbrahams sehen wir, daß der NameKinder ihnen nicht mit Rücksicht auf ihrenatürliche Abstammung von ihrem Vaterzukommt, sondern mit Rücksicht auf <strong>die</strong> Tugend,durch <strong>die</strong> sie seiner würdig waren.Denn wenn es bloß auf <strong>die</strong> natürliche Abstammung<strong>an</strong>käme, d<strong>an</strong>n müßte Esau <strong>die</strong>selbenRechte genießen wie Jakob. Denn auch erentstammte einem schon erstorbenen Mutterschoße,und auch seine Mutter war unfruchtbar,aber <strong>die</strong> Abstammung kommtnicht allein in Betracht, sondern auch <strong>die</strong> sittlicheFührung; und das ist wichtig und k<strong>an</strong>nuns zur Lehre <strong>die</strong>nen für unsern Lebensw<strong>an</strong>del.Er sagt auch nicht, weil der eine gut,der <strong>an</strong>dere aber Sc<strong>hl</strong>echt war, <strong>des</strong>wegenwurde der eine dem <strong>an</strong>dern vorgezogen,damit m<strong>an</strong> ihm nämlich nicht gleich entgegenhaltenkönne: Ja was? Sind denn <strong>die</strong> Heidenbesser als <strong>die</strong> Beschnittenen?Wenngleich <strong>die</strong> Sache wirklich so ist, so sagter es doch nicht ger<strong>ad</strong>ezu. Es hätte nämlich190gehässig ausgesehen. Er schiebt vielmehralles auf das Wissen Gottes, wogegen ja dochniem<strong>an</strong>d <strong>an</strong>zukämpfen wagen wird, es müßtedenn sein, daß er toll wäre. „Sie warennoch nicht geboren“, heißt es, „da ward ihrschon gesagt: Der Ältere wird dem Jüngeren<strong>die</strong>nen.“ Er weist darauf hin, daß es nicht aufeine vornehme Abstammung dem Fleischenach <strong>an</strong>komme, sondern daß m<strong>an</strong> nach seelischerTugend streben müsse, <strong>die</strong> Gott vorden Werken vorausweiß. „Sie waren nochnicht geboren“, heißt es, „und hatten nochnichts Gutes oder Böses get<strong>an</strong>, damit derRatsc<strong>hl</strong>uß Gottes nach freier Wa<strong>hl</strong> bestehe,da ward ihr schon gesagt: Der Ältere wirddem Jüngeren <strong>die</strong>nen.“ Die Auswa<strong>hl</strong> erfolgtegleich bei ihrer Geburt und war ein Werk <strong>des</strong>göttlichen Vorauswissens. „Damit <strong>die</strong> Auswa<strong>hl</strong>“,heißt es, „als ein Werk der Vorsehungerscheine.“ Vom ersten Tage <strong>an</strong> wußte Gottund tat es kund, daß der eine gut sein werde,der <strong>an</strong>dere nicht. Wende mir also nicht ein,will der Apostel sagen, daß du das Gesetzund <strong>die</strong> Propheten k<strong>an</strong>ntest und schon sol<strong>an</strong>ge Zeit ihm <strong>die</strong>ntest. Er, der <strong>die</strong> Seele zubeurteilen versteht, weiß auch, wer es ver<strong>die</strong>nt,das Heil zu erl<strong>an</strong>gen. Ergib dich also indas unerforsc<strong>hl</strong>iche Geheimnis der Auserwä<strong>hl</strong>ung;denn er allein versteht es, genaunach Ver<strong>die</strong>nst zu belohnen. Wie viele schienenwo<strong>hl</strong> besser zu sein als Matthäus, so weitsich nach dem äußeren Schein der Werkebeurteilen ließ? Gott jedoch, der <strong>die</strong> Geheimnisse<strong>des</strong> Herzens kennt und <strong>die</strong> im <strong>In</strong>nernverborgene Gesinnung zu beurteilen versteht,erk<strong>an</strong>nte <strong>die</strong> Perle im Kot. Er blicktebewundernd auf seine innere Schönheit und,indem er <strong>an</strong> <strong>an</strong>dern vorüberging, wä<strong>hl</strong>te erihn aus. Zur Wo<strong>hl</strong>tat der Auserwä<strong>hl</strong>ung fügteer noch seine Gn<strong>ad</strong>e hinzu und erklärteihn als bewährt. So richten sich ja auch Fac<strong>hl</strong>eutein irdischen Künsten und <strong>an</strong>dern Dingennicht nach dem Urteil von Nichtkennernund treffen nicht darnach ihre Auswa<strong>hl</strong>,sondern nach ihrer eigenen Sachkenntnis. Sieverwerfen oft das, was Nichtkenner <strong>an</strong>prei-


sen, und wä<strong>hl</strong>en aus, was <strong>die</strong>se verwerfen.So machen es oft Pferdekenner, Sachverständigeim Abschätzen von Juwelen und Fac<strong>hl</strong>eutein <strong>an</strong>dern Künsten. Um so mehrwird der gegen <strong>die</strong> Menschen so liebevolleGott, <strong>die</strong> unergründliche Weisheit, der alleinalles klar sieht, sich nicht <strong>an</strong> das Gutdünkender Menschen klammern, sondern nach seinereigenen und untrüglichen und unbegrenztenWeisheit sein Urteil über alle fällen.So hat er den Zöllner und den Schacher und<strong>die</strong> öffentliche Sünderin auserwä<strong>hl</strong>t, dagegen<strong>die</strong> Priester und Ältesten und Vorsteher <strong>des</strong>Volkes beiseite gesetzt und verworfen.7.Dieselbe Beobachtung k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> auch beiden Märtyrern machen. Viele von ihnen, <strong>die</strong>g<strong>an</strong>z ungeachtet waren, erl<strong>an</strong>gten <strong>die</strong> Kronezur Zeit <strong>des</strong> Kampfes; dagegen versagten<strong>an</strong>dere und fielen, <strong>die</strong> allgemein für großeGlaubenshelden <strong>an</strong>gesehen wurden. Ziehdarum den Schöpfer nicht zur Rechenschaftund frage nicht: Warum wurde der belohntund der bestraft? Gott weiß gar wo<strong>hl</strong>, warumer das eine und das <strong>an</strong>dere tut. Darum sagteer auch im voraus: „Jakob habe ich geliebtund Esau gehaßt.“ Daß er dabei gerecht geh<strong>an</strong>delthat, weißt du nach den Ereignissen;er aber hat es schon vor denselben sehr wo<strong>hl</strong>gewußt. Gott schaut nämlich nicht bloß aufdas äußere Werk, sondern auch auf den Adelder Gesinnung und <strong>die</strong> gute Absicht. Dennwer innerlich so gerichtet ist, der wird baldwieder zu sich kommen, wenn er auch einmalaus Übereilung eine Sünde begehen sollte.Auch in dem Zust<strong>an</strong>d der Sünde, in demer sich befindet, ist er von Gott nicht aufgegeben,sondern er, der Allwissende, wirdsich bald wieder seiner erinnern. Wer dagegeninnerlich verderbt ist, der wird zugrundegehen, auch wenn er scheinbar etwas Gutestut, weil er es mit sc<strong>hl</strong>echter Absicht tut. So191hat David, als er sich <strong>des</strong> Mor<strong>des</strong> und <strong>des</strong>Ehebruches schuldig gemacht hatte, dochbald <strong>die</strong>se Verbrechen wieder von sich abgewaschen,weil er sie aus Übereilung undhingerissen von der Leidenschaft, nicht aberaus vorsätzlicher Bosheit beg<strong>an</strong>gen hatte. DerPharisäer dagegen, der nichts dergleichenget<strong>an</strong> hatte, der sich sogar sonst guter Werkerühmen konnte, verdarb alles durch <strong>die</strong>sc<strong>hl</strong>echte Gesinnung. V. 14 „Was sollenwir also sagen? Gibt es nicht Ungerechtigkeitbei Gott? Das sei ferne!“— Also auch nicht uns und auch nicht denJuden gegenüber. D<strong>an</strong>n fügt der Apostel einen<strong>an</strong>deren Satz hinzu, der klarer 246 ist als<strong>die</strong>ser. Wie lautet er?V. 15: „Denn zu Moses spricht er: Ich werdemich erbarmen, wessen ich mich erbarmen willund werde begn<strong>ad</strong>igen, wen ich begn<strong>ad</strong>igen will.“— Der Apostel steigert <strong>die</strong> Schwierigkeit,indem er sie d<strong>ad</strong>urch löst, daß er den Knotenmitten entzwei haut und dabei eine neueUnbegreiflichkeit zur Lösung her<strong>an</strong>zieht.Damit das Gesagte klarer werde, muß ich esnäher ausdeuten. Gott hatte gesagt, das istder Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Apostels: „Der Älterewird dem Jüngeren <strong>die</strong>nen“, und zwar schonvor ihrer Geburt. Wie also? Hat da Gott ungerechtgeh<strong>an</strong>delt? Keineswegs. Und nunhöre <strong>die</strong> folgende Begründung: Hier (bei Jakobund Esau) lag ein Unterschied zwischenTugend und Laster vor; dort aber (bei denIsraeliten in der Wüste) lag <strong>die</strong> gleiche Sündealler Juden vor, nämlich <strong>die</strong> Aufstellung <strong>des</strong>goldenen Kalbes, und doch wurden <strong>die</strong> einenvon ihnen gestraft, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern nicht. Das Warumgibt Gott <strong>an</strong> in den Worten: „Ich werdemich erbarmen, wessen ich mich erbarmenwill, und werde begn<strong>ad</strong>igen, wen ich begn<strong>ad</strong>igenwill.“ Nicht dir, Moses, will Gott sagen,kommt es zu, wissen zu müssen, welchemeiner Liebe würdig sind, sondern das laßmeine Sache sein. Wenn es nun aber Mosesnicht zukam, <strong>die</strong>s wissen zu müssen, um246 M<strong>an</strong>che H<strong>an</strong>dschriften haben ἀσαφέστερον unklarer.


wieviel weniger kommt es uns zu. Darumsetzt der Apostel den Ausspruch Gottes nichteinfach, wie er lautet, her, sondern er fügtauch bei, <strong>an</strong> wen er gerichtet war. „Zu Mosesspricht er“, heißt es, damit nämlich <strong>die</strong> Achtungvor der Person jeden Widerspruch imvorhinein aussc<strong>hl</strong>ieße. <strong>In</strong>dem <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong>seLösung <strong>des</strong> Rätsels (der Auserwä<strong>hl</strong>ung) gibt,haut er den Knoten einfach mitten durch. Erkommt aber gleich wieder mit einer neuenSchwierigkeit, indem er fortfährt: V.16: „Es kommt also nicht auf das Wollen undnicht auf das Rennen <strong>an</strong>, sondern auf das ErbarmenGottes.“V. 17: „Sagt ja <strong>die</strong> Schrift zu Pharao: Ger<strong>ad</strong>e dazuhabe ich dich erweckt, damit ich <strong>an</strong> dir meineMacht zeige, und damit mein Name verkündetwerde auf der g<strong>an</strong>zen Erde.“— Wie dort — das ist der Sinn <strong>die</strong>ser Worte— (bei den Israeliten in der Wüste) <strong>die</strong> einenheil blieben, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern gestraft wurden, soerscheint auch hier <strong>die</strong>ser König einzig zu<strong>die</strong>sem Zwecke aufbewahrt (nämlich daßGott <strong>an</strong> ihm seine Macht zeige). — Hieraufbringt der Apostel einen weiteren Einw<strong>an</strong>dvor:V. 18: „Also wen er will, begn<strong>ad</strong>igt er, und wener will, verstockt er.“V. 19: „Du wirst mir einwenden: Was beklagtsich d<strong>an</strong>n aber Gott (über Ungehorsam der Menschen)?Wer hat sich denn d<strong>an</strong>n seinem Willenwidersetzt?“— Bemerkst du, wie der Apostel sich förmlichMühe gibt, <strong>die</strong> Frage recht voller Widersprüchezu machen? Und er gibt <strong>die</strong> Lösungnicht sogleich — er tut auch das mit Vorbedacht—, sondern schneidet dem Fragestellerzunächst <strong>die</strong> Rede ab, indem er ihn so fragt:V. 20: „Ja, aber, o Mensch, wer bist du, daß dumit Gott rechtest?“— So geht der Apostel vor, um <strong>die</strong> unzeitigeNeugier <strong>des</strong> Fragestellers zu dämpfen undseinem Vorwitz einen Zügel <strong>an</strong>zulegen. Erbelehrt ihn, was Gott und was der Menschsei und wie unbegreiflich Gottes Vorsehungsei, wie sie unsere Vernunft übersteige und192wie alles sich ihm fügen müsse. Nachdem er<strong>die</strong>s dem Zuhörer bewiesen und seinen Geistauf <strong>die</strong> Lösung vorbereitet und dafür empfänglichgemacht hat, k<strong>an</strong>n er <strong>die</strong>se selbst mitaller Leichtigkeit vorbringen. Er hat dem,was er sagen will, gute Aufnahme gesichert.Er sagt nicht, daß es unmöglich sei, eine Lösung<strong>die</strong>ser Frage zu geben, sondern daß essinnlos sei, eine solche Frage zu stellen. M<strong>an</strong>müsse sich Gottes Fügungen unterwerfenund dürfe sich nicht den Kopf zerbrechen,wenn m<strong>an</strong> auch ihren Grund nichtimmer einsehe. Darum heißt es: „Wer bistdu, daß du mit Gott rechtest?“ Siehst du, wieder Apostel damit den Stolz dämpft und niederhält?„Wer bist du?“ fragt er. Hast du etwateil <strong>an</strong> seiner Herrschaft? Oder bist duzugleich mit Gott <strong>zum</strong> Richter bestellt? ImVergleich zu ihm k<strong>an</strong>nst du nicht irgend etwassein; nicht das oder jenes, sondern garnichts bist du. Es ist kräftiger ausgedrückt,wenn der Apostel fragt: „Wer bist du?“ alswenn er sagte: Du bist nichts. Durch <strong>die</strong> Frageformist der Abst<strong>an</strong>d (zwischen Gott unddem Menschen) besser ausgedrückt als durcheine <strong>an</strong>dere Redewendung. Der Apostel sagtauch nicht: Wer bist du, daß du dir ein Urteilerlaubtest über Gott? sondern: „der du rechtest“,d. h. der du Gott widersprichst, mitihm streitest. Denn sagen: das soll so seinund soll nicht so sein, nennt m<strong>an</strong> „rechten“.Siehst du, wie der Apostel den Fragestellerschreckt, wie er ihn einschüchtert, wie er ihneher zittern macht als ihn ver<strong>an</strong>laßt, nochweiter zu fragen und sich den Kopf zu zerbrechen?So geht ein rechter Lehrer vor; erfolgt nicht immer dem Wunsche der Schüler,sondern er führt sie nach eigenem Willen.Zuerst reißt er <strong>die</strong> Disteln aus, d<strong>an</strong>n erststreut er den Samen und <strong>an</strong>twortet nichtimmer sogleich auf jede Frage.„Wird wo<strong>hl</strong> das Werk <strong>zum</strong> Meister sagen: Warumhast du mich so gemacht?“V. 21: „Oder hat der Töpfer nicht Macht über denTon, aus derselben Masse das eine Gefäß zu einer


edlen, das <strong>an</strong>dere zu einer unedlen Bestimmungzu formen?“8.Diese Stelle ist nicht so zu verstehen, als obder Apostel mit <strong>die</strong>sen Worten <strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>icheWillensfreiheit aufheben wollte, sonderner will damit nur klar machen, inwieweit wirGottes Fügungen Gehorsam schulden. Wennes sich darum h<strong>an</strong>delt, Rechenschaft vonGott zu verl<strong>an</strong>gen, so sind wir dazu nichtmehr befugt, wie der Ton dem Töpfer gegenüber.Nicht bloß kein Widerspruch istuns erlaubt, sondern nicht einmal eine Frageoder eine Äußerung, ja auch nicht ein Ged<strong>an</strong>ke,sondern wir müssen g<strong>an</strong>z dem leblosenTon glei- chen, der in den Händen<strong>des</strong> Töpfers sich formen läßt, wozu <strong>die</strong>serwill. Darin allein liegt der Vergleichspunkt<strong>des</strong> Beispieles; nicht auf unser H<strong>an</strong>delnhat es Bezug, sondern auf unsere Unterwürfigkeitund unser Stillesein den FügungenGottes gegenüber. Das muß m<strong>an</strong> übrigensbei allen Gleichnissen beachten: m<strong>an</strong>darf sie nicht in ihrer Gänze nehmen, sondernm<strong>an</strong> muß das, was auf <strong>die</strong> Sache paßt,herausheben, das <strong>an</strong>dere aber beiseite lassen.Wenn es z. B. heißt: „Er hat sich gelagert undsc<strong>hl</strong>äft wie ein Löwe“ 247 , so ist damit das Unbesiegbareund Furchterregende gemeint,nicht das Wilde und was sonst den Löweneigen ist. Und wenn es <strong>an</strong>derswo heißt: „Ichwerde ihnen entgegenkommen wie eine Bärin,der m<strong>an</strong> <strong>die</strong> Jungen geraubt hat“ 248 , so ist<strong>die</strong> Rache gemeint; und wenn es heißt: „UnserGott ist wie ein verzehrend Feuer“ 249 , sodas Zerstörende, das in der Strafe liegt. E-benso haben wir auch den Ton, den Töpferund das Gefäß zu verstehen. Wenn aber derApostel fortfährt und sagt: „Oder hat der247 Num. 24, 9.248 Os. 13, 8.249 Deut. 4, 24.193Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselbenMasse das eine Gefäß zu einer edlen, das<strong>an</strong>dere zu einer unedlen Bestimmung zu formen?“so glaube ja nicht, <strong>Paulus</strong> habe <strong>die</strong>sgesagt, um eine Unfreiheit <strong>des</strong> mensc<strong>hl</strong>ichenWillens zu behaupten, <strong>die</strong> ihm <strong>an</strong>erschaffensei, sondern um auszudrücken, daß Gott inseinen Verfügungen frei sei und daß <strong>die</strong>sedemzufolge verschieden seien. Denn wennwir <strong>die</strong>se Worte nicht so auffassen, folgt darausm<strong>an</strong>cherlei Ungereimtes. Wäre hier vommensc<strong>hl</strong>ichen Willen <strong>die</strong> Rede, so wäre Gottselbst der Urheber <strong>des</strong> Guten und Bösen undder Mensch dafür g<strong>an</strong>z unver<strong>an</strong>twortlich.Damit würde sich aber <strong>Paulus</strong> in Widerspruchzu sich selbst setzen, da er ja sonstüberall <strong>die</strong> mensc<strong>hl</strong>iche Willensfreiheit sosehr hervorhebt. Er will also hier nichts <strong>an</strong>dereserreichen, als den Zuhörer zu überzeugen,daß er sich g<strong>an</strong>z und gar Gott überlassenmüsse und nicht einmal nach einemGrunde für <strong>die</strong> Verfügungen Gottes fragendürfe. Denn wie der Töpfer, will er sagen,aus derselben Masse formt, was er will, ohnedaß ihm jem<strong>an</strong>d widerspricht, so frageauch du nicht und zerbrich dir nicht denKopf, wenn du siehst, wie Gott von Menschen,<strong>die</strong> demselben Gesc<strong>hl</strong>echt entstammen,<strong>die</strong> einen bestraft, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern belohnt,sondern neige dich in demütiger Anbetungund verhalte dich wie der Ton: wie <strong>die</strong>sersich den Händen <strong>des</strong> Töpfers fügt, so fügeauch du dich dem Willen Gottes, wenn er dasoder jenes verfügt. Er tut ja nichts ohne seineguten Gründe, auch da, wo ein Zufall zuwalten scheint und wo du das Geheimnisseiner Weisheit nicht durchschaust. Du gestehstja auch dem Töpfer das Recht zu, ausderselben Masse Verschiedenes zu formenund machst ihm keinen Vorwurf; von Gottaber möchtest du Rechenschaft darüber fordern,wie er Strafe und Lohn austeilt, undtraust ihm nicht zu, zu wissen, wer <strong>des</strong> einenoder <strong>an</strong>dern würdig ist, sondern verl<strong>an</strong>gst,daß <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Masse, weil sie dem Wesennach gleich ist, auch <strong>die</strong> gleiche Bestimmung


haben müsse. Was ist das doch für eine Torheit!Es liegt ja auch nicht am Töpfer, daß ausderselben Masse Edles und Unedles wird,sondern am Gebrauch, den <strong>die</strong> Besitzer derGefäße davon machen; so hängt es auch hiervom Gebrauch <strong>des</strong> freien Willens ab. Übrigens,wie ich oben schon bemerkte, darf m<strong>an</strong>aus dem vorgebrachten Beispiele nur deneinen Vergleichspunkt pressen, daß m<strong>an</strong>nämlich Gott nicht widersprechen dürfe,sondern sich den unerforsc<strong>hl</strong>ichen Ratsc<strong>hl</strong>üssenseiner Vorsehung fügen müsse. Denn dasBeispiel muß immer weiter reichen als derGegenst<strong>an</strong>d, zu <strong>des</strong>sen Verdeutlichung es<strong>die</strong>nt, damit es auf den Zuhörer mehr wirke.Wenn es nicht den Vergleichspunkt vergrößerte,ja gewissermaßen in einer Übertreibungdarstellte, so könnte es den Zuhörernicht überzeugen und den Gegner nicht <strong>zum</strong>Schweigen bringen. So hat also der Apostel<strong>die</strong> ungehörige Streitsucht der Juden mit derihm eigenen Treffsicherheit vorläufig gedämpft.Im folgenden bringt er <strong>die</strong> eigentlicheLösung (der schwierigen Frage). Worinliegt <strong>die</strong>se Lösung?V. 22: „Gott wollte seinen Zorn zeigen und seineMacht kund tun; darum ertrug er mit großerL<strong>an</strong>gmut <strong>die</strong> Gefäße <strong>des</strong> Zornes, <strong>die</strong> <strong>zum</strong> Verderbenbestimmt waren“; V. 23: „damit erden Reichtum seiner Herrlichkeit <strong>an</strong> den Gefäßen<strong>des</strong> Erbarmens zeige, <strong>die</strong> er vorherbestimmt hattezur Verherrlichung“,V. 24: „hat er uns berufen nicht bloß aus den Juden,sondern auch aus den Heiden.“— Der Sinn <strong>die</strong>ser Sätze ist folgender: „EinGefäß <strong>des</strong> Zornes war Pharao, d. h. einMensch, der durch seine Verstocktheit denZorn Gottes entflammte. Ungeachtet GottesL<strong>an</strong>gmut besserte er sich nicht, sondern bliebverkehrt, wie er war. Darum nennt ihn derApostel nicht bloß „ein Gefäß <strong>des</strong> Zornes“,sondern auch „bestimmt <strong>zum</strong> Verderben“.„Bestimmt“ will heißen, allerdings aus eigenerSchuld, durch seine eigenen Taten. DennGott hat nichts unversucht gelassen, was zuseiner Bekehrung <strong>die</strong>nen konnte, er selbst194aber ließ nichts unget<strong>an</strong>, was sein Verderbenherbeiführen und ihm jede Verzeihung unmöglichmachen mußte. Aber obgleich Gottdas gar wo<strong>hl</strong> wußte, „ertrug er (ihn) dochmit großer L<strong>an</strong>gmut“, weil er ihn zur Sinnesänderungleiten wollte; denn wäre das nichtGottes Absicht gewesen, nimmer hätte ersolche L<strong>an</strong>gmut gegen ihn bewiesen. Weilaber jener <strong>die</strong>se L<strong>an</strong>gmut nicht zu seiner Bekehrungbenützte, sondern sich selbst fürGottes Zorn reif machte, benützte ihn <strong>die</strong>serzur Besserung <strong>an</strong>derer, indem er durch <strong>die</strong><strong>an</strong> ihm vollzogene Strafe <strong>an</strong>dere <strong>zum</strong> Eifer<strong>an</strong>spornte und <strong>an</strong> ihm seine Macht zeigte.Daß Gott nicht gern auf solche Weise seineMacht zeigt, sondern im Gegenteil durchSegnungen und Wo<strong>hl</strong>tun, das hat <strong>Paulus</strong> o-ben klar <strong>zum</strong> Ausdruck gebracht. Dennwenn er selbst nicht auf solche Weise seineMacht zeigen will — „nicht daß wir bewährterscheinen, sondern damit ihr das Gute tuet“250 , sagt er —, um wieviel weniger wird<strong>die</strong>s Gott tun wollen. Mit Pharao hatte er soviel L<strong>an</strong>gmut geübt, um ihn zur Bekehrungzu bringen. Als <strong>die</strong>ser sich aber nicht bekehrte,ertrug er ihn noch l<strong>an</strong>ge Zeit und gab d<strong>ad</strong>urcheinerseits einen Beweis seiner Güte,<strong>an</strong>dererseits aber auch seiner Macht, indemer wartete, ob <strong>die</strong>ser sich seine große L<strong>an</strong>gmutnicht doch noch zu- nutze machenwürde. Wie Gott durch <strong>die</strong> Bestrafung<strong>die</strong>ses unbekehrten Sünders seine Machtzeigte, so gab er durch sein Erbarmen mitgroßen, aber bekehrten Sündern einen Beweisseiner Liebe.9.Der Apostel braucht aber nicht den Ausdruck„Liebe“ (wo er von Gottes Erbarmenspricht), sondern „Herrlichkeit“, um auszudrücken,daß sich darin g<strong>an</strong>z besonders Got-250 2 Kor. 13, 7.


tes Herrlichkeit zeige, und daß ihm <strong>die</strong>se ü-ber alles <strong>an</strong>dere gehe. Wenn er aber spricht:„Die er vorherbestimmt hatte zur Verherrlichung“,so sagt er damit, daß dabei nicht allesGottes Werk sei. Wenn dem so wäre, sostünde ja nichts im Wege, daß alle das Heilerl<strong>an</strong>gten. Der Apostel will vielmehr wiederauf das Vorauswissen Gottes hingewiesenhaben und den Unterschied zwischen Judenund Heiden (in bezug auf <strong>die</strong> Erl<strong>an</strong>gung <strong>des</strong>Heiles) als aufgehoben kennzeichnen. Ger<strong>ad</strong>edamit verschafft er seiner Rede keine geringeRechtfertigung. Denn nicht bloß bei den Judenkommt es vor, daß <strong>die</strong> einen verlorengehen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern das Heil erl<strong>an</strong>gen, sondernauch bei den Heiden. Darum heißt es auchnicht, daß Gott <strong>die</strong> Heiden berufen hat, sondern„aus den Heiden“, auch nicht <strong>die</strong> Juden,sondern „aus den Juden“. So wie Pharao einGefäß <strong>des</strong> Zornes geworden ist durch seineeigene Sc<strong>hl</strong>echtigkeit, so sind <strong>die</strong>se Gefäße<strong>des</strong> Erbarmens geworden durch ihre eigenegute Gesinnung. Denn wenn <strong>die</strong> Berufungauch <strong>zum</strong> größeren Teil ein Werk Gottes ist,so haben doch auch <strong>die</strong> Berufenen selbst einWeniges mitgewirkt. Darum sagt der Apostelauch nicht: Gefäße der guten Werke, auchnicht: Gefäße der guten Gesinnung, sondern:„Gefäße <strong>des</strong> Erbarmens“, um auszudrücken,daß das G<strong>an</strong>ze ein Werk Gottes ist. Dennauch der Satz: „Es kommt nicht auf das Wollenund nicht auf das Rennen <strong>an</strong>“ ist gleichfallsals ein Ausspruch <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> aufzufassen,wenn er auch in Form einer Einwendungausgesprochen ist, und enthält keinen Widerspruchzu <strong>an</strong>dern Aussprüchen <strong>des</strong>selbenApostels. Denn wenn er sagt: „Es kommtnicht auf das Wollen und nicht auf das Rennen<strong>an</strong>“, will er damit nicht <strong>die</strong> Selbstbestimmungaufgehoben, sondern nur ausgedrückthaben, daß <strong>die</strong> Be- rufung zurSeligkeit nicht g<strong>an</strong>z ein Werk <strong>des</strong> Berufenenist, sondern daß dazu auch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e vonoben gehört. Das Wollen und Laufen gehörtdazu; aber m<strong>an</strong> darf sich nicht auf <strong>die</strong> eigeneAnstrengung allein verlassen, sondern auf195<strong>die</strong> Liebe Gottes. Dasselbe sagt der Apostel<strong>an</strong>derswo: „Nicht ich, sondern <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>eGottes in mir“ 251 . Treffend heißt es weiter:„<strong>die</strong> er vorherbestimmt hatte zur Verherrlichung“.Denn da m<strong>an</strong> den Christen denVorwurf machte, daß sie aus Gn<strong>ad</strong>e das Heilerl<strong>an</strong>gten, und darin etwas Beschämen<strong>des</strong>für sie erblickte, so beseitigt der Apostel <strong>die</strong>senVerdacht vollständig. Denn wenn <strong>die</strong>Berufung zur Seligkeit eine Tat ist, <strong>die</strong> GottHerrlichkeit bringt, so doch um so mehr denen,durch welche Gott <strong>die</strong>se Herrlichkeitwurde.Beachte übrigens bei <strong>die</strong>ser g<strong>an</strong>zen Beweisführung<strong>die</strong> weise Zurückhaltung <strong>des</strong> Apostels!Er mußte nicht den Pharao als Beispiel<strong>an</strong>führen, wo von den Bestraften <strong>die</strong> Redewar, sondern konnte Juden, <strong>die</strong> gesündigthatten, nennen. Er hätte damit seine Ausführungennoch einleuchtender machen können,indem er gezeigt hätte, daß trotz der Abstammungvon denselben Urvätern und trotzderselben Verfe<strong>hl</strong>ungen doch <strong>die</strong> einen verlorengingen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern das Heil erl<strong>an</strong>gten.Er hätte sie d<strong>ad</strong>urch bestimmen können,nicht weiter dagegen Einwendungen zu machen,wenn von den Heiden m<strong>an</strong>che das Heilerl<strong>an</strong>gen, von den Juden dagegen m<strong>an</strong>cheverloren gehen. Um jedoch nicht bei den Juden<strong>an</strong>zustoßen, nimmt er das Beispiel derBestrafung aus einem fremden Volke, umnicht genötigt zu sein, sie „Gefäße <strong>des</strong> Zornes“zu nennen. Dagegen führt er von solchen,<strong>die</strong> Erbarmung erl<strong>an</strong>gt haben, Beispieleaus dem Volke der Juden <strong>an</strong>. Von Gott wehrtja der Apostel hinlänglich alle Schuld ab; erhabe wo<strong>hl</strong> gewußt, daß Pharao sich zu einemGefäß <strong>des</strong> Verderbens machen werde, unddennoch von seiner Seite das Möglichste aufgeboten(ihn zu retten), Geduld, L<strong>an</strong>gmut, j<strong>an</strong>icht L<strong>an</strong>gmut in gewöhnlichem Maße, sondernüberaus große L<strong>an</strong>gmut; und trotzdem(auf Gott nicht der Schein eines Übelwollensfällt,) wollte der Apostel doch nicht das Bei-251 1 Kor. 15, 10.


spiel der Verwerfung den Juden entnehmen.Woher kommt es also, daß <strong>die</strong> einenGefäße <strong>des</strong> Zornes, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Gefäße derGn<strong>ad</strong>e geworden sind? Sie haben es sichselbst so gewä<strong>hl</strong>t. Gott, höchst gütig wie erist, erweist beiden dasselbe Wo<strong>hl</strong>wollen. Erhat sein Erbarmen nicht bloß auf <strong>die</strong>jenigenbeschränkt, <strong>die</strong> gerettet worden sind, sondernes auch dem Pharao zuteil werden lassen,soweit es auf ihn <strong>an</strong>kam. Seine L<strong>an</strong>gmuterfuhren sowo<strong>hl</strong> jene wie <strong>die</strong>ser. Wenn ertrotzdem nicht das Heil erl<strong>an</strong>gte, so lag <strong>die</strong>Schuld einzig nur <strong>an</strong> ihm. Soweit es auf Gott<strong>an</strong>kommt, empfing er es nicht weniger als<strong>die</strong>, welche selig geworden sind.Nachdem der Apostel <strong>die</strong> Lösung derschwierigen Frage (der göttlichen Vorherbestimmung)durch Hinweis auf Tatsachen derGeschichte gegeben hat, so führt er nun, umseine Ausführungen auch von einer <strong>an</strong>dernSeite her glaubwürdig zu machen, auch <strong>die</strong>Propheten <strong>an</strong>, <strong>die</strong> dasselbe voraus verkündigthatten. Oseas, sagt er, hat das schon l<strong>an</strong>gevorher geschrieben, wenn er spricht:V. 25: „Ich werde ein Volk mein nennen, dasnicht mein Volk ist 252 , und eine NichtgeliebteGeliebte.“Damit nämlich <strong>die</strong> Juden nicht sagen können:Du belügst uns mit deinen Ausführungen, soruft er den Oseas als Zeugen <strong>an</strong>, der daspricht: „Ich werde ein Volk mein nennen,das nicht mein Volk ist.“ Wer ist <strong>die</strong>ses„nicht (mein) Volk“? Offenbar <strong>die</strong> Heiden.Und wer ist „<strong>die</strong> Nichtgeliebte“? Wieder <strong>die</strong>selben.Und doch heißt es, sie würden seinVolk und seine Geliebte und Kinder Gottessein.V. 26: „Da werden sie Kinder Gottes gen<strong>an</strong>ntwerden.“Wenn m<strong>an</strong> behaupten wollte, <strong>die</strong>s sei vonden gläubigen Juden gesagt, so bleibt <strong>die</strong> Sachedoch <strong>die</strong>selbe. Denn wenn das Verhältniszu Gott bei den Juden eine solche Veränderungerfahren konnte, daß sie, <strong>die</strong> nach sovielen Wo<strong>hl</strong>taten und<strong>an</strong>kbar blieben undsich ihm entfremdeten, das Recht verloren,sein Volk zu beißen, was steht imWege, daß den Heiden, <strong>die</strong> nicht früher seineigen gewesen und sich d<strong>an</strong>n ihm entfremdethatten, sondern <strong>die</strong> ihm von Anf<strong>an</strong>g <strong>an</strong>fremd gegenüber gest<strong>an</strong>den waren, das Umgekehrtewiderfuhr, daß sie nämlich berufenwurden und, weil sie dem Rufe gefolgt waren,derselben Ehren teilhaftig wurden? —Doch dem Apostel genügt es nicht, den O-seas <strong>an</strong>geführt zu haben, sondern er führtauch den Isaias <strong>an</strong>, der übereinstimmend mitjenem den Ruf erschallen läßt:V. 27: „Isaias aber ruft über Israel“;d. h. er verkündet es mit Freimut und hältnicht zurück. — Was t<strong>ad</strong>elt ihr also uns,wenn jene Männer dasselbe verkünden lauterals wir, mit Trompetenschall? — Was alsoruft Isaias?„Wenn auch <strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Söhne Israels wäre wieder S<strong>an</strong>d am Meere, so wird doch nur ein übrigbleibenderTeil das Heil erl<strong>an</strong>gen“. 253— Siehst du da, wie auch er sagt, daß nichtalle das Heil erl<strong>an</strong>gen werden, sondern nur<strong>die</strong>, welche <strong>des</strong>sen würdig sind? Ich schauenicht auf <strong>die</strong> Menge, spricht etwa Gott, undlaß mich in meinem Entsc<strong>hl</strong>usse nicht beirrendurch <strong>die</strong> Tatsache, daß ihr Gesc<strong>hl</strong>echt soweit verbreitet ist, sondern ich rette nur <strong>die</strong>jenigen,welche sich <strong>des</strong>sen würdig gemachthaben. Nicht umsonst erwähnt der Apostelden „S<strong>an</strong>d am Meere“. Er will damit <strong>die</strong> Juden<strong>an</strong> alte Verheißungen erinnern, deren siesich unwürdig gemacht hatten, was sc<strong>hl</strong>agtihr also Lärm, will er sagen, als sei <strong>die</strong> Verheißungunerfüllt geblieben, da doch allePropheten es klar aussprechen, daß nicht alledas Heil erl<strong>an</strong>gen werden?Hierauf geht er auf <strong>die</strong> Art und Weise ein,wie sie <strong>zum</strong> Heil gel<strong>an</strong>gen sollen. Merkst duda, wie genau <strong>die</strong> <strong>an</strong>gezogene Weissagungzutrifft und wie klug der Apostel ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong>sesZeugnis als überaus treffend ausgewä<strong>hl</strong>t252 Os. 2, 24.196253 Is. 10, 22.


hat? Es bringt nämlich nicht bloß zur Anschauung,daß nur m<strong>an</strong>che das Heil erl<strong>an</strong>gen,nicht alle, sondern es ver<strong>an</strong>schaulichtauch <strong>die</strong> Art und Weise, wie sie eserl<strong>an</strong>gen. Wie werden sie also das Heil erl<strong>an</strong>gen?Und wie wird sie Gott <strong>die</strong>ser seinerWo<strong>hl</strong>tat würdig machen?V. 28: „Ein Wort erfüllt er, und das in kurzerZeit, gerecht, wie er ist; ja, ein Wort, das sich inkurzer Zeit erfüllt, wird der Herr ausführen aufErden.“ — Damit will er sagen: Es brauchtkeine l<strong>an</strong>ge Zeit, keine Mühen und kein Sichabplagenmit den Werken <strong>des</strong> Gesetzes,sondern das Heil ist auf g<strong>an</strong>z kurzem Wegezu erl<strong>an</strong>gen. Dieser kurze Weg ist der Glaube;in wenig Worten enthält er das Heil:„Denn wenn du“, heißt es, „mit dem Mundeden Herrn Jesus bekennst und im Herzenglaubst, daß Gott ihn von den Toten auferweckthat, so wirst du das Heil erl<strong>an</strong>gen“ 254 .10.Siehst du da, was es heißt: „Ein Wort, dassich in kurzer Zeit erfüllt, wird der Herr ausführenauf der Erde“? Und das Wunderbaredabei ist, daß <strong>die</strong>ses kurze Wort nicht bloßHeil, sondern auch Gerechtigkeit gebrachthat.V. 29: „Und wie Isaias geweissagt hat: Wenn derHerr der Heerscharen uns nicht einen Samenübrig gelassen hätte, so wäre es uns wie Sodomaerg<strong>an</strong>gen, und Gomorrha wären wir gleich geworden.“— Hier führt der Apostel wieder einen <strong>an</strong>dernGed<strong>an</strong>ken ein, nämlich, daß auch jene wenigennicht auf Grund ihrer eigenen guten Werke dasHeil erl<strong>an</strong>gten. Wenn es auf <strong>die</strong>se <strong>an</strong>gekommenwäre, so wären auch jene wenigen zugrunde geg<strong>an</strong>gen,und sie hätten dasselbe Schicksal erfahrenwie Sodoma, nämlich den Unterg<strong>an</strong>g. DieBewohner Sodomas sind ja alle mit der Wurzel254 Röm. 10, 9.197ausgerottet worden, und es ist nicht eine Spurvon einem Samen von ihnen übriggeblieben. Sowäre es auch <strong>die</strong>sen wenigen (geretteten Israeliten)erg<strong>an</strong>gen, wenn nicht Gott ihnen gegenübergroße Güte hätte walten lassen und sie durch denGlauben <strong>zum</strong> Heil geführt hätte. Dasselbe geschahja auch bei der leiblichen Ge- f<strong>an</strong>genschaft (in welche <strong>die</strong> Juden geführtwurden). Die große Mehrza<strong>hl</strong> der Abgeführtenging zugrunde, nur wenige wurden gerettet.V. 30: „Was sollen wir also sagen? Daß <strong>die</strong> Heiden,<strong>die</strong> nicht (voll Selbstvertrauen) der Gerechtigkeitnachstrebten, Gerechtigkeit empfingen,Gerechtigkeit aber aus dem Glauben“;V. 31: „Israel dagegen, welches durch das (alttestamentliche)Gesetz der Gerechtigkeit gerechtwerden wollte, nicht <strong>zum</strong> (eigentlichen) Gesetzder Gerechtigkeit gel<strong>an</strong>gte.“— Damit ist <strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>ießliche Lösung klar gegeben.Zuerst hat der Apostel den Beweis aus den Tatsachengeführt: „Nicht alle, <strong>die</strong> von Israel abstammen,sind das (wahre) Israel“; d<strong>an</strong>n hat er alsBeispiel <strong>die</strong> Stammväter Jakob und Esau her<strong>an</strong>gezogen;zuletzt hat er seinen Beweis auf <strong>die</strong> ProphetenOseas und Isaias gestützt und bringt nuneine entscheidende Lösung, nachdem er vorher <strong>die</strong>Schwierigkeit in ihrer g<strong>an</strong>zen Größe hatte erscheinenlassen. Zwei Punkte bilden <strong>die</strong> Schwierigkeitauf Seiten der Heiden: einmal, daß sie <strong>die</strong>Gerechtigkeit überhaupt erl<strong>an</strong>gten, und d<strong>an</strong>n, daßsie sie erl<strong>an</strong>gten, ohne darnach gestrebt zu haben,d. i. ohne ihr eigenes Verl<strong>an</strong>gen. Auf seiten derJuden liegen ebenfalls zwei Schwierigkeiten: einmal,daß Israel <strong>die</strong> Gerechtigkeit nicht erl<strong>an</strong>gte,und d<strong>an</strong>n, daß <strong>die</strong> Juden sie nicht erl<strong>an</strong>gten, obwo<strong>hl</strong>sie sich darum bemüht hatten. Um <strong>die</strong>senUnterschied recht hervortreten zu lassen, be<strong>die</strong>ntsich der Apostel eines scharf bezeichnenden Ausdruckes.Er sagt nämlich nicht: sie hatten <strong>die</strong> Gerechtigkeit,sondern: „sie empfingen sie“. DasÜberraschende und scheinbar Widersprechendedabei ist das, daß der eine sich um <strong>die</strong> Gerechtigkeitbemühte und sie nicht empfing, der <strong>an</strong>deresich nicht um sie bemühte und sie doch empfing.Durch den Ausdruck „sie bemühten sich um <strong>die</strong>Gerechtigkeit“ scheint er zunächst den Juden zu


Gefallen zu sprechen; aber später versetzt er ihnenzu gelegener Zeit einen Sc<strong>hl</strong>ag. Weil er in derLage ist, eine überzeugende Lösung zu bringen,darum macht er sich <strong>die</strong> Schwierigkeitrecht groß. Er spricht darum nicht zuerst vondem Glauben und d<strong>an</strong>n von der Gerechtigkeit (<strong>die</strong>aus dem Glauben kommt), sondern er weist denJuden nach, daß sie, bevor es noch einen (christlichen)Glauben gab, mit ihren eigenen guten Werkendurchgefallen seien und sich das Verdammungsurteilzugezogen haben. Du, Jude, will ersagen, bist auch durch das (alttestamentliche)Gesetz zu keiner Gerechtigkeit gekommen; denndu hast es ja übertreten und warst darum demFluche verfallen. Die Heiden dagegen, <strong>die</strong> nichtauf dem Wege <strong>des</strong> Gesetzes zu Gott kommenkonnten, sondern auf einem <strong>an</strong>dern Wege, sindzu einer größeren Gerechtigkeit gekommen, nämlichzu der durch den Glauben. So hatte er jaschon oben gesagt: „Wenn Abraham durch seineWerke Gerechtigkeit erl<strong>an</strong>gte, so hat er sich ja<strong>des</strong>sen zu rühmen, aber nicht vor Gott.“ Damithat er <strong>an</strong>gedeutet, daß <strong>die</strong>se Gerechtigkeit (ausdem christlichen Glauben) größer ist als jene (ausden Werken <strong>des</strong> alttestamentlichen Gesetzes).Oben hatte ich gesagt, daß zwei schwierige Punktevorlägen, nun sind daraus gar drei geworden:Erstens, daß <strong>die</strong> Heiden zur Gerechtigkeit kamen;zweitens, daß sie dazu kamen, ohne sich darumbemüht zu haben; und drittens, daß sie zu einergrößeren Gerechtigkeit kamen, als <strong>die</strong> aus demGesetze war. Dieselben Schwierigkeiten ergebensich wieder auf der entgegengesetzten Seite beiden Juden: Erstens, daß Israel nicht zur Gerechtigkeitkam; zweitens, daß es nicht dazu kam, obwo<strong>hl</strong>es sich darum bemühte; und drittens, daß esauch zu einer minderen Gerechtigkeit nicht kam.— Nachdem der Apostel <strong>die</strong> Zuhörer in eineförmliche Wolke von scheinbaren Widersprüchengehüllt hat, bringt er im folgenden Verse mit kurzenWorten <strong>die</strong> Lösung derselben und gibtzugleich <strong>die</strong> Begründung alles bisher Gesagten.Worin liegt <strong>die</strong>se Begründung?V. 32: „Weil ihm (Israel) nicht aus dem Glauben,sondern vermeintlich aus den Werken <strong>des</strong> Gesetzes<strong>die</strong> Gerechtigkeit kommen sollte.“198— Darin liegt offenkundig <strong>die</strong> Lösung derg<strong>an</strong>zen Frage. Wenn er sie in<strong>des</strong> gleich eing<strong>an</strong>gsgegeben hätte, so wäre sienicht so gut aufgenommen worden. Weil ersie aber erst ausspricht, nachdem er eineg<strong>an</strong>ze Reihe von Einwänden und Erklärungenund Beweisen vorgebracht und za<strong>hl</strong>reicheMißverständnisse richtig gestellt, hat ersie eben d<strong>ad</strong>urch verständlicher und leichter<strong>an</strong>nehmbar gemacht. Das, sagt er, war schuld<strong>an</strong> dem Verderben der Juden, daß ihnen <strong>die</strong>Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben, sondernvermeintlich aus den Werken kommensollte. Er sagt nicht: aus den Werken, sondern:„vermeintlich aus den Werken <strong>des</strong> Gesetzes“;damit deutet er <strong>an</strong>, daß sie in Wirklichkeitauch <strong>die</strong>se Gerechtigkeit nicht erl<strong>an</strong>gten.„Denn sie stießen <strong>an</strong> den Stein <strong>des</strong> Anstoßes.“V. 33: „Wie geschrieben steht: Siehe, ich lege inSion einen Stein <strong>des</strong> Anstoßes und einen Fels <strong>des</strong>Ärgernisses, und wer <strong>an</strong> ihn glaubt, wird nichtzusch<strong>an</strong>den werden“ 255.— Siehst du wieder, wie aus dem Glaubendas Vertrauen kommt, und zwar als Gabe füralle? Denn nicht allein von den Juden ist <strong>die</strong>Rede, sondern vom g<strong>an</strong>zen mensc<strong>hl</strong>ichenGesc<strong>hl</strong>echt. Ein jeder, heißt es, ob ein Judeoder ein Grieche oder ein Skythe oder einThraker oder welchem Volke immer <strong>an</strong>gehörig,ein jeder, der glaubt, darf viel Vertrauenhaben. Verwunderlich ist, daß der Prophetnicht bloß von solchen spricht, <strong>die</strong> glauben,sondern auch von solchen, <strong>die</strong> nicht glauben.„Anstoßen“ heißt nämlich „nicht glauben“.Wie er oben solche meint, <strong>die</strong> verloren gehen,und solche, <strong>die</strong> selig werden, wenn erspricht: „Wenn auch <strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Söhne Israelswäre wie der S<strong>an</strong>d am Meere, so wirddoch nur ein übrigbleibender Teil das Heilerl<strong>an</strong>gen“, und: „Wenn der Herr der Heerscharenuns nicht einen Samen übrig gelassenhätte, so wäre es uns wie Sodoma erg<strong>an</strong>gen“,und: „Er hat berufen nicht allein aus255 Is. 8, 14 und 28, 16.


den Juden, sondern auch aus den Heiden“,so sagt er auch hier, daß <strong>die</strong> einen glauben,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern <strong>an</strong>stoßen werden. Das Anstoßenaber kommt davon her, daß m<strong>an</strong> nicht achtgibt, weil m<strong>an</strong> den Blick auf etwas <strong>an</strong>deresgerichtet hält. Weil nun <strong>die</strong> Juden aufdas Gesetz acht hatten, stießen sie <strong>an</strong> denStein. „Ein Stein <strong>des</strong> Anstoßes und Fels <strong>des</strong>Ärgernisses“ heißt es mit Beziehung auf <strong>die</strong>Gesinnung und das Ende derer, <strong>die</strong> nichtglauben.Ist euch nun das, was ich gesagt habe, klaroder bedarf es noch einer weiteren Ausein<strong>an</strong>dersetzung?Ich denke, <strong>die</strong>, welche aufmerksamzugehorcht haben, werden es erfaßthaben. Sollten es einige doch nicht verst<strong>an</strong>denhaben, so mögen sie <strong>an</strong> mich jederfür sich mit Fragen her<strong>an</strong>treten und sich unterrichtenlassen. Ich habe mich in <strong>die</strong>ser Redeabsichtlich etwas länger mit der Schrifterklärungbefaßt, um nicht genötigt zu sein,durch eine Unterbrechung <strong>des</strong> Zusammenh<strong>an</strong>gesder Deutlichkeit Abbruch zu tun. Ichwill nun hiermit meine Rede besc<strong>hl</strong>ießen,ohne <strong>die</strong>smal eine Sittenpredigt <strong>an</strong> euch zuhalten, wie ich es sonst zu tun pflege, damitich nicht etwa durch <strong>die</strong> Menge der Ausführungenden Eindruck auf euer Gedächtnisabschwäche. Es ist übrigens schon Zeit, denVortrag zu sc<strong>hl</strong>ießen, wie es sich gehört, miteinem Lobspruch auf Gott, den Herrn <strong>des</strong>Weltalls. So wollen denn wir beide, Rednerund Zuhörer, <strong>die</strong>se Erbauungsstunden besc<strong>hl</strong>ießen,indem wir zu Gott den Lobspruchemporsenden: Sein ist das Reich und <strong>die</strong>Macht und <strong>die</strong> Herrlichkeit in Ewigkeit. A-men.ACHTZEHNTE HOMILIE. Kap. X, V.1—13.1. Kap. X, V. 1—13.V. 1: „Brüder! Zwar geht meines Herzens Sehnenund mein Gebet zu Gott für sie auf ihre Rettung.“Der Apostel hat <strong>die</strong> Absicht, den Juden neuerdings,und zwar noch schärfer zuzusetzenals vorher; darum räumt er den Verdachtjeder feindseligen Gesinnung gegen sie ausdem Wege und baut von weitem einer derartigenZumutung vor. Haltet euch nicht, willer sagen, <strong>an</strong> meine Worte und <strong>an</strong> <strong>die</strong> Anklagen,<strong>die</strong> darin liegen, sondern seid überzeugt,daß ich sie nicht aus einer euch feindseligenGesinnung vorbringe. Ist es ja dochnicht möglich, einerseits zu wünschen, ja,nicht bloß zu wünschen, sondern auch darumzu beten, daß einer gerettet werde, und<strong>an</strong>derseits ihn zu hassen und ihm feindseliggesinnt zu sein. Mit dem Worte „Sehnen“meint hier der Apostel ein inniges Verl<strong>an</strong>gen;er setzt ess ja dem Gebete gleich. Nicht bloß,daß <strong>die</strong> Juden von der Strafe frei blieben,sondern daß sie auch das Heil erl<strong>an</strong>gten, istGegenst<strong>an</strong>d seiner lebhaften Sorge, ja seinesGebetes. Nicht allein hier, sondern auch imfolgenden legt er <strong>die</strong> wo<strong>hl</strong>wollende Gesinnung<strong>an</strong> den Tag, <strong>die</strong> er für sie hegt. Er isteifrig bemüht, soweit es nur <strong>an</strong>geht, seineAnklagen zu mildern, und sucht überall,auch nur einen Schatten von Entschuldigungfür sie zu finden. Aber es gelingt ihm nicht;er wird von der Wucht der Tatsachen besiegt.V. 2: „Darf ich ihnen doch das Zeugnis ausstellen,daß sie Eifer haben für Gott, aber (leider)nicht mit Verständnis.“— Also ver<strong>die</strong>nt es Entschuldigung, nichtT<strong>ad</strong>el. Denn wenn sie sich nicht durch Rücksichtauf Menschen, sondern durch ihren religiösenEifer haben abwendig machen lassen(von der wahren Religion), so ist es nur billig,daß m<strong>an</strong> sie viel mehr bemitleide als strafe.— Beachte, wie vorsichtig der Apostel <strong>die</strong>Worte wä<strong>hl</strong>t und wie er doch <strong>die</strong>Rechthaberei der Juden, wo sie nicht amPlatze ist, <strong>an</strong> den Pr<strong>an</strong>ger stellt!199


V. 3: „Sie wußten nichts von der GerechtigkeitGottes.“— Das ist noch immer ein Wort, in dem eineEntschuldigung liegt; was aber d<strong>an</strong>n kommt,ist ein entschiedener T<strong>ad</strong>el und schneidetjede Entschuldigung ab.„Sie streben, ihre eigene Gerechtigkeit zu besitzen,und geben sich nicht zufrieden mit der GerechtigkeitGottes.“— <strong>In</strong> <strong>die</strong>sen Worten liegt ein Hinweis darauf,daß <strong>die</strong> Juden mehr aus Rechthaberei undEigendünkel als aus Unwissenheit irrten,und daß sie nicht einmal <strong>die</strong> Gerechtigkeit,<strong>die</strong> von der Erfüllung der Gesetzesvorschriftenkommt, wirklich erl<strong>an</strong>gten. Der Ausdruck„sie streben zu besitzen“ läßt <strong>die</strong>sdurchschimmern. G<strong>an</strong>z klar sagt er es zwarnicht; denn er sagt nicht, daß sie jeglicherGerechtigkeit entbehrten. Er deutet es aberimmerhin ziemlich deutlich <strong>an</strong>, wenn auchmit der ihm eigenen Vorsicht. Denn wenn siejene (eigene) Gerechtigkeit zu besitzen„strebten“, so geht daraus hervor, daß sie sienicht besaßen; und wenn sie sich mit <strong>die</strong>ser„nicht zufrieden gaben“, so entbehrten sieihrer eben auch. — „Eigene Gerechtigkeit“nennt der Apostel <strong>die</strong> von den Juden <strong>an</strong>gestrebte,entweder um auszudrücken, daß dasGesetz ohnmächtig war, sie zu verschaffen,oder daß sie von ihnen als Frucht eigenerArbeit und Mühe <strong>an</strong>gestrebt wurde. Die <strong>an</strong>derenennt er „Gerechtigkeit Gottes“, nämlich<strong>die</strong> aus dem Glauben. Er nennt sie so,weil sie g<strong>an</strong>z und gar ein Werk der Gn<strong>ad</strong>evon oben ist, weil <strong>die</strong>se Rechtfertigung nichtdurch eigene Anstrengung erworben, sondernvon Gott geschenkt ist. Aber weil <strong>die</strong>Juden dem Hl. Geiste widerstrebten und sichdarauf versteiften, durch <strong>die</strong> Beobachtung<strong>des</strong> Gesetzes gerechtfertigt zu werden, kamensie nicht <strong>zum</strong> Glauben, und weil sienicht <strong>zum</strong> Glauben kamen, empfingen sienicht <strong>die</strong> Gerechtigkeit, <strong>die</strong> aus dem Glaubenhervorgeht. Da sie aber auch vom Gesetzeher nicht gerechtfertigt werden konnten, gingensie auf allen Seiten d<strong>an</strong>eben. V.2004: „Denn das Endziel <strong>des</strong> Gesetzes ist Christuszur Rechtfertigung für jeden, der glaubt.“— Beachte da <strong>die</strong> Klugheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>! Erhat bisher von einer zweifachen Gerechtigkeitgesprochen. Die gläubig gewordenenJuden sollten nicht wähnen, daß sie jetzt <strong>die</strong>eine zwar besäßen, dafür aber <strong>die</strong> <strong>an</strong>dereverloren hätten und der Gesetzesübertretungschuldig erk<strong>an</strong>nt werden könnten. — Dennauch auf <strong>die</strong>se Juden hatte der Apostel nichtweniger Rücksicht zu nehmen, da sie Neulingeim Glauben waren. Die <strong>an</strong>dern Judensollten sich nicht mit der Hoffnung schmeichelnkönnen, <strong>die</strong> Gesetzesgerechtigkeit dochnoch zu erl<strong>an</strong>gen, und sie sollten nicht sagendürfen: Wenn wir auch bis jetzt nicht volldazu gekommen sind, so werden wir doch inder Zukunft g<strong>an</strong>z zu ihr kommen. Beachte,was der Apostel zu <strong>die</strong>sem Zwecke tut! Erzeigt, daß es eigentlich nur eine Gerechtigkeitgibt; daß <strong>die</strong> Gesetzesgerechtigkeit in derGlaubensgerechtigkeit enthalten ist; daß, wer<strong>die</strong>se erwä<strong>hl</strong>t, auch jene erfüllt; wer dagegen<strong>die</strong>se verschmäht, auch jener verlustig geht.Denn wenn „das Endziel <strong>des</strong> Gesetzes Christusist“, so besitzt der, welcher Christus nichthat, auch jene Gerechtigkeit nicht, mag erauch glauben, sie zu besitzen; wer dagegenChristus hat, der ist in den Besitz <strong>des</strong> G<strong>an</strong>zengekommen, mag er auch das Gesetz nichterfüllt haben. So ist z. B. das Endziel der ärztlichenKunst <strong>die</strong> Gesundheit. Wer nun imst<strong>an</strong>deist, <strong>die</strong> Gesundheit herzustellen, derhat das G<strong>an</strong>ze, wenn er auch <strong>die</strong> ärztlicheKunst nicht besitzt; wer dagegen nicht zuheilen versteht, der geht g<strong>an</strong>z d<strong>an</strong>eben, mager auch <strong>die</strong> Kunst zu besitzen scheinen. E-benso verhält es sich mit dem Gesetz unddem Glauben. Wer <strong>die</strong>sen besitzt, der hat dasEndziel auch jenes erreicht; wer dagegen ohneden Glauben ist, der hat weder vom Gesetznoch vom Glauben etwas. Denn waswollte das Gesetz? Doch den Menschen gerechtmachen. Es war dazu aber nicht imst<strong>an</strong>de;denn niem<strong>an</strong>d erfüllte es. Das alsowar der Zweck <strong>des</strong> Gesetzes, darauf zielte


alles ab; Feste und Gebote und alle <strong>an</strong>dernEinrichtungen waren dazu da, daß derMensch gerechtfertigt werde. DenselbenZweck jedoch hat Christus bessererreicht durch den Glauben. Sei darum ohneFurcht, will der Apostel sagen, daß du dasGesetz übertretest, nachdem du einmal <strong>zum</strong>Glauben gekommen bist. Eigentlich übertrittstdu ja das Gesetz nur d<strong>an</strong>n, wenn duseinetwegen nicht <strong>an</strong> Christus glaubst.Glaubst du aber <strong>an</strong> ihn, d<strong>an</strong>n hast du auchdas Gesetz erfüllt, ja sogar viel vollkommener,als sein Gebot lautete; denn du hast eineviel höhere Gerechtigkeit erl<strong>an</strong>gt. — Weil<strong>die</strong>s aber bisher nur seine Behauptung war,so bekräftigt sie der Apostel im folgendenwieder durch <strong>die</strong> Schrift:V. 5: „Moses schreibt von der Gerechtigkeit, <strong>die</strong>von der Beobachtung <strong>des</strong> Gesetzes kommt.“— Der Apostel will sagen: Moses zeigt unsvon der Gerechtigkeit, <strong>die</strong> von der Beobachtung<strong>des</strong> Gesetzes kommt, wie sie beschaffenist und wie sie zust<strong>an</strong>de kommt. — Wie istsie also beschaffen und wie kommt sie zust<strong>an</strong>de?— Durch <strong>die</strong> genaue Erfüllung derGebote.„Wer <strong>die</strong>se erfüllt, der wird leben durch sie.“Auf dem Wege <strong>des</strong> Gesetzes k<strong>an</strong>n demnachniem<strong>an</strong>d auf eine <strong>an</strong>dere Weise gerecht werdenals d<strong>ad</strong>urch, daß er dasselbe in allen seinenPunkten erfüllt. Das ist aber niem<strong>an</strong>demmöglich; also ist es nichts mit <strong>die</strong>ser Gerechtigkeit.2.Aber so sprich uns doch, <strong>Paulus</strong>, von der <strong>an</strong>dernGerechtigkeit, von der Gerechtigkeit,<strong>die</strong> ein Geschenk der Gn<strong>ad</strong>e ist! Was ist <strong>die</strong>seGerechtigkeit und wie kommt sie zust<strong>an</strong>de?— So vernimm denn, wie er <strong>die</strong>selbe ausführlichbeschreibt. Nachdem er jene <strong>an</strong>dereabget<strong>an</strong> hat, geht er im folgenden zu <strong>die</strong>serüber und sagt:201V. 6: „Die Gerechtigkeit aber, <strong>die</strong> aus dem Glaubenkommt, sagt also: Sage nicht in deinem Herzen:Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?nämlich um Christus herabzuholen“;V. 7: „oder wer wird in <strong>die</strong> Unterwelt hinabsteigen?nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen“;V. 8: „sondern was sagt (<strong>die</strong> Schrift)? ‚Nahe istdir das Wort in deinem Munde und in deinemHerzen’ nämlich das Wort <strong>des</strong> Glaubens, das wirverkünden“:V. 9: „daß, wenn du bekennst mit deinem Mundeden Herrn Jesus <strong>an</strong>d glaubst in deinem Herzen,daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, sowirst du selig werden.“Damit nämlich <strong>die</strong> Juden nicht sagen könnten:Wie sollen <strong>die</strong> eine höhere Gerechtigkeiterreichen, welche eine mindere nicht zu erreichenvermochten? führt der Apostel einenunwiderleglichen Grund <strong>an</strong>: Der erstere Wegist leichter als der <strong>an</strong>dere. Dieser verl<strong>an</strong>gtErfüllung sämtlicher Gebote; denn (es heißt):„Wenn du alles erfüllst, wirst du leben.“ DieGlaubensgerechtigkeit dagegen spricht nichtso, sondern wie? „Wenn du bekennst mitdeinem Munde den Herrn Jesus und glaubstin deinem Herzen, daß Gott ihn von den Totenauferweckt hat, so wirst du selig werden.“— Weiter, damit es nicht den Anscheinhabe, als setze er <strong>die</strong> Glaubensgerechtigkeitherab, indem er sie als leicht und müheloserreichbar hinstellt, beachte, wie er <strong>die</strong> Redeüber sie dreht. Er kommt nicht sogleich aufden Satz, den wir soeben <strong>an</strong>geführt haben,sondern was sagt er (vorher)? „Die Gerechtigkeitaber, <strong>die</strong> aus dem Glauben kommt,sagt also: Sag nicht in deinem Herzen: Werwird in den Himmel hinaufsteigen? nämlichum Christus herabzuholen; oder wer wird in<strong>die</strong> Unterwelt hinabsteigen? nämlich umChristus von den Toten heraufzuholen.“ DerTugend, <strong>die</strong> von den Werken kommt, steht<strong>die</strong> Trägheit entgegen, welche <strong>die</strong> Mühenscheut, und es bedarf eines gar wachsamenSinnes, um ihr nicht nachzugeben. <strong>In</strong> ähnlicherWeise stehen dem Glauben <strong>die</strong> Bedenk-


lichkeiten der Vernunft entgegen; sie verwirrenund verdunkeln den Sinn vieler, und esbedarf eines jugendlich kräftigen Geistes, ummit ihnen aufzuräumen. Darum führt derApostel auch einige solche Bedenklichkeiten<strong>an</strong>. Und wie er bei Abraham verfahren ist, soverfährt er auch hier. Nachdem er nämlichdort gezeigt hat, daß Abraham durch denGlauben gerechtfertigt worden sei, ergeht ersich in hohen Worten über das, wasder Glaube ist, damit m<strong>an</strong> nicht meine, Abrahamhabe eine so große Auszeichnung ohneeigene Arbeit nur so bekommen, und daß<strong>des</strong>halb wo<strong>hl</strong> nichts dar<strong>an</strong> sein müsse. Ersagt: „Abraham glaubte wider <strong>die</strong> Hoffnung<strong>an</strong> <strong>die</strong> Hoffnung, daß er Vater vieler Völkerwerden würde, und er ward nicht schwachim Glauben; er dachte weder <strong>an</strong> seinen erstorbenenLeib noch <strong>an</strong> den erstorbenenSchoß der Sara. An der Verheißung Gotteszweifelte er nicht mißtrauisch, indem er Gott<strong>die</strong> Ehre gab, g<strong>an</strong>z und gar überzeugt, daß<strong>die</strong>ser das, was er verheißen, auch zu erfüllenimst<strong>an</strong>de sei“ 256 . Der Apostel wollte damitzeigen, daß Stärke und ein hochgemuter Sinndazu gehöre, etwas <strong>an</strong>zunehmen, was überjede mensc<strong>hl</strong>iche Hoffnung hinausliegt, undsich <strong>an</strong> dem Augenfälligen nicht zu stoßen.So verfährt er auch hier. Er zeigt, daß <strong>die</strong> Einsichteines Weisen vonnöten sei und eingroßzügiges, gewissermaßen bis <strong>zum</strong> Himmelreichen<strong>des</strong> Urteil. — Auch heißt es nichteinfach: ,,Sage nicht“, sondern: „Sage nicht indeinem Herzen!“ D. h. laß es dir nicht beifallen,zu zweifeln und auch nur bei dir zu sagen:Wie ist das möglich? Siehst du, daß ger<strong>ad</strong>edas dem Glauben eigen ist, das Übernatürlichein den Dingen zu suchen und dabeidas Vernünfteln zu lassen, das schwachemensc<strong>hl</strong>iche Denken beiseite zu setzen undalles von der Allmacht Gottes zu erwarten?Doch nicht bloß das behaupteten <strong>die</strong> Juden(nämlich daß <strong>die</strong> Glaubensgerechtigkeit zuleicht zu erl<strong>an</strong>gen sei), sondern daß es un-möglich sei, durch den Glauben gerechtfertigtzu werden. Der Apostel h<strong>an</strong>delt darumvon der Tatsache, <strong>die</strong> dem Glauben zugrundeliegt. Um den Gläubigen einen Ruhmeskr<strong>an</strong>zwinden zu können, zeigt er, daß sieetwas so Großes sei, daß sie auch, nachdemsie geschehen sei, doch Glauben erheische. Ergebraucht dabei Redewendungen, <strong>die</strong> imAlten Testament vorkommen, immer bemühtwie er ist, Neuerungen zu vermeiden unddem Vorwurf zu entgehen, daß er das AlteTestament bekämpfe. Das, was er hier vomGlauben sagt, sagt nämlich Moses von denGeboten <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>, indem er zeigt,daß <strong>die</strong> Israeliten durch sie eine größereWo<strong>hl</strong>tat von Seiten Gottes genossen hätten.M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n nicht einwenden, sagt Moses,daß m<strong>an</strong> in den Himmel hinaufsteigen unddas Meer durchsegeln müsse, um <strong>die</strong> Gebotezu bekommen. Aber auch uns hat Gott dasGroße und Hohe, das er uns geschenkt hat,leicht gemacht. Was heißt das: „Nahe ist dirdas Wort“? Es heißt soviel als: es ist leicht.Denn in deinen Ged<strong>an</strong>ken und auf deinerZunge liegt dein Heil. Um selig zu werden,brauchst du nicht einen weiten Weg zu machen,nicht das Meer zu durchsegeln, nichtBerge zu übersteigen. Wenn du auch nichteinmal deine Schwelle überschreiten magst,so k<strong>an</strong>nst du auch daheim sitzend selig werden;denn <strong>die</strong> Quelle deines Heils liegt indeinem Munde und in deinem Herzen.D<strong>an</strong>n stellt der Apostel noch von einer <strong>an</strong>dernSeite her den Glauben als etwas Leichtesdar. Er sagt: „Gott hat ihn (Christus) vonden Toten auf erweckt.“ Bedenke <strong>die</strong> Hoheit<strong>des</strong>sen, der <strong>die</strong> Tatsache der Auferstehungbewirkt hat, und du wirst in <strong>die</strong>ser selbstkeine Schwierigkeit mehr erblicken. Daß alsoChristus der Herr ist, wird durch seine Auferstehungoffenbar. Auch am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong><strong>Briefe</strong>s heißt es ja: „Der durch <strong>die</strong> Auferstehungvon den Toten als Gottes Sohn bestätigtwurde“ 257 . Daß auch <strong>die</strong> Auferstehung etwas256 Röm. 4, 18—21.202257 Röm. 1, 4.


Leichtes sei, wird aus der Macht <strong>des</strong>sen, dersie bewirkt, auch solchen klar, <strong>die</strong> rechtschwergläubig sind. — Wenn also <strong>die</strong> Gerechtigkeit(aus dem Glauben) <strong>die</strong> höhere ist,wenn sie leicht und mühelos zu haben ist,wenn m<strong>an</strong> auf keine <strong>an</strong>dere Weise gerechtfertigtwerden k<strong>an</strong>n, ist es da nicht derhöchste Gr<strong>ad</strong> von Eigensinn, wenn m<strong>an</strong> nachdem Unmöglichen <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d ausstreckt, dasLeichte und Mühelose dagegen beiseite läßt?D<strong>an</strong>n können <strong>die</strong> Juden doch wo<strong>hl</strong> nicht sagen,daß sie <strong>die</strong> Sache als zu schwer liegengelassen hätten.3.Siehst du, wie der Apostel den Juden jedeEntschuldigung abschneidet? Wie sollten sienoch eine Verteidigung ver<strong>die</strong>nen, wenn siedem Schweren und Unerreichbarennachgehen, dagegen <strong>an</strong> dem vorbeigehen,was leicht ist, sie retten und ihnen das gebenk<strong>an</strong>n, was das Gesetz nicht vermag! Das ist j<strong>ad</strong><strong>an</strong>n nichts <strong>an</strong>deres als bloßes eigensinnigesFesthalten <strong>an</strong> eigener Meinung und Widersetzlichkeitgegen Gott. Das Gesetz istschwer, <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e leicht; das Gesetz k<strong>an</strong>nihnen kein Heil bringen, auch wenn sie estausendmal eigensinnig behaupten; <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>egewährt nicht nur <strong>die</strong> ihr eigentümlicheGerechtigkeit, sondern auch <strong>die</strong>, welche vonder Beobachtung <strong>des</strong> Gesetzes kommt. Welchervernünftige Grund spricht also noch fürLeute, <strong>die</strong> sich gegen <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e so eigensinnigzeigen und sich vergeblich und umsonst<strong>an</strong> das Gesetz klammern?Nachdem der Apostel <strong>die</strong>se große Wahrheitausgesprochen hat, bekräftigt er sie im folgendenwieder durch <strong>die</strong> Schrift:V. 11 258 : „Denn <strong>die</strong> Schrift sagt: Ein jeder, der<strong>an</strong> ihn glaubt, wird nicht zusch<strong>an</strong>den werden.“258 Vers 10 ist in der Erklärung überg<strong>an</strong>gen.203V. 12: „Es ist da keine Scheidung zwischen einemJuden und einem Griechen; denn er ist der Herraller; er ist reich für alle, <strong>die</strong> ihn <strong>an</strong>rufen.“V. 13: „Denn ein jeder, der den Namen <strong>des</strong> Herrn<strong>an</strong>rufen wird, soll gerettet werden.“— Siehst du, wie der Apostel Zeugnisse vorführtsowo<strong>hl</strong> für den Glauben als auch fürdas Bekenntnis? Denn mit den Worten: „Einjeder, der <strong>an</strong> ihn glaubt“, meint er den Glauben;mit den Worten: „Ein jeder, der <strong>an</strong>rufenwird“, das Bekenntnis. D<strong>an</strong>n verkündet erwieder, daß <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e etwas allen Gemeinsamessei, und dämpft damit den Stolz derJuden. Was er früher weitläufig darget<strong>an</strong> hat,das bringt er hier kurz in Erinnerung; er zeigtwieder, daß (in bezug auf <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e) keinUnterschied bestehe zwischen einem Judenund einem Unbeschnittenen. „Es ist da jakeine Scheidung“, heißt es, „zwischen einemJuden und einem Griechen.“ Was er in seinerdamaligen Ausführung darüber vom Vatergesagt hat, das sagt er hier vom Sohne. Dennwie er oben in dem Beweise gesagthat: „Oder ist Gott bloß ein Gott der Juden,nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden;er ist ja ein und derselbe Gott“; so sagt erauch hier: „Er ist der Herr aller, er ist reichfür alle und gegen alle.“ Siehst du, wie derApostel zeigt, daß Gott unser Heil sehnlichstwünsche, wenn er darin seinen eigenenReichtum erblickt? Darum brauchten <strong>die</strong> Judenauch jetzt noch nicht zu verzweifeln undnicht zu meinen, daß sie keine Verzeihungerl<strong>an</strong>gen werden, wenn sie nur ihren Sinnändern wollten. Denn er, der seinen eigenenReichtum in unserer Rettung erblickt, wirdnicht aufhören, reich zu sein. Das ist ja ebenReichtum, Geschenke über alle auszuschütten.— Weil <strong>die</strong> Juden aber ger<strong>ad</strong>e der Umst<strong>an</strong>dkränkte, daß sie, <strong>die</strong> einen Vorzug vorder g<strong>an</strong>zen Menschheit genossen hatten, nundurch den Glauben von ihrem Throne herabgestürztund nichts mehr vor den <strong>an</strong>dernvoraus haben sollten, darum führt der Aposteloft <strong>die</strong> Propheten <strong>an</strong>, wie sie ihnen <strong>die</strong>seGleichstellung verkünden. ,,Ein jeder“, heißt


es, „der <strong>an</strong> ihn glaubt, wird nicht zusch<strong>an</strong>denwerden“, und: „Ein jeder, der den Namen<strong>des</strong> Herrn <strong>an</strong>rufen wird, soll gerettet werden.“Überall legt er den Nachdruck auf das„Ein jeder“, damit sie nichts dagegen einwendenkönnen.Nichts ist sc<strong>hl</strong>immer als der Ehrgeiz. Dieser,ja ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong>ser <strong>zum</strong>eist hat <strong>die</strong> Juden in dasVerderben gestürzt. Darum hat Christus zuihnen gesagt: „Wie könnt ihr glauben, da ihrEhre vonein<strong>an</strong>der <strong>an</strong>nehmt, <strong>die</strong> Ehre dagegen,<strong>die</strong> von Gott allein ist, nicht sucht?“ 259Der Ehrgeiz führt ins Verderben und machtd<strong>an</strong>n noch recht lächerlich. Vor der Strafe imJenseits verstrickt er <strong>die</strong> Menschen schon imDiesseits in tausenderlei Mißgeschick. Untersuchenwir einmal <strong>die</strong> Sache, wenn es beliebt,damit du einen klaren Begriff davon bekommst,g<strong>an</strong>z nur von irdischen Gesichtspunktenaus; sehen wir dabei vorläufig abvom Himmel, aus dem er uns verb<strong>an</strong>nt, undvon der Hölle, in <strong>die</strong> er uns hineinführt. Wasverursacht wo<strong>hl</strong> mehr Kosten als er? Wasbringt mehr Sch<strong>an</strong>de und macht das Lebenkummervoller? Daß <strong>die</strong>se Kr<strong>an</strong>kheiteine recht kostspielige ist, sieht m<strong>an</strong> <strong>an</strong> denen,<strong>die</strong> ihr Geld für Theater, Pferderennenund <strong>an</strong>dere unnütze Liebhabereien törichtund nutzlos hinauswerfen. M<strong>an</strong> sieht es ferner<strong>an</strong> denen, <strong>die</strong> sich als Wohnhäuser glänzendeund kostbare Paläste aufbauen und inallen <strong>an</strong>dern Dingen, über <strong>die</strong> ich jetzt nichtreden will, in sinnlosem Überfluß schwelgen.Daß aber ein solcher Kr<strong>an</strong>ker bei dem Aufw<strong>an</strong>dund Luxus, den er treibt, auch einHalsabschneider und Geizhals sein müsse, istjedem klar. Um nämlich <strong>die</strong> wilde Bestie fütternzu können, streckt er seine H<strong>an</strong>d nachfremdem Vermögen aus. Doch was sag’ ich:Vermögen? Nicht allein Geld, sondern auchSeelen frißt <strong>die</strong>ses Feuer und bringt nichtallein den Tod im Diesseits, sondern auchden im Jenseits. Denn eine Nährmutter derHölle ist <strong>die</strong> eitle Ehrsucht. Sie schürt mäch-259 Joh. 5, 44.204tig jenes Feuer und gibt Nahrung dem giftigenWurm. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n sehen, daß sie sogarnoch über Tote ihre Gewalt ausübt. Wask<strong>an</strong>n es Sc<strong>hl</strong>immeres geben? Alle <strong>an</strong>dernLeidenschaften erlöschen mit dem Tode; <strong>die</strong>seaber behält ihre Gewalt auch über den Todhinaus und trachtet noch am Leichnam zuzeigen, was sie k<strong>an</strong>n. Denn wenn es vorkommt,daß Leute, <strong>die</strong> im Leben Bettler unterScheltworten von sich gewiesen haben, weilsie sie um einen Heller oder um ein StückchenBrot gebeten hatten, sich nach ihremTode prächtige Grabdenkmäler errichten lassen,<strong>die</strong> ihr g<strong>an</strong>zes Vermögen kosten, wennsie mit ihrem Grabe einen solchen Luxustreiben lassen und so gewissermaßen bei ihremTode den Würmern eine reichbesetzteTafel zubereiten: was willst du d<strong>an</strong>n nocheinen weiteren Beweis für <strong>die</strong> tyr<strong>an</strong>nischeHerrschaft <strong>die</strong>ser Kr<strong>an</strong>kheit? Aus <strong>die</strong>ser unheilvollenQuelle haben auch unsinnige Liebschaftenihren Ursprung. Denn viele führtnicht der Anblick eines schönen Gesichtesoder <strong>die</strong> Begierde nach gesc<strong>hl</strong>echtlichem Genußbis <strong>zum</strong> Ehebruch, sondern einzig derWunsch, sich pra<strong>hl</strong>en zu können: <strong>die</strong>se oderjene habe ich dar<strong>an</strong> gekriegt.4.Und was soll ich noch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Übel aufzä<strong>hl</strong>en,<strong>die</strong> von hier ihren Ursprung haben?Lieber wollte ich tausendmal der Sklave vonBarbaren sein als einmal ein solcher<strong>des</strong> Ehrgeizes. Denn jene schaffen denen, <strong>die</strong>ihnen in <strong>die</strong> Hände gefallen sind, nicht solcheDinge <strong>an</strong>, wie sie <strong>die</strong>ser denen <strong>an</strong>befie<strong>hl</strong>t, <strong>die</strong>sich ihm zu eigen gegeben haben. Sei derSklave aller, spricht er, gleichgiltig ob sievornehmer oder geringer sind als du! DeineSeele achte für nichts, kümmere dich nichtum <strong>die</strong> Tugend, verlache <strong>die</strong> Freiheit, bringdeine Seligkeit <strong>zum</strong> Opfer! Tust du etwasGutes, so darfst du es nicht tun, um Gott


damit zu gefallen, sondern um damit vor derMenge zu prunken, damit du nur ja denLohn dafür verlierest! Wenn du ein Liebeswerkverrichtest, wenn du fastest, so hast duwo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Mühe davon auf dich zu nehmen,aber den Gewinn davon hast du fahren zulassen. — Was k<strong>an</strong>n es wo<strong>hl</strong> Grausameresgeben als solche Befe<strong>hl</strong>e! — Von da hat derNeid seinen Ursprung, von da <strong>die</strong> Überhebung,von da <strong>die</strong> Mutter aller Laster, <strong>die</strong>Geldgier. Denn der Schwarm von Hausgesindeund <strong>die</strong> goldstrotzenden fremdländischen260 Sklaven, <strong>die</strong> Schmarotzer undSchmeic<strong>hl</strong>er, <strong>die</strong> silberbesc<strong>hl</strong>agenen Wagenund alle <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern noch lächerlicheren Dingesind nicht <strong>des</strong> Vergnügens und auch nicht<strong>des</strong> Bedürfnisses wegen da, sondern einzigund allein <strong>des</strong> Ehrgeizes wegen.Nun ja, sagst du, daß <strong>die</strong>se Leidenschaft etwasSc<strong>hl</strong>immes ist, das ist ja jedem klar; jetztmuß m<strong>an</strong> uns aber noch sagen, wie wir ihrentgehen können. — Meistens wirst du denbesten Anf<strong>an</strong>g der Besserung schon gemachthaben, wenn du recht davon überzeugt bist,daß sie eine sc<strong>hl</strong>imme Kr<strong>an</strong>kheit ist. Auchder leiblich Kr<strong>an</strong>ke wird d<strong>an</strong>n rasch nachdem Arzte schicken, wenn er nur einmal einsieht,daß er kr<strong>an</strong>k ist. Wenn du noch ein <strong>an</strong>deresMittel wissen willst, so (sag’ ich dir)habe beständig Gott vor Augen und laß dir<strong>an</strong> der Ehre genügen, <strong>die</strong> von ihm kommt.Wenn du aber merkst, daß dich <strong>die</strong> Leidenschaftkitzelt und dazu drängt, deinen Mitmenschendeine guten Werke bek<strong>an</strong>nt<strong>zum</strong>achen,so lösche <strong>die</strong>se ungehörige Lust durchden Ged<strong>an</strong>ken aus, daß mit dem gesprochenenWort auch der Lohn dahin ist,und sprich darum so bei dir: „Sieh, schon sol<strong>an</strong>ge Zeit drückte es dich, von deinen gutenWerken zu sprechen, und du hast es nunwirklich nicht übers Herz gebracht, Stillschweigenzu bewahren, sondern hast sieausposaunt. Was hast du jetzt davon? Nichtsals <strong>die</strong> schwerste Strafe und den Verlust alles<strong>des</strong>sen, was du dir mit so viel Mühe erworbenhattest.“Bedenke ferner, daß das Lob und das Urteilder Leute etwas Unstichhaltiges ist; ja nichtbloß unstichhaltig ist es, sondern es hat auchnicht l<strong>an</strong>ge Best<strong>an</strong>d. Was sie zur Stunde bewundern,das haben sie alles im nächstenAugenblick wieder vergessen; den Kr<strong>an</strong>z,den du von Gott bekommen hättest, raubensie dir, und den <strong>an</strong>dern, den sie dir flechten,vermögen sie nicht frisch zu erhalten. Abergesetzt auch, er bliebe frisch, so wäre es dochimmer noch ein Sch<strong>ad</strong>en, wenn du <strong>die</strong>sengegen jenen eintauschtest. Da er aber raschdahinwelkt, was werden wir für eine Entschuldigungdafür haben, daß wir einen unvergänglichenKr<strong>an</strong>z für einen vergänglicheneingetauscht, daß wir für ein paar Schmeichelworteso große Güter dahingegeben haben?Und sei es auch, daß <strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> derer, <strong>die</strong>uns loben, eine große sei, so sind wir trotzdembedauernswert, ja, um so mehr, je größer<strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> <strong>die</strong>ser Lobredner ist. Wenn dir<strong>die</strong>ser Ausspruch verwunderlich vorkommt,so höre das Urteil, welches Christus darüberausspricht: „Weh euch, wenn euch alle Menschenloben“ 261 . Und g<strong>an</strong>z mit Recht. Dennwenn m<strong>an</strong> in jeder Kunst <strong>die</strong> Sachverständigenum ihr Urteil fragen muß, warum wen<strong>des</strong>tdu dich um ein Gutachten über <strong>die</strong> Tugend<strong>an</strong> <strong>die</strong> große Menge und nicht vielmehr<strong>an</strong> den, der ein besseres Wissen hat als alleLeute, und der zudem imst<strong>an</strong>de ist, Beifallund Lohn zu spenden. Diesen Ausspruchwollen wir <strong>an</strong> unsere Wände und Türen undin unser Herz hineinschreiben und oft undoft zu uns selbst sprechen: „Wehe uns, wennuns alle Leute loben!“ Ja es kommt spätersogar so weit, daß <strong>die</strong>selben Leute, <strong>die</strong> dichjetzt loben, dir nachreden, daß du ehrgeizigund eitel seiest und es dar- auf abgesehenhabest, von ihnen gelobt zu werden.Nicht so verfährt Gott, sondern wenn der260 M<strong>an</strong>che H<strong>an</strong>dschriften haben noch: ἵπποι; Field bezieht βάρβαροι aufSklaven. Fremdländische Sklaven hielten sich reiche Leute zurpersönlichen Be<strong>die</strong>nung.205261 Luk. 6, 26.


sieht, daß du nach Ehre von ihm strebst, wirder dich ger<strong>ad</strong>e d<strong>an</strong>n am meisten loben undbewundern und dein Lob verkünden. G<strong>an</strong>z<strong>an</strong>ders der Mensch. Dieser macht dich auseinem Freien <strong>zum</strong> Sklaven, spricht dir eineleere Redensart, <strong>die</strong> du fälsc<strong>hl</strong>ich für Lobnimmst, zu Gefallen, raubt dir d<strong>ad</strong>urch denwahren Lohn und erniedrigt dich unter einenmit Gold gekauften Sklaven. Denn <strong>die</strong>se erweisenihren Herren erst Gehorsam, nachdemsie von ihnen Befe<strong>hl</strong>e bekommen haben;du aber machst den Diener auch ohne Befe<strong>hl</strong>e.Du wartest gar nicht darauf, etwas vonihnen zu hören, sondern wenn du nur ahnst,es könne ihnen etwas zu Gefallen sein, tustdu schon alles, ohne daß sie dir etwas aufgetragenhaben. Welche Höllenstrafen ver<strong>die</strong>nenwir nicht, wenn wir aus Liebe<strong>die</strong>nereigegen sc<strong>hl</strong>echte Menschen ihnen den Dienerabgeben, bevor sie noch einen Befe<strong>hl</strong> aussprechen,Gott dagegen, der uns täglich Befe<strong>hl</strong>eund Ermahnungen zukommen läßt,nicht so <strong>die</strong>nstbeflissen <strong>an</strong>hören?Wenn du daher nach Ehre und Lob verl<strong>an</strong>gst,so fliehe das Lob von Menschen, unddu wirst (wahrhaft) Ehre erl<strong>an</strong>gen. Wendedich ab von ihren Wo<strong>hl</strong>rednereien, und duwirst dich d<strong>an</strong>n tausendfachen Lobes erfreuenbei Gott und den Menschen. Denn niem<strong>an</strong>denpflegen wir so zu rühmen wie den,der auf Ruhm nichts gibt, und niem<strong>an</strong>den sozu loben und zu bewundern wie den, dersich aus Lob und Bewunderung nichtsmacht. Wenn aber wir schon so denken, umso mehr Gott, der Herr aller Dinge. Wenn derdich rühmt und lobt, wer könnte d<strong>an</strong>n seligersein als du? Denn zwischen Ruhm vondem da droben und mensc<strong>hl</strong>ichem ist einsolcher Abst<strong>an</strong>d wie zwischen Ruhm undSch<strong>an</strong>de, ja ein noch viel größerer; er ist einfachunermeßlich. Wenn Menschenlob, auchwenn m<strong>an</strong> es nicht mit etwas <strong>an</strong>derem inVergleich setzt, schon gewissermaßen unehrenhaftund unschön ist, bedenke, wie es ger<strong>ad</strong>ezuals Schimpf erscheinen muß, wennm<strong>an</strong> es mit der Ehre vor Gott vergleicht. Wie206ein feiles Weib in einem Hurenhause sichallen hingibt, so <strong>die</strong> Sklaven <strong>des</strong> Ehrgeizes.Ja, deren Benehmen ist noch schimpflicher;denn jene Wei- ber verschmähendoch öfter den einen oder <strong>an</strong>dern von denen,<strong>die</strong> sie haben wollen; du aber stellst dich allenzur Schau, auch Tage<strong>die</strong>ben und Räubernund Beutelschneidern; denn aus solchen undähnlichen Leuten besteht doch <strong>die</strong> Bühne,von der dein Lob verkündet wird. Menschen,<strong>die</strong>, einzeln genommen, dir gar nichts gelten,setzt du höher als dein Seelenheil, wenn sieein Publikum bilden, und gibst dir den Anschein,als seiest du weniger ehrenwert alssie alle.5.Denn wie sollte m<strong>an</strong> nicht auf den Ged<strong>an</strong>kenkommen, du seiest weniger ehrenwert, wennm<strong>an</strong> sieht, daß du so um Lobhudeleien vonSeiten <strong>an</strong>derer stehst, und daß du meinst, esfe<strong>hl</strong>e dir etwas, wenn du nicht Ehre von <strong>an</strong>dernempfängst? Siehst du denn, sag’ mir,nach all dem Gesagten nicht ein, daß du,wenn aller Augen auf dich gerichtet sind,auch hundert Ankläger hast, wenn du einmaleinen Fe<strong>hl</strong>er machst, daß dagegen niem<strong>an</strong>detwas davon weiß, wenn du in der Verborgenheitbleibst? — Ja, sagst du, schon recht;aber ich habe d<strong>an</strong>n auch hundert Leute, <strong>die</strong>mich bewundern, wenn ich einmal etwasGutes tue. — Das ist ja ger<strong>ad</strong>e das Sc<strong>hl</strong>imme(<strong>an</strong>tworte ich), daß <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheit <strong>des</strong> Ehrgeizesdir in jedem Falle sch<strong>ad</strong>et, gleichgültig obdu einen Fe<strong>hl</strong>er begehst oder eine gute Tatvollbringst; für den ersten Fall legt sie dirhunderterlei Sc<strong>hl</strong>ingen, und im <strong>an</strong>dern Fallbringt sie dich um den g<strong>an</strong>zen Lohn.Es ist schon vom Übel und trägt nichts wenigerals den Namen eines Ehrenm<strong>an</strong>nes ein,wenn m<strong>an</strong> in den Dingen <strong>des</strong> gewöhnlichenLebens auf Ruhm ausgeht; was wird dir abererst für eine Entschuldigung übrig bleiben,


wenn du im geistlichen Leben dasselbesuchst? Wenn du Gott nicht einmal <strong>die</strong>selbeEhre zukommen lassen willst, wie sie dir vondeinem Hausgesinde zuteil wird? Denn derSklave schaut auf <strong>die</strong> Augen seines Herrn,der Lohnarbeiter auf seinen Arbeitgeber, derihm den Lohn ausza<strong>hl</strong>en soll, der Schüler aufseinen Lehrer; du aber tust das ger<strong>ad</strong>e Gegenteil.Gott, den Herrn, der dir deinen Lohngeben soll, läßt du außer acht und schaustauf deinen Mitsklaven, und das tust du, obgleichdu recht wo<strong>hl</strong> weißt, daß Gott <strong>die</strong> Erinnerung<strong>an</strong> deine guten Taten auchnach <strong>die</strong>sem Leben behält, der Mensch dagegennur für den Augenblick. Im Himmel isteine Schaubühne für dich vorbereitet, und dusammelst Zuschauer auf der Erde um dich!Der Wettkämpfer begehrt seinen Ruhm vonda, wo er kämpft; du aber kämpfst für denHimmel und willst, daß m<strong>an</strong> dir dafür einenSiegeskr<strong>an</strong>z aufsetze hier auf Erden. Waskönnte sc<strong>hl</strong>immer sein als solche Torheit!Betrachten wir übrigens nur einmal <strong>die</strong> Siegeskränze,wie sie hienieden gewunden werden?Der eine ist aus Torheit gewunden, ein<strong>an</strong>derer aus Neid gegen <strong>die</strong> Mitmenschen,wieder ein <strong>an</strong>derer aus feinem Spott und ausSchmeichelei, ein <strong>an</strong>derer aus Trinkgeldernund ein <strong>an</strong>derer aus (scheinbarer) Dienstbeflissenheit.Wie Kinder bei ihren Spielen ein<strong>an</strong>derKränze aus Gras aufsetzen und denBekränzten m<strong>an</strong>chmal, ohne daß er es weiß,hinterrücks auslachen, so machen sich oft<strong>die</strong>selben Leute, <strong>die</strong> dir Lobeshymnen singen,bei sich selbst lustig, während sie uns<strong>die</strong> Krone aus Gras aufsetzen. Und wenn esnur Gras wäre? So aber ist <strong>die</strong>ser Kr<strong>an</strong>z garnicht so harmlos, sondern er bringt uns umalle Frucht unserer guten Werke. — Du hastjetzt seine Nichtigkeit erk<strong>an</strong>nt; so fliehe dennauch seine Schädlichkeit!Macht es <strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Lobhudler aus? Nimm<strong>an</strong>, es seien ihrer hundert oder noch einmalso viel, ja dreimal und viermal so viel. Ja,nimm, wenn du willst, ihre Za<strong>hl</strong> noch zehnmalund zw<strong>an</strong>zigmal größer <strong>an</strong>; es sollen207zweitausend und viertausend, wenn duwillst auch zehntausend sein, <strong>die</strong> dir Beifallklatschen. Eigentlich ist kein Unterschiedzwischen ihnen und den Do<strong>hl</strong>en, <strong>die</strong> drobenin der Luft schreien. Ja, wenn du <strong>an</strong> <strong>die</strong> Engeldenkst, <strong>die</strong> im Himmel <strong>die</strong> Zuschauerschaftbilden, so müssen dir jene Leute armseligervorkommen als Würmer, ihre Lobhudeleienf<strong>ad</strong>enscheiniger als Spinngewebe und flüchtigerals Rauch und Traumbilder. Höre nur,wie <strong>Paulus</strong>, der in <strong>die</strong>sen Dingen gewiß eingenauer Kenner war, nicht allein nicht Ruhmvor Menschen sucht, sondern ihn ger<strong>ad</strong>ezuvon sich abwehrt, wenn er spricht: „Ferne seies von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuze Christi“ 262 . Eines solchenRühmens befleiße auch du dich, damit dunicht den Zorn <strong>des</strong> Herrn erregst. Denn dubegehst ein Unrecht auch gegen Gott, wenndu <strong>an</strong>ders h<strong>an</strong>delst, nicht nur gegen dichselbst. Wenn du ein Maler wärest und hättesteinen Schüler, der <strong>die</strong> Erzeugnisse seinerKunst, ohne sie dir vorher gezeigt zu haben,ohne weiteres den Vorübergehenden zurSchau ausstellte, so wäre dir das gewiß nichtrecht. Wenn so etwas aber schon gegen Mitmenscheneine Beleidigung ist, um so mehrgegen Gott.Willst du aber noch von einem <strong>an</strong>dernSt<strong>an</strong>dpunkte aus zur Verachtung mensc<strong>hl</strong>ichenBeifalls kommen, so führe dir deine eigeneHoheit zu Gemüte, beläc<strong>hl</strong>e das Treibenauf <strong>die</strong>ser sichtbaren Welt, mehre in dir Begierdenach wahrem Ruhm, laß dich erfüllenmit einem heiligen Stolz und sprich zu dirselbst, wie <strong>Paulus</strong> sagt: „Weißt du nicht, daßwir über Engel zu Gericht sitzen werden?“ 263Wirf dich in <strong>die</strong> Brust, mach dir selbst Vorwürfeund sprich zu dir: Über Engel sollst duzu Gericht sitzen, und du willst, daß solchesGesindel über dich zu Gericht sitze? Du begehrstBeifall zu ernten mit Tänzern, Schauspielern,Tierkämpfern und Wagenlenkernim Zirkus? Denn solche Leute jagen dem Bei-262 Gal. 6, 14.263 1 Kor. 6, 3.


fall nach. Du aber schwinge dich empor übersolches Gekrächze und nimm dir den Bewohnerder Wüste, Joh<strong>an</strong>nes, <strong>zum</strong> Beispiel.Betrachte, wie <strong>die</strong>ser über den Beifall derMenge erhaben war und sich nicht beeinflussenließ von Schmeic<strong>hl</strong>ern. Er sah <strong>die</strong> Bewohnerg<strong>an</strong>z Palästinas in ehrfürchtiger Bewunderungzu sich pilgern und wurde durchsolche Ehrenbezeigung nicht aufgeblasen,sondern hielt dem g<strong>an</strong>ze Volke Strafredenwie einem Schulknaben und rief ihm zu:„Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>genbrut und Natterngezücht!“ 264 Unddoch waren sie um ihn zusammengelaufenund hatten ihre Städte verlassen, um <strong>die</strong>senheiligen M<strong>an</strong>n zu sehen. Aber das machtekeinen Eindruck auf ihn; er war fern von jederRuhmsucht und frei von jedem Stolz. —So benahm sich auch Steph<strong>an</strong>us. Ersah, wie das Volk ihm nicht mehr Lobsprüchespendete, sondern gegen ihn wutentbr<strong>an</strong>ntmit den Zähnen knirschte. Er aber,erhaben über ihre Zornesausbrüche, sprachzu ihnen: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen<strong>an</strong> euren Herzen!“ 265 — So sprach auchElias in Gegenwart <strong>des</strong> g<strong>an</strong>zen Heeres, <strong>des</strong>Königs und <strong>des</strong> Volkes: „Wie wollt ihr nochauf beiden Beinen hinken?“ 266 — Wir abersagen allen Schmeicheleien, machen ihnenBücklinge, erweisen ihnen sklavische Unterwürfigkeit,um ihr Lob zu erkaufen. Darumgeht denn auch alles drunter und drüber; ummensc<strong>hl</strong>iche Gunst wird <strong>die</strong> heilige Sache<strong>des</strong> Christentums preisgegeben, und allesläßt m<strong>an</strong> gehen, wie es geht, um das Lob <strong>des</strong>großen Haufens zu haben.Verb<strong>an</strong>nen wir also <strong>die</strong>se Leidenschaft, undwir werden erfahren, was es heißt, innereFreiheit zu haben und eingelaufen zu sein inden Hafen <strong>des</strong> Seelenfriedens! Denn der Ehrgeizigegleicht einem Menschen, der aufstürmischem Meere hin- und hergetriebenwird, er ist immer in Angst und Furcht undhat hundert Herren zu <strong>die</strong>nen; wer dagegen264 Matth. 3, 7.265 Apg. 7, 51.266 3. Kön. 18, 21.208<strong>die</strong>ser Gewaltherrschaft nicht untersteht,gleicht Schiffern, <strong>die</strong> im Hafen liegen undgoldener Freiheit genießen. Nicht so der Ehrgeizige,sondern der hat so vielen Herren zu<strong>die</strong>nen, als er Freunde hat. Wie sollen wiruns denn freimachen von so schmä<strong>hl</strong>icherKnechtschaft? — Wenn wir nach einer Ehrestreben, <strong>die</strong> wirkliche Ehre ist. Denn gera<strong>des</strong>o wie <strong>die</strong> Liebhaber leiblicher Schönheit ein<strong>an</strong>deres schönes Gesicht von der Verliebtheitin ein früher gesehenes abwendig macht, soist auch <strong>die</strong> vom Himmel leuchtende Ehreimst<strong>an</strong>de, <strong>die</strong> nach irdischer Ehre Gierigenvon <strong>die</strong>ser abzulenken. Laßt uns darum denBlick auf jene gerichtet halten, laßt sie unsimmer mehr schätzen lernen, damit wir inder Bewunderung für sie <strong>die</strong> Häßlichkeit <strong>die</strong>serfliehen und im immerwährenden Besitzderselben übergroßer Freude genießen durch<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres Herrn JesusChristus, durch welchen und mit welchemdem Vater Ehre sei zugleich mit dem Hl.Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. NEUNZEHNTE HOMILIE. Kap. X, V.14—21 u. Kap. XI. V. 1—6.1.Kap. X, V. 14—21 u. Kap. XI. V. 1—6.V. 14: „Demnach: Wie können sie einen <strong>an</strong>rufen,<strong>an</strong> den sie nicht glauben? Wie können sie aber <strong>an</strong>einen glauben, von dem sie nicht gehört haben?Wie können sie aber hören ohne jem<strong>an</strong>d, der ihnenpredigt?“V. 15: „Wie aber sollte jem<strong>an</strong>d predigen, ohneges<strong>an</strong>dt zu sein nach dem Schriftwort: Willkommen<strong>die</strong> Füße derer, <strong>die</strong> Botschaft bringen vomFrieden, Botschaft vom Heil!“Wieder nimmt der Apostel den Juden <strong>die</strong>Möglichkeit, sich zu entschuldigen. Vorherhat er nämlich gesagt: „Ich darf ihnen ja dasZeugnis ausstellen, daß sie Eifer haben für


Gott, aber (leider) nicht mit Verständnis“,und: „Sie wußten nichts von der GerechtigkeitGottes und unterwarfen sich nicht“; imfolgenden legt er dar, daß sie für ihre UnwissenheitStrafe ver<strong>die</strong>nen vor Gott. Er sagt<strong>die</strong>s nicht einfachhin, sondern führt den Beweisin Frageform. Er webt <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Stellezusammen aus Einw<strong>an</strong>d und Antwort undmacht so ihren <strong>In</strong>halt deutlicher. Sieh nur:Der Prophet spricht, heißt es: „Ein jeder, derden Namen <strong>des</strong> Herrn <strong>an</strong>rufen wird, soll gerettetwerden.“ Aber da könnte jem<strong>an</strong>dgleich einwenden: „Wie können sie denn einen<strong>an</strong>rufen, <strong>an</strong> den sie nicht glauben?“ Auf<strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d folgt eine Frage <strong>des</strong> Apostels(<strong>die</strong> m<strong>an</strong> sich zu denken hat): „Und warumglaubten sie nicht?“ D<strong>an</strong>n folgt ein weitererEinw<strong>an</strong>d; es könnte jem<strong>an</strong>d fragen: „Wiekönnen sie denn <strong>an</strong> einen glauben, von demsie nicht gehört haben?“ „Sie haben ja vonihm gehört“, lautet <strong>die</strong> Antwort darauf.D<strong>an</strong>n folgt wieder ein Einw<strong>an</strong>d: „Wie könnensie denn von ihm hören ohne jem<strong>an</strong>d,der ihnen predigt?“ Darauf wieder <strong>die</strong> Antwort:„Es gab ja solche, <strong>die</strong> ihnen predigten;es waren zu <strong>die</strong>sem Zwecke viele ges<strong>an</strong>dt.“Und woraus ist ersichtlich, daß <strong>die</strong>se oderjene ges<strong>an</strong>dt sind? D<strong>an</strong>n führt der Aposteldas Prophetenwort <strong>an</strong>: „Willkommen <strong>die</strong> Füße derer, <strong>die</strong> Botschaft bringenvom Frieden, Botschaft vom Heil!“ 267 Siehstdu, wie er aus ihrer Beschaffenheit der Predigtbeweist, daß <strong>die</strong> Apostel wirklich BotenGottes waren? Nichts <strong>an</strong>deres verkündetensie ja überall auf ihren W<strong>an</strong>derungen als jenegeheimnisvollen Heilsgüter und den Frieden,den Gott mit den Menschen gesc<strong>hl</strong>ossen habe.Darum, will <strong>Paulus</strong> sagen, wenn ihr unsnicht glaubt, so verweigert ihr nicht uns denGlauben, sondern dem Jesaias, der vor vielenJahrhunderten gesagt hat, daß wir werdenges<strong>an</strong>dt werden und daß wir predigen undsagen werden, was wir wirklich gesagt haben.Wenn also das Seligwerden vom Anru-267 Is. 52, 7.209fen kommt, das Anrufen vom Glauben, dasGlauben vom Hören, das Hören vom Predigen,das Predigen vom Ges<strong>an</strong>dtwerden;wenn <strong>die</strong> Apostel wirklich ges<strong>an</strong>dt wurdenund predigten und der Prophet gleichsam <strong>an</strong>ihrer Seite ging, mit dem Finger auf sie wiesund bezeugte, daß sie <strong>die</strong>jenigen seien, <strong>die</strong> ervor l<strong>an</strong>ger Zeit vorausverkündigt und derenFüße er gepriesen habe wegen der Beschaffenheitihrer Botschaft: d<strong>an</strong>n ist es g<strong>an</strong>z klar,daß ihr Unglaube nur einzig und allein ihreeigene Schuld ist, und daß von seiten Gottesalles Mögliche geschehen ist.V. 16: „Aber nicht alle haben der guten BotschaftGehör gegeben; sagt ja Jesaias: Herr, wer überhaupthat unserer Botschaft Glauben geschenkt?“V. 17: „Also der Glaube kommt zust<strong>an</strong>de durchdas Hören, und zwar durch das Hören auf einenAusspruch Gottes.“— Die Juden brachten einen <strong>an</strong>dern Einw<strong>an</strong>d;sie sagten: Wenn <strong>die</strong> Apostel ges<strong>an</strong>dt,und zwar von Gott ges<strong>an</strong>dt worden wären,so hätten ihnen alle Gehör schenken müssen.Beachte <strong>die</strong> Gew<strong>an</strong>dtheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wie erzeigt, daß ger<strong>ad</strong>e das, was ihnen Unruhemacht, geeignet ist, <strong>die</strong> Unruhe und <strong>die</strong> Verwirrungzu beseitigen. An was nimmst duAnstoß, Jude, will er sagen, nach einer sogewichtigen und so vielfachen Bezeugungund dem Zeugnis der Tatsachen?Daß nicht alle der Heilsbotschaft Gehör geschenkthaben? Ger<strong>ad</strong>e das ist neben <strong>an</strong>deremgeeignet, dich <strong>zum</strong> Glauben zu bewegen,nämlich daß nicht alle glauben; dennger<strong>ad</strong>e das hat der Prophet vorausgesagt.Betrachte da <strong>die</strong> ungemein geschickte Beweisführung<strong>des</strong> Apostels, in der er mehrbeweist, als <strong>die</strong> Juden erwarten und zu widerlegenhoffen konnten. Was sagt ihr? fragter sie; daß nicht alle der Heilsbotschaft Gehörgeschenkt haben? Aber auch das hat ja Jesaiasvorausgesagt; ja eigentlich nicht bloß das,sondern auch noch viel mehr. Ihr macht einenEinw<strong>an</strong>d daraus, warum nicht alle (derHeilsbotschaft der Apostel) Gehör geschenkthaben. Jesaias sagt viel mehr. Was sagt er


denn? „Herr, wer überhaupt hat unserer BotschaftGehör geschenkt?“Nachdem der Apostel <strong>die</strong>se Ursache zur Beunruhigungdurch ein Zitat aus dem Prophetenbeseitigt hat, fährt er in der früheren Ged<strong>an</strong>kenfolgefort. Er hat gesagt, daß m<strong>an</strong>(Gott) <strong>an</strong>rufen müsse, daß aber dem Anrufendas Glauben und dem Glauben das Hörenvorausgehen müsse, und daß <strong>die</strong>, welchewillens sind, zu hören, Prediger haben, <strong>die</strong>sePrediger aber wieder ges<strong>an</strong>dt sein müssen; erhat auch gezeigt, daß <strong>die</strong> Apostel wirklichges<strong>an</strong>dt worden sind und gepredigt haben.Er will nun wieder einen <strong>an</strong>dern Einw<strong>an</strong>d<strong>an</strong>führen und nimmt den Anlaß dazu vonder früher <strong>an</strong>geführten Stelle <strong>des</strong>selben Propheten,durch welche er kurz zuvor denEinw<strong>an</strong>d gelöst hat, und flicht <strong>die</strong>se Stelle inden Zusammenh<strong>an</strong>g folgendermaßen ein:Nachdem er das Prophetenwort: „Herr, werüberhaupt hat unserer Botschaft Glaubengeschenkt?“ <strong>an</strong>geführt, sc<strong>hl</strong>ießt er g<strong>an</strong>z gelegen<strong>an</strong> <strong>die</strong>ses Zitat den Satz: „Also der Glaubekommt zust<strong>an</strong>de durch das Hören.“ Dassagte er nicht ohne Grund. Die Juden verl<strong>an</strong>gtennämlich bei jeder Gelegenheit nacheinem sichtbaren Zeichen; auch für denGlauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> Auferstehung verl<strong>an</strong>gten sieeinen sichtbaren Augenschein. Weil sie nunauch, um <strong>an</strong> <strong>die</strong> Heilsbotschaft zu glauben,etwas besonders Großes als Beweis verl<strong>an</strong>gten,sagt der Apostel, daß auch der Prophetnichts dergleichen vorausverkündet habe,sondern daß wir einfach auf das Hören hinglauben müßten. Dieser Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>gliegt in dem obigen Satz: „Also derGlaube kommt zust<strong>an</strong>de durch das Hören.“Ferner, weil <strong>die</strong>s jem<strong>an</strong>dem gar zu gewöhnlichvorkommen könnte, sieh, wie er den Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>gweiterführt. Ich meine aber, willer sagen, damit nicht ein gewöhnliches Hören,auch nicht, daß m<strong>an</strong> auf mensc<strong>hl</strong>icheReden hören und auf sie hin glauben müsse,sondern ich meine ein Hören viel höhererArt, das Hören auf einen Ausspruch Gottes.Denn auch <strong>die</strong> Propheten sprachen nicht aus210sich, sondern verkündeten, was sie von Gotterfahren hatten. Das ist aber noch mehr alsein sichtbares Zeichen, Gott muß m<strong>an</strong> ingleicher Weise glauben und sich von ihmüberzeugen lassen, ob er spricht oder einWunder wirkt. Ja auch <strong>die</strong> Werke und <strong>die</strong>Wunderzeichen kommen durch ein Wort vonihm zust<strong>an</strong>de. Ist ja doch der Himmel undalles <strong>an</strong>dere auf <strong>die</strong>se Weise entst<strong>an</strong>den.2.Nachdem der Apostel gezeigt hat, daß m<strong>an</strong>den Propheten immer glauben müsse, <strong>die</strong> jaim Auftrage Gottes sprechen, und daß dazunichts weiter erforderlich sei als das Anhören,setzt er <strong>die</strong> Kette von Einwänden, vonder ich oben sprach, weiter fort, indem ersagt:V. 18: „Aber sage ich: Haben sie etwa nicht gehört?“— Aber wie, will der Apostel sagen, wennzwar Prediger geschickt wurden und auchverkündeten, was ihnen aufgetragen war,wenn sie aber <strong>die</strong> Juden nicht hörten? Er löstsofort den Einw<strong>an</strong>d mit einer gewissen Übertreibung:„Aber ja; ging ja doch der Schall ihrer Stimmeüber <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Erde, und bis <strong>an</strong>s Ende <strong>des</strong> Erdkreiseserschollen ihre Aussprüche.“— Was sagstdu? will der Apostel sagen; sie haben es nichtgehört? Die g<strong>an</strong>ze Erde und <strong>die</strong> Enden <strong>des</strong> Erdkreiseshaben es gehört, und ihr, bei denen <strong>die</strong>Prediger (der Heilsbotschaft) so l<strong>an</strong>ge Zeit zubrachten,ihr, aus deren Mitte sie ausgingen, ihrhabt es nicht gehört? Was hätte ein solcher Einw<strong>an</strong>dfür einen Sinn? Wenn es <strong>die</strong> Enden <strong>des</strong> Erdkreises gehört haben, um somehr doch wo<strong>hl</strong> ihr. — D<strong>an</strong>n kommt wieder ein<strong>an</strong>derer Einw<strong>an</strong>d:V. 19: „Aber soll ich sagen: Israel hat nicht verst<strong>an</strong>den?“— Wie aber, will der Apostel sagen, wenn siezwar gehört, aber das Gesagte nicht verst<strong>an</strong>-


den, vielleicht nicht einmal gewußt haben,daß <strong>die</strong> Apostel wirklich von Gott ges<strong>an</strong>dtwaren? Ver<strong>die</strong>nen sie <strong>die</strong>ser Unwissenheitwegen keine Verzeihung? — Nein! Hat sie j<strong>ad</strong>och bereits Jesaias gekennzeichnet, wenn erspricht: „Wie willkommen <strong>die</strong> Füße derer,<strong>die</strong> den Frieden verkünden!“ Ja, vor ihm sogar<strong>die</strong> Gesetzgeber <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>. Darumheißt es weiter:„Schon Moses sagte es zuerst: Ich will euch eifersüchtigmachen auf ein Nichtvolk; durch ein g<strong>an</strong>zunwissen<strong>des</strong> Volk will ich euch <strong>zum</strong> Zorne reizen“268.— Also auch dar<strong>an</strong> konnte m<strong>an</strong> <strong>die</strong> Prediger<strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums als solche erkennen; nichtbloß dar<strong>an</strong>, daß <strong>die</strong> Juden ihnen nicht glaubten,nicht bloß dar<strong>an</strong>, daß sie eine Friedensbotschaftbrachten und jenes Heil verkündeten,nicht bloß dar<strong>an</strong>, daß ihr Wort sich überden g<strong>an</strong>zen Erdkreis verbreitete, sondernauch dar<strong>an</strong>, daß sie <strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong> frühertief unter ihnen st<strong>an</strong>den, jetzt auf einmal übersie hinaus auf eine höhere Ehrenstufe emporgehobensahen. Was weder sie noch ihreVoreltern jemals zu hören bekommen hatten,das bekamen jetzt auf einmal <strong>die</strong> Heiden zuwissen. Diese höhere Ehrung der Heidenmußte <strong>die</strong> Juden eifersüchtig machen, sie inden Harnisch bringen und sie <strong>an</strong> <strong>die</strong> Weissagung<strong>des</strong> Moses erinnern, der da gesagt hatte:„Ich werde sie eifersüchtig machen auf einNichtvolk.“ Aber nicht bloß <strong>die</strong> Größe derEhre, welcher <strong>die</strong> Heiden gewürdigt wurden,mußte <strong>die</strong> Juden in den Harnisch bringen,sondern auch der Umst<strong>an</strong>d, daß <strong>die</strong>ses Volk,welches jetzt eine solche Auszeichnung genoß,früher so un<strong>an</strong>sehnlich gewesen war,daß es nicht einmal den Namen eines Volkesver<strong>die</strong>nt hatte. „Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk,durch ein g<strong>an</strong>z, unwissen<strong>des</strong> Volk will icheuch <strong>zum</strong> Zorne reizen.“ Denn was war unwissenderals <strong>die</strong> Heiden? Was un<strong>an</strong>sehnlicher(in den Augen der Juden)?268 Vgl. 5 Mos. 32, 21.211Siehst du, wie Gott den Juden auf jede Weiseim voraus deutliche Erkennungszeichen undMerkmale gegeben hatte, <strong>an</strong> denen sie <strong>die</strong>Zeit erkennen konnten, um so ihre Blindheitzu erleuchten? Denn das alles trug sich j<strong>an</strong>icht in irgendeinem versteckten Erdenwinkelzu, sondern <strong>an</strong>gesichts der g<strong>an</strong>zen Welt,zu Wasser und zu L<strong>an</strong>de; Leute, <strong>die</strong> frühervon den Juden verachtet worden waren, sahen<strong>die</strong>se nun im Besitze ungemessener Güter.Sie mußten daher doch wo<strong>hl</strong> dar<strong>an</strong> denken,daß <strong>die</strong>s jenes Volk sein könne, von demMoses gesagt hatte: „Ich werde euch eifersüchtigmachen auf ein Nichtvolk; durch eing<strong>an</strong>z unwissen<strong>des</strong> Volk will ich euch <strong>zum</strong>Zorne reizen.“ Hatte aber Moses allein <strong>die</strong>sgesagt? Keineswegs, sondern auch Jesaiasnach ihm; darum sagt <strong>Paulus</strong> auch: „Moseszuerst.“ Damit deutet er <strong>an</strong>, daß ein zweiterkommen werde, der dasselbe noch ausdrücklicherund deutlicher sagen werde. Wie eroben gesagt hat: „Jesaias ruft“, so hier:V. 20: „Jesaias aber nimmt sich den Mut undspricht.“— Der Sinn <strong>die</strong>ses Satzes ist <strong>die</strong>ser: Er tutsich Gewalt <strong>an</strong>, er bemüht sich nicht dunkelzu sprechen, sondern auch g<strong>an</strong>z unverhüllt<strong>die</strong> Tatsachen vor Augen zu stellen; er willlieber eine Gefahr auf sich nehmen, <strong>die</strong> ihmaus seiner unverblümten Sprechweise erwachsenkonnte, als, auf sein eigenes Heilbedacht, euch auch nur einen Schatten vonEntschuldigung für eure Und<strong>an</strong>kbarkeit zulassen. Es lag eigentlich gar nicht in der Natureiner Weissagung, so klar zu sprechen;aber er wollte euch vollständig den Mundstopfen; darum hat er alles g<strong>an</strong>z deutlichvorausgesagt „Alles“? Was ist darunter zuverstehen? Eure Verwerfung und <strong>die</strong> Aufnahmeder <strong>an</strong>dern. Er sagt:„Ich ließ mich finden von denen, <strong>die</strong> mich nichtsuchten; ich wurde offenbar denen, <strong>die</strong> nicht nachmir fragten.“— Wer sind denn <strong>die</strong>, welche ihn nicht suchten?Wer <strong>die</strong>, welche nicht nach ihm fragten?Offenbar nicht <strong>die</strong> Juden, sondern


<strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong> ihn nicht k<strong>an</strong>nten. Wie sieMoses gekennzeichnet hat, wenn er sie „einNichtvolk“, ein „g<strong>an</strong>z unwissen<strong>des</strong> Volk“n<strong>an</strong>nte, so macht sie hier Jesaias durch dasselbeMerkmal kenntlich, nämlich ihre hochgr<strong>ad</strong>igeUnwissenheit (von Gott). Das war<strong>die</strong> schwerste Anklage der Juden, daß solche,<strong>die</strong> Gott nicht gesucht, ihn gefunden, dagegensie, <strong>die</strong> ihn gesucht, verloren hatten.V. 21: „Zu Israel dagegen spricht er: Den g<strong>an</strong>zenTag streckte ich meine Hände hin zu einem Volke,das sich nichts sagen läßt und widerspenstig ist.“— Siehst du, wie jener scheinbar widersinnigeund von vielen <strong>an</strong>gezweifelte Satz sich bereitsl<strong>an</strong>ge vorher in den Reden der Propheten deutlichausgesprochen findet? Welcher Satz ist das?Nun, du hast ja oben <strong>Paulus</strong> sagen hören: „Daß<strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong> nicht der Gerechtigkeit nachstrebten,Gerechtigkeit empfingen, Gerechtigkeit aberaus dem Glauben; Israel dagegen, welches durchdas Gesetz der Gerechtigkeit gerecht werden wollte,nicht <strong>zum</strong> Gesetz der Gerechtigkeit gel<strong>an</strong>gte.“Dasselbe spricht <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stelle Jesaias aus.Denn wenn er spricht: „Ich ließ mich finden vondenen, <strong>die</strong> mich nicht suchten, und ich wurdeoffenbar denen, <strong>die</strong> nicht nach mir fragten“, so istdas gleichbedeutend mit jenem <strong>an</strong>dern Worte vonden Heiden, <strong>die</strong> nicht der Gerechtigkeit nachjagtenund sie doch empfingen. D<strong>an</strong>n gibt er zu verstehen,daß <strong>die</strong>s nicht durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottesallein so geschehen sei, sondern auch durch <strong>die</strong>freie Willensentscheidung derer, <strong>die</strong> zu Gott gekommenseien, wie <strong>an</strong>dererseits <strong>die</strong> Verwerfungder Juden eine Folge ihres Eigensinns und ihrerWiderspenstigkeit gewesen sei. Höre, wie er fortfährt:„Zu Israel dagegen spricht er: ‚Den g<strong>an</strong>zenTag streckte ich meine Hände hin zu einem Volke,das sich nichts sagen läßt und widerspenstigist.’“ Unter „Tag“ ist <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Zeit vorher zuverstehen. Das Hinstrecken der Hände bedeutetdas Rufen, das Versuchen, sie <strong>an</strong> sich zu ziehen,das Ermahnen. Sc<strong>hl</strong>ießlich nennt er sie, um auszudrücken,daß <strong>die</strong> Schuld <strong>an</strong> ihnen liege, „einVolk, das sich nichts sagen läßt und widerspenstigist“. 2123.Begreifst du nun, wie schwer <strong>die</strong> Anklage ist? DieJuden leisteten dem Rufe Gottes nicht nur keineFolge, sondern sie widersprachen ihm noch, unddas nicht einmal oder zweimal oder dreimal, sondernje<strong>des</strong>mal, wenn sie seinen Ruf vernahmen.Die Heiden dagegen, <strong>die</strong> ihn niemals gek<strong>an</strong>nthatten, hatten <strong>die</strong> Kraft, ihn sich zu gewinnen. Esheißt aber nicht, daß sie selbst <strong>die</strong> Kraft hatten,ihn sich zu gewinnen, sondern Gott nimmt auchden Heiden(christen) <strong>die</strong> Einbildung, indem erihnen zu verstehen gibt, daß seine Gn<strong>ad</strong>e allesbewirkt habe. Es heißt ja: „Ich wurde offenbar“,und „ich ließ mich finden“. Sind sie nun ohnealles Ver<strong>die</strong>nst? Keineswegs, sondern daß sie denGefundenen <strong>an</strong>nahmen und für den offenbar GewordenenVerständnis hatten, das taten sie vonihrer Seite dazu. Damit aber <strong>die</strong> Juden nicht fragensollten: warum bist du denn uns nicht offenbargeworden?, fügt er noch etwas bei, was mehrist als <strong>die</strong>ses: Ich bin nicht bloß offenbar geworden,sondern ich habe immerzu <strong>die</strong> Hände ausgestrecktund gerufen und so <strong>die</strong> Sorge eines zärtlichenVaters, einer liebevollen Mutter <strong>an</strong> den Taggelegt.Siehst du da, wie der Apostel eine g<strong>an</strong>z klare Lösungaller früher vorgebrachten Schwierigkeitengibt, indem er nachweist, daß der Juden Verderbenein frei gewolltes sei, und daß sie darum keineNachsicht ver<strong>die</strong>nen? Denn sie haben den RufGottes gehört und ihn auch verst<strong>an</strong>den, aber ihmnicht folgen wollen. — Aber noch mehr; Gottbrachte <strong>die</strong> Juden nicht bloß dazu, daß sie ihnhörten und auch verst<strong>an</strong>den, sondern er tat nochetwas, was noch mehr dazu <strong>an</strong>get<strong>an</strong> war, siewachzurufen und sie trotz ihres Eigensinnes undihrer Widerspenstigkeit <strong>an</strong> sich zu ziehen. Waswar das? Er brachte sie in den Harnisch undmachte sie eifersüchtig. Ihr kennt ja <strong>die</strong> Gewalt<strong>die</strong>ser Leidenschaft; ihr wißt ja, wie <strong>die</strong> Eifersuchtdazu <strong>an</strong>get<strong>an</strong> ist, allen Eigensinn zu brechen undAbtrünnige zur Rückkehr zu bewegen. Wie sollte<strong>die</strong>s nicht von erwachsenen Menschen gelten, da<strong>die</strong> Eifersucht ihre große Gewalt sogar <strong>an</strong> unver-


nünftigen Tieren und kleinen Kindern zutagetreten läßt? Oft folgt ein kleines Kind dem Vaternicht auf seinen Ruf, sondern bleibt eigensinnigvon ihm fern; wenn er aber ein <strong>an</strong>deresKind liebkost, kommt das erstere auch ungerufenin den väterlichen Schoß. Was das Rufen nichtvermochte, das vermag nun <strong>die</strong> Eifersucht. DasselbeMittel hat denn auch Gott <strong>an</strong>gewendet. Erhat <strong>die</strong> Juden nicht bloß gerufen und <strong>die</strong> Händenach ihnen hingestreckt, sondern er hat in ihnenauch <strong>die</strong> Leidenschaft der Eifersucht wachgerufen.Er hat nämlich Völker, <strong>die</strong> tief unter ihnen st<strong>an</strong>den— und das erregt ja besonders Eifersucht —,in den Besitz von den Gütern gesetzt, <strong>die</strong> ihnenselbst zugedacht waren, ja nicht bloß in den Besitzvon denselben Gütern, sondern, was <strong>die</strong> Leidenschaftnoch mehr aufstachelt, von noch vielgrößeren und wichtigeren, von solchen Gütern,<strong>an</strong> <strong>die</strong> sie selbst kaum jemals im Traume gedachthatten. Aber auch das zog bei ihnen nicht. WelcheNachsicht sollten sie daher ver<strong>die</strong>nen, nachdemsie ein solches Übermaß von Eigensinn <strong>an</strong> denTag gelegt hatten? Gar keine.Aber das sagt der Apostel nicht selbst, sondern erüberläßt es der Einsicht seiner Zuhörer, <strong>die</strong>senSc<strong>hl</strong>uß aus dem Gesagten zu ziehen, und fährtd<strong>an</strong>n in der Beh<strong>an</strong>dlung <strong>des</strong> Gegenst<strong>an</strong><strong>des</strong> mitder gewohnten Feinfü<strong>hl</strong>igkeit fort. Denn wie er esoben gemacht hat — er hat nämlich Einwändegegen das Gesetz <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong> und das Volkder Juden vorgebracht, <strong>die</strong> eine größere Anschuldigungenthielten, als jene ver<strong>die</strong>nt hatten, undhat <strong>die</strong>selben d<strong>an</strong>n bei der Widerlegung mit Absichtauf das richtige Maß zurückgeführt und auf<strong>die</strong>se Weise seiner Rede das Verletzende genommen—, so verfährt er auch hier, indem erschreibt:Kap. XI. V. 1: „Sage ich nun: Vielleicht hat Gottsein Volk, welches er voraus erk<strong>an</strong>nt hatte, überhauptverstoßen? Das sei ferne!“Gleichsam ver<strong>an</strong>laßt durch das vorher Gesagte,nimmt der Apostel den Schein einesZweifelnden <strong>an</strong> und spricht als solcher dasfurchtbar harte Wort aus. D<strong>ad</strong>urch aber, daßer es sofort zurückweist, verschafft er dem,was folgt, bereitwilligere Aufnahme. Er213spricht nämlich <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stelle dasselbe aus,was er im vorausgehenden darzulegen sichbemüht hat. Und was ist das? DerGed<strong>an</strong>ke: Die Heilsbotschaft bleibt bestehen,wenn auch nur wenige (von den Juden) sich<strong>zum</strong> Heile führen lassen. Darum spricht ernicht sc<strong>hl</strong>echthin von „dem Volk“, sonderner fügt bei: „welches er voraus erk<strong>an</strong>nt hatte“.Der Apostel setzt d<strong>an</strong>n den Nachweis,daß das Volk der Juden nicht g<strong>an</strong>z von Gottverstoßen sei, fort und sagt:„Bin ich doch auch ein Israelit aus der NachkommenschaftAbrahams, aus dem Stamme Benjamins.“— Ich, spricht er, der Lehrer, der Herold.Weil <strong>die</strong>s im Gegensatz zu stehen scheint mitden vorausgehenden Sätzen: „Wer hat unsererKunde Glauben geschenkt?“, und: „Deng<strong>an</strong>zen Tag streckte ich meine Hände zu einemVolke hin, das sich nichts sagen läßt undwiderspenstig ist“, und: „Ich werde euch eifersüchtigmachen auf ein Nichtvolk“, darumbegnügt sich der Apostel nicht mit einer bloßenVerneinung und auch nicht mit demWorte: „Das sei ferne!“ sondern er führt einenBeweis, indem er den Ged<strong>an</strong>ken wiederaufnimmt und sagt: „Nicht verstoßen hatGott sein Volk.“ Aber, sagst du, das ist jakein Beweis, sondern eine Behauptung. Siehnun den Beweis, und zwar einen solchen, deraus einem ersten und einem zweiten Punktebesteht. Der erste Punkt <strong>des</strong>selben bestehtdarin, daß der Apostel zeigt, daß auch erselbst von dorther stammt. Hätte Gott <strong>die</strong>Juden verstoßen wollen, so hätte er nicht denM<strong>an</strong>n aus ihrer Mitte gewä<strong>hl</strong>t, dem er <strong>die</strong>Verkündigung <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums, das g<strong>an</strong>zeChristentum mitsamt seinen Geheimnissenund <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Heilsordnung <strong>des</strong> NeuenBun<strong>des</strong> <strong>an</strong>vertraut hat. Das ist der eine Beweispunkt;der <strong>an</strong>dere liegt in den Worten:„Das Volk, welches er voraus erk<strong>an</strong>nt hatte“,d. h. von dem er genau wußte, daß es geeignetsei für den (christlichen) Glauben und ihn<strong>an</strong>nehmen werde. Und wirklich sind ihrer ja


doch dreitausend und fünftausend und zehntausendgläubig geworden.4.214Damit nämlich niem<strong>an</strong>d einwende: Bist denndu schon das Volk? Und ist denn das Volkerwä<strong>hl</strong>t worden, wenn du erwä<strong>hl</strong>t wordenbist? Darum fährt der Apostel fort: V. 2: „Nicht verstoßen hat Gott das Volk, welcheser voraus erk<strong>an</strong>nt hatte.“— Wie wenn er sagen wollte: „Ich habe nebenmir dreitausend und fünftausend undzehntausend.“ Doch wie? Ist das das Volk?Besteht denn bloß aus dreitausend oder fünftausendoder zehntausend jene Nachkommenschaft(<strong>des</strong> Abraham), <strong>die</strong> <strong>an</strong> Za<strong>hl</strong> denSternen am Himmel und dem S<strong>an</strong>d am Meeregleichkam? Und willst du uns so hintergehenund täuschen, daß du dich und <strong>die</strong> paarLeute um dich dem g<strong>an</strong>zen Volke gleichstellst?Blähst du uns nicht mit leeren Hoffnungenauf, indem du behauptest, <strong>die</strong> (alttestamentliche)Heilsbotschaft habe sich darinerfüllt, daß alle zugrunde gehen und nur einigewenige <strong>zum</strong> Heil gel<strong>an</strong>gen? Das ist dochnur Schwindel und Aufschneiderei; solchenTrugkünsten dürften wir wo<strong>hl</strong> kaum aufsitzen.Damit m<strong>an</strong> also nicht so spreche, sieh,wie er im folgenden <strong>die</strong> Lösung <strong>die</strong>ses Einw<strong>an</strong><strong>des</strong>bringt, ohne den Einw<strong>an</strong>d selbstauszusprechen; vor dem Einwände bringt er<strong>die</strong> Lösung <strong>des</strong>selben, und zwar aus demAlten Testament. Wie lautet <strong>die</strong>se Lösung?„Wißt ihr nicht, was <strong>die</strong> Schrift sagt (in der Geschichte)von Elias? Wie er eine Beschwerde beiGott vortrug gegen Israel?“V. 3: „Herr, deine Propheten haben sie ermordet,deine Altäre umgestürzt; ich bin der einzige, derübrig geblieben ist, und nun trachten sie auch mirnach dem Leben.“V. 4: „Aber wie lautet der Bescheid, der ihm zuging?Ich habe mir siebentausend Männer aufgespart,<strong>die</strong> dem Baal nicht das Knie gebeugt haben.“V. 5: „So ist auch in der Jetztzeit ein Reststammgeblieben zufolge der Gn<strong>ad</strong>enwa<strong>hl</strong>.“— Der Sinn <strong>die</strong>ser Stelle ist folgender: Gotthat das Volk (der Juden) nicht verstoßen;denn wenn er es verstoßen hätte, d<strong>an</strong>n hätteer keinen aufgenommen; wenn er aber aucheinige wenige aufgenommen hat, so hat er esnicht verstoßen. Ja aber, wen<strong>des</strong>t du ein,wenn er es nicht verstoßen hat, so mußte erdoch alle aufnehmen, G<strong>an</strong>z und garnicht. Denn auch zu den Zeiten <strong>des</strong> Elias best<strong>an</strong>d<strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Geretteten nur aus siebentausend.Jetzt sind derer, <strong>die</strong> den Glauben<strong>an</strong>genommen haben, sicherlich viele. Wennihr es nicht wißt, so ist es nicht zu wundern;wußte es ja auch jener Prophet, ein so großerund so geistvoller M<strong>an</strong>n, nicht. Gott aber trafseine Vorkehrungen, wenn es auch der Prophetnicht wußte. — Beachte da <strong>die</strong> Feinheit,mit welcher der Apostel bei <strong>die</strong>ser Beweisführung<strong>die</strong> Anklage gegen <strong>die</strong> Judenversteckterweise verschärft! Jene Schriftstellehat er nur darum g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>geführt, um <strong>die</strong>Und<strong>an</strong>kbarkeit der Juden <strong>an</strong> den Pr<strong>an</strong>ger zustellen und auszudrücken, daß sie schon früherso und<strong>an</strong>kbar gewesen seien. Denn hätteer das nicht gewollt, sondern einzig und allein<strong>die</strong> Absicht gehabt, zu zeigen, daß unterden wenigen das g<strong>an</strong>ze Volk zu verstehensei, so hätte er gesagt, daß auch zur Zeit <strong>des</strong>Elias siebentausend aufgespart worden seien.Nun führt er aber oben <strong>die</strong> Stelle g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>. Erbestrebt sich nämlich, darzutun, daß das, was<strong>die</strong> Juden Christus und den Aposteln <strong>an</strong>get<strong>an</strong>haben, nichts Neues, sondern etwas Altgewohntesund längst Geübtes gewesen sei.Damit sie nämlich nicht sagen könnten:Christus haben wir als einen Verführer getötetund <strong>die</strong> Apostel als Betrüger verfolgt,darum hält ihnen <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong>se Schriftstellevor, in der es heißt: „Herr, deine Prophetenhaben sie ermordet und deine Altäre umgestürzt.“Um aber seiner Rede das Verletzendezu nehmen, schützt er einen <strong>an</strong>deren Grund


215vor, warum er <strong>die</strong>se Schriftstelle <strong>an</strong>geführthabe. Nicht wie um sie <strong>an</strong>zuklagen, führt ersie <strong>an</strong>, sondern scheinbar mit dem Bestreben,etwas <strong>an</strong>deres zu beweisen. Dabei benimmter ihnen auch von ihrem früheren Benehmenher jeden Entschuldigungsgrund. Beachtenur, wie schwerwiegend <strong>die</strong> Anklage auchdurch <strong>die</strong> Person <strong>des</strong> Anklägers wird! Dennnicht <strong>Paulus</strong> ist es, auch nicht Petrus oderJakobus oder Joh<strong>an</strong>nes, sondern der M<strong>an</strong>n,welcher von ihnen am meisten bewundertwurde, das Haupt der Propheten, der Gottesfreund,der von solchem Eifer für sie erfülltwar, daß er sich dem Hunger preisgab, derM<strong>an</strong>n, welcher bis auf den heutigen Tagnoch nicht gestorben ist. Was also sagt der?„Herr, deine Propheten haben sieermordet, deine Altäre umgestürzt; ich binder einzige, der übrig geblieben ist, und nuntrachten sie auch mir nach dem Leben.“ Wasgeht über solch tierische Roheit? Die Judenhätten um Gn<strong>ad</strong>e bitten sollen wegen derfrüheren Verfe<strong>hl</strong>ungen, statt <strong>des</strong>sen aberwollten sie auch ihn töten. Ein solches Benehmennimmt ihnen doch wo<strong>hl</strong> je<strong>des</strong> Rechtauf Nachsicht. Denn nicht zur Zeit der Hungersnot,sondern als <strong>die</strong> Fruchtbarkeit wiederzurückgekehrt, <strong>die</strong> Schmach ausgetilgt, <strong>die</strong>Dämonen beschämt, <strong>die</strong> Macht Gottes offenkundiggeworden und der König unterworfenwar, da erkühnten sie sich, solche Greuelzu begehen, von Mord zu Mord zu schreiten,ihre Lehrer und <strong>die</strong>, welche ihre Sinnesartbessern wollten, aus dem Wege zu räumen.Was können sie wo<strong>hl</strong> zur Entschuldigungdafür <strong>an</strong>führen? Waren auch jene ProphetenVerführer? Waren auch sie Betrüger? Wußtensie auch von ihnen nicht, woher sie waren?(Wollt ihr euch damit entschuldigen), daß sieeuch gekränkt haben? Aber sie haben euchdoch auch Wo<strong>hl</strong>tuen<strong>des</strong> gesagt. Und d<strong>an</strong>n,was ist’s mit den Altären? Haben euch auch<strong>die</strong> Altäre gekränkt? Haben auch sie euch<strong>zum</strong> Zorne gereizt? Siehst du da, was für einenEigensinn, was für eine frevelhafte Gesinnungsie jederzeit <strong>an</strong> den Tag gelegt haben?Darum sagt <strong>Paulus</strong> dasselbe <strong>an</strong> einer<strong>an</strong>dern Stelle, wo er <strong>an</strong> <strong>die</strong> Thessalonicherschreibt: „Dasselbe habt ihr von eurenStammesgenossen erlitten wie auch jene vonden Juden; <strong>die</strong>se haben ja den Herrn (Jesus)getötet und <strong>die</strong> Propheten; auch uns habensie in gleicher Weise verfolgt; sie sind Gottmißfällig und allen Menschen feindselig“ 269 .Dasselbe sagt er auch hier: daß sie <strong>die</strong> Altäreumgestürzt und <strong>die</strong> Propheten ermordet haben.— Aber wie lautet der Bescheid, der ihmzuging? „Ich habe mir siebentausend Männeraufgespart, <strong>die</strong> dem Baal nicht das Knie gebeugthaben.“ Aber was hat <strong>die</strong>se Schriftstellefür einen Bezug auf unsere Frage? Einensehr engen. Es wird nämlich durch sie darget<strong>an</strong>,daß Gott immer nur <strong>die</strong> zu retten pflegt,welche <strong>des</strong>sen würdig sind, wenn <strong>die</strong> Verheißungauch <strong>an</strong> das g<strong>an</strong>ze Volk erg<strong>an</strong>gen ist. Dasselbe bringt der Apostelauch oben <strong>zum</strong> Ausdruck, wo er sagt:„Wenn <strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Söhne Israels auch wärewie der S<strong>an</strong>d am Meere, so wird doch nur einReststamm gerettet werden“, und: „Wennnicht der Herr Gott Sabaoth uns einen Samengelassen hätte so wäre es uns erg<strong>an</strong>gen wieSodoma.“ Dasselbe bringt er auch hier <strong>zum</strong>Ausdruck. Darum heißt es weiter: „So istauch in der Jetztzeit ein Reststamm gebliebenzufolge der Gn<strong>ad</strong>enwa<strong>hl</strong>.“ Beachte, wie indem Worte „Gn<strong>ad</strong>enwa<strong>hl</strong>“ jeder Teil seinebesondere Bedeutung hat; es ist darin einerseits<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes, <strong>an</strong>dererseits <strong>die</strong> guteGesinnung derer, <strong>die</strong> <strong>zum</strong> Heil gel<strong>an</strong>gt sind,ausgedrückt. Durch das Wort „Wa<strong>hl</strong>“ bringtder Apostel das eigene Dazutun jener <strong>zum</strong>Ausdruck, durch das Wort „Gn<strong>ad</strong>en-“ dasGeschenk Gottes.5.269 1 Thess. 2, 14 und 15.


V. 6: „Wenn aber durch Gn<strong>ad</strong>e, so nicht infolgeder Werke, weil ja sonst Gn<strong>ad</strong>e nicht mehr Gn<strong>ad</strong>eist. Wenn aber infolge der Werke, d<strong>an</strong>n ist esnicht Gn<strong>ad</strong>e weil sonst ja das Werk nicht mehrWerk ist“ 270.— Wieder setzt <strong>Paulus</strong> dem Eigensinn derJuden zu und schneidet jede Entschuldigungab, <strong>die</strong> sie etwa dem bisher Gesagten gegenübervorbringen könnten. Ihr könnt, will ersagen, nicht einwenden: Ja, <strong>die</strong> Prophetenhaben uns zwar gerufen, Gott hat uns eingel<strong>ad</strong>en,<strong>die</strong> Tatsachen selbst haben gerufen,<strong>die</strong> Eifersucht war dazu <strong>an</strong>get<strong>an</strong>, uns zu locken;aber das Anbefo<strong>hl</strong>ene war zu schwer,und darum konnten wir nicht Folge leisten.Es wurde von uns verl<strong>an</strong>gt, Werke aufzuweisenund mühevolle gute Taten zu vollbringen.— Nein, das k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nicht sagen. Wiehätte Gott so etwas von euch verl<strong>an</strong>gen sollen,da ja d<strong>ad</strong>urch ein Schatten auf seineGn<strong>ad</strong>e gefallen wäre? Das sagt der Apostelaber, um zu zeigen, daß Gott den sehnlichstenWunsch hatte, sie zu retten. Er machteihnen ihre Rettung nicht bloß leicht, sonderner legte dabei auch seine Menschenliebe <strong>an</strong>den Tag, was für ihn <strong>die</strong> größte Verherrlichungist. Was konnte dich also nochabschrecken, dem Rufe Gottes Folge zu leisten,da ja doch keine Werke von dir verl<strong>an</strong>gtwurden? Warum weigerst du dich eigensinnigund kommst mir ohne Sinn und ohneZweck immer wieder mit dem Gesetz, da dirja doch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e zu Gebote steht? Durchjenes wirst du nicht das Heil erl<strong>an</strong>gen, und<strong>die</strong>ses Geschenk läßt du dir verloren gehen.Denn wenn du eigensinnig darauf bestehst,ger<strong>ad</strong>e durch das Gesetz das Heil zu erl<strong>an</strong>gen,so lehnst du <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes ab. Damitsie ferner nicht meinen, daß das Heil ausGn<strong>ad</strong>e etwas g<strong>an</strong>z Unerhörtes sei, hält er ihnendas Beispiel jener siebentausend vor, <strong>die</strong>ja auch durch Gn<strong>ad</strong>e gerettet worden seien.Denn wenn er sagt: „So ist auch in der Jetzt-270 Der letzte Satz ist höchstwahrscheinlich nicht paulinisch, da er sich inden maßgebendsten Codices nicht findet, sondern <strong>Kommentar</strong> eines Abschreibers.216zeit ein Reststamm geblieben zufolge derGn<strong>ad</strong>enwa<strong>hl</strong>“, meint er damit doch, daßauch jene durch Gn<strong>ad</strong>e gerettet worden seien.Doch nicht bloß durch <strong>die</strong>sen Satz, sondernauch durch den Ausdruck: „Ich habemir sie aufgespart“ bringt der Apostel <strong>die</strong>s<strong>zum</strong> Ausdruck. Daraus ist nämlich ersichtlich,daß den größeren Teil Gott zur Rettung(jener siebentausend) beigetragen hat. —Wenn aber das Heil aus Gn<strong>ad</strong>e zuteil wird,könnte jem<strong>an</strong>d einwenden, warum erl<strong>an</strong>genes d<strong>an</strong>n nicht alle? — Weil ihr nicht wollt.Die Gn<strong>ad</strong>e nämlich, eben weil sie Gn<strong>ad</strong>e(nicht Zw<strong>an</strong>g) ist, bringt nur solchen Rettung,welche sie wollen, nicht aber solchen,welche sie nicht wollen, sie zurückweisen,gegen sie <strong>an</strong>kämpfen und ihr immerfort widerstehen.Siehst du, wie der Apostel den g<strong>an</strong>zen Beweisauf den Satz hinausführt: „Es ist nichtmöglich, daß Gottes Wort unerfüllt bleibe“?Er zeigt, daß <strong>die</strong> Heilsbotschaft nur <strong>an</strong> <strong>die</strong>Würdigen ergeht, und daß <strong>die</strong>se, wenn sieauch wenige <strong>an</strong> Za<strong>hl</strong> sind, doch das VolkGottes ausmachen können. Mit mehr Nachdruckhat er dasselbe in der Einleitung <strong>die</strong>ses<strong>Briefe</strong>s ausgesprochen, wenn er sagt: „Wasmacht es, daß m<strong>an</strong>che den Glauben nicht<strong>an</strong>genommen haben?“; ja er gibt sich damitnoch nicht zufrieden, sondern fährt fort:„Gott muß wahrhaft sein, jeder Mensch aberein Lügner.“ Und nun führt er den Beweisfür <strong>die</strong>selbe Wahrheit von einer <strong>an</strong>dern Seite.Er legt <strong>die</strong> Kraft der Gn<strong>ad</strong>e dar und zeigt,daß es im- mer so gewesen sei, daß<strong>die</strong> einen das Heil erl<strong>an</strong>gten, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern aberverloren gingen.Sagen wir also Gott D<strong>an</strong>k, daß wir zu denGeretteten gehören und daß wir, <strong>die</strong> wirnicht auf Grund der Werke das Heil erl<strong>an</strong>genkonnten, es auf Grund <strong>des</strong> Gn<strong>ad</strong>engeschenkesGottes erl<strong>an</strong>gt haben! Laßt uns aber unsernD<strong>an</strong>k nicht bloß in Worten ausdrücken,sondern auch nur durch Werke und Taten!Das ist <strong>die</strong> höchste Art der D<strong>an</strong>ksagung,wenn wir das tun, wodurch Gott verherrlicht


werden will, und das meiden, wovon wirbefreit worden sind. Wenn wir eine Majestätsbeleidigungbeg<strong>an</strong>gen hätten, und wirwären dafür statt bestraft noch ausgezeichnetworden, und wir begingen d<strong>an</strong>n wieder <strong>die</strong>selbeBeleidigung, so ver<strong>die</strong>nten wir dochwo<strong>hl</strong> als höchst und<strong>an</strong>kbare Menschen mitRecht <strong>die</strong> schwerste Strafe, jedenfalls eineviel größere als das erstemal. Denn <strong>die</strong> ersteBeleidigung hätte nicht so sehr unsern Und<strong>an</strong>k<strong>an</strong> den Tag gelegt als <strong>die</strong> zweite, <strong>die</strong> aufAuszeichnung und Liebeserweis erfolgt wäre.Fliehen wir also jene Sünden, von denenwir befreit worden sind, und sagen wir nichtbloß mit dem Munde D<strong>an</strong>k, damit nicht auchvon uns <strong>die</strong> Klage gelte: „Dieses Volk ehrtmich mit den Lippen, ihr Herz aber ist weitentfernt von mir“ 271 . Wie ungereimt ist esnicht, wenn der Himmel <strong>die</strong> HerrlichkeitGottes verkündet, du aber, <strong>des</strong>sentwegen derHimmel geschaffen ist, Dinge begehst, durchwelche du Gott, deinem Schöpfer, Schimpf<strong>an</strong>tust? Darum ist nicht bloß der eigentlicheGotteslästerer strafwürdig, sondern (in <strong>die</strong>semFalle) auch du. Der Himmel verherrlichtGott nicht d<strong>ad</strong>urch, daß er etwa seine Stimmeerschallen läßt, sondern er bringt durchseinen Anblick <strong>an</strong>dere dazu; in <strong>die</strong>sem Sinneheißt es, daß er <strong>die</strong> Herrlichkeit Gottes verkünde.So verherrlichen auch solche Menschen,<strong>die</strong> ein bewundernswertes Leben führen,Gott, wenn sie auch schweigen, indem<strong>an</strong>dere durch sie dazu gebracht werden, ihnzu verherrlichen. Denn Gott wird nicht einmaldurch den Himmel so sehr verherrlichtwie durch ein reines Leben. Wenn wir zu denHeiden reden, berufen wir uns nicht auf denHimmel, sondern auf <strong>die</strong> Menschen,welche, ehedem sc<strong>hl</strong>immer als wilde Tiere,nunmehr mit den Engeln um den R<strong>an</strong>g streiten.Mit dem Hinweis auf <strong>die</strong>se Umw<strong>an</strong>dlungbringen wir sie <strong>zum</strong> Schweigen.6.Ja, viel erhabener als der Himmel ist derMensch; er k<strong>an</strong>n eine Seele besitzen, <strong>die</strong>leuchtender ist <strong>an</strong> Schönheit als <strong>die</strong>ser. DerHimmel hat nicht sonderlich viel Überzeugungskraftbewiesen, obgleich er schon sol<strong>an</strong>ge im Angesicht (der Menschheit) steht.<strong>Paulus</strong> dagegen zog <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Menschheit <strong>an</strong>sich, wiewo<strong>hl</strong> er nur kurze Zeit predigte. Erhatte nämlich eine Seele, <strong>die</strong> dem Himmel(<strong>an</strong> Schönheit) nichts nachgab und <strong>die</strong> Kraftbesaß, alle <strong>an</strong> sich zu ziehen. Unsere Seelefreilich kommt (<strong>an</strong> Schönheit) nicht einmalder Erde gleich; <strong>die</strong> seine dagegen übertrafden Himmel. Denn der Lauf <strong>des</strong> Himmelsvollzieht sich stets innerhalb seiner natürlichenGrenzen und nach einem feststehendenGesetze. Des Apostels große Seele dagegensteigt hinaus über alle Himmel und pflegtvertrauten Verkehr mit Christus selbst. DieSchönheit <strong>die</strong>ser Seele war so groß, daß Gottselbst sie rühmte. Die Gestirne priesen, als siegeschaffen waren, voll Bewunderung <strong>die</strong> Engel,den Apostel aber pries Gott selbst, indemer von ihm sagte; „Ein auserwä<strong>hl</strong>t Werkzeugist mir <strong>die</strong>ser geworden“ 272 . Den Himmeltrübt oft eine Wolke; <strong>die</strong> Seele <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>dagegen konnte keine Versuchung trüben; inden Stürmen (<strong>des</strong> Lebens) stra<strong>hl</strong>te sie leuchtenderals <strong>die</strong> Mittagssonne und war gera<strong>des</strong>o hell wie vor dem Aufziehen der Wetterwolken.Die Sonne, <strong>die</strong> in ihm leuchtete,s<strong>an</strong>dte Stra<strong>hl</strong>en aus, <strong>die</strong> kein Wetter der Versuchungverdunkeln konnte, sondern ger<strong>ad</strong>ed<strong>an</strong>n glänzten sie am hellsten. Daher heißt esvon ihm: „Es genügt dir meine Gn<strong>ad</strong>e; dennmeine Kraft ist am wirksamsten in Schwachheit“273 .Dem Apostel laßt uns also nacheifern! D<strong>an</strong>nwird, sofern wir nur wollen, der Himmelkeinen Vergleich aushalten mit uns, auch <strong>die</strong>Sonne nicht und das g<strong>an</strong>ze Weltall271 Is. 29, 13.217272 Apg. 9, 15.273 2 Kor. 12, 9.


nicht. Denn <strong>die</strong>se Dinge sind unsertwegenda, nicht wir ihretwegen. Zeigen wir, daß wires wert sind, daß <strong>die</strong>se Dinge unseretwegenerschaffen worden sind! Erweisen wir uns<strong>die</strong>ser unwert, wie werden wir da erst <strong>des</strong>himmlischen Reiches wert sein? Denn wennalle, <strong>die</strong> ein gotteslästerliches Leben führen,unwert sind, zur Sonne aufzublicken, so sindsolche, <strong>die</strong> ihn lästern, nicht wert, daß siesich der Schöpfung erfreuen, <strong>die</strong> ihn verherrlicht.So ist ja auch ein Sohn, der seinen Vaterbeschimpft, nicht wert, den Dienst von Sklavenzu genießen, <strong>die</strong> es mit dem Vater wo<strong>hl</strong>meinen. Darum werden <strong>die</strong>se Werke Gottesherrlich verklärt werden, wir aber werdender rächenden Strafe verfallen. Was für einUnglück wäre es, wenn <strong>die</strong> Schöpfung, <strong>die</strong>unseretwegen da ist, zur herrlichen Freiheitder Kinder Gottes umgestaltet würde, undwenn wir dagegen, <strong>die</strong> Kinder Gottes, derentwegen<strong>die</strong> Schöpfung jenes glücklichenZust<strong>an</strong><strong>des</strong> teilhaftig werden wird, in dasVerderben der Hölle geschickt würden! Damitdas nicht geschehe, laßt uns, <strong>die</strong> wir einereine Seele besitzen, sie so rein, wie sie ist,bewahren, ja, ihren Gl<strong>an</strong>z noch erhöhen! Wirwollen aber auch nicht verzweifeln, wennm<strong>an</strong>che sie beschmutzt haben sollten. Dennes heißt ja: „Wenn eure Sünden sind wieScharlach, so will ich sie weiß machen wieSchnee; und wenn sie sind rot wie Purpur, sowill ich sie weiß machen wie Wolle“ 274 . Wennaber Gott etwas verheißt, so zweifle nichtdar<strong>an</strong>, sondern tue nur das, wodurch du derVerheißung teilhaftig werden k<strong>an</strong>nst. Duhast unzä<strong>hl</strong>ige schwere Sünden beg<strong>an</strong>gen?Was ist dazu zu sagen? Noch bist du nicht inder Hölle, aus der es keine Erlösung gibt. DasSchauspiel (deines Lebens) ist noch nicht zuEnde, sondern du stehst noch auf demKampfplatz und k<strong>an</strong>nst durch den letztenWaffeng<strong>an</strong>g alle früheren Niederlagen wettmachen.Noch bist du nicht dort, wo der Reiche,daß du zu hören bekommst: „Eine Kluftliegt zwischen uns und euch“ 275 . Noch ist derBräutigam nicht da, so daß jem<strong>an</strong>d sichfürchtete, dir von seinem Öle zu geben. Duk<strong>an</strong>nst es noch kaufen und aufheben.Noch sagt niem<strong>an</strong>d zu dir: „Nein, es könntesonst nicht reichen für uns und für euch“ 276 ,sondern es gibt der Verkäufer viele; <strong>die</strong>Nackten, <strong>die</strong> Hungernden, <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>ken, <strong>die</strong>Gef<strong>an</strong>genen. Speise <strong>die</strong> einen, bekleide <strong>die</strong><strong>an</strong>dern, besuche <strong>die</strong> dritten, und reicher wieaus jeder Quelle wird das Öl dir zufließen!Noch ist der Tag der Rechenschaft nicht da.Nütze darum <strong>die</strong> Zeit noch recht aus, undmindere deine Schulden! Sprich zu dem, derdir hundert Tonnen Öl schuldet: „Nimmdeinen Schuldschein und schreibe fünfzig!“277 Ahme den Verwalter (<strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums)nach und mach es so mit dem Gelde(das m<strong>an</strong> dir schuldet) und mit den üblenNachreden gegen dich! Dazu ermuntere dichund deine Angehörigen! Noch hast du es indeiner Macht, so zu sprechen, noch hast dunicht nötig, <strong>an</strong>dere darum <strong>an</strong>zugehen, sonderndu hast noch <strong>die</strong> Möglichkeit, dir und<strong>an</strong>dern <strong>die</strong>sen guten Rat zu geben. Bist duaber einmal hinüber ins Jenseits gekommen,d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>nst du nichts mehr tun von all dem.Und das g<strong>an</strong>z mit Recht; denn wenn du soviel Gelegenheit gehabt und weder für deinnoch eines <strong>an</strong>dern Wo<strong>hl</strong> gesorgt hast, wiesollst du erst einer solchen Gn<strong>ad</strong>e teilhaftigwerden können, wenn du vor dem Richterstehst? Das alles zusammen laßt uns also erwägenund ernstlich auf unser Seelenheilbedacht sein! Wollen wir <strong>die</strong> gute Gelegenheit,<strong>die</strong> uns das gegenwärtige Leben bietet,nicht ungenützt vorbeigehen lassen! Es istmöglich, ja, es ist möglich, noch in den letztenZügen Gottes Wo<strong>hl</strong>gefallen zu erwerben;es ist möglich, noch durch das Testamentsich bei ihm in Gunst zu setzen, wenn auchnicht so leicht wie bei Lebzeiten, aber möglichist es doch. Wie und auf welche Weise?274 Is. 1, 18.218275 Luk. 16, 26.276 Matth. 25, 9 .277 Luk, 16, 6.


Wenn du Christus unter deine Erben aufnimmstund ihm einen Teil deiner Habevermachst. Du hast ihn im Leben nicht gespeist?So gib ihm etwas von deinem Vermögenbei deinem Hinscheiden, wo du ja sonicht mehr Herr darüber sein k<strong>an</strong>nst. Er ist jaso gütig; er wird es mit dir nicht so genaunehmen. Ein Zeichen größerer Liebe freilich ist es, und mehr Lohn ver<strong>die</strong>ntes, wenn du ihn bei Lebzeiten speisest. Hastdu ihm das nicht get<strong>an</strong>, so tue ihm wenigstensdas <strong>an</strong>dere: Mach ihn zu deinem Erbenzugleich mit deinen Kindern! Fällt dir aberauch das noch schwer, so bedenke, daß seinVater dich zu seinem Miterben gemacht hat,und laß deinen harten Sinn fahren! Denn waswirst du für eine Entschuldigung haben,wenn du den nicht <strong>zum</strong> gemeinsamen Erbenmit deinen Kindern machst, der dich mit ihm<strong>zum</strong> gemeinsamen Erben <strong>des</strong> Himmels gemachtund sich für dich geopfert hat? Unddabei hat er alles, was er für dich get<strong>an</strong> hat,nicht aus Schuldigkeit gegen dich get<strong>an</strong>,sondern er hat dir nur einen Beweis seinerGn<strong>ad</strong>e erweisen wollen. Du aber bist nach sovielen Wo<strong>hl</strong>taten sein Schuldner geworden.Und trotzdem nimmt er das, was du ihmgibst, als eine Gn<strong>ad</strong>e von dir in Empf<strong>an</strong>g; erverl<strong>an</strong>gt es nicht als Schuldigkeit und kröntdich dafür; er will das von dir in Empf<strong>an</strong>gnehmen, was eigentlich ihm gehört.7.Schenk ihm also dein Geld, das dir nichtsmehr nützen k<strong>an</strong>n und über das du nichtmehr Herr bist, und er wird dir ein Reichschenken, das dir ewig <strong>zum</strong> Segen ist, undd<strong>an</strong>eben wird er dir auch hienieden Segenbescheren. Wenn er <strong>zum</strong> Miterben deinerKinder geworden ist, so erleichtert er ihnenihr Waisenlos, macht <strong>die</strong> bösen Ansc<strong>hl</strong>ägegegen sie zunichte, wehrt Mißh<strong>an</strong>dlungenvon ihnen ab und macht <strong>die</strong> ungerechten219Ankläger verstummen. Wenn sie nicht selbstimst<strong>an</strong>de sein sollten, <strong>die</strong> Testamentsbestimmungendurchzuführen, so wird erselbst sie durchführen und nicht zulassen,daß sie umgestoßen werden. Sollte er dasaber auch zulassen, so erfüllt er aus eigenemalle Testamentsbestimmungen mit um sogrößerem Eifer, da ihm ja einmal <strong>die</strong> Ehre<strong>an</strong>get<strong>an</strong> ist, ins Testament aufgenommen zusein. Mach ihn also zu deinem Erben! Zu ihmsollst du ja hinübergehen, er wird den Richterspruchfällen über alles, was hieniedengeschehen ist.Aber da gibt es so armselige, unglücklicheMenschen, <strong>die</strong>, obgleich sie kinderlos sind,<strong>die</strong>s doch nicht tun mögen, sondern ihr Vermögenlieber Schmarotzern undSchmeic<strong>hl</strong>ern und <strong>die</strong>sem und jenem vermachen<strong>an</strong>statt Christus, der ihnen so großeWo<strong>hl</strong>taten erwiesen hat. Was gibt es wo<strong>hl</strong>Vernunftloseres als solche Leute? Wenn m<strong>an</strong>sie mit Eseln oder mit Steinen vergleichenwollte, so würde ein solcher Vergleich nochimmer nicht ihre Unvernunft und ihre Gefü<strong>hl</strong>losigkeitgebührend kennzeichnen. Esdürfte sich kaum ein treffen<strong>des</strong> Bild für ihrenWahnwitz und ihre Torheit finden lassen.Wie sollen solche Leute Verzeihung dafürfinden, daß sie bei ihren Lebzeiten Christusnicht gespeist haben, wenn sie nicht einmalbei ihrem Hinscheiden ihm etwas Wenigesvon ihrem Gelde, das sie doch nicht mehrbesitzen können, schenken wollen, sondernsich so feindselig und auf Kriegsfuß mit ihmstehend benehmen, daß sie ihm nicht einmalvon solchen Dingen etwas zukommen lassen,<strong>die</strong> für sie selbst ohne Nutzen sind? Siehst dunicht, wie vielen Menschen ein solches Endegar nicht gegönnt ist, sondern wie sie urplötzlich(aus der Welt) scheiden müssen?Dir aber hat Gott <strong>die</strong> Möglichkeit gegeben,für deine Angehörigen letzte Anordnungenzu treffen, über dein Vermögen zu verfügenund dein Haus zu bestellen. Welche Entschuldigungwirst du vorzubringen haben,wenn du nach Empf<strong>an</strong>g einer solchen Gn<strong>ad</strong>e


von ihm sein Wo<strong>hl</strong>wollen in den Windsc<strong>hl</strong>ägst und dich in ger<strong>ad</strong>en Gegensatzstellst zu deinen Vorfahren im Glauben? Dieseverkauften bei Lebzeiten alles und legtenden Erlös den Aposteln zu Füßen; du abervermachst nicht einmal auf dem Totenbetteden Armen einen Teil deiner Habe. Zwar istes besser und gibt viel Zuversicht, wenn m<strong>an</strong>bei Lebzeiten <strong>die</strong> Armut unterstützt; magstdu aber schon das nicht, so vollbringe wenigstensauf dem Totenbette etwas Edles. Esist <strong>die</strong>s zwar kein Beweis einer großen Liebezu Christus, aber immerhin einiger Liebe.Wenn du dafür auch nicht ger<strong>ad</strong>e in <strong>die</strong> vordersteReihe unter den Lämmern zu stehenkommen wirst, so ist es doch schon nichtsGeringes, überhaupt unter sie zu kommenund nicht zur Linken unter den Böcken stehenzu müssen. Tust du aber auch das nicht,was wird d<strong>an</strong>n zu deinen Gunsten sprechen,wenn weder <strong>die</strong> Furcht vor dem Tode, nochder Ged<strong>an</strong>ke, daß dein Vermögen für dichnutzlos ge- worden ist, noch der <strong>an</strong>dere,daß du (durch Verteilung <strong>des</strong>selben)deine Kinder für <strong>die</strong> Zukunft sicherstellstnoch der, daß du dir damit hienieden eingroßes Anrecht auf Nachsicht (im Jenseits)erwirbst, wenn alles das nicht imst<strong>an</strong>de ist,dich mildherzig zu machen?Darum ermahne ich euch, am besten noch beiLebzeiten den Armen den größeren Teil eurerHabe auszuteilen. Wenn aber m<strong>an</strong>che soengherzig sind, daß sie <strong>die</strong>s nicht über sichbringen, so sollen sie wenigstens unter demDruck der Notwendigkeit mildherzig werden.So l<strong>an</strong>ge du lebst, hältst du fest <strong>an</strong> deinemVermögen, wie wenn du unsterblichwärest. D<strong>an</strong>n aber, wenn du einsiehst, daßdu sterblich bist, gib endlich deinen Grundsatzauf und triff Vorsorge für dich, wie einer,der sterben muß — doch nein, wie einer,der unsterblichen Lebens ewig genießen soll!Wenn auch das, was ich jetzt aussprechenwill, furchtbar hart klingt, so muß es dochgesagt sein: Setz doch wenigstens den Herrnauf <strong>die</strong>selbe Stufe mit deinen Sklaven! Du220möchtest deinen Sklaven <strong>die</strong> Freiheit schenken?Nun, so befreie doch auch Christus vonHunger und Not und Gefängnis und Blöße!Du erschauderst, solches zu hören? Ist es a-ber nicht noch schauderhafter, wenn du esnicht tust? Hier im Diesseits schon k<strong>an</strong>n dichein solches Wort in Schrecken setzen. Waswirst du aber erst sagen, wenn du von hinnenscheiden und im Jenseits viel Sc<strong>hl</strong>immereszu hören und <strong>die</strong> unerträglichen Qualenzu sehen bekommen wirst? Zu wem wirst dud<strong>an</strong>n <strong>die</strong> Zuflucht nehmen? Zu Abraham? Erwird dich nicht hören. Oder zu den (klugen)Jungfrauen (<strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums)? Sie werdendir kein Öl überlassen. Oder zu deinem Vateroder Großvater? Keiner (deiner Vorfahren)wird imst<strong>an</strong>de sein, und wenn er noch soheilig wäre, den Spruch <strong>des</strong> (ewigen) Richtersaufzuheben. — Bedenke das alles undnimm deine Zuflucht zu dem und rufe ihn<strong>an</strong>, der allein imst<strong>an</strong>de ist, deinen Schuldscheinzu vernichten und jenes höllische Feuerauszulöschen! Mach dir ihn gnädig, indemdu ihn (im Leben) beständig speisest undbeklei<strong>des</strong>t, damit du einmal mit froher Hoffnungvon hinnen scheiden k<strong>an</strong>nst und imJenseits <strong>zum</strong> Genuß ewiger Güter gel<strong>an</strong>gst.Daß uns allen <strong>die</strong>selben zuteil werdenmöchten durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseresHerrn Jesus Christus, durch den undmit dem Ehre sei dem Vater zugleich mitdem Hl. Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit!Amen. ZWANZIGSTE HOMILIE. Kap. XI. V.7—36.1.Kap. XI. V. 7—36.V. 7: „Was also (ergibt sich daraus)? Daß Israeldas nicht erreichte, was es <strong>an</strong>strebte? Der auserwä<strong>hl</strong>teTeil (von ihm) hat es doch erreicht; <strong>die</strong>übrigen aber wurden verstockt.“


Der Apostel hat gesagt, daß Gott sein Volknicht verstoßen habe. Er hat dargelegt, wie<strong>die</strong>ses Nichtverstoßensein (<strong>des</strong> g<strong>an</strong>zen Volkes)zu verstehen sei und hat sich dabei auf<strong>die</strong> Propheten berufen. Mit Hilfe derselbenhat er gezeigt, daß tatsäc<strong>hl</strong>ich der größereTeil (der Juden) zugrunde ging. Damit es nunnicht den Anschein habe, als trage er <strong>die</strong>senVorwurf als seine eigene Ansicht vor, unddamit seine Rede nicht gehässig und er selbstals persönlicher Feind der Juden erscheine,beruft er sich wieder auf David und Jesaias,indem er spricht:V. 8: „Wie geschrieben steht: Es schickte Gottüber sie einen Geist der Starre“ 278 .<strong>In</strong><strong>des</strong>, wir müssen <strong>an</strong> <strong>die</strong> vorausgehendeStelle <strong>an</strong>knüpfen. — Der Apostel hat oben<strong>die</strong> Geschichte von Elias erzä<strong>hl</strong>t und klargemacht, wie der Begriff „Gn<strong>ad</strong>e“ zu fassensei. Nun fährt er fort: „Was also ergibt sichdaraus? Daß Israel das nicht erreichte, was es<strong>an</strong>strebte?“ Dieser Satz hat nicht so sehr denSinn einer Frage als einer Behauptung, in derein Vorwurf liegt. Liegt ja doch ein Widerspruchdarin, zu sagen: der Jude hat <strong>die</strong> Gerechtigkeit<strong>an</strong>gestrebt, <strong>die</strong> er aber doch wiedernicht <strong>an</strong>nehmen mochte. Der Apostelschneidet ihnen wieder jede Entschuldigungab; durch den Hinweis auf <strong>die</strong>jenigen ausihnen, welche <strong>die</strong> Gerechtigkeit tatsäc<strong>hl</strong>ich empfingen, läßt er <strong>die</strong> Und<strong>an</strong>kbarkeitder <strong>an</strong>dern klar hervortreten,indem er sagt: „Der auserwä<strong>hl</strong>te Teil hat esdoch erreicht.“ Diese auserwä<strong>hl</strong>ten Judenverurteilen <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern. <strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne sagtauch Christus: „Wenn ich durch Beelzebub<strong>die</strong> Teufel austreibe, durch wen treiben siedenn eure Kinder aus? So werden <strong>die</strong>se eureRichter sein“ 279 . Damit nämlich niem<strong>an</strong>d <strong>die</strong>Verwerfung der Juden der H<strong>an</strong>dlungsweiseGottes <strong>an</strong> sich zur Last lege, sondern ihremeigenen freien Willen, weist der Apostel auf278 Is. 29, 10. Bei πνεῦμα κατανύξεως hat m<strong>an</strong> <strong>an</strong> eine hypnotische Starrezu denken. Am treffendsten wäre <strong>die</strong> Übersetzung „hypnotischer Sc<strong>hl</strong>af“;doch läßt sich <strong>die</strong>selbe nicht gut in <strong>die</strong> Auslegung einfügen, <strong>die</strong> Chrysostomusder g<strong>an</strong>zen Stelle gibt.279 Luk. 11, 19.221<strong>die</strong>jenigen aus ihnen hin, welche <strong>die</strong> Gerechtigkeittrotz allem erreicht haben. Er be<strong>die</strong>ntsich dabei eines treffenden Wortes, durchwelches er einerseits <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e von oben(<strong>die</strong> dabei mitwirkte), <strong>an</strong>dererseits aber auch<strong>die</strong> eigene Tätigkeit (der auserwä<strong>hl</strong>ten Juden)<strong>zum</strong> Ausdruck bringt. Nicht um ihre eigeneMitwirkung in Abrede zu stellen, sagt er:„Sie erreichten es“, sondern um <strong>die</strong> Größe<strong>des</strong> erreichten Gutes auszudrücken, undauch, daß das Mehr dabei Gn<strong>ad</strong>e war, dochnicht das G<strong>an</strong>ze. So pflegen auch wir zu sagen:„Der hat etwas erreicht“, „der hat etwasgefunden“, wenn wir sagen wollen, es seiihm ein großer Gewinn zugefallen. Nichtmensc<strong>hl</strong>icher Mitwirkung, sondern dem göttlichenGn<strong>ad</strong>enerweis ist der Löwen<strong>an</strong>teil zuzuschreiben.— „Die übrigen aber wurdenverstockt.“ Beachte, w<strong>an</strong>n erst der Apostel eswagt, <strong>die</strong> Verwerfung der übrigen mit einemvon ihm stammenden Ausdruck zu bezeichnen!Gesprochen hat er davon schon früher;aber er hat damals <strong>die</strong> Propheten als <strong>die</strong> <strong>an</strong>geführt,welche <strong>die</strong>se Anklage aussprechen.Hier aber spricht er sie nun auch selbst aus.Aber er läßt es doch auch noch nicht bei seinemeigenen Ausspruch bewenden, sondernführt wieder den Propheten Jesaias <strong>an</strong>; dennnach dem Worte „verstockt“ fährt er fort:„Wie geschrieben steht: Es schickt Gott übersie einen Geist der Starre.“ Woher <strong>die</strong>se Verstockung?Der Apostel hat schon früher <strong>die</strong>Ursachen davon <strong>an</strong>gegeben und <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeSchuld auf <strong>die</strong> Juden selbst geschoben, indemer darlegte, daß ihnen <strong>die</strong>s wegen ihresun<strong>an</strong>gebrachten Starrsinns widerfuhr.Das sagt er auch jetzt; denn wenn er spricht:„Augen <strong>zum</strong> Nichtsehen und Ohren <strong>zum</strong> Nichthören“, so will er damit nichts <strong>an</strong>deres verwerfenals das starrsinnige Festhalten <strong>an</strong> ihrerMeinung. Sie hatten ja Augen, um <strong>die</strong>Wunder zu sehen, und besaßen Ohren, umjene wunderbare Lehre zu hören, aber siemachten davon nicht den gehörigenGebrauch. Unter dem Worte „er schickte ü-ber sie“ darfst du hier nicht eine Tätigkeit


(von seiten Gottes) verstehen, sondern eineZulassung. Mit „Starre“ meint hier der Aposteleine sc<strong>hl</strong>imme Seelenstimmung, <strong>die</strong> bleibendund unabänderlich ist. So sagt <strong>an</strong> einer<strong>an</strong>dern Stelle David: „Auf daß dir lobsingemeine Seele und ich nicht erstarre“, d. h.nicht aufhöre, nicht etwas <strong>an</strong>deres tue. Denngera<strong>des</strong>o wie jem<strong>an</strong>d, der „starr“ festhält amGuten, nicht leicht <strong>an</strong>ders wird, so ändertsich auch der nicht leicht, der „starr“ gewordenist im Bösen. „Starrwerden“ heißt alsohier nichts <strong>an</strong>deres als auf etwas festgelegtund gleichsam <strong>an</strong>genagelt sein. Um also dasUnbehebbare und das Unabänderliche ihrereinmal gefaßten Meinung zu bezeichnen,gebraucht der Apostel den Ausdruck „Geistder Starre“. — Hierauf bringt der Apostel<strong>zum</strong> Ausdruck, daß <strong>die</strong> Juden für <strong>die</strong>sen Unglauben<strong>die</strong> schwerste Strafe werden zu erleidenhaben. Er führt wieder den Propheten<strong>an</strong>, der genau das <strong>an</strong>droht, was wirklich geschehenund in Erfüllung geg<strong>an</strong>gen ist.V. 9: „Es werde ihnen, heißt es, ihr Tisch zurSc<strong>hl</strong>inge, <strong>zum</strong> Jagdnetz und <strong>zum</strong> Anstoß.“D. h. ihr Wo<strong>hl</strong>st<strong>an</strong>d, all ihre Güter sollen sichins Gegenteil verw<strong>an</strong>deln; sie sollen verlorengehen und allen preisgegeben werden. —Um ferner auszudrücken, daß sie <strong>die</strong>se Strafefür ihre Sünden erleiden, fährt er fort:


223ter hat aufgehört, <strong>die</strong> Strafe aber hat sich gehäuft,und es ist auch gar keine Hoffnung,daß es <strong>an</strong>ders werde. Nicht siebzig Jahre gehtes so fort, nicht hundert oder zweihundert,sondern dreihundert und viel darüber, undnoch immer ist auch nicht ein Schatten vonHoffnung zu erspähen. Und dabei treibt ihrnicht Abgötterei noch etwas dergleichen, wasihr euch früher erkühnt hattet. Wor<strong>an</strong> liegt esnun? Die Zeit der Vorbilder ist vorüber und<strong>die</strong> Wahrheit <strong>an</strong> deren Stelle getreten, demGesetz ist <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e gefolgt. Das weissagtder Prophet, wenn er spricht: „Krampfe ihrenRücken g<strong>an</strong>z und gar zusammen.“ Siehst du,wie bis ins Einzelne genau <strong>die</strong> Weissagungist? Wie sie sowo<strong>hl</strong> den Unglauben der Judenvorausverkündet, wie sie auch ihre Halsstarrigkeit<strong>zum</strong> Ausdruck bringt, <strong>die</strong> darauffolgendeStrafe <strong>an</strong>zeigt und <strong>die</strong> endlose Dauerder Züchtigung (durch das Bild von demg<strong>an</strong>z und gar gekrümmten Rücken) ver<strong>an</strong>schaulicht?Weil es unter den Juden vielegrobsinnige Leute gab, <strong>die</strong> auf Verheißungenzukünftiger Dinge nichts gaben, sondern siein der Gegenwart verwirklicht sehen Rollten,darum erwies Gott seine Macht nach beidenSeiten (sowo<strong>hl</strong> gegen <strong>die</strong> Gläubigen als auchgegen <strong>die</strong> Ungläubigen): <strong>die</strong> Gläubigen unterden Heiden hob er <strong>zum</strong> Himmel empor, <strong>die</strong>Ungläubigen unter den Juden hingegen ließer g<strong>an</strong>z und gar vereinsamen und stürzte siein endloses Elend.Nachdem ihnen der Apostel ernstlich zuGemüte geführt hatte, daß sie sich durch ihrenUnglauben versündigt hatten, wie auch,was sie dafür in der Verg<strong>an</strong>genheit zu erleidengehabt und in der Zukunft noch würdenzu erleiden haben, stimmt er seine Redewieder auf einen milderen Ton, indem erschreibt:V. 11: „Ich sage demnach: Sind sie etwa <strong>an</strong>gestoßendamit sie (g<strong>an</strong>z) zu Falle kommen? Das seiferne!“— <strong>Paulus</strong> hat den Juden vor Augen gestellt,daß sie (wegen ihres Unglaubens) unsagbaremElend verfallen seien; nun spricht er ihnenwieder Trost zu. Beachte dabei sein klugesVorgehen! Als Anklage hat er Prophetenworte <strong>an</strong>geführt, zur Tröstungbe<strong>die</strong>nt er sich eigener. Daß <strong>die</strong> Juden schwergefe<strong>hl</strong>t haben, will er sagen, wird niem<strong>an</strong>d inAbrede stellen; aber laßt uns sehen, ob <strong>die</strong>seVerfe<strong>hl</strong>ung untilgbar ist und keine Verbesserungzuläßt! Nein, so liegt <strong>die</strong> Sache nicht. —Siehst du, wie er ihnen wieder zu Herzenredet und ihnen in Erwartung <strong>des</strong> Trostesihre zugest<strong>an</strong>denen Verfe<strong>hl</strong>ungen nochmalsvor Augen hält? — Laßt uns sehen, was erihnen <strong>zum</strong> Troste zu sagen weiß! Worin bestehtder Trost? — Wenn einmal <strong>die</strong> Vollza<strong>hl</strong>der Heiden, meint er, <strong>zum</strong> Glauben gekommensein wird, d<strong>an</strong>n wird auch Israel dasHeil erl<strong>an</strong>gen. Das wird der Fall sein zur Zeitder zweiten Ankunft (Christi) und <strong>des</strong> Welten<strong>des</strong>.Aber sofort sagt er das nicht, sondernerst nachdem er sie scharf <strong>an</strong>gelassen, nachdemer eine Anklage auf <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere gesetzt,einen Propheten nach dem <strong>an</strong>dern <strong>an</strong>geführthat, <strong>die</strong> alle gegen sie ihre Stimme erheben:den Jesaias, den Elias, den David, den Moses,den Oseas, einmal, zweimal und noch öfter.Er will aber <strong>die</strong> Juden d<strong>ad</strong>urch nicht in Verzweiflungstürzen und ihnen den Weg <strong>zum</strong>Glauben nicht verlegen; <strong>an</strong>dererseits will er<strong>die</strong> gläubig gewordenen Heiden nicht <strong>zum</strong>Hochmut verleiten, weil sie d<strong>ad</strong>urch <strong>die</strong> Predigt<strong>des</strong> Glaubens schädigen könnten; darumtröstet er nun wieder <strong>die</strong> Juden, indem erspricht:„Sondern durch ihren Fall ward den Heiden dasHeil.“— Wir dürfen <strong>die</strong>se Worte nicht einfach hören,sondern müssen auch <strong>die</strong> Absicht unddas Ziel <strong>des</strong>sen, der sie spricht, erfassen undwas er damit ausdrücken will. Dazu ermahneich euch ja immer, meine Lieben. — Wennwir das Gesagte in <strong>die</strong>sem Sinne nehmen,d<strong>an</strong>n werden wir sehen, daß keine Schwierigkeitdarin liegt. Was der Apostel jetzt beabsichtigt,ist, <strong>die</strong> Überhebung der Heidenchristen,<strong>die</strong> etwa aus dem Gesagten erfolgenkönnte, niederzuhalten; sie sollten Beschei-


denheit lernen und auf <strong>die</strong>se Weise um sosicherer dem Glauben erhalten bleiben. DieJuden wieder sollten der Verzweiflung entrissenwerden und um so hoffnungsfreudigersich der Gn<strong>ad</strong>e zuwenden. Diesen Zweck imAuge, wollen wir hören, was <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stellegesagt ist. Was sagt also der Apostel?Woher nimmt er den Erweis, daß <strong>die</strong> Judennicht rettungslos gefallen seien und nichtbis <strong>an</strong>s Ende ausgestoßen sein werden? ImHinblick auf <strong>die</strong> Heiden sagt er:„Durch ihren Fall ward den Heiden das Heil, umjene zur Eifersucht zu reizen.“Das ist nicht bloß ein Wort von ihm, sondernauch <strong>die</strong> Parabeln in den Ev<strong>an</strong>gelien wollendasselbe sagen. Auch der M<strong>an</strong>n, der seinemSohne Hochzeit hielt, rief <strong>die</strong> <strong>an</strong> den Wegenherein, nachdem <strong>die</strong> Gel<strong>ad</strong>enen nicht kommenwollten 280 . Und der den Weingarten gepfl<strong>an</strong>zthatte, übergab ihn <strong>an</strong>dern, nachdemseine Winzer den Erben ermordet hatten 281 .Auch ohne Gleichnis hat Christus selbst gesagt:„Ich bin ges<strong>an</strong>dt zu den verlorenenSchafen <strong>des</strong> Hauses Israel“ 282 . Ja, als <strong>die</strong> Syro-Phönizierin ihm mit flehentlichem Bitten zusetzte,sagte er zu ihr noch etwas mehr: „Esist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmenund es den Hunden zu geben“ 283 . Und<strong>Paulus</strong> sprach zu den aufrührerischen Juden:„Zu euch mußte zuerst das Wort Gottes gesprochenwerden; da ihr euch aber (<strong>des</strong> ewigenLebens) nicht wert achtet, siehe, so wendenwir uns zu den Heiden“ 284 .3.Überall kommt der Ged<strong>an</strong>ke <strong>zum</strong> Ausdruck,daß <strong>die</strong> Reihenfolge <strong>die</strong> sein soll: Zuerstkommen <strong>die</strong> Juden, d<strong>an</strong>n erst <strong>die</strong> Heiden.Weil aber <strong>die</strong> Juden ungläubig blieben, wur-280 Matth. 22, 9.281 Ebd. 21, 38.282 Ebd. 15, 24.283 Ebd. 15, 26.284 Apg. 13, 46.224de <strong>die</strong> Reihenfolge umgekehrt. Der Unglaubeund <strong>die</strong> Verwerfung der Juden brachte es mitsich, daß <strong>die</strong> Heiden vor ihnen kamen. Darumheißt es: „Durch ihren Fall ward denHelden das Heil, um jene zur Eifersucht zureizen.“ Wenn der Apostel das, was in derFolge geschah, als früher geschehen darstellt,darf auch dich das nicht wundern. Er will j<strong>an</strong>ur den verwundeten Herzen der JudenTrost zusprechen. Der Sinn seiner Rede istfolgender: Jesus kam zu den Juden; <strong>die</strong>se nahmen ihn nicht auf, trotzdemer unzä<strong>hl</strong>ige Wunder wirkte, sondern kreuzigtenihn. Er zog darum nunmehr <strong>die</strong> Heiden<strong>an</strong> sich her<strong>an</strong>, damit <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen erwieseneEhre das stumpfe Empfinden der Judenreize. Er versuchte, ob er sie nicht durch Eifersuchtauf <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern dazu bringen könnte,zu ihm zu kommen. Sie hätten ja zuerstkommen sollen, d<strong>an</strong>n erst wir. Darum sprichter oben von einer „Kraft Gottes <strong>zum</strong> Heilefür jeden, der dar<strong>an</strong> glaubt, für den Judenzuerst und d<strong>an</strong>n für den Griechen“ 285 . Weilaber jene versagten, darum wurden <strong>die</strong>Zweiten <strong>die</strong> Ersten. — Siehst du, was derApostel damit den Juden für eine Ehre <strong>an</strong>tut?Einmal d<strong>ad</strong>urch, daß er sagt, wir seien erstd<strong>an</strong>n berufen worden, als sie selbst nichtmochten; und d<strong>an</strong>n d<strong>ad</strong>urch, daß er sagt, wirseien berufen worden, nicht (in erster Linie),damit wir das Heil erl<strong>an</strong>gen, sondern damitsie auf unser Heil eifersüchtig werden undsich bessern sollten. Was will er also damitsagen? Daß wir nur der Juden wegen berufenund gerettet worden seien? Nein; nur nichtvor ihnen, sondern in der gehörigen Reihenfolge.Darum sprach auch Jesus nicht, als erseinen Jüngern den Auftrag gab (zu predigen),einfach: Gehet zu den verlorenen Schafen<strong>des</strong> Hauses Israel, sondern: „Gehet zuerstzu den Schafen ….“ Damit gab er ihnen zuverstehen, daß sie nachher zu den <strong>an</strong>derngehen sollten. Auch <strong>Paulus</strong> sagte nicht: Zueuch mußte das Wort Gottes gesprochen285 Röm. 1, 16.


werden, sondern: „Zu euch mußte zuerst dasWort gesprochen werden“, um <strong>an</strong>zudeuten,daß d<strong>an</strong>n zu uns. Das ist so geschehen undso gesagt worden, damit <strong>die</strong> Juden sich nichtunverschämt damit ausreden konnten, sieseien überg<strong>an</strong>gen worden und darum seiensie nicht gläubig geworden. Darum war auchChristus, der alles voraus weiß, zuerst zuihnen gekommen.V. 12: „Ist aber ihr Fall ein Gewinn für <strong>die</strong> Weltund <strong>die</strong> Verminderung ihrer Za<strong>hl</strong> ein Gewinn für<strong>die</strong> Heidenvölker, um wieviel mehr wird es <strong>die</strong>Auffüllung ihrer Za<strong>hl</strong> sein?“ — Hierwird den Juden etwas zu Gefallen gesagt.Denn wenn sie auch tausendmal zu Falle gekommenwaren, so wären <strong>die</strong> Heiden ja dochnicht gerettet worden, wenn sie nicht denGlauben <strong>an</strong>genommen hätten. Ebenso wärenauch <strong>die</strong> Juden nicht verloren geg<strong>an</strong>gen,wenn sie nicht ungläubig geblieben wärenund sich einen harten Kopf aufgesetzt hätten.Aber, wie gesagt, der Apostel will den Judenin ihrer Lage Trost zusprechen und er istnach Kräften bemüht, ihnen Mut zu machenin betreff ihres Heils, wenn sie sich nur ändern.Denn wenn zur Zeit, will er sagen, wosie sich widersetzlich zeigten, so viele in denGenuß <strong>des</strong> Heiles kamen und bei ihrerDienstentlassung so viele berufen wurden,bedenke nur, was d<strong>an</strong>n sein wird, wenn siesich einmal bekehren werden! Er spricht esaber nicht so aus: wenn sie sich einmal bekehrenwerden. Er sagt nämlich nicht: umwieviel mehr wird es „ihre Bekehrung“ sein,auch nicht „ihre Sinnesänderung“, auch nicht„ihre Besserung“, sondern: „um wievielmehr wird es <strong>die</strong> Auffüllung ihrer Za<strong>hl</strong> sein“,d. h. wenn alle (<strong>zum</strong> Heil) eingehen werden.Das sagt er, um <strong>an</strong>zuzeigen, daß d<strong>an</strong>n <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e — das freiwillige Geschenk Gottes —in größerer Fülle, ja fast in ihrem g<strong>an</strong>zenReichtum zutage treten werde.V. 13: „Euch Heiden sage ich, ger<strong>ad</strong>e, weil ichHeidenapostel bin: Ich will mein Amt eifrigbetreiben“,V. 14: „ob mir’s vielleicht gelingt, mein Fleischeifersüchtig zu machen und einige aus ihnen zuretten.“— Wieder bemüht sich der Apostel, nichteinen falschen Verdacht auf sich kommen zulassen. Es scheint, als ob er den Heiden zusetzenund ihren Hochmut dämpfen wolle,dabei trifft er jedoch versteckterweise denJuden. Er sucht nach Gründen, <strong>die</strong> das Verlorenseinso vieler von ihnen in einem milderenLicht erscheinen lassen und sie tröstensollen, aber er findet, wie <strong>die</strong> Sache einmalsteht, keine. Ja, aus dem, was er gesagt hat,ergibt sich eigentlich nur eine noch schwerereAnklage gegen sie, weil <strong>an</strong>dere, <strong>die</strong> weithinter ihnen st<strong>an</strong>den, das empfingen, wasihnen zugedacht war. Darum geht er von denJuden zu den Heiden über und schaltet <strong>die</strong>seStelle über sie ein mit der Absicht,zu zeigen, daß er alles das nur zu dem Zweckesagt, um <strong>die</strong> Heiden Bescheidenheit zulehren. Ich lobe euch, will er sagen, aus zweiGründen: Erstens, weil ich es tun muß, nachdemich einmal zu eurem Dienst bestimmtbin, und zweitens, damit ich durch euch <strong>an</strong>dere<strong>zum</strong> Heile führe. Er sagt ferner nicht:„meine Brüder“, „meine Stammesgenossen“,sondern: „mein Fleisch“. Da, wo er auf ihreHartköpfigkeit hinweist, sagt er nicht: „ob esmir gelingen wird, zu überzeugen“, sondern:„ob mir’s gelingt, eifersüchtig zu machenund zu retten“; auch sagt er nicht: „alle zuretten“, sondern, „einige“; so hartgesottenwaren <strong>die</strong> Juden. Auch in <strong>die</strong>sem T<strong>ad</strong>el liegtwieder ein Hinweis auf <strong>die</strong> Vorzugsstellungder Heiden. Wenn auch Juden und Heidenein<strong>an</strong>der gegenseitig <strong>die</strong> Ursache ihres Heilsgeworden sind, so doch nicht durch dasselbeMittel. Die Juden haben den Heiden <strong>die</strong>sesGut vermittelt durch ihren eigenen Unglauben,<strong>die</strong> Heiden den Juden dagegen durchihren Glauben. Daraus ergibt sich, daß Judenund Heiden gleichgestellt erscheinen, ja eigentlicheine Vorzugsstellung der Heiden.225


4.Denn was k<strong>an</strong>nst du, mein lieber Jude, sagen?Etwa: Wenn wir uns nicht hätten verstoßenlassen, wäret ihr nicht berufen worden?Darauf k<strong>an</strong>n der Heide <strong>an</strong>tworten:Wenn ich nicht das Heil erl<strong>an</strong>gt hätte, wärestdu nicht eifersüchtig geworden; willst duaber wissen, worin unsere Vorzugsstellungbesteht (so höre): Ich führe dich <strong>zum</strong> Heildurch mein Gläubigsein, du aber hast unsden Vortritt verschafft durch dein widerspenstigesGehaben. — Der Apostel merktnun wieder, daß er den Juden einen Hiebversetzt habe; er nimmt darum den früherschon ausgesprochenen Ged<strong>an</strong>ken wiederauf und sagt:V. 15: „Denn wenn ihre Entlassung (aus demDienst) eine Weltversöhnung war, was wird daihre Wiederaufnahme (in den Dienst) <strong>an</strong>deressein als Leben aus den Toten?“— Aber auch damit spricht der Apostel wiedereine Verurteilung der Juden aus; <strong>die</strong>Heiden wußten Gewinn zu ziehenaus den Sünden der Juden, <strong>die</strong>se aber machtensich das Rechttun jener nicht zunutze.Wenn aber hier der Apostel etwas auf Rechnungder Juden schreibt, was als notwendigeFolge eintrat, so darf dich das nicht wundern.Wie ich schon öfter gesagt habe, gibt er seinerRede eine solche Form, daß er durch sieden Heiden einen Dämpfer aufsetzt, den Judeneinen Ansporn gibt. Denn, wie gesagt,wären auch <strong>die</strong> Juden tausendmal außerDienst gesetzt worden, so wären doch <strong>die</strong>Heiden nie <strong>zum</strong> Heil gel<strong>an</strong>gt, wenn sie nichtden Glauben <strong>an</strong>genommen hätten. Aber derApostel stellt sich auf <strong>die</strong> Seite <strong>des</strong> Schwachenund kommt dem Bedrängten zu Hilfe.Sieh, wie er den Juden zu Gefallen spricht,freilich nur um sie mit Worten zu trösten.„Wenn ihre Entlassung“, heißt es, „eineWeltversöhnung war.“ Was haben aber <strong>die</strong>Juden davon? „Was wird ihre Wiederaufnahme<strong>an</strong>ders sein als Leben aus den Toten?“226Aber was haben sie auch davon, wenn sienicht wirklich aufgenommen wurden? DerSinn <strong>die</strong>ser Stelle ist folgender: Wenn Gott,als er den Juden zürnte, den <strong>an</strong>dern so reichenSegen daraus entsprießen ließ, was fürSegen wird ihnen erst werden, wenn er sicheinmal mit jenen versöhnen wird? Aber gera<strong>des</strong>owie <strong>die</strong> Auferstehung der Toten nichtwegen der Wiederaufnahme der Judenstatthat, ebenso ist auch unser Heil nicht einzigdurch sie verursacht worden, sondern siewurden verstoßen wegen ihrer Verblendung,und wir wurden gerettet durch unsern Glaubenund <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e von oben. Nichts von alledemwird den Juden Nutzen bringen können,wenn sie nicht den erforderlichen Glauben<strong>an</strong> den Tag legen. — Nebenher spinntder Apostel seine Rede zu einem weiterenLob der Juden aus, das freilich kein eigentlichesLob, sondern nur ein scheinbares ist. Ermacht es geschickten Ärzten nach, <strong>die</strong> ihrenPatienten so viel Trost zusprechen, als ihrKr<strong>an</strong>kheitszust<strong>an</strong>d nur immer erlaubt. Wassagt er denn?V. 16: „Wenn <strong>die</strong> Erstlingsgarbe heilig, so ist esauch das Brot; wenn <strong>die</strong> Wurzel heilig, so sind esauch <strong>die</strong> Zweige.“ — „Erstlingsgarbe“ und„Wurzel“ nennt der Apostel hier denAbraham, Isaak und Jakob, <strong>die</strong> Propheten, <strong>die</strong>Patriarchen und alle berühmten Männer der Vorzeit.„Zweige“ ihre gläubig gewordenen Nachkömmlinge!Weil ihm aber d<strong>an</strong>n wieder einfällt,daß ja <strong>die</strong> Mehrza<strong>hl</strong> ungläubig geblieben sei, sieh,wie er wieder <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d abschneidet undsagt:V. 17: „Sind aber m<strong>an</strong>che Zweige abgebrochen.“— Aber oben hast du ja doch gesagt, daß <strong>die</strong>Mehrza<strong>hl</strong> verloren geg<strong>an</strong>gen ist und nur wenigegerettet worden sind; wie k<strong>an</strong>nst du also hier vonden Verlorengeg<strong>an</strong>genen das Wort „m<strong>an</strong>che“gebrauchen, das ja doch eine geringe Anza<strong>hl</strong> bezeichnet?— Ich widerspreche mir nicht, will ersagen, sondern ich bin nur bemüht, <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kenzu heilen und wieder herzustellen. Siehst du, wie<strong>an</strong> <strong>die</strong>ser g<strong>an</strong>zen Stelle das Bemühen <strong>des</strong> Apostels<strong>zum</strong> Ausdruck kommt, <strong>die</strong> Juden zu trösten!


Wenn m<strong>an</strong> das außer acht läßt, kommen za<strong>hl</strong>reicheWidersprüche Heraus. Du aber beachte dasfeine Vorgehen <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, wie er sich den Anscheingibt, zugunsten der Juden zu sprechen undTrostgründe für sie ausfindig zu machen, ihnenaber dabei doch versteckterweise einen Merks gibtund durch den Hinweis auf <strong>die</strong> Wurzel und <strong>die</strong>Erstlingsgarbe ihnen jede Entschuldigung abschneidet!D<strong>an</strong>n bedenke nur, was das fürsc<strong>hl</strong>echte Zweige sein müssen, wenn sie eine süßeWurzel haben und ihr nicht ähnlich werden; wasdas für ein sc<strong>hl</strong>echter Brotteig sein muß, wenn ernicht einmal von der Erstlingsgarbe her eine Besserungerfährt!„Sind aber m<strong>an</strong>che Zweige abgebrochen.“ DieMehrza<strong>hl</strong> davon ist abgebrochen, aber, wie gesagt,der Apostel will <strong>die</strong> Juden trösten. Daher sprichter nicht von seinem St<strong>an</strong>dpunkte, sondern vondem der Juden aus. Auch darin liegt übrigens einversteckter Hieb für sie; er zeigt ihnen nämlich,daß sie der Verw<strong>an</strong>dtschaft mit Abraham verlustiggeg<strong>an</strong>gen seien. Es ist seine Absicht, ihnen zusagen, daß sie nichts Gemeinsames mit jenenStammvätern haben. Denn wenn <strong>die</strong> Wurzel heiligist, sie selbst sind aber nicht heilig, so sind sieja weit entfernt von der Wurzel. — Im folgendengibt er sich den Anschein, nur <strong>die</strong> Judentrösten zu wollen, gibt aber auch den Heiden wiedereinen Merks.„Du aber als wilder Sprößling eingepfropft wordenbist —“ 286— je armseliger früher der Heide war, <strong>des</strong>tomehr muß es den Juden betrüben, ihn nun imGenuß <strong>des</strong>sen zu sehen, was eigentlich ihmgehört. Dem Heiden aber kommt keine solcheBeschämung von seiner früheren Armseligkeit,als ihm jetzt Ehre von seiner Bekehrungkommt — Beachte dabei <strong>die</strong> feine Unterscheidung,<strong>die</strong> der Apostel <strong>an</strong>wendet! Ersagt nicht: wenn du „eingepfl<strong>an</strong>zt“, sondern:wenn du „eingepfropft“ worden bist. Damitgibt er dem Juden wieder einen Stich, indemer zeigt, daß der Heide jetzt auf dem Baume<strong>des</strong> Juden steht, während <strong>die</strong>ser selbst (alsabgebrochener Zweig) am Boden liegt. —Dabei bleibt aber der Apostel noch nicht stehen;er läßt es nicht dabei bewenden, zu sagen:„Du bist eingepfropft“, obzwar er d<strong>ad</strong>urch<strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Sache klar dargestellt hat,sondern er verweilt noch ein wenig bei demglücklichen Zust<strong>an</strong>d <strong>des</strong> Heiden und maltdenselben noch weiter aus, indem er sagt:„Und wenn du Teilhaber <strong>an</strong> der Wurzel und demfetten Saft <strong>des</strong> Ölbaumes geworden bist —“— Zwar scheint der Apostel dem Heideneine Stellung zweiten R<strong>an</strong>ges <strong>an</strong>zuweisen(indem er ihn einen eingepfropften Zweignennt); aber er zeigt ihm zugleich, daß dasfür ihn keinen Sch<strong>ad</strong>en bedeute, sondern daßer alles habe wie der Zweig, der aus derWurzel aufgesproßt ist. Damit m<strong>an</strong> nämlich,wenn m<strong>an</strong> hört: „Du bist eingepfropft“, nichtmeine, <strong>die</strong>ser eingepfropfte Zweig stehe demurwüchsigen in etwas nach, sieh, wie derApostel <strong>die</strong> vollständige Gleichheit behauptet,wenn er sagt: „Du bist Teilhaber <strong>an</strong> derWurzel und dem fetten Saft <strong>des</strong> Ölbaumesgeworden“, d. h. du bist von der- selben edlen Beschaffenheit, von derselbenArt geworden. — D<strong>an</strong>n spricht derApostel eine Warnung aus:„Rühme dich nicht sch<strong>ad</strong>enfroh den (abgebrochenen)Zweigen gegenüber!“— Der Apostel scheint das den Juden <strong>zum</strong>Troste zu sagen, legt aber damit ihre Armseligkeitund ihre große Sch<strong>an</strong>de offen <strong>an</strong> denTag. Er sagt darum nicht: Rühme dich nicht,sondern: „Rühme dich nicht sch<strong>ad</strong>enfroh“,rühme dich nicht froh über den Sch<strong>ad</strong>en der<strong>an</strong>dern, daß sie abgebrochen sind. Du bist ja<strong>an</strong> ihre Stelle getreten und genießest ihr Gut.— Siehst du, wie er den Heiden eine Mahnungzu geben scheint, dabei aber den Judeneinen Stich gibt?286 Das Bild ist von der Kultur <strong>des</strong> Olivenbaumes hergenommen. Zur Zeit<strong>des</strong> heiligen <strong>Paulus</strong> wurden alte Ölbäume, deren Fruchtbarkeit nac<strong>hl</strong>ießdurch einpfropfen von Wildreisern zu neuer Fruchtbarkeit verjüngt.2275.


V. 18: „Rühmst du dich doch sch<strong>ad</strong>enfroh —nun, nicht du trägst <strong>die</strong> Wurzel, sondern <strong>die</strong>Wurzel trägt dich.“— Was hat das für einen Bezug auf <strong>die</strong>Zweige, <strong>die</strong> abgehauen sind? Keinen. DerApostel gibt sich, wie schon gesagt, den Anschein,auch nur auf einen schwachen Schattenvon Trost für <strong>die</strong> Juden kommen zu wollen,versetzt ihnen aber auch da einen gelegentlichenHieb, wo er den Heidenchristeneine Ermahnung gibt. Denn wenn er sagt:„Rühme dich nicht sch<strong>ad</strong>enfroh“, und weiter:„Rühmst du dich doch — nun, nicht duträgst <strong>die</strong> Wurzel“, gibt er damit dem Judenzu verstehen, daß das, was er get<strong>an</strong> hat, tatsäc<strong>hl</strong>ichSch<strong>ad</strong>enfreude ver<strong>die</strong>nt, wenn m<strong>an</strong>sie auch nicht haben soll. Er will ihn d<strong>ad</strong>urchaufrütteln und <strong>zum</strong> Glauben treiben. Er wirftsich zu seinem Sachwalter auf und führt ihmden Sch<strong>ad</strong>en vor Augen, den er erleidet, unddaß <strong>an</strong>dere im Besitze <strong>des</strong>sen sind, was eigentlichihnen gehört.V. 19: „Du wirst nun sagen: Die Zweige sindeben <strong>des</strong>wegen abgebrochen, damit ich eingepfropftwerden konnte.“— Wieder bringt der Apostel in Form einesEinw<strong>an</strong><strong>des</strong> das Gegenteil von dem früherGesagten vor. Er gibt damit zu verstehen,daß er das kurz zuvor Gesagte nicht ernstgemeint, sondern dabei nur <strong>die</strong> Absicht gehabthat, <strong>die</strong> Juden <strong>an</strong> sich zu ziehen.Denn jetzt ist nichts mehr davon zu hören,daß durch ihren Fall den Heiden dasHeil geworden sei, auch nicht, daß ihr FallGewinn für <strong>die</strong> Welt sei, und nicht, daß wirdas Heil erl<strong>an</strong>gt hatten, weil sie zu Falle gekommenseien, sondern g<strong>an</strong>z das Gegenteil.Er weist darauf hin, daß auch über den Heideneine Vorsehung walte, wenn er auch seinerRede eine <strong>an</strong>dere Form zu geben scheint.Er kleidet nämlich <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Stelle in <strong>die</strong>Form eines Einw<strong>an</strong><strong>des</strong>; so hält er von sichden Verdacht der Feindseligkeit fern undsichert seiner Rede günstige Aufnahme.V. 20: „Richtig“,228— damit heißt er das Gesagte gut; d<strong>an</strong>nschreckt er wieder, indem er spricht: —„ihres Unglaubens wegen sind sie abgebrochen,du aber bist deines Glaubens wegen eingepfropftworden.“— Sieh da wieder ein neues Lob für <strong>die</strong> Heidenund ein Vorwurf für <strong>die</strong> Juden! Um aberwieder bei den ersteren keinen Hochmutaufkommen zu lassen, fährt er fort:„Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich!“Nicht <strong>die</strong> Natur gibt dabei den Aussc<strong>hl</strong>ag,sondern Glaube und Unglaube. Wiederscheint er den Heiden <strong>zum</strong> Stillesein <strong>zum</strong>ahnen, gibt aber dabei den Juden <strong>die</strong> Lehre,daß es nicht auf <strong>die</strong> natürliche Abstammung<strong>an</strong>komme. Darum fährt er auch fort: „Seinicht hochmütig!“ Weiter sagt er aber nicht:sei demütig, sondern: „fürchte dich!“ DerHochmut hat nämlich Mißachtung <strong>an</strong>dererim Gefolge und leichtsinniges Wesen. — Nunwill der Apostel noch den traurigen Ausg<strong>an</strong>gder Geschichte der Juden <strong>an</strong>deuten; keinenSch<strong>ad</strong>en der Gehässigkeit gegen <strong>die</strong> Juden zugeben, kleidet er sie in <strong>die</strong> Form einer Mahnung<strong>an</strong> den Heiden, indem er sagt:V. 21: „Denn wenn Gott der urwüchsigen Zweigenicht geschont hat“— er fährt nicht fort: wird er auch deinernicht schonen, sondern —:„würde er wo<strong>hl</strong> deiner erst recht nicht schonen.“— Er nimmt damit seiner Rede das Bittereund macht zugleich den Gläubigenvorsichtig; <strong>die</strong> Juden zieht er d<strong>ad</strong>urch <strong>an</strong>,und <strong>die</strong> Heiden hält er in Schr<strong>an</strong>ken.V. 22: „Sieh also Gottes Güte und sein Abschneiden!Gegen <strong>die</strong> Gefallenen wendet er Abschneiden<strong>an</strong>, gegen dich Güte, wenn du im Gutenverharrst; sonst wirst auch du ausgeschnittenwerden.“— Der Apostel sagt nicht: Sieh da deinRechttun, sieh da dein Mühen, sondern GottesLiebe zu den Menschen. Damit gibt er zuverstehen, daß alles durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e vonoben geschieht, und wirkt damit auf Furchthin. Die bloße Möglichkeit <strong>des</strong> Rühmens solldir Anlaß geben, dich zu fürchten. Weil der


229Herr gegen dich gütig gewesen, ger<strong>ad</strong>e darumfürchte. Denn nicht unw<strong>an</strong>delbar ist deinglücklicher Zust<strong>an</strong>d, wenn du in Leichtsinnverfällst, wie auch nicht unw<strong>an</strong>delbar derunglückliche Zust<strong>an</strong>d jener ist, wenn sie <strong>an</strong>dernSinnes werden. Auch du wirst abgehauenwerden, wenn du nicht im Glaubenverharrst.V. 23: „Doch auch jene werden, falls sie nicht beiihrem Unglauben verharren, wieder eingepfropftwerden.“Denn nicht Gott hat sie abgehauen, sondernsie selber sind abgebrochen und abgefallen.Bezeichnend heißt es darum: „Sie sind abgebrochen“;so hat sie also nicht Gott beiseitegeworfen, obzwar sie oft und viel gesündigthatten. Siehst du, wieviel der freie Willevermag; welche Bedeutung <strong>die</strong> freie Wa<strong>hl</strong>hat? Nichts von dem ist unw<strong>an</strong>delbar, nichtdein glücklicher Zust<strong>an</strong>d noch der unglücklichejenes <strong>an</strong>dern. Siehst du, wie der Apostelden Verzweifelnden aufrichtet und den Ü-bermütigen dämpft? Verzweifle nicht, wenndu von „Abschneiden“, werde aber auchnicht übermütig, wenn du von „Güte“ hörst!Darum hat er dich abgeschnitten, damit dudich wieder <strong>zum</strong> Stamme zurückzukommensehnst; darum hat er gegen dich Güte gezeigt,damit du beharrlich bleibst. Auch heißtes nicht „im Glauben“, sondern „im Guten“,d. h. wenn du dich der Liebe Gottes durchdein Tun würdig erweist. Denn es bedarfnicht <strong>des</strong> Glaubens allein. Siehst du, wie derApostel weder <strong>die</strong> Juden beiseite liegen noch<strong>die</strong> Heiden übermütig werden läßt, sondernwie er sogar <strong>die</strong>se durch jene zur Eifersuchtreizt, indem er dem Juden <strong>die</strong> Möglichkeitin Aussicht stellt, <strong>an</strong> <strong>die</strong> Stelle <strong>des</strong>Heidenchristen zu kommen, so wie <strong>die</strong>serfrüher <strong>die</strong> Stelle jenes bekommen hat? DenHeidenchristen schreckt er mit dem Hinweisauf das Schicksal der Juden, dem Juden dagegensucht er Mut zu machen durch denHinweis auf das, was dem Heiden zuteil gewordenist. Auch du wirst abgehauen, will ersagen, wenn du dich dem Leichtsinn überläßt;denn auch der Jude ist abgehauen worden.Und auch der Jude wird wieder eingepfropftwerden, wenn er Eifer zeigt; dennauch du bist eingepfropft worden. So richteter seine Rede g<strong>an</strong>z gegen <strong>die</strong> Heiden; beidem Hieb jedoch, den er gegen sie, als <strong>die</strong>Stärkeren führt, richtet er <strong>die</strong> Schwächerenempor, was er immer so zu tun pflegt. DasselbeVorgehen beobachtet er am Sc<strong>hl</strong>usse<strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s, wo er von der Beobachtung derSpeisegebote h<strong>an</strong>delt.Hierauf holt der Apostel Beweisgründe fürseine Sache aus der Verg<strong>an</strong>genheit, nicht nuraus der Zukunft; sie haben für den Zuhörereine größere Überzeugungskraft. Um in seinerBeweisführung mit unwidersprec<strong>hl</strong>icherFolgerichtigkeit vorzugehen, nimmt er denersten Beweisgrund von der Allmacht Gottesher. Wenn <strong>die</strong> Juden auch abgehauen undweggeworfen wurden und <strong>an</strong>dere ihrenPlatz eingenommen haben, so verzweifledennoch nicht:„Denn Gott ist mächtig genug, sie wieder einzupfropfen.“Er bringt ja Dinge gegen alle Erwartung zust<strong>an</strong>de.6.Verl<strong>an</strong>gst du Tatsachen und Beweise dafür,so hast du ja <strong>an</strong> dir selbst ein Beispiel vonmehr als voller Beweiskraft.V. 24: „Denn wenn du von einem naturwüchsigenWildstamm abgeschnitten und der Naturzuwider in den edlen Ölbaum eingepfropft wur<strong>des</strong>t,wieviel leichter werden <strong>die</strong>se, als natürlicheReiser, auf ihren eigenen Ölbaum aufgepfropftwerden können?“— Wenn der Glaube das vermocht hat, wasder Natur zuwider war, so wird er um soleichter das vermögen, was der Naturentsprechend ist. Denn wenn der Heide,aus seiner natürlichen Verw<strong>an</strong>dtschaft herausgerissen,der Natur zuwider in ein Ver-


hältnis zu Abraham kam, um wieviel leichterwirst du, o Jude, in dein früheres Verhältniszurückkehren können! Beim Heiden war dasBöse naturgemäß; er war ja seiner Natur nachein wilder Schößling. Seiner Natur zuwiderwurde er Abraham eingepfropft. Bei dir dagegen,o Jude, ist das Gute naturgemäß. Duwirst nicht, wie der Heide, auf eine fremdeWurzel, sondern auf deine eingesetzt, wenndu nur umkehren willst. Was müßtest duver<strong>die</strong>nen, wenn du dazu nicht imst<strong>an</strong>dewärest mit Hilfe deiner Natur, was der Heidegegen seine Natur vermag, sondern wenn duauch da versagtest? Weil der Apostel (vonden Heiden) gesagt hat, daß sie „der Naturzuwider“ und „eingepfropft“ worden seien,stellt er <strong>die</strong>s dahin richtig, daß auch der Judeeingepfropft worden sei, damit m<strong>an</strong> nichtetwa glaube, <strong>die</strong>ser habe etwas voraus.„Wieviel leichter“, heißt es, „werden <strong>die</strong>se,als natürliche Reiser, dem eigenen Ölbaumeingepfropft werden können?“ Und wieder:„Gott ist mächtig genug, sie wieder einzupfropfen.“Und vorher hat er gesagt, daß sieauch wirklich wieder eingepfropft werdensollen, wenn sie nicht im Unglauben verharren.— Wenn du den Apostel immer sagenhörst „der Natur zuwider“ und „der Naturgemäß“, darfst du nicht meinen, daß er dabeivon der Natur spreche, <strong>die</strong> nach unw<strong>an</strong>delbarenGesetzen wirkt, sondern er meint mit<strong>die</strong>sen Ausdrücken bloß <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> Neigungzu etwas, und <strong>an</strong>dererseits <strong>die</strong> Abneigung.Denn das sittlich Gute und sein Gegenteilsind nicht Naturwirkungen, sondern gehenaus der Gesinnung und dem freien Willen(eines Menschen) hervor.Beachte nun <strong>die</strong> Art <strong>des</strong> Apostels, <strong>die</strong> so fernist jeder Gehässigkeit! Er hat gesagt, daßauch du abgehauen werden wirst, wenn dunicht im Glauben beharrst, und daß <strong>die</strong> Judenwieder eingepfropft werden sollen,wenn sie nicht im Unglauben verharren; nunläßt er den trüben Ged<strong>an</strong>ken (von der Verwerfung)fahren und führt den <strong>an</strong>dern tröstlicherenaus. Er läßt das Kapitel damit enden,230daß er den Juden große Hoffnungen vormalt,wenn sie nur selbst wollen. Er fährt so fort: V. 25: „Ich will nicht, meine Brüder,daß ihr in Unkenntnis <strong>die</strong>ses Geheimnisses bleibt,damit ihr euch nicht selbst weise dünket.“— Mit „Geheimnis“ meint der Apostel hieretwas Unbek<strong>an</strong>ntes, Unergründliches, wasgroßes Staunen erregt und einen scheinbarenWiderspruch in sich birgt. So sagt er auch <strong>an</strong>einer <strong>an</strong>dern Stelle: „Siehe, ein Geheimnissage ich euch: Wir werden zwar nicht alleentsc<strong>hl</strong>afen, aber wir werden alle auferwecktwerden.“ 287 Worin besteht also <strong>die</strong>ses Geheimnis?„Daß Erstarrung Israel zu einem Teil befallenhat.“— Hier gibt er wieder dem Juden einen Stich,während er den Heidenchristen niederzudrückenscheint. Was er damit sagen will, istdasselbe, was er schon früher gesagt hat,nämlich, daß der Unglaube (der Juden) nichtdas g<strong>an</strong>ze Volk betreffe, sondern nur einteilweiser sei, so wie wenn er einmal sagt:„Hat aber jem<strong>an</strong>d Anlaß zur Betrübnis gegeben,so hat er nicht mich betrübt, sondernteilweise (euch)“ 288 . Er sagt hier dasselbe,was er oben gesagt hat: „Nicht verstoßen hatGott sein Volk, welches er voraus erk<strong>an</strong>nthatte“, und wieder: „Wie nun? Sind sie etwa<strong>an</strong>gestoßen, daß sie (g<strong>an</strong>z) zu Falle kommen?Das sei ferne!“ Dasselbe sagt er auch hier,nämlich daß nicht das Volk in seiner Gesamtheit(von Gott) losgerissen sei, sonderndaß viele bereits <strong>zum</strong> Glauben gel<strong>an</strong>gt seienund in Zukunft noch dazu gel<strong>an</strong>gen werden.Nachdem er <strong>die</strong>se wichtige Neuigkeit mitgeteilthat, führt er den Propheten als Zeugendafür <strong>an</strong>. Daß eine Erstarrung <strong>die</strong> Juden befallenhat, dafür bringt er kein Zeugnis; denndas war ja allen klar. Dafür jedoch, daß sieeinmal <strong>zum</strong> Glauben gel<strong>an</strong>gen und gerettetwerden sollen, führt er Jesaias <strong>an</strong>, der ausruft:287 1 Kor. 15, 51.288 2 Kor, 2, 5.


V. 26: „Aus Sion wird der Retter kommen, der daabstreift <strong>die</strong> Bosheit von Jakob.“— Damit niem<strong>an</strong>d <strong>die</strong>se Weissagung auf <strong>die</strong>damalige Zeit beziehe und deute,gibt der Apostel im folgenden das Erkennungszeichenfür das kommende Heil <strong>an</strong>:V. 27: „Und das ist <strong>an</strong> sie das testamentlicheVermächtnis von mir, (fällig) wenn ich ihre Sündewerde weggenommen haben.“— Nicht, wenn sie beschnitten sein werden,nicht, wenn sie Opfer darbringen werden,nicht, wenn sie <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Vorschriften <strong>des</strong>(alttestamentlichen) Gesetzes beobachtenwerden, sondern, wenn sie Verzeihung derSünden erl<strong>an</strong>gt haben werden. Wenn ihnennun das verheißen ist und es ist bisher <strong>an</strong>ihnen noch nicht in Erfüllung geg<strong>an</strong>gen, sieerfreuen sich noch nicht der Sündennac<strong>hl</strong>assungdurch <strong>die</strong> Taufe, so wird das jedenfallserst geschehen. Darum fährt der Apostel fort:V. 29: „Denn unwiderruflich sind <strong>die</strong> Hulderweiseund <strong>die</strong> Berufung Gottes.“— Doch nicht allein damit tröstet der Apostel<strong>die</strong> Juden, sondern auch mit der Verg<strong>an</strong>genheit;dabei setzt er das, was als Folge eintrat,<strong>an</strong> <strong>die</strong> Spitze, indem er so sagt:V. 28: „<strong>In</strong> Hinsicht auf das Ev<strong>an</strong>gelium sind sieja Feinde (Gottes geworden) euretwegen; in Hinsichtauf <strong>die</strong> Tatsache ihrer Auserwä<strong>hl</strong>ung dagegensind sie Gottes Lieblinge um der Väter willen.“— Der Heidenchrist soll sich nicht aufblähenund sagen: „Ich stehe einmal fest; rede mirnicht von dem, was etwa geschehen konnte,sondern was geschehen ist.“ Daher drücktihn der Apostel etwas nieder, indem er sagt:„<strong>In</strong> Hinsicht auf das Ev<strong>an</strong>gelium sind sie jaFeinde Gottes geworden, euretwegen.“Durch eure Berufung sind sie nur noch starrköpfigergeworden.7.231Aber gleichwo<strong>hl</strong> hat Gott ihre Berufung nichtg<strong>an</strong>z und gar fallen gelassen, sondern er wartet<strong>die</strong> Zeit ab, bis alle Heiden, <strong>die</strong> willenssein werden, zu glauben, <strong>zum</strong> Glauben gel<strong>an</strong>gtsein werden; d<strong>an</strong>n werden auch <strong>die</strong>Juden dazu kommen. Hierauf sagt ihnen derApostel noch etwas <strong>an</strong>deres zu Gefallen: „<strong>In</strong>Hinsicht auf <strong>die</strong> Tatsache ihrer Auserwä<strong>hl</strong>ungdagegen sind sie Gottes Lieblingeum der Väter willen.“ Was soll das heißen?Sind sie einmal Gottes Feinde, d<strong>an</strong>n bleibtihnen <strong>die</strong> Strafe nicht aus; sind sie aber seineLieblinge, d<strong>an</strong>n nützt ihnen auch <strong>die</strong> Tugendihrer Vorfahren nichts, wenn sie nicht glauben.Aber immerhin sind es tröstliche Worte,<strong>die</strong> da der Apostel, wie ich schon sagte, zuden Juden spricht, um sie für sich zu gewinnen.Darum bekräftigt der Apostel das vorherGesagte noch von einer <strong>an</strong>dern Seite herund spricht:V. 30: „Denn gera<strong>des</strong>o wie ihr einstmals Gottungehorsam gewesen seid, nun aber sein Erbarmenerfahren habt infolge ihres Ungehorsams“,V. 31: „so sind nun auch sie ungehorsam gewordeninfolge <strong>des</strong> (göttlichen) Erbarmens gegeneuch, damit auch sie sein Erbarmen erführen“;V. 32: „denn Gott hat alle in Ungehorsam verstrickt,damit er allen sein Erbarmen erweise.“— Hier weist der Apostel darauf hin, daß<strong>die</strong> Heiden zuerst berufen gewesen, undd<strong>an</strong>n erst, als sie nicht wollten, <strong>die</strong> Judenauserwä<strong>hl</strong>t worden seien, und daß sich dasselbenachher wiederholt habe. Denn erst, als<strong>die</strong> Juden nicht glauben wollten, kam Gottwieder zurück auf <strong>die</strong> heidnischen Völker.Aber dabei bleibt der Apostel nicht stehen. Erläßt <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze (Heilsgeschichte) nicht auf <strong>die</strong>Verwerfung der Juden hinauslaufen, sonderngibt ihr eine solche Wendung, daß <strong>die</strong>se wiederdas Erbarmen (Gottes) erfahren. Sieh,wieviel er den Heiden einräumt! Ebensovielhat er früher den Juden eingeräumt. Als ihr,<strong>die</strong> ihr einstmals Heiden waret, spricht er,euch ungehorsam gegen Gott zeigtet, da kamen<strong>die</strong> Juden <strong>an</strong> <strong>die</strong> Reihe; als aber wieder<strong>die</strong>se ungehorsam waren, kamet ihr dar<strong>an</strong>.


Die Juden sind aber nicht endgiltig verloren.„Gott hat sie alle in Ungehorsam verstrickt“,d. h. er hat zugelassen, daß sie sich als ungehorsamerwiesen, nicht damit sie ungehorsamblieben, sondern um <strong>die</strong> einen durch <strong>die</strong>Eifersucht auf <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern zu retten: <strong>die</strong> Judendurch <strong>die</strong> Heiden und <strong>die</strong> Heiden durch <strong>die</strong>Juden. Sieh nur: Ihr waret ungehorsam, und <strong>die</strong> Juden sind gerettetworden; d<strong>an</strong>n waren wieder <strong>die</strong>se ungehorsam,und ihr wurdet gerettet. Aber nichtdazu seid ihr gerettet worden, daß ihr auchwieder abtrünnig werdet wie <strong>die</strong> Juden, sonderndaß ihr durch euren <strong>an</strong>haltenden Eifer<strong>die</strong>se wieder her<strong>an</strong>zieht.V. 33: „O welch eine Tiefe von Reichtum undWeisheit und Erkenntnis Gottes! Wie unergründlichsind seine Gerichte!“Nachdem der Apostel zurückgeg<strong>an</strong>gen ist in<strong>die</strong> Verg<strong>an</strong>genheit und das Walten Gottesbetrachtet hat, <strong>an</strong>gef<strong>an</strong>gen von der Schöpfung<strong>des</strong> Weltalls bis auf <strong>die</strong> Gegenwart, underwogen hat, wie m<strong>an</strong>nigfaltig er alles geordnethat, bricht er hier in einen Ruf <strong>des</strong>Staunens aus, um seine Zuhörer in der Überzeugungzu bekräftigen, daß alles so geschehenwerde, wie er es gesagt hat. Denn in einensolchen Ruf <strong>des</strong> Erstaunens hätte er nichtausbrechen können, wenn er nicht vorausgewußt hätte, daß <strong>die</strong>s alles so geschehenwerde. Daß eine Tiefe (in Gott) da ist, weißer; wie groß sie ist, weiß er nicht. Denn erspricht wie einer, der staunt, nicht wie einer,der das G<strong>an</strong>ze durchschaut. Hingerissen vonStaunen über <strong>die</strong> Güte Gottes, feiert er <strong>die</strong>selbemit zwei großen Worten, <strong>die</strong> ihm zuGebote stehen: „Reichtum“ und „Tiefe“. SeinStaunen ist hervorgerufen (durch <strong>die</strong> Wahrnehmung),daß Gott so große Dinge will undauch vermag und daß er sie d<strong>ad</strong>urch durchführt,daß er das Gegenteilige geschehen läßt.„Wie unerforsc<strong>hl</strong>ich sind seine Gerichte!“Nicht nur unbegreiflich, sondern auch unergründlich.„Und unerforsc<strong>hl</strong>ich seine Wege!“232d. h. seine Fügungen. Sie sind nicht bloß unbegreiflich,sondern können auch nicht ausgeforschtwerden. Auch ich, will der Apostel sagen, habenicht alles gefunden, sondern nur einen kleinenTeil, keineswegs das G<strong>an</strong>ze. Gott allein durchblicktdas, was er tut, genau. Darum fährt derApostel fort:„Denn wer hat den Sinn <strong>des</strong> Herrn erk<strong>an</strong>nt?“V. 34: „Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ V. 35: „Oder wer hat ihm zuvor gegeben,daß ihm wieder vergolten wurde?“Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist folgender: Gott istso weise, und zwar ist er es nicht durch einen<strong>an</strong>dern, sondern er ist selbst <strong>die</strong> Quelle <strong>des</strong>Guten. Auch <strong>die</strong> Macht dazu, daß er so Großesget<strong>an</strong> und uns so große Wo<strong>hl</strong>taten erwiesen,hat er sich nicht von einem <strong>an</strong>dern geliehen,sondern sie ist ihm von Hause auseigen. Er ist niem<strong>an</strong>dem eine Wiedervergeltungschuldig, als ob er etwas von ihm bekommenhätte, sondern er ist selbst der Urgrundaller Wo<strong>hl</strong>taten. Das ist ja das hauptsäc<strong>hl</strong>ichsteKennzeichen <strong>des</strong> Reichtums, allesim Überfluß zu besitzen und eines <strong>an</strong>dernnicht zu bedürfen. Darum heißt es weiter:„Von ihm und in ihm und durch ihn sind alleDinge.“— Er hat sie erdacht, er hat sie erschaffen, ererhält sie; denn er ist reich und hat nicht nötig,von einem <strong>an</strong>dern zu empf<strong>an</strong>gen. Er istweise und bedarf keines Ratgebers. Was sag’ich eines Ratgebers. Es k<strong>an</strong>n ja gar niem<strong>an</strong>dwissen, was alles sein ist, als er allein, derReiche, der Weise. Ein Beweis großen Reichtumsist es, daß er <strong>die</strong> Heiden so reich gemachthat, und ein Beweis großer Weisheitist es, daß er Leute, <strong>die</strong> tief unter den Judenst<strong>an</strong>den, zu deren Lehrern gemacht hat.Auf den Ausdruck <strong>des</strong> Staunens folgt einD<strong>an</strong>kgebet <strong>des</strong> Apostels:„ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“— So oft er etwas Großes und Geheimnisvollesausspricht, geht sein Staunen in einenLobpreis aus. So macht er es auch, wenn ervom Sohne Gottes spricht. Auch da drückt ersein Staunen aus und fährt d<strong>an</strong>n fort wie


hier: „Von welchem Christus stammt demFleische nach, der da Gott ist über alles,hochgelobt in Ewigkeit. Amen“ 289 .8.Laßt uns den Apostel darin nachahmen, daßwir jederzeit Gott verherrlichen durch Achthabenauf unsern Lebensw<strong>an</strong>del! Nicht auf<strong>die</strong> Tugenden unserer Vorfahrenwollen wir uns verlassen, gewarnt durch dasBeispiel der Juden. Bei Christen gilt Blutsverw<strong>an</strong>dtschaftnichts (für ihr ewiges Heil),sondern da gibt es nur eine geistige Verw<strong>an</strong>dtschaft.Auch ein Skythe k<strong>an</strong>n ein KindAbrahams werden, und umgekehrt k<strong>an</strong>n einKind Abrahams <strong>die</strong>sem ferner stehen als einSkythe. Pochen wir also nicht auf <strong>die</strong> gutenTaten unserer Väter! Du magst ein Wundervon einem Vater haben, glaube ja nicht, daßdir das <strong>zum</strong> Heil genügt oder daß es dir zurEhre und <strong>zum</strong> Ruhm gereicht, wenn du <strong>die</strong>semVater nicht ähnlich wirst durch deinBetragen! Umgekehrt, wenn du einennichtswürdigen Vater hast, sei nicht derMeinung, daß dich <strong>des</strong>wegen eine Verdammungoder eine Sch<strong>an</strong>de trifft, wenn du nurselbst in deinem Leben Ordnung hast! Wasgab es Geringgeschätzteres als <strong>die</strong> Heiden?Und doch kommen sie mit einem Sc<strong>hl</strong>age in<strong>die</strong> Verw<strong>an</strong>dtschaft der Heiligen — durchden Glauben. Wer war mehr Kind im HauseGottes als <strong>die</strong> Juden? Und doch wurden sieihm fremd — durch den Unglauben. DieBlutsverw<strong>an</strong>dtschaft ist eine Sache der Naturund der Notwendigkeit; durch sie sind wireigentlich alle mitein<strong>an</strong>der verw<strong>an</strong>dt. Dennalle stammen wir ja von Adam ab. Wenn wir<strong>die</strong>se Abstammung von Adam oder von Noeoder gar von unserer gemeinsamen Mutter,der Erde, in Betracht ziehen, so gibt es keinenähere oder entferntere Verw<strong>an</strong>dtschaft. Dieeinzige Verw<strong>an</strong>dtschaft, <strong>die</strong> eine Auszeichnungbegründet, ist <strong>die</strong>, welche uns von dennichtswürdigen Menschen scheidet. <strong>In</strong> <strong>die</strong>serArt verw<strong>an</strong>dt sind wir nicht mit allen, sondernnur mit Gesinnungsgleichen. Brüder (in<strong>die</strong>sem Sinne) nennen wir nicht <strong>die</strong>, welchedemselben Mutterschoß wie wir entstammen,sondern <strong>die</strong>, welche denselben Eifer <strong>an</strong>den Tag legen wie wir. So spricht auch Christuseinerseits von Kindern Gottes, <strong>an</strong>dererseitsaber auch von Kindern <strong>des</strong> Teufels, vonKindern <strong>des</strong> Ungehorsams, von Kindern derHölle, von Kindern <strong>des</strong> Verderbens. So hießauch Timotheus ein Sohn <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> seinerTugend nach, dagegen wissen wir von demSohne seiner Schwester nicht einmal denNamen. Obgleich derselbe natürlicherweisemit ihm verw<strong>an</strong>dt war, so hatte er davondoch keinen Nutzen. Jener dagegen, der ihm der Natur und der Herkunftnach ferne st<strong>an</strong>d — er war ein Bürger vonLystra 290 —, trat in ein näheres Verhältnis zuihm als alle.So wollen denn auch wir Kinder der Heiligenoder, besser gesagt, Kinder Gottes werden!Daß es möglich ist, daß wir Kinder Gotteswerden, darüber vernimm, was Christussagt: „Werdet vollkommen wie euer Vater imHimmel!“ 291 <strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne nennen wirauch im Gebete Gott unseren Vater und sollendabei nicht bloß <strong>an</strong> <strong>die</strong> von ihm empf<strong>an</strong>genenWo<strong>hl</strong>taten denken, sondern auch <strong>an</strong>unsere Pflicht, nichts zu tun, wodurch wir<strong>die</strong>ser Verw<strong>an</strong>dtschaft unwürdig werdenkönnten. Wie k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> aber, fragst du, einKind Gottes sein? Wenn m<strong>an</strong> sich frei machtvon allen Leidenschaften, wenn m<strong>an</strong> S<strong>an</strong>ftmutzur Schau trägt gegenüber solchen, <strong>die</strong>einem Beleidigungen und Unrecht zufügen.Denn auch dein Vater (Gott) benimmt sich sosolchen gegenüber, <strong>die</strong> ihn lästern. Darumsagt Jesus, obzwar er doch oft sehr ausführlichspricht, doch nirgends: „Damit ihr euremVater ähnlich werdet“ als da, wo er sagt: „Be-289 Röm. 9, 5.233290 Apg. 16, 1.291 Matth. 5. 48.


tet für <strong>die</strong>, welche euch beleidigen, tuet Gutesdenen, <strong>die</strong> euch hassen“ 292 ; da fügt er dasEndziel bei. Es führt uns ja auch nichts so zuGott und macht uns ihm ähnlich, wie <strong>die</strong>seTugendübung. Darum sagt auch <strong>Paulus</strong>,wenn er mahnt: „Seid Nachahmer Gottes“ 293 ,daß wir es in <strong>die</strong>sem Sinne sein sollen.Zwar sind uns alle Tugenden vonnöten, ammeisten aber Nächstenliebe und Mitgefü<strong>hl</strong>,weil auch wir selbst vieler Liebe bedürfen;denn in vielen Dingen haben wir ja tagtäglichunsere Not; darum haben wir viel Erbarmennötig. Das Mehr oder Weniger bei einer Gabebemißt sich nicht ger<strong>ad</strong>e nach dem Maße <strong>des</strong>Gegebenen, sondern nach dem, was derSpender damit erreichen wollte. Es darf darumder Reiche nicht eingebildet sein, und derArme braucht nicht verzagt zu sein, weil ernur wenig geben k<strong>an</strong>n; oft hat <strong>die</strong>ser mehrgegeben als jener. Auch unglücklichdürfen sich <strong>die</strong> Armen nicht fü<strong>hl</strong>en wegenihrer Armut; denn ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> Armut machtuns das Almosengeben leichter. Wer viel besitzt,hält, blind und taub für alles, mit nurum so größerer Habgier fest <strong>an</strong> dem, was erhat; wer dagegen nur wenig besitzt, bleibtfrei von jeder derartigen Tyr<strong>an</strong>nei und findetsich mehr geneigt <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>tun. Ein solcher,begibt sich leicht in <strong>die</strong> Gefängnisse, besuchtKr<strong>an</strong>ke und reicht einen Trunk frischen Wassers;der <strong>an</strong>dere aber, aufgeblasen ob seinesReichtums, mag sich zu nichts dergleichenherablassen. Also nur keine Verzagtheit wegender Armut. Ja, auch <strong>die</strong> Erl<strong>an</strong>gung <strong>des</strong>Himmelreiches macht dir <strong>die</strong> Armut leichter.Wenn du nichts <strong>an</strong>deres besitzest, so dochein mitfü<strong>hl</strong>en<strong>des</strong> Herz, und dafür wird dirdein Lohn werden. Darum heißt uns auch<strong>Paulus</strong> „weinen mit den Weinenden und unsgef<strong>an</strong>gen fü<strong>hl</strong>en mit den Gef<strong>an</strong>genen“ 294 .Denn nicht bloß den Weinenden bringt eseinen gewissen Trost, viele Mitfü<strong>hl</strong>ende zuhaben, sondern auch <strong>an</strong>dern von Unglück292 Ebd. 5, 44 .293 Eph. 5, 1.294 Röm. 12, 15.234Heimgesuchten. Ja, es gibt Fälle, wo ein trösten<strong>des</strong>Wort dem Niedergedrückten nichtweniger aufzuhelfen vermag wie Geld. Ausdem Grund hat uns Gott geboten, den Notleidendenauch Geld zu geben, nicht bloßdamit wir d<strong>ad</strong>urch ihre Not lindern, sondernauch, damit er uns lehre, mit dem Unglück<strong>des</strong> Nächsten Mitleid zu fü<strong>hl</strong>en. Darum istauch der Geizige so hassenswert, nicht weiler <strong>an</strong> den Notleidenden achtlos vorübergeht,sondern weil er selbst sich zur Gefü<strong>hl</strong>losigkeitund großer Hartherzigkeit erzieht; <strong>an</strong>dererseitsist der, welcher der Armen wegennicht auf sein Geld schaut, ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegenliebenswert, weil er eben d<strong>ad</strong>urch barmherzigund menschenliebend wird. Wenn Christus<strong>die</strong> Barmherzigen selig preist, so preistund lobt er nicht bloß <strong>die</strong>, welche sich durchbeträchtliches Geldausgeben barmherzig erweisen,sondern auch <strong>die</strong>, welche den gutenWillen haben, es zu tun.Eine solche Geneigtheit zur Barmherzigkeitlaßt uns immer haben, und alles Gute wird inihrem Gefolge sein! Denn wer menschenfreundlichund erbarmungsvoll ge- sinnt ist, der wird, wenn er Geld hat, esausteilen; wenn er jem<strong>an</strong>den im Unglücksieht, wird er darüber Tränen vergießen undihn bedauern; wenn er einen Niedergedrücktensieht, ihm <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d reichen. Wer daswertvolle Gut eines menschenfreundlichenund mitfü<strong>hl</strong>enden Herzens besitzt, der wirdvon da aus auf alles kommen, womit er seinenBrüdern helfen k<strong>an</strong>n, und er wird einmalden g<strong>an</strong>zen Lohn zu genießen bekommen,der für ihn bei Gott bereitliegt. Damit auchwir zu <strong>die</strong>sem Lohn gel<strong>an</strong>gen, laßt uns vorallem dafür besorgt sein, ein mitfü<strong>hl</strong>en<strong>des</strong>Herz zu haben! So werden wir hienieden unendlichviel Gutes stiften und den Lohn dafürin der Ewigkeit genießen. Möge uns allenderselbe zuteil werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e undLiebe unseres Herrn Jesus Christus, durchden und mit dem Ehre sei dem Vaterzugleich mit dem Hl. Geiste in alle Ewigkeit.Amen.


EINUNDZWANZIGSTEKap. XII, V. 1—3.1.HOMILIE.Kap. XII, V. 1—3.V. 1: „So bitte ich euch denn, Brüder, infolge <strong>die</strong>serErbarmungen Gottes, eure Leiber zu einemlebendigen, heiligen, Gott wo<strong>hl</strong>gefälligen Opferzu stellen, eine vernünftige Gottes<strong>an</strong>betung voneuch.“Nachdem der Apostel ausführlich von derMenschenliebe Gottes gesprochen und <strong>des</strong>senunsagbar große Fürsorge und unfaßbareGüte, <strong>die</strong> gar nicht ergründet werden k<strong>an</strong>n,darget<strong>an</strong> hat, kommt er wieder auf dasselbeThema zurück, um <strong>die</strong> Empfänger so großerWo<strong>hl</strong>taten zu überzeugen, daß sie sich solchenGeschenkes würdig erweisen müßtendurch ihren Lebensw<strong>an</strong>del. Und so groß und<strong>an</strong>gesehen er ist, verschmäht er es doch nicht,zu „bitten“, und zwar nicht um Dinge, derener sich zu seinem eigenen Wo<strong>hl</strong>e be<strong>die</strong>nenwill, sondern um solche, <strong>die</strong> einen Gewinnfür seine Zuhörer bedeuten. Und was Wunder,daß er es nicht verschmäht, zu bitten, woer von den Erbarmungen Gottes spricht?Weil euch von da, nämlich von den ErbarmungenGottes, will er sagen, unzä<strong>hl</strong>ig vielGutes kommt, so habt Achtung und Ehrfurchtvor ihnen! Denn ger<strong>ad</strong>e sie richten <strong>die</strong>Bitte <strong>an</strong> euch, daß ihr nichts <strong>an</strong> euch sehenlaßt, was ihrer unwürdig wäre. Im Hinblickauf das, will er sagen, bitte ich euch, wodurchihr <strong>zum</strong> Heil gel<strong>an</strong>gt seid; wie wennjem<strong>an</strong>d, um auf einen, dem große Wo<strong>hl</strong>tatenerwiesen worden sind, einzuwirken, ihm gera<strong>des</strong>einen Wo<strong>hl</strong>täter als Bittsteller vorführte.— Und sag’ <strong>an</strong>, um was bittest du? —„Daß ihr eure Leiber zu einem lebendigen,Gott wo<strong>hl</strong>gefälligen Opfer stellt, eine vernünftigeGottes<strong>an</strong>betung von euch.“ — DemWorte „Opfer“ fügt er sogleich das <strong>an</strong>dere235Wort „lebendig“ bei, damit m<strong>an</strong> nicht etwameine, daß er <strong>die</strong> Leiber töten heiße. D<strong>an</strong>nkennzeichnet er den Unterschied zwischen<strong>die</strong>sem Opfer und dem jüdischen: er nennt es„ein heiliges, Gott wo<strong>hl</strong>gefälliges, eine vernünftigeGottes<strong>an</strong>betung“. Denn das jüdische Opfer war ein körperhaftesund Gott ger<strong>ad</strong>e nicht sehr wo<strong>hl</strong>gefällig.„Wer hat solches aus euren Händen verl<strong>an</strong>gt?“295 heißt es. Und <strong>an</strong> vielen <strong>an</strong>dern Stellenist ersichtlich, daß Gott dergleichen Opferzurückweist. Dagegen fordert er ger<strong>ad</strong>ezudas geistige Opfer ja auch von denen, <strong>die</strong>ihm das <strong>an</strong>dere schon dargebracht haben.Darum spricht er: „Ein Lobopfer ehrtmich“ 296 . Und wiederum: „Preisen will ichden Namen Gottes mit Ges<strong>an</strong>g; das wirdGott mehr gefallen als ein junges Kalb, demHörner und Klauen wachsen 297 . An einer <strong>an</strong>dernStelle verwirft er ein solches Opfer sogar,wenn er spricht: „Werde ich dennFleisch von Stieren essen und Blut von Böckentrinken?“ Er fügt bei: „Opfere Gott einLobopfer, und bring’ dem Höchsten deineGebete dar!“ 298 So mahnt auch <strong>Paulus</strong> hier,<strong>die</strong> Leiber als ein lebendiges Opfer darzubringen.— Und wie k<strong>an</strong>n, fragst du, der Leibein Opfer werden? — Das Auge schauenichts Sündhaftes <strong>an</strong>, und es ist <strong>zum</strong> Opfergeworden; <strong>die</strong> Zunge rede nichts Sc<strong>hl</strong>immes,und sie ist zur Opfergabe geworden; <strong>die</strong>H<strong>an</strong>d tue nichts Verbotenes, und sie ist <strong>zum</strong>Br<strong>an</strong>dopfer geworden. Ja, das genügt nochnicht, sondern es bedarf auch guter Taten:<strong>die</strong> H<strong>an</strong>d gebe Almosen, der Mund sprecheSegenswünsche gegen Widersacher aus, dasOhr sei stets <strong>zum</strong> Anhören von Reden übergöttliche Dinge bereit. Denn das Opfer darfnichts Unreines <strong>an</strong> sich haben, das Opfer sollein Erstling von allem sein. So laßt denn auchuns Gott <strong>die</strong> Erstlinge der Hände, der Füße,<strong>des</strong> Mun<strong>des</strong> und aller <strong>an</strong>dern Gliederdarbringen! Ein solches Opfer ist Gott wo<strong>hl</strong>-295 Is. 1, 12.296 Ebd. 49, 23.297 Ebd. 68, 31 und 32.298 Ebd. 49, 13 und 14.


gefällig, wie <strong>an</strong>dererseits das der Juden unreinwar; „Ihre Opfer“, heißt es, „sind ihnenTrauerbrot“ 299 . Nicht so das unsrige. JenesOpfer brachte der Opfergabe den Tod, dasunsrige aber bringt ihr Leben. Denn ger<strong>ad</strong>ed<strong>an</strong>n, wenn wir unsere Glieder abtöten,kommen wir <strong>zum</strong> Leben. Die Art, zu opfern,ist dabei eine g<strong>an</strong>z neue, und darumist auch <strong>die</strong> Art <strong>des</strong> Feuers eine g<strong>an</strong>z eigene.Es braucht nämlich kein Holz oder sonstigenBrennstoff, sondern unser Feuer hat seineLebenskraft aus sich selbst; es verzehrt auchnicht <strong>die</strong> Opfergabe, sondern gibt ihr vielmehrLeben. Ein solches Opfer hat Gottschon ehedem verl<strong>an</strong>gt, daher spricht derProphet: „Ein Opfer vor Gott ist ein zerknirschtesHerz“ 300 . Auch <strong>die</strong> drei Jünglinge(im Feuerofen) brachten ein solches Opferdar, da sie sprachen: „Wir haben (in der Verb<strong>an</strong>nung)keinen Fürsten und keinen Prophetenund keinen Ort, wo wir Gn<strong>ad</strong>e fändenund suchten, aber mit zerknirschtem Herzenund gedemütigtem Sinn mögen wir (von dir)aufgenommen werden“ 301 .Beachte, wie der Apostel mit aller Sorgfaltje<strong>des</strong> einzelne Wort auswä<strong>hl</strong>t! Er sagt nicht:macht eure Leiber <strong>zum</strong> Opfer, sondern:„stellt sie“; wie wenn er sagen wollte: Ihrhabt d<strong>an</strong>n weiter keinen Anteil <strong>an</strong> ihrem Besitz;ihr habt sie einem <strong>an</strong>dern g<strong>an</strong>z und garausgeliefert. So haben auch <strong>die</strong>, welche Militärpferdegestellt haben, nachher keinen Anteilmehr <strong>an</strong> ihrem Besitz. Und du hast deineGlieder <strong>zum</strong> Kriege gegen den Teufel gestellt,zu <strong>die</strong>sem furchtbaren Kampfe; zieh’sie nicht mehr her<strong>an</strong> zu Dienstleistungen indeinem eigenen (sündhaften) <strong>In</strong>teresse! —Auch einen <strong>an</strong>dern Ged<strong>an</strong>ken bringt der A-postel damit <strong>zum</strong> Ausdruck, nämlich den,daß wir unsere Glieder in den rechten St<strong>an</strong>dsetzen müssen, wenn wir sie stellen sollen.Denn wir stellen sie ja nicht irgendeinem irdischenMenschen, sondern dem Könige <strong>des</strong>Weltalls, Gott, und zwar nicht bloß dazu, daßsie kämpfen, sondern daß sie <strong>die</strong>sen Königselbst tragen. Denn er verschmäht es nicht,von unsern Gliedern Besitz zu nehmen, sonderner verl<strong>an</strong>gt sogar lebhaft darnach, undwomit sich kein irdischer König, der ja dochauch nur ein Diener ist wie wir, begnügenwürde, das wä<strong>hl</strong>t der Herr der Engel für sichaus. — Da du deine Glieder nun (in denDienst Gottes) stellen sollst, und da sie einOpfer sein sollen, so nimm jeden Makel vonihnen! Wie sie einen Makel haben, sind sie schon nicht mehr geeignet <strong>zum</strong> Opfer.Ein Auge ist schon nicht schicklich dazu, dasunzüchtige Dinge <strong>an</strong>schaut, eine H<strong>an</strong>d nicht,<strong>die</strong> raubt und zusammenscharrt, Füße nicht,<strong>die</strong> lahm einherhinken und <strong>die</strong> Treppen zuden Theatern hinaufsteigen, ein Bauch nicht,der sich im Schwelgen bläht und den Begierdennach sündhaften Lüsten Nahrung gibt,ein Herz nicht, das Zorn und unzüchtigeLiebe beherbergt, eine Zunge nicht, <strong>die</strong> Zoten<strong>zum</strong> besten gibt. Darum muß unser Leib injeder Beziehung von Makeln gereinigt werden.2.Denn wenn es schon im Alten Bunde denOpferpriestern geboten war, (beim Opfer)alles genau <strong>an</strong>zuschauen, und wenn sie nichtein Tier mit abgestutzten Ohren oder mitverstümmeltem Schweif oder eines mit Narbenvon Krätzen oder von Flechten darbringendurften, um so größere Sorgfalt müssenwir, <strong>die</strong> wir ja nicht vernunftlose Schafe,sondern uns selbst darbringen, aufwendenund in jeder Beziehung rein sein, damit auchwir mit <strong>Paulus</strong> sagen können: „Ich werdebereits ausgegossen (wie ein Tr<strong>an</strong>kopfer),und <strong>die</strong> Zeit meiner Auflösung steht bevor“302 . Er war reiner als je<strong>des</strong> Opfer; darum299 Os. 9, 4.300 Ps. 50, 19.301 D<strong>an</strong>. 3, 38 und 39.236302 2 Tim. 4, 6.


nennt er sich auch ein „Tr<strong>an</strong>kopfer“. Dieswird geschehen, wenn wir den alten Menschenabtun, wenn wir unsere irdischenGlieder abtöten, wenn wir <strong>die</strong> Welt in unskreuzigen. Dazu werden wir kein Sc<strong>hl</strong>achtmesserbrauchen, auch keinen Opferaltarund kein Feuer. Oder vielmehr ja; wir werdendazu <strong>die</strong>se Dinge brauchen, nur werdensie nicht von Menschenhänden verfertigtsein, sondern sie werden uns alle vom Himmelkommen: das Feuer wird von oben sein,und auch das Sc<strong>hl</strong>achtmesser; als Opferaltaraber wird uns das Himmelsgewölbe <strong>die</strong>nen.Denn wenn Feuer vom Himmel fiel, als Eliassein sichtbares Opfer darbrachte, und allesverzehrte, das Wasser, das Holz und <strong>die</strong>Steine, so wird dasselbe bei dir noch weitmehr der Fall sein. Hast du noch etwas Vergängliches,das dem irdischen Leben <strong>an</strong>gehört,<strong>an</strong> dir, bringst aber das Opfer mit rechterAbsicht dar, so wird das Feuer<strong>des</strong> Hl. Geistes herabkommen und <strong>die</strong>sesIrdische verzehren und das g<strong>an</strong>ze Opfervollenden.Was ist zu verstehen unter der „vernünftigenGottes<strong>an</strong>betung“? — Der Dienst im Geiste,das Leben nach dem Beispiele Christi. Wiedem Priester, der im Hause Gottes Dienst tut,während dem <strong>die</strong> Würde eines Gottgeweihtenzukommt, wer er auch sonst sei, und wieer ehrwürdiger wird, so müssen auch wirunser g<strong>an</strong>zes Leben führen wie gottgeweihteOpferpriester. Dies wird der Fall sein, wenndu Gott täglich Opfer bringst, wenn du ihmdeinen Leib aufopferst und <strong>die</strong> Tugendendeiner Seele: wenn du ihm z. B. Enthaltsamkeit<strong>zum</strong> Opfer bringst, Almosen, S<strong>an</strong>ftmutund Verzeihung. Wenn du das tust, d<strong>an</strong>nleistest du eine „vernünftige Gottes<strong>an</strong>betung“,<strong>die</strong> nichts Körperliches, nichts grobIrdisches, nichts Sinnliches <strong>an</strong> sich hat.Nachdem der Apostel den Zuhörer durch<strong>die</strong>se (auszeichnenden) Benennungen gewissermaßenstolz gemacht und kundget<strong>an</strong> hat,daß ein jeder zu einem Priester für seineneigenen Leib werden könne, macht er auch237<strong>die</strong> Art und Weise bek<strong>an</strong>nt, wie es möglichsei, <strong>die</strong>s zu vollbringen. Welches ist <strong>die</strong>se Artund Weise?V. 2: „Gestaltet euch nicht nach dem Schattenbild<strong>die</strong>ser Welt, sondern formt euch um durchErneuerung eures Geistes.“— Das Schattenbild <strong>die</strong>ser Welt ist irdisch,nichtig, vergänglich, hat nichts Hohes, nichtsBleiben<strong>des</strong>, nichts Rechtes <strong>an</strong> sich, alles dar<strong>an</strong>ist verkehrt. Willst du den ger<strong>ad</strong>en Weggehen, d<strong>an</strong>n richte dich nur ja nicht nachdem Schattenbild <strong>des</strong> gegenwärtigen Lebens!Denn nichts dar<strong>an</strong> ist bleibend und fest. Darumgebraucht der Apostel den Ausdruck„Schattenbild“; und <strong>an</strong>derswo heißt es wieder:„Das Schattenbild <strong>die</strong>ser Welt vergeht“303 ; es hat nämlich nichts Dauern<strong>des</strong>,nichts Festes <strong>an</strong> sich, sondern alles dar<strong>an</strong> istbloß für den Augenblick. Darum heißt esauch „<strong>die</strong>ser Welt“; d<strong>ad</strong>urch ist das Vergänglicheausgedrückt, durch das Wort „Schattenbild“das Unwirkliche dar<strong>an</strong>. Ob du nunReichtum nennst oder Ruhm oderKörperschönheit oder Wo<strong>hl</strong>leben oder irgendetwas von den Dingen, <strong>die</strong> groß erscheinen,es ist nur ein Schattenbild, keine Wirklichkeit,ein Scheinbild, eine Larve, nichts vonBest<strong>an</strong>d. Aber du gestalte dich ja nicht d<strong>an</strong>ach,mahnt der Apostel, sondern „formedich um durch Erneuerung <strong>des</strong> Geistes“! Erdrückt damit aus, daß das Wesen der Weltein Schattenbild, das der Tugend dagegenkein Schattenbild, sondern etwas Kernhaftesist, daß sie wahre und wirkliche Schönheitbesitzt, daß sie nicht <strong>des</strong> Aufputzes von außenbedarf und nicht solcher Schattenbilder,<strong>die</strong> erscheinen und im selben Augenblickwieder verschwinden. Ja, alles das zerrinnt,bevor es noch g<strong>an</strong>z in Erscheinung tritt. Lassestdu nun das Schattenbild fahren, so wirstdu bald <strong>zum</strong> Kernhaften gel<strong>an</strong>gen. Nichtssteht auf schwächeren Füßen als <strong>die</strong> Sünde,nichts altert so leicht wie sie. — Da wir aberMenschen sind und darum natürlicherweise303 1 Kor. 7, 31.


täglich fe<strong>hl</strong>en, tröstet der Apostel seinen Zuhörerdamit, daß er sich täglich erneuern solle.Was wir bei den Häusern machen, <strong>die</strong> wirauch, wenn sie alt werden, immer wiederherrichten, das mach’ auch bei dir. Du hastheute gefe<strong>hl</strong>t? Du hast deine Seele altersschwachgemacht? Verzweifle nicht, laß sienicht g<strong>an</strong>z einfallen, sondern erneuere siedurch Sinnesänderung, durch Tränen, durchBeichte, durch Verrichtung guter Werke! Unterlaßes nie, das zu tun! Und wie können wirdas tun?„Daß ihr (stets) prüfet, was besser ist, und wissenmöget, was der Wille Gottes, das Heilsame,Wo<strong>hl</strong>gefällige und Vollkommene sei.“Entweder will mit <strong>die</strong>sen Worten der Apostelsagen: Erneuert euch, damit ihr einsehenlernt, was euch <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e <strong>die</strong>nt, und wasGottes Wille ist; oder er will sagen: Gera<strong>des</strong>okönnt ihr euch erneuern, wenn ihr einsehenlernt, was euch <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e ist und was Gottjeweils will. Denn wenn du nur das weißtund <strong>die</strong> verschiedene Beschaffenheit <strong>des</strong>Tuns zu unterscheiden verstehst, d<strong>an</strong>n hastdu schon den rechten Weg eingesc<strong>hl</strong>agen,der zu jeglicher Tugend führt. — Wer sindnun <strong>die</strong>, welche nicht erkennen, was ihnen<strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e <strong>die</strong>nt und was der WilleGottes ist? Das sind <strong>die</strong>, welche g<strong>an</strong>z und garaufgehen in den Geschäften <strong>des</strong> gegenwärtigenLebens, welche den Reichtum für dasZiel ihres Strebens halten und <strong>die</strong> Armutverachten, welche nach herrschenden Stellungenjagen, welche nach äußerer Ehre geizen,welche sich für groß halten, wenn sieprächtige Häuser erbauen, mit Werken derKunst gezierte Grabstätten erwerben, Scharenvon Dienern halten und immer eineng<strong>an</strong>zen Schwarm von Eunuchen um sich haben.Die wissen allerdings nicht, was ihnen<strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e ist, und kennen den Willen Gottesnicht.3.238Diese beiden Dinge sind nämlich ein unddasselbe; was uns <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e ist, will Gott,und was Gott will, das ist uns <strong>zum</strong> Wo<strong>hl</strong>e.Was ist nun das, was Gott will? Ein Leben inArmut, in Demut, in Verachtung weltlicherEhre; in Mäßigkeit, nicht in Schwelgerei; inMühsal, nicht in Ruhe; in Trauer, nicht inAusgelassenheit und Lachen, und so in allen<strong>an</strong>dern Dingen nach seinem Gebot. Aber <strong>die</strong>meisten Menschen halten <strong>die</strong>se Dinge für einUnglück, so weit sind sie davon entfernt, siefür zuträglich und für Gottes Willen zu halten.Sie werden d<strong>an</strong>n natürlich auch nichtentfernt dazu kommen, der Tugend wegensich Mühen zu unterziehen. Wie sollen Leuteimst<strong>an</strong>de sein, sich von <strong>die</strong>ser Welt loszusagen,<strong>die</strong> nicht einmal wissen, was Tugend ist,sondern <strong>die</strong> statt ihrer das Laster bewundernund statt eines ehrbaren Weibes eine Hure zusich nehmen? Darum ist es vor allen Dingennotwendig, daß unsere Ansicht über das sittlicheH<strong>an</strong>deln seine Berichtigung erfahrenhabe; daß wir <strong>die</strong> Tugend <strong>an</strong>erkennen, wennwir sie auch schon nicht üben, daß wir dasLaster bei seinem Namen nennen, wenn wires auch schon nicht fliehen, damit wir zunächstein unverfälschtes Urteil besitzen.D<strong>an</strong>n können wir auf dem betretenen Wegeweiterschreiten und <strong>zum</strong> Tun gel<strong>an</strong>gen. Dasist der Sinn der Mahnung <strong>des</strong> Apostels, unszu erneuern, „damit ihr prüfet, was der WilleGottes sei“. Übrigens scheint es mir, daß derApostel dabei auch den Juden einen Merksgeben will, <strong>die</strong> <strong>an</strong> dem Gesetze festhielten.Wille Gottes war ja gewiß auch das Lebennach den Satzungen <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>, aber nicht im Sinn einer fortgeschrittenenErkenntnis, sondern nur alsZugeständnis <strong>an</strong> ihre Schwäche. Das Vollkommeneund das Wo<strong>hl</strong>gefällige ist das Lebennach den Gesetzen <strong>des</strong> Neuen Bun<strong>des</strong>.Auch wenn der Apostel von einer „vernünftigenGottes<strong>an</strong>betung“ spricht, gebraucht er<strong>die</strong>sen Ausdruck, um <strong>die</strong> Gottes<strong>an</strong>betung im


Neuen Testament der im Alten gegenüberzustellen.V. 3: „Kraft der mir verliehenen Gn<strong>ad</strong>e sage ichnämlich einem jeden, der zu euch gehört, nicht inseiner Meinung von sich über das hinauszugehen,was sich gehört, sondern maßvoll von sich zudenken, nach dem Maße <strong>des</strong> <strong>an</strong>vertrauten Gutes,wie es Gott einem jeden zugemessen hat.“— Oben hat der Apostel gesagt: „<strong>In</strong>folge derErbarmungen ermahne ich euch“; hier sagt erwieder: „Kraft der Gn<strong>ad</strong>e“. Beachte dabei <strong>die</strong>Demut <strong>des</strong> Lehrers, beachte <strong>die</strong> geringe Meinung,<strong>die</strong> er für sich in Anspruch nimmt!Niemals führt er bei einer Mahnung odereinem Rat seine eigene Person allein als Gewährsm<strong>an</strong>n<strong>an</strong>, sondern bald nimmt er <strong>die</strong>Erbarmungen Gottes, bald <strong>des</strong>sen Gn<strong>ad</strong>e zuHilfe. Was ich sage, spricht er, ist nicht meineRede, sondern <strong>die</strong> Gottes. Er sagt auch nicht:Ich spreche zu euch kraft der Weisheit Gottes,oder: ich spreche zu euch kraft der gesetzgebendenGewalt Gottes, sondern: „kraftder Gn<strong>ad</strong>e“; er bringt nämlich immer <strong>die</strong>Wo<strong>hl</strong>taten Gottes in Erinnerung, um in seinenZuhörern auf <strong>die</strong>se Weise den d<strong>an</strong>kbarenSinn zu wecken und ihnen vor Augen zuhalten, daß sie aus <strong>die</strong>sem Grunde seinenWorten Gehorsam schuldig seien. — „Einemjeden, der zu euch gehört“; nicht bloß demoder jenem, sondern dem Oberen wie demUntergebenen, dem Sklaven wie dem Freien,dem Ungebildeten wie dem Gebildeten, demWeibe wie dem M<strong>an</strong>ne, dem Jünglinge wiedem Greise. Allen gilt <strong>die</strong>ses Gebot, weil esvom Herrn kommt. Auf <strong>die</strong>se Weise nimmtder Apostel seiner Rede jeden Stachel, indemer seine Mahnworte <strong>an</strong> alle richtet, auch <strong>an</strong><strong>die</strong>, welche sie nicht <strong>an</strong>gehen, damit <strong>die</strong>,welche sie <strong>an</strong>gehen, <strong>die</strong> Ermahnung und Zurechtweisungum so leichter aufnehmen. —Und was soll es bedeuten, sprich,wenn du sagst: „Nicht in seiner Meinung vonsich über das hinauszugehen, was sich gehört“?Der Apostel führt hier <strong>die</strong> Mutter <strong>des</strong>sittlich Guten auf, <strong>die</strong> Demut, und ahmt damitseinen (göttlichen) Lehrer nach. Auch239<strong>die</strong>ser beg<strong>an</strong>n ja in seiner Bergpredigt, in derer <strong>die</strong> christliche Sittenlehre zur Darstellungbringen wollte, mit <strong>die</strong>ser Tugend und legtesie als Grundstein zu dem g<strong>an</strong>zen Bau, indemer sprach: „Selig sind <strong>die</strong> Armen imGeiste“ 304 . So lehrt auch der Apostel, wenn ernun von den Glaubenslehren zur Anwendungauf <strong>die</strong> Sittenlehre übergeht, zunächst<strong>die</strong> Tugend im allgemeinen, indem er nämlichdas wundervolle „Opfer“ von uns verl<strong>an</strong>gt;wie er aber dar<strong>an</strong> geht, sie im einzelnenzu beschreiben, beginnt er mit derHaupttugend, der Demut, und spricht:„Nicht in seiner Meinung von sich über dashinauszugehen, was sich gehört“ — denn dasist der Wille Gottes —, „sondern maßvoll vonsich zu denken.“ Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte istder: Wir haben den Verst<strong>an</strong>d erhalten, nichtdamit wir ihn zur Überhebung gebrauchen,sondern zur Mäßigkeit. Der Apostel sagtnicht: <strong>zum</strong> demütig Denken, sondern „<strong>zum</strong>maßvoll Denken“. Das Wort „Mäßigkeit“gebraucht er hier nicht zur Bezeichnung derTugend, <strong>die</strong> der Völlerei entgegengesetzt ist,auch nicht als Gegensatz zur Unzucht, sondernzur Bezeichnung <strong>des</strong> nüchternen undgesunden Denkens. Denn das griechischeWort σωφροσύνη besagt: „sich das gesundeDenken bewahren“. Der Apostel will also<strong>zum</strong> Ausdruck bringen, daß ein Mensch, der(in der Beurteilung seiner selbst) nicht denrichtigen Maßstab <strong>an</strong>zulegen versteht, auchnicht „mäßig sein“, d. h. eine feste geistigeGesundheit haben könne, sondern daß einsolcher überschnappt ist und es jedemWahnsinnigen zuvor tut; darum nennt er <strong>die</strong>Demut „Mäßigkeit“.„Nach dem Maße <strong>des</strong> <strong>an</strong>vertrauten Gutes,wie es Gott einem jeden zugemessen hat.“Bei den <strong>Römer</strong>n wie bei den Korinthern hatte<strong>die</strong> Erteilung von wunderbaren Gaben [Charismen]viele zur Überhebung verleitet; beachtenun, wie der Apostel <strong>die</strong> Ursache derKr<strong>an</strong>kheit aufdeckt und sie allmä<strong>hl</strong>ich ent-304 Matth. 5, 3.


fernt! Nach- dem er gesagt hat, m<strong>an</strong>müsse maßvoll von sich denken, fährt er fort:„Nach dem Maße <strong>des</strong> <strong>an</strong>vertrauten Gutes,wie es Gott einem jeden zugemessen hat.Hier nennt der Apostel <strong>die</strong> wunderbare Gabe„<strong>an</strong>vertrautes Gut“ 305 . Wenn er davon sagt,daß Gott sie zugemessen hat, so tröstet erdamit den, der eine geringere erhalten hat,und dämpft den, der sich im Besitz einergrößeren sieht. Denn wenn Gott <strong>die</strong> Zuteilungvorgenommen hat und das gute Werknicht dein Eigentum ist, was bil<strong>des</strong>t du dirviel darauf ein?4.Will m<strong>an</strong> aber hier πίστις nicht als Charisma(im allgemeinen) verstehen, so liegt darinnoch mehr ein Hinweis darauf, daß der A-postel <strong>die</strong> Tugendstolzen demütigen will.Wenn nämlich das gemeint ist, was <strong>die</strong>Grundbedingung für je<strong>des</strong> Charisma ist, derGlaube, durch den Wunder geschehen, undwenn auch der von Gott kommt, weshalbbil<strong>des</strong>t du dir d<strong>an</strong>n etwas darauf ein? WennChristus nicht auf <strong>die</strong> Welt gekommen, wenner nicht Fleisch geworden wäre, d<strong>an</strong>n gäbe esauch keinen Platz für den Glauben. So hatdenn alles seinen Ausg<strong>an</strong>gspunkt in Gott.Wenn aber er der Geber ist, wird er wo<strong>hl</strong>auch wissen, wie er <strong>die</strong> Gabe <strong>zum</strong>essen soll.Denn er hat ja alle erschaffen und hat Sorgeum alle in der gleichen Weise; wie das Gebenüberhaupt von seiner Menschenliebe ausgeht,so auch das Wieviel der Gabe. Denn er,der einen Erweis seiner Güte in der Hauptsachegegeben hat — das ist, daß er Charismenüberhaupt mitgeteilt hat —, wird dich dochnicht bei der Zumessung derselben betrügen.Hätte er dich un-geehrt lassen wollen, d<strong>an</strong>nbrauchte er dir gleich den Anf<strong>an</strong>g nicht zugeben; war es aber sein Bemühen, dich zu305 πίστις versteht Chrysostomus zunächst als „Anvertrautes“; erst weiterunten zieht er auch <strong>die</strong> Deutung „Glauben“ in Erwägung.240retten und zu ehren — denn <strong>des</strong>halb ist er ja(in <strong>die</strong> Welt) gekommen und teilt so viel Gutesaus —, was regst du dich auf und machsteinen Lärm und mißbrauchst deinenVerst<strong>an</strong>d zur Narrheit, und tust dir selbsteine ärgere Schmach <strong>an</strong>, als wenn dich <strong>die</strong>Natur hätte <strong>zum</strong> Narren werdenlassen. Denn von Natur aus ein Narr zu sein,ist kein Vorwurf; aber aus Hochmut einer zuwerden, das ver<strong>die</strong>nt keine Entschuldigungund ist nur um so strafbarer.Dazu gehören auch <strong>die</strong>, welche sich auf ihreWeisheit viel einbilden und dabei der äußerstenÜberhebung <strong>an</strong>heimfallen. Nichts machtso sehr <strong>zum</strong> Narren wie <strong>die</strong> Überhebung.Darum gibt der Prophet <strong>die</strong>sen Namen demHeiden, von denen er sagt: „Der Narr redetNarrheiten“ 306 . Damit du aber aus seinen Redenauch seine Narrheit erkennst, höre <strong>an</strong>,was er sagt: „Über <strong>die</strong> Sterne <strong>des</strong> Himmelswill ich meinen Thron setzen, und demHöchsten werde ich gleich sein“ 307 , „Ich werdemit meiner H<strong>an</strong>d <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Erde <strong>an</strong>packenwie ein Vogelnest und wie verlasseneEier sie zusammenraffen“ 308 . Was könnte esNärrischeres geben als solche Reden? Eigentlichver<strong>die</strong>nt aber jede Pra<strong>hl</strong>erei <strong>die</strong>sen T<strong>ad</strong>el.Wenn ich dir im einzelnen das Gerede eingebildeterMenschen <strong>an</strong>führen wollte, wür<strong>des</strong>tdu meist nicht imst<strong>an</strong>de sein, zu unterscheiden,ob es <strong>die</strong> Rede eines dünkelhaften Menschenoder eines Narren ist; so eins und dasselbesind <strong>die</strong>se beiden Minderwertigkeiten.Ein <strong>an</strong>derer Heide spricht da gar wieder:„Ein Gott bin ich und kein Mensch“, undwieder ein <strong>an</strong>derer: „Wird euch Gott rettenund aus meinen Händen befreien können?“309 Und der ägyptische Pharao spricht:„Ich kenne keinen Herrn, und Israel laß ichnicht ziehen“ 310 . Und der Tor beim Prophetenist auch einer davon, der da spricht in seinemHerzen: „Es ist kein Gott“ 311 , und auch Kain,306 Is. 32, 6.307 Ebd. 14, 14.308 Ebd. 10, 14.309 D<strong>an</strong>. 3, 15.310 Exod. 5, 2 .311 Ps. 14, 1.


der da fragt: „Bin ich denn der Hüter meinesBruders?“ 312 Du k<strong>an</strong>nst also nicht unterscheiden,ob das Reden von Menschen sind,<strong>die</strong> sich überheben, oder von Narren. DieÜberhebung hat nämlich <strong>die</strong> richtige geistigeLage verloren und ist um den Verst<strong>an</strong>d gekommen.— Darum heißt sie ja auch „Über“-hebung — sie schafft Narren und Hochmütige.Der Anf<strong>an</strong>g der Weisheit ist <strong>die</strong> Furcht <strong>des</strong> Herrn; also ist der Anf<strong>an</strong>gder Narrheit das Nichtkennen <strong>des</strong> Herrn.Wenn also sein Kennen Weisheit ist, so istsein Nichtkennen Narrheit; <strong>die</strong>ses Nichtkennengeht aber hervor aus Eigendünkel; denn<strong>die</strong> erste Tat <strong>des</strong> Eigendünkels ist, nichts wissenzu wollen vom Herrn; also ist der Eigendünkel<strong>die</strong> höchste Narrheit. So einer warNabal, wenn auch nicht Gott, sondern Menschengegenüber; er war aus Überhebung umden Verst<strong>an</strong>d gekommen; aber später starb ervor Angst. Wenn jem<strong>an</strong>d den richtigen Maßstabfür <strong>die</strong> Selbsteinschätzung verliert, wirder feige und frech zugleich, da seine Seele ineinen Schwächezust<strong>an</strong>d verfällt. Denn gera<strong>des</strong>owie der Körper allen Leiden als Beute<strong>an</strong>heimfällt, wenn er <strong>die</strong> richtige Mischungder Säfte verliert und in einen Zust<strong>an</strong>d unrichtigerSäftemischung kommt, so zieht sichauch <strong>die</strong> Seele, wenn sie das große Gut <strong>des</strong>demütigen Denkens verliert, einen Zust<strong>an</strong>dder Schwäche zu; sie wird feige und frechund kennt sich selbst bald nicht mehr. Weraber sich selbst nicht kennt, wie wird derDinge, <strong>die</strong> über ihm sind, erkennen. Wie einFieberkr<strong>an</strong>ker, wenn er das Selbstbewußtseinverloren hat, nicht weiß, was zu seinen Füßenliegt, und wie ein Auge, wenn es geblendetworden ist, alle übrigen Glieder in Finsternisläßt, so geht es auch mit der Überhebung.Eigentlich sind solche Leute unglücklicherdar<strong>an</strong> als Rasende und Narren von Naturaus; denn sie erregen gera<strong>des</strong>o Lachenwie <strong>die</strong>se, sie fallen gera<strong>des</strong>o lästig und sindebenso unausste<strong>hl</strong>ich wie <strong>die</strong>se, aber sie fin-312 Gen. 4, 9.241den kein Mitleid wie <strong>die</strong>se; sie sind unzurechnungsfähigwie <strong>die</strong>se und finden dochkeine Entschuldigung wie <strong>die</strong>se, sondernwerden nur gehaßt. Sie sind ebenso minderwertigwie <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern und entbehren dabeider Entschuldigung; sie sind lächerlich nichtbloß durch ihre Reden, sondern auch durchihre Geberden. Denn, sag’ nur, was hältst dudeinen Nacken so steif? Was schreitest du aufden Fußspitzen einher? Was ziehst du <strong>die</strong>Augenbrauen empor? Was blähst du <strong>die</strong>Brust auf? Du k<strong>an</strong>nst kein Haar schwarz oderweiß machen und stolzierst einher, als ob duüber alles zu gebieten hättest. Du willst wo<strong>hl</strong>bald noch, daß dir Hügel wachsen, damit dunicht mehr auf der Erde zu gehenbrauchst; bald wirst du noch ein Wundertiersein wollen. Nun, hast du dich nicht selbst zueinem Wundertier gemacht, da du, obzwarnur ein Mensch, zu fliegen verl<strong>an</strong>gst? Ja, fliegenmöchtest du und bist aufgebläht nachallen Seiten! Was soll ich dir nur für einenNamen geben und wie soll ich nur deine Ü-berhebung zu Boden sc<strong>hl</strong>agen? Soll ich sagen,du seiest Asche oder Staub oder Rauchoder Kot? Wenn ich auch das unscheinbarsteDing nennen wollte, so hätte ich noch immernicht ein treffen<strong>des</strong> Bild <strong>des</strong>sen gefunden,was ich ausdrücken möchte. Ich möchtenämlich <strong>die</strong> Aufgeblasenheit und Ho<strong>hl</strong>heit<strong>die</strong>ser Leute g<strong>an</strong>z schildern. Welches Bild,das auf sie paßte, könnten wir nur finden?Mir kommen sie vor wie brennen<strong>des</strong> Werg.Solches Werg nämlich schwillt <strong>an</strong>, wenn m<strong>an</strong>es <strong>an</strong>zündet, und dehnt sich aus; wenn m<strong>an</strong>es aber nur ein bißchen mit der Hemd berührt,so sinkt es zusammen und wird darausein armseliges Häufchen Asche. So geht esden Seelen der Hochmütigen. Ihr aufgeblasenesWesen vermag irgendein zufälligerStoß sofort <strong>zum</strong> Niedersinken und Umfallenzu bringen. Der Hochmütige ist notwendigerweiseauch ein g<strong>an</strong>z schwacher Mensch.Seine Aufgeblasenheit ist nichts Gesun<strong>des</strong>,sondern wie <strong>die</strong> Wasserblasen leicht platzen,so fallen auch solche Leute leicht um. Wenn


du das nicht glauben willst, so schaff mir nureinen frechen und eingebildeten Menschenzur Stelle, und du wirst sehen, daß er beidem geringsten Stoß w<strong>an</strong>kt, wie wenn erschon da läge. Denn so wie ein Reisigfeuerrasch auflodert und gleich wieder in Aschezusammensinkt, festes Holz dagegen nichtleicht Feuer fängt, es d<strong>an</strong>n aber l<strong>an</strong>ge hält, sogeraten auch feste und starke Seelen nicht soleicht ins Feuer, aber sie erlöschen auch nichtleicht. Bei den <strong>an</strong>dern dagegen ist bei<strong>des</strong> ineinem und demselben Augenblick der Fall.<strong>In</strong> der Erkenntnis <strong>des</strong>sen also laßt uns <strong>die</strong>Tugend der Demut üben; denn nichts istmächtiger als sie! Sie ist härter als Stein, härterals Diam<strong>an</strong>t und gewährt uns mehr Sicherheitals Türme und Städte und Mauern;sie ist erhaben über alle Angriffe <strong>des</strong> Teufels;wohingegen <strong>die</strong> Überhebung uns dem erstenbesten als Beute überläßt, wie gesagt, leichterals eine Wasserblase zerplatzt, leichter als ein Spinngewebe zerreißtund rascher als Rauch verfliegt. — Damit wiralso auf felsenfestem Grund einherschreiten,laßt uns <strong>die</strong> Überhebung meiden und derDemut nachstreben! So werden wir in demgegenwärtigen Leben Ruhe finden und imzukünftigen. Alles Gute genießen durch <strong>die</strong>Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchemdem Vater sei Ehre zugleich mit demHl. Geiste in alle Ewigkeit. Amen. ZWEIUNDZWANZIGSTE HOMILIE.Kap. XII, V. 4—13.1.Kap. XII, V. 4—13.V. 4: „Denn gera<strong>des</strong>o wie wir <strong>an</strong> einem einzigenLeibe viele Glieder haben, nicht aber alle Glieder<strong>die</strong> gleichen Verrichtungen haben“,V. 5: „so sind wir auch <strong>die</strong> vielen ein einzigerLeib in Christus, <strong>die</strong> einzelnen aber Glieder vonein<strong>an</strong>der.“242Wieder gebraucht der Apostel dasselbe Beispiel,das er auch im Korintherbriefe gebrauchthat, um <strong>die</strong>selbe Leidenschaft zu zügeln.Denn groß ist <strong>die</strong> Kraft <strong>die</strong>ser Arznei,und groß <strong>die</strong> Macht <strong>die</strong>ses Beispiels, um <strong>die</strong>Kr<strong>an</strong>kheit der Überhebung zu heilen. Warumbil<strong>des</strong>t du dir, will er sagen, viel ein? Oderwarum hält sich ein <strong>an</strong>derer wieder für gering?Sind wir nicht alle ein einziger Leib, <strong>die</strong>Großen wie <strong>die</strong> Kleinen? Wenn wir nun demHaupte nach eins sind und Glieder vonein<strong>an</strong>der,was sonderst du dich ab durch Überhebung?Was verachtest du den Bruder? Gera<strong>des</strong>owie er ein Glied von dir ist, so bist dueins von ihm. Die Gleichheit der Ehre ist in<strong>die</strong>ser Beziehung eine vollständige. ZweiGründe führt der Apostel <strong>an</strong>, <strong>die</strong> hinreichendsind, <strong>die</strong> Überhebung seiner Zuhörer niederzusc<strong>hl</strong>agen:daß wir Glieder vonein<strong>an</strong>dersind, nicht bloß der Kleine von dem Großen,sondern auch der Große von dem Geringeren,und d<strong>an</strong>n, daß wir alle zusammen eineinziger Leib sind. Eigentlich sind es sogardrei Gründe; denn der Apostel macht nochklar, daß auch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engabe [das Charisma],<strong>die</strong> uns gespendet worden ist, ein und<strong>die</strong>selbe ist. Also, bilde dir nichts Großesdarauf ein! Sie ist dir von Gott geschenktworden, nicht du selbst bist <strong>die</strong> Ursache, daßdu sie empf<strong>an</strong>gen hast, nicht du selbst hastsie erfunden. Deshalb sagt auch der Apostel(weiter unten), wo er von den Gn<strong>ad</strong>engabenspricht, nicht, daß der eine eine größere, der<strong>an</strong>dere eine geringere empf<strong>an</strong>gen habe, sondernwas sagt er? „Verschiedene.“ „Wir haben“,heißt es, „verschiedene Gn<strong>ad</strong>en- gaben“, nicht „größere oder geringere“313 Was liegt auch dar<strong>an</strong>, wenn du nichtdasselbe zugeteilt erhalten hast? Es ist j<strong>ad</strong>och derselbe Leib. Mit Gn<strong>ad</strong>engaben beginntder Apostel, mit Tugendwerkensc<strong>hl</strong>ießt er. Er nennt zuerst „Prophetengabe“und „(Kirchen)amt“ u. a. und kommt sc<strong>hl</strong>ießlich<strong>zum</strong> „Almosen“, „Eifer“ und „Helfen“.313 1 Kor. 12, 31.


Weil es nämlich (unter den Christen zu Rom)jedenfalls recht tugendhafte Leute gab, <strong>die</strong>aber <strong>die</strong> Prophetengabe nicht besaßen, soweist der Apostel darauf hin, daß auch <strong>die</strong>Tugend eine Gn<strong>ad</strong>engabe, ja eine größere als<strong>die</strong> Prophetengabe sei, wie er schon im <strong>Briefe</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther darauf hingewiesen hat; siestehe um so viel höher, als der Lohn, der ihrin Aussicht steht, größer sei, während <strong>die</strong>Prophetengabe eines solchen entbehre. Denn<strong>die</strong>se ist g<strong>an</strong>z und gar nur Geschenk undGn<strong>ad</strong>e. Darum sagt er:V. 6: „Wir haben Gn<strong>ad</strong>engaben, verschiedennach der Gn<strong>ad</strong>e, <strong>die</strong> uns von Gott verliehen ist,sei es <strong>die</strong> Prophetengabe nach dem Verhältnis <strong>des</strong>Glaubens.“— Nachdem der Apostel seinen Zuhörerngenug Trostvolles gesagt hat, will er sie <strong>zum</strong>Kampf aufrütteln und ihren Eifer mehr entfachen;er weist darauf hin, daß sie es selbstin der H<strong>an</strong>d haben, mehr oder weniger zuempf<strong>an</strong>gen. Zwar sagt er, daß <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engabevon Gott geschenkt sei, wie wenn ersagt: „Wie Gott einem jeden das Maß <strong>des</strong><strong>an</strong>vertrauten Gutes zugemessen hat“, undwieder: „nach der Gn<strong>ad</strong>e, <strong>die</strong> uns verliehenist“, um d<strong>ad</strong>urch <strong>die</strong> Hochmütigen niederzudrücken.Er sagt aber auch, daß der Anf<strong>an</strong>gvon ihnen gemacht werden müsse, um<strong>die</strong> Trägen aufzurütteln. So macht er es auchim Korintherbriefe, wo er ebenfalls <strong>die</strong>se beidenPunkte berührt. Denn wenn er sagt:„Bemüht euch um <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>engaben“ 314 , sozeigt er damit <strong>an</strong>, daß sie selbst <strong>die</strong> Ursachefür das verschiedene Maß der Gaben sind;wenn er aber sagt: „Alles bewirkt ein undderselbe Geist, der einem jeden austeilt, wieer will“ 315 , so will er damit sagen,daß <strong>die</strong> Empfänger sich nicht überheben dürfen;überall will er bei ihnen <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheit<strong>des</strong> Stolzes heilen. Dasselbe hat er auch hierim Auge. D<strong>an</strong>n will er wieder <strong>die</strong> Niedergesunkenenaufrütteln und spricht: „Sei es <strong>die</strong>Prophetengabe nach dem Verhältnis <strong>des</strong>Glaubens.“ Wenn sie auch Gn<strong>ad</strong>e ist, so wirdsie doch nicht nur so ausgeschüttet, sondernihr Maß richtet sich nach den Empfängern.Sie fließt in demselben Maße, in welchem siedas Gefäß <strong>des</strong> Glaubens aufnahmsbereit findet.V. 7: „Sei es ein Amt, (so erfülle er seine Aufgabe)im Amte.“— Hier meint der Apostel eine Tätigkeit imallgemeinen. Denn auch das Apostelamtheißt διακονία, aber auch je<strong>des</strong> geistlicheWerk. Das Wort ist zwar auch <strong>die</strong> Bezeichnungfür ein besonderes Kirchenamt, hierwird es jedoch in seiner allgemeinen Bedeutunggenommen.„Sei es, daß einer lehrt, in der Lehre.“— Sieh, wie der Apostel <strong>die</strong> Aufgaben unterschiedslosnebenein<strong>an</strong>der setzt, das Kleinezuerst und das Große d<strong>an</strong>n. Er lehrt damitwieder dasselbe, nämlich nicht darauf stolzzu sein, sich nicht zu überheben.V. 8: „Sei es, daß einer Trost zuzusprechen versteht,im Zuspruch von Trost.“— Es ist <strong>die</strong>s eine eigene Form <strong>des</strong> Lehramtes.„Wenn ihr ein Wort <strong>des</strong> Trostes demVolke zu sagen wißt“, heißt es, „so sagtes“ 316 . D<strong>an</strong>n gibt der Apostel zu verstehen,daß es keinen großen Nutzen bringe, <strong>die</strong> Tugendauszuüben. Wenn es nicht in der gehörigenWeise geschehe, und fährt fort:„Wer (Almosen) auszuteilen hat“, (der tue es)mit Einfalt. Es genügt nämlich nicht, zu geben,sondern m<strong>an</strong> muß es auch mit Freigebigkeit tun.Das versteht der Apostel überall unter „Einfalt“.Auch <strong>die</strong> (törichten) Jungfrauen hatten Öl, aberweil sie nicht genug hatten, gingen sie überhauptd<strong>an</strong>eben. „Wer ein Vorsteheramt hat(übe es aus), mit Pflichteifer.“Denn das Vorsteheramt bloß zu bekleiden,genügt nicht.„Wer Werke der Barmherzigkeit betreibt, mitFreudigkeit.“Es ist nämlich nicht genug, Werke der Barmherzigkeitzu betreiben, sondern m<strong>an</strong> muß es314 Ebd.315 Ebd. 12. 11.243316 Apg. 13, 15.


mit freigebiger H<strong>an</strong>d und unverdrossenemGemüt tun; ja mehr noch: nicht bloß mit unverdrossenemGemüt, sondern ger<strong>ad</strong>ezu mitHeiterkeit und Freude. Denn es ist nicht dasselbe,nicht verdrossen zu sein und frö<strong>hl</strong>ichzu sein. Denselben Ged<strong>an</strong>ken führt der A-postel im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther mit großerSorgfalt aus. Um zur Freigebigkeit <strong>an</strong>zuspornen,sagt er dort: „Wer kärglich säet,wird auch kärglich ernten; wer aber unterSegensprüchen säet, wird auch unter Segensprüchenernten“ 317 . Um <strong>die</strong> Absicht (beimGeben) rechtzurichten, fügt er bei: „Nicht mitverdrossener Miene oder aus Zw<strong>an</strong>g.“ Bei<strong>des</strong>soll bei einem Werk der Barmherzigkeit vereintsein: Freigebigkeit und Freudigkeit. Warummachst du ein weinerliches Gesicht beimAlmosengeben? Was bist du betrübt beiWerken der Barmherzigkeit und bringst dichum den Lohn <strong>des</strong> guten Werkes? Wenn dudabei betrübt bist, so tust du kein Werk derBarmherzigkeit, sondern bist roh und gefü<strong>hl</strong>los;denn wenn du betrübt bist, wie k<strong>an</strong>nstdu einen, der in Trauer ist, aufmuntern? M<strong>an</strong>k<strong>an</strong>n nur wünschen, daß der Beschenkte,auch wenn ihm <strong>die</strong> Gabe mit Freudigkeitgereicht worden ist, nicht trotzdem Sc<strong>hl</strong>immeswittere. Weil nämlich den Menschennichts so un<strong>an</strong>genehm vorkommt, als von<strong>an</strong>dern empf<strong>an</strong>gen zu müssen, so wirst duden Empfänger (einer Gabe) mehr niederdrückenals aufrichten, wenn du nicht durchüberschwängliche Freundlichkeit seinenVerdacht beseitigst und dir den Anscheingibst, als seist du eher der Empfänger als derGeber. Darum heißt es: „Wer Werke derBarmherzigkeit betreibt, (tue es) mit Freudigkeit.“2.Wer ist vergrämt darüber, daß er in den Besitz<strong>des</strong> Himmelreiches kommt? Wer bleibt317 2 Kor. 9, 6 und 7.244niedergesc<strong>hl</strong>agen, wenn er Verzeihung seinerSünden erl<strong>an</strong>gt? Halte dir nicht <strong>die</strong> Geldausgabevor, sondern den Gewinn, den du durch<strong>die</strong> Ausgabe erzielst! Denn wenn der L<strong>an</strong>dm<strong>an</strong>n,der den Samen ausstreut, sich freut,obwo<strong>hl</strong> er ihn doch nur auf ein Ungewisseshin aussäet, so um so mehr der, welcher dasAckerfeld <strong>des</strong> Himmels bebaut. Wenn du so[mit Freudigkeit] nur wenig gibst, so gibst dudoch viel; <strong>an</strong>dererseits machst du, wenn dumit grämlicher Miene gibst, auch das Viele,das du etwa gibst, zu einem Wenig. So hat<strong>die</strong> arme Witwe durch ihre zwei kleinenGeldmünzen viele Talente aufgewogen; dennsie war freigebig der inneren Absicht nach.Wie k<strong>an</strong>n aber jem<strong>an</strong>d, fragst du, der selbstin äußerster Armut seufzt, und alles hingebensoll, <strong>die</strong>s mit Bereitwilligkeit tun? Fragenur <strong>die</strong> arme Witwe, und du wirst das Wiehören; du wirst erfahren, daß nicht <strong>die</strong> Armutnotwendig Engherzigkeit nach sichzieht, sondern daß der freie Wille es ist, der<strong>die</strong>se oder auch ihr Gegenteil schafft. M<strong>an</strong>k<strong>an</strong>n auch bei Armut großmütig sein undengherzig bei Reichtum. Darum verl<strong>an</strong>gt derApostel Einfalt beim Spenden, Freudigkeitbei den Werken der Barmherzigkeit undPflichteifer beim Vorsteheramte. Er will, daßwir den Bedürftigen nicht bloß mit Geld unter<strong>die</strong> Arme greifen, sondern auch durchWort und Tat, auch durch körperliche Hilfeleistungund auf alle möglichen Arten. Auf<strong>die</strong> Spendung von Geld und <strong>an</strong>dern Dingenkommt er erst zu sprechen, nachdem er vomVorsteheramte gesprochen hat, wie es sichim Lehren und Trostzusprechen äußert; denndas ist das notwendigere Amt, insofern eszur Ernährung der Seele <strong>die</strong>nt. — D<strong>an</strong>n zeigtder Apostel, wie <strong>die</strong>s alles auf <strong>die</strong> rechteWeise zur Ausführung gebracht werdenkönne, indem er auf <strong>die</strong> Mutter aller Tugenden,<strong>die</strong> Liebe, zu sprechen kommt.V. 9: „Die Liebe sei ungeheuchelt.“— Wenn du <strong>die</strong>se besitzest, wirst du nichtauf Ausgabe von Geld schauen, noch aufkörperliche Mühen, noch auf <strong>die</strong> Anstren-


gung beim Reden, noch auf <strong>die</strong> Mühe- waltung beim Kirchenamte, sondernwirst alles m<strong>an</strong>nhaft auf dich nehmen, wennes notwendig wird, dem Nächsten durch einekörperliche Dienstleistung oder mit Geldoder durch ein gutes Wort oder durch irgendetwas <strong>an</strong>deres zu Hilfe zu kommen. Wie derApostel nicht einfach das Austeilen (von Almosen)verl<strong>an</strong>gt, sondern daß es mit Einfaltgeschehe, nicht einfach <strong>die</strong> Führung einesVorsteheramtes, sondern eine mit Pflichteifer,nicht einfach Almosengeben, sondern einsolches mit Freudigkeit, so verl<strong>an</strong>gt er auchnicht einfach Liebe, sondern ungeheuchelteLiebe. Denn das ist wahre Liebe. Ist <strong>die</strong> einmalvorh<strong>an</strong>den, d<strong>an</strong>n folgt alles <strong>an</strong>dere vonselbst. Denn wer d<strong>an</strong>n Werke der Barmherzigkeitverrichtet, der verrichtet sie (vonselbst) mit Freudigkeit: denn er erweist sie jasich selbst; wer d<strong>an</strong>n ein Vorsteheramt innehat,der führt es mit Pflichteifer: denn er ist jaVorsteher für sich selbst; wer d<strong>an</strong>n Almosenausteilt, der tut <strong>die</strong>s reic<strong>hl</strong>ich: denn erschenkt ja sich selbst.Weil es aber auch eine Liebe in sc<strong>hl</strong>echtenDingen gibt, wie z. B. <strong>die</strong> Liebe der Unzüchtigenoder derer, <strong>die</strong> sich zu Gelderwerb undRaub zusammentun oder der Zechgenossenbei Gastmä<strong>hl</strong>ern und Trinkgelagen, sagt derApostel, indem er <strong>die</strong> Liebe, von der erspricht, von alledem rein hält:„Hasset heftig das Böse!“Er sagt nicht: Enthaltet euch, sondern „hasset“,und nicht einfach „hasset“, sondern„hasset heftig“. Das „ἀπο“ <strong>die</strong>nt oft zur Verstärkungeines Begriffes, wie wenn m<strong>an</strong> sagt:ἀποκαραδοκία [lebhafte Sehnsucht],ἀπεπδεχόμενοι [sehnlich Erwartete],ἀπολύτρωσις [vollständige Lösung]. Weil esnämlich viele Menschen gibt, <strong>die</strong> zwar nichtsBöses tun, aber doch das Begehren d<strong>an</strong>achhaben, darum sagt der Apostel: „Hasset heftig!“Er will nämlich auch unser <strong>In</strong>neres reingehalten haben und daß wir Feindschaft,Haß und Krieg gegen <strong>die</strong> Sünde führen.Meinet nicht, will er sagen, daß mein Gebot245„Liebet ein<strong>an</strong>der“ so weit geht, daß ihr auchmit den Sc<strong>hl</strong>echten zusammen arbeiten sollt.Nein, ger<strong>ad</strong>e das Gegenteil gebiete ich: nichtbloß von der bösen Tat, sondern auch vonder Neigung <strong>zum</strong> Bösen sich freizuhal- ten; ja, nicht bloß von der Neigung dazusich freizuhalten, sondern ihr sollt euchmit allem Abscheu davon abkehren und eshassen. Doch auch dar<strong>an</strong> allein ist es nichtgenug, sondern der Apostel will auch <strong>die</strong>Übung der Tugend haben, indem er sagt:„H<strong>an</strong>get dem Guten <strong>an</strong>!“Er sagt nicht bloß: Tuet es, sondern: haltetmit Zuneigung dar<strong>an</strong> fest. Das will der Aposteldurch das Gebot „h<strong>an</strong>get <strong>an</strong>“ <strong>zum</strong> Ausdruckbringen. So sprach auch Gott, als erM<strong>an</strong>n und Weib mitein<strong>an</strong>der verb<strong>an</strong>d: „Erwird seinem Weibe <strong>an</strong>h<strong>an</strong>gen“ 318 . D<strong>an</strong>nnennt er auch den Grund, warum wir ein<strong>an</strong>derlieben sollen:V. 10: „<strong>In</strong> der Bruderliebe seid gegenein<strong>an</strong>derrecht herzlich.“— Brüder, will er sagen, seid ihr; derselbeMutterschoß hat euch geboren. Darum seidihr ein<strong>an</strong>der Liebe schuldig. So sprach auchMoses zu den Juden in Ägypten, als sie sichmitein<strong>an</strong>der stritten: „Ihr seid ja Brüder; warumtut ihr ein<strong>an</strong>der Kränkung <strong>an</strong>?“ 319Spricht der Apostel von Fremden [Nichtchristen],so mahnt er: „Wenn es möglich ist,so haltet Frieden mit allen Menschen, so viel<strong>an</strong> euch liegt!“ H<strong>an</strong>delt es sich aber um <strong>die</strong>eigenen Leute, d<strong>an</strong>n mahnt er: „<strong>In</strong> der Bruderliebeseid gegenein<strong>an</strong>der recht herzlich!“Dort fordert er, nicht feindselig zu sein, nichtzu hassen, nicht Widerwillen zu haben; hierverl<strong>an</strong>gt er, daß wir lieben, ja nicht bloß lieben,sondern zärtlich lieben. Die Liebe, sagter, muß nicht allein ungeheuchelt sein, sondernauch innig, warm, feurig. Denn wasnützt es, wenn du zwar ohne Arg liebst, abernicht warm? Darum sagt er: „Seid gegenein<strong>an</strong>derrecht herzlich“, d. h. liebe warm, wartenicht, bis du von einem <strong>an</strong>dern Liebe er-318 Gen. 2, 24.319 Exod. 2, 13.


fährst, sondern eile du ihm entgegen undmach den Anf<strong>an</strong>g. D<strong>an</strong>n wirst du den Lohndafür in der Liebe <strong>des</strong> <strong>an</strong>dern finden.3.Nachdem der Apostel den Grund gen<strong>an</strong>nthat, weshalb wir ein<strong>an</strong>der lieben sollen, sagter uns auch, wie <strong>die</strong> Liebe beständig werdenkönne. Er fährt fort: „Kommet ein<strong>an</strong>derzuvor in Bezeugung der Hochachtung.“Auf <strong>die</strong>se Weise entsteht Liebe und bleibtbeständig. Nichts erwirbt so Freunde als dasBestreben, <strong>an</strong> Bezeugung von Hochachtungden Nächsten zu überbieten. Nicht allein <strong>die</strong>Liebe wächst d<strong>ad</strong>urch, sondern auch <strong>die</strong>Hochachtung. Das früher Gen<strong>an</strong>nte geht ausder Liebe hervor, <strong>die</strong> Liebe aus der Hochachtung,wie <strong>an</strong>dererseits wieder Hochachtungaus der Liebe erwächst. — Ferner, damit wirnicht bloß Hochachtung bezeugen, verl<strong>an</strong>gtder Apostel noch etwas Weiteres dazu:V. 11: „Im Pflichteifer seid nicht saumselig.“— Auch das bringt Liebe hervor, wenn wirmit der Bezeugung von Hochachtung auchObsorge (für den Nächsten) <strong>an</strong> den Tag legen.Nichts macht so beliebt wie Erweis vonHochachtung und Fürsorge. Es genügt nicht,zu lieben, sondern auch <strong>die</strong>ser Erweis vonFürsorge ist erforderlich; vielmehr geht <strong>die</strong>Fürsorge aus der Liebe hervor, wie ihrerseitsdas Feuer der Liebe wieder von <strong>die</strong>ser geschürtwird; es geht da eines aus dem <strong>an</strong>dernhervor. Es gibt nun aber viele, <strong>die</strong> zwar innerlichLiebe haben, aber äußerlich keineH<strong>an</strong>d rühren. Darum empfie<strong>hl</strong>t der Apostelso sehr <strong>die</strong> (werktätige) Liebe. — Und wiemachen wir es, daß wir im Pflichteifer nichtsaumselig werden?„Laßt euch durchglühen vom Geiste!“Sieh, wie der Apostel alles gesteigert habenwill! Er sagt nicht: Teilt bloß (Almosen) aus,sondern: „mit Freigebigkeit“; er sagt nicht:Führet das Vorsteheramt, sondern: „Führet246es mit Pflichteifer“; nicht: Tut Werke derBarmherzigkeit, sondern: „mit Freudigkeit“;nicht: Erweiset (ein<strong>an</strong>der) Hochachtung,sondern: „kommet darin ein<strong>an</strong>der zuvor“;nicht: Liebet ein<strong>an</strong>der, sondern: „ungeheuchelt“;nicht: Enthaltet euch <strong>des</strong> Bösen, sondern„hasset es“; nicht: Haltet euch <strong>zum</strong> Guten,sondern: „h<strong>an</strong>get ihm <strong>an</strong>“; nicht: Seidpflichteifrig, sondern „Seid nicht saumseligdarin“; nicht: Habet den Geist, sondern:„Habet den Geist glühend in euch“, d. h.damit ihr feu- rig und aufgemuntertseid. Denn wenn du das hast, was bisheraufgezä<strong>hl</strong>t worden ist, so ziehst du den Hl.Geist auf dich herab. Wenn aber <strong>die</strong>ser in dirwohnt, so wird er dich zu den vorgen<strong>an</strong>ntenDingen eifrig machen, und alles wird dir unterdem Antrieb <strong>des</strong> Hl. Geistes und der Liebeleicht werden, da du ja d<strong>an</strong>n von zweiSeiten <strong>an</strong>gefeuert bist. Siehst du nicht, wie<strong>die</strong> Stiere, wenn sie Feuer auf dem Rückensitzen haben, allen unwiderste<strong>hl</strong>ich sind? Sowirst auch du dem Teufel unwiderste<strong>hl</strong>ichsein, wenn du ein doppeltes Feuer in dir hast.„Dienet dem Herrn!“— Durch all das Vorerwähnte k<strong>an</strong>nst dunämlich Gott <strong>die</strong>nen. Was immer du für deinenBruder tust, das geht auf deinen Herrnüber, und er wird dir den Lohn so <strong>an</strong>rechnen,wie wenn er selbst das Gute empf<strong>an</strong>genhätte. Siehst du, wohin der Apostel <strong>die</strong> Ged<strong>an</strong>ken<strong>des</strong>jenigen führt, der <strong>die</strong>s tut? — Imweiteren weist er darauf hin, wie das Feuer<strong>des</strong> Hl. Geistes entfacht werde, indem ersagt:V. 12: „Freuet euch in Hoffnung, seid st<strong>an</strong>dhaftin Trübsal, beständig im Gebete!“— Das alles sind Schürmittel jenes Feuers.Nachdem der Apostel Geldspende verl<strong>an</strong>gthat und körperliche Hilfeleistung und Führung<strong>des</strong> Vorsteheramtes und Pflichteiferund Verwaltung <strong>des</strong> Lehramtes und <strong>an</strong>dereMühen, salbt er wieder den (christlichen)Kämpfer mit Öl der Liebe und dem Hl. Geistedurch das Mittel der Hoffnung. Dennnichts macht <strong>die</strong> Seele so stark und tatbereit


zu allem als eine <strong>an</strong>genehme Hoffnung. Vordem zu erhoffenden Gute nennt er noch einen<strong>an</strong>dern Kampfpreis. Weil Gegenst<strong>an</strong>dder Hoffnung zukünftige Dinge sind, sagt er;„st<strong>an</strong>dhaft in Trübsal“. Noch vor den zukünftigenDingen k<strong>an</strong>nst du im gegenwärtigenLeben ein großes Gut als Frucht aus derTrübsal ziehen: du k<strong>an</strong>nst st<strong>an</strong>dhaft und erprobtwerden. Außerdem hat er noch ein <strong>an</strong>deresHilfsmittel in Bereitschaft: „Seid beständigim Gebete.“ — Wenn dir nun <strong>die</strong>Liebe alles leicht macht, der Hl. Geist dir beisteht,<strong>die</strong> Hoffnung dir alles erleichtert, <strong>die</strong>Trübsal dich erprobt macht und bereit, alles m<strong>an</strong>nhaft zu ertragen, unddu hast d<strong>an</strong>n außerdem noch eine Wehr —<strong>die</strong> allerstärkste — , das Gebet und <strong>die</strong> Hilfe,<strong>die</strong> vom vertrauensvollen Beten kommt, waswird dir d<strong>an</strong>n noch schwer fallen <strong>an</strong> den Geboten?Gar nichts. — Siehst du, wie der A-postel den (christlichen) Kämpfer allseits mitWehr und Waffe versieht und ihm <strong>die</strong> Geboteals leicht erfüllbar vor Augen stellt? — Beachteweiter, wie er wieder den Ged<strong>an</strong>kenvom Almosengeben aufnimmt, aber nichtvom Almosengeben sc<strong>hl</strong>echthin spricht er,sondern von dem <strong>an</strong> <strong>die</strong> Heiligen. Oben, woer sagt: „Wer Werke der Barmherzigkeit betreibt,der tue es mit Freudigkeit“, will er <strong>die</strong>H<strong>an</strong>d allen geöffnet sehen; hier hingegenspricht er nur von den Gläubigen. Er fährtnämlich so fort:V. 13: „An den Nöten der Heiligen nehmt teil!“— Er sagt nicht: Stehet ihnen bei in ihren Nöten,sondern: „Nehmt teil <strong>an</strong> ihren Nöten.“Darin liegt ein Hinweis darauf, daß sie dabeimehr empf<strong>an</strong>gen als geben und daß <strong>die</strong> Sacheeigentlich ein gutes Geschäft ist. Du gibstGeld aus für sie? Sie verschaffen dir dafürVertrauen zu Gott.„Der Gastfreundschaft geht nach!“Er sagt nicht: erweist sie, sondern: „geht ihrnach“. Damit lehrt er uns, daß wir <strong>die</strong> Dürftigennicht daheim erwarten sollen, bis sie zuuns kommen, sondern daß wir ihnen nac<strong>hl</strong>aufen,sie gleichsam verfolgen sollen. So hat247Lot geh<strong>an</strong>delt, so Abraham. Den g<strong>an</strong>zen Taglauerte er auf das edle Wild, und als er eserblickte, spr<strong>an</strong>g er auf, lief ihm entgegen,fiel vor ihm zur Erde nieder und sprach:„Herr, wenn ich Gn<strong>ad</strong>e gefunden habe indeinen Augen, so gehe nicht vorüber <strong>an</strong> deinemDiener“ 320 . Er machte es nicht so wiewir, <strong>die</strong> wir, wenn wir einen fremden odereinen Bettler sehen, <strong>die</strong> Stirne runzeln undsie nicht eines Wortes würdigen; und wennwir d<strong>an</strong>n, durch ihr ständiges Flehen docherweicht, ihnen durch einen Sklaven ein kleinesGeldstück reichen lassen, so meinen wirdamit alles get<strong>an</strong> zu haben. Nicht so h<strong>an</strong>delte Abraham, sondern er übernahm<strong>die</strong> Rolle eines Bittenden und einesKnechtes, obgleich er gar nicht einmal wußte,was für Gäste er haben sollte.4.Wir dagegen wissen es g<strong>an</strong>z wo<strong>hl</strong>, daß wirChristus als Gast aufnehmen, und wir werdendarob doch nicht freundlich. Abrahamruft <strong>die</strong> Gäste herein und bittet sie fußfällig,wir dagegen benehmen uns übermütig denengegenüber, <strong>die</strong> uns bitten. Jener besorgt allesselbst (für <strong>die</strong> Bewirtung seiner Gäste) odermit Hilfe seines Weibes, wir nicht einmaldurch unsere Diener. Willst du auch dasMa<strong>hl</strong> betrachten, welches er ihnen vorsetzte,so wirst du auch darin seine Freigebigkeiterblicken; <strong>die</strong>se Freigebigkeit ist freilich nichtzu bemessen nach der Menge der vorgesetztenSpeisen, sondern nach dem Reichtum <strong>an</strong>gutem Willen. Wie viele reiche Leute mag esdamals gegeben haben; aber niem<strong>an</strong>d vonihnen tat das gleiche. Wie viele Witwen gabes in Israel; aber keine nahm den Elias gastfreundlichauf. Wie viele reiche Leute gab eszur Zeit <strong>des</strong> Elisäus; aber <strong>die</strong> Sunamitin alleinpflückte <strong>die</strong> Frucht der Gastfreundschaft.320 Gen. 18, 3.


So war auch Abraham damals der einzige. Erist außer seiner Freigebigkeit und seiner Bereitwilligkeitauch <strong>des</strong>wegen bewundernswert,weil er so h<strong>an</strong>delte, ohne daß er wußte,wer <strong>die</strong> wären, <strong>die</strong> bei ihm einkehrten. —Frage also auch du nicht l<strong>an</strong>ge hin und her(wer der Arme sei; du nimmst (ihn) ja in jedemFalle um Christi willen auf. Wenn duimmer bis auf den Grund gehen willst,k<strong>an</strong>nst du oft <strong>an</strong> einem Menschen vorübergehen,der es wirklich ver<strong>die</strong>nt, und gehstdabei <strong>des</strong> Lohnes verlustig. Solltest du aberauch einmal einen Menschen gastfreundlichaufnehmen, der es nicht ver<strong>die</strong>nt, so trifftdich <strong>des</strong>wegen kein Vorwurf, sondern dubekommst auch deinen Lohn. „Wer einenPropheten im Namen eines Propheten aufnimmt,wird den Lohn eines Propheten empf<strong>an</strong>gen“321 . Wer aber infolge <strong>die</strong>ses un<strong>an</strong>gebrachtenHin- und Herfragens <strong>an</strong> einemMenschen, der es sehr ver<strong>die</strong>nt, vorüberläuft,der wird auch seine Strafe finden. Frage darumnicht l<strong>an</strong>ge hin und her über <strong>die</strong>Lebensverhältnisse und <strong>die</strong> Verg<strong>an</strong>genheit(der Fremden)! Es ist doch höchst un<strong>an</strong>gebracht,für ein Stück Brot das g<strong>an</strong>ze Lebendurchzuprüfen. Denn gesetzt auch, der Bittstellersei ein Mörder oder ein Räuber odersonst etwas, scheint er dir denn <strong>des</strong>wegennicht doch eines Stückes Brot wert zu sein?Läßt ja dein Herr für ihn <strong>die</strong> Sonne aufgehen;du aber hältst ihn der täglichen Nahrung fürunwert? Ich gehe sogar noch weiter: Auchwenn du sicher wüßtest, daß er ungezä<strong>hl</strong>terVerbrechen schuldig wäre, so wäre das fürdich keine Entschuldigung, ihm <strong>die</strong> täglicheNahrung zu entziehen. Du bist ja ein Diener<strong>des</strong>sen, der da spricht: „Ihr wisset nicht, wesGeistes ihr seid“ 322 . Du bist ja ein Hausgenosse<strong>des</strong>sen, der für <strong>die</strong> liebevolle Sorge trug,welche ihn steinigen wollten, ja sogar für <strong>die</strong>,welche ihn kreuzigten. Wende mir nicht ein,daß er einem <strong>an</strong>dern das Leben genommenhat! Wenn er es auch dir nehmen wollte,dürftest du ihn nicht hungern lassen. Du bistja ein Schüler <strong>des</strong>sen, der sogar das Heil derersehnsüchtig wünschte, <strong>die</strong> ihn kreuzigten,wie er noch am Kreuze sprach: „Vater, verzeih’ihnen, denn sie wissen nicht, was sietun“ 323 . Du bist ja ein Diener <strong>des</strong>sen, der denheilte, der ihn sc<strong>hl</strong>ug, der den belohnte, derihn noch am Kreuze schmähte. Wo findetsich etwas Ähnliches? Anf<strong>an</strong>gs schmähtenihn beide Schächer; aber gleichwo<strong>hl</strong> eröffneteer einem von ihnen das Para<strong>die</strong>s. Er weintüber <strong>die</strong>, welche ihm das Leben nehmenwollten; er zittert und bebt, wie er den Verrätersieht, nicht weil er selbst gekreuzigt werden,sondern weil <strong>die</strong>ser zugrunde gehensoll. Er zittert, weil er den Strick voraussiehtund <strong>die</strong> Strafe, <strong>die</strong> darauf folgt. Obwo<strong>hl</strong> er<strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>echtigkeit (<strong>des</strong> Judas) k<strong>an</strong>nte, ertruger ihn doch bis zur letzten Stunde; er stießihn nicht von sich, sondern küßte noch denVerräter. Dein Herr küßt den, drückt seineLippen auf den Mund <strong>des</strong>sen, der im Begriffesteht, sein kostbares Blut zu vergießen! Unddu würdigst einen armen Menschen nichteinmal eines Stückes Brot? Achtestdu denn gar nicht <strong>des</strong> Gesetzes, das Christusgegeben hat? Er hat uns ja doch ein Beispielgegeben, daß wir uns nicht bloß von denArmen, sondern auch von denen nicht abwendendürfen, <strong>die</strong> uns in den Tod bringen.Sage mir nicht, der und jener habe dir <strong>die</strong>sund das <strong>an</strong>get<strong>an</strong>, sondern denke dar<strong>an</strong>, wasChristus sogar am Kreuze get<strong>an</strong>, daß er denVerräter sogar noch durch den Kuß, mit demer ihn seinen Feinden auszuliefern im Begriffest<strong>an</strong>d, bessern wollte! Sieh nur, wie eindringlicher ihm zuspricht: „Judas, mit einemKuß verrätst du <strong>des</strong> Menschen Sohn?“ 324Wen hätte ein solcher Ton nicht weich gestimmt,nicht gerührt? Welches wilde Tier,welches Herz von Stein nicht? Jenen Elendenaber rührte er nicht. — Sag’ darum nicht: Derhat den und den ersc<strong>hl</strong>agen, und darum willich nichts wissen von ihm. Wenn er auch ge-321 Matth. 10, 41.322 Luk. 9, 55.248323 Ebd. 23, 34.324 Luk. 22, 48.


gen dich das Schwert zücken, wenn er dirmit seiner H<strong>an</strong>d <strong>an</strong> <strong>die</strong> Gurgel greifen sollte,so küsse noch <strong>die</strong>selbe H<strong>an</strong>d! Hat ja auchChristus den Mund geküßt, der seinen Todverursachte.5.Hasse darum auch du nicht den, der dirnachstellt, sondern beweine, bemitleide ihn;denn ein solcher Mensch ist in der Tat bemitleidens-und beweinenswert. Wir sind ja Angehörige<strong>des</strong>sen, der seinen Verräter geküßthat — ich k<strong>an</strong>n nicht aufhören, <strong>die</strong>s zu wiederholen— und <strong>des</strong>sen Worte dabei nochs<strong>an</strong>fter waren als der Kuß. Er spricht nämlichnicht zu ihm: „Du Elender, du Schuft, duVerräter! So vergiltst du uns <strong>die</strong> so großenWo<strong>hl</strong>taten?“ Sondern wie (redet er ihn <strong>an</strong>)?„Judas!“ Er gibt ihm seinen ehrlichen Namen,so wie einer zu ihm sprechen würde,der ihn bemitleidet und ihm gütlich zuredet,nicht wie einer, der zürnt. Auch sagt er nicht:„Deinen Lehrer, deinen Herrn, deinen Wo<strong>hl</strong>täter(verrätst du)“, sondern: „den Sohn <strong>des</strong>Menschen“. Wäre er auch nicht dein Lehrer,dein Herr, k<strong>an</strong>nst du denn den verraten, derso herzlich, so aufrichtig zu dir ist, daß er dirzur selben Zeit, da du ihn verrätst, einen Kußgibt, einen Kuß, wie ein solcher als Zeichen<strong>des</strong> Verrates <strong>die</strong>nen soll. — Gepriesen seistdu, o Herr! Welches Beispiel derDemut, welches Beispiel der Geduld hast duuns gegeben! — So benahm er sich gegenJudas; und benahm er sich nicht ebenso gegen<strong>die</strong>, welche mit Prügeln und Fackeln <strong>an</strong>ihn her<strong>an</strong>kamen? Was gibt es S<strong>an</strong>fteres als<strong>die</strong> Worte, mit denen er sie <strong>an</strong>redete? Erkonnte sie alle in einem Nu vernichten, aberer tat es nicht, sondern redete sie nur mahnend<strong>an</strong>: „Was seid ihr ausgezogen wie gegeneinen Räuber mit Schwertern und Knütteln?“325 Und als sie rücklings zu Boden gestürztbesinnungslos dalagen, übergab er sichihnen wiederum freiwillig und sah zu, wiesie Fesseln um seine heiligen Hände legten,obzwar er jeden (der sich ihm nahte) hätte in<strong>die</strong> Flucht sc<strong>hl</strong>agen und zu Boden schmetternkönnen.Und nach einem solchen Beispiel (vonS<strong>an</strong>ftmut) bist du noch grob gegen den Armen.Wäre er auch ungezä<strong>hl</strong>ter Verbrechenschuldig, so muß doch seine Not und seinHunger ein Herz rühren, das nicht g<strong>an</strong>z verhärtetist. Du aber stehst da in tierischer Roheitund bist den Löwen ähnlich <strong>an</strong> Wut. Übrigensmachen sich auch <strong>die</strong> Löwen nicht <strong>an</strong>Leichname. Du aber siehst <strong>die</strong>sen armen,vom Unglück zermürbten Menschen vor dir,du gibst dem Daliegenden noch einen Fußtritt,du zerfleischest seinen Leib noch durchSchmähreden, du machst ihm ein Wetter,sc<strong>hl</strong>immer als das ärgste Wetter draußen, duläßt ihn, da er sich in den Hafen flüchtenwill, <strong>an</strong> einer Klippe zerschellen und bereitestihm einen Schiffbruch, der ärger ist alsein solcher auf dem Meere. Wie k<strong>an</strong>nst dunoch zu Gott sprechen: „Erbarme dich meiner!“Wie k<strong>an</strong>nst du noch um Sündenvergebungbeten, der du einen Menschen, dernicht (gegen dich) gesündigt hat, schmähst,ihn für seinen Hunger und seine so großeNot strafst und alle Raubtiere in Schattenstellst durch deine Roheit? Denn <strong>die</strong>se erfassen<strong>die</strong> ihnen (von der Natur) als Nahrungbestimmte Beute nur durch Hunger gezwungen.Du aber zehrst deinen Bruder auf, ohnedazu getrieben oder gezwungen zu sein; dubeißest und zerfleischest ihn, zwar nicht mitden Zähnen, aber mit Reden, <strong>die</strong> mehrschmerzen als Bisse. Wie k<strong>an</strong>nst dunur das heilige Opferbrot empf<strong>an</strong>gen miteiner von Menschenblut geröteten Zunge?Wie k<strong>an</strong>nst du nur den Friedenskuß gebenmit einem von Haß geschwollenen Munde?Wie k<strong>an</strong>nst du auch nur leibliche Speise ge-249325 Matth. 25, 55.


nießen mit so viel aufgespeichertem Gift? Durichtest <strong>die</strong> Armut nicht auf; warum drückstdu sie auch noch nieder? Du hebst den amBoden Liegenden nicht empor; warum gibstdu ihm noch einen Fußtritt? Du nimmst dasLeid nicht weg; warum fügst du noch neuesdazu? Du gibst kein Geld; was schmähst dunoch mit Worten? Hast du nicht gehört, wasfür eine Strafe <strong>die</strong> treffen wird, welche <strong>die</strong>Armen nicht speisen? Welches Verdammungsurteilüber sie ausgesprochen ist?„Weichet in das ewige Feuer, das dem Teufelund seinen Engeln bereitet ist“ 326 . Wenn nun<strong>die</strong> schon ein solches Verdammungsurteiltrifft, welche <strong>die</strong> Armen nicht speisen, welcherStrafe müssen <strong>die</strong> gewärtig sein, welchesie außerdem noch beschimpfen? Was füreine Züchtigung werden sie zu erleiden haben,was für eine Hölle?Damit wir uns nun nicht so schweres Unheilzuziehen, wollen wir, so l<strong>an</strong>ge wir es in derH<strong>an</strong>d haben, <strong>die</strong>se sc<strong>hl</strong>imme Kr<strong>an</strong>kheit (<strong>an</strong>uns) heilen und der Zunge einen Zügel <strong>an</strong>legen.Wir wollen (<strong>die</strong> Armen) nicht bloß nichtbeschimpfen, sondern sie vielmehr aufmunterndurch Wort und Tat, damit wir uns(Gottes) Erbarmen in reichem Maße ver<strong>die</strong>nenund der uns verheißenen Güter teilhaftigwerden. Dies möge uns allen beschert seindurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, durch den und mit dem Ehresei dem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste inEwigkeit. Amen. DREIUNDZWANZIGSTEKap. XII V. 14—21.1.HOMILIE.Kap. XII V. 14—21.V. 14: „Segnet <strong>die</strong>, welche euch verfolgen; segnet,und fluchet nicht!“Nachdem der Apostel seine Zuhörer darüberbelehrt hat, wie sie sich gegenein<strong>an</strong>derverhalten sollen, und sorgsam <strong>die</strong> innere Einigkeitgefestigt hat, führt er sie im folgendenhinaus in den Kampf (gegen <strong>die</strong> Welt)und macht ihnen denselben auf das hin vielleichter. Denn gera<strong>des</strong>o wie einer, der in seineneigenen Angelegenheiten keine Ordnungzu halten versteht, viel schwerer Fremderecht führen wird, ebenso wird (umgekehrt)einer, der sich mit seinen eigenen Leuten gutzu benehmen weiß, um so leichter das richtigeVerhalten Fremden gegenüber treffen.Diesen Weg hält darum auch <strong>Paulus</strong> ein undspricht von dem letzteren nach dem ersterenin <strong>die</strong>sen Worten: „Segnet <strong>die</strong>, welche euchverfolgen.“ Er sagt nicht: „Gedenkt es ihnennicht mit“, „rächet euch nicht“, sondern erverl<strong>an</strong>gt weit mehr als das. Denn das ersteremacht <strong>zum</strong> Weisen, das letztere <strong>zum</strong> Engel.Auch sagt er: „Segnet“ und fügt hinzu: „undfluchet nicht“, damit wir nicht etwa das eineund das <strong>an</strong>dere tun, sondern bloß das eine.Unsere Verfolger können uns sogar <strong>die</strong> Vermittlerreichen Lohnes werden. Ja, wenn duacht hast, k<strong>an</strong>nst du dir gar zweierlei Lohnver<strong>die</strong>nen. Den einen verschafft dir der Verfolgereben d<strong>ad</strong>urch, daß er dich verfolgt,den <strong>an</strong>dern k<strong>an</strong>nst du dir selbst verschaffend<strong>ad</strong>urch, daß du jenen segnest; damit legstdu nämlich am klarsten deine Liebe zu Christus<strong>an</strong> den Tag. Denn wie einerseits derjenige,welcher seinem Verfolger flucht, damitzeigt, daß er sich nicht ger<strong>ad</strong>e sehr darüberfreut, für Christus <strong>die</strong>s leiden zu dürfen, sobeweist derjenige, welcher ihn dafür nochsegnet, eine große Liebe. Schimpfe also deinenVerfolger nicht, damit du aus der Verfolgungum so größeren Lohn ziehest undzugleich jenem zu erkennen gibst, daß duaus eigenem guten Willen, nicht aus Zw<strong>an</strong>g<strong>die</strong> Verfolgung erträgst, daß du sieals Freudenfest, nicht als Mißgeschick betrachtest.Dartun sagt auch Christus: „Freueteuch, wenn <strong>die</strong> Leute alles Böse fälsc<strong>hl</strong>ich326 Matth. 25, 41.250


wider euch reden!“ 327 Darum kehrten <strong>die</strong>Apostel zurück voll Freude darüber, daß sienicht nur sc<strong>hl</strong>imme Worte (gegen sich) hörenmußten, sondern sogar gegeißelt wurden.Außerdem hast du davon noch einen <strong>an</strong>dernnicht geringen Gewinn; du strafst nämlichd<strong>ad</strong>urch deine Widersacher und belehrst siedurch <strong>die</strong> Tat, daß du einem <strong>an</strong>dern Lebenentgegenpilgerst. Denn wenn er sieht, daß dudich freust und daß du durch das Unrecht-Leiden gewissermaßen Flügel bekommst, sowird er aus <strong>die</strong>sen Tatsachen klar erkennen,daß du noch <strong>an</strong>dere größere Hoffnungenhast, <strong>die</strong> über das gegenwärtige Leben hinausgehen.Wie k<strong>an</strong>n aber dein Verfolger zurÜberzeugung kommen, daß du ein <strong>an</strong>deresLeben erwartest, wenn du das nicht tust,sondern weinst und jammerst? Ja, du k<strong>an</strong>nstauf <strong>die</strong>se Weise den <strong>an</strong>dern außerdem nochauf den rechten Weg bringen; wenn er nämlichsieht, daß du über seine Beleidigungendich nicht kränkst, sondern sogar noch segnest,wird er mit der Verfolgung aufhören.Sieh also, wieviel Gutes dir daraus hervorgeht!Du hast größeren Lohn und geringereMühe, der <strong>an</strong>dere läßt ab von seiner Verfolgung,Gott wird geehrt, und für den Verirrtenwird dein weises Benehmen eine Mahnungzur Frömmigkeit. Darum will der A-postel, daß wir nicht allein <strong>an</strong> solchen, <strong>die</strong>uns schmähen, sondern auch <strong>an</strong> solchen, <strong>die</strong>uns verfolgen und tätlich mißh<strong>an</strong>deln, mitdem Gegenteil Vergeltung üben. Vorläufighat er befo<strong>hl</strong>en, sie zu segnen; im weiterenermahnt er, ihnen auch durch Werke wo<strong>hl</strong>zutun.V. 15: „Sich freuen mit Frö<strong>hl</strong>ichen und weinenmit Weinenden.“Weil es auch möglich ist, zu segnen undnicht zu fluchen, ohne daß es aus Liebe geschieht,will der Apostel, daß wir von Liebedurchglüht seien. Darum fügt er noch bei,daß wir nicht bloß segnen, sondern auch mittrauern, mitleiden sollen, wenn wir327 Matth. 5, 11.251unsere Widersacher etwa von einem Unglückbetroffen sehen. — G<strong>an</strong>z recht, wen<strong>des</strong>t duein, befie<strong>hl</strong>t der Apostel mitzutrauern mitden Trauernden; aber warum heißt er denndas <strong>an</strong>dere? Das ist ja doch nichts Großes. —Und doch gehört ein edelmütigeres Denkendazu, sich zu freuen mit den Frö<strong>hl</strong>ichen, als<strong>zum</strong> Weinen mit den Weinenden. Zu <strong>die</strong>semletzteren leitet <strong>die</strong> Natur selbst <strong>an</strong>; niem<strong>an</strong>dist so steinhart, daß er nicht fremdem Unglückeine Träne widmete. Dagegen gehörteine edelmütige Seele dazu, den Glücklichennicht bloß nicht zu beneiden, sondern sichmit ihm auch noch zu freuen. Darum setztauch der Apostel <strong>die</strong>ses vor<strong>an</strong>. Nichts führt(<strong>die</strong> Menschen) so sehr in Liebe zusammen,als wenn sie Freud und Leid mitein<strong>an</strong>derteilen. Wenn du darum einem Unglück auchferne stehst, so sc<strong>hl</strong>ieße dich doch nicht ausvom Mitfü<strong>hl</strong>en; denn wenn dein Mitmensc<strong>hl</strong>eidet, so bist du schuldig, <strong>an</strong> seinem Unglückteilzunehmen. Teile mit ihm <strong>die</strong> Tränen,damit du ihm sein schwerem Herz etwaserleichterst! Teile mit ihm <strong>die</strong> Freuden,damit du der Frö<strong>hl</strong>ichkeit tiefere Wurzel undder Liebe festeren Halt gebest! Damit wirstdu auch dir selbst nützen, weil du nämlichdurch das Mitweinen barmherzig gestimmtwirst und durch <strong>die</strong> Mitfreude dich freimachst von Neid und Mißgunst.Beachte übrigens, wie <strong>Paulus</strong> jeden Anstoßzu vermeiden sucht! Er sagt nicht: „Hilf demUnglück ab“, damit m<strong>an</strong> nicht sagen könne,das sei oft ein Ding der Unmöglichkeit, sonderner befie<strong>hl</strong>t das Leichtere und was in unsererMacht liegt. Wenn du dem Unglücknicht abhelfen k<strong>an</strong>nst, so schenke ihm deineTränen, und du hast ihm <strong>zum</strong> guten Teil abgeholfen;und wenn du das Glück sonst nichtmehren k<strong>an</strong>nst, so leg ihm deine eigeneFreude darüber bei, und du wirst es um eingutes Stück gemehrt haben. Darum mahntder Apostel, daß wir nicht bloß nicht neidischseien, sondern uns auch mitfreuen;denn das ist viel mehr als nicht neidisch sein.V. 16: „(Dies geschieht,) wenn ihr gegenein<strong>an</strong>der


<strong>die</strong> gleiche Gesinnung hegt wenn ihr nicht nachHohem strebt, sondern den Niedrigen eure Teilnahmeerweist.“ 2.Nochmals wendet der Apostel sein besonderesAugenmerk der Demut zu, von der erausgeg<strong>an</strong>gen ist. Es war nämlich sehr wahrscheinlich,daß <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> sich etwas einbildetensowo<strong>hl</strong> auf ihre St<strong>ad</strong>t wie auch aufm<strong>an</strong>ches <strong>an</strong>dere. Darum geht er beständig<strong>die</strong>ser Kr<strong>an</strong>kheit zu Leibe und dämpft denStolz. Nichts bringt nämlich am Leibe derKirche solche Spaltungen hervor wie derHochmut. — Was heißt aber das „gleicheGesinnung gegenein<strong>an</strong>der hegen“? Dakommt z. B. ein Armer in dein Haus; werdemit ihm gleicher Gesinnung; bilde dir nichtsmehr ein auf deinen Reichtum! <strong>In</strong> Christusgibt es keinen Reichen und keinen Armen.Schäme dich seiner nicht wegen der Ärmlichkeitseiner äußeren Hülle, sondern nimmihn wo<strong>hl</strong> auf wegen seines Glaubens im <strong>In</strong>nern.Wenn du einen Traurigen siehst, halteihn nicht für unwert, ihn zu trösten! Wenndu einen Glücklichen siehst, so unterlaß esnicht, seine Freude zu teilen und dich mitihm zu freuen! Was du für dich fü<strong>hl</strong>st (in dergleichen Lage), das fü<strong>hl</strong>e auch für den <strong>an</strong>dern;das heißt es, „<strong>die</strong> gleiche Gesinnunggegenein<strong>an</strong>der hegen“. Z. B. du hältst dichselbst für einen bedeutenden Menschen? Halteauch den <strong>an</strong>dern dafür! Du mutmaßestvon dem <strong>an</strong>dern, er sei ein geringer und unbedeutenderMensch? Nun, schätze auchdich so ein und laß alle ungleiche Beh<strong>an</strong>dlungbeiseite! Wie ist <strong>die</strong>s aber möglich?Wenn du deinen Hochmut läßt. Darum fährtder Apostel auch fort: „Wenn ihr nicht nachHohem strebt, sondern den Niedrigen eureTeilnahme erweist“; d. h. laß dich herab zuihrer Niedrigkeit, verkehre mit ihnen, kommin ihre Gesellschaft! Nicht allein deiner innerenGesinnung nach laß dich herab zu ihnen,252sondern leiste ihnen auch Hilfe, reiche ihnendeine H<strong>an</strong>d, nicht durch Vermittlung <strong>an</strong>derer,sondern in eigener Person; sei zu ihnenwie ein Vater zu seinem Kinde, wie dasHaupt <strong>zum</strong> Körper! So heißt es auch <strong>an</strong> einer<strong>an</strong>dern Stelle: „Den Gef<strong>an</strong>genen (seid) wieMitgef<strong>an</strong>gene“ 328 . Unter „Niedrigen“ meinthier der Apostel nicht „Demütige“, sondernLeute niederen und verachteten St<strong>an</strong><strong>des</strong>.„Haltet euch nicht selbst für klug“; d.h. glaubt nicht, daß ihr euch selbst genügt!An einer <strong>an</strong>dern Stelle sagt <strong>die</strong> Schrift: „Wehedenen, <strong>die</strong> weise sind vor sich selbst undverständig in ihren eigenen Augen!“ 329 Darumgeht der Apostel wieder dem Hochmutzu Leibe und drückt den Stolz und <strong>die</strong> Einbildungnieder. Nichts macht nämlich sohochmütig und trennt einen so sehr von den<strong>an</strong>dern als <strong>die</strong> Meinung, m<strong>an</strong> sei sich selbstgenug. Darum hat es Gott so eingerichtet,daß wir einer <strong>des</strong> <strong>an</strong>dern bedürfen. Bist duverständig, so wirst du einsehen, daß du <strong>des</strong><strong>an</strong>dern bedarfst; meinst du aber, niem<strong>an</strong>denzu brauchen, so bist du törichter und kraftloserals alle. Ein solcher beraubt sich selbstjeglicher Hilfe und wird niemals weder Zurechtweisungnoch auch Verzeihung erfahren.Auch Gott reizt er durch seinen Hochmut<strong>zum</strong> Zorne und wird in za<strong>hl</strong>reiche (<strong>an</strong>dere)Sünden fallen. Es geschieht, ja, es geschiehtsogar oft, daß ein recht gescheiterMensch nicht erkennt, was zu geschehen hat,während ein weniger gescheiter das Richtigefindet. So war es der Fall bei Moses und seinemSchwiegervater, bei Saul und seinemSohne, bei Isaak und Rebekka. Sei also nichtder Meinung, daß du dir etwas vergibst,wenn du einen <strong>an</strong>dern brauchst! Das erhöhtdich sogar, es vermehrt deine Kraft, es gibtdir mehr Ansehen und mehr Sicherheit.V. 17: „Wenn ihr niem<strong>an</strong>dem Böses mit Bösemzurückza<strong>hl</strong>t.“— Wenn du es <strong>an</strong> einem <strong>an</strong>dern t<strong>ad</strong>elnswertfin<strong>des</strong>t, daß er dir Nachstellungen bereitet,328 Hebr. 13, . 3329 Is. 5, 21.


warum setzest du dich demselben Vorwurfaus? Wenn jener sc<strong>hl</strong>echt geh<strong>an</strong>delt hat, warumhütest du dich nicht vor derselben Ü-bereilung? Beachte hier auch, wie der Apostelkeinen Unterschied macht, sondern dasGebot g<strong>an</strong>z allgemein gibt! Er sagt nicht:„Za<strong>hl</strong>e dem Gläubigen nicht Böses zurück“,sondern: „Niem<strong>an</strong>dem“, es mag ein Hei<strong>des</strong>ein oder ein Gottloser oder was immer füreiner.„Habt eine edle Gesinnung allen Menschen gegenüber“,V. 18: „indem ihr, wenn es möglich ist, so weit esauf euch <strong>an</strong>kommt Frieden haltet mit allen Menschen!“D. h. „es leuchte euer Licht vorden Menschen“ 330 , nicht aus Sucht nach eitlerEhre, sondern um nicht böswilligen Menscheneine H<strong>an</strong>dhabe gegen uns zu bieten. Darum sagtder Apostel <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle: „Seid nicht<strong>zum</strong> Anstoß weder den Juden noch den Heidennoch der Kirche Gottes!“ 331 Treffend fügt der A-postel <strong>die</strong> Einschränkung bei: „Wenn es möglichist.“ Es gibt nämlich Fälle, wo es nicht möglichist, z. B. wenn es sich um <strong>die</strong> Gottesfurcht h<strong>an</strong>delt,wenn es den Kampf für solche gilt, denen einUnrecht geschehen ist. Was Wunder, daß <strong>die</strong>sunter fremden Menschen vorkommt, da der Apostel<strong>die</strong>se Notwendigkeit sogar bei M<strong>an</strong>n und Weib<strong>an</strong>nimmt, wenn er sagt: „Will aber der Ungläubigesich scheiden, so mag er sich scheiden“ 332 .Der Sinn der Apostelworte ist folgender: Vondeiner Seite tue deine Schuldigkeit und gib niem<strong>an</strong>demAnlaß zu Kampf und Streit, weder einemJuden noch einem Heiden; wenn du aber <strong>die</strong>Gottesfurcht Sch<strong>ad</strong>en leiden siehst, d<strong>an</strong>n setze <strong>die</strong>Eintracht nicht über <strong>die</strong> Wahrheit, sondern stehm<strong>an</strong>nhaft für <strong>die</strong>se ein bis <strong>zum</strong> Tode! Aber auchin <strong>die</strong>sem Falle hege keine Kampfgesinnung,wende dich (von deinem Mitmenschen) nicht innerlichab, sondern führe den Kampf nur äußerlich!Das heißt es: „Haltet Frieden, soweit es aufeuch <strong>an</strong>kommt, mit allen Menschen!“ Hält der<strong>an</strong>dere keinen Frieden, so laß doch wenigstens330 Matth. 5, 16.331 1 Kor. 10, 32.332 Ebd. 7, 15.253deine Seele nicht einnehmen von dem Sturme,sondern sei ihm freundlich gesinnt, aber, wie icheben sagte, werde nie <strong>zum</strong> Verräter <strong>an</strong> der Wahrheit!V. 19: „Rächet euch, Geliebte, nicht selbst, sonderngebet Raum dem Zorne; denn es steht geschrieben:‚Mein ist das Rächeramt, ich will vergelten,spricht der Herr.’“— Welchem Zorne? Dem Zorne Gottes. D<strong>an</strong>ämlich der Beleidigte meist darnach lechzt,seinen Durst nach Rache gestillt zu sehen,räumt ihm der Apostel <strong>die</strong>se Möglichkeit invollstem Maße ein. Wenn er selbst sich nichträcht, so wird Gott sein Rächer sein. Gestatteihm also, dazu zu kommen. Dasheißt es: „Gebet Raum dem Zorne.“3.Hierauf führt der Apostel ein Zeugnis ausder Schrift <strong>an</strong>, um den Zuhörer mehr <strong>an</strong>zueifern;und nachdem er ihn durch dasselbegewonnen hat, verl<strong>an</strong>gt er von ihm noch höhereTugend, indem er fortfährt:V. 20: „Wenn dein Feind hungert, speise ihn,wenn er dürstet, tränke ihn! Tust du <strong>die</strong>s, sowirst du feurige Ko<strong>hl</strong>en auf sein Haupt sammeln.“V. 21: „Laß dich nicht überwinden von dem Bösen,sondern überwinde im Guten das Böse!“— Was rede ich davon, will er sagen, daßm<strong>an</strong> Frieden halten soll? Sogar (dem Feinde)Wo<strong>hl</strong>taten zu erweisen, befe<strong>hl</strong>e ich. „Speiseund tränke ihn“, heißt es. D<strong>an</strong>n setzt der A-postel, im Bewußtsein, etwas Schweres undGroßes befo<strong>hl</strong>en zu haben, hinzu: „Tust du<strong>die</strong>s, so wirst du feurige Ko<strong>hl</strong>en auf seinHaupt sammeln.“ Das sagt er in der Absicht,den einen durch Furcht niederzuhalten, undden <strong>an</strong>dern durch Hoffnung auf Wiedervergeltung<strong>an</strong>zueifern. Ist nämlich der Beleidigteschwach (<strong>an</strong> Tugend), so ist er nicht sosehr auf sein eigenes Wo<strong>hl</strong> bedacht, als aufRache <strong>an</strong> seinem Beleidiger; denn nichts ist


so süß, als den Feind gestraft zu sehen. Wasjener also verl<strong>an</strong>gt, das gewährt ihm der A-postel zunächst. Wie er ihm nun das Gift abgezogenhat, ermahnt er ihn zu höherer Tugend,indem er spricht: „Laß dich nicht ü-berwinden von dem Bösen!“ Denn er wußtewo<strong>hl</strong>, daß der Feind, und wäre er auch einwil<strong>des</strong> Tier, nicht mehr Feind bleibt, wenn ergespeist worden ist. Und wäre der Beleidigteauch noch so rachgierig, so wird er dochnicht mehr nach Rache <strong>an</strong> jenem verl<strong>an</strong>gen,wenn er ihn speist und tränkt. Der Apostelist nun seiner Sache so sicher, daß er nichteinfachhin <strong>die</strong> Rache <strong>an</strong>droht, sondern siesogar bis ins kleinste ausmalt. Er sagt nämlichnicht: „Es wird dir Rache werden“, sondern:„Du wirst feurige Ko<strong>hl</strong>en auf seinHaupt sammeln.“ D<strong>an</strong>n ruft er ihm weiterzu: „Laß dich nicht überwinden von dembösen sondern überwinde im Guten das Böse!“Das sagt er, um damit leise <strong>an</strong>zudeuten,daß m<strong>an</strong> auch kein Rachegefü<strong>hl</strong> insich aufkommen lassen dürfe; denn nur <strong>an</strong>das Böse noch denken, heißt schon überwundensein von dem Bösen. Aber <strong>die</strong>ssprach der Apostel <strong>an</strong>fänglich nicht aus, daer <strong>die</strong> Gelegenheit dafür noch nicht für gekommenhielt. Nachdem er nun den Zorn<strong>des</strong> Zuhörers abgelenkt hat, fährt er fort:„Besiege im Guten das Böse“, weil auch dasein Sieg ist. Auch der Faustkämpfer wirdd<strong>an</strong>n erst Sieger, nicht wenn er sich zu Bodenbeugt und <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>äge auffängt, sondernwenn er sich erhebt und seinen Gegenkämpferden Stoß in <strong>die</strong> leere Luft tun läßt. Auf<strong>die</strong>se Weise empfängt er selbst den Sc<strong>hl</strong>agnicht und macht den g<strong>an</strong>zen Stoß <strong>des</strong> Gegnersunwirksam. Dasselbe ist der Fall bei denBeleidigungen. Wenn du zurückschmähst, sobist du unterlegen, und zwar nicht einemMenschen, sondern, was schimpflicher ist, dubist von der niedrigen Leidenschaft <strong>des</strong> Zornesbesiegt. Wenn du aber Schweigst, so bistdu Sieger und feierst einen mühelosen Triumph;du hast den Beifall Tausender fürdich, welche <strong>die</strong> Falschheit der Schmähung254verurteilen. Denn wer widerspricht, erwecktdurch seinen Widerspruch den Anschein, alsfü<strong>hl</strong>e er sich getroffen; wer sich aber getroffenfü<strong>hl</strong>t, erweckt den Verdacht, sich <strong>des</strong>senbewußt zu sein, was ihm vorgeworfen wird.Lachst du aber dazu, so hast du durch <strong>die</strong>sesLachen das ungünstige Urteil über dich beseitigt.Und willst du eine sichere Probe von(der Wahrheit) <strong>des</strong> Gesagten haben, so frageden Feind selbst, ob er sich mehr darüberärgert, wenn du in Hitze gerätst und <strong>die</strong> Beleidigungzurückgibst, oder wenn du zu seinerBeleidigung lachst, und du wirst zu hörenbekommen, daß er sich über das letzteremehr ärgert. Es freut ihn nämlich nicht sosehr, nicht beschimpft zu werden, als es ihnkränkt, dich nicht in den Harnisch bringenzu können. Siehst du nicht, daß in Wut gerateneMenschen, der Sc<strong>hl</strong>äge, <strong>die</strong> sie selbstbekommen, nicht achtend, sich mit aller Wutauf den Gegner stürzen und sc<strong>hl</strong>immer alswilde Eber dem Nächsten Wunden beizubringensuchen, einzig darauf bedacht, jamehr darauf bedacht, als sich selbst vor Verwundungzu schützen? Wenn du deinenGegner nun ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>sen beraubst, was eram sehnlichsten wünscht, d<strong>an</strong>n hast du seineng<strong>an</strong>zen Angriff unwirksam gemacht,du hast ihn klein gemacht, du hastden Beweis geliefert, daß er ein verächtlicherMensch ist, mehr ein Bube als ein M<strong>an</strong>n; dirhast du den Ruf eines weisen Menschen erworben,jenem dagegen den Ruf, eine bösartigeBestie zu sein, <strong>an</strong>gehängt. So wollen wiruns also benehmen, wenn wir Sc<strong>hl</strong>äge bekommen;wenn wir Lust haben, zurückzusc<strong>hl</strong>agen,so wollen wir es doch nicht tun.Willst du aber deinem Gegner einen besonderenSc<strong>hl</strong>ag versetzen, so reiche ihm auch<strong>die</strong> <strong>an</strong>dere W<strong>an</strong>ge dar, und du bringst ihmdamit unzä<strong>hl</strong>ige Wunden bei. Denn <strong>die</strong> Leute,welche dir Beifall zollen und dich bewundern,sind ihm schrecklicher, als steinigtensie ihn. Und mehr noch als das wird ihn seineigenes Gewissen verurteilen; das ist für ihn<strong>die</strong> größte Strafe, und er wird sich beschämt


davon machen, wie wenn ihm der ärgsteSchimpf widerfahren wäre. Wenn du abernach Ehre bei der Menge geizest, auch <strong>die</strong>wird dir in hohem Maße zuteil werden. Wirhaben ja <strong>an</strong> und für sich ein gewisses Mitgefü<strong>hl</strong>mit solchen, <strong>die</strong> eine Kränkung erleiden;wenn wir sie aber nicht zurücksc<strong>hl</strong>agen sehen,sondern daß sie sich vielmehr hingeben,so fü<strong>hl</strong>en wir für sie nicht bloß Mitleid, sondernauch Bewunderung.4.Laut aufseufzen muß ich bei dem Ged<strong>an</strong>ken,daß wir durch gehöriges Befolgen der GeboteChristi imst<strong>an</strong>de wären, sowo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Güter<strong>des</strong> Diesseits zu behalten, als auch <strong>die</strong> <strong>des</strong>Jenseits zu erl<strong>an</strong>gen, daß wir aber <strong>die</strong> einenwie <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern verlieren, wenn wir auf seineWorte nicht hören und nichtige Dinge imKopfe haben, Christus hat ja seine Gebote zuunserm Nutz und Frommen gegeben unduns darüber belehrt, was uns Ruhm und wasuns Sch<strong>an</strong>de bringt. Auch <strong>die</strong>ses Gebot hätteer gewiß nicht gegeben, wenn er seine Jüngerdurch Befolgung <strong>des</strong>selben lächerlich machenwürde. Nein! Ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen hat eres so gegeben, weil es <strong>die</strong> höchste Achtungauch bei den Menschen einträgt, wenn m<strong>an</strong>nicht eine Schmähung mit einer <strong>an</strong>dern erwidert,wenn m<strong>an</strong> nicht Unrecht tut, trotzdemm<strong>an</strong> Unrecht erleidet, wenn aber dasschon rühmlich ist, so um so mehr, wennm<strong>an</strong> Schmähreden mit gütigen Worten, Beleidigungenmit Lobeserhebungen,Feindseligkeiten mit Wo<strong>hl</strong>taten erwidert.Darum hat Christus <strong>die</strong>ses Gebot gegeben. Ergeht ja schonend um mit seinen Jüngern, under weiß gar wo<strong>hl</strong>, was groß und was kleinmacht. Wenn er nun so schonungsvoll umgehtund das weiß, was h<strong>ad</strong>erst du mit ihmund willst einen <strong>an</strong>dern Weg gehen? Den<strong>an</strong>dern überwinden, indem m<strong>an</strong> ihm bösmitspielt, das ist eines von den Geboten <strong>des</strong>255Teufels. Auf <strong>die</strong>se Art wurden alle WettkämpferSieger bei den Olympischen Spielen,<strong>die</strong> ja dem Teufel geweiht waren. Aber aufdem Kampffelde Christi werden <strong>die</strong> Kronennicht nach <strong>die</strong>sem Gesetze ausgeteilt, sondernnach einem g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>dern; da gilt dasGesetz, daß der, welcher Sc<strong>hl</strong>äge empfängt,nicht der, welcher Sc<strong>hl</strong>äge austeilt, den Siegespreiserl<strong>an</strong>gt. Das ist sein Kampffeld. Auf<strong>die</strong>sem gelten überhaupt g<strong>an</strong>z <strong>an</strong>dereKampfregeln. Nicht der Sieg ist dort so sehrGegenst<strong>an</strong>d der Bewunderung als <strong>die</strong> Art<strong>des</strong> Sieges. Was <strong>an</strong>derwärts als Niederlagegilt, führt hier den Sieg herbei. Gottes Krafttritt hier hervor, um den Himmel wird hiergekämpft, eine Schaubühne der Engel ist daaufgerichtet.Ich weiß, daß ihr jetzt g<strong>an</strong>z durchglüht seid,daß ihr weicher geworden seid als Wachs.Kehrt ihr aber nach Hause zurück, so vergessetihr wieder auf alles. Das ist es, was michschmerzt, daß wir <strong>die</strong> Predigt nicht ins Werkumsetzen; und doch könnten wir daraus dengrößten Gewinn haben. Denn wenn wirS<strong>an</strong>ftmut <strong>an</strong> uns sehen lassen, sind wir gefeitgegen jeden Angriff allen gegenüber; keinMensch k<strong>an</strong>n uns sch<strong>ad</strong>en, kein kleiner undkein großer. Schmäht dich jem<strong>an</strong>d, so sch<strong>ad</strong>eter nicht dir, sondern sich selbst am meisten;tut er dir eine Kränkung <strong>an</strong>, so steht derSch<strong>ad</strong>en wieder auf seiner Seite. Siehst dunicht, wie bei Gericht <strong>die</strong> <strong>an</strong> ihrer Ehre Beleidigtenehrenvoll dastehen und mit aller Freiheitsprechen dürfen, während ihre Beleidigerden Kopf hängen lassen voll Beschämungund Furcht? Doch was nenne ich nurSchmähreden und Ehrenbeleidigungen? Sollteauch einer sein Schwert gegen dich wetzen,sollte er dir mit der H<strong>an</strong>d nach der Gurgelgreifen, dir wird er nicht sch<strong>ad</strong>en, abersich selbst wird er umbringen. Zeuge dafürsei jener erste, der durch <strong>die</strong> H<strong>an</strong>dseines Bruders fiel. Er lief ein in den ruhigenHafen (der Ewigkeit), im Besitz unsterblichenRuhmes. Der <strong>an</strong>dere dagegen mußte ein Lebenführen sc<strong>hl</strong>immer als der Tod, seufzend


und zitternd, und mußte <strong>an</strong> seinem Leibe dasBr<strong>an</strong>dmal seiner Untat herumtragen. Nichtihm wollen wir ähnlich werden, sonderndem <strong>an</strong>dern! Denn wer Unrecht leidet, derbeherbergt nicht <strong>die</strong> Sünde in seinem Heim.Er ist ja nicht ihr Urheber, sondern sie ist ihmvon <strong>an</strong>derswo zugekommen; er hat durchseine Geduld nur Gutes get<strong>an</strong>. Wer dagegensündhaft geh<strong>an</strong>delt hat, der hat eine Quelle<strong>des</strong> Unheils daheim. Lag nicht Joseph im Gefängnisse,während das unzüchtige Weib,welches ihm nachstellte, in einem glänzenden,prachtvollen Hause wohnte? Und doch,wer von beiden wolltest du lieber sein? Denkedabei noch gar nicht <strong>an</strong> <strong>die</strong> zukünftigeBelohnung (<strong>des</strong> Joseph), sondern vergleichenur den gegenwärtigen Zust<strong>an</strong>d <strong>des</strong> einenund der <strong>an</strong>dern, und du wirst tausendmallieber mit Joseph das Gefängnis als mit derEhebrecherin den Palast teilen wollen. Dennwenn du einen Blick in <strong>die</strong> Seele der beidentun könntest, so wür<strong>des</strong>t du sehen, wie <strong>die</strong><strong>des</strong> Joseph voller Frieden und Heiterkeit, <strong>die</strong>der Ägypterin dagegen voll Angst undScham und Betrübnis und Unruhe undFurcht ist. Mag sie auch scheinbar Siegeringeblieben sein, ein wirklicher Sieg war esnicht.Nun wissen wir es, und wir wollen unswappnen gegen das Erleiden von Unrecht,um frei zu bleiben von gegenwärtigem Leidenund der zukünftigen Güter teilhaftig zuwerden, <strong>die</strong> uns allen werden mögen durch<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres Herrn JesusChristus, durch den und mit dem Ehre seidem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste in alleEwigkeit. Amen. VIERUNDZWANZIGSTEKap. XIII, V. 1—10.1.Kap. XIII, V. 1—10.HOMILIE.256V. 1: „Jegliche Seele hat sich den obrigkeitlichenGewalten unterzuordnen.Auf <strong>die</strong>sen Gegenst<strong>an</strong>d legt der Apostelauch in <strong>an</strong>dern <strong>Briefe</strong>n viel Gewicht; wie erdas Hausgesinde den Herren, so ordnet er<strong>die</strong> Untert<strong>an</strong>en den Herrschern unter. Er tut<strong>die</strong>s, um zu zeigen, daß Christus seine Gesetzenicht <strong>zum</strong> Umsturz der staatlichen Ordnung,sondern zu ihrer Verbesserung gegebenhabe, und um uns zu belehren, daß wirnicht überflüssige und unnütze Kämpfe gegen<strong>die</strong>selbe führen sollen. Es genügen jaschon <strong>die</strong> Anfeindungen, denen wir derWahrheit wegen ausgesetzt sind, und es istnicht nötig, noch überflüssige und unnützeGefahren heraufzubeschwören. — Beachteübrigens, wie passend der Apostel <strong>die</strong> Redeauf <strong>die</strong>sen Gegenst<strong>an</strong>d bringt! Vorher hat ereine so überaus hohe Tugendforderung gestellt;er hat seine Zuhörer in das rechte Verhältniszu Freunden und Feinden gesetzt; erhat sie gelehrt, wie sie Glücklichen und Unglücklichenund Notleidenden, kurz allen,von Nutzen werden können; er hat sie zueinem W<strong>an</strong>del <strong>an</strong>geleitet, der Engeln ziemt;er hat den Zorn ausgetrieben und den Stolzgedämpft; er hat ihre Gesinnung in jeder Beziehunggeläutert; und nun erst kommt ermit der Ermahnung zu <strong>die</strong>ser Pflicht. Dennwenn m<strong>an</strong> Beleidigern mit dem Gegenteilheimza<strong>hl</strong>en soll, so ist es doch gewiß nochviel mehr am Platz, solchen Gehorsam zuleisten, <strong>die</strong> einem eine Wo<strong>hl</strong>tat erweisen.Diesen Grund bringt übrigens der Apostelerst am Ende der g<strong>an</strong>zen Ermahnung. Zunächstbringt er nicht <strong>die</strong> Gründe vor, <strong>die</strong> ichmeine, sondern solche, <strong>die</strong> es einfach alsPflicht hinstellen, so zu h<strong>an</strong>deln. Er weistferner darauf hin, daß <strong>die</strong>ses Gebot für allegilt, auch für Priester und Mönche, nicht bloßfür Weltleute; und um <strong>die</strong>sen Hinweis rechthervorzuheben, setzt er ihn <strong>an</strong> <strong>die</strong> Spitze:„Jegliche Seele hat sich den obrigkeitlichenGewalten unterzuordnen“ — ob duein Apostel bist oder ein Ev<strong>an</strong>gelist oder einProphet oder was immer; denn <strong>die</strong>se Unter-


ordnung tut der Frömmigkeit keinen Abbruch.Der Apostel sagt auch nicht einfach:„hat zu gehorchen“, sondern: „hat sich unterzuordnen“.— Die erste Begründung <strong>die</strong>sesGesetzes leitet der Apostel — und Gläubigengegenüber ist <strong>die</strong>ser Grund gewiß amPlatze — von der Anordnung Gottes her:„Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott.“— Was sagst du da? Jede obrigkeitliche Personist also von Gott eingesetzt? So meine ichdas nicht, will der Apostel sagen; ich sprechejetzt nicht von jeder einzelnen obrigkeitlichenPerson, sondern von der Obrigkeit im allgemeinen.Daß es überhaupt obrigkeitliche Personen,daß es Herrscher und Untert<strong>an</strong>en gibt,daß nicht alles drunter und drüber geht, daß<strong>die</strong> Völker nicht wie Meereswogen hin- undhergetrieben werden, das, sag’ ich, ist einWerk der Weisheit Gottes. Darum sagt ernicht: „Denn es gibt keine obrigkeitliche Personaußer von Gott“, sondern von der Einrichtungspricht er, wenn er sagt: „Denn esgibt keine Obrigkeit außer von Gott.“„Die Obrigkeiten aber, <strong>die</strong> bestehen, sind vonGott <strong>an</strong>geordnet.“— So will auch jener Weise, wenn er sagt:„Von Gott ist das Weib dem M<strong>an</strong>ne verbunden“333 , sagen, daß Gott <strong>die</strong> Ehe eingesetzthat, nicht daß er jeden, der mit einem Weibebeisammen ist, selbst mit ihm verbindet. Wirsehen ja viele, <strong>die</strong> sündhafterweise und dochnach Ehegesetz mitein<strong>an</strong>der beisammen sind,und können <strong>die</strong>s doch wo<strong>hl</strong> nicht Gott zuschreiben.Der Weise will <strong>an</strong> jener Stelle nurdasselbe sagen, was Christus einmal gesagthat: „Der von Anf<strong>an</strong>g <strong>die</strong> Menschen schuf,hat sie als M<strong>an</strong>n und Weib erschaffen“, undweiter: „Darum wird ein M<strong>an</strong>n Vater undMutter verlassen und seinem Weibe <strong>an</strong>h<strong>an</strong>gen“334 . Weil Gleichheit im R<strong>an</strong>ge oft Anlaßzu Streit gibt, so hat Gott verschiedeneObrigkeits- und Untertänigkeitsverhältnissefestgelegt, wie: zwischen M<strong>an</strong>nund Weib, zwischen Sohn und Vater, zwi-333 Sprichw. 19, 14.334 Matth. 16, 4.257schen Greis und Jüngling, zwischen Sklaveund Freiem, zwischen Herrscher und Untert<strong>an</strong>,zwischen Lehrer und Schüler. WasWunder, daß das in der mensc<strong>hl</strong>ichen Gesellschaftso ist, da doch Gott dasselbe beimmensc<strong>hl</strong>ichen Körper so eingerichtet hat! Erhat <strong>an</strong> demselben nicht allen Gliedern dengleichen R<strong>an</strong>g gegeben, sondern das eineweniger vornehm, das <strong>an</strong>dere vornehmergeschaffen. Auch bei den Tieren k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong><strong>die</strong>selbe Beobachtung machen, so bei denBienen, bei den Kr<strong>an</strong>ichen und bei den wildenSchafherden. Sogar das Meer entbehrt<strong>die</strong>ser Ordnung nicht, sondern auch hierordnet sich bei m<strong>an</strong>chen Gattungen von Fischen<strong>die</strong> Menge einem einzigen Leitfischunter und unternimmt so weite Streifzüge.Nachdem nun der Apostel gesagt hat, woher<strong>die</strong> Obrigkeiten seien, fährt er fort:V. 2: „Mithin widersetzt sich jeder Empörer gegen<strong>die</strong> obrigkeitliche Gewalt der AnordnungGottes.“— Siehst du, wo er <strong>die</strong>se Einrichtung herleitet,womit er schreckt und wie er zeigt, daßsie eine Pflicht auferlege? Damit nämlich <strong>die</strong>Gläubigen nicht sagen können: Du erniedrigstuns ja, du machst uns verächtlich, wenndu uns, <strong>die</strong> wir einmal <strong>die</strong> Herrlichkeit <strong>des</strong>Himmels genießen sollen, obrigkeitlichenPersonen untertänig machst, macht er ihnenklar, daß er sie durch sein Gebot nicht denobrigkeitlichen Personen, sondern wiederumGott untertänig macht; denn ihm gehorchteigentlich der, welcher sich den Obrigkeitenunterordnet. Er sagt es aber nicht so, daß derGott gehorcht, welcher den obrigkeitlichenPersonen Gehorsam leistet, sondern erschreckt, indem er von der gegenteiligen Annahmeausgeht, und bringt so den Ged<strong>an</strong>kenschärfer <strong>zum</strong> Ausdruck, wenn er sagt, daß,wer der Obrigkeit nicht gehorcht, sich gegenGott empört, der <strong>die</strong>ses Gebot gegeben hat.Auch um <strong>die</strong>sen Ged<strong>an</strong>ken immer deutlichhervorzuheben, bemüht sich der Apostel,daß wir der Obrigkeit den Gehorsam nichtnach unserem Gefallen leisten dürfen, son-


dern daß <strong>die</strong>s unsere Pflicht ist. Auf <strong>die</strong>se Weise wollte er <strong>die</strong> ungläubigen obrigkeitlichenPersonen für das Christentum und<strong>die</strong> Christen für den Gehorsam gewinnen. Esging nämlich damals ein Gerücht herum,welches den Aposteln Aufruhr und Neuerungssuchtnachsagte und daß ihr g<strong>an</strong>zesTun und Reden auf einen Umsturz der staatlichenEinrichtungen abziele. Wenn er nunklar macht, daß der gemeinsame Herr all denSeinen <strong>die</strong>ses Gebot gegeben habe, so bringter einerseits <strong>die</strong> <strong>zum</strong> Schweigen, welche <strong>die</strong>Apostel als Neuerer verschrien, <strong>an</strong>dererseitskommt er d<strong>ad</strong>urch in <strong>die</strong> Lage, mit allemFreimut sich über den christlichen Glaubenaussprechen zu können.2.258Schäme dich also nicht, will er sagen, einersolchen Unterordnung! Denn Gott hat <strong>die</strong>sesGebot gegeben, und er wird es strenge rächen<strong>an</strong> den Verächtern <strong>des</strong>selben. Wenn duungehorsam bist, so wird dich nicht eine gewöhnliche,sondern eine recht schwere Strafetreffen. Da wird keine Widerrede gelten. A-ber auch von selten der Menschen wirst du<strong>die</strong> ärgste Strafe zu erleiden haben, und niem<strong>an</strong>dwird auf deiner Seite stehen. AuchGott erzürnst du in noch höherem Maße. Dasalles deutet der Apostel <strong>an</strong> mit den Worten:„Die sich widersetzen, sprechen sich damit selbstihr Urteil.“D<strong>an</strong>n aber, nach der Erregung von Furcht,legt der Apostel den Vorteil der Sache darund sucht durch (<strong>an</strong>dere) Gründe zu überzeugen,indem er so spricht:V. 3: „Denn <strong>die</strong> Obrigkeiten sind nicht einSchreckgespenst für <strong>die</strong> guten Taten, sondern für<strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>immen.“Nachdem der Apostel gegen seine Zuhörereinen schweren Hieb geführt und sie mitEntsetzen erfüllt hat, richtet er sie wieder auf;wie ein weiser Arzt reicht er ihnen eine linderndeArznei, indem er zu ihrem Trostetragt: Was hast du Furcht? Was zitterst du?Droht sie etwa dem, der recht h<strong>an</strong>delt? Ist sieetwa ein Schrecken für den, der sich um <strong>die</strong>Tugend bemüht? <strong>In</strong> <strong>die</strong>sem Sinne fährt erfort:„Du willst nicht Furcht haben müssen vor derObrigkeit? (Gut.) d<strong>an</strong>n tue das Gute,und du wirst (sogar) Lob ernten von ihr.“— Siehst du, wie der Apostel seinen Zuhörerfür <strong>die</strong> Obrigkeit einzunehmen sucht, indemer ihm vor Augen hält, daß sie ihm (gegebenenfalls)sogar Lob spende. Siehst du, wie er<strong>die</strong> üble Laune gegen sie zu beseitigen sucht?V. 4: „Denn sie ist Gottes Dienerin zu deinemeigenen Besten.“— So weit, will er sagen, ist sie entfernt, fürdich ein Schreckgespenst sein zu wollen, daßsie dich sogar lobt; so weit ist sie entfernt, dirhinderlich sein zu wollen, daß sie sogar mitdir zusammenarbeitet. Wenn du demnachvon ihr Lob und Hilfe hast, warum willst dudich ihr nicht unterordnen? Auch sonstmacht sie dir <strong>die</strong> Übung der Tugend leichter,indem sie <strong>die</strong> Bösen bestraft und <strong>die</strong> Gutenbelohnt und ehrt und auf <strong>die</strong>se Weise zusammenarbeitetmit dem Willen Gottes; darumnennt er sie <strong>des</strong>sen Dienerin. Sieh nur!Ich rate Mäßigkeit <strong>an</strong>, und sie sagt dasselbevermittelst der Gesetze; ich ermahne, m<strong>an</strong>solle nicht geizig sein und nicht rauben, undsie sitzt über <strong>die</strong>se Dinge zu Gericht. Folglichist sie unsere Mitarbeiterin und unsere Helferinund ist von Gott zu <strong>die</strong>sem Zwecke ges<strong>an</strong>dt.Aus zweierlei Gründen also muß sieuns ehrwürdig sein: weil sie ihre Sendungvon Gott hat und weil sie sie zu <strong>die</strong>sem Zweckehat.„Treibst du aber Sc<strong>hl</strong>immes, d<strong>an</strong>n fürchte dich!“— Also nicht <strong>die</strong> Obrigkeit gibt Ver<strong>an</strong>lassungzur Furcht, sondern unsere eigene Sc<strong>hl</strong>echtigkeit.„Denn nicht umsonst trägt sie das Schwert.“— Siehst du, wie der Apostel sie darstellt involler Waffenrüstung, wie eine Kriegerin,<strong>zum</strong> Schrecken der Sünder?


„Denn Gottes Dienerin ist sie zur rächendenVergeltung am Übeltäter.“— Damit du nicht zurückschreckest, wenndu wieder von Strafe und Rache und Schwerthörst, wiederholt der Apostel, daß <strong>die</strong> ObrigkeitGottes Gesetz zur Aus- führung bringe. Was liegt dar<strong>an</strong>, daßsie selbst <strong>die</strong>s nicht weiß? Gott hat es doch soeingerichtet. Wenn sie nun in Ausübung ihresStraf- und Rächeramtes Gottes Dienerinist, indem sie <strong>die</strong> Tugend schützt und dasLaster verjagt, wie Gott es will, warum widersetzestdu dich ihr, da sie doch so vielGutes ver<strong>an</strong>laßt und dein eigenes Wo<strong>hl</strong> fördert?Gibt es doch viele Leute, <strong>die</strong> früher wegender Obrigkeit <strong>die</strong> Tugend übten, späteraber aus Gottesfurcht dazu gel<strong>an</strong>gten. Aufweniger feinfü<strong>hl</strong>ige Menschen macht nämlichdas Zukünftige nicht solchen Eindruckwie das Gegenwärtige. Da sie also <strong>die</strong> Seelevieler durch Furcht und durch Anerkennungenvorbereitet, so daß sie für <strong>die</strong> christlicheLehre empfänglicher werden, wird ihr mitRecht der Titel „Gottes Dienerin“ gegeben.V. 5: „Deswegen ist es eine Notwendigkeit, sichunterzuordnen, nicht bloß wegen der Bestrafung,sondern auch wegen <strong>des</strong> Gewissens.“— Was heißt: „nicht bloß wegen der Bestrafung“?Nicht bloß, will der Apostel sagen,weil du dich Gott widersetzest, wenn du dichnicht unterwirfst, und weil du dir große Übelzuziehst sowo<strong>hl</strong> von Seiten Gottes als auchvon Seiten der Obrigkeit, sondern auch weil<strong>die</strong>se dir große Wo<strong>hl</strong>taten erweist, indem siefür Ruhe und Ordnung im Staate sorgt. Dennunzä<strong>hl</strong>ig viel Gutes kommt den Gemeinwesenvon den Obrigkeiten. Schafft m<strong>an</strong> sie ab,so ist es um alles geschehen. Weder St<strong>ad</strong>tnoch L<strong>an</strong>d, weder privates noch öffentlichesLeben noch irgend etwas <strong>an</strong>deres k<strong>an</strong>n bestehen,sondern alles geht d<strong>an</strong>n drunter unddrüber, <strong>die</strong> Stärkeren fressen <strong>die</strong> Schwächerenauf. Wenn darum auf den Ungehorsamauch nicht Strafe folgte, so müßtest du dichdoch auch unterordnen, willst du nicht alsein gewissenloser, gegen seinen Wo<strong>hl</strong>täterund<strong>an</strong>kbarer Mensch erscheinen.V. 6: Darum heißt es auch: Za<strong>hl</strong>t Steuern! Dennsie sind Gottes Beamte und haben eben damit ihreschwere Mühe.“— Ohne im einzelnen <strong>die</strong> Wo<strong>hl</strong>taten aufzuzä<strong>hl</strong>en,<strong>die</strong> den Gemeinwesen von den Obrigkeitenkommen, wie Ordnungund Ruhe sowie <strong>die</strong> Dienste der Soldatenund Beamten, beleuchtet er das G<strong>an</strong>ze einzigund allein durch Hinweis auf folgende Tatsache:Daß dir von der Obrigkeit Wo<strong>hl</strong>tatenzuteil werden, dafür, sagt er, gibst du selbstd<strong>ad</strong>urch Zeugnis, daß du ihr Beza<strong>hl</strong>ung leistest.Beachte dabei <strong>die</strong> kluge Beweisführung<strong>des</strong> <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong>! Was als Last und als etwasUn<strong>an</strong>genehmes empfunden wird, das Abgabenwesen,ger<strong>ad</strong>e das benützt er als einenBeweisgrund für <strong>die</strong> obrigkeitliche Obsorge.Warum, fragt er, entrichten wir dem KönigeAbgaben? Nicht für seine Obsorge? Leistenwir ihm nicht Beza<strong>hl</strong>ung für seine Sorge alsObrigkeit? Wir würden sie ihm nicht leisten,wenn wir nicht von Anf<strong>an</strong>g her wüßten, daßwir einen Vorteil von <strong>die</strong>sem Vorsteheramthaben. So aber ist es seit alters allgemeineÜberzeugung, daß <strong>die</strong> Obrigkeiten von unsden Unterhalt beziehen müssen, weil sie beider Obsorge um <strong>die</strong> gemeinsamen Angelegenheitensich um ihre privaten nicht kümmernkönnen und ihre g<strong>an</strong>ze Aufmerksamkeitdem zuwenden, was zur Sicherung unserer<strong>In</strong>teressen <strong>die</strong>nt. Nach <strong>die</strong>ser Abschweifungzu einem Beweisgrund aus demtäglichen Leben kehrt der Apostel wieder zuseiner früheren Begründung zurück. Für denGläubigen hatte nämlich <strong>die</strong>se mehr Zugkraft.Er weist nochmals darauf hin, daß dasnach Gottes Willen so ist, und damit sc<strong>hl</strong>ießter seine Ermahnung (zu gehorchen), indemer sagt: „Denn sie sind Gottes Beamte.“3.259


D<strong>an</strong>n weist er auf das Mühevolle ihres Berufeshin und fährt fort: „Sie haben eben damitihre schwere Mühe.“ Das ist ihr Lebensberuf,das ist ihre Sorge, daß du Frieden genießest.Darum befie<strong>hl</strong>t der Apostel in einem <strong>an</strong>dern<strong>Briefe</strong> nicht bloß, sich der Obrigkeit unterzuordnen,sondern auch für sie zu beten. <strong>In</strong>demer <strong>an</strong> jener Stelle auf den Vorteil für das öffentlicheLeben hinweist, fährt er fort: „Damitwir in allem ein ruhiges und friedlichesLeben führen“ 335 . Denn nicht wenig tragensie zur Aufrechthaltung der Ordnung im irdischenLeben d<strong>ad</strong>urch bei, daß sie wehrhaftbereitstehen, <strong>die</strong> Feinde abwehren,<strong>die</strong> Aufrührer in den Städten niederhaltenund <strong>die</strong> Streitigkeiten sc<strong>hl</strong>ichten. M<strong>an</strong> wendemir nicht ein, daß m<strong>an</strong>cher Beamte seineGewalt mißbrauche, sondern m<strong>an</strong> schauevielmehr auf <strong>die</strong> Aufrechthaltung der Ordnungim allgemeinen, und m<strong>an</strong> wird <strong>die</strong>Weisheit erkennen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser g<strong>an</strong>zen Einrichtungliegt.V. 7 und 8: „Stattet also allen ihre Schuldigkeitenab: Wem Steuer (gebührt), dem Steuer, wemZoll, dem Zoll, wem (Ehr)furcht, dem(Ehr)furcht, wem Ehrenbezeugung, dem Ehrenbezeugung!Bleibet niem<strong>an</strong>dem etwas schuldig,außer daß ihr ein<strong>an</strong>der liebet!“— Der Apostel hält sich bei den obrigkeitlichenPersonen noch weiter auf; er befie<strong>hl</strong>t,ihnen nicht bloß Dingliches zu leisten, sondernauch Ehrenbezeugung und Furcht. <strong>In</strong>welchem Sinne sagt er aber oben: „Du willstnicht Furcht haben müssen vor der Obrigkeit?D<strong>an</strong>n tue das Gute“, und hier: „Stattetab Furcht“? Hier meint der Apostel Ehrfurcht,nicht <strong>die</strong> Furcht eines bösen Gewissens;<strong>die</strong>se hatte er oben im Auge. Er sagtauch nicht: „erweiset“, sondern: „stattet ab“,und er setzt hinzu: „ihre Schuldigkeiten“. Esh<strong>an</strong>delt sich nämlich hierbei nicht um eineLeistung aus gutem Willen, sondern um einesolche aus Pflicht; wenn du sie nicht erstattest,so trifft dich <strong>die</strong> Strafe <strong>des</strong> Und<strong>an</strong>kba-ren. Glaube nur ja nicht, daß dir <strong>an</strong> deinerWürde als gebildeter Mensch ein Abbruchoder ein Sch<strong>ad</strong>en geschieht, wenn du dichbeim Vorübergehen einer Amtsperson erhebstoder das Haupt entblößest! Denn wennder Apostel <strong>die</strong>ses Gebot damals mit Bezugauf <strong>die</strong> heidnische Obrigkeit gab, so muß<strong>die</strong>s jetzt noch viel mehr für <strong>die</strong> Gläubigengelten. Wenn du aber einwen<strong>des</strong>t, du seiestzu höheren Dingen bestimmt, so laß dir sagen,daß <strong>die</strong>se Zeit für dich jetzt noch nichtgekommen ist; jetzt bist du noch ein Fremdlingund ein Pilger. Es wird ja <strong>die</strong> Zeit kommen,wo du <strong>an</strong> Herrlichkeit alle überstra<strong>hl</strong>enwirst. Jetzt „ist dein Leben verborgen mitChristus in Gott. Wenn Christus erscheinenwird, da werdet auch ihr mit ihm erscheinenin Herrlichkeit“ 336 . Suche dahernicht in <strong>die</strong>sem vergänglichen Leben <strong>die</strong>Vergeltung, sondern wenn du mit Furcht voreiner obrigkeitlichen Person stehen mußt, soglaube nicht, daß <strong>die</strong>s deines Adels unwürdigsei! Denn Gott will es so haben, damit <strong>die</strong>Obrigkeit, <strong>die</strong> von ihm eingesetzt ist, ihr Ansehenbehaupte. Denn wenn schon einer, dersich nichts Sc<strong>hl</strong>echtes bewußt ist, mit Furchtvor dem Richter steht, wieviel mehr wirdeiner vor ihm b<strong>an</strong>gen, der Übeltaten beg<strong>an</strong>genhat! Und du selbst wirst <strong>des</strong>wegen nurnoch größere Ehre haben; denn jem<strong>an</strong>dem<strong>die</strong> (gebührende) Ehre erweisen, das tut dereigenen Ehre keinen Abbruch, wo<strong>hl</strong> aber sieihm nicht erweisen. Auch <strong>die</strong> obrigkeitlichePerson wird dir nur um so größere Bewunderungzollen und wird darum deinen Herrnpreisen, wenn sie auch Heide wäre. — „Bleibetniem<strong>an</strong>dem etwas schuldig, als daß ihrein<strong>an</strong>der liebet!“ — Wieder nimmt der Apostelseine Zuflucht zur Mutter aller Tugenden,zur Lehrerin alles <strong>des</strong>sen, was bisher gesagtwurde, zur Schöpferin jeglicher Tugend. Ersagt von ihr, daß sie ebenfalls eine pflichtgemäßeLeistung sei, jedoch nicht in demselbenSinne wie Steuer und Zoll, sondern eine dau-335 1 Tim. 2, 2.260336 Kol. 8, 3 und 4.


ernde. Er will, daß sie als eine solche betrachtetwerde, <strong>die</strong> niemals g<strong>an</strong>z abgestattet werdenk<strong>an</strong>n, oder vielmehr er will, daß sie zwarbeständig abgestattet werde, aber nie zu Endegehen dürfe, sondern immer eine Schuldigkeitbleiben müsse. Sie sei eine Schuld, <strong>an</strong>der m<strong>an</strong> zwar immer za<strong>hl</strong>en müsse, <strong>die</strong> abertrotzdem immer eine Verpflichtung bleibe.Nachdem er ausgesprochen hat, wie m<strong>an</strong>lieben müsse, macht er klar, welcher Vorteildaraus hervorgehe, indem er sagt:„Denn wer den <strong>an</strong>dern liebt, der hat das Gesetzvoll erfüllt.“— Glaube nicht etwa, daß <strong>die</strong>s nur eine Sache<strong>des</strong> guten Willens sei; nein, auch <strong>die</strong> Liebeist eine Schuldigkeit. Du bist deinem BruderLiebe schuldig auf Grund der geistigenVerw<strong>an</strong>dtschaft; ja, nicht bloß auf Grund <strong>die</strong>ser,sondern auch weil wir zuein<strong>an</strong>der Gliedersind. Wenn <strong>die</strong> Liebe uns verläßt, d<strong>an</strong>ngeht alles ausein<strong>an</strong>der. Liebe also deinenBruder! Wenn du aus <strong>die</strong>ser Liebeso großen Gewinn ziehst, wie der ist, daß dudas g<strong>an</strong>ze Gesetz erfüllst, so schul<strong>des</strong>t duihm <strong>die</strong> Liebe, da du ja dabei von ihm einenVorteil hast.V. 9: „Denn das Gebot: Du sollst nicht ehebrechen,du sollst nicht ste<strong>hl</strong>en, du sollst nicht falschesZeugnis geben, und wenn es sonst noch einGebot gibt, das gipfelt in dem Satze: Du sollstdeinen Nächsten lieben wie dich selbst!“— Der Apostel sagt nicht einfach: „es wirderfüllt“, sondern: „es gipfelt“, d. h. je<strong>des</strong> geboteneWerk ist der Hauptsache nach und inKürze darin enthalten. Denn Anf<strong>an</strong>g undEnde der Tugend ist <strong>die</strong> Liebe; <strong>die</strong>se hat siezur Wurzel, zur Grundlage, <strong>zum</strong> Gipfel.Wenn sie demnach Anf<strong>an</strong>g und Vollendung(<strong>des</strong> gesamten Tugendlebens) ist, was ist ihrgleich?4.Aber nicht bloß Liebe sc<strong>hl</strong>echtweg verl<strong>an</strong>gtGott von uns, sondern hoch gesteigerte. Ersagt nämlich nicht bloß: „Liebe deinenNächsten“, sondern: „wie dich selbst“. <strong>In</strong><strong>die</strong>sem Sinne sagt auch Christus, daß dasGesetz und <strong>die</strong> Propheten <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Liebeh<strong>an</strong>gen 337 . Er unterscheidet zwei Arten vonLiebe; schau nur, in welcher Reihenfolge ersie <strong>an</strong>führt! Er sagt: „Das erste Gebot ist <strong>die</strong>ses:Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“,d<strong>an</strong>n fügt er das zweite dar<strong>an</strong>; er übergehtes nicht etwa mit Stillschweigen, sondernspricht es ausdrücklich aus: „Das <strong>an</strong>dereist <strong>die</strong>sem gleich: Du sollst deinen Nächstenlieben wie dich selbst?“ Was kommt einersolchen Liebe zu uns Menschen, einer solchenMilde gleich? Während der Abst<strong>an</strong>dzwischen uns und ihm unermeßlich ist, setzter doch <strong>die</strong> Liebe zu ihm gleich hinter <strong>die</strong> zuuns selbst und sagt sogar, daß <strong>die</strong>se jenergleich sei. Er setzt fast dasselbe Maß für beideArten von Liebe fest; von der Liebe zuihm sagt er: „Aus g<strong>an</strong>zem Herzen und ausg<strong>an</strong>zer Seele“, von der zu unserem Nächsten:„wie dich selbst“. Und <strong>Paulus</strong> sagt, daß ohne<strong>die</strong> letztere auch <strong>die</strong> erstere nicht viel nütze.So wie wir, wenn wir jem<strong>an</strong>den lieben, sagen:„Wenn du jenen liebst, so liebstdu auch mich“, so drückt Christus dasselbeaus, wenn er sagt: „Diese ist jener ähnlich“;und zu Petrus spricht er: „Wenn du mic<strong>hl</strong>iebst, so weide meine Schafe“ 338 .V. 10: „Die Liebe <strong>zum</strong> Nächsten verübt kein Unrecht:<strong>die</strong> Liebe ist also <strong>des</strong> Gesetzes Erfüllung.“— Siehst du, wie <strong>die</strong> Liebe alle Tugenden insich sc<strong>hl</strong>ießt, sowo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Flucht vor dem Bösen— „sie verübt kein Unrecht“ — als auch<strong>die</strong> Ausübung <strong>des</strong> Guten — „sie ist <strong>des</strong> GesetzesErfüllung“! — Sie führt uns nicht bloßin <strong>die</strong> Lehre von den Pflichten kurz undbündig ein, sondern sie erleichtert uns auch<strong>die</strong> Erfüllung derselben. Sie zielt nicht bloßdarauf ab, daß wir unsere Pflichten kennenlernen — das tut das Gesetz —, sondern sie261337 Matth. 22, 40.338 Vgl. Joh. 21, 15—17.


gewährt uns auch starke Hilfe bei Erfüllungderselben; sie ist nicht bloß ein Teil der Gebote,sondern bringt in uns <strong>die</strong> Tugend in ihremg<strong>an</strong>zen Umf<strong>an</strong>ge zur Verwirklichung.Laßt uns also ein<strong>an</strong>der lieben, um d<strong>ad</strong>urchzu beweisen, daß wir Gott lieben, der unsliebt. Bei den Menschen wehrt sich ein Liebenderdagegen, wenn du <strong>die</strong> von ihm geliebtePerson auch liebst. Gott dagegen läßtdich gerne <strong>an</strong> seiner Liebe teilnehmen, ja ersieht es ungerne, wenn m<strong>an</strong> <strong>die</strong>selbe nichtmit ihm teilt. Die Liebe unter Menschen istvoll von Neid und Mißgunst, <strong>die</strong> Liebe Gottesdagegen ist jeder Leidenschaft bar. Darumsucht er sogar Teilhaber seiner Liebe. Erspricht: „Liebe mit mir, und ich werde d<strong>an</strong>nauch dich um so mehr lieben!“ Siehst du da<strong>die</strong> Sprache eines recht herzlich Liebenden?Wenn du <strong>die</strong> liebst, <strong>die</strong> von mir geliebt werden,d<strong>an</strong>n erachte ich mich von dir innig geliebt.Er verl<strong>an</strong>gt ja so sehnlich nach unseremHeil und hat <strong>die</strong>s seit jeher bekundet. Höre,was er bei der Erschaffung <strong>des</strong> Menschensagt: „Lasset uns den Menschen machen nachunserem Ebenbilde“ 339 , und wiederum: „Laßtuns ihm eine Gehilfin machen; es ist nichtgut, daß er allein sei“ 340 . Und als er ihn nachder Übertre- tung <strong>des</strong> Gebotes zurRede stellt, sieh, wie mild er <strong>die</strong>s tut. Erspricht nicht zu ihm: „Du Elender, du Verruchter!So viele Wo<strong>hl</strong>taten hast du genossen,und nach alledem schenkst du doch demTeufel Glauben, kehrst deinem Wo<strong>hl</strong>täterden Rücken und hältst es mit dem bösenGeiste?“ Nein, sondern was spricht er: „Wersagt dir, daß du nackt bist, wenn du nichtetwa von dem Baume gegessen hast, vondem allein zu essen ich dir verboten habe?“341 Es ist, wie wenn ein Vater seinemSöhnchen verboten hat, ein Schwert <strong>an</strong>zurühren,und d<strong>an</strong>n, als es ungehorsam gewesenist und sich verwundet hat, zu ihmspricht: „Woher hast du deine Wunde? Du339 Gen, 1, 26.340 Gen. 2, 18.341 Gen. 3, 11.262hast dich verwundet, weil du mir nicht gefolgthast.“ Hörst du daraus nicht mehr <strong>die</strong>Sprache eines Freun<strong>des</strong> als eines Herrn? Einesmißachteten Freun<strong>des</strong>, der aber trotzdemnicht von der Freundschaft läßt? Laßt unsseinem Beispiele folgen; wenn wir einen T<strong>ad</strong>elauszusprechen haben, laßt es uns mitderselben S<strong>an</strong>ftmut tun! Auch das Weib stellter mit derselben Milde zur Rede. Eigentlichist es gar kein Strafwort, sondern eine Ermahnungund Belehrung, eine Warnung für<strong>die</strong> Zukunft. Darum sagte er auch zurSc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge (weil sie nicht besserungsfähig war,nichts. Sie war ja <strong>die</strong> Anstifterin <strong>des</strong> Unheilsund konnte auf niem<strong>an</strong>den <strong>die</strong> Schuld schieben.Darum bestrafte sie Gott g<strong>an</strong>z besondersschwer. Ja, er bleibt dabei nicht stehen, sondernmacht auch <strong>die</strong> Erde <strong>des</strong> Fluches teilhaftig.Was übrigens das betrifft, daß er denMenschen aus dem Para<strong>die</strong>se vertrieb undihn zur Arbeit verurteilte, so müssen wir ihnger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen <strong>an</strong>beten und ihm Bewunderungzollen. Weil nämlich das Wo<strong>hl</strong>leben<strong>zum</strong> Leichtsinn verleitet, darum beschneidetGott <strong>die</strong> Lebensfreude und legt den Schmerzwie eine Mauer um den Leichtsinn, damitwir zu seiner Liebe gel<strong>an</strong>gen. Was war abermit Kain? Be<strong>die</strong>nt er sich ihm gegenübernicht ebenfalls einer milden Sprechweise?Obgleich von ihm mehrfach mit Schimpf beh<strong>an</strong>delt,gibt er ihm nicht den Schimpf zurück,sondern redet ihm gütlich zu undspricht: „Warum ist dein Angesicht eingefallen?“Und doch war seine Tat unver- zei<strong>hl</strong>ich; sein jüngerer Bruder ist einBeweis dafür. Aber auch d<strong>an</strong>n fährt ihn Gottnicht zürnend <strong>an</strong>, sondern was spricht er?„Du hast gesündigt; sei ruhig und sündigefernerhin nicht mehr; zu dir wird er sichwenden, und du wirst über ihn herrschen“ —er meint den Bruder. Wenn du etwa fürchtest,ich möchte dir wegen <strong>des</strong> beim OpferVorgefallenen das Vorrecht der Erstgeburtentziehen, so sei getrost! Ich lege <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeHerrschaft über deinen Bruder in deineHände. Bessere dich nur und liebe ihn, da er


dir doch nichts zuleide get<strong>an</strong> hat. Ich trageSorge für beide von euch. Das freut mich ammeisten, wenn ihr gegenein<strong>an</strong>der nichtfeindselig seid. Wie eine liebevolle Mutterwendet Gott alle möglichen Mittel <strong>an</strong>, damitnicht einer mit dem <strong>an</strong>dern in Zwiespalt gerate.5.Damit du das Gesagte <strong>an</strong> einem Beispieleersiehst, so betrachte <strong>die</strong> Rebekka, wie sie inAufregung hin und herlief, als ihr ältererSohn dem jüngeren Krieg <strong>an</strong>sagte. Wenn sieauch den Jakob liebte, so w<strong>an</strong>dte sich ihrHerz doch auch von Esau nicht ab; darumsagte sie: „O, daß ich doch nicht beider Söhne<strong>an</strong> einem Tage beraubt würde!“ 342 Und <strong>des</strong>wegensprach auch Gott damals (zu Kain):„Du hast gesündigt; sei ruhig und sündigefernerhin nicht mehr!“ Damit wollte er denMord verhindern und den Frieden zwischenbeiden erreichen. Als aber nachher Kain seinenBruder doch getötet hatte, ließ Gotttrotzdem nicht ab von der Fürsorge um ihn,sondern er machte dem Brudermörder wiedernur einen milden Vorwurf, indem ersprach: „Wo ist Abel, dein Bruder?“ 343 Erwollte ihn d<strong>ad</strong>urch <strong>zum</strong> Eingeständnis bringen.Doch Kain war noch widerspenstiger alsvorher und noch frecher und unverschämter.Aber auch d<strong>an</strong>n ließ Gott nicht nach, sondernwieder erhebt er seine Stimme und sprichtwie einer, der für seine Liebe noch geschmähtund verachtet wird: „Die Stimme<strong>des</strong> Blutes deines Bruders schreit zu mir“ 344 .Und d<strong>an</strong>n trifft er zugleich mit demMörder auch <strong>die</strong> Erde mit seinem Fluche undläßt seinen Zorn nach Art von Leuten, <strong>die</strong> ihrUnglück bejammern, <strong>an</strong> ihr aus: „Verfluchtsei <strong>die</strong> Erde, <strong>die</strong> ihren Mund auf get<strong>an</strong> hat,um das Blut deines Bruders zu trinken“ 345 . Somachte es auch David, als Saul gefallen war.Auch er fluchte den Bergen, <strong>die</strong> Sauls Blutgetrunken hatten, indem er ausrief: „Ihr Bergevon Gelboë, nicht falle auf euch Tau nochRegen, weil da weggeworfen ward der Schildder Mächtigen“ 346 . So stimmt auch Gott gewissermaßeneine Totenklage <strong>an</strong> und ruft:„Die Stimme <strong>des</strong> Blutes deines Brudersschreit zu mir, und nun seist du verfluchtwegen der Erde, <strong>die</strong> ihren Mund aufget<strong>an</strong>hat, das Blut deines Bruders von deinerH<strong>an</strong>d zu trinken.“ Das sagte er, um Kainsglühenden Zorn zu kü<strong>hl</strong>en und ihn wenigstensjetzt erst zur Liebe zu bewegen. Du hastdas Leben (deines Bruders) ausgelöscht, willer sagen; was löschest du nicht auch <strong>die</strong>Feindschaft gegen ihn aus? Was soll Gott mitdem Kain tun? Er liebt ihn ja auch; denn erhat beide erschaffen. Was also? Soll er denMörder ungestraft dahingehen lassen? Aberd<strong>an</strong>n wird er noch sc<strong>hl</strong>echter. Soll er ihn strafen?Aber da ist er wieder liebevoller als einVater. Sieh, wie er straft und dabei zugleichseine Liebe zeigt; oder vielmehr er straftnicht, sondern sucht nur zu bessern. Er tötetden Kain nicht, sondern er lähmt ihn nurdurch Furcht. Auf <strong>die</strong>se Weise soll er seinerSchuld ledig werden, er soll zur Liebe gegenseinen Bruder kommen, er soll sich mit ihmnoch nach seinem Hing<strong>an</strong>ge versöhnen.Denn Gott wollte nicht, daß er als Feind <strong>des</strong>Toten von hinnen gehe. So machen es <strong>die</strong>Liebenden. Wenn sie trotz aller erwiesenenWo<strong>hl</strong>taten nicht geliebt werden, so setzen sieihre Versuche doch fort, sie werden heftigund drohen, ungern zwar, aber von der Liebefortgerissen; sie wollen auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong><strong>an</strong> sich ziehen, welche sie mißachten. Einesolche Liebe ist freilich einigermaßen erzwungen;aber <strong>die</strong> Größe ihrer eigenen Liebeläßt <strong>die</strong> Liebenden darüber hinwegsehen.Auch <strong>die</strong> Strafe ist eine Folge der Liebe. Denn, <strong>die</strong> sich nichts daraus ma-342 Gen. 27, 45.343 Ebd. 4, 9.344 Ebd. 4, 10.263345 Gen. 4, 11.346 2 Kön. 1, 21.


chen, gehaßt zu werden, <strong>die</strong> greifen auchnicht zur Strafe. Höre nur, wie auch <strong>Paulus</strong><strong>die</strong>s in seinem Schreiben <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korintherausdrückt: „Wer ist es“, sagt er „der mirFreude macht, wenn nicht einer, der durchmich betrübt worden ist?“ 347 So kommt es,daß ger<strong>ad</strong>e eine gesteigerte Strafe ein besondererBeweis von Liebe ist. So hat auch <strong>die</strong>Ägypterin, ger<strong>ad</strong>e weil sie Joseph so heftigliebte, ihn auch recht schwer gestraft. Freilichtat es jene in böser Absicht; denn ihre Liebewar eine solche sinnlicher Leidenschaft. Gottaber tat es in guter Absicht; denn seine Liebemußte ja <strong>des</strong> Liebenden würdig sein. Darumläßt er sich sogar dazu herab, grob deutlicheRedensarten zu gebrauchen, auf sich <strong>die</strong> Benennungenmensc<strong>hl</strong>icher Leidenschaften <strong>an</strong>zuwendenund sich „eifersüchtig“ zu nennen.„Ich bin ein eifersüchtiger Gott“ 348 ,spricht er. Daraus sollst du das Übermaß derLiebe ersehen.Laßt uns also Gott lieben, wie er es will! Erhält <strong>die</strong>s für eine hochwichtige Sache. Wennwir uns von ihm abwenden, so fährt er dochfort, uns zu rufen; wenn wir uns trotzdemnicht zu ihm wenden wollen, so straft er unsaus lauter Liebe, nicht um sich <strong>an</strong> uns zu rächen.Höre nur, was er bei Ezechiel zu dervon ihm so sehr geliebten St<strong>ad</strong>t (Jerusalem),<strong>die</strong> seine Liebe mißachtete, spricht: „DeineBu<strong>hl</strong>er will ich über dich kommen lassen undwill dich in ihre Hände geben, und sie werdendich steinigen und morden; und meinEifer wird von dir ablassen, und ich werdeaufhören und mich nicht mehr kümmern“ 349 .Was könnte ein Liebhaber <strong>an</strong>ders sagen, der,von seiner Geliebten verschmäht, daraufhinnoch mehr in Liebe zu ihr entbrennt? Gott tutja alles mögliche, um von uns geliebt zuwerden. Er hat <strong>des</strong>wegen nicht einmal seinesSohnes geschont. Aber wir sind gefü<strong>hl</strong>losund hart. Aber laßt uns einmal weich werden,laßt uns Gott lieben, wie wir ihn lieben347 2 Kor. 2, 2.348 Deut. 6, 15.349 Ezech. 23, 22.264sollen, damit wir zugleich auch verkosten,wie süß <strong>die</strong>se Tugend ist! Denn wenn schonjem<strong>an</strong>d, der ein geliebtes Weib hat, <strong>die</strong> Widerwärtigkeiten <strong>des</strong> täglichenLebens für nichts achtet, bedenke, welch süßeFreude der genießen mag, den <strong>die</strong>se reineGottesliebe beseelt! Sie ist ja das Himmelreich,sie ist wahrer Genuß, sie ist süße Wonne,sie ist Frohsinn, sie ist Freude, sie istGlückseligkeit; ja, was ich auch immer sagenmag, ich bin nicht imst<strong>an</strong>de, einen rechtenBegriff von ihr zu geben; <strong>die</strong> eigene Erfahrungallein k<strong>an</strong>n uns ihre Schönheit verstehenlassen. Darum sagt der Prophet:„Schwelge im Genusse <strong>des</strong> Herrn!“ und:„Verkostet und sehet, wie süß der Herrist!“ 350Laßt uns also (<strong>die</strong>ser Einl<strong>ad</strong>ung) folgen undschwelgen in der Liebe Gottes! So werdenwir das Himmelreich schon hienieden schauen,ein Leben nach Art der Engel führen,noch auf der Erde weilend nicht weniger habenals <strong>die</strong> Himmelsbewohner, nach unseremHing<strong>an</strong>ge herrlicher als alle vor dem Richterstu<strong>hl</strong>Christi stehen und unsägliche Herrlichkeitgenießen. Diese möge uns allen zuteilwerden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseresHerrn Jesus Christus, dem Ehre sei in alleEwigkeit. Amen. FÜNFUNDZWANZIGSTE HOMILIE.Kap. XIII, V. 11—14.1.Kap. XIII, V. 11—14.V. 11: „Und das (bedenkt), weil ihr <strong>die</strong> Zeitkennt, daß es bereits Zeit ist, vom Sc<strong>hl</strong>afe zu erwachen.“Nachdem der Apostel, was notwendig war,<strong>an</strong>befo<strong>hl</strong>en hat, drängt er seine Zuhörer zurAusführung <strong>des</strong> Guten durch den Hinweis,daß es höchste Zeit dazu sei. Vor der Tür,350 Ps. 33, 9.


will er sagen, steht der Augenblick <strong>des</strong> Gerichtes.So hat er auch den Korinthern geschrieben:„Die Zeit ist nur mehr kurz“ 351 ,und wiederum <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hebräer: „Nur mehrein Kurzes und, der da kommen soll, wirdkommen und nicht zögern“ 352 . Dort hat er<strong>die</strong>s gesagt, um <strong>die</strong> Mühebel<strong>ad</strong>enen aufzurichtenund sie in ihren za<strong>hl</strong>reichen Bedrängnissenzu trösten, hier, um <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>afendenaufzurütteln. Denn zu beiden Zweckenist <strong>die</strong>se Rede <strong>die</strong>nlich. Was ist der Sinn<strong>des</strong>sen, was er da sagt: „Es ist Zeit, vomSc<strong>hl</strong>afe zu erwachen“? Es heißt: Nahe ist <strong>die</strong>Auferstehung, nahe das schreckliche Gericht,nahe der Tag, der da glühend ist wie einFeuerofen. Wir müssen uns darum in Zukunftfreimachen von der Lässigkeit.„Denn jetzt ist unsere Rettung näher als damals,da wir gläubig wurden.“— Siehst du, wie er seinen Zuhörern <strong>die</strong>Auferstehung als nahe bevorstehend darstellt?Die Zeit vergeht, will er sagen, dasgegenwärtige Leben rinnt dahin, <strong>die</strong> Ewigkeitrückt näher. Bist du darauf vorbereitet,hast du alles get<strong>an</strong>, was dir geboten war,d<strong>an</strong>n bedeutet für dich <strong>die</strong>ser Tag Heil; wennaber das Gegenteil der Fall ist, d<strong>an</strong>n nicht.Bisher be<strong>die</strong>nt sich der Apostel zur Ermahnungnicht <strong>des</strong> Hinweises auf Leidvolles,sondern auf Tröstliches, um seine Zuhörervon der Anhänglichkeit <strong>an</strong> das Diesseits loszulösen.Weil zu erwarten war, daß <strong>die</strong>se amAnf<strong>an</strong>g in der ersten Zeit, so l<strong>an</strong>ge in ihnen <strong>die</strong> Liebe noch wirksam war,recht eifrig sein würden, im Laufe der Zeitaber ihr g<strong>an</strong>zer Eifer erkalten würde, so sagtder Apostel, daß sie das Gegenteil tun sollten,daß sie mit der fortschreitenden Zeitnicht nac<strong>hl</strong>assen, sondern um so eifrigerwerden sollten. So werden ja auch <strong>die</strong> Vorbereitungenfür den Empf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> Königs umso eifriger betrieben, je näher <strong>des</strong>sen Ankunftrückt; je näher der Siegespreis rückt, <strong>des</strong>tomehr strengen sich <strong>die</strong> Kämpfer <strong>an</strong>. Auch <strong>die</strong>351 1 Kor. 7, 29.352 Hebr. 10, 37.265im Wettlauf tun dasselbe. Wenn sie sich demEnde <strong>des</strong> Wettlaufes nähern und dem Empf<strong>an</strong>g<strong>des</strong> Siegespreises, d<strong>an</strong>n greifen sie umso mehr aus. Darum sagt er: „Jetzt ist unsereRettung näher als damals, da wir gläubigwurden.“V. 12: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag abernahet her<strong>an</strong>.“— Wenn jene zu Ende geht, d<strong>an</strong>n ist <strong>die</strong>sernahegerückt. Lasset uns darum Werke <strong>des</strong>Tages vollbringen, nicht solche der Nacht!Das geschieht ja auch so im täglichen Leben.Wenn wir sehen, daß <strong>die</strong> Nacht ins Morgengrauenübergeht und wenn wir das Zwitschernder Schwalbe vernehmen, d<strong>an</strong>n weckenwir ein jeder seinen Nachbar auf, obgleiches eigentlich noch Nacht ist. Wenn <strong>die</strong>seaber vollends geschwunden ist, d<strong>an</strong>nsprechen wir zuein<strong>an</strong>der, indem wir zur Arbeitdrängen: „Es ist Tag geworden.“ Wir tund<strong>an</strong>n alles, was der Tag verl<strong>an</strong>gt: wir kleidenuns <strong>an</strong>, verscheuchen <strong>die</strong> Traumbilder, reibenuns den Sc<strong>hl</strong>af aus den Augen, damituns der Tag zur Arbeit bereit finde und wirnicht erst aufstehen und mit der Arbeit beginnen,wenn <strong>die</strong> Sonne schon hoch amHimmel steht. Was wir da leiblicher Weisetun, das wollen wir nun geistiger Weise vollbringen.Wir wollen <strong>die</strong> falschen Vorstellungenaufgeben, <strong>die</strong> Traumbilder <strong>des</strong> gegenwärtigenLebens verscheuchen, den tiefenSc<strong>hl</strong>af abbrechen und das Kleid der Tugend<strong>an</strong>legen. Das alles meint der Apostel, wenner spricht:„Lasset uns also ablegen <strong>die</strong> Werke der Finsternisund <strong>an</strong>ziehen <strong>die</strong> Waffen <strong>des</strong> Lichtes!“ Auch <strong>an</strong><strong>die</strong> Front und <strong>zum</strong> Kampf ruft uns näm- lich der Tag. Erschrick aber nicht, wenn duvon Front und von Waffen hörst! Bei der leiblichenWaffenrüstung ist es etwas Schweres undLästiges, sie <strong>an</strong>zulegen, hier aber ist es <strong>an</strong>genehmund begehrenswert; denn es sind Waffen <strong>des</strong> Lichtes.Darum lassen sie dich leuchtender erscheinenals den Sonnenstra<strong>hl</strong>, sie geben einen hellenSchimmer von sich und gewähren dir Sicherheit;es sind ja Waffen. Sie verleihen dir Gl<strong>an</strong>z; es sind


ja Waffen <strong>des</strong> Lichtes. Ist es nun etwa nicht nötig,zu kämpfen? O ja, nötig ist es, aber es ist nichtschwierig und mühevoll. Denn nicht eigentlichein Kampf ist es, sondern ein Reigen und ein Fest.Das ist so <strong>die</strong> Natur <strong>die</strong>ser Waffen, das ist <strong>die</strong>Macht <strong>die</strong>ses Feldherrn. Stra<strong>hl</strong>end wie ein Bräutigamaus dem Brautgemache tritt, so der, welchermit <strong>die</strong>sen Waffen <strong>an</strong>get<strong>an</strong> ist. Er istzugleich Kriegsm<strong>an</strong>n und Bräutigam. — Nachdemder Apostel gesagt hat: „Der Tag naht her<strong>an</strong>“,läßt er <strong>die</strong>sen nicht bloß als her<strong>an</strong>nahenderscheinen, sondern als schon <strong>an</strong>gebrochen; ersagt nämlich:V. 13: „Wie am Tage lasset uns ehrbar w<strong>an</strong>deln!“Der Tag ist schon da. Was auf <strong>die</strong> meistenMenschen bei Ermahnungen am stärkstenwirkt, das wendet der Apostel auch seinenZuhörern gegenüber als Zugmittel <strong>an</strong>, denEhrenpunkt. Er sagt auch nicht: „w<strong>an</strong>delt“,sondern: „laßt uns w<strong>an</strong>deln“; auf <strong>die</strong>se Weisenimmt er seiner Mahnung das Erbitterndeund macht den T<strong>ad</strong>el leicht erträglich.„Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen.“Damit will der Apostel nicht das Trinken verbieten,sondern das Unmäßige dabei; nicht den Genuß<strong>des</strong> Weines überhaupt, sondern einen solchenbis zur Berauschung. Mit derselben Beschränkungmeint er auch das folgende, wenn er sagt:„Nicht in Bu<strong>hl</strong>ereien und Sc<strong>hl</strong>emmereien.“Auch da untersagt er nicht den Verkehr mitden Weibern überhaupt, sondern das Hurenmit ihnen.„Nicht in Streitereien und Neidereien.“Der Apostel will <strong>die</strong> Gluten der Leidenschaftenablöschen, nämlich <strong>die</strong> Begierde (nachsinnlichem Genuß) und den Zorn.Darum will er nicht bloß sie selbst, sondernauch ihre Quellen beseitigen.2.wie Betrunkenheit und Rausch. Darum heißtes <strong>an</strong> erster Stelle: „Nicht in Schmausereienund Trinkgelagen“, d<strong>an</strong>n erst: „Nicht in Bu<strong>hl</strong>ereienund Sc<strong>hl</strong>emmereien, nicht in Streitereienund Neidereien.“ — Aber dabei bleibtder Apostel nicht stehen, sondern nachdemer uns <strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>echten Kleider ausgezogen hat,höre, wie er uns schön herstellen will, indemer weiter sagt:V. 14: „Sondern ziehet unsern Herrn JesusChristus <strong>an</strong>!“Der Apostel spricht nicht mehr von „Werken“,sondern mutet seinen Zuhörern nochetwas Höheres zu. Wo er vom Laster spricht,gebraucht er den Ausdruck „Werke“; wo eraber auf <strong>die</strong> Tugend zu sprechen kommt, daredet er nicht von „Werken“, sondern von„Waffen“, um d<strong>ad</strong>urch auszudrücken, daß<strong>die</strong> Tugend dem, der sie besitzt, in den Zust<strong>an</strong>dvoller Sicherheit versetzt und ihn invollem Gl<strong>an</strong>z erscheinen läßt. Auch dabeibleibt er nicht stehen, sondern steigert seineAusdrucksweise noch, was fast unheimlich<strong>an</strong>mutet: er läßt den Herrn und König uns zueinem M<strong>an</strong>tel werden. Wer ihn als solchenumgeworfen hat, der besitzt <strong>die</strong> Tugend inihrem g<strong>an</strong>zen Umf<strong>an</strong>ge. Wenn er sagt: „ziehet<strong>an</strong>“, so befie<strong>hl</strong>t er eben, ihn uns umzuwerfen,wie er <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle sagt:„Wenn Christus in euch ist“ 353 , und wieder:„daß Christus im innern Menschen von unswohne“ 354 . So will er, daß unsere Seele ihmals Haus <strong>die</strong>ne, wie auch, daß er uns wie einM<strong>an</strong>tel umhülle, um uns alles zu sein innenund außen. Er ist ja unsere Vollendung. —„Die Vollendung <strong>des</strong>sen, der alles in allenvollendet“ 355 , auch Weg und M<strong>an</strong>n und Bräutigam(ist er uns): „Ich habe euch als reineJungfrau nur einem M<strong>an</strong>ne als Braut geworben“356 , auch Wurzel und Tr<strong>an</strong>k und Speise und Leben: „Ich lebe“, heißt es,„doch nicht ich, Christus lebt in mir“ 357 . AuchNichts stachelt nun <strong>die</strong> sinnliche Begierde sosehr auf und entflammt so sehr den Zorn,266353 Röm. 8, 10.354 Eph. 3, 17.355 Ebd. 1, 23.356 2 Kor, 11, 2.357 Gal. 2. 20.


Apostel und Oberpriester und Lehrer undVater und Bruder und Miterbe ist er uns undteilt mit uns Grab und Kreuz: „Wir sind mitbegrabenmit ihm“, heißt es, „und zusammengepfl<strong>an</strong>ztworden zur Ähnlichkeit seinesTo<strong>des</strong>“ 358 . Auch Bittsteller: „An Christi Stattbekleiden wir das Amt eines Botschafters 359 ,und Fürsprecher beim Vater: „Er legt Fürbitteein für uns“ 360 , heißt es. Auch Wohnungund Gast: „Er bleibt in mir und ich inihm“ 361 ; auch Freund: „Ihr seid ja meineFreunde“ 362 ; und Grundfeste und Eckstein;und wir sind seine Glieder, sein Ackerl<strong>an</strong>d,sein Bauwerk, seine Zweige, seine Mitarbeiter.Denn was will er uns nicht sein, da ersich doch auf jede Weise mit uns verbindenund in eins zusammenfügen will? Das ist <strong>die</strong>Art eines innig Liebenden, zu h<strong>an</strong>deln. Sofolge ihm denn, steh auf vom Sc<strong>hl</strong>afe, zieheihn <strong>an</strong>, und nachdem du ihn <strong>an</strong>gezogen hast,biete ihm willfährig dein Fleisch! Das deutetnämlich der Apostel <strong>an</strong>, wenn er sagt:„Macht <strong>die</strong> Fürsorge um das Fleisch nicht zuLüsten!“Wie der Apostel nicht das Trinken verbietet,sondern das Sichberauschen, nicht den ehelichenVerkehr, sondern <strong>die</strong> Ausschweifung,so verbietet er auch nicht <strong>die</strong> Fürsorge umdas Fleisch, sondern <strong>die</strong> Ausartung derselbenzu Lüsten, wobei das Maß <strong>des</strong> Notwendigenüberschritten wird. Zum Beweis dafür, daßer eine solche Fürsorge ger<strong>ad</strong>ezu befie<strong>hl</strong>t,höre, was er zu Timotheus sagt: „Etwas Weingenieße wegen deines Magens und deinerhäufigen Kränklichkeiten“ 363 . So will er auchhier zwar Fürsorge geübt wissen, aber zurGesundheit, nicht zur Schwelgerei. Denn daswäre ja auch schon keine Fürsorge mehr,wenn du <strong>die</strong> Flamme <strong>an</strong>fachst und den Feuerofennoch glühender machst. Damit ihraber noch besser versteht, was es heißt, fürden Leib sorgen „zu Lüsten“ und eine solche358 Röm. 6, 4. 5.359 2 Kor. 5, 20.360 Röm. 8, 34 .361 Joh. 6, 57.362 Ebd. 15, 14.363 1 Tim. 5, 23.267Fürsorge meidet, so denkt <strong>an</strong> <strong>die</strong> Trunkenbolde,<strong>an</strong> <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>emmer, <strong>an</strong> <strong>die</strong> Mode- narren, <strong>an</strong> <strong>die</strong> Weic<strong>hl</strong>inge, <strong>an</strong> <strong>die</strong>, welcheüberhaupt ein üppiges und ungeordnetesLeben führen, und ihr werdet das hier Gesagteeinsehen. Diese Leute tun alles, nichtdamit sie sich <strong>die</strong> Gesundheit erhalten, sonderndamit sie den Lüsten frönen und <strong>die</strong>sinnliche Begierde <strong>an</strong>fachen. Du aber, der duChristus <strong>an</strong>gezogen hast, merze alle jeneDinge aus und suche nur das eine zu erreichen,daß du deinen Körper gesund erhaltest!Nur so weit sorge für ihn, darüber hinausnicht, sondern richte deine g<strong>an</strong>ze Sorgeauf <strong>die</strong> geistlichen Dinge! Auf <strong>die</strong>se Weisewirst du dazu kommen, aufzustehen vondem Sc<strong>hl</strong>afe, nicht beschwert mit <strong>die</strong>senm<strong>an</strong>nigfachen Lüsten. Denn das gegenwärtigeLeben ist ja ein Sc<strong>hl</strong>af, und was sich inihm abspielt, unterscheidet sich nicht vonTraumbildern. Und wie <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>afenden wirreDinge reden und oft sinnloses Zeug sehen,so auch wir. Ja, wir sind dabei noch vielsc<strong>hl</strong>immer dar<strong>an</strong>. Denn wer im Sc<strong>hl</strong>af etwasSch<strong>an</strong>dbares tut oder spricht, der wird davonfrei, sobald er vom Sc<strong>hl</strong>afe frei wird, und erleidetdafür keine Strafe. Hier geht es abernicht so, sondern <strong>die</strong> Sch<strong>an</strong>de sowo<strong>hl</strong> alsauch <strong>die</strong> Strafe sind unsterblich. Ferner, <strong>die</strong>im Traume reich sind, werden erst, wenn esTag geworden ist, gewahr, daß sie nurscheinbar reich waren. Hier aber erfolgt <strong>die</strong>Enttäuschung oft schon vor dem Tagwerden,und ehe sie noch von hier scheiden, sind <strong>die</strong>seTräume schon zerronnen.Lasset uns also <strong>die</strong>sen bösen Sc<strong>hl</strong>af abschütteln!Denn wenn uns jener Tag sc<strong>hl</strong>afend ü-berrascht, d<strong>an</strong>n wird ewiger Tod unser Lossein. Und auch vor jenem läge noch werdenwir allen unsern Feinden hier auf Erden eineleichte Beute sein, den Menschen wie denTeufeln. Wenn der Wachenden viele wären,so wäre <strong>die</strong> Gefahr nicht so groß; weil abernur einer oder der <strong>an</strong>dere seine Lampe hältund wach ist, während <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern wie intiefster Nacht im Sc<strong>hl</strong>afe liegen, darum be-


dürfen wir großer Wachsamkeit und großerSicherung, damit wir nicht unersetzlichenSch<strong>ad</strong>en erleiden.3.Scheint es uns nicht gegenwärtig heller Tagzu sein? Glauben wir denn nicht, alle wachund munter zu sein? Und doch — ihr mögtlachen, wenn ich es sage, ich sage esdoch: Wir gleichen alle Leuten, <strong>die</strong> in tieferNacht sc<strong>hl</strong>afen und schnarchen. Ja, wenn wirnur in <strong>die</strong> Geisterwelt blicken könnten, damöchte ich euch zeigen, wie <strong>die</strong> meistenschnarchen, der Teufel aber Mauern durchbrichtund <strong>die</strong> Daliegenden mordet, wasdrinnen ist, zusammenrafft, und wie in tieferFinsternis das alles g<strong>an</strong>z ungestört vollbringt.Nun aber, wenn wir es schon nicht mit Augensehen können, so wollen wir es doch mitWorten beschreiben und betrachten, wie vieledaliegen, bedrückt vom Alp ihrer bösenBegierden, wie viele bef<strong>an</strong>gen sind von demargen Sc<strong>hl</strong>ummer der Wollust und das Licht<strong>des</strong> Geistes ausgelöscht haben. Darum verwechselnsie beim Sehen wie beim Hören einDing mit dem <strong>an</strong>dern und behalten nichtsvon dem, was hier gesagt wird. Wenn ich dasaber zu unrecht sage und du g<strong>an</strong>z wach hierstehst, d<strong>an</strong>n sag’ mir, was hier eigentlichvorgeg<strong>an</strong>gen ist, wenn du es nicht wie imTraume gehört hast! Ich weiß ja, daß m<strong>an</strong>chees zu sagen wissen werden; meine Rede beziehtsich denn auch nicht auf alle. Aber du,auf den sie abzielt, der du umsonst dahergekommen bist, sag’ mir, welcher Prophet,welcher Apostel hat mit uns Zwiesprachegehalten und worüber? Du weißt keine Antwortdarauf. Für dich war vieles hier wie imTraum gesprochen, und du hast nicht gehört,um was es sich dabei eigentlich geh<strong>an</strong>delthat. Dasselbe gilt auch von den Frauen. Auchsie sind stark vom Sc<strong>hl</strong>af eingenommen; ja,wenn es nur Sc<strong>hl</strong>af wäre! Denn wer sc<strong>hl</strong>äft,268der spricht weder etwas Sc<strong>hl</strong>echtes noch etwasGutes. Wer aber so wach ist wie ihr, derläßt sich gar m<strong>an</strong>ches Wort entfahren zu seinemeigenen Nachteil. Er zä<strong>hl</strong>t seine Einkünftezusammen, stellt Berechnungen überZinsen <strong>an</strong>, denkt <strong>an</strong> schmutzige Wuchergeschäfteund pfl<strong>an</strong>zt auf <strong>die</strong>se Weise so dichtesDornengestrüpp in seine Seele, daß erdem hineingestreuten Samen nicht <strong>die</strong> geringsteMöglichkeit läßt, je aufzugehen. Aberso wach doch auf! Reiß <strong>die</strong>ses Dornengestrüppmit der Wurzel aus und schüttle <strong>die</strong>Trunkenheit ab! Denn davon kommt derSc<strong>hl</strong>af.Wenn ich von Trunkenheit spreche, so meineich nicht bloß <strong>die</strong>, welche vom Weinekommt, sondern auch <strong>die</strong> von den irdischenSorgen, aber d<strong>an</strong>eben auch <strong>die</strong> vomWeine. Meine Ermahnung gilt nicht bloß Reichen,sondern auch Armen, und besondersdenen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Freundschaftsma<strong>hl</strong>e ver<strong>an</strong>stalten.Dabei h<strong>an</strong>delt es sich nicht um ein Essenund eine Erholung, sondern um eine Ver<strong>an</strong>staltung,<strong>die</strong> (Gottes) rächende Strafe nachsich zieht. Denn ein Essen ist es, wenn m<strong>an</strong>dabei nicht häßliche Reden führt, sondernnur ehrbare Dinge zur Sprache kommen läßt,wenn m<strong>an</strong> sich wo<strong>hl</strong> satt ißt, aber nicht bis<strong>zum</strong> Zerspringen. Wenn du ein Gelage alseine Vergnügung <strong>an</strong>siehst, so zeig’ mir nur<strong>die</strong>se Vergnügung am Abend, aber dask<strong>an</strong>nst du nicht. Ich will nichts sagen vonden Schäden, <strong>die</strong> daraus hervorgehen, sondernich will dich vorläufig nur darauf hinweisen,wie rasch verg<strong>an</strong>gen <strong>die</strong>ses Vergnügenist. Kaum ist das Ma<strong>hl</strong> vorüber, so ist esauch schon vorbei mit der Frö<strong>hl</strong>ichkeit.Wenn ich dich noch hinweise auf das Erbrechen,das ihm folgt, auf <strong>die</strong> Kopfschmerzenund <strong>die</strong> vielerlei <strong>an</strong>dern Unpäßlichkeiten,dazu noch auf den Verlust der seelischenFreiheit, was k<strong>an</strong>nst du mir dagegen vorbringen?Müssen wir denn <strong>des</strong>wegen, weilwir arm sind, schändliche Dinge treiben? Dassage ich aber nicht, um es etwa zu verbieten,Zusammenkünfte zu haben und dabei ge-


meinsam Ma<strong>hl</strong> zu halten, sondern nur, umdas Unziemliche dabei zu verbieten und weilich will, daß ein Essen auch ein Essen sei,nicht aber eine Ver<strong>an</strong>staltung, <strong>die</strong> (Gottes)rächende Strafe nach sich zieht, Trunkenheitund Fresserei. Die Heiden sollen sehen, daß<strong>die</strong> Christen gar wo<strong>hl</strong> verstehen, ein Essen zuver<strong>an</strong>stalten und dazu ein Essen mit Anst<strong>an</strong>d.„Jubelt dem Herrn“, heißt es, „in Zittern!“364 Was heißt jubeln? Es heißt, Hymnensingen, Gebete sprechen, Psalmen hersagen<strong>an</strong>statt jener gemeinsamen S<strong>an</strong>gstücke. Auf<strong>die</strong>se Weise wird auch Christus bei Tischezugegen sein und das g<strong>an</strong>ze Ma<strong>hl</strong> segnen,wenn du dabei betest, wenn du geistlicheLieder singst, wenn du <strong>die</strong> Armen zur Teilnahme<strong>an</strong> dem, was vorgesetzt ist, rufst,wenn du darauf siehst, daß rechte Ordnungund Mäßigkeit beim Gastma<strong>hl</strong>e herrsche.Auf <strong>die</strong>se Weise wirst du den Speisesaal zurKirche machen, wenn du statt <strong>des</strong> zwecklosenSchreiens und Heilwünschensden Herrn aller Dinge preisest.Sag’ mir nicht, daß ein <strong>an</strong>deres Gesetz Geltungerl<strong>an</strong>gt hat, sondern verbessere dasSc<strong>hl</strong>echte, wo es sich findet. „Ob ihr essetoder trinket“, heißt es, „oder sonst etwas tuet,tuet alles zur Ehre Gottes!“ 365 Von solchenGelagen kommen auch <strong>die</strong> sc<strong>hl</strong>immen Begierden,von dorther stammen <strong>die</strong> Lüsternheiten,von dort schreibt es sich her, daß <strong>die</strong>Ehefrauen in Mißachtung, <strong>die</strong> Huren dagegenin Ehre stehen. Von dorther kommen derVerfall der Familien und unzä<strong>hl</strong>ige Übel,kurz, daß alles drunter und drüber geht. Ihrverlaßt <strong>die</strong> reine Quelle und lauft den Kotlackenzu. Denn eine Kotlacke ist der Leib derHure, nichts <strong>an</strong>deres. Ich frage dich selbst,der du dich in <strong>die</strong>ser Kotlacke gewälzt hast,ob du nicht über dich selbst errötest und dichnicht für verunreinigt hältst nach der Sünde.Darum beschwöre ich euch, fliehet <strong>die</strong> Hurereiund <strong>die</strong> Mutter derselben, <strong>die</strong> Trunkenheit!Warum säest du da, wo du nicht ernten364 Ps. 2, 11.365 1 Kor. 10, 31.269darfst, oder vielmehr, wenn du erntest, dir<strong>die</strong> Frucht große Sch<strong>an</strong>de bringt? Denn wenn(aus der Hurerei) ein Kind geboren wird, sogereicht es dir zur Sch<strong>an</strong>de und sich selbst<strong>zum</strong> Sch<strong>ad</strong>en, da es durch dich unehelichund unebenbürtig geworden ist. Wenn duihm auch noch so vieles Geld hinterläßt, dasKind einer Hure und einer Sklavin ist undbleibt ehrlos in der Familie, ehrlos im Staate,ehrlos vor Gericht. Ehrlos bist ferner auch duim Leben und nach dem Tode; denn wenndu auch von hinnen geg<strong>an</strong>gen bist, so bleibt<strong>die</strong> Erinnerung <strong>an</strong> deine Sch<strong>an</strong>de. Warumbefleckst du alles mit Sch<strong>an</strong>de?4.Was säest du da, wo das Ackerfeld selbst esdarauf <strong>an</strong>legt, <strong>die</strong> Frucht zu vernichten? Da,wo Kinderlosigkeit <strong>zum</strong>eist vorkommt? Da,wo vor der Geburt Mord beg<strong>an</strong>gen wird? Ja,du läßt <strong>die</strong> Hure nicht bloß dabei, eine Hurezu bleiben, du machst sie auch noch zurMörderin. Siehst du, daß der TrunkenheitHurerei, der Hurerei Ehebruch, dem EhebruchMord folgt? Ja, etwasSc<strong>hl</strong>immeres noch als Mord. Ich habe garkeinen Ausdruck dafür; denn ein solchesWeib nimmt nicht einem geborenen Wesendas Leben, sondern es verhindert, daß es ü-berhaupt geboren wird. Was tust du der GabeGottes solche Schmach <strong>an</strong>, kämpfst gegenseine Gesetze <strong>an</strong>, suchst wie einen Segen das,was ein Fluch ist, machst den Vorratsspeicherder Geburt zu einem solchen <strong>des</strong> To<strong>des</strong>und führst das Weib, das <strong>zum</strong> Kindergebärenda ist, <strong>zum</strong> Morde? Denn um ihren Liebhabernimmer zu gefallen und von ihnen begehrtzu sein und um mehr Geld von ihnenzu ziehen, scheut sie nicht zurück, auch daszu tun und schürt d<strong>ad</strong>urch ein großes Feuerüber deinem Haupte; denn wenn <strong>die</strong> Untatauch von ihr beg<strong>an</strong>gen wird, so bist doch du<strong>die</strong> Ver<strong>an</strong>lassung dazu geworden. Auch Göt-


zen<strong>die</strong>nst nimmt von da seinen Ausg<strong>an</strong>g;denn viele solche Weiber wenden, um Gegenst<strong>an</strong>dder Liebe zu werden, Beschwörungen,Zaubersprüche, Liebestränke und tausenderlei<strong>an</strong>dere derartige Mittel <strong>an</strong>. Abertrotz all <strong>die</strong>ser Schändlichkeit, trotz Morden,trotz Abgötterei, scheint es vielen einegleichmütige Sache zu sein, auch vielen solchen,<strong>die</strong> Ehefrauen haben. Und ger<strong>ad</strong>e dahäufen sich <strong>die</strong> bösen Folgen noch mehr. Dawerden Gifttränke verwendet nicht gegenden Mutterschoß der Hure, sondern gegen<strong>die</strong> gekränkte Ehefrau; da gibt es d<strong>an</strong>n tausenderleiNachstellungen, Teufels- und Totenbeschwörungen,tagtägliche Ehekriege,nicht beizulegende Kämpfe, stete Zwistigkeiten.Darum hat auch <strong>Paulus</strong> nach den Worten:„Nicht in Bu<strong>hl</strong>ereien und Sc<strong>hl</strong>emmereien“,beigefügt: „Nicht in Streitereien undNeidereien.“ Er k<strong>an</strong>nte gar wo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Ehekriege,<strong>die</strong> daraus entstehen, das Drunterund Drüber in den Familien, <strong>die</strong> Benachteiligungen,<strong>die</strong> den ehelichen Kindern erwachsen,und <strong>die</strong> unzä<strong>hl</strong>igen sc<strong>hl</strong>immen Folgen.Damit wir nun <strong>die</strong>s alles fliehen, laßt unsChristus <strong>an</strong>ziehen und immer in Vereinigungmit ihm bleiben! Denn das bedeutet ja dasAnziehen: nicht von ihm getrennt werden, sodaß er in jeder Beziehung <strong>an</strong> uns sichtbarwird, durch unsere Heiligkeit, durch unsereS<strong>an</strong>ftmut. So sagen wir auch von Freunden:der und der hat den und den <strong>an</strong>gezogen. Wirmeinen damit <strong>die</strong> große Liebe, <strong>die</strong>zwischen ihnen herrscht, und das stete Beisammensein.Wer etwas <strong>an</strong>gezogen hat, <strong>an</strong>dem ist das sichtbar, was er <strong>an</strong>gezogen hat.Es sei also <strong>an</strong> uns in jeder Beziehung Christussichtbar. Und wie wird er sichtbar? Wenn dutust, was er tat. Was hat aber er get<strong>an</strong>? „DerMenschensohn“, heißt es, „hat nicht, wohiner sein Haupt lege“ 366 . Das ahme auch dunach! Er mußte Speise genießen und nahmdazu Gerstenbrote. Er mußte eine Reise machen,und da gab es keine Pferde und Zugtie-366 Luk. 9, 58.270re, sondern er ging so l<strong>an</strong>ge zu Fuß, bis ermüde war. Er mußte sc<strong>hl</strong>afen, und er legtesich nieder auf eine B<strong>an</strong>k im Vorderteil <strong>des</strong>Schiffes. M<strong>an</strong> mußte sich zur Ruhe legen,und er befa<strong>hl</strong>, sich im Grase niederzulassen.Auch seine Kleider waren ärmlich. Oft war erallein, niem<strong>an</strong>d in seinem Gefolge. Auch wieer sich am Kreuze benahm und bei denSchmähungen, <strong>die</strong> ihm da <strong>an</strong>get<strong>an</strong> wurden,kurz, alles führe dir zu Gemüte und ahme esnach. Auf <strong>die</strong>se Weise hast du Christus <strong>an</strong>gezogen,wenn du <strong>die</strong> Fürsorge um das Fleischnicht zu Lüsten machst. Dieses letztere Tunbringt übrigens auch gar kein (wirkliches)Vergnügen mit sich. Denn <strong>die</strong> einen Begierdenerzeugen wieder <strong>an</strong>dere, noch brennendere,und nie fin<strong>des</strong>t du Sättigung, sondernbereitest dir nur eine schmerzliche Folter.Denn so wie einer, der beständig <strong>an</strong> Durstleidet, keinen Gewinn davon hat und seinenkr<strong>an</strong>khaften Durst nicht löschen k<strong>an</strong>n, wenner auch tausend Quellen rings um sich hätte,so auch der, welcher beständig in Begierdenlebt. Wenn du aber nur das Bedürfnis befriedigst,d<strong>an</strong>n wirst du <strong>die</strong>ses Fieber gar nichtbekommen, sondern alle jene Dinge werdendir fern bleiben, Trunkenheit sowo<strong>hl</strong> als Lüsternheit.Iß also nur so viel, daß du damitden Hunger stillst, kleide dich nur, um deineBlöße zu bedecken! Staffiere deinen Leibnicht mit Kleidern heraus, damit du ihn nichtetwa zugrunde richtest! Denn durch allzugroße Verweic<strong>hl</strong>ichung untergräbst du seineGesundheit und richtest ihn hin durch dasviele Verzärteln. Richte alles so ein, daß du<strong>an</strong> ihm ein taugliches Fahrzeug für <strong>die</strong> Seelehast, daß der Steuerm<strong>an</strong>n sicher am Rudersitzt, daß der Soldat <strong>die</strong> Waffen geschickth<strong>an</strong>dhabt! Denn nicht viel haben,sondern wenig brauchen macht unüberwindlich.Wer viel hat, schwebt in Furcht, wenn erauch keinen Verlust erleidet; wer wenigbraucht, ist auch d<strong>an</strong>n, wenn er einen Verlusterleidet, besser dar<strong>an</strong> als <strong>die</strong>, welche keinenerleiden; er ist nämlich auch d<strong>an</strong>n immernoch wo<strong>hl</strong>gemuter als sie.


So laßt uns denn nicht das <strong>an</strong>streben, daßuns niem<strong>an</strong>d sch<strong>ad</strong>e, sondern daß uns niem<strong>an</strong>dsch<strong>ad</strong>en k<strong>an</strong>n, wenn er es auch will.Das ist aber auf keine <strong>an</strong>dere Weise möglichals so, daß wir uns auf das Bedürfnis beschränkenund nicht mehr begehren. So werdenwir imst<strong>an</strong>de sein, hier unser Auskommenzu haben und der ewigen Güter teilhaftigzu werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebeunseres Herrn Jesus Christus, durch den undmit dem Ehre sei dem Vater zugleich mitdem Hl. Geiste bis in alle Ewigkeit. Amen. SECHSUNDZWANZIGSTEHOMILIE. Kap. XIV, V. 1—13.1.271Kap. XIV, V. 1—13.V. 1: „Den, der noch schwach ist für den Glauben,nehmt auch (in eure Gemeinschaft) auf, nichtum Meinungen <strong>zum</strong> Austrage zu bringen.“Ich weiß, daß <strong>die</strong>se Worte vielen schwer verständlichsind. Darum ist es notwendig, erst<strong>die</strong> Voraussetzung <strong>an</strong>zugeben, auf der <strong>die</strong>seg<strong>an</strong>ze Stelle begründet ist, und festzustellen,was der Apostel ins rechte Geleise bringenwollte, als er <strong>die</strong>s schrieb. Was will er alsodamit ins rechte Geleise bringen? — Unterden gläubig gewordenen Juden gab es viele,welche aus Gewissenhaftigkeit gegen das(jüdische) Gesetz auch nach der Annahme<strong>des</strong> Glaubens <strong>an</strong> der Beobachtung der Speisegesetzefesthielten und nicht den Mut hatten,g<strong>an</strong>z mit dem Gesetze zu brechen. Damites nun von ihnen nicht bek<strong>an</strong>nt werde, daßsie sich nur <strong>des</strong> Schweinefleisches enthielten,so enthielten sie sich überhaupt <strong>des</strong> Fleischesund aßen nur Pfl<strong>an</strong>zenkost; ihr Gehaben solltemehr als ein Fasten erscheinen, als eineBeobachtung <strong>des</strong> Gesetzes. Andere dagegenwaren fortgeschrittener und beobachtetennichts dergleichen. Sie waren jenen Beobachtendenlästig und verhaßt, weil sie sie darobschalten, ihnen Vorwürfe machten und sie inVerzagtheit stürzten. Der <strong>hl</strong>. <strong>Paulus</strong> befürchtetenun, daß <strong>die</strong> Heidenchristen in der Absicht,ein kleines Übel abzustellen, das g<strong>an</strong>zein Verwirrung bringen könnten; daß sie imBestreben, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern dazu zu bringen, <strong>die</strong>Speisegesetze für gleichgiltig zu halten, sie<strong>zum</strong> Abfall vom Glauben ver<strong>an</strong>lassen könnten;daß sie in der Absicht, vorzeitig alles inden richtigen St<strong>an</strong>d zu bringen, den Judenchristenin der Hauptsache einen schwerenSch<strong>ad</strong>en zufügen könnten, indem sie siedurch ihr fortwähren<strong>des</strong> Schelten vom BekenntnisseChristi abwendig machen könnten,so daß sie weder Juden noch Christenblieben. Beachte, wie vorsichtig der Apostelzu Werke geht und wie er in gewohnterWeisheit den einen wie den <strong>an</strong>dernGliedern (der Christengemeinde) seine Sorge<strong>an</strong>gedeihen läßt! Er wagt nicht, den T<strong>ad</strong>lernzu sagen: „Ihr tut übel dar<strong>an</strong>“, damit er nicht<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern in der Beobachtung <strong>des</strong> Gesetzesbestärke. Er sagt aber auch nicht: „Ihr tutrecht dar<strong>an</strong>“, damit er nicht <strong>die</strong> Heftigkeitihrer Vorwürfe steigere, sondern damit eherihr T<strong>ad</strong>el maßvoll werde. Scheinbar t<strong>ad</strong>elt er<strong>die</strong> Stärkeren; aber in den Worten, <strong>die</strong> er <strong>an</strong>sie richtet, kehrt er sich eigentlich gegen <strong>die</strong><strong>an</strong>dern. So verliert nämlich eine Zurechtweisungam besten das Erbitternde, wenn sichder T<strong>ad</strong>ler mit seiner Rede <strong>an</strong> den einenwendet und den <strong>an</strong>dern trifft; denn d<strong>ad</strong>urchwird verhütet, daß der Get<strong>ad</strong>elte in Zorn gerate,und das Heilmittel der Zurechtweisungwird ihm versteckterweise beigebracht. —Beachte, wie klug der Apostel dabei vorgehtund wie er den richtigen Zeitpunkt zu wä<strong>hl</strong>enweiß! Er geht auf <strong>die</strong>sen Gegenst<strong>an</strong>d übernach den Worten: „Macht <strong>die</strong> Fürsorge umdas Fleisch nicht zu Lüsten!“ Es soll nichtden Anschein haben, als spreche er zu Gunstenderer, <strong>die</strong> es t<strong>ad</strong>eln (sich von Fleisch zuenthalten), und haben wollen, daß m<strong>an</strong> allesesse. Der schwächere Teil bedarf immer mehrder Fürsorge. Darum wendet er sich gleich


<strong>an</strong> <strong>die</strong> Stärkeren mit den Worten: „Den, dernoch schwach ist für den Glauben.“ … Siehstdu da gleich den ersten Seitenhieb, den erdem Judenchristen versetzt? D<strong>ad</strong>urch nämlich,daß er sagt: „den, der noch schwach ist“,gibt er zu verstehen, daß <strong>die</strong>ser eigentlichnoch einen ungesunden Glauben hat. Denzweiten versetzt er ihm durch den Ausdruck:„nehmt ihn auf“. Damit gibt er nämlich zuverstehen, daß ein solcher eine besondereFürsorge nötig hat, und das deutet auf einenZust<strong>an</strong>d äußerster Schwäche. „Nicht umMeinungen <strong>zum</strong> Austrage zu bringen.“ Siehda den dritten Seitenhieb, den er ihm versetzt!Er bringt nämlich damit <strong>zum</strong> Ausdruck,daß sein Fe<strong>hl</strong>er ein derartiger sei, daßselbst solche sich eine üble Note zuziehen,<strong>die</strong> zwar nicht in demselben Irrtum wie erbef<strong>an</strong>gen sind, aber mit ihm doch Freundschafthaben und näheren Umg<strong>an</strong>g mit ihmpflegen. Siehst du, wie er scheinbar seine Rede<strong>an</strong> <strong>die</strong> Heidenchristen richtet, den Judenchristenaber versteckterweise, und ohne sichihren Haß zuzuziehen, einen Vorwurfmacht? — Hierauf stellt er beide nebenein<strong>an</strong>derund lobt dabei den einen, währender den <strong>an</strong>dern t<strong>ad</strong>elt. Er fährt nämlich fort:V. 2: „Der eine glaubt, alles essen zu dürfen“,— er spricht ihm, was seinen Glauben betrifft,den Beifall aus —„der Schwache aber ißt nur Gemüse“— und <strong>die</strong>sen t<strong>ad</strong>elt er wegen seiner Schwäche.Nachdem er ihm <strong>die</strong>sen gelegentlichen Hiebversetzt hat, tröstet er ihn wieder, indem erso spricht:V. 3: „Wer ißt, mache den nicht lächerlich, welchernicht ißt!“Der Apostel sagt nicht: er lasse ihn; nicht: ermache ihm keinen Vorwurf; nicht: er weiseihn nicht zurecht; sondern: er schelte ihnnicht, er zische ihn nicht aus. Damit deutet er<strong>an</strong>, daß sein Gehaben ja wirklich lächerlichsei. Von dem <strong>an</strong>dern spricht er nicht so, sondernwie?„Der, welcher nicht ißt, bekrittle nicht den, derißt!“— Wie nämlich <strong>die</strong> Fortgeschritteneren <strong>die</strong><strong>an</strong>dern gering schätzten als schwachgläubige,halbe, unechte und noch judaisierendeChristen, so bekrittelten <strong>die</strong>se wieder jene alsGesetzesübertreter und Genußmenschen.Wahrscheinlich waren es auch m<strong>an</strong>che vonden Heidenchristen. Darum fährt der Apostelfort:„Gott hat ihn ja aufgenommen.“Betreffs der <strong>an</strong>dern hat er <strong>die</strong>s nicht gesagt.Eigentlich gebührte es dem Essenden, lächerlichgemacht zu werden als Genußmensch,und dem Nichtessenden, bekrittelt zu werdenals Schwachgläubiger. Aber der Apostelnimmt eine Umstellung vor. Er zeigt, daß dererstere nicht nur nicht ver<strong>die</strong>nt, lächerlichgemacht zu werden, sondern daß er in derLage wäre, <strong>an</strong>dere lächerlich zu machen. Bekrittleich ihn etwa auch? sagt er. Keineswegs.Darum fährt er fort: „Gott hat ihn aufgenommen.“Was re<strong>des</strong>t du ihm also vomGesetz, als habe er es übertreten? „Gott hatihn ja aufgenommen“, d. h. er hatihm seine unaussprec<strong>hl</strong>iche Gn<strong>ad</strong>e erwiesenund ihn damit frei gemacht von allen Vorwürfen.— D<strong>an</strong>n wendet er sich wieder <strong>an</strong>den Starken:V. : „Wer bist du, daß da einen fremden Sklavenbekrittelst?“Daraus erhellt, daß auch <strong>die</strong> Heidenchristen<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Bekrittelten, nicht bloß lächerlichmachten.„Seinem Herrn steht er und fällt er.“2.Sieh da, wieder ein <strong>an</strong>derer Hieb! Es scheinteine Rüge für den Starken zu sein, getroffenwird aber der <strong>an</strong>dere. Denn wenn der Apostelweiter sagt:„Er wird aber auf <strong>die</strong> Beine gebracht werden“,272


so drückt er d<strong>ad</strong>urch aus, daß er nochschw<strong>an</strong>kt und darum noch großer Rücksichtnahmebedarf; auch einer so sorgfältigenBeh<strong>an</strong>dlung bedarf er, daß m<strong>an</strong> Gott als Arztrufen muß.„Denn Gott“, heißt es, „ist imst<strong>an</strong>de, ihn auf <strong>die</strong>Beine zu bringen.“— So sprechen wir von Kr<strong>an</strong>ken, <strong>an</strong> derenAufkommen m<strong>an</strong> stark zweifelt. Damit aberder Judenchrist nicht mutlos werde, nennt erihn, den Schwachen, doch einen Sklaven,indem er sagt: „Wer bist du, daß du einen<strong>an</strong>dern Sklaven bekrittelst?“ Dabei versetztder Apostel dem Judenchristen wiederversteckterweise einen Seitenhieb. Nicht<strong>des</strong>wegen, sagt er gleichsam, verbiete ich, ihnzu bekritteln, weil er nichts get<strong>an</strong> hat, wasbekrittelt zu werden ver<strong>die</strong>nte, sondern weiler ein fremder Sklave ist, d. h. nicht deiner,sondern Gottes. D<strong>an</strong>n gibt er ihm wieder einenTrost; er sagt nicht: er fällt, sondern was?„Er steht oder fällt.“ Ob das eine oder das<strong>an</strong>dere geschieht, bei<strong>des</strong> geht seinen Herrn<strong>an</strong>; <strong>des</strong>sen Sch<strong>ad</strong>en ist es, wenn er fällt, wiees sein Vorteil ist, wenn er steht. Wenn wirhier nicht den Zweck im Auge behielten, warum<strong>Paulus</strong> das sagt — er will <strong>die</strong> Juden-Christen nicht t<strong>ad</strong>eln, bevor <strong>die</strong> Zeit dazugekommen ist — müßten wir es unvereinbarfinden mit der den Christen gebührendenFürsorge. So aber muß m<strong>an</strong>, wie ich schonimmer sage, <strong>die</strong> Absicht prüfen, warum er etwas sagt, <strong>die</strong> Voraussetzung, aufwelcher das Gesagte beruht, und was er damitin <strong>die</strong> rechte Ordnung bringen will. DieseWorte enthalten eine nicht zufällige Zurechtweisung.Wenn Gott, wollte er sagen,den es zunächst <strong>an</strong>geht, bisher nichts tut, wiekommst denn du dazu, ihn durch deinen unzeitigenund ungestümen Eifer zu ängstigenund zu quälen?V. 5: „Der eine macht einen Unterschied zwischenTag und Tag, der <strong>an</strong>dere aber hält jedenTag für gleich.“Hier scheint <strong>Paulus</strong> auf das Fasten <strong>an</strong>zuspielen.Wahrscheinlich bekrittelten m<strong>an</strong>che von273denen, welche fasteten, beständig <strong>die</strong>, welchenicht fasteten, oder es gab unter denen, <strong>die</strong>das jüdische Gesetz noch beobachteten, einige,welche gewisse Tage als Fasttage hieltenund gewisse Tage nicht. Darum sagt er auch:„Darüber soll ein jeder in seinem eigenen <strong>In</strong>nernmit sich fertig werden.“Auf <strong>die</strong>se Weise befreit er <strong>die</strong> Gesetzesbeobachtervon ihrer Furcht, indem er <strong>die</strong> Sacheals bel<strong>an</strong>glos erklärt, und schiebt der Streitlustder <strong>an</strong>dern, <strong>die</strong> ihnen <strong>des</strong>wegen heftigzusetzten, einen Riegel vor, indem er zeigt,daß der fromme Eifer es ger<strong>ad</strong>e nicht fordere,sie <strong>des</strong>wegen immerfort zu belästigen. Derfromme Eifer forderte es nicht, nicht in Anbetrachtder Sache, um <strong>die</strong> es sich h<strong>an</strong>delte,sondern in Anbetracht <strong>des</strong> Umst<strong>an</strong><strong>des</strong>, daßsie noch Neulinge im Glauben waren. Im<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Kolosser verbietet er dasselbemit Eifer, wenn er sagt: „Sehet euch wo<strong>hl</strong>vor, daß euch niem<strong>an</strong>d einf<strong>an</strong>ge vermittelstder Weltweisheit und nichtigem Trug nachArt (einer Religion) mensc<strong>hl</strong>icher Erfindung,nach Art (einer Verehrung) der Naturkräfte,nicht nach Art Christi“ 367 . Und wiederum:„Es soll euch niem<strong>an</strong>d eine Vorschrift machenin bezug auf Speise und Tr<strong>an</strong>k“ 368 , und:„Es soll euch niem<strong>an</strong>d den Sieg rauben.“ Im<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater verl<strong>an</strong>gt er von <strong>die</strong>senmit aller Strenge das rechte Wissen in <strong>die</strong>senDingen und auch das Verhalten darnach.Hier jedoch sc<strong>hl</strong>ägt er nicht <strong>die</strong>senTon <strong>an</strong>, weil ihr Glaube noch jugendschwachwar. Der Satz: „Darüber soll ein jeder in seinemeigenen <strong>In</strong>nern mit sich fertig werden“ist also nicht allgemein zu nehmen. Höre nur,was er sagt, wenn von Glaubenssätzen <strong>die</strong>Rede ist! „Wenn euch jem<strong>an</strong>d eine Heilsbotschaftverkündet, <strong>die</strong> abweicht von der, <strong>die</strong>ihr von mir empf<strong>an</strong>gen habt, so sei der B<strong>an</strong>nüber ihn ausgesprochen!“ 369 Und wiederum:„Ich fürchte, daß, wie <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge <strong>die</strong> Evaberückt hat, so auch euer Sinn verdorben367 Kol. 2, 8.368 Ebd. 2, 16 .369 Gal. 1, 9.


werde“ 370 . Und im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Philippersagt er: „Habt acht auf <strong>die</strong> Hunde, habt achtauf <strong>die</strong> bösen Arbeiter, habt acht auf <strong>die</strong> Zerschneidung!“371 Weil es aber bei den <strong>Römer</strong>nnoch nicht <strong>an</strong> der richtigen Zeit war, in <strong>die</strong>semPunkte auf vollständige Richtigkeit zudringen, heißt es hier: „Darüber soll ein jederin seinem eigenen <strong>In</strong>nern mit sich fertig werden.“Er sagt das hier, wo vom Fasten <strong>die</strong>Rede ist, um das zu schroffe Aburteilen dereinen hint<strong>an</strong>zuhalten und <strong>die</strong> Ängstlichkeitder <strong>an</strong>dern zu b<strong>an</strong>nen.V. 6: „Wer den Tag im Gedächtnisse behält, hältihn im Gedächtnisse dem Herrn zuliebe; wer ihnnicht im Gedächtnisse behält, hält ihn nicht imGedächtnisse dem Herrn zuliebe. Und der ißt, ißtdem Herrn zuliebe; er spricht ja dabei ein D<strong>an</strong>kgebetzu Gott. Der nicht ißt, ißt nicht Gott zuliebeund spricht zu Gott auch ein D<strong>an</strong>kgebet.“Noch immer hält sich der Apostel bei demselbenGed<strong>an</strong>ken auf. Der Sinn seiner Worteist folgender: Hier h<strong>an</strong>delt es sich nicht umHauptstücke. Die Frage ist <strong>die</strong>, ob der einewie der <strong>an</strong>dere Gott zuliebe h<strong>an</strong>delt. DieFrage ist, ob beide darauf hinauskommen,Gott D<strong>an</strong>k zu sagen. Ja; denn der eine wieder <strong>an</strong>dere spricht ja ein D<strong>an</strong>kgebet zu Gott.Wenn also beide Gott d<strong>an</strong>ken, so ist ja keingroßer Unterschied. Beachte da, wie der Apostel hier wieder dem Christen,der am jüdischen Gesetze festhält, versteckteinen Seitenhieb versetzt! Denn wenn sie <strong>die</strong>Frage um den D<strong>an</strong>k dreht, so ist ja klar, daßder, welcher ißt, derjenige ist, welcher (Gott)d<strong>an</strong>kt, nicht der, welcher nicht ißt. Wie könnte<strong>die</strong>s auch der letztere, da er ja am Gesetzefesthält. Das sagt der Apostel auch im <strong>Briefe</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater. „Ihr, <strong>die</strong> ihr im Gesetze Rechtfertigungfinden wollt, fallt aus dem Bereichder Gn<strong>ad</strong>e heraus“ 372 . Hier deutet <strong>die</strong>s derApostel nur <strong>an</strong>, spricht es aber nicht so deutlichaus. Es war noch nicht <strong>die</strong> richtige Zeit370 2 Kor. 11, 3.371 Phil. 3, 2. „Zerschneidung nennt <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong> Beschneidung, welche vonm<strong>an</strong>chen Judenchristen als notwendig <strong>zum</strong> Heil auch für <strong>die</strong> Christengepredigt wurde, wodurch sie Uneinigkeit hervorriefen.372 Gal. 5, 4.274dazu. Vorläufig läßt er es noch dahingestelltsein und drückt sich deutlicher darüber imfolgenden aus. Er sagt nämlich:V. 7: „Niem<strong>an</strong>d von uns lebt ja sich selber, undniem<strong>an</strong>d stirbt sich selber.“V. 8: „Denn wenn wir leben, so leben wir demHerrn; und wenn wir sterben, so sterben wir demHerrn.“Durch <strong>die</strong>se Worte bringt der Apostel denselbenGed<strong>an</strong>ken noch klarer <strong>zum</strong> Ausdruck.Denn wie k<strong>an</strong>n der, welcher dem Gesetzelebt, Christus leben? Nicht bloß das beweistder Apostel, sondern er hält auch den zurück,der sich ungestüm darauf stürzt, jeneauf den rechten Weg zu bringen. Er rät, Geduldzu haben, indem er darauf hinweist,daß Gott sie unmöglich g<strong>an</strong>z aufgeben k<strong>an</strong>n,daß er sie schon zur rechten Zeit auf denrechten Weg bringen wird.3.Was heißt es übrigens: „Niem<strong>an</strong>d von unslebt sich selber“? — Wir sind nicht frei, wirhaben einen Herrn, welcher will, daß wirleben, und nicht will, daß wir sterben, welchendas eine wie das <strong>an</strong>dere mehr als unsselbst kümmert. Darum weist der Aposteldarauf hin, daß er mehr als wir selbst um unsSorge trägt und mehr als wir selbst unserLeben für seinen Gewinn und unsern Tod fürseinen Verlust einschätzt. Wir sterben alsonicht bloß uns selbst, sondern auch demHerrn, wenn wir sterben. Als Tod verstehthier der Apostel einen solchen dem Glaubennach. — Es wäre eigentlich schon hinreichend,wenn er nur bewiesen hätte, daß Gott sich um uns kümmert, daß wirihm leben und ihm sterben. Aber das ist ihmnicht genug, sondern er führt noch etwasdafür <strong>an</strong>. Er sagt nämlich: „Ob wir leben oderob wir sterben — <strong>des</strong> Herrn sind wir.“ Nungeht der Apostel vom geistigen Tode auf denleiblichen über, um nicht seine Rede als allzu


hart erscheinen zu lassen, und führt ein <strong>an</strong>deresZeichen — das größte — der Fürsorgeum uns <strong>an</strong>. Welches ist <strong>die</strong>s?V. 9: „Denn dazu ist Christus gestorben undauferst<strong>an</strong>den und <strong>zum</strong> Leben zurückgekehrt, damiter Herr sei der Toten und Lebendigen.“Auch das soll dich überzeugen, daß Gott fürunser Heil und unsere Besserung Sorge trägt.Denn wenn er keine solche Fürsorge um unstrüge, wozu wäre eine Heilsordnung nötiggewesen? Er, der es sich so sehr hat <strong>an</strong>gelegensein lassen, daß wir sein Eigentum werden,daß er Knechtsgestalt <strong>an</strong>nahm und denTod erlitt, er sollte sich nicht weiter um unskümmern, nachdem wir sein Eigentum gewordensind? Nein, das ist nicht möglich. Erhätte sich d<strong>an</strong>n nicht um uns solche Mühegegeben. „Denn dazu ist Christus gestorben.“Das ist so zu verstehen, wie wenn jem<strong>an</strong>dsagte, der und der k<strong>an</strong>n seinen Sklavennicht aufgeben; er ist dazu zu sehr auf seineneigenen Vorteil bedacht. Ja, wir lieben nichtso das Geld wie er unser Heil. Er hat abernicht Geld, sondern sein Blut für uns hingegeben.Darum k<strong>an</strong>n er <strong>die</strong> nicht fahren lassen,für <strong>die</strong> er etwas so Kostbares eingesetzthat. Beachte aber, wie der Apostel dartut,daß Gottes Machtbereich unaussprec<strong>hl</strong>ichgroß sei! Er sagt: „Denn dazu ist Christusgestorben und wieder <strong>zum</strong> Leben zurückgekehrt,damit er Herr sei der Toten und Lebendigen“;und oben: „Ob wir leben oder obwir sterben, sein sind wir.“ Siehst du da nichteine Herrscherlewalt ausgedrückt, <strong>die</strong> nichtmehr steigerungsfähig ist? Siehst du da nichteine Gewalt ausgesprochen, <strong>die</strong> einfach unüberwindlichist? Siehst du da nicht eine Fürsorgeausgedrückt, <strong>die</strong> bis ins kleinste geht?Er trägt Sorge auch um <strong>die</strong> Abgeschiedenen,geschweige denn um <strong>die</strong> Lebenden,soll das heißen. Wenn er aber um <strong>die</strong>Abgeschiedenen Sorge trägt, so ist klar, daßer es auch um <strong>die</strong> Lebenden tun wird. Er hatnichts unterlassen, um <strong>die</strong>ses Herrschaftsrechtauf uns zu erwerben, er hat sich mehrRechte auf uns erworben als je Menschen,275und alles das zu keinem <strong>an</strong>dern Zweck, alsum für uns (als sein Eigentum) Sorge zu tragen.Ein Mensch gibt Geld für einen Sklavenaus, und darum hält er ihn d<strong>an</strong>n fest als seinEigentum. Christus aber hat sein Leben dahingegeben.Und da sollte ihm das Heil <strong>des</strong>sennichts gelten, für den er einen so hohenKaufpreis geza<strong>hl</strong>t, auf den er sein Herrscherrechtmit solcher Mühe und Arbeit erworbenhat! Damit will der Apostel dem Judenchristeneinen Merks geben und ihn <strong>an</strong> <strong>die</strong> Größeder Wo<strong>hl</strong>tat erinnern, daß er, der tot war,lebendig geworden, und daß er vom Gesetzekeinen Gewinn gehabt habe; daß es darumhöchste Und<strong>an</strong>kbarkeit wäre, den zu verlassen,der so viel für ihn get<strong>an</strong> hat, und wiederzurückzukehren <strong>zum</strong> Gesetz.Nachdem nun der Apostel den Judenchristengenügend klein gemacht hat, hebt er ihnwieder empor, indem er spricht:V. 10: „Du aber, was bekrittelst du deinen Bruder?spricht der Herr, mir soll sich beugen je<strong>des</strong>Knie, und jede Zunge soll Gott <strong>die</strong> Beicht ablegen.“— Scheinbar werden <strong>die</strong>se beiden Ausstellungenam <strong>an</strong>dern auf <strong>die</strong>selbe Stufe gestellt;aus dem vorher darüber Gesagten erweistsich aber ein ziemlicher Unterschied. Zunächstsucht der Apostel durch das Wort„Bruder“ <strong>die</strong> feindselige Gesinnung zu b<strong>an</strong>nen,im weiteren durch <strong>die</strong> Erinnerung <strong>an</strong>den schrecklichen Tag <strong>des</strong> Gerichtes. Dennnach den Worten: „Was machst du deinenBruder lächerlich?“ fährt er fort:„Alle werden wir ja vor den Richterstu<strong>hl</strong> Christihintreten müssen.“— Scheinbar droht er mit <strong>die</strong>sen Wortenwieder dem Fortgeschritteneren, in Wirklichkeitgeht er der Einbildung <strong>des</strong> Judaisierendenzu Leibe; er wirkt auf ihn nicht bloß durch <strong>die</strong> Erinnerung <strong>an</strong> <strong>die</strong>empf<strong>an</strong>gene Wo<strong>hl</strong>tat, sondern auch durch<strong>die</strong> Furcht vor der zukünftigen Strafe. „Allewerden wir ja vor den Richterstu<strong>hl</strong> Christihintreten müssen“, heißt es.


V. 11: „Denn es steht geschrieben: So wahr ic<strong>hl</strong>ebe, mir soll sich beugen je<strong>des</strong> Knie, und jedeZunge soll Gott <strong>die</strong> Beicht ablegen“;V. 12: „also hat ein jeder von uns Gott Rechenschaftzu geben.“Siehst du da, wie der Apostel wieder <strong>die</strong>Meinung der Judenchristen erschüttert, währender scheinbar <strong>die</strong> gegenteilige trifft? Ergibt etwa dasselbe zu verstehen, wie wenn ersagte: Was kümmerst du dich? Du wirst j<strong>ad</strong>och wo<strong>hl</strong> für ihn nicht gestraft werden? Dassagt er freilich nicht so; er gibt es aber zu verstehen,indem er sich milder ausdrückt undspricht: „Alle werden wir ja vor den Richterstu<strong>hl</strong>Christi hintreten müssen“, und: „Alsohat ein jeder von uns Gott Rechenschaft zugeben.“ Auch den Propheten führt er alsZeugen dafür <strong>an</strong>, daß alle Gott unterworfensind, und zwar unterworfen im eigentlichstenSinne, daß ihm auch <strong>die</strong> Menschenim Alten Bunde unterworfen sind, kurz, alleMenschen. Er sagt nicht einfach: Ein jedersoll ihm Anbetung leisten, sondern sogar: „ersoll ihm <strong>die</strong> Beichte ablegen“, d. h. er sollihm ein Geständnis ablegen über das, was erget<strong>an</strong> hat.4.Sei also auf deiner Hut, da du den gemeinsamenHerrn aller auf dem Richterstu<strong>hl</strong> sitzensiehst, und spalte oder teile nicht <strong>die</strong> Kirche,indem du <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e verläßt und demGesetze zulaufst! Denn auch das Gesetz gehörtChristus. Ja, was sag’ ich das Gesetz!Auch <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> unter dem Gesetzelebten und auch <strong>die</strong> vor dem Gesetze. Nichtdas Gesetz wird von dir Rechenschaft verl<strong>an</strong>gen,sondern Christus von dir und vonder g<strong>an</strong>zen Menschheit. Siehst du, wie derApostel <strong>die</strong> Furcht vor dem Gesetze geb<strong>an</strong>nthat? — D<strong>an</strong>n spinnt der Apostel denselbenGed<strong>an</strong>ken weiter, damit es nicht den Anscheinhabe, als hätten seine Worte den Zweck gehabt, <strong>die</strong> Judenchristen zuschrecken, sondern als sei er durch <strong>die</strong> Ged<strong>an</strong>kenfolgedarauf geführt worden.V. 13: „Wir wollen also nicht mehr darüber ein<strong>an</strong>derVorschriften machen, sondern macht euc<strong>hl</strong>ieber <strong>die</strong> Vorschrift, dem Bruder nicht mehr Anstoßund Ärgernis zu geben!“Das geht den einen so gut <strong>an</strong> wie den <strong>an</strong>dern.Es k<strong>an</strong>n darum auf beide bezogen werden,sowo<strong>hl</strong> auf den Fortgeschrittenen, der Ärgernisnimmt <strong>an</strong> der Beobachtung der Speisegesetze,als auch auf den Schwachen imGlauben, der durch den herben T<strong>ad</strong>el <strong>des</strong><strong>an</strong>dern sich gestoßen fü<strong>hl</strong>t. Du aber magstdaraus ersehen, wie schwere Strafe <strong>die</strong>jenigentreffen wird, welche <strong>an</strong>dere zur SündeAnlaß geben. Denn wenn der Apostel esschon verbietet, vorschnell eine Ausstellungzu machen in einer Sache, <strong>die</strong> <strong>an</strong> sich unerlaubtwar, nur damit d<strong>ad</strong>urch der Brudernicht geärgert und getroffen werde, waswerden wir erst ver<strong>die</strong>nen, wenn wir jem<strong>an</strong>demÄrgernis geben ohne <strong>die</strong> Absicht, etwasins Richtige zu bringen? Wenn es schon Gegenst<strong>an</strong>deiner Anklage ist, nichts zur Rettung<strong>an</strong>derer beigetragen zu haben, wie <strong>an</strong>dem Knecht ersichtlich ist, der sein Talentvergrub, was wird es erst für Folgen haben,<strong>an</strong>dern Ärgernis gegeben zu haben? — Wasaber, fragst du, wenn einer sich zur Sündeverleiten läßt aus eigener Schwäche? Ebendarum solltest du auf das Rücksicht nehmen.Denn wenn er stark wäre, hätte er eine solcheRücksichtnahme nicht nötig. Nun aber eben,weil er gar zu schwach ist, bedarf er einerbesonders vorsichtigen Beh<strong>an</strong>dlung. Lassenwir ihm also eine solche <strong>an</strong>gedeihen undstützen wir ihn von allen Seiten! Wir werdenja nicht bloß für unsere eigenen Sünden zurRechenschaft gezogen werden, sondern auchfür <strong>die</strong>jenigen, zu welchen wir <strong>an</strong>dern Ver<strong>an</strong>lassunggegeben haben. Nun ist jene ersteRechenschaft schon so schwer; wenn auch<strong>die</strong>se <strong>an</strong>dere noch dazu kommt, wie werdenwir da selig werden? Denn wir dürfen j<strong>an</strong>icht glauben, daß es uns zur Entschuldi-


gung <strong>die</strong>nen werde, wenn wir Teilnehmer <strong>an</strong>unsern Sünden gefunden haben; im Gegenteil,es wird <strong>die</strong>s un- sere Strafe nurnoch verschärfen. Wurde ja doch auch <strong>die</strong>Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>ge schwerer gestraft als das Weib, unddas Weib schwerer als der M<strong>an</strong>n, und Jezabelschwerer als Achab, der den Weinberg geraubthatte; denn sie war es gewesen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>g<strong>an</strong>ze Ungerechtigkeit eingefädelt und denKönig dazu verleitet hatte. So wirst also auchdu, wenn du <strong>die</strong> Ursache <strong>des</strong> Verderbens<strong>an</strong>derer geworden bist, härtere Strafen zuleiden haben als <strong>die</strong>jenigen, welche durchdich unglücklich geworden sind. Denn selbstsündigen ist nicht so verderblich als <strong>an</strong>derezur Sünde verleiten. Darum heißt es: „Sieverüben nicht bloß selbst solche Laster, sondernsie zollen auch denen, <strong>die</strong> sie verüben,Beifall“ 373 .Wenn wir darum <strong>an</strong>dere sündigen sehen, sowollen wir sie nicht nur nicht noch weitervorstoßen, sondern sie aus dem Abgrund <strong>des</strong>Lasters herauszuziehen suchen, damit nichtauch uns <strong>die</strong> Strafe treffe für ihr Verderben!Laßt uns beständig denken <strong>an</strong> den furchtbarenRichterstu<strong>hl</strong>, <strong>an</strong> den Feuerstrom, <strong>an</strong> <strong>die</strong>unlöslichen Ketten, <strong>an</strong> <strong>die</strong> Finsternis, <strong>die</strong> keinLichtstra<strong>hl</strong> erhellt, <strong>an</strong> das Zähneknirschen,<strong>an</strong> den giftgeschwollenen Wurm! — AberGott liebt ja <strong>die</strong> Menschen, (wendet m<strong>an</strong> ein).— So sind das also leere Worte? So hat alsojener Reiche, der den Lazarus keines Blickeswürdigte, keine Strafe zu leiden? So sind also<strong>die</strong> törichten Jungfrauen nicht vom Hochzeitsma<strong>hl</strong>eausgesc<strong>hl</strong>ossen? Und <strong>die</strong>jenigen,welche Christus nicht gespeist haben, werdennicht in das Feuer w<strong>an</strong>dern, welchesdem Teufel bereitet ist? Fiel also jener, derkein hochzeitliches Kleid <strong>an</strong>hatte, nicht, <strong>an</strong>Händen und Füßen gebunden, dem Verderben<strong>an</strong>heim? Und der Knecht, der von seinemMitknechte unbarmherzig <strong>die</strong> hundertDenare forderte, ist also nicht dem Peinigerüber<strong>an</strong>twortet? Es ist also nicht wahr, wasvon den Ehebrechern gesagt ist: „Ihr Wurmwird nicht sterben, ihr Feuer nicht erlöschen“?374 So sind das alles nur leere Drohungen?— Jawo<strong>hl</strong>, <strong>an</strong>twortest du. — Sag’mir, wie k<strong>an</strong>nst du dich erkühnen,über eine so wichtige Sache eine so willkürlicheBehauptung auszusprechen? Ich k<strong>an</strong>n dirsowo<strong>hl</strong> aus den Worten wie auch aus denTaten Christi das Gegenteil beweisen. Wenndu den Drohungen mit zukünftigen Strafennicht glauben willst, so glaube wenigstensdenen, <strong>die</strong> bereits vollzogen sind; denn <strong>die</strong>sind eben bereits vollzogen und zu Tatsachengeworden, also gewiß keine bloße Drohungenund leeren Worte. Wer hat den g<strong>an</strong>zenErdkreis unter Wasserfluten begraben, jeneentsetzliche Überschwemmung und den Unterg<strong>an</strong>gunseres g<strong>an</strong>zen Gesc<strong>hl</strong>echtes herbeigeführt?Wer hat nachher jene Blitze und jenenVertilgungsbr<strong>an</strong>d über das Gebiet vonSodoma herabges<strong>an</strong>dt? Wer hat <strong>die</strong> g<strong>an</strong>zeMacht Ägyptens ins Meer versenkt? Wer hat<strong>die</strong> sechshunderttausend Menschen in derWüste umkommen lassen? Wer hat <strong>die</strong> RotteAbirons durch Feuer vernichtet? Wer hat derErde geboten, ihren Mund aufzutun und <strong>die</strong>Gefährten <strong>des</strong> Kore und Dath<strong>an</strong> zu versc<strong>hl</strong>ingen?Wer hat zur Zeit Davids siebzigtausendMenschen in einem Augenblick dahingerafft?Soll ich noch jene <strong>an</strong>führen, <strong>die</strong>einzeln gestraft wurden? Den Kain, den nieendende Strafe traf? Den Charmi, der mitseinem g<strong>an</strong>zen Hause gesteinigt ward? DenM<strong>an</strong>n, der dasselbe Schicksal erlitt, weil eram Sabbate Holz gesammelt hatte? Jenezweiundvierzig Knaben, <strong>die</strong> von wilden Tierenzerrissen wurden und nicht einmal mitRücksicht auf ihr jugendliches Alter Verzeihungerhielten?5.373 Röm. 1, 32.277374 Mark. 9, 45.


Willst du aber auch Beispiele aus dem Zeitalterder Gn<strong>ad</strong>e sehen, so denk dar<strong>an</strong>, was <strong>die</strong>Juden zu erleiden hatten: wie Weiber ihreeigenen Kinder aufaßen, m<strong>an</strong>che gebraten,m<strong>an</strong>che auf <strong>an</strong>dere Weise als Speise zubereitet;wie sie unerträglicher Hungersnot undvielfältigen schrecklichen Kriegen preisgegeben,durch das Übermaß ihres Unglückes derWelt ein nie gesehenes Trauerspiel darboten.Es war Christus, der <strong>die</strong>se Leiden über siekommen ließ. Höre nur, wie er sie ihnen vorausgesagthatte teils in Parabeln, teils in klaren,deutlichen Worten! <strong>In</strong> Parabeln, wenn erz. B. sagt: „Die mich nicht <strong>zum</strong> Könige habenwollten, <strong>die</strong> führet her und tötetsie!“ 375 Ferner in den Parabeln vom Weinstockeund vom Hochzeitsma<strong>hl</strong>e. <strong>In</strong> klaren Wortenwenn er droht, daß sie werden fallendurch <strong>die</strong> Schärfe <strong>des</strong> Schwertes und gef<strong>an</strong>genweggeführt werden unter alle Völker; …daß sie im fremden L<strong>an</strong>de Angst ausstehenwerden wegen <strong>des</strong> ungestümen Rauschens<strong>des</strong> Meeres, daß <strong>die</strong> Menschen verschmachtenwerden vor Furcht 376 . Ferner: „Es wirdalsd<strong>an</strong>n eine große Trübsal sein dergleichennicht gewesen ist noch fernerhin seinwird“ 377 . Was An<strong>an</strong>ias und Saphira für eineStrafe litten wegen der Untersc<strong>hl</strong>agung wenigerGeldstücke, ist euch allen bek<strong>an</strong>nt. Übrigenssiehst du nicht selbst täglich Unglücksfälleüber <strong>die</strong> Menschen hereinbrechen?Oder sind das auch nicht wirklicheTatsachten? Siehst du nicht auch jetzt Leutevor Hunger umkommen? <strong>an</strong> Eleph<strong>an</strong>tiasisund Aussatz hinsiechen? in bitterer Not undArmut ihr Dasein fristen? tausendfältige Leidenerdulden? Was hätte es für einen Sinn,<strong>die</strong> einen zu strafen, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern nicht? WennGott nicht ungerecht ist —und er ist es nicht—, d<strong>an</strong>n wirst gewiß auch du für deine SündenStrafe erleiden. Wenn es wahr wäre, daßGott nicht straft, weil er zu lieb dazu ist,d<strong>an</strong>n hätte er auch jene nicht strafen dürfen.Nun straft aber Gott oft schon hier auf Erdenger<strong>ad</strong>e um solcher Reden willen, wie ihr sieführt. Wenn ihr seinen Drohworten nichtglaubt, sollt ihr durch Tatsachen dazu gebrachtwerden, <strong>an</strong> seine Strafe zu glauben.Und weil früher Geschehenes euch nicht solcheFurcht einjagt, darum läßt er in jedemMenschenalter solche Dinge geschehen, umdurch das, was sich in der Jetztzeit ereignet,der Vermessenheit jeden Vorw<strong>an</strong>d zu nehmen.Aber, fragst du, warum straft Gott nicht alleschon hier auf Erden? — Um den <strong>an</strong>dernFrist zur Umkehr zu gewähren. — Und warumstraft er nicht alle erst im Jenseits? —Damit nicht etwa viele <strong>an</strong> seiner Vorsehungirre werden. — Wie viele Räuber werden gef<strong>an</strong>gen,während <strong>an</strong>dere straflos entkommen?Wo bleibt da <strong>die</strong> Liebe Gottes?— An mir wäre es, dich so zu fragen. Dennwäre nie jem<strong>an</strong>d gestraft worden d<strong>an</strong>n hättestdu allerdings eine Ausflucht. So aber,wenn <strong>die</strong> einen bestraft werden, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dernaber trotz sc<strong>hl</strong>immerer Sünden straflos ausgehen,wo bliebe da <strong>die</strong> Gerechtigkeit, wennes für <strong>die</strong>selben Sünden nicht <strong>die</strong>selben Strafengäbe? — Hat es aber da nicht den Anschein,daß denen, <strong>die</strong> gestraft werden, unrechtgeschieht? Warum werden nicht allehier auf Erden gestraft? — Höre <strong>die</strong> Antwort,<strong>die</strong> Christus selbst auf <strong>die</strong>se Frage gibt! Alsnämlich beim Einsturz eines Turmes einigeLeute ums Leben gekommen waren, spracher zu denen, <strong>die</strong> darüber betroffen waren:„Meint ihr, daß <strong>die</strong>se größere Sünder warenals alle <strong>an</strong>dern? Nein, sage ich euch; sondernwenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr alleauf <strong>die</strong>selbe Weise zugrunde gehen“ 378 . Ergibt uns eine Mahnung, nicht vermessentlichzu vertrauen, wenn wir trotz unserer vielenSünden keine Strafe erleiden, während <strong>an</strong>deregestraft werden. Denn wenn wir uns nichtbekehren, so werden wir gewiß <strong>die</strong>selbe Strafeerleiden.375 Luk. 19, 27.376 Ungenau zitiert nach Luk. 21, 24. 26.377 Matth. 24, 21.278378 Luk. 13, 4. 5.


Wieso, fragt m<strong>an</strong>, werden wir ewig gestraftwerden, da wir doch hienieden nur kurzeZeit gesündigt haben?— Wieso wird, frage ich dawider, einMensch für einen Mord, den er in einem Augenblickbeg<strong>an</strong>gen hat, zu lebenslänglicherZw<strong>an</strong>gsarbeit in den Metallbergwerken verurteilt?— Aber Gott tut das nicht, sagst du.— Warum, sagt mir, ließ er aber den Gichtbrüchigenachtunddreißig Jahre l<strong>an</strong>g in soschwerer Strafe schmachten? Daß sein Leideneine Strafe für Sünden war, vernimm ausseinem eigenen Munde: „Siehe“, spricht er,„du bist gesund geworden; sündige nun fernernicht mehr!“ 379 — Aber er wurde ja dochdavon erlöst, sagst du. Ja, aber dort wird esnicht so sein. Daß es dort keine Erlösung gebenwird, dafür vernimm den AusspruchChristi selbst: „Ihr Wurm wird nicht sterbenund das Feuer nicht erlöschen“ 380 , und: „Diesewerden <strong>zum</strong> ewi- gen Leben, jeneaber zur ewigen Strafe gehen“ 381 . Wenn nundas Leben ewig ist, so ist auch <strong>die</strong> Strafe e-wig. Siehst du nicht, was der Herr den Juden<strong>an</strong>gedroht hatte? Traf nun <strong>die</strong>se Drohungnicht ein, oder waren es leere Worte? „Eswird kein Stein auf dem <strong>an</strong>dern bleiben“ 382 .Nun, und blieb einer auf dem <strong>an</strong>dern? Unddas weitere, was er sprach: „Es wird eineTrübsal sein, wie dergleichen keine gewesenist“? 383 Hat sich’s nicht erfüllt? Lies nur <strong>die</strong>Geschichte <strong>des</strong> Josephus (Flavius), und derAtem wird dir stehen bleiben beim bloßenHören der Dinge, <strong>die</strong> damals <strong>die</strong> Juden erlitten.Das sage ich, nicht um euch zu betrüben,sondern um euch nicht in falsche Sicherheiteinzuwiegen und euch nicht durch un<strong>an</strong>gebrachteMilde ein unglückliches Los zu bereiten.Warum, sag’ mir, solltest du für Sündennicht Strafe ver<strong>die</strong>nt haben? Hat dir der Herrnicht alles vorausgesagt? Hat er dir nicht gedroht?Hat er dir nicht Hilfe geleistet? Hat ernicht unendlich viel für dein Heil get<strong>an</strong>? Hater dir nicht das B<strong>ad</strong> der Wiedergeburt geschenktund alles Frühere nachgelassen? Hater dir nicht auch nach <strong>die</strong>ser Sündennac<strong>hl</strong>assungund nach <strong>die</strong>sem B<strong>ad</strong>, wenn du wiedergesündigt hast, seine Hilfe zur Bekehrunggewährt? Hat er dir nicht den Weg der Sündenvergebungleicht gemacht?6.Höre nur, welches Gebot er gegeben hat!„Wenn du deinem Nächsten vergibst, so vergebeich auch dir“ 384 , sagt er. Liegt darin eineSchwierigkeit? „Schaffet Recht der Waiseund nehmt euch der Witwe <strong>an</strong> bei Gericht“,spricht er, „und d<strong>an</strong>n werden wir rechtenmitsammen. Wenn eure Sünden rot wärenwie Purpur, so will ich sie weiß machen wieSchnee.“ 385 Kostet das eine Anstrengung?„Bekenne deine Sünden, auf daß du derRechtfertigung teilhaftig wer<strong>des</strong>t!“ 386 Ist dasetwas Schweres? „Kaufe dich los von deinenSünden durch Almosen!“ 387 Gehörtdazu besondere Mühe? Der Zöllner sprachbloß: „Sei gnädig mir Sünder!“ 388 und er ginggerechtfertigt von d<strong>an</strong>nen. Ist es dennschwer, <strong>die</strong>sem Zöllner es nachzutun?Und doch willst du es immer noch nichtglauben, daß es eine Strafe und eine rächendeVergeltung gibt? „Gehet hinweg in dasFeuer“, heißt es, „das dem Teufel bereitetist!“ 389 Gibt es keine Hölle, d<strong>an</strong>n hat auch derTeufel keine Strafe zu erleiden. Wird aber derTeufel gestraft, d<strong>an</strong>n auch wir; denn auchwir haben Gott den Gehorsam verweigert,wenn auch nicht auf <strong>die</strong>selbe Weise. Wie dudich nur nicht fürchtest und es wagst, eine sovermessene Rede zu führen? Denn wenn dusagst: Gott liebt uns Menschen und straft uns379 Joh. 5, 14.380 Mark. 9, 45.381 Matth. 25, 46; Mark, 9, 43.382 Luk. 21, 6.383 Matth. 24, 21.279384 Ebd. 6, 14. D m Sinne nach zitiert.e385 Is. 1, 17. 18.386 Ebd. 43, 26.387 D<strong>an</strong>. 4, 24.388 Luk. 18, 13.389 Matth. 25, 41.


darum nicht, und er straft euch dennoch, soerscheint er euch gegenüber nicht als Gottder Liebe. Siehst du, zu was für törichten Redeneuch der Teufel verleitet? — Und wasweiter? Werden denn wo<strong>hl</strong> <strong>die</strong> Mönche, <strong>die</strong>einsam in Gebirgen wohnen und ungezä<strong>hl</strong>tenTugendübungen obliegen, keinen Lohndafür empf<strong>an</strong>gen? Denn wenn <strong>die</strong> Bösennicht bestraft werden und es keine Vergeltunggibt, so könnte jem<strong>an</strong>d mit dem gleichenRecht behaupten, daß es auch keine Belohnungder Guten geben wird. — Nein,<strong>an</strong>twortest du. Ger<strong>ad</strong>e das geziemt sich fürGott, daß es einen Himmel gebe, aber keineHölle. — Also wird der Unzüchtige und derEhebrecher und der sc<strong>hl</strong>immste Sünder dernämlichen Seligkeit teilhaftig werden wiejene, <strong>die</strong> sich durch ein enthaltsames undheiligmäßiges Leben ausgezeichnet haben?Und <strong>Paulus</strong> wird neben Nero gestellt werden,ja selbst der Teufel neben <strong>Paulus</strong>? Dennwenn es keine Hölle gibt, aber doch eineAuferstehung aller, d<strong>an</strong>n werden <strong>die</strong> Bösenja derselben Seligkeit teilhaftig werden wie<strong>die</strong> Gerechten. Welcher Mensch, und wäre erauch g<strong>an</strong>z vom Verst<strong>an</strong>d gekommen, möchteso etwas behaupten? Ja, welcher Teufel, frageich, möchte so etwas sagen? Denn auch <strong>die</strong>bösen Geister bekennen, daß es eineHölle gibt. Darum schrien sie (zu Christi Zeiten):„Bist du hierher gekommen, uns vor derZeit zu quälen?“ 390 Fürchtest du dich nicht,erschauderst du nicht davor, das zu leugnen,was selbst <strong>die</strong> bösen Geister bekennen? Wiek<strong>an</strong>nst du nur nicht sehen, wer der ist derdich so verderbliche Sätze lehrt? Es ist der,welcher schon von Anbeginn den Menschenbetrogen, ihm Hoffnungen auf Größeres vorgespiegeltund ihm dabei das Gute, das er inHänden hielt, entrissen hat; derselbe ist esauch jetzt, der dir solche Reden und Ged<strong>an</strong>keneinflüstert. Seine Absicht, warum erm<strong>an</strong>che überreden möchte, zu denken, esgebe keine Hölle, ist <strong>die</strong>, daß er sie in <strong>die</strong>390 Matth. 8, 29.280Hölle hinabstürze, Gott dagegen droht mitder Hölle und hat sie vorbereitet, damit dudir <strong>die</strong> Drohung zu Gemüte führest und solebest, daß du nicht in <strong>die</strong> Hölle kommst. Eskönnte noch <strong>die</strong> Frage entstehen, warum <strong>die</strong>bösen Geister, wenn es keine Hölle gäbe,doch ihren Glauben <strong>an</strong> eine solche bek<strong>an</strong>nten,während der Teufel dich überredenmöchte, nicht dar<strong>an</strong> zu glauben, obzwar esdoch eine gibt? Liegt ja jenen doch auch dar<strong>an</strong>,daß wir nichts dergleichen fürchten, damitwir auf <strong>die</strong>se Weise sorglos und um soleichtsinniger werden und so mit ihnen injenes Feuer hinabstürzen. Warum bek<strong>an</strong>ntensie also, könnte m<strong>an</strong> fragen, zu Jesu Zeit ihrenGlauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hölle? Sie konnten einfachdem Zw<strong>an</strong>ge, der sich ihnen aufdrängte,nicht widerstehen.Das alles mögen <strong>die</strong> bedenken, welche solcheReden führen, und einmal aufhören, sich und<strong>an</strong>dere damit irrezuführen. Sie werden einmalgestraft werden für <strong>die</strong>se Reden, durch<strong>die</strong> sie jene überaus ernsten Dinge lächerlichmachen und viele, <strong>die</strong> guten Willens wären,von einer wachsameren Lebensführung abhalten.Sie kommen nicht einmal den Ninivitengleich. Diese hatten keine Kenntnis vonallen <strong>die</strong>sen Dingen; und doch blieben sienicht ungläubig, als sie hörten, daß ihre St<strong>ad</strong>tuntergehen solle, sondern sie seufzten reumütigzu Gott, taten in Sack und Asche Bußeund ließen nicht früher ab, alles zu tun, bissie den Zorn Gottes besänftigt hatten. Du dagegen kennst Tatsachenund kennst Aussprüche (daß es eine Höllegibt), sc<strong>hl</strong>ägst aber alle Drohworte in denWind. Darum wirst du das entgegengesetzteLos haben. Die Niniviten fürchteten <strong>die</strong>Drohreden, und darum entgingen sie dertatsäc<strong>hl</strong>ichen Bestrafung; du dagegen gibstnichts auf Drohworte, und darum wirst du<strong>die</strong> Strafe in ihrer vollen Wirklichkeit zu fü<strong>hl</strong>enbekommen. Wenn dir auch jetzt <strong>die</strong>Drohworte wie eine Fabel klingen, sie werdenes nicht mehr, wenn dich einmal <strong>die</strong> harteWirklichkeit überzeugen wird.


Siehst du denn nicht, was der Heil<strong>an</strong>d schonhienieden get<strong>an</strong> hat? Wie er von den zweiRäubern, <strong>die</strong> er neben sich hatte, nicht jedemdasselbe Schicksal zuteil werden ließ, sondernden einen in den Himmel einführte, den<strong>an</strong>dern aber zur Hölle schickte? Doch wasspreche ich von einem Räuber und Mörder?Hat er doch seines Apostels nicht geschont,als er <strong>zum</strong> Verräter geworden war! Obzwarer voraussah, daß er dem Stricke zurenne,sich aufhängen und zerbersten werde — „erbarst mitten entzwei, und alle seine Eingeweidefielen heraus“ 391 —, obzwar er das allesvorauswußte, so ließ er ihn doch alles daserleiden, um dich <strong>zum</strong> Glauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> Strafenim Diesseits und Jenseits zu bewegen.Betrügt euch also nicht selbst, indem ihr euchvom Teufel beschwatzen laßt! Jawo<strong>hl</strong>, Teufelsged<strong>an</strong>kensind das. Denn wenn schonirdische Richter und Herren und Lehrer,auch Heiden, <strong>die</strong> Guten belohnen und <strong>die</strong>Bösen bestrafen, was wäre das für eine Gerechtigkeit,wenn bei Gott das Gegenteil derFall wäre, wenn er den Guten und den Böseng<strong>an</strong>z gleich beh<strong>an</strong>delte? Wie sollten da <strong>die</strong>Menschen ablassen von der Sünde? Wenn sieschon jetzt, wo sie doch Strafe zu fürchtenhaben und in beständiger Furcht vor denRichtern und den Gesetzen schweben, nichtabstehen von der Sünde, wie sollen sie erstd<strong>an</strong>n davon ablassen, wenn sie sich auchnoch frei gemacht haben von der Furcht voreiner Strafe nach dem Tode im Jenseits, ja,wenn sie nicht bloß nicht in <strong>die</strong> Hölle, sondernsogar noch in den Himmel kommen sollen? Sag’ nun, ist das Liebe,wenn m<strong>an</strong> <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>echtigkeit fördert,wenn m<strong>an</strong> für <strong>die</strong> Sünde noch eine Belohnungin Aussicht stellt, wenn m<strong>an</strong> den Enthaltsamenund den Wüstling, den Gläubigenund den Gottlosen, <strong>Paulus</strong> und den Teufelg<strong>an</strong>z gleich einschätzt?Doch was ereifern wir uns noch weiter darüber?— Ich bitte euch also, laßt ab von <strong>die</strong>-391 Apg. 1, 18.281sem Wahnsinn, kommt zu euch selbst, lehrteure Seele Furcht und Zittern! So werdet ihrim Jenseits der Hölle entgehen, im Diesseitsein eingezogenes Leben führen und einst <strong>die</strong>ewigen Güter erl<strong>an</strong>gen, was uns allen zuteilwerden möge durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebeunseres Herrn Jesus Christus, durch den undmit dem Ehre sei dem Vater zugleich mitdem Hl. Geiste bis in alle Ewigkeit. Amen. SIEBENUNDZWANZIGSTEHOMILIE Kap. XIV, V. 14—23.1.Kap. XIV, V. 14—23.V. 14: „Ich weiß und bin im Herrn Jesus <strong>des</strong>seng<strong>an</strong>z gewiß, daß nichts <strong>an</strong> sich selber gemein ist,außer für den, der es für gemein hält.“Oben hat der Apostel denjenigen get<strong>ad</strong>elt,der seinen Bruder bekrittelt, und hat ihn d<strong>ad</strong>urchvon einem solchen Gehaben abzubringengesucht. Im folgenden beleuchtet er <strong>die</strong>selbeSache vom Glaubensst<strong>an</strong>dpunkte ausund belehrt den (im Glauben) Schwächerenin aller Ruhe. Dabei legt er seine große Milde<strong>an</strong> den Tag. Er spricht nämlich nicht davon,daß er dafür bestraft werden wird, noch vonetwas dergleichen, sondern er sucht ihm nur<strong>die</strong> Furcht zu benehmen, daß er etwa sündhafth<strong>an</strong>dle. Auf <strong>die</strong>se Weise will er seinenWorten leichteren Eing<strong>an</strong>g verschaffen. Ersagt: „Ich weiß und bin <strong>des</strong>sen gewiß.“ Damitihm ferner nicht einer von denen, <strong>die</strong><strong>an</strong>derer Ansicht sind, entgegnen könne: Wasgeht das uns <strong>an</strong>, daß du <strong>des</strong>sen g<strong>an</strong>z gewißbist? Du bist uns nicht glaubwürdig genug,wenn du gegen ein solches Gesetz, das unsals Geschenk <strong>des</strong> Himmels zugekommen ist,auftrittst, darum fügt er bei: „im Herrn“, d. h.von ihm bin ich darüber unterrichtet, vonihm habe ich mein Wissen darüber; was ichsage, ist also nicht ausgeklügelt durch Men-


schenwitz. — Nun, sag’ <strong>an</strong>, wessen bist dudenn g<strong>an</strong>z gewiß, was weißt du denn? —„Daß nichts <strong>an</strong> sich selber gemein ist.“ Daßvon Natur aus, will der Apostel sagen, nichtsunrein ist, sondern daß es so erst wird durch<strong>die</strong> Meinung <strong>des</strong>sen, der davon Gebrauchmacht. Nur für <strong>die</strong>sen ist es unrein, nicht füralle. „Nur für den“, sagt er, „der es für gemeinhält.“ — Warum bringst du aber d<strong>an</strong>nden Bruder nicht <strong>zum</strong> richtigen Verständnis,daß er nicht etwas für unrein halte? Warumbringst du ihn nicht nach Möglichkeit ab vonseiner zurückgebliebenen, falschen Meinung,daß er nichts für gemein <strong>an</strong>sehe? — Ichfürchte, <strong>an</strong>twortet der Apostel, ihn zu betrüben.Er fährt nämlich fort: V. 15:Wenn aber dein Bruder einer Speise wegen (vondir) Harm erfährt, d<strong>an</strong>n w<strong>an</strong>delst du nicht mehrnach der Liebe.“— Siehst du, wie der Apostel den Judenchristenfür sich gewinnen will, indem er so großeRücksicht für ihn <strong>an</strong> den Tag legt, daß er, nurum ihm keinen Harm <strong>an</strong>zutun, es nicht einmalwagt, ihm etwas Notwendiges zu gebieten,sondern ihn mehr durch Nachsicht undLiebe <strong>an</strong> sich zu ziehen sucht? Nachdem erihm nämlich <strong>die</strong> Furcht benommen hat, ziehtund nötigt er ihn nicht mit Gewalt, sondernläßt ihm <strong>die</strong> freie Wa<strong>hl</strong>. Es wäre nicht recht,ihn von der Beobachtung <strong>des</strong> (jüdischen)Speisegesetzes abbringen zu wollen und ihmdabei einen Harm <strong>an</strong>zutun. Siehst du, wiesorgfältig der Apostel darauf bedacht ist, <strong>die</strong>Liebe zu wahren? Er weiß gar wo<strong>hl</strong>, daß <strong>die</strong>Liebe imst<strong>an</strong>de ist, alles ins rechte Geleise zubringen. Darum verl<strong>an</strong>gt er <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser Stellesogar noch etwas mehr <strong>an</strong> Liebe. Ihr dürft <strong>die</strong>Judenchristen, sagt er, nicht nur nicht zwingen,ihren Brauch aufzugeben, sondern ihrdürft euch, wenn nötig, nicht einmal weigern,<strong>die</strong>sen Brauch mit<strong>zum</strong>achen. Er fährtnämlich fort:„Bringe nicht um einer Speise willen den insVerderben, für welchen Christus gestorben ist.“Oder steht dir der Bruder nicht für so viel,daß du ihm durch Enthaltung von gewissen282Speisen <strong>zum</strong> Heile verhelfen möchtest?Christus hat sich nicht geweigert, seinetwegenKnechtsgestalt <strong>an</strong>zunehmen und für ihnzu sterben; du aber magst nicht einmal gewisseSpeisen beiseite lassen, um ihn zu retten?Obwo<strong>hl</strong> Christus gar wo<strong>hl</strong> wußte, daßer nicht alle werde gewinnen, starb er dochfür alle; er hat dazu get<strong>an</strong>, was <strong>an</strong> ihm lag.Du aber weißt, daß du um der Speise willendeinen Mitbruder in größeren Dingen inVerwirrung bringst, und bestehst doch aufdeinem Recht? Du hältst den, der Christus sosehr am Herzen lag, für verächtlich undschätzest den gering, den Christus liebte? Erstarb nicht bloß für einen (im Glauben)Schwachen, sondern sogar für einen Feind;du aber magst dich nicht einmal gewisserSpeisen enthalten dem Schwachen zulieb?Christus hat das Größte get<strong>an</strong>, dunicht einmal etwas g<strong>an</strong>z Geringes? Und dochwar er der Herr, du aber bist der Bruder. JeneWorte <strong>des</strong> Apostels sind g<strong>an</strong>z geeignet, demHeidenchristen, den sie <strong>an</strong>gehen, <strong>die</strong> Rede zuversc<strong>hl</strong>agen; denn sie lassen ihn als eineng<strong>an</strong>z engherzigen Menschen erscheinen, dernach all dem Großen, das er von Seiten Gottesgenossen hat, nicht einmal ein Geringesals Gegen<strong>die</strong>nst leisten mag.V. 16: „Laß nicht <strong>zum</strong> Gespötte werden das gemeinsameWo<strong>hl</strong>; das Reich Gottes ist ja nicht Essenund Trinken.“„Das gemeinsame Wo<strong>hl</strong>“ bedeutet hier entwederden christlichen Glauben oder <strong>die</strong>Hoffnung auf <strong>die</strong> zukünftige Belohnung oder<strong>die</strong> christliche Vollkommenheit. Du schaffst,will der Apostel sagen, nicht nur dem Bruderkeinen Nutzen, sondern du läßt auch denGlauben, <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e Gottes und sein Geschenk<strong>zum</strong> Gespötte werden. Denn wenndu in einem fort Krieg führst, wenn du hartnäckigauf deiner Meinung beharrst, wenndu dem Bruder Harm <strong>an</strong>tust, wenn du eineSpaltung in <strong>die</strong> Kirche bringst, deinen Mitbruderschmähst und dich feindlich zu ihmstellst, so reden <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern, <strong>die</strong> außerhalb derKirche stehen, bös darüber. Und so hast du


damit nicht nur nichts in Ordnung gebracht,sondern das ger<strong>ad</strong>e Gegenteil erreicht. Denneuer gemeinsames Wo<strong>hl</strong>, das ist <strong>die</strong> Liebe,<strong>die</strong> Brüderlichkeit, das einträchtige Zusammenhalten,ein friedliches und freundlichesNebenein<strong>an</strong>derleben.Hierauf sucht der Apostel durch einen neuenGed<strong>an</strong>ken <strong>die</strong> Ängstlichkeit <strong>des</strong> Judenchristenund <strong>die</strong> Hartnäckigkeit <strong>des</strong> Heidenchristenzu b<strong>an</strong>nen, indem er sagt: „Das ReichGottes ist ja nicht Essen und Trinken.“ Wirwerden doch nicht in solchen Dingen unsernRuhm suchen? Es ist derselbe Ged<strong>an</strong>ke, dener <strong>an</strong>derswo so ausspricht: „Weder kommenwir vorwärts, wenn wir (gewisse Speisen)essen, noch gehen wir zurück, wenn wir (sie)nicht essen“ 392 . Das bedarf nicht einmal einesweiteren Beweises, sondern es genügt, <strong>die</strong>seinfach zu behaupten. Der Sinn <strong>die</strong>ses Satzesist folgender: Das Nichtessen (gewisserSpeisen) bringt uns nicht in den Himmel.Um <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> sich darauf etwaseinbilden, zu widerlegen, spricht er nicht alleinvom Essen, sondern auch vom (nachbeider Ansicht g<strong>an</strong>z gleichmütigen) Trinken.Welche Dinge sind es, <strong>die</strong> uns in den Himmelbringen?„Gerechtigkeit und Friede und Freude“,ein tugendhaftes Leben, ein friedfertigesVerhalten dem Bruder gegenüber; <strong>die</strong>semVerhalten ist aber ein hartnäckiges Festhalten<strong>an</strong> seiner Meinung ger<strong>ad</strong>e entgegengesetzt.Die Freude, <strong>die</strong> aus der Eintracht hervorgeht,wird durch verletzenden T<strong>ad</strong>el unmöglichgemacht. Das sagt der Apostel nicht bloßdem einen, sondern auch dem <strong>an</strong>dern zurBeherzigung. Es war eine gute Gelegenheit,<strong>die</strong>s beiden zu sagen.2.392 1 Kor. 8, 8.283Weil es aber auch einen Frieden und eineFreude geben k<strong>an</strong>n, <strong>die</strong> aus sc<strong>hl</strong>echten Tatenhervorgeht, darum fügt der Apostel denWorten „Friede und Freude“ bei:„im Hl. Geiste.“— Also wer den Bruder ins Verderben stürzt,der stört seinen Frieden und bringt ihn um<strong>die</strong> Freude, und das viel mehr als jem<strong>an</strong>d,der ihm seinen irdischen Besitz raubt. Unddas ist um so sc<strong>hl</strong>immer, als ein <strong>an</strong>derer(Christus) ihn gerettet hat, während du ihnschädigst und ins Verderben bringst. Wennalso das (unterschiedslose) Essen und <strong>die</strong>vermeintliche Vollkommenheit nicht Friedeund Freude bringt, sondern sie zerstört, sollm<strong>an</strong> da nicht so kleinliche Dinge übersehenund d<strong>ad</strong>urch <strong>die</strong> wichtigen sicherstellen? —Weil auch <strong>die</strong> Sucht, sich hervorzutun, eineversteckte Ursache <strong>die</strong>ses T<strong>ad</strong>elns ist, darumfährt der Apostel fort:V. 18: „Denn nur wer in solchen Dingen Christus<strong>die</strong>nt, ist Gott wo<strong>hl</strong>gefällig und den Menschenachtenswert.“Die allgemeine Bewunderung wirst du dirnicht so sehr durch deine (vermeintliche)Fortgeschrittenheit erwerben als d<strong>ad</strong>urch,daß du Frieden und Eintracht hältst. Denn <strong>an</strong><strong>die</strong>sem Gute haben alle teil, <strong>an</strong> jenem niem<strong>an</strong>d. V. 19: „Laßt uns also demnachtrachten, was <strong>zum</strong> Frieden und zur gegenseitigenErbauung <strong>die</strong>nt.“Das erstere ist zu dem Judenchristen gesagt,daß er Frieden halte; das letztere zu demHeidenchristen, daß er den Mitbruder nichtins Verderben bringe. Aber doch verbindetder Apostel bei<strong>des</strong> mitein<strong>an</strong>der durch denAusdruck „gegenseitig“ und bringt <strong>zum</strong>Ausdruck, daß es ohne Frieden nicht leichtsei, den geistigen Aufbau (<strong>des</strong> Hauses Gottes)durchzuführen.V. 20: „Reiße ja nicht einer Speise wegen dasWerk Gottes ein.“„Werk Gottes“ nennt der Apostel das Heil<strong>des</strong> Mitbruders. Er steigert <strong>die</strong> Furcht <strong>des</strong><strong>an</strong>dern, indem er ihm zeigt, daß er das Gegenteilvon dem erreicht, was er <strong>an</strong>strebt. Du


aust das geistige Haus, will er sagen, nichtnur nicht auf, wie du meinst, sondern reißt esein, und zwar nicht ein mensc<strong>hl</strong>iches Haus,sondern das Haus Gottes, und das nicht wegenetwas Großem, sondern wegen einerg<strong>an</strong>z geringfügigen Sache. „Einer Speise wegen“,heißt es. — Hierauf spricht der Apostelwieder einen Glaubensgrundsatz in bezugauf <strong>die</strong> umstrittene Frage aus, um nicht etw<strong>ad</strong>en Schwächeren (d. i. den Judenchristen)durch Nachgeben in seiner irrigen Meinungzu bestärken: „Alles ist zwar rein; aber zurSünde wird es für den Menschen, der mit Anstoßetwas ißt.“D. h. mit dem Bewußtsein, etwas Böses zutun. So ist es denn auch g<strong>an</strong>z unnütz, wenndu den Judenchristen nötigst und er (unterdeiner Nötigung) ißt; denn nicht das Essenmacht (<strong>die</strong> Speise) unrein, sondern <strong>die</strong> Meinung,mit welcher m<strong>an</strong> ißt. Wenn du darum<strong>die</strong>se nicht berichtigst, so hast du alles umsonstget<strong>an</strong>, ja du hast vielmehr gesch<strong>ad</strong>et.Denn es ist nicht recht, etwas für unrein zuhalten und, trotzdem m<strong>an</strong> es für unrein hält,davon zu essen. Du begehst also da zweimaleinen Fe<strong>hl</strong>er; einmal, indem du den Judenchristendurch dein hartnäckiges Bestehenauf deinem Recht in seinem Vorurteil bestärkst,und d<strong>an</strong>n, indem du ihn dazu bewegst,von dem für unrein Gehaltenen zuessen. Darum nötige ihn so l<strong>an</strong>genicht, davon zu essen, bis du ihn überzeugthaben wirst.V. 21: „Gut ist das Nichtessen von Fleisch unddas Nichttrinken von Wein oder von sonst etwas,wor<strong>an</strong> dein Bruder Anstoß nimmt oder geärgertwird oder schwach wird.“— Wieder verl<strong>an</strong>gt da der Apostel etwasmehr als daß m<strong>an</strong> den Bruder nicht nötige(gegen sein Gewissen zu essen); m<strong>an</strong> soll sogarseinen Brauch mitmachen. <strong>Paulus</strong> selbsthat <strong>die</strong>s mehrfach get<strong>an</strong>, so z. B. als er sichbeschneiden, als er sich scheren ließ, als erjenes jüdische Opfer brachte. Übrigens sagter dem Heidenchristen nicht: „Tue es“, sonderner wertet seine Mahnung nur als eine284Meinung. Er will nämlich den schwachgläubigenJudenchristen nicht noch sicherer machen(in seiner irrigen Ansicht). Was sagt er?„Gut ist das Nichtessen von Fleisch.“ Dochwas sage ich „von Fleisch“? Auch wenn esWein wäre oder sonst etwas, wor<strong>an</strong> ein <strong>an</strong>dererÄrgernis nimmt, enthalte dich davon!Denn es kommt der Rettung deines Brudersfür den Himmel doch nicht gleich. Das hatdir Christus klar <strong>an</strong>gezeigt; er ist dafür vomHimmel herabgestiegen und hat für uns allesgelitten, was er gelitten hat. — Beachte, wieder Apostel dem Judenchristen einen Merksgibt, indem er sagt: „Anstoß nimmt oder geärgertwird oder schwach wird.“ Antwortemir nicht, will der Apostel sagen, das seisinnlos geh<strong>an</strong>delt. Nein, du k<strong>an</strong>nst dem <strong>an</strong>derndamit <strong>zum</strong> rechten Glauben verhelfen.Und das ist doch wo<strong>hl</strong> eine genügendeRechtfertigung für dein H<strong>an</strong>deln, wenn dujenem, der noch einen schwachen Glaubenhat, damit helfen k<strong>an</strong>nst, ohne daß dir selbstder geringste Sch<strong>ad</strong>en daraus erwächst. Einsolches H<strong>an</strong>deln ist auch nicht Heuchelei,sondern ein geistiges Aufbauen, ein richtigesHaushalten. Wenn du den noch unvollkommenenGläubigen nötigst (zu essen), so wirder außer R<strong>an</strong>d und B<strong>an</strong>d geraten, wird dirfeindselig gesinnt und in seiner Meinung,nicht essen zu dürfen, nur noch mehr bestärktwerden. Wenn du dich dagegen zuihm herabläßt, so wird er dich lieb gewinnen,er wird dich, wenn du ihn lehrst,nicht im Verdacht haben, und du wirst damit<strong>die</strong> leichte Möglichkeit haben, den Samen derrichtigen Glaubenslehre in sein Herz zustreuen. Nötige ihn daher nicht, sondern enthaltedich auch selbst seinetwegen, nicht alsob du dich als von etwas Unreinem enthaltenmüßtest, sondern weil der <strong>an</strong>dere sonst Ärgernisnimmt und weil du durch (das Nichtessen)seine Liebe gewinnst. „Gut ist dasNichtessen von Fleisch“, nicht weil es etwasUnreines ist, sondern weil der Bruder Ärgernisnimmt und schwach wird.


V. 22: „Du hast deinen Glauben? Behalte ihn fürdich!“Hier scheint mir der Apostel den Fortgeschrittenerenversteckt aufmerksam zu machenauf <strong>die</strong> Eitelkeit, <strong>die</strong> in seinem Gehabenliegt. Der Sinn <strong>die</strong>ses Satzes ist folgender: Duwillst mir zeigen, daß du fortgeschritten undvollkommen bist? Zeig mir <strong>die</strong>s lieber nicht,sondern laß dir <strong>an</strong> deinem eigenen (guten)Gewissen genug sein!3.Unter „Glauben“ versteht hier der Apostelnicht den Glauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> Lehrsätze <strong>des</strong>Christentums überhaupt, sondern den Glaubenin betreff der in Rede stehenden Frage.Von jenem Glauben im allgemeinen heißt es:„Mit dem Munde wird das Bekenntnis abgelegt<strong>zum</strong> Heil“ 393 , und: „Wer mich vor denMenschen bekennen wird, den werde auchich bekennen“ 394 . Dieser Glaube (im allgemeinen)gereicht <strong>zum</strong> Sch<strong>ad</strong>en, wenn ernicht bek<strong>an</strong>nt wird, der <strong>an</strong>dere (in bezug aufden Unterschied der Speisen], wenn er zurUnzeit bek<strong>an</strong>nt wird.„Glücklich, wer sich selbst nicht zu verurteilenbraucht in dem, was er für wahr hält.“Wieder führt da der Apostel einen Hieb gegenden (im Glauben) Schwächeren; dem<strong>an</strong>dern spricht er den Lohn seines eigenenguten Gewissens zu. Wenn auch keinMensch von deiner Tugend wüßte, dir genügtdein eigenes Bewußtsein zu deinemGlück. Damit m<strong>an</strong> nicht meine, derApostel schätze den Richterstu<strong>hl</strong> <strong>des</strong> eigenenBewußtseins gering, wenn er spricht: „Behaltedeinen Glauben für dich“, sagt er, daß <strong>die</strong>serRichterstu<strong>hl</strong> höher stehe als das Urteil derg<strong>an</strong>zen Welt. Wenn dich alle <strong>an</strong>klagen, duselbst brauchst dich aber in deinem <strong>In</strong>nernnicht zu verurteilen, und dein Gewissen393 Röm. 10, 10.394 Luk. 9, 26.285macht dir keinen Vorwurf, so bist du glücklich.Das gilt freilich nicht einfachhin vonallen. Es gibt nämlich m<strong>an</strong>che, <strong>die</strong> sich selbstnicht verurteilen, obzwar sie schwere Fe<strong>hl</strong>erbegehen. Diese sind <strong>die</strong> Allerunglücklichsten.Der Apostel hält sich nur<strong>an</strong> <strong>die</strong> vorliegende Frage.V. 23: „Wer aber einen Speisenunterschied <strong>an</strong>erkennt,der ist verurteilt, wenn er ißt.“Das sagt der Apostel wieder als Mahnung,mit dem Schwächeren schonungsvoll umzugehen.Denn was hat es für einen Nutzen,wenn m<strong>an</strong> ißt, obzwar m<strong>an</strong> den Speisenunterschied<strong>an</strong>erkennt und sich selbst verurteilt?Auch ich billige es, daß der Judenchristißt, und zwar daß er ißt, ohne <strong>an</strong> der Erlaubtheitzu zweifeln. — Siehst du, wie derApostel ihn nicht bloß <strong>zum</strong> Essen bringenwill, sondern auch <strong>zum</strong> Essen mit reinemGewissen? — Hierauf macht der Apostel denGrund namhaft, weswegen m<strong>an</strong>cher (der ißt)verurteilt ist, indem er fortfährt und sagt:„Weil er nicht aus Überzeugung ißt.“Nicht weil <strong>die</strong> Speise unrein ist, sündigt einer,sondern weil er nicht mit Überzeugungißt. Er ist nämlich nicht überzeugt davon,daß <strong>die</strong> Speise rein ist, sondern er berührt sieals etwas Unreines. Damit hält er den Heidenchristenden Sch<strong>ad</strong>en vor Augen, denm<strong>an</strong>che von innen d<strong>ad</strong>urch <strong>an</strong>richten, daßsie Judenchristen nötigen, gegen ihre ÜberzeugungSpeisen zu berühren, <strong>die</strong> ihnen bisherals unrein erscheinen; sie sollen mit ihremNörgeln aufhören.„Alles aber, was nicht aus Überzeugung kommt,ist Sünde.“Wie sollte ein solcher Judenchrist nicht sündigen,will der Apostel sagen, wenn er nichttraut und nicht überzeugt ist, daß<strong>die</strong> Speise rein ist? Das alles ist übrigens nurmit Bezug auf den in Rede stehenden Gegenst<strong>an</strong>dgesagt, nicht g<strong>an</strong>z allgemein. —Beachte, wie sehr der Apostel besorgt ist, daßkein Ärgernis gegeben werde! Oben hat ergesagt: „Wenn aber einer Speise wegen deinBruder von dir Harm erfährt, d<strong>an</strong>n w<strong>an</strong>delst


du nicht mehr nach der Liebe.“ Wenn m<strong>an</strong>nun aber keinen Harm zufügen darf, so darfm<strong>an</strong> um so weniger Ärgernis geben. Undwieder: „Reiße ja nicht wegen einer Speisedas Werk Gottes ein!“ Wenn es ein schweresVerbrechen ist, eine Kirche zu zerstören, soist es <strong>die</strong>s um so mehr, den geistigen TempelGottes zu zerstören; denn der Mensch ist etwasviel Erhabeneres als eine Kirche. Nichtfür steinerne Mauern ist Christus gestorben,sondern für <strong>die</strong>se geistigen Tempel.Laßt uns stets umsichtig h<strong>an</strong>deln und niem<strong>an</strong>demauch nur einen geringen Sch<strong>ad</strong>enzufügen! Denn eine Rennbahn ist <strong>die</strong>ses irdischeLeben; wir müssen tausend Augen ü-berall haben und dürfen nicht glauben, daß<strong>die</strong> Unwissenheit uns zur Entschuldigunggenügen wird. G<strong>an</strong>z gewiß, auch <strong>die</strong> Unwissenheitk<strong>an</strong>n bestraft werden, wenn sie nämlichunentschuldbar ist. Auch <strong>die</strong> Juden bef<strong>an</strong>densich in Unwissenheit, aber ihre Unwissenheitver<strong>die</strong>nte keine Nachsicht. Ebensobef<strong>an</strong>den sich <strong>die</strong> Heiden in Unwissenheit,aber sie hatten keine Entschuldigung. Wenndu dich nämlich betreffs solcher Dinge inUnwissenheit befin<strong>des</strong>t, <strong>die</strong> du nicht wissenk<strong>an</strong>nst, d<strong>an</strong>n wirst du darob keine Anklagezu gewärtigen haben. Sind es aber Dinge, <strong>die</strong>du leicht wissen könntest, so wirst du dafür<strong>die</strong> schwerste Strafe erleiden. Andererseits,wenn wir uns nicht grober Nac<strong>hl</strong>ässigkeitschuldig machen, sondern von unserer Seitealles nur Mögliche mitwirken, so wird unsGott <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d reichen, mögen wir uns auchin Unwissenheit befinden. Das sagt <strong>Paulus</strong>den Philippern: „Solltet ihr auch etwas <strong>an</strong>dersverstehen, so wird Gott euch darüberAufsc<strong>hl</strong>uß geben“ 395 . Wollen wir aber auchdas nicht tun, was in unserer Macht liegt, sowerden wir in solchen Dingen uns nicht seinesBeist<strong>an</strong><strong>des</strong> zu erfreuen haben. Das warder Fall bei den Juden. „Darum redeich in Gleichnissen zu ihnen“, heißt es, „weilsie sehen und doch nicht sehen“ 396 . Wiesosahen sie und sahen doch nicht? Sie sahen,daß Teufel ausgetrieben wurden, und sagten,daß Jesus einen Teufel habe. Sie sahen, daßTote auferweckt wurden, und fielen nicht<strong>an</strong>betend nieder, sondern suchten Jesus zutöten. Nicht so h<strong>an</strong>delte Kornelius. Weil eralles von seiner Seite mit Eifer tat, darum gabihm Gott das Übrige hinzu. Sag’ darum nicht:Wieso kommt es, daß Gott sich um <strong>die</strong>senoder jenen Heiden, der ihn aufrichtig undehrlich sucht, nicht kümmert? Erstlich einmalkönnen Menschen gar nicht wissen, ob jem<strong>an</strong>daufrichtigen Sinnes ist, sondern Gottallein, der das Herz eines jeden gebildet hat.D<strong>an</strong>n muß m<strong>an</strong> auch das sagen, daß oft einersich eben nicht bemüht und keinen Eifer bewiesenhat. Ja, sagst du, wie konnte er esauch, da er g<strong>an</strong>z aufrichtigen Sinnes war?Nun, so beobachte nur einmal <strong>die</strong>sen verständnislosenund (scheinbar) einfältigenMenschen in Dingen <strong>des</strong> täglichen Lebens,und du wirst sehen, daß er eine bis inskleinste gehende Sorgfalt <strong>an</strong> den Tag legt.Hätte er eine solche in geistlichen Dingenaufwenden wollen, er wäre sicher nicht vonGott im Stiche gelassen worden. Die Wahrheitist heller als <strong>die</strong> Sonne. Wohin auch immereiner kommen mag, er k<strong>an</strong>n überallleicht sein Heil wirken, wenn er nur daraufachthaben will und es nicht als eine Nebensachebetrachtet. Sind denn jene Tatsachen(<strong>des</strong> Lebens Jesu) etwa nur auf Palästina beschränktgeblieben? Etwa nur auf einen kleinenWinkel der Erde? Kennst du nicht dasProphetenwort: „Alle werden mich kennenlernen vom Kleinsten bis <strong>zum</strong> Größten“? 397Siehst du denn nicht <strong>die</strong> Tatsachen, <strong>die</strong> zurWahrheit geworden sind? Wie können alsosolche Menschen Verzeihung finden, da sie<strong>die</strong> Glaubenswahrheit vor sich liegen sehenund sich doch keine Mühe geben und sichnicht bestreben, sie kennen zu lernen?395 Phil. 3, 15.396 Matth. 13, 13.286397 Jer. 31, 34.


4.Und das, fragt m<strong>an</strong>, verl<strong>an</strong>gst du von einemeinfachen, ungebildeten Menschen? Nichtbloß von einem einfachen, ungebildetenMenschen, sondern m<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n es verl<strong>an</strong>gen,wenn einer auch noch so ungebildetwäre. Warum, sag’ mir, versteht es ein solcher,im täglichen Leben Widerspruch zuerheben, wenn ihm ein Unrecht geschieht,sich zur Wehr zu setzen, wenn m<strong>an</strong> ihm Gewalt<strong>an</strong>tun will? Da läßt er sich nicht den geringstenSch<strong>ad</strong>en zufügen. Warum hat er ingeistlichen Dingen nicht dasselbe Verständnis?Wenn er einem Steine göttliche Verehrungerweist, wenn er <strong>die</strong>sen für einen Gotthält, wenn er ihm zu Ehren Feste feiert, sich’sGeld kosten läßt und ihm Ehrfurcht bezeugt,da ist er gar nicht faul dazu infolge seinerVerständnislosigkeit. Wenn es aber heißt,den einzig wahren Gott zu suchen, d<strong>an</strong>nführst du seine Verständnislosigkeit und seineEinfältigkeit ins Feld. Nein, nein, das sindnur Ausreden der Trägheit. Was meinst du,welche Menschen waren einfältiger und ungebildeter,<strong>die</strong> zu Abrahams Zeiten oder <strong>die</strong>von heutzutage? Offenbar <strong>die</strong> ersteren. Undw<strong>an</strong>n war es leichter, den Weg der richtigenGottesverehrung zu finden, jetzt oder damals?Offenbar jetzt. Denn jetzt ist der NameGottes bei allen bek<strong>an</strong>nt geworden: <strong>die</strong> Prophetenhaben ihn <strong>an</strong>gekündigt, <strong>die</strong> Geschichteist Zeuge dafür, das Heidentum ist widerlegt.Damals dagegen blieben <strong>die</strong> meistenohne Belehrung, <strong>die</strong> Sünde herrschte, es gabkein Gesetz als Lehrer, keinen Propheten,keine Wunder, keinen Unterricht, nicht eineMenge von Leuten, <strong>die</strong> in göttlichen Dingenwo<strong>hl</strong> bew<strong>an</strong>dert waren; alles lag wie in dertiefen Finsternis einer mondlosen, stürmischenNacht. Und doch erk<strong>an</strong>nte jener bewunderungswürdigeund edle M<strong>an</strong>n bei all<strong>die</strong>sen Hindernissen Gott; er übte <strong>die</strong> Tugend,war vielen ein Führer zu gleichem Eifer— das alles, ohne ein Wissen darüber von287außen her erl<strong>an</strong>gt zu haben. Wie hätte er esgekonnt, da damals noch nicht einmal <strong>die</strong>Schrift erfunden war? Und doch, weil er vonseiner Seite alles Mögliche tat, darum gewährteihm Gott seine Hilfe. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n nichteinmal sagen, daß Abraham <strong>die</strong> rechte Gottesverehrungvon seinen Vätern ererbt hatte.Denn von Hause aus war auch er ein Götzen<strong>die</strong>ner.Trotzdem er nun aber von solchenVoreltern abstammte, trotzdem er ein Ungebildeterwar und unter Ungebildetenaufgewachsen war, trotzdem er keinenLehrer der richtigen Gottesverehrung hatte,so gel<strong>an</strong>gte er doch zur Erkenntnis <strong>des</strong> wahrenGottes und überragte sogar <strong>an</strong> ihr unsagbarseine Nachkommen, <strong>die</strong> doch das Gesetzund <strong>die</strong> Propheten besaßen. Warum aber?Weil er nicht g<strong>an</strong>z und gar aufging in denSorgen <strong>des</strong> irdischen Lebens, sondern sichvielmehr g<strong>an</strong>z mit geistlichen Dingen befaßte.Und wie war’s mit Melchisedech? Lebte ernicht zur selben Zeit und stach doch so sehrhervor (<strong>an</strong> Gotteserkenntnis), daß er sogarein „Priester Gottes“ hieß? Ja, es ist unmöglich,g<strong>an</strong>z unmöglich, daß ein Mensch miteifrigem Streben nach Gott je im Stiche gelassenwerde. Das soll euch also keine Sorgemachen. Laßt uns vielmehr zusehen, daß wirimmer besser werden, überzeugt davon, daßes dabei hauptsäc<strong>hl</strong>ich auf <strong>die</strong> Absicht <strong>an</strong>kommt.Laßt uns Gott nicht zur Rechenschaftziehen und nicht fragen, warum er den beiseitegelassen und jenen berufen hat! Wirwürden da so h<strong>an</strong>deln wie ein Diener, dersich selbst Betrügereien zuschulden kommenläßt, dabei aber <strong>die</strong> Wirtschaftsführung seinesHerrn scharf im Auge hat. Armer Wicht!Du solltest <strong>an</strong> deine eigene Rechenschaftdenken und wie du deinen Herrn versöhnenkönntest; dafür verl<strong>an</strong>gst du Rechenschaftüber Dinge, <strong>die</strong> dich nichts <strong>an</strong>gehen undgehst <strong>an</strong> den <strong>an</strong>dern vorüber, für <strong>die</strong> du Rechenschaftgeben solltest!Du fragst: Was soll ich also <strong>zum</strong> Heiden sagen?— Das, was ich schon gesagt habe.Schau übrigens nicht bloß, was du dem Hei-


288den sagen sollst, sondern auch, wie du ihnbessern k<strong>an</strong>nst. Wenn er dein Leben betrachtetund dar<strong>an</strong> Ärgernis nehmen muß, d<strong>an</strong>nmach’ dir <strong>des</strong>wegen Sorge, was du sagensollst! Du brauchst zwar für ihn nicht Rechenschaftzu geben, wenn er Ärgernisnimmt, aber du läufst äußerste Gefahr deineseigenen Lebens wegen, wenn er d<strong>ad</strong>urchSch<strong>ad</strong>en nimmt. Wenn er dich beobachtet,wie du zwar über den Himmel schön zu redenverstehst und doch am Irdischen klebst,wie du zwar von Furcht vor der Höllesprichst und doch vor den irdischen Übelnzitterst, d<strong>an</strong>n mache dir darob Sorge! Wenner das sieht und dich fragt: Wenn du dichnach dem Himmel sehnst, warum kommendir nicht <strong>die</strong> irdischen Dinge unbedeutendvor? Wenn du das schreckliche Gerichtim Jenseits erwartest, warum verachtestdu nicht das Leid <strong>des</strong> Diesseits? Wenn du aufUnsterblichkeit hoffst, warum verlachst dunicht den Tod? Wenn er so zu dir spricht,d<strong>an</strong>n mach dir Sorge wegen der Antwort!Wenn er sieht, wie du, der Anwärter auf denHimmel, zitterst vor einem Verlust <strong>an</strong> Geldund Gut, wie du voller Freude bist über denGewinn eines Obolus, wie du deine Seeleverkaufst um wenig Geld, d<strong>an</strong>n mach dirSorge! Das, ja das ist es, was dem HeidenÄrgernis gibt. Wenn du daher wirkliche Sorgeum dein Heil hast, d<strong>an</strong>n gib Antwort auf<strong>die</strong>se Fragen, und zwar nicht mit Worten,sondern durch Taten! Mit solchen Fragen hatnoch nie jem<strong>an</strong>d eine Lästerung Gottes beg<strong>an</strong>gen,wo<strong>hl</strong> aber eine solche tausendfach ineinem sc<strong>hl</strong>echten Leben. Dieses mußt du daherverbessern. — Wenn dich weiter derHeide fragt: Wor<strong>an</strong> soll ich erkennen, daßGott Dinge befo<strong>hl</strong>en hat, <strong>die</strong> möglich sind?Denn sieh, du bist ein Christ, du stammstvon christlichen Eltern ab, du bist in <strong>die</strong>serschönen Religion aufgewachsen, tust abernichts von dem, was sie befie<strong>hl</strong>t. Was wirstdu darauf sagen? Du k<strong>an</strong>nst freilich sagen:Da weise ich dich auf Beispiele von <strong>an</strong>dernhin, <strong>die</strong> es tun, auf <strong>die</strong> Mönche in den Wüsteneien.Aber schämst du dich denn nicht,daß du dich als Christ bekennst und auf <strong>an</strong>dereverweisen mußt, selbst nicht imst<strong>an</strong>de,dein Christentum durch Taten zu erweisen?Da k<strong>an</strong>n dir doch der <strong>an</strong>dere gleich daraufsagen: Welche Berge muß ich denn d<strong>an</strong>nersteigen und welche Wüsteneien durchqueren?Wenn es nicht möglich ist, mitten in denStädten ein Christ zu sein, so ist es ja dochein schwerer Vorwurf gegen <strong>die</strong>se Lebensform,wenn wir <strong>die</strong> Städte verlassen und in<strong>die</strong> Wüste flüchten müssen. Zeig’ mir dochdas Beispiel eines M<strong>an</strong>nes, der Frau undKind und Haus hat und dabei ein Christ ist!— Was werden wir auf solche Einwände<strong>an</strong>tworten? Müssen wir da nicht <strong>die</strong> Augenniedersc<strong>hl</strong>agen und erröten? Das hat Christusja nicht geboten, sondern was? „Lasseteuer Licht leuchten vor den Menschen“ 398 ,nicht vor den Bergen, nicht in denWüsteneien und unzugänglichen Orten!Wenn ich das sage, so will ich damit denennicht nahetreten, <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong> Gebirge zurückgezogenhaben, sondern ich bedauerenur <strong>die</strong> Bewohner der Städte, daß sie <strong>die</strong> Tugenddaraus vertrieben haben. Darum lautetmeine Mahnung: Führen wir das christlicheLeben von dort bei uns ein, damit <strong>die</strong> Städtewirklich Städte werden! Das ist das Mittel,den Heiden zu bekehren und unzä<strong>hl</strong>ige Ärgernissezu vermeiden. Daher: wenn du denHeiden vor Ärgernis behüten und selbst <strong>des</strong>unendlich großen Lohnes teilhaftig werdenwillst, d<strong>an</strong>n bessere dein Leben! Laß esleuchten (als Vorbild) nach allen Seiten hin,„damit <strong>die</strong> Menschen eure guten Werke sehenund euern Vater preisen, der im Himmelist!“ Auf <strong>die</strong>se Weise werden auch wir jenerunaussprec<strong>hl</strong>ich großen Herrlichkeit teilhaftigwerden, <strong>die</strong> wir alle erl<strong>an</strong>gen mögendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, mit welchem dem Vater seiEhre zugleich mit dem Hl. Geiste in Ewigkeit.Amen. 398 Matth. 5, 16.


ACHTUNDZWANZIGSTE HOMILIE.Kap. XIV, V. 25—27 und Kap. XV, V. 1—7.1.Kap. XIV, V. 25—27 und Kap. XV, V. 1—7.V. 25: „Dem aber, der da <strong>die</strong> Macht hat, euch auffesten Grund zu stellen gemäß meiner Heilsbotschaftund der Verkündigung Jesu Christi, gemäßder Offenbarung <strong>des</strong> Geheimnisses, das früherenZeiten verschwiegen geblieben war,“V. 26: „nun aber kund geworden ist, das durchprophetische Schriften nach Befe<strong>hl</strong> <strong>des</strong> ewigenGottes allen Völkern zu wissen get<strong>an</strong> worden istzur gläubigen Annahme,“V. 27: „ihm, dem allein weisen Gott durch JesusChristus sei Ehre in Ewigkeit. Amen.<strong>Paulus</strong> hat <strong>die</strong> Gewohnheit, seine Ermahnungin Gebete und Lobpreisungen Gottesausklingen zu lassen. Es war ihm wo<strong>hl</strong> bewußt,daß <strong>die</strong>s nicht von geringer Bedeutungsei. Einem Lehrer nämlich, der seine Schülerund Gott liebt, steht es gut <strong>an</strong>, nicht alleinmit Worten, zu lehren, sondern auch im Gebete<strong>die</strong> Hilfe Gottes auf seine Schüler herabzurufen.Das tut er denn auch hier. DerHauptsatz ist folgender: „Dem, der da <strong>die</strong>Macht hat, euch auf festen Grund zu stellen,sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“ Wieder wendetsich der Apostel <strong>an</strong> <strong>die</strong> im Glauben Schwachen(d. h. <strong>an</strong> <strong>die</strong> Judenchristen), <strong>an</strong> sie richteter <strong>die</strong>se Worte. Wenn er einen T<strong>ad</strong>el ausspricht,so bezieht er ihn auf alle; jetzt aber,wo er ein Gebet spricht, legt er seine Fürbittenur für <strong>die</strong> Glaubensschwachen ein. Nachden Worten: „euch auf festen Grund zu stellen“führt er auch <strong>die</strong> Art und Weise <strong>an</strong>, wie<strong>die</strong>s geschehen solle: „gemäß meiner Heilsbotschaft“.Damit bringt er <strong>zum</strong> Ausdruck,daß sie noch nicht fest waren, sondern daßsie zwar st<strong>an</strong>den, aber doch noch hin- undherschw<strong>an</strong>kten. Um seinem Worte mehr289Glaubwürdigkeit zu verschaffen, fährt erfort: „gemäß der Verkündigung Jesu Christi“,d. h. gemäß dem, was er verkündigt hat.Wenn aber er es verkün- digt hat,d<strong>an</strong>n sind <strong>die</strong> Glaubenssätze (<strong>die</strong>ser Verkündigung)nicht von uns, sondern es sindseine Gesetze. <strong>In</strong>dem er <strong>die</strong>se Verkündigung<strong>des</strong> weiteren betrachtet, zeigt er, daß <strong>die</strong>selbeein Geschenk der gnädigen Zuneigung Gottesgegen uns sei und uns selbst zu hoherEhre gereiche. Den Beweis dafür nimmt ererstlich von der Person <strong>des</strong> Verkündigersher, d<strong>an</strong>n vom <strong>In</strong>halt der Verkündigung —eine frohe Botschaft war es ja —, und sc<strong>hl</strong>ießlichdavon, daß sie vor uns niem<strong>an</strong>dem zuWissen get<strong>an</strong> war. Das deutet der Apostel <strong>an</strong>mit den Worten: „gemäß der Offenbarung<strong>des</strong> Geheimnisses“. Das war ein Zeichen dergrößten Zuneigung zu uns, daß uns <strong>die</strong> Geheimnissemitgeteilt wurden und vor unsniem<strong>an</strong>dem. „Das früheren Zeiten verschwiegengeblieben war, nun aber kundgeworden ist.“ Längst waren sie dazu bestimmt,kundgeworden sind sie aber erstjetzt. Wie sind sie kundgeworden? „Durchprophetische Schriften.“ Damit sucht derApostel wieder <strong>die</strong> Furcht <strong>des</strong> Schwachen imGlauben (d. i. <strong>des</strong> Judenchristen) zu b<strong>an</strong>nen.Was fürchtest du? D<strong>ad</strong>urch etwa abzufallenvom Gesetze? Das Gesetz verl<strong>an</strong>gt ja dasselbe,es hat es ja längst vorausgesagt. Wenn duaber darüber grübelst, warum <strong>die</strong> Offenbarungerst jetzt erfolgt ist, tust du etwas Gefährliches,indem du <strong>die</strong> Geheimnisse Gottesergründen willst und von ihm selbst Rechenschaftverl<strong>an</strong>gst. Denn da darf m<strong>an</strong> nicht vielhin und her überlegen, sondern muß (GottesOffenbarung) mit liegender Sehnsucht umfassen.Um eine derartige Meinung auszusc<strong>hl</strong>ießen,fährt der Apostel fort: „nach Befe<strong>hl</strong><strong>des</strong> ewigen Gottes zur gläubigen Annahme“.Zur Annahme (der Offenbarung Gottes) gehörtGlaube, nicht Hin- und Herüberlegen.Denn wenn Gott etwas befie<strong>hl</strong>t, muß m<strong>an</strong>folgen, nicht Untersuchungen <strong>an</strong>stellen.D<strong>an</strong>n spricht ihnen der Apostel noch von


einer <strong>an</strong>deren Seite her Mut zu, indem ersagt: „Sie ist allen Völkern zu wissen get<strong>an</strong>worden.“ Du bist mit deinem Glauben nichtallein, sondern <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt hat ihn, nichtauf <strong>die</strong> Lehre eines Menschen, sondern Gottesselbst hin. Darum fährt er fort: „durchJesus Christus“. Sie ist nicht allein zu wissenget<strong>an</strong> worden, sondern sie ist auch fest begründetworden. Darum ist so zu ver- binden: „der da <strong>die</strong> Macht hat, euch auffesten Grund zu stellen durch Jesus Christus“.Denn, wie gesagt, bei<strong>des</strong> schreibt er ihmzu; ja, nicht bloß bei<strong>des</strong>, auch <strong>die</strong> Ehre, <strong>die</strong>dem Vater werden soll. Darum sagt er: „DemEhre sei in Ewigkeit. Amen.“ Der Apostelspricht wieder einen Lobpreis Gottes aus,von Staunen hingerissen über <strong>die</strong> Unergründlichkeitsolcher Geheimnisse. Dennnicht einmal jetzt, nachdem sie geoffenbartworden sind, ist es möglich, sie mit der Vernunftzu fassen, sondern m<strong>an</strong> muß sie durchdas Mittel <strong>des</strong> Glaubens in <strong>die</strong> eigene Ged<strong>an</strong>kenweltaufnehmen. Anders ist es nichtmöglich. Treffend heißt es auch: „dem alleinweisen Gott“. Denn wenn du bedenkst, wieer den Heiden Einlaß gewährte und sie unter<strong>die</strong> einreihte, welche schon seit l<strong>an</strong>gem einrechtes Leben führten, wie er sie, <strong>die</strong> Aufgegebenen,rettete, wie er sie, <strong>die</strong> nicht der Erdewürdig waren, dem Himmelreich zuführte,ihnen, <strong>die</strong> das irdische Leben verwirkt hatten,das unsterbliche und unsagbar herrlicheim Jenseits bescherte, sie, <strong>die</strong> Sklaven <strong>des</strong>Teufels zu Genossen der Engel machte, ihnendas Para<strong>die</strong>s öffnete und alle alten Sündenhinwegnahm, und noch dazu das alles inkurzer Zeit und auf einem leichten und kurzenWege: d<strong>an</strong>n wirst du einen Begriff bekommenvon seiner Weisheit, wenn dusiehst, daß das, was weder Engel noch Erzengelwußten, auf einmal Heiden durch JesusChristus erfuhren. Bewundern muß m<strong>an</strong> ihnob seiner Weisheit und lobpreisen. Bei diraber dreht sich noch immer alles um Kleinigkeiten,und du sitzest noch immer im Schattenda. Das heißt wahrhaftig nicht, Christus290lobpreisen. Denn wer sich ihm nicht vertrauensvollhingibt, wer ihm nicht im Glaubenfolgt, der gibt kein Zeugnis von der Größe<strong>des</strong>sen, was er für uns get<strong>an</strong> hat. Aber <strong>Paulus</strong>selbst hat ihm <strong>die</strong> Ehre gezollt, <strong>die</strong> ihm dafürgebührt, und er leitet seine Zuhörer <strong>an</strong>, dasselbemit Eifer zu tun. — Wenn du ihn abersagen hörst: „dem allein weisen Gott“, soerblicke in <strong>die</strong>sen Worten ja nicht eine Zurücksetzung<strong>des</strong> Sohnes Gottes! Denn wennalles das, was seine Weisheit uns offenbarmacht, durch Christus geschehen ist, undwenn ohne ihn nichts geschehen ist, so ist esklar, daß der Sohn dem Vater <strong>an</strong>Weisheit gleichkommt. — M<strong>an</strong> fragt noch,warum es heiße: „dem allein Weisen“? Umden Gegensatz zu allen Geschöpfen auszudrücken.Nach dem Lobspruch kehrt der Apostel vomGebet zur Ermahnung zurück; er wendet sichnun mit seiner Rede <strong>an</strong> <strong>die</strong> (im Glauben)Stärkeren (d. h. <strong>die</strong> Heidenchristen) undspricht:Kap. XV, V. 1. „Wir, <strong>die</strong> Starken, sind schuldig.“— wir sind es schuldig, es steht nicht in unseremBelieben. Was sind wir schuldig?„<strong>die</strong> Schwächen der Schwachen mit Geduld zuertragen.“2.Siehst du, wie der Apostel seine Zuhörerdurch Lob erhebt, indem er sie nicht bloß„<strong>die</strong> Starken“ nennt, sondern auch mit sichselbst auf <strong>die</strong>selbe Stufe stellt? Aber nichtallein d<strong>ad</strong>urch, sondern auch durch denHinweis auf den eigenen Vorteil sucht er siedafür zu gewinnen und ihnen <strong>die</strong> Sache <strong>an</strong>nehmbarerscheinen zu lassen. Du bist ja, willer sagen, der Starke, und es bringt dir keinenSch<strong>ad</strong>en, wenn du dich herabläßt; der <strong>an</strong>dereaber kommt in <strong>die</strong> äußerste Gefahr, wenn ernicht mit Geduld ertragen wird. Der Apostelsagt auch nicht: „<strong>die</strong> Schwachen“, sondern:


„<strong>die</strong> Schwächen der Schwachen“. Damit willer den Starken <strong>zum</strong> Mitleid stimmen unddasselbe in ihm wachrufen. So sagt er <strong>an</strong>derswo:„Ihr, <strong>die</strong> ihr Geistesmenschen seid,bringt einen solchen wieder zurecht“ 399 . Dubist ein Starker geworden? Nun, so vergiltGott, der dich dazu gemacht hat! Denn auchwir waren Schwache, aber unter der Einwirkungder Gn<strong>ad</strong>e sind wir Starke geworden.Das sollen wir übrigens nicht bloß hier tun,sondern auch gegenüber solchen, <strong>die</strong> in <strong>an</strong>dererBeziehung schwach sind. Wenn z. B.einer jähzornig ist oder ein loses Maul hatoder <strong>an</strong> irgendeinem <strong>an</strong>dern Fe<strong>hl</strong>er leidet,ertrage ihn mit Geduld! Wie k<strong>an</strong>n das geschehen?Höre, was folgt! Nach den Worten:„Wir sind schuldig, mit Geduld zu ertragen“,fährt er fort: V. 2: „ … und nichtselbstgefällig zu sein. Jeder von euch sei seinemNächsten gefällig <strong>zum</strong> (allgemeinen) Guten, zurErbauung.“Der Sinn <strong>die</strong>ser Worte ist folgender: Du bistein Starker? D<strong>an</strong>n erhalte eine Probe deinerStärke der Schwache! Er soll deine Stärkekennen lernen; ihm sei gefällig! Es heißt auchnicht einfach: „sei gefällig“, sondern: „<strong>zum</strong>(allgemeinen) Guten“; ja, auch nicht einfach:„<strong>zum</strong> Guten“, damit nicht etwa der Fortgeschrittenesage: „Sieh’, ich ziehe ja <strong>zum</strong> Guten“,sondern der Apostel fügt bei: „zur Erbauung“.Bist du daher auch ein Reicher, bistdu auch in einer obrigkeitlichen Stellung, sosei nicht dir selbst gefällig, sondern trachte,dem Armen, dem Notleidenden gefällig zusein! Auf <strong>die</strong>se Weise wirst du wahren Ruhmerl<strong>an</strong>gen und vielen Nutzen stiften. Der weltlicheRuhm schwindet bald dahin; dagegenbleibt der, den du dir durch geistliche Werkeerworben hast, wenn du h<strong>an</strong>delst zur Erbauung.Darum verl<strong>an</strong>gt <strong>die</strong>s der Apostel vonallen; es heißt darum nicht: „einer oder der<strong>an</strong>dere“, sondern: „jeder von euch“. —Nachdem der Apostel etwas so Großes <strong>an</strong>befo<strong>hl</strong>enund geboten hat, sogar mit Dar<strong>an</strong>gabe399 Gal. 6, 1.291der eigenen Vollkommenheit <strong>des</strong> <strong>an</strong>dernSchwäche aufzurichten, führt er wiederChristus als Beispiel <strong>an</strong>, indem er spricht:V. 3: „Denn auch Christus war nicht selbstgefällig.“Das macht der Apostel immer so. Auch da,wo er vom Almosen spricht, führt er Christusals Beispiel <strong>an</strong>, indem er spricht: „Ihr kennt ja<strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Herrn, daß er, der so reich ist,unseretwegen arm geworden ist.“ 400 Undwenn er zur Liebe ermahnt, treibt er durchdenselben Hinweis dazu <strong>an</strong>, indem erspricht: „Wie auch Christus uns geliebthat“ 401 Und wenn er den Rat gibt, Schmachund Gefahren zu ertragen, nimmt er wiederzu Christus seine Zuflucht, indem er sagt:„Welcher statt der Freude, <strong>die</strong> ihm zu Gebotest<strong>an</strong>d, das Kreuz ertrug, derSchmach ungeachtet“ 402 . So zeigt der Apostelauch hier, daß Christus dasselbe get<strong>an</strong> habeund der Prophet es schon vorausgesagt habe.Er fährt nämlich fort:„Die Schmähungen deiner Schmäher sind aufmich gefallen.“— Was heißt es: „Er war nicht selbstgefällig?— Es war ihm möglich, nicht geschmäht zuwerden, es war ihm möglich, nicht zu leiden,was er litt, wenn er nur hätte auf sich selbstschauen wollen. Aber das wollte er nicht. Erschaute vielmehr auf unser Wo<strong>hl</strong> und nahmnicht Rücksicht auf sein eigenes. — Und warumsagt der Apostel nicht: „Er entäußertesich selbst“? Weil er nicht allein <strong>zum</strong> Ausdruckbringen wollte, daß er Mensch gewordensei, sondern auch, daß er Schmach erlittenhabe und daß er bei vielen in gar keinemhohen Ansehen gest<strong>an</strong>den sei, da er von ihnenfür einen schwachen Menschen gehaltenwurde. „Bist du Gottes Sohn, so steige herabvom Kreuze!“ und: „Andern hat er geholfen,sich selbst k<strong>an</strong>n er nicht helfen“ 403 . Der Apostelerwähnt ger<strong>ad</strong>e das, was ihm zu dem vorliegendenGegenst<strong>an</strong>d paßt, und beweist400 2 Kor. 8, 9.401 Eph. 5, 25.402 Hebr. 12, 2.403 Matth. 27, 40. 42.


noch viel mehr als er versprochen hat. Erbeweist nämlich nicht nur, daß ChristusSchmähungen erfahren habe, sondern auchder Vater. „Die Schmähungen der Schmähersind auf mich gefallen.“ Der Sinn <strong>die</strong>ser Stelleist der: Es ist damit nichts Neues, nichtsUnerhörtes geschehen. Die, welche im AltenBunde sich vermaßen, den Vater zu schmähen,<strong>die</strong> ließen auch am Sohn ihre Wut aus.Das ist aber <strong>des</strong>wegen geschrieben, damitwir uns ein Beispiel nehmen. Hier will derApostel seine Zuhörer zur geduldigen Ertragungvon Trübsalen stärken, indem erspricht:V. 4: „Was früher geschrieben worden ist, das istzu unserer Belehrung geschrieben worden, damitwir durch <strong>die</strong> St<strong>an</strong>dhaftigkeit und den Trost derHl. Schrift <strong>die</strong> Hoffnung haben.“Das heißt: damit wir nicht verloren gehen —denn m<strong>an</strong>- nigfach sind <strong>die</strong> Kämpfeinnen und außen —, damit wir, gestärkt undaufgemuntert durch <strong>die</strong> Hl. Schrift, Geduld<strong>an</strong> den Tag legen, damit wir in Geduld lebenund in der Hoffnung verharren. Denn <strong>die</strong>sebeiden stehen in einem Wechselverhältniszuein<strong>an</strong>der: <strong>die</strong> Geduld kommt von derHoffnung, und <strong>die</strong> Hoffnung von der Geduld;beide aber leiten ihren Ursprung ausder Hl. Schrift her.Hierauf läßt der Apostel seine Rede wiederin ein Gebet übergehen, indem er spricht:V. 5: „Der Gott der Geduld und <strong>des</strong> Trostes abergebe euch Einmütigkeit unterein<strong>an</strong>der im Sinne<strong>des</strong> Messias Jesus.“ — Nachdem der Apostel<strong>die</strong>sen Wunsch seinerseits ausgesprochenund das Beispiel Christi <strong>an</strong>gezogen hat, fügter noch das Zeugnis der Hl. Schrift bei, indemer zeigt, daß neben der Schrift auchChristus selbst wieder <strong>die</strong> Geduld gibt. Darumsagt er: „Der Gott der Geduld und <strong>des</strong>Trostes aber gebe euch Einmütigkeit unterein<strong>an</strong>derChristus Jesus entsprechend.“ DerLiebe ist es eigen, das, was m<strong>an</strong> für sichwünscht, auch dem <strong>an</strong>dern zu wünschen.3.D<strong>an</strong>n aber fügt er bei, um auszudrücken, daßer nicht eine Liebe im gewöhnlichen Sinne<strong>des</strong> Wortes verl<strong>an</strong>ge: „im Sinne <strong>des</strong> MessiasJesus“. Das tut er überall da, wo es auch eine<strong>an</strong>dere Liebe gibt. Und was ist der Gewinnvon <strong>die</strong>ser Einstimmigkeit?V. 6: „Auf daß ihr einmütig und mit einemMunde preisen möget den Gott und Vater unseresHerrn Jesus Christus.“Der Apostel sagt nicht bloß: „mit einemMunde“, sondern er will, daß <strong>die</strong>s auch inSeelengemeinschaft geschehe. Siehst du, wieer alles zu einem Leib vereinigen möchte undwie er seine Rede wieder in einem LobpreisGottes ausklingen läßt? D<strong>ad</strong>urch stimmt erauch am meisten zur Eintracht und Einstimmigkeit.— D<strong>an</strong>n nimmt der Apostel wiederden Ton der Ermahnung auf, indem erspricht: V. 7: „Darum nehmet ein<strong>an</strong>der auf, wieauch Christus uns aufgenommen hat zur VerherrlichungGottes.“Wieder ein Beispiel von oben und ein unsagbarerGewinn; denn durch unser einträchtigesZusammenwirken wird Gott am meistenverherrlicht. Wenn du daher auch, gekränktvon deinem Bruder, mit ihm entzweit bist, sobedenke, daß du Gott, deinen Herrn, verherrlichst,wenn du deinen Zorn aufgibst; versöhnedich also <strong>des</strong>wegen mit ihm, wennschon nicht deinem Bruder zulieb, ja in ersterLinie <strong>des</strong>wegen! Auch Christus kehrt <strong>die</strong>Reihenfolge um, wenn er in seinem Gebet<strong>zum</strong> Vater spricht: „Dar<strong>an</strong> werden alle erkennen,daß du mich ges<strong>an</strong>dt hast, wenn sieeins sind“ 404 .Folgen wir also (der Mahnung <strong>des</strong> Apostels)und sc<strong>hl</strong>ießen wir uns eng zusammen! An<strong>die</strong>ser Stelle gilt seine Mahnung nicht mehrbloß den Schwachen, sondern allen. Will jem<strong>an</strong>dsich von dir trennen, so trenne doch du292404 Joh. 17, 23.


dich nicht von ihm und laß nicht jenes kalteWort von dir vernehmen: „Wenn mich jem<strong>an</strong>dliebt, so liebe ich ihn auch. Wenn michmein rechtes Auge nicht liebt, so reiße ich esaus.“ Das sind teuflische Reden und derEngherzigkeit von Zöllnern und Heiden entsprechend.Du aber bist zu einem vollkommenerenW<strong>an</strong>del berufen, bist eingeschriebenfür den Himmel und höheren Gesetzenunterworfen. Sprich also nicht so, sondernwenn dich einer nicht lieben will, d<strong>an</strong>n erweiseihm ger<strong>ad</strong>e recht deine Liebe, damit duihn <strong>an</strong> dich ziehst. Denn er ist ja ein Gliedvon dir. Wenn aber ein Glied gewaltsam vomKörper losgerissen wird, so tun wir allesMögliche, um es wieder mit ihm zu vereinigen,und wir wenden ihm d<strong>an</strong>n viel größereFürsorge zu. Auch wird dein Lohn größersein, wenn du jem<strong>an</strong>den <strong>an</strong> dich ziehst, derdich nicht lieben will. Denn wenn Christusbefie<strong>hl</strong>t, solche <strong>zum</strong> Ma<strong>hl</strong>e zu l<strong>ad</strong>en, <strong>die</strong> unsnicht dafür wiedervergelten können, damit<strong>die</strong> Wiedervergeltung für uns eine um sogrößere sei, so müssen wir <strong>die</strong>s um so mehrrücksichtlich der Liebe so halten. Denn wenndich einer liebt, der von dir geliebt wird, soleistet er selbst <strong>die</strong> Wiedervergeltung;wenn dich aber einer, den du liebst,nicht liebt, so macht er dir Gott <strong>an</strong> seiner Stelle<strong>zum</strong> Schuldner. Außerdem, wenn dicheiner liebt, so bedarf <strong>die</strong>ser nicht sonderlichdeiner Fürsorge; wenn er dich aber nichtliebt, d<strong>an</strong>n hat er besondere Beh<strong>an</strong>dlung deinerseitsnötig. Mache also nicht den Grund,warum du um ihn besorgt sein sollst, zurEntschuldigung dafür, daß du ihn vernac<strong>hl</strong>ässigst,und sag nicht: weil er kr<strong>an</strong>k ist,brauche ich mich um ihn nicht zu kümmern.Eine Kr<strong>an</strong>kheit ist ja in der Tat <strong>die</strong> Erkaltungder Liebe; du aber sollst das Erkaltete erwärmen.— Was aber, fragst du, wenn er sichnicht erwärmen läßt? — Setze deine Bemühungenfort! — Wenn er sich aber immermehr entfremdet? — So verschafft er dirwieder größere Vergeltung und läßt dichnoch mehr als Nachfolger Christi erscheinen.293Denn wenn schon <strong>die</strong> gegenseitige Liebe einErkennungszeichen seiner Jünger ist — „dar<strong>an</strong>sollen alle erkennen“, heißt es, „daß ihrmeine Jünger seid, wenn ihr ein<strong>an</strong>der liebet“405 —, d<strong>an</strong>n bedenke, was erst <strong>die</strong> Liebezu einem solchen, der dich haßt, für eine seinwird! Auch dein Herr liebt ja <strong>die</strong>, welche ihnhassen, und ruft sie zu sich. Ja, je schwächersie sind, <strong>des</strong>to größere Sorge trägt er um sieund ruft: „Nicht <strong>die</strong> Gesunden bedürfen <strong>des</strong>Arztes, sondern <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>ken“. 406 Zöllner undSünder würdigt er seiner Tischgesellschaft. Jegrößere Unehre ihm das Volk der Juden <strong>an</strong>tat,<strong>des</strong>to mehr Ehre und Rücksicht erwies erihm. Befleiße dich derselben H<strong>an</strong>dlungsweise!Denn sie ist nichts Kleines; ohne sie k<strong>an</strong>nnicht einmal ein Märtyrer Gott gefallen, wie<strong>Paulus</strong> sagt. Sprich also nicht: „Ich werdegehaßt, darum mag ich nicht lieben! Ger<strong>ad</strong>e<strong>des</strong>wegen solltest du um so mehr lieben. Übrigensist wo<strong>hl</strong> nicht gut möglich, daß m<strong>an</strong>für Liebe immer nur Haß fände. Wäre einerauch ein wil<strong>des</strong> Tier, so liebt er doch <strong>die</strong>,welche ihn lieben. „Das tun ja“, heißt es,„auch <strong>die</strong> Heiden und Zöllner“ 407 . Wenn nunaber ein jeder schon <strong>die</strong> liebt, <strong>die</strong> ihn lieben,wer wird nicht <strong>die</strong> lieben, <strong>die</strong> ihnlieben auch auf Haß hin? Eine solche H<strong>an</strong>dlungsweisetrage zur Schau und höre nichtauf zu versichern: „Du magst mich noch sosehr hassen, so werde ich doch nicht aufhören,dich zu lieben.“ So wirst du jede Eifersuchtersticken und jede Kälte verscheuchen.Diese Kr<strong>an</strong>kheit kommt nämlich entwedervon geistiger Fieberhitze oder Fieberkälte.Beide vermag aber <strong>die</strong> Kraft der Liebe durchihre Wärme auf das rechte Maß zu bringen.Siehst du nicht, wie solche, <strong>die</strong> in unkeuscherLiebe entbr<strong>an</strong>nt sind, von jenen Dirnen eserdulden, daß sie geohrfeigt, <strong>an</strong>gespuckt,ausgeschimpft und auf tausenderlei <strong>an</strong>dereWeise mißh<strong>an</strong>delt werden? Und was ist <strong>die</strong>Folge? Bringt sie <strong>die</strong>se schimpfliche Beh<strong>an</strong>d-405 Joh. 13, 35.406 Matth. 9, 12.407 Matth. 5, 46.


lung etwa von ihrer Liebe ab? Keineswegs,sondern sie entflammt sie nur noch mehr.Und doch sind <strong>die</strong>se Weiber, abgesehen davon,daß sie Huren sind, auch von gemeinerund niedriger Herkunft, während ihre Liebhaber,<strong>die</strong> solches erdulden, oft berühmteAhnen aufzuzä<strong>hl</strong>en haben und in m<strong>an</strong>cher<strong>an</strong>dern Beziehung hervorstechen. Nichts<strong>des</strong>towenigerbringt sie das nicht ab und scheidetsie nicht von ihrer Geliebten.4.Schämen wir uns demnach denn nicht, daßwir nicht imst<strong>an</strong>de sind, eine Liebe gegenGott <strong>an</strong> den Tag zu legen, <strong>die</strong> eine so großeGewalt hat wie <strong>die</strong> teuflische, sündhafte Liebe?Merkst du denn nicht, daß das <strong>die</strong> stärksteWaffe ist, <strong>die</strong> der Teufel gegen uns in derH<strong>an</strong>d hat? Siehst du denn nicht, daß der böseGeist bereit steht, den <strong>an</strong> sich zu ziehen, dervon uns gehaßt wird, und den Willen hat,<strong>die</strong>ses Glied sich einzuverleiben? Du abergehst achtlos vorbei und läßt den Kampfpreisfahren? Der Kampfpreis, der vor dir liegt, istnämlich dein Bruder. Wirst du seiner Herr,so empfängst du den Lorbeerkr<strong>an</strong>z; kümmerstdu dich aber weiter nicht um ihn, sogehst du unbekränzt von d<strong>an</strong>nen. Laß alsonicht mehr das teuflische Wort aus deinemMunde vernehmen: „Wenn mich mein Augehaßt, so will ich es nicht mehr sehen“ 408 . Esgibt nichts Schändliche- res als einesolche Rede, obgleich sie viele für das Zeicheneines vornehmen Charakters halten.Aber es gibt nichts Unedleres, nichts Sinnloseresund nichts Törichteres. Das ist es ja,was ich so sehr bedauere, daß das, was Sündeist, für Tugend <strong>an</strong>gesehen wird; daß einen<strong>an</strong>dern schneiden und ihn unbeachtet lassenfür vornehm und fein gilt. Das ist ja der gefährlichsteFallstrick <strong>des</strong> Teufels, daß er demBösen den Schein <strong>des</strong> Guten zu geben weiß;ger<strong>ad</strong>e <strong>des</strong>wegen ist ihm auch so schwer beizukommen.Ich habe schon oft Leute sichrühmen hören, daß sie solchen, mit denen sieausein<strong>an</strong>der geraten sind, nicht mehr nahekommen mögen. Und doch macht sich derHerr ger<strong>ad</strong>e daraus eine Ehre. Wie oft habenihm <strong>die</strong> Menschen nicht ihre Verachtung gezeigt?Wie oft haben sie ihn nicht von sichgestoßen? Er aber hört nicht auf, ihnen nachzulaufen.Sag’ also nicht: „Ich k<strong>an</strong>n solchen, <strong>die</strong> michhassen, nicht nahe kommen“, sondern sprich:„Ich k<strong>an</strong>n solchen keine Verachtung zeigen,<strong>die</strong> mir sie zeigen.“ Das ist <strong>die</strong> Sprache einesJüngers Christi, wie <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere <strong>die</strong> <strong>des</strong> Teufels.Die eine verschafft Ansehen und Ruhm,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dere Sch<strong>an</strong>de und Spott. Darum bewundernwir Moses, der, als Gott sprach:„Laß mich, ich werde sie vernichten in meinemZorne“, sich von den Juden nicht abwendenkonnte, obgleich sie ihn so oft beleidigthatten, sondern daß er sprach: „Wenndu ihnen <strong>die</strong> Sünde nac<strong>hl</strong>assen willst, so laßsie ihnen nach, sonst tilge auch mich aus“ 409Er war ja ein Freund und Nachahmer Gottes.Rühmen wir uns also nicht solcher Dinge,deren wir uns schämen sollten! Sprechen wirnicht wie <strong>die</strong> gemeinen Leute von der Gasse:„Ich verstehe es, Tausenden Verachtung zuzeigen“, sondern wenn ein <strong>an</strong>derer sospricht, d<strong>an</strong>n wollen wir ihn auslachen undihn schweigen heißen, weil er sich mit etwasrühmt, <strong>des</strong>sen er sich schämen sollte. Wassprichst du da? Du zeigst einem GläubigenVerachtung, den Christus nicht verachtet hat,als er noch ein Ungläubiger war? Doch wassage ich: er hat ihn nicht verachtet? Er hat ihnsogar so sehr geliebt, daß er für ihn,da er noch sein Feind und (<strong>an</strong> seiner Seele)g<strong>an</strong>z unschön war, gestorben ist. <strong>In</strong> <strong>die</strong>semZust<strong>an</strong>de hat er ihn geliebt, und du willst ihnverachten jetzt, nachdem er wunderbarschön, ein Glied Christi und ein Best<strong>an</strong>dteil408 Eine <strong>an</strong>dere Lesart ist: „Wenn mich mein Bruder haßt, …“ Der Sinn ist:„Wenn mich jem<strong>an</strong>d haßt, der mir so nahe steht wie mein Auge …“294409 Exod. 32, 10. 31-32.


seines Leibes geworden ist? Bedenkst dunicht, was du da sagst? Siehst du nicht ein,was für ein gewagtes Wort du da aussprichst?Er hat Christus zu seinem Haupt,zu seinem Tisch, zu seinem Kleid, zu seinemLeben, zu seinem Licht, zu seinem Bräutigam,alles ist er ihm, und du wagst es, auszusprechen:„Ich verachte <strong>die</strong>sen Menschen“?Ja, nicht allein, das, sondern auchtausend <strong>an</strong>dere mit ihm? Halt ein, Mensch,laß ab von deiner Raserei, erkenne deinenBruder! Lerne einsehen, daß solche Redensinnlos und verrückt sind, und sprich im Gegenteil:„Wenn er mir auch tausendmal Verachtungbezeigt, ich will mich nicht von ihmabwenden.“ So wirst du deinen Bruder gewinnenund ein Leben führen zur VerherrlichungGottes und der zukünftigen Güterteilhaftig werden, <strong>die</strong> wir alle erl<strong>an</strong>gen mögendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseresHerrn Jesus Christus, mit dem Ehre sei demVater zugleich mit dem Hl. Geiste jetzt undallezeit bis in Ewigkeit. Amen. NEUNUNDZWANZIGSTE HOMILIE.Kap. XV, V. 8—13.1.295Kap. XV, V. 8—13.V. 8: „Ich sage nämlich, daß Christus Jesus Dienerder Beschneidung geworden ist um GottesWahrhaftigkeit willen, um <strong>die</strong> den Vätern gemachtenVerheißungen einzulösen.“Wieder spricht der Apostel von der Sorge,<strong>die</strong> Christus uns hat <strong>an</strong>gedeihen lassen, undhält sich bei <strong>die</strong>sem Punkte noch länger auf,indem er zeigt, was Christus für uns get<strong>an</strong>hat und wie er „nicht sich selbst gefälligwar“. D<strong>an</strong>eben beweist er auch, daß ger<strong>ad</strong>e<strong>die</strong> Heiden Gott zu noch größerem D<strong>an</strong>keverpflichtet sind. Oben hat er den Juden hartzugesetzt, damit sie sich nicht über <strong>die</strong> Heidenerheben; jetzt drückt er wieder <strong>die</strong> Einbildungder Heiden nieder, indem er zeigt,daß den Juden <strong>die</strong> Wo<strong>hl</strong>taten, <strong>die</strong> sie empf<strong>an</strong>genhaben, zufolge von Verheißungenzuteil geworden seien, <strong>die</strong> ihren Vätern gemachtworden sind, den Heiden dagegenrein nur aus Erbarmen und Liebe. Darumheißt es im folgenden: „Die Heiden sollenGott preisen um seiner Erbarmungen willen.“Damit das Gesagte klarer werde, ist es<strong>an</strong>gezeigt, noch einmal den g<strong>an</strong>zen Zusammenh<strong>an</strong>gzu hören, damit m<strong>an</strong> erkenne, wases heißt, um Gottes Wahrhaftigkeit willen seiChristus <strong>zum</strong> Diener der Beschneidung geworden,um <strong>die</strong> den Vätern gemachten Verheißungeneinzulösen. Was haben also <strong>die</strong>seWorte für einen Sinn? Dem Abraham wareine Verheißung geworden, <strong>die</strong> lautete: „Dirund deinem Samen will ich das L<strong>an</strong>d geben,und in deinem Samen werden gesegnet werdenalle Völker der Erde“ 410 . <strong>In</strong> der Folge jedochwaren alle, <strong>die</strong> vom Samen Abrahamswaren, strafwürdig geworden; denn <strong>die</strong> Ü-bertretung <strong>des</strong> Gesetzes zog ihnen den ZornGottes zu und beraubte sie jener den Väterngemachten Verheißung. Als nun der Sohn Mensch geworden war, wirkte er mitdem Vater zusammen darauf hin, daß jeneVerheißungen zur Wahrheit würden und inErfüllung gingen. D<strong>ad</strong>urch nämlich, daß erdas g<strong>an</strong>ze Gesetz erfüllte, und darunter auchdas Gebot der Beschneidung, und dazu nochdurch seinen Kreuzestod, hob er den Fluchauf, der auf <strong>die</strong> Übertretung folgte, und ließnicht zu, daß <strong>die</strong> Verheißung unerfüllt blieb.Wenn es also heißt: „Diener der Beschneidung“,so ist damit gemeint, daß Christus,als er kam, das g<strong>an</strong>ze Gesetz erfüllte, daß erauch beschnitten wurde, daß er ein NachkommeAbrahams wurde, daß er den Fluc<strong>hl</strong>öste, daß er den Zorn Gottes besänftigte, daßer <strong>die</strong>, welche <strong>die</strong> Verheißung empf<strong>an</strong>gensollten, fähig dazu machte, indem er sie einfür allemal von der Schuld befreite. Die Judensollten auf den Vorwurf (daß sie bei ih-410 Gen. 12, 7; 22, 18.


296rem Gesetze bleiben) nicht <strong>an</strong>tworten können:„Wie kommt es denn, daß Christus beschnittenwurde und das g<strong>an</strong>ze Gesetz erfüllte?“Darum kehrt der Apostel den Beweisum: Nicht damit das Gesetz bestehen bleibe,sagt er, hat Christus das get<strong>an</strong>, sondern damiter es aufhebe, damit er dich von demFluch <strong>des</strong> Gesetzes erlöse und von seinerHerrschaft g<strong>an</strong>z befreie. Weil du das Gesetzübertreten hast, darum hat er es erfüllt. SeineAbsicht dabei war nicht, daß du es erfüllensollst, sondern damit er dir gegenüber <strong>die</strong>den Vätern gemachten Verheißungen einlöse.Das Gesetz hatte bewirkt, daß sie hinfälliggeworden waren. Der Apostel zeigt, daß dudich verfe<strong>hl</strong>t hast und <strong>des</strong> Erbes unwürdiggeworden bist. So bist auch du aus Gn<strong>ad</strong>egerettet worden; denn du warst ebenfallsbereits verworfen. Streite dich also nicht undhalte nicht hartnäckig und unzeitig am Gesetzefest! Du wärest ja auch der Verheißungverlustig geworden, wenn nicht Christus soviel für dich gelitten hätte. Er hat das gelitten,nicht weil du <strong>die</strong> Rettung ver<strong>die</strong>nt hattest,sondern um Gottes Verheißungen wahrzu machen.Damit nun <strong>die</strong>s den Heiden nicht aufgeblasenmache, sagt der Apostel weiter:V. 9: „Die Heiden sollen Gott preisen um seinerErbarmungen willen.“ Der Sinn <strong>die</strong>serStelle ist folgender: Die Juden hatten wenigstensVerheißungen, wenn sie ihrer auchunwürdig waren. Du hast aber auch dasnicht, sondern bist rein aus Liebe gerettetworden. Wo<strong>hl</strong> hätten auch <strong>die</strong> Juden nichtsvon der Verheißung gehabt, wenn Christusnicht gekommen wäre; aber der Apostel erwähntdoch <strong>die</strong> Verheißungen, um <strong>die</strong> Heidenchristenklein zu machen und bei ihnenkeine Überhebung gegen <strong>die</strong> Schwachen aufkommenzu lassen. Von <strong>die</strong>sen letzteren sagtder Apostel ausdrücklich, daß sie rein nuraus Erbarmen gerettet worden seien; darumsei es recht und billig, daß sie Gott g<strong>an</strong>z besonderslobpreisen. Ein Lobpreis Gottes liegtaber darin, daß wir uns <strong>an</strong>ein<strong>an</strong>der <strong>an</strong>sc<strong>hl</strong>ießen,daß wir zusammenhalten, daß wir einmütigihn loben, daß wir den Schwächerenertragen, daß wir das abgetrennte Glied nichtverachten.Hierauf führt der Apostel Schriftstellen <strong>zum</strong>Beleg dafür <strong>an</strong>, daß der Judenchrist mit denHeidenchristen eins mitein<strong>an</strong>der sein sollen.Er sagt:„Wie geschrieben steht: Darum will ich dich,Herr, bekennen unter den Heiden und deinemNamen Lob singen.“V. 10: „Und: fro<strong>hl</strong>ocket ihr Heiden, im Verein mitseinem Volke!“V. 11: „Und: Lobet den Herrn alle Heiden, undalle Völker sollen ihn preisen!“V. 12: „Und: Die Wurzel wird es sein, und der daaufsproßt aus ihr, zu herrschen über <strong>die</strong> Heidenvölker,auf ihn werden <strong>die</strong> Heidenvölker ihreHoffnung setzen.“— Alle <strong>die</strong>se Zeugnisse führt der Apostelvor, um zu zeigen, daß es notwendig sei,einmütig zusammenzustehen und Gott zupreisen. Zugleich will er d<strong>ad</strong>urch dem Judeneinen Dämpfer aufsetzen, damit er sich nichtdem Heidenchristen gegenüber erhebe, da jaalle Propheten auch <strong>an</strong> <strong>die</strong>se ihren Ruf ergehenließen. Den Heidenchristen will er zurBescheidenheit <strong>an</strong>halten, indem er ihm vorAugen stellt, daß er für ein größeres Maß vonGn<strong>ad</strong>e zu d<strong>an</strong>ken habe. 2.Hierauf leitet der Apostel seine Rede wiederzu einem Gebete über, indem er spricht:V. 13: „Der Gott der Hoffnung erfülle euch mitaller Freude und mit Frieden durch euren Glauben,damit ihr überreich seid <strong>an</strong> Hoffnung, in derKraft <strong>des</strong> Heiligen Geistes.“D. h. ihr sollt euch freimachen von Feindseligkeitgegenein<strong>an</strong>der und sollt niemals denVersuchungen unterliegen. Das wird geschehen,wenn ihr „zunehmet in der Hoffnung“.Denn <strong>die</strong>se ist <strong>die</strong> Quelle alles Guten. Sieselbst geht aus vom Hl. Geiste; aber nicht


vom Hl. Geiste allein kommt sie, sondern siewird uns zuteil, wenn auch wir von unsererSeite dazu mitwirken. Darum sagt der Apostel:„durch euren Glauben“. Das ist das Mittel,erfüllt zu werden mit Freude, wenn ihrglaubt, wenn ihr hofft. Er sagt aber nicht:wenn ihr hofft, sondern: „wenn ihr überreichseid <strong>an</strong> Hoffnung“. Ihr müßt sie in einemsolchen Maße besitzen, daß ihr in ihr nichtallein Trost findet in den Beschwerden, sondernnoch Freude dar<strong>an</strong> habet wegen <strong>des</strong>überschwenglichen Maßes <strong>an</strong> Glauben und<strong>an</strong> Hoffnung. Auf <strong>die</strong>se Weise werdet ihrauch den Hl. Geist auf euch herabziehen;wenn nun aber der euch zuteil wird, d<strong>an</strong>n isteuch alles Gute sicher.So wie uns <strong>die</strong> Speise das Leben erhält, derLeib aber <strong>die</strong> Speise ihrer Bestimmung zuführt,so werden wir auch den Geist haben,wenn wir gute Werke haben, und wenn wirden Geist haben, werden wir auch gute Werkehaben; und im Gegenteil: wenn wir keineWerke haben, wird auch der Geist von unsweichen; sind wir aber <strong>des</strong> Geistes bar, sowerden wir auch der Werke entbehren. Dennwenn der Hl. Geist von uns weicht, d<strong>an</strong>nkommt der unreine Geist. Das erweist sich inder Geschichte <strong>des</strong> Saul. Wenn er uns auchnicht ger<strong>ad</strong>e quält wie jenen, so sucht er unsdoch zu ersticken durch böse Werke. Da tutuns denn <strong>die</strong> Harfe Davids not, damit wir <strong>die</strong>Seele bezaubern durch <strong>des</strong>sen gottvolle Liederund nicht allein durch sie, sondern auchdurch <strong>die</strong> guten Taten. Denn tun wir nur daseine, lauschen wir nur seinem Liede, so stellenwir uns durch unser Tun gera<strong>des</strong>ofeindselig gegen den Sänger, wie esdamals Saul tat. Das Heilmittel wird unsd<strong>an</strong>n <strong>zum</strong> Verderben werden; <strong>die</strong> Rasereiwird noch wilder. Bevor wir <strong>die</strong> heiligen Gesängehören, fürchtet der böse Geist, wirmöchten uns bessern, wenn wir sie hören;bleiben wir aber <strong>die</strong> Alten, wenn wir sie hören,so benimmt ihm <strong>die</strong>s seine Furcht.Laßt uns also das Lied der guten Werke singen,damit wir mit der Sünde, <strong>die</strong> ärger ist297als der Teufel, aufräumen! Der Teufel beraubtuns nicht in jedem Falle <strong>des</strong> Himmels,sondern es ist sogar möglich, daß er demWachsamen zu <strong>des</strong>sen Erl<strong>an</strong>gung behilflichist. Die Sünde dagegen verb<strong>an</strong>nt uns in jedemFalle daraus. Denn sie ist ein Teufel, denm<strong>an</strong> sich selbst geschaffen, eine Tollheit, <strong>die</strong>m<strong>an</strong> sich freiwillig zugezogen hat. Darumwird ihr auch kein Erbarmen und keine Verzeihung.Laßt uns also der Seele, wenn sie sich in <strong>die</strong>semZust<strong>an</strong>de befindet, vorsingen aus den<strong>an</strong>dern heiligen Schriften sowo<strong>hl</strong> als auchaus denen <strong>des</strong> heiligen David! Es singe derMund, es folge der Geist! Und es ist <strong>die</strong>snicht etwas Bedeutungsloses. Denn wenn wir<strong>die</strong> Zunge singen lehren, so wird sich <strong>die</strong>Seele schämen, etwas zu wollen, was demGesungenen zuwider ist. Doch nicht allein<strong>die</strong>se gute Frucht werden wir davon haben,sondern wir werden auch Wissen erl<strong>an</strong>genüber verschiedene Dinge. Denn <strong>die</strong> <strong>hl</strong>. Schriftenerzä<strong>hl</strong>en uns von Gegenwärtigem undZukünftigem, von der sichtbaren und unsichtbarenSchöpfung, wenn du über denHimmel unterrichtet sein willst, ob er sobleiben oder verändert werden wird, so <strong>an</strong>twortetdir <strong>die</strong> Hl. Schrift klar und spricht:„Die Himmel werden veralten wie ein Gew<strong>an</strong>d,und wie ein Kleid wirst du, o Gott, siewechseln, und sie werden verändert werden“411 . Willst du etwas über <strong>die</strong> Gestalt <strong>des</strong>Himmels hören, so vernimmst du wieder:„Er sp<strong>an</strong>nt aus den Himmel wie ein Fell“ 412 .Willst du etwas Näheres wissen über <strong>die</strong> o-beren Räume <strong>des</strong> Himmels, so sagt dir wiederder Psalmist: „Der du seine oberenTeile bedeckst mit Wasser.“ 413 Dabei bleibter noch nicht stehen, sondern er erzä<strong>hl</strong>t dirauch von der Breite und Höhe <strong>des</strong>selben undzeigt dir, daß sie gleiches Maß haben. „Soweit“, heißt es, „als wie der Aufg<strong>an</strong>g vom Niederg<strong>an</strong>gentfernt ist, so weit hat er entfernt von411 Ps. 101, 27.412 Ebd. 103, 2 .413 Ps. 103, 3.


uns unsere Sünden. So hoch der Himmel über derErde ist, so hat der Herr sein Erbarmen hochwerden lassen über <strong>die</strong>, welche ihn fürchten.“ 414Und wenn du nach den Grundfesten der Erdeforschest, auch sie bleiben dir nicht verborgen,sondern du hörst den Psalmistensingen: „Über Meere hat er <strong>die</strong> Erde gegründet.“415Wenn du wissen willst, woher <strong>die</strong> Erdbebenkommen, so nimmt dir der Psalmist jedenZweifel, indem er spricht: „<strong>In</strong>dem er auf<strong>die</strong> Erde schaut, macht er sie zittern.“ 416 Wenndu fragst, wozu <strong>die</strong> Nacht gut ist, so erfährstdu auch das von ihm: „<strong>In</strong> ihr sc<strong>hl</strong>eichen <strong>die</strong>Tiere <strong>des</strong> Wal<strong>des</strong>.“ 417 Wozu <strong>die</strong> Berge? Er<strong>an</strong>twortet dir: „Die hohen Berge sind für <strong>die</strong>Hirsche.“ 418 Und <strong>die</strong> Felsen ? „Die Felsen sindeine Zuflucht für <strong>die</strong> Igel.“ 419 Wozu <strong>die</strong> unfruchtbarenBäume? „Da nisten <strong>die</strong> Sperlinge.“ 420Wozu gibt es Quellen in der Wüste? „An ihnenwohnen <strong>die</strong> Vögel <strong>des</strong> Himmels und <strong>die</strong>Tiere <strong>des</strong> Fel<strong>des</strong>.“ 421 Wozu der Wem? Nichtallein <strong>zum</strong> Trinken, denn dazu genügt auchdas Wasser, sondern damit du dich aufheiterst:„Denn der Wein erheitert <strong>des</strong> MenschenHerz.“ 422 Daraus k<strong>an</strong>nst du auch ersehen,inwieweit m<strong>an</strong> den Wein genießen darf.Woher bekommen <strong>die</strong> Vögel und <strong>die</strong> Tiere<strong>des</strong> Fel<strong>des</strong> ihre Nahrung? Höre den Psalmisten,der da spricht: „Alles harret dein, daß duihnen Speise gibst zur rechten Zeit.“ 423 Wenndu fragst, wozu das Vieh? So <strong>an</strong>twortet erdir, daß es deinetwegen da ist. „Er läßt Graswachsen und Kräuter für das Vieh <strong>zum</strong>Dienste der Menschen.“ 424 Wozu <strong>die</strong>nt derMond? Höre den Psalmisten, wie er spricht:„Er hat gemacht den Mond, <strong>die</strong> Zeitenmitzuteilen.“ 425 Daß Gott alles geschaffen hat, dasSichtbare und das Unsichtbare, auch das lehrtdich der Psalmist, wenn er sagt: „Er spracht un<strong>des</strong> ist geworden, er befa<strong>hl</strong>, und es wurde geschaffen“426 . Auch daß es einstmals eine Erlösung vomTode geben wird, auch das lehrt dich der Psalmist,wenn er spricht: „Gott wird erretten meineSeele von der Macht der Hölle, wenn er mich aufnimmt“427 . Woraus ist unser Leib geworden?Auch das sagt dir der Psalmist: „Er gedenkt,daß wir Staub sind“ 428 . Was wird einmal aus ihmwerden? „Er wird zurückkehren <strong>zum</strong> Staub.“ 429Wozu sind alle Dinge da? Deinetwegen. „MitHerrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt undhast ihn gesetzt über <strong>die</strong> Werke deiner Hände.“ 430Haben wir Menschen etwas gemeinsam mit denEngeln? Auch das sagt uns der Psalmist, indemer also singt: „Du hast ihn nur wenig unter <strong>die</strong>Engel erniedrigt.“ 431 Von der Liebe Gottes heißtes: „Wie ein Vater sich erbarmt seiner Kinder, soerbarmt der Herr sich derer, <strong>die</strong> ihn fürchten“ 432 .Von dem zukünftigen Leben und jenem Zust<strong>an</strong>dder Ruhe heißt es: „So kehre denn zurück,meine Seele, in deine Ruhe“ 433 . Warum istder Himmel so groß? Auch das sagt dir der Psalmist:„Die Himmel erzä<strong>hl</strong>en <strong>die</strong> Herrlichkeit Gottes“434 . Wozu sind Tag und Nacht da? Nichtbloß damit jener leuchte und <strong>die</strong>se Zeit zurRuhe gewähre, sondern auch damit sie unsetwas lehren. „Nicht Sprachen sind es ja undReden, von deren Schall m<strong>an</strong> nichts hört.“ 435Wie das Meer um <strong>die</strong> Erde liegt? „Der Abgrundist ihr Kleid wie ein M<strong>an</strong>tel.“ 436 So lautetnämlich der hebräische Text.3.Angef<strong>an</strong>gen von <strong>die</strong>sen Dingen werdet ihrauch über alles <strong>an</strong>dere Aufsc<strong>hl</strong>uß bekom-414 Ebd. 102, 12. 11.415 Ebd. 23, 2.416 Ebd. 103, 32.417 Ebd. 103, 20.418 Ebd. 103, 18.419 Ebd. 103, 18.420 Ebd. 103, 17.421 Ebd. 103, 12.422 Ebd. 103, 15.423 Ebd. 103. 27.424 Ebd. 103, 14 .425 Ps. 103, 19.298426 Ebd. 32, 9.427 Ebd. 48, 16.428 Ebd. 102, 14.429 Ebd. 103, 29 .430 Ebd. 8, 6 . 7.431 Ps. 8, 6.432 Ebd. 102, 13 .433 Ebd. 114, 7 .434 Ebd. 18, 2.435 Ebd. 18, 4.436 Ebd. 103, 6.


men: über Christus, über <strong>die</strong> Auferstehung,über das zukünftige Leben, <strong>die</strong> (ewige)Ruhe, <strong>die</strong> Strafe im Jenseits. Alle Sitten-und Glaubenslehren werdet ihr in derHl. Schrift finden und sie selbst voll unzä<strong>hl</strong>igerguter Ged<strong>an</strong>ken. Wenn dir z. B. ein Unglückzustößt, so k<strong>an</strong>nst du aus ihr reichenTrost schöpfen. Bist du in Sünden gefallen, sok<strong>an</strong>nst du in ihr unzä<strong>hl</strong>ige Heilmittel finden.Sucht dich Armut heim oder eine Trübsal,dort wirst du den stillen Hafen dafür erblicken.Bist du ein Gerechter, so wirst du ausder Hl. Schrift viel Sicherheit schöpfen; bistdu ein Sünder, so vielen Trost. Denn bist duein Gerechter und lei<strong>des</strong>t dennoch schwer, sohöre, was der Psalmist sagt: „Um deinetwillenerleiden wir täglich den Tod, werden wirSc<strong>hl</strong>achtschafen gleichgeachtet. Das alles istuns zugestoßen, und wir haben doch deinernicht vergessen“ 437 . Blähen dich deine gutenWerke auf, so höre den Psalmisten, wie erspricht: „Gehe nicht ins Gericht mit deinemKnechte; denn kein Lebewesen wird ohneSchuld erk<strong>an</strong>nt vor dir“ 438 , — und sogleichwirst du demütig werden. Bist du ein Sünderund verzweifelst du <strong>an</strong> dir selbst, d<strong>an</strong>n höreimmer wieder, wie der Psalmist singt: „Heute,wenn ihr seine Stimme höret, verhärteteuere Herzen nicht wie am Tage der Erbitterung“439 , — und sogleich wirst du dich wiederaufrichten. Trägst du eine Krone auf deinemHaupte und bil<strong>des</strong>t du dir viel ein darauf,so beherzige: „Keinem König hilft seinegroße Macht und keinem Riesen <strong>die</strong> Fülleseiner Kraft“ 440 , — und du wirst dazu kommen,bescheiden zu sein. Bist du reich und<strong>an</strong>gesehen, so höre wieder den heiligen Sänger:„Wehe denen, <strong>die</strong> vertrauen auf ihreMacht und sich rühmen der Menge ihrerReichtümer“ 441 , und: „Der Mensch, wie Heusind seine Tage“ 442 , und: „Seine Herrlichkeitwird nicht mit ihm hinunterfahren“ 443 , —und du wirst nichts für groß halten auf derErde. Denn wenn das, was am weitestemseinen Schein wirft — Ruhm und Herrschermacht—, wenn das so nichtigist, was <strong>an</strong>deres auf der Erde wird erst derRede wert sein? Oder du bist in mutloserStimmung? Höre, was der Psalmist sagt:„Was bist du traurig, meine Seele, und warumängstigst du mich? Hoffe auf Gott, weilich ihm noch meinen D<strong>an</strong>k gestehen werde!“444 Oder siehst du <strong>an</strong>dere Ruhm erntenohne ihr Ver<strong>die</strong>nst? „Ereifere dich nicht über<strong>die</strong>, welche Böses tun; denn wie Gras verdorrensie schnell und wie grünes Kraut welkensie geschwind!“ 445 Du siehst, daß sowo<strong>hl</strong> Gerechteals auch Sünder gestraft werden? Höre,daß nicht <strong>die</strong> gleiche Ursache vorliegt:„Viele Geißeln kommen über den Sünder“ 446 .Von den Gerechten dagegen heißt es nicht„Geißeln“, sondern: „Viele Trübsale treffen<strong>die</strong> Gerechten, und aus ihnen allen wird derHerr sie erretten“ 447 , und wiederum: „DerTod der Sünder ist böse“ 448 , und „Kostbarvor dem Herrn ist der Tod seinerHeiligen“449.Solche Stellen lies beständig, aus ihnenschöpfe Belehrung! Je<strong>des</strong> ihrer Worte enthältein unermeßliches Meer von Ged<strong>an</strong>ken. Wirhaben sie hier nur im Vorbeigehen einfach<strong>an</strong>geführt; wenn ihr <strong>die</strong>selben aber mit Sorgfalterwägen wolltet, so würdet ihr daringroßen Ged<strong>an</strong>kenreichtum erblicken. Aberauch <strong>die</strong> bisher nur so <strong>an</strong>geführten Stellenkönnen dazu <strong>die</strong>nen, <strong>die</strong> Leidenschaften zuunterdrücken; denn wenn sie keinen Neid,keine Trauer, keine unzeitige Niedergesc<strong>hl</strong>agenheitzulassen noch auch den Reichtum füretwas zu halten, weder Trübsal noch Armutnoch auch das Leben selbst hoch einzuschätzen,so befreien sie dich ja von den Leiden-437 Ps. 43, 22 u. 18.438 Ebd. 142, 2 .439 Ebd. 94, 8.440 Ebd. 32, 16.441 Ps. 48, 7.442 Ebd. 102, 15.299443 Ebd. 48, 18 .444 Ps. 41, 12.445 Ebd. 36, 1—2.446 Ebd. 31, 10 .447 Ps. 33, 20.448 Ebd. 33, 22.449 Ebd. 115, 6.


schaften. Für alles das laßt uns also Gottd<strong>an</strong>ken und <strong>die</strong>sen Schatz so benutzen, „daßwir durch Geduld und den Trost der Hl.Schrift <strong>die</strong> Hoffnung bewahren“ 450 und derzukünftigen Güter genießen. Diese mögenuns allen zuteil werden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e undLiebe unseres Herrn Jesus Christus, durchden und mit dem sei Ehre dem Vaterzugleich mit dem Hl. Geiste jetzt und allezeitbis in Ewigkeit. Amen. DREISSIGSTE HOMILIE. Kap. XV, V.14—24.1.Kap. XV, V. 14—24.V. 14: „Allerdings, Brüder, bin auch ich selbstdurchaus überzeugt, daß ihr auch selbst guterGesinnung voll seid, mit aller Erkenntnis vollversehen, so daß ihr imst<strong>an</strong>de wäret, auch den<strong>an</strong>dern Ermahnungen zu geben.“Der Apostel hatte gesagt: „Mein Amt alsHeidenapostel will ich mit Ehren führen“ 451 ;er hatte gesagt: „Gott könnte vielleicht auchdeiner nicht schonen“ 452 ; er hatte gesagt:„Haltet euch nicht selbst für klug“ 453 ; undwieder: „Du aber, was bekrittelst du deinenBruder?“ 454 ; und weiter: „Wer bist du denn,daß du den Sklaven eines <strong>an</strong>dern Herrn bekrittelst?“455 Das und mehr <strong>an</strong>deres Derartigeshatte er gesagt. Nachdem er also öfter einhärteres Wort gebraucht hat, sc<strong>hl</strong>ägt er imfolgenden einen milderen Ton <strong>an</strong>. Was er amAnf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s gesagt hat, darauf kommter jetzt am Sc<strong>hl</strong>uß <strong>des</strong>selben wieder zurück.Am Anf<strong>an</strong>g hatte er gesagt: „Ich d<strong>an</strong>ke Gottfür euch alle, daß euer Glaube auf der g<strong>an</strong>zenWelt verkündigt wird“ 456 ; hier aber sagt er:450 Röm. 15, 4.451 Röm. 11, 13.452 Ebd. 11, 21.453 Ebd. 12, 16.454 Röm. 14, 10.455 Ebd. 14, 4 .456 Ebd. 1, 8.300„Ich bin durchaus überzeugt, daß ihr auchselbst guter Gesinnung voll seid, imst<strong>an</strong>de,auch den <strong>an</strong>dern <strong>die</strong> nötigen Ermahnungenzu geben.“ Und das besagt mehr als das erstere.Er sagt auch nicht: „Ich habe es gehört“,sondern: „ich bin durchaus überzeugt“ undbrauche mich darüber nicht von einem <strong>an</strong>dernbelehren zu lassen. Auch heißt es: „ichselbst“, d. h. ich, derselbe, der euch hart <strong>an</strong>gelassen,der euch Vorwürfe gemacht hat.„Daß ihr guter Gesinnung voll seid.“ Dasbezieht sich auf <strong>die</strong> unmittelbar vorausgeg<strong>an</strong>geneErmahnung. Er will gleichsam sagen:„Nicht als ob ihr hart und lieblos gegeneure Mitbrüder wäret, habe ich euch ermahnt,sie (<strong>die</strong> Judenchristen) mildezu beh<strong>an</strong>deln, sie nicht sich selbst zu überlassen,das Werk Gottes nicht zu zerstören;denn ich weiß ja, daß ihr „guter Gesinnungvoll seid“. — Übrigens scheint es mir, alswolle der Apostel hier mit <strong>die</strong>sem Ausdruck<strong>die</strong> Tugend überhaupt bezeichnen. — Er sagtauch nicht: „ihr habt sie“, sondern: „ihr seidvoll davon“. Auch das folgende spricht ermit demselben Vollton aus: „mit aller Erkenntnisvoll versehen“. Denn was hätte esgenützt, wenn sie zwar von liebevoller Gesinnunggewesen wären, aber nicht verst<strong>an</strong>denhätten, mit denen richtig umzugehen,denen sie ihre Liebe hätten zuwenden wollen.Darum setzt der Apostel bei: „Mit allerhierzu nötigen Erkenntnis voll versehen, sodaß ihr imst<strong>an</strong>de wäret, auch den <strong>an</strong>dernErmahnungen zu geben“, also nicht bloß zulernen, sondern auch zu lehren.V. 15: „Ich habe euch <strong>zum</strong> Teil etwas freimütigergeschrieben.“Beachte <strong>die</strong> Demut <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, beachte seineWeisheit, wie er im Vorausgehenden einentiefen Schnitt geführt und erreicht hat, was erwollte, nun wiederum ein Heilmittel <strong>an</strong>wendet.Denn auch ohne den gemachten Zusatzwäre schon das Bekenntnis, freimütig gewesenzu sein, allein imst<strong>an</strong>de gewesen, ihreGereiztheit zu besänftigen. Dasselbe tut er im<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hebräer, wenn er spricht: „Von


euch, Geliebte, versehen wir uns eines Besserenund Heilbringenden, wenn wir auch sosprechen“ 457 . Und im Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korintherwieder heißt es: „Das allerdings lobe ich <strong>an</strong>euch, daß ihr euch in allem meiner erinnertund so <strong>an</strong> den Verordnungen festhaltet, wieich sie gegeben habe“ 458 . Und im Brief <strong>an</strong> <strong>die</strong>Galater spricht er: „Von euch bin ich überzeugt,daß ihr nicht <strong>an</strong>deren Sinnes seid“ 459 .Und so findet m<strong>an</strong> überall in den <strong>Briefe</strong>n <strong>die</strong>senGed<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>g häufig, hier aber in vergrößertemMaße. Die <strong>Römer</strong> schätzten sichnämlich höher ein; darum war es notwendig,ihre Ein- bildung niederzudrückennicht allein durch T<strong>ad</strong>el, sondern auch durchBesänftigung. Der Apostel tut <strong>die</strong>s denn auchauf verschiedene Weise. Darum sagt er hier:„Ich habe euch etwas freimütiger geschrieben.“Aber das genügt ihm noch nicht, sonderner setzt noch hinzu: „<strong>zum</strong> Teil“, d. h.stellenweise. Auch dabei bleibt er nicht stehen,sondern was sagt er? „Um eure Erinnerungaufzufrischen.“ Er sagt nicht: „um euchzu lehren“, auch nicht: „um euch zu erinnern“,sondern: „um eure Erinnerung aufzufrischen“,d. h. um euch ein wenig zu erinnern.Siehst du, wie der Sc<strong>hl</strong>uß <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s mit demEing<strong>an</strong>ge zusammenkommt? Wie der Aposteldort gesagt hat: „Euer Glaube wird aufder g<strong>an</strong>zen Welt verkündigt“, so sagt er amEnde <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s: „Euer Gehorsam ist allenkund geworden.“ Und wie er am Anf<strong>an</strong>ggeschrieben hat: „Es verl<strong>an</strong>gt mich, euch zusehen, um euch geistige Gabe mitzuteilen zueurer Stärkung“, d. h. zu eurer gegenseitigenTröstung, so sagt er hier: „um eure Erinnerungaufzufrischen“. Er steigt herab vomLehrstu<strong>hl</strong> und spricht hier und dort wie zuBrüdern und gleichstehenden Freunden. Dasist ja <strong>die</strong> Hauptsache bei einem Lehrer, daßer seine Rede verschieden zu drehen verstehtje nach dem Bedürfnis seiner Zuhörer. —Beachte nun, wie der Apostel, nachdem ergesagt hat: „Ich habe etwas freimütiger geschrieben“und: „<strong>zum</strong> Teil“ und; „um eureErinnerung aufzufrischen“, sich auch dar<strong>an</strong>noch nicht genügen läßt, sondern einen nochdemütigeren Ton <strong>an</strong>sc<strong>hl</strong>ägt, indem er fortfährt:„wegen der mir von Gott verliehenen Gn<strong>ad</strong>e.“So hatte er auch am Anf<strong>an</strong>g gesagt: „Ich bines schuldig“, wie wenn er sagen wollte: Ichhabe mir <strong>die</strong>ses Ehrenamt nicht selbst <strong>an</strong>gemaßtund habe nicht zuerst darnach gegriffen,sondern Gott hat es mir übertragen, undzwar aus Gn<strong>ad</strong>e, nicht als ob ich <strong>des</strong>sen wertgewesen wäre. Also regt euch nicht auf! Ichmaße mir nichts <strong>an</strong>. Gott ist der Auftraggeber.Und wie er dort gesagt hat: „dem ich<strong>die</strong>ne im Ev<strong>an</strong>gelium seines Sohnes“, so fährter auch hier nach den Worten: „wegen dermir von Gott verliehenen Gn<strong>ad</strong>e“ fort; V. 16: „Zu dem Zwecke (verliehen), daßich ein Priester Jesu Christi sei für <strong>die</strong> Heidenwelt,der ich das Ev<strong>an</strong>gelium Gottes mit heiligerTreue verwalte.“Nachdem er im vorausgehenden <strong>die</strong> Sache ingroben Strichen darget<strong>an</strong> hat, kommt er zueiner feineren Unterscheidung; er sprichtnicht mehr bloß von einem „Dienst“ wie amAnf<strong>an</strong>ge, sondern von einem „Priester<strong>die</strong>nst“und einem „heiligen Dienst“. Mein Priestertumbesteht darin, daß ich predige und verkünde;das ist das Opfer, welches ichdarbringe. Einem Priester aber macht niem<strong>an</strong>deinen Vorwurf, daß er sich bemüht,sein Opfer t<strong>ad</strong>ellos darzubringen. Das sagtaber der Apostel, um dem Geist seiner Zuhörerzugleich einen höheren Flug zu gebenund zu zeigen, daß sie das Opfer seien, undum sich damit zu verteidigen, daß ihm <strong>die</strong>saufgetragen sei. Mein Schwert, will er sagen,ist das Ev<strong>an</strong>gelium, das Wort, das ich verkündige.Der Grund, warum ich es tue, istnicht, damit ich mir Ruhm erwerbe und einengl<strong>an</strong>zvollen Namen bekomme, sondern:457 Hebr. 6, 9.458 1 Kor. 11, 2.459 Gal. 5, 10.301


„Damit das Opfer der Heidenwelt wo<strong>hl</strong>gefällig<strong>an</strong>genommen werde, geheiligt durch den Hl.Geist“,d. h. damit <strong>die</strong> Seelen, <strong>die</strong> hier Lehren empf<strong>an</strong>gen,gute Aufnahme finden. Denn nichtso sehr, um mich zu ehren, als aus Besorgnisum euch hat Gott mich dazu <strong>an</strong>geleitet.2.Wieso können sie aber (Gott) wo<strong>hl</strong>gefälligwerden? Durch den Hl. Geist; denn nichtbloß der Glaube ist dazu erforderlich, sondernauch ein geistlicher W<strong>an</strong>del, damit wirden Geist bewahren, den wir einmal bekommenhaben. Denn nicht Holz und Feuer,nicht Opferaltar und Schwert, sondern derGeist ist alles bei uns. Darum tue ich alles,daß <strong>die</strong>ses Feuer nicht erlösche; das ist meinAuftrag. Was richtest du deine Rede aber <strong>an</strong>Leute (könnte einer fragen), <strong>die</strong> es nicht notwendighaben? Ich lehre ja nicht eigentlich,<strong>an</strong>twortet der Apostel, sondern ich frischenur <strong>die</strong> Erinnerung auf; so wie der Priesterbeim Feuer steht und es <strong>an</strong>facht, so frischeich den Geist meiner Zuhörer auf. Und beachte!Der Apostel sagt nicht: „damit euer Opfer wo<strong>hl</strong>gefällig <strong>an</strong>genommen werde“,sondern: „das Opfer der Heidenwelt“.Wenn er sagt: „der Heidenwelt“, so meint erdamit den g<strong>an</strong>zen Erdkreis, Erde und Meer.Er will damit auf den stolzen Sinn der <strong>Römer</strong>niederdrückend einwirken, daß sie einenLehrer nicht verschmähen möchten, der bis<strong>an</strong> <strong>die</strong> Grenzen <strong>des</strong> bewohnten Erdenkreisesvorgedrungen ist. <strong>In</strong> demselben Sinne hatteer am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s gesagt: „Wie auchbei den übrigen Völkern; Heiden und Barbaren,Weisen und Unwissenden bin ichSchuldner“ 460 .V. 17: „So k<strong>an</strong>n ich mich rühmen in ChristusJesus in betreff der Sache Gottes.“460 Röm. 1, 14.302Nachdem er sich tief gedemütigt hat, sc<strong>hl</strong>ägter wieder einen selbstbewußteren Ton derRede <strong>an</strong>, und zwar tut er es seiner Zuhörerwegen, damit er ihnen nicht verächtlich erscheine.Aber auch indem er sich selbst erhebt,vergißt er nicht seine Art. Er sprichtalso: „So k<strong>an</strong>n ich mich rühmen.“ Ich rühmemich, will er sagen, nicht meiner selbst, auchnicht unseres Eifers, sondern der Gn<strong>ad</strong>e Gottes.V. 18: „Denn ich würde mich nicht erdreisten,etwas von solchen Dingen zu sagen, <strong>die</strong> nichtChristus durch mich gewirkt hätte zur Bekehrungder Heidenwelt in Wort und Tat“,V. 19: „in Kraft von Zeichen und Wundern, inKraft <strong>des</strong> Geistes Gottes.“Es soll niem<strong>an</strong>d einwenden können, will ersagen, daß meine Worte Pra<strong>hl</strong>erei seien; dennes sind <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Abzeichen meiner priesterlichenWürde, und für <strong>die</strong> (empf<strong>an</strong>gene)H<strong>an</strong>dauflegung k<strong>an</strong>n ich viele Beweise <strong>an</strong>führen:nicht Talar und Glöckchen, wie <strong>die</strong>Priester <strong>des</strong> Alten Bun<strong>des</strong>, auch nicht Mitraund Kopfschmuck, wo<strong>hl</strong> aber Dinge, <strong>die</strong> vielehrwürdiger sind als jene: Zeichen undWunder. Auch k<strong>an</strong>n niem<strong>an</strong>d sagen, daß ichzwar <strong>die</strong> W<strong>an</strong>dauflegung empf<strong>an</strong>gen, aberden mir damit gewordenen Auftrag nichtausgeführt habe — oder viel- mehr, nicht ich habe ihn ausgeführt, sondernChristus —. Darum rühme ich mich auchnicht alltäglicher Dinge, sondern geistlicher;das besagt das: „in betreff der Sache Gottes“.Daß ich meinen Auftrag erfüllt habe und daßmeine Worte nicht leere Pra<strong>hl</strong>erei sind, dasmögen <strong>die</strong> Wunder beweisen und <strong>die</strong> Bekehrungder Heidenwelt. „Denn ich würde michnicht erdreisten, etwas von solchen Dingenzu sagen, <strong>die</strong> nicht Christus durch mich gewirkthätte zur Bekehrung der Heidenwelt inWort und Tat, in Kraft von Zeichen undWundern, in Kraft <strong>des</strong> Geistes Gottes.“ Siehstdu, wie der Apostel sich bemüht, zu zeigen,daß alles Werk Gottes, nichts sein eigenes sei.Ob ich etwas sage oder tue oder Wunderwirke, alles tut er, alles der Hl. Geist. Das


303sagt er, um auch <strong>die</strong> Würde <strong>des</strong> Geistes darzutun.Siehst du, wieviel wunderbarer underhabener <strong>die</strong>se Dinge sind als <strong>die</strong> <strong>des</strong> AltenBun<strong>des</strong>: Opfer, Opfergabe und Abzeichen?Wenn er sagt: „in Wort und Tat, in Kraft vonZeichen und Wundern“, so meint er <strong>die</strong>christliche Lehre, <strong>die</strong> Weisheit vom Himmelreich,den Erweis derselben durch Werkeund W<strong>an</strong>del, <strong>die</strong> Totenerweckungen, <strong>die</strong>Teufelaustreibungen, <strong>die</strong> Heilungen vonKr<strong>an</strong>ken und Lahmen und <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern Wunder,welche alle der Hl. Geist unter uns gewirkthat. — Ein weiterer Beweis für <strong>die</strong>Wirklichkeit <strong>des</strong>sen, was der Apostel bisherbehauptet hat, ist <strong>die</strong> Menge der Jünger.Darum fährt er fort:„So daß ich von Jerusalem und Umgehung <strong>an</strong> bisnach Illyrien hin das Ev<strong>an</strong>gelium Christi vollzogenhabe.“Zä<strong>hl</strong>e also auf <strong>die</strong> Städte und Länder, <strong>die</strong>Stämme und Völker, nicht allein <strong>die</strong> unterden <strong>Römer</strong>n, sondern auch unter den Barbarenstehenden; geh d<strong>an</strong>n weiter nicht bloßdurch Phönizien und Syrien, durch Zilizienund Kapp<strong>ad</strong>ozien, sondern rechne auch <strong>die</strong>Länder dazu, <strong>die</strong> dahinter liegen, das L<strong>an</strong>dder Sarazenen, der Perser, der Armenier undder <strong>an</strong>dern Barbaren. Darum sagt der Apostel:„und Umgebung“, damit du nicht nurnach einer Richtung hin den Weg nimmst,sondern im Geiste g<strong>an</strong>z Asien, auch den südlichenTeil <strong>des</strong>selben, durcheilest. Wie er inden Worten: „in Kraft von Zeichen und Wundern“ g<strong>an</strong>ze Wolken vonWundern begreift, so faßt er wieder in <strong>die</strong>semeinzigen Worte „Umgebung“ unzä<strong>hl</strong>igeStädte und Stämme und Völker und Länderzusammen. Er selbst war ja frei von jeglichemStolze; er sagt es aber der <strong>Römer</strong> wegen,damit sie nicht so hoch von sich denkenmöchten. Auch am Anf<strong>an</strong>ge <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s sagter ja: „Damit ich einige Frucht sammle sowo<strong>hl</strong>bei euch wie auch bei den übrigen Völkern“.Hier spricht er von der Pflicht, <strong>die</strong> ihmsein Priestertum auferlegte. Weil er <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>in etwas schärferem Ton <strong>an</strong>gelassen hatte,muß er seine Berechtigung dazu etwasdeutlicher machen. Darum sagt er dort einfach:„wie auch bei den übrigen Völkern“,hier aber nennt er ger<strong>ad</strong>ezu <strong>die</strong> Örtlichkeit,um ihre hohe Meinung von sich in jeder Weisezu dämpfen. Er sagt auch nicht einfach:„daß ich das Ev<strong>an</strong>gelium verkündigt“, sondern:„daß ich das Ev<strong>an</strong>gelium Christi vollzogenhabe“.V. 20: „Ich habe dabei Wert darauf gelegt, dasEv<strong>an</strong>gelium da zu verkündigen, wo Christi Namennoch nicht einmal gen<strong>an</strong>nt worden war.“3.Sieh da wieder eine <strong>an</strong>dere, über das Gewöhnlichehinausgehende Tat! Der Apostelhat nicht bloß so vielen Völkern gepredigtund sie bekehrt, er hat seine Schritte auchnicht zu solchen gelenkt, <strong>die</strong> bereits Kenntnisvom Ev<strong>an</strong>gelium hatten. So weit war er entferntdavon, etwa <strong>die</strong> Schüler <strong>an</strong>derer fürsich zu be<strong>an</strong>spruchen und <strong>des</strong> Ruhmes wegenseine Arbeit zu tun, daß er mit Fleiß daraufausging, solche zu lehren, <strong>die</strong> noch nichtsvom Ev<strong>an</strong>gelium gehört hatten. Er sagt nichteinmal: „wo noch keine Bekehrung erfolgtwar“, sondern: „wo Christi Namen nochnicht einmal gen<strong>an</strong>nt worden war“, was nochmehr ist. Und warum hat er Wert darauf gelegt?„Damit ich den Bau nicht auf fremdem Fundamenteaufführe.“— Das sagt er, um zu zeigen, daß er selbstfern von Ehrsucht sei, und um <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> zubelehren, daß er nicht aus Ruhmsucht undum von ihnen geehrt zu werden, dazu gekommensei, ihnen zu schreiben, sondern um seinen Dienst zu erfüllen, um seinempriesterlichen Amt gerecht zu werden,aus Sorge um ihr Heil. Ein „frem<strong>des</strong>“ Fundamentnennt <strong>Paulus</strong> das von den <strong>an</strong>dernAposteln gelegte, nicht mit Rücksicht auf <strong>die</strong>Verschiedenheit der Person, auch nicht mit


Rücksicht auf den <strong>In</strong>halt der Verkündigung,sondern mit Bezug auf den Lohn. Sonst warihm ja <strong>die</strong> Predigt <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums nicht etwasFrem<strong>des</strong>, sie war ihm nur etwas Frem<strong>des</strong>mit Bezug auf den Lohn. Der Lohn füreine von <strong>an</strong>dern geleistete Arbeit galt ihm alsein fremder. D<strong>an</strong>n weist er auf eine Weissagunghin, <strong>die</strong> sich dabei erfüllt habe, indemer spricht:V. 21: „Wie geschrieben steht: Denen keine Kundevon ihm geworden war, ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> sollen sehen,und <strong>die</strong> nichts von ihm zu hören bekommenhatten, ger<strong>ad</strong>e <strong>die</strong> sollen verstehen.“Siehst du, wie der Apostel dahin eilt, womehr Arbeit winkt, wo mehr Schweiß zuvergießen ist?V. 22: „Das ist es auch, wodurch ich schonmehrmals abgehalten worden bin, zu euch zukommen.“Beachte, wie der Apostel am Ende seines<strong>Briefe</strong>s wieder auf einen Ged<strong>an</strong>ken zurückkommt,den er am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong>selben ausgesprochenhat! Dort hat er gesagt: „Oftmalshatte ich mir vorgenommen, zu euch zukommen, aber bis jetzt bin ich verhindertgewesen.“ Hier gibt er den Grund <strong>an</strong>, wodurcher verhindert worden ist, nicht einmal,sondern zweimal und öfter. Denn wie er dortsagt: „Oftmals hatte ich mir vorgenommen,zu euch zu kommen“, so auch hier: „Ich binschon mehrmals abgehalten worden, zu euchzu kommen.“ Damit drückt er seine Sehnsuchtnach ihnen aus, <strong>die</strong> oftmaligen Versuche,sie zu stillen.V. 23: „Jetzt aber, da ich in <strong>die</strong>sen Himmelsstrichenkein Arbeitsfeld mehr habe“ —siehst du, wie er zu verstehen gibt, daß nichtdas Streben nach Ruhm bei ihnen ihn ver<strong>an</strong>laßt,ihnen zu schreiben und zu ihnen kommen. — „aber seit vielen Jahren Sehnsuchthabe, zu euch zu kommen“,V. 24: „so hoffe ich, wenn ich einmal nach Sp<strong>an</strong>ienreisen sollte, auf der Durchreise euch zu sehenund mich von euch dorthin befördern zu lassen,freilich erst nachdem ich euch ein wenig werdegenossen haben.“304Damit es nicht den Anschein gewinne, alsdrücke er ihnen seine Geringschätzung aus,wenn er sagt, er werde erst d<strong>an</strong>n zu ihnenkommen, wenn er sonst nichts zu tun habenwerde, führt er <strong>die</strong> Rede wieder auf seineLiebe zu ihnen, indem er spricht: „Ich habeSehnsucht, zu euch zu kommen seit vielenJahren.“ Also nicht darum verl<strong>an</strong>gt es michzu kommen, weil ich ger<strong>ad</strong>e Muße habe,sondern damit ich <strong>die</strong> Sehnsucht stille, <strong>die</strong>ich seit l<strong>an</strong>gem trage. Damit aber <strong>die</strong>se Bemerkungsie nicht wieder eingebildet mache,so beachte, wie er sie niederdrückt, indem erspricht: „Wenn ich einmal nach Sp<strong>an</strong>ien reisensollte, so hoffe ich euch auf der Durchreisezu sehen.“ Diese Bemerkung macht er,damit sie sich nicht etwas einbilden. Er willihnen gleichzeitig seine Liebe zeigen undverhindern, daß sie eingebildet werden; darummacht er nachein<strong>an</strong>der Bemerkungen,<strong>die</strong> das eine und das <strong>an</strong>dere bezwecken. Damitsie nicht sagen können: „da beh<strong>an</strong>delstdu uns ja g<strong>an</strong>z als Nebensache“, darum fährter fort: „und mich von euch dorthin befördernzu lassen“, d. h. damit ihr mir Zeugendafür seid, daß ich nicht aus Mißachtung gegeneuch, sondern aus notgedrungenenRücksichten auf meinen Dienst euch nur imVorbeigehen besuche. Weil aber auch das sienoch betrüben könnte, darum mildert er dasBetrübende <strong>die</strong>ser Bemerkung noch weiter,indem er sagt: „freilich erst, nachdem icheuch ein wenig werde genossen haben“.Durch das Wort „auf der Durchreise“ drückter aus, daß er den Besuch bei ihnen nicht machenwolle aus dem Streben, sich ihre Anerkennungzu erwerben; durch das <strong>an</strong>dereWort „nachdem ich euch werde genossenhaben“ zeigt er, daß er sich nach einem liebevollenUmg<strong>an</strong>g mit ihnen sehne, und dasrecht stark. Darum sagt er: „nachdem icheuch ein wenig werde genossen haben“;denn keine noch so l<strong>an</strong>ge Zeit würde hinreichen,meine Sehnsucht nach euchzu stillen und mich <strong>des</strong> Umg<strong>an</strong>ges mit euchsatt werden zu lassen. Ersiehst du daraus,


wie sehr er seine Liebe <strong>zum</strong> Ausdruck bringt,wenn er trotz seiner Eile doch nicht eher vonihnen gehen will, als bis er sie werde genossenhaben? Die Ausdrücke, deren er sich be<strong>die</strong>nt,bekunden seine große Zuneigung zuden <strong>Römer</strong>n. Er sagt nicht: „ich werde euchsehen“, sondern: „ich werde euch genießen“;er ahmt damit <strong>die</strong> Sprache der Eltern ihrenKindern gegenüber nach. Am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong><strong>Briefe</strong>s hat er gesagt: „Damit ich einigeFrucht sammle“, hier aber: „damit ich euchgenieße“. Das eine war das größte Lob für<strong>die</strong> <strong>Römer</strong>, wenn sie ihm nämlich eine ausihrer Bekehrung erwachsene Frucht darbietensollten; das <strong>an</strong>dere ist ein vollgiltiger Beweisder Liebe <strong>des</strong> Apostels zu ihnen. Auchim <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther spricht er so:„damit ihr mir das Geleite gebet, wohin ichetwa reisen werde“ 461 . Durch alle <strong>die</strong>se Wendungenlegt er eine Liebe zu seinen Schülern<strong>an</strong> den Tag, <strong>die</strong> nicht ihresgleichen hat. Darumbeginnt er stets seine <strong>Briefe</strong> mit einerdergleichen und sc<strong>hl</strong>ießt sie auch wiederdamit.4.Der Apostel liebte nämlich alle Gläubigen soinnig wie ein liebender Vater sein einzigesvollbürtiges Kind. Darum sagt er auch: „Werwird schwach, und ich würde nicht (mit)schwach? Wer wird geärgert, und ich glühtenicht wie Feuer?“ 462 Diese Eigenschaft mußvor allen <strong>an</strong>dern der Lehrer haben. Darumsprach Christus auch zu Petrus: „Wenn dumich liebst, so weide meine Schafe!“ 463 Dennwer Christus liebt, der liebt auch seine Herde.Auch den Moses bestellte Gott erst d<strong>an</strong>ndem Volke der Juden <strong>zum</strong> Führer, als er seineTeilnahme für sie <strong>an</strong> den Tag gelegt hatte.Ebenso gel<strong>an</strong>gte David d<strong>ad</strong>urch zur Königs-461 1 Kor. 16, 6.462 2 Kor. 11, 29.463 Joh. 21, 17.305herrschaft, daß er sich vorerst als Freund seinesVolkes zeigte. Noch ein Jüngling, empf<strong>an</strong>der solches Leid für sein Volk, daß er seinLeben aufs Spiel setzte, als er jenen Barbarenersc<strong>hl</strong>ug. Wenn er sagte: „Was gibtm<strong>an</strong> dem M<strong>an</strong>ne, der <strong>die</strong>sen Ausländer ersc<strong>hl</strong>ägt?“464 so fragte er damit nicht nach demLohn, sondern er wollte, daß m<strong>an</strong> ihm dasVertrauen schenke und ihm den Kampf gegendenselben übertrage. Als er nach errungenemSiege <strong>zum</strong> Könige kam, sprach er keinWort von Lohn. Auch Samuel war ein großerLiebhaber seines Volkes; darum sagte er: „Aber<strong>die</strong> Sünde sei weit von mir, daß ich ablasse,für euch zu beten <strong>zum</strong> Herrn“ 465 . Ebenso,ja nicht nur ebenso, sondern viel mehr alsalle <strong>die</strong>se glühte <strong>Paulus</strong> von Liebe für seineUntergebenen. Darum hatte er sie auch insolchem Gr<strong>ad</strong>e für sich eingenommen, daß ersagen konnte: „Wenn es möglich gewesenwäre, so hättet ihr euch eure Augen ausgerissenund mir gegeben“ 466 . Darum macht auchGott den Lehrern der Juden einen schärferenVorwurf als den <strong>an</strong>dern, indem er spricht: „Oihr Hirten Israels, weiden denn <strong>die</strong> Hirtensich selbst? Sollen sie denn nicht <strong>die</strong> Schafeweiden?“ Jene aber taten das Gegenteil. „Ihraber aßet <strong>die</strong> Milch und kleidetet euch mitder Wolle, und was feist war, sc<strong>hl</strong>achtetetihr; aber meine Herde habt ihr nicht geweidet.“467 Und Christus hat <strong>die</strong> Richtschnur fürdas Verhalten <strong>des</strong> richtigen guten Hirtenausgesprochen, wenn er sagt: „Der gute Hirtgibt sein Leben für seine Schafe“ 468 . David tat<strong>die</strong>s öfter, besonders aber, als über das g<strong>an</strong>zeVolk jenes schreckliche Strafgericht vomHimmel kam. Als nämlich alle dahingerafftwurden, sprach er: „Ich, der Hirte, bin’s, dergesündigt hat; ich, der Hirte, habe Unrechtget<strong>an</strong>. Diese, <strong>die</strong> Herde, was haben sie get<strong>an</strong>?“469 Darum wä<strong>hl</strong>te er, als ihm <strong>die</strong> Wa<strong>hl</strong>der Strafen gelassen wurde, nicht Hungers-464 1 Kön. 17, 26.465 Ebd. 12, 23 .466 Gal. 4, 15.467 Ezech. 34, 2—4468 Joh. 10, 11.469 2 Kön. 24, 17.


not noch Verfolgung durch <strong>die</strong> Feinde, sonderndaß ihm der Tod von Gott geschicktwerde; d<strong>ad</strong>urch hoffte er, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern in Sicherheitzu bringen, selbst aber vor allen <strong>an</strong>derngetroffen zu werden. Als <strong>die</strong>s aber nichtgeschah, ruft er klagend aus: „Auf mir liegedeine H<strong>an</strong>d“, wenn <strong>die</strong>s aber nicht genügt,„auch auf dem Hause meines Vaters.“ „Dennich, der Hirte, habe gesündigt“ 470 ,als wollte er sagen: „Wenn auch sie gesündigthaben, so bin doch ich der Strafe schuldig,weil ich sie nicht auf den rechten Weggeführt habe; wenn aber <strong>die</strong> Verschuldungbei mir liegt, so muß gerechterweise auch ich<strong>die</strong> Strafe tragen.“ <strong>In</strong> der Absicht, <strong>die</strong> Anklagegegen sich selbst zu steigern, gibt er sichden Namen „Hirt“. So besänftigte er GottesZorn und hob den Urteilsspruch auf. So vielvermag ein Sündenbekenntnis. „Der Gerechteist zuerst sein eigener Ankläger.“ 471 Sogroß ist <strong>die</strong> Sorge und Teilnahme <strong>des</strong> rechtenguten Hirten. Sein Herz ward zerrissen, alsjene hingerafft wurden, wie wenn <strong>die</strong>s seineeigenen Kinder träfe; darum verl<strong>an</strong>gte er,daß das Strafgericht über ihn selbst komme.Er hätte <strong>die</strong>s gleich zu Beginn <strong>des</strong> großenSterbens get<strong>an</strong>, wenn er nicht gehofft hätte,es würde seinen Weg weiter gehen und auchihn erreichen. Als er aber sah, daß <strong>die</strong>s nichtder Fall war, sondern daß das Unglück nurseine Untert<strong>an</strong>en traf, da konnte er es nichtertragen; er wurde von einem glühenderenSchmerz erfaßt als beim Tode seines erstgeborenenSohnes Amnon. Damals begehrte ernicht den Tod für sich, jetzt aber wünschte ersich, vor allen <strong>an</strong>dern zu fallen.So soll ein rechter Herrscher sein; er sollmehr betrübt sein über das Unglück <strong>an</strong>dererals über sein eigenes. Ebenso erging es ihmbeim Tode seines (<strong>an</strong>deren) Sohnes [Absalom],woraus m<strong>an</strong> ersieht, daß er sein Kindnicht mehr liebte als seine Untert<strong>an</strong>en. Obgleich<strong>die</strong>ser Jüngling ein Wildling und einVatermörder war, sagte David gleichwo<strong>hl</strong>:„Wer gibt mir den Tod statt deiner?“ 472 Wassagst du da, heiliger M<strong>an</strong>n und Geduldigsterunter allen Menschen? Dein Sohn strebte dirdoch nach dem Leben und brachte unsagbaresElend über dich; und nun, da er aus derWelt geschafft und der Sieg über ihn errungenist, wünschest du dir den Tod (<strong>an</strong> seinerStatt)? Ja, <strong>an</strong>twortet er; denn was mein Heererfochten, ist für mich kein Sieg; ich habe jetzt einen härteren Kampf zu bestehenals vorher, und mein Herz wird jetztnoch mehr zerrissen.5.Alle <strong>die</strong>se (vorgen<strong>an</strong>nten) Männer trugenSorge für solche, <strong>die</strong> ihrem Schutze <strong>an</strong>vertrautwaren. Der heilige M<strong>an</strong>n Abraham aberließ seine große Fürsorge auch solchen <strong>an</strong>gedeihen,<strong>die</strong> ihm nicht <strong>an</strong>vertraut waren. Dieselbewar so groß, daß er sich ihretwegengroßen Gefahren aussetzte. Er tat <strong>die</strong>s nichtallein seinem Bruderssohn, sondern auch denBewohnern von Sodoma gegenüber; er ließnicht ab von der Verfolgung jener Perser, biser sie alle befreit hatte. Obgleich er sich hättekönnen Ruhe gönnen, als er den Lot wiederbefreit hatte, wollte er <strong>die</strong>s doch nicht; denner war um sie alle gleich bekümmert. Dasbewies er durch das, was er nachher tat. Esh<strong>an</strong>delte sich nicht etwa bloß um bevorstehendeEinnahme jener Städte durch ein Fein<strong>des</strong>heer,sondern der Zorn Gottes bedrohtesie mit Zerstörung von Grund aus. Da konntennicht Waffen helfen, nicht eine Sc<strong>hl</strong>acht,kein Heer, sondern nur Fürbitte. Diese legtedenn Abraham auch mit solchem Eifer für sieein, als ob ihm selbst <strong>die</strong> Vernichtung gedrohthätte. Einmal, zweimal, dreimal undöfter ging er Gott <strong>an</strong> und nahm seine Zufluchtsogar <strong>zum</strong> Hinweis auf seine Natur,indem er sprach: „Ich bin Erde und Staub“ 473 .470 1 Par. 21, 17.471 Sprichw. 18, 17.306472 2 Kön. 18, 33.473 1 Mos. 18, 27.


Und weil er wußte, daß sie, soweit es auf sieselbst <strong>an</strong>kam, dem Verderben preisgegebenwaren, suchte er sie vermittelst <strong>an</strong>derer zuretten. Darum sprach Gott zu ihm: „Soll iches meinem Sohne Abraham verheimlichen,was ich zu tun vorhabe ?“ 474 Daraus sollenwir ersehen, wie menschenfreundlich derGerechte ist. Abraham hätte nicht nachgelassenmit seinem Fürsprechen, wenn nicht Gottzuerst nachgegeben hätte. Scheinbar bittet ernur für <strong>die</strong> Gerechten, in Wirklichkeit tut eres für <strong>die</strong> Sünder. Die Seelen der Heiligensind ja mitleidig und voll Liebe zu den Menschen,sowo<strong>hl</strong> zu den eigenen Angehörigenals auch zu den Fremden; ja, sie erstreckenihr Mitleid sogar auf <strong>die</strong> unvernünftigen Tiere.Darum spricht der weise M<strong>an</strong>n:„Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes“475 ; wenn aber <strong>des</strong> Viehes, um wievielmehr der Menschen?Da ich ger<strong>ad</strong>e von den Tieren spreche, wollenwir erwägen, wieviel <strong>die</strong> Schafhirten inKapp<strong>ad</strong>ozien bei der Aufsicht über ihre Herdenauszustehen haben. Oft sind sie schonbis drei Tage eingeschneit gewesen. Auch <strong>die</strong>Hirten in Libyen sollen nicht geringere Unbildenauszustehen haben. Monatel<strong>an</strong>g müssensie in der unwirtlichen Wüste, <strong>die</strong> vollwilder Tiere ist, umherirren. Wenn nun derenWachsamkeit über unvernünftige Tiereso groß ist, was werden wir, denen vernunftbegabteSeelen <strong>an</strong>vertraut sind, für eine Entschuldigunghaben, daß wir in tiefen Sc<strong>hl</strong>afversunken liegen? Darf m<strong>an</strong> da sich auch nureinen Augenblick Ruhe gönnen? Muß m<strong>an</strong>nicht fortwährend auf den Beinen sein undsich für solche Schäflein nicht tausenderleiGefahren aussetzen? Oder kennt ihr nichtden Wert <strong>die</strong>ser Herde? Hat nicht dein Herrunzä<strong>hl</strong>ige Arbeiten für sie auf sich genommen,hat er nicht sein Blut für sie vergossen?Du aber suchst Ruhe? Was gibt es Sc<strong>hl</strong>immeresals solche Hirten? Weißt du denn nicht,daß <strong>die</strong>se Schafe Wölfe umlauern, <strong>die</strong> vielreißender und wilder sind als <strong>die</strong> gewöhnlichen?Bedenkst du denn nicht, was für eineSeelenbeschaffenheit demjenigen notwendigist, der ein solches Amt übernehmen will?Männer, <strong>die</strong> als Volksführer im politischenLeben stehen, sind Tag und Nacht auf derWache, obgleich es doch nur alltägliche Dingesind, in denen sie das Volk zu beraten haben.Wir dagegen, deren Kampf der Erreichung<strong>des</strong> Himmels gilt, sc<strong>hl</strong>afen sogar beiTage? Wer wird uns von der dafür gebührendenStrafe befreien? Wenn m<strong>an</strong> auch seinenLeib dem Tode hingeben, ja wenn m<strong>an</strong>den Tod auch in tausend Formen erleidenmüßte, so müßte m<strong>an</strong> dazu eilen wie zu einemFeste.Das sollen sich nicht bloß <strong>die</strong> Hirten, sondernauch <strong>die</strong> Schafe gesagt sein lassen, damit sie<strong>die</strong> Hirten amtsfreudiger machen, damit sieihren Eifer beleben, indem sie ihnen g<strong>an</strong>zbesonders Willfährigkeit und Gehorsam erweisen. Das befie<strong>hl</strong>t auch <strong>Paulus</strong>,indem er spricht: „Gehorcht euren Vorstehernund seid ihnen untertänig; denn sie wachenüber eure Seelen als solche, <strong>die</strong> Rechenschaftgeben werden“ 476 . Wenn er sagt: „siewachen“, so meint er damit ihre tausendfachenMühen und Sorgen und Gefahren.Denn ein guter Hirt, der so ist, wie Christusihn haben will, k<strong>an</strong>n mit vielen Märtyrernauf <strong>die</strong>selbe Stufe gestellt werden. Der Märtyrerstirbt nur einmal für Christus, der Hirtdagegen unzä<strong>hl</strong>ige Male für seine Herde,wenn er so ist, wie er sein soll. Ein solcherk<strong>an</strong>n jeden Tag den Tod erleiden.Denkt darum <strong>an</strong> <strong>die</strong>se Mühe und unterstütztsie eurerseits durch Gebet, Eifer, guten Willenund Liebe, damit wir für euch und ihr füruns eine Ehre seid! Christus hat dem Fürstender Apostel, der ihn mehr liebte als alle <strong>an</strong>dern,das Hirtenamt erst übergeben, nachdemer ihn gefragt hatte, ob er von ihm geliebtwerde. Daraus magst du ersehen, daß er<strong>die</strong>ses Amt vor allem als einen Beweis der474 Ebd, 18, 17.475 Sprichw. 12, 10.307476 Hebr. 13, 17.


Liebe zu ihm <strong>an</strong>sieht. Und in der Tat verl<strong>an</strong>gtes eine starke Seele. Doch das sei nur von densehr guten Hirten gesagt, nicht von mir undmeinesgleichen, sondern von solchen, wie<strong>Paulus</strong>, wie Petrus, wie Moses einer war.Diesen wollen wir ähnlich zu werden trachten,Obere wie Untergebene. Es k<strong>an</strong>n nämlichauch ein Untergebener in einem gewissenMaße Hirt sein: in seinem Hause, seinenFreunden, seinen Hausgenossen, seinemWeibe, seinen Kindern gegenüber. Wenn wirnun, ein jeder nach seinen Verhältnissen, <strong>die</strong>szur Richtschnur für unser Leben nehmen, sowerden wir alles Guten teilhaftig werden.Dies möge uns allen widerfahren durch <strong>die</strong>Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres Herrn Jesus Christus,dem Ehre sei in Ewigkeit. Amen. EINUNDDREISSIGSTE HOMILIE.Kap. XV, V. 25—33 und Kap. XVI, V. 1—5.1.Kap. XV, V. 25—33 und Kap. XVI, V. 1—5.V. 25: „Jetzt aber reise ich nach Jerusalem, den(dortigen) Heiligen einen Dienst zu leisten.“V. 26: „Mazedonien und Achaja haben es nämlichfür gut befunden, eine Sammlung zu ver<strong>an</strong>staltenzu Gunsten der Armen unter den Heiligen inJerusalem.“V. 27: „Sie haben es für gut befunden und sind esihnen eigentlich auch schuldig.“Der Apostel hat gesagt: „Ich habe kein Arbeitsfeldmehr in <strong>die</strong>sen Himmelsstrichenund habe Sehnsucht seit vielen Jahren, zueuch zu kommen“; er zögert aber noch damit.Auf daß nun <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> nicht zur Meinungkommen, er habe sie <strong>zum</strong> besten, nennter auch <strong>die</strong> Ursache, warum er seinen Besuchnoch verschiebt, und sagt: „Ich reise nachJerusalem.“ Er scheint damit zunächst nurden Grund <strong>die</strong>ses Aufschubes <strong>an</strong>zugeben; in308Wirklichkeit hat er dabei noch eine <strong>an</strong>dereAbsicht. Er will <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> aufmuntern, einAlmosen zu geben und sie recht bereitwilligdazu machen. Denn wenn er nicht <strong>die</strong>s hätteerreichen wollen, hatte es genügt zu sagen:„Ich reise nach Jerusalem“; nun gibt er aberauch den Grund seiner Reise <strong>an</strong>: „Ich reise“,sagt er, „den (dortigen) Heiligen einen Dienstzu leisten.“ Er widmet der Sache noch einigeWorte mehr und begründet sie, indem ersagt, daß <strong>die</strong>s eine Schuldigkeit sei:„Denn wenn sie <strong>die</strong> Heiden haben teilnehmenlassen <strong>an</strong> ihren geistigen Schätzen, sind <strong>die</strong>seschuldig, ihnen einen Dienst zu erweisen mitihren leiblichen Gütern.“Die <strong>Römer</strong> sollten daraus <strong>die</strong> Lehre ziehen,es ebenso zu machen. Dabei ist besonders <strong>die</strong>Weisheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> bewundernswert, <strong>die</strong><strong>die</strong>se Form, den <strong>Römer</strong>n <strong>die</strong>s zu raten, ausgedachthat; denn so ließen sie sich es ehergefallen, als wenn er in Form einer Ermahnunggespro- chen hätte. Es wäreihnen auch als eine Beleidigung vorgekommen,wenn er ihnen <strong>die</strong> Korinther und <strong>die</strong>Mazedonier als Beispiel <strong>an</strong>geführt hätte. DieKorinther freilich ermahnt er in <strong>die</strong>ser Form;er spricht: „Ich setze euch aber in Kenntnisvon der Gn<strong>ad</strong>e Gottes, <strong>die</strong> den Kirchengemeindenin Mazedonien zuteil gewordenist“ 477 . Die Mazedonier wieder ermahnt ervermittelst der Korinther. „Euer Eifer“, sagter, „hat viele <strong>an</strong>geregt“ 478 . Die Galater benützter gleichfalls als Beispiel zu einer Mahnung,wenn er sagt: „Wie ich es in den Kirchengemeindenvon Galatien <strong>an</strong>geordnethabe, so macht auch ihr es!“ 479 Mit den <strong>Römer</strong>nspricht er nicht so, sondern kommt ihnenmehr auf Umwegen bei. Ebenso macht eres mit Bezug auf <strong>die</strong> Verkündigung <strong>des</strong> E-v<strong>an</strong>geliums, wenn er sagt: „Oder hat etwavon euch das Wort Gottes seinen Ausg<strong>an</strong>ggenommen? Oder ist es zu euch allein gel<strong>an</strong>gt?“480 Nichts wirkt so kräftig wie der477 2 Kor. 8, 1 .478 Ebd. 9, 2.479 1 Kor. 16, 1.480 Ebd. 14, 36.


Wetteifer; darum nimmt ihn der Apostel oftin seinen Dienst. So sagt er auch <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dernStelle: „Wie ich in allen Kirchengemeindenes <strong>an</strong>geordnet habe“ 481 , und wieder:„Wie ich es in allen Kirchengemeinden lehre“482 . Zu den Kolossern spricht er: „Das E-v<strong>an</strong>gelium bringt seine Frucht und entfaltetsich in der g<strong>an</strong>zen Welt“ 483 . DenselbenKunstgriff wendet er hier <strong>an</strong> betreffs <strong>des</strong> Almosens.— Beachte auch, wie gewichtigeAusdrücke der Apostel gebraucht! Er sagtnicht: „Ich reise, um ihnen ein Almosen zubringen“, sondern: „um ihnen einen Dienstzu leisten“. Wenn aber <strong>Paulus</strong> einen Dienstleistet, d<strong>an</strong>n beachte, wie schwerwiegend <strong>die</strong>Sache, um <strong>die</strong> es sich h<strong>an</strong>delt, sein muß,wenn der Lehrer <strong>des</strong> Erdkreises sie zur Besorgungübernimmt, und wenn ihr <strong>Paulus</strong>,im Begriffe, eine Reise zu unternehmen undobwo<strong>hl</strong> er sich nach den <strong>Römer</strong>n sehnt, dochden Vorzug gibt!„Mazedonien und Achaja haben es für gutbefunden“, — d. h. haben sich bereit erklärt,haben den Wunsch ausgesprochen,— „eine Sammlung zu ver<strong>an</strong>stalten.“ Wiedersagt er nicht: „ein Almosen zu geben“, sondern:„eine Sammlung zu ver<strong>an</strong>stalten“. A-ber auch das Wörtchen „eine“ setzt er nichtohne Grund her, sondern damit es nicht denAnschein gewinne, als wolle er den <strong>Römer</strong>neinen leisen Vorwurf machen. Auch sagt ernicht einfach: „zu Gunsten der Armen“, sondern:„zu Gunsten der Armen unter den Heiligen“.Darin liegt eine doppelte Empfe<strong>hl</strong>ung,eine solche von Seiten ihrer Tugendund eine von Seiten ihrer Armut. Und auchdar<strong>an</strong> läßt es sich der Apostel noch nicht genügen,sondern er fährt fort: „Sie sind es ihnenschuldig.“ D<strong>an</strong>n zeigt er, wieso sie esihnen schuldig sind. „Denn wenn sie“, sagter, „<strong>die</strong> Heiden haben teilnehmen lassen <strong>an</strong>ihren geistigen Schätzen, sind <strong>die</strong>se schuldig,ihnen einen Dienst zu erweisen mit ihrenleiblichen Gütern.“ Der Sinn <strong>die</strong>ser Stelle istfolgender: Der Juden wegen ist Christus gekommen,alle Verheißungen galten den Juden,aus ihrer Mitte ging Christus hervor;darum heißt es auch: „Von den Juden kommtdas Heil“ 484 . Aus ihnen sind <strong>die</strong> Apostel hervorgeg<strong>an</strong>gen,aus ihnen <strong>die</strong> Propheten, vonihnen ist alles Heil gekommen. An allen <strong>die</strong>senguten Dingen hat der g<strong>an</strong>ze Erdkreisteilgenommen. Wenn ihr also, will der Apostelsagen, <strong>an</strong> <strong>die</strong>sen größeren Dingen teilgenommenhabt, wenn ihr zu dem Ma<strong>hl</strong> gekommenseid, das ihnen zubereitet war, undvon den vorgesetzten Gerichten genossenhabt — nach der Parabel <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums —,so seid ihr schuldig, jene <strong>an</strong> euren leiblichenGütern teilnehmen zu lassen und ihnen davonmitzuteilen. Und da sagt der Apostelnicht: „teilnehmen zu lassen“, sondern: „einenDienst zu erweisen“; er reiht sie d<strong>ad</strong>urchden Dienstleuten ein, solchen, <strong>die</strong> den KönigenAbgaben entrichten. Er sagt auch nicht:„mit euren leiblichen Gütern“, wie er gesagthat: „<strong>an</strong> ihren geistigen Schätzen“; denn <strong>die</strong>geistigen Schätze der Juden gehörten ihnenallein, <strong>die</strong> leiblichen Güter der Heiden dagegengehören nicht ihnen allein, sondern sindgemeinsames Eigentum aller; der Apostel will nämlich haben, daß das irdischeVermögen allen gehöre, nicht den Besitzernallein. V. 28: „Wenn ich <strong>die</strong>s werde zu Ende geführtund <strong>die</strong>se Frucht für sie werde in Sicherheitgebracht haben“,d. h. wenn ich sie gleichsam in königlicheSchatzkammern, in einem Versteck, <strong>an</strong> einemsicheren Orte werde untergebracht haben. Ersagt nicht: „das Almosen“, sondern: „<strong>die</strong>Frucht“; er will damit ausdrücken, daß dabei<strong>die</strong>jenigen einen Gewinn haben, welche siegeben.„D<strong>an</strong>n werde ich auf dem Wege über euch nachSp<strong>an</strong>ien reisen.“Wieder erwähnt er Sp<strong>an</strong>ien und will damitseine Bereitwilligkeit und seine brennende481 1 Kor. 7, 17 .482 Ebd. 4, 17 .483 Kol. 1, 6.309484 Joh. 4, 22.


Sehnsucht nach den Christen jenes L<strong>an</strong><strong>des</strong><strong>zum</strong> Ausdruck bringen.V. 29: „Ich weiß aber, daß ich, wenn ich überhauptzu euch komme, in der Fülle <strong>des</strong> Segens <strong>des</strong>Ev<strong>an</strong>geliums Christi kommen werde.“— Was heißt in der Fülle <strong>des</strong> Segens“? Entwedermeint der Apostel damit (gesammeltes)Geld oder einfach alle guten Werke. „Segen“pflegt er nämlich öfter das Almosen zunennen, so z. B. wenn er sagt: „so wie einSegen und nicht wie eine dem Geiz abgerungeneGabe“ 485 . So pflegte m<strong>an</strong> von alters herdas Almosen zu nennen. Weil der Apostelaber hier hinzusetzt: „<strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums“,darum meinen wir, daß er das Wort „Segen“nicht bloß für Geld gebraucht, sondern fürheilvolle Dinge überhaupt. Er will etwa sagen:„Ich weiß, daß ich bei meinem Kommenbei euch alles in bestem Zust<strong>an</strong>de, das Gutein voller Blüte treffen werde und euch selbstbetreffs <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums tausendfachen Lobeswürdig. Bewundernswert ist auch <strong>die</strong>Form, in <strong>die</strong> er da den Rat, sich so zu halten,kleidet; er spendet ihnen im voraus das Lobdafür. Wenn der Apostel es nicht für <strong>an</strong>gezeigthält, <strong>die</strong> Form der Ermahnung <strong>an</strong>zuwenden,kommt er auf <strong>die</strong>se Form der Zurechtweisung. V. 30 und 31: „Ichbitte euch aber bei unserem Herrn Jesus Christusund der Liebe <strong>des</strong> (Hl.) Geistes …“2.Wieder nennt der Apostel <strong>an</strong> <strong>die</strong>ser StelleChristus und den Hl. Geist ausdrücklich undtut <strong>des</strong> Vaters gar keine Erwähnung. Daraufmache ich aufmerksam, damit du nicht etwameinst, wenn du fin<strong>des</strong>t, daß der Apostel <strong>des</strong>Vaters und <strong>des</strong> Sohnes Erwähnung tut oder<strong>des</strong> Vaters allein, daß der Sohn oder der Hl.Geist d<strong>ad</strong>urch ausgesc<strong>hl</strong>ossen sei. — Fernersagt er nicht: „bei dem Hl. Geiste“, sondern:485 2 Kor. 9, 5.310„bei der Liebe <strong>des</strong> Hl. Geistes“; denn wieChristus <strong>die</strong> Welt geliebt hat und der Vater,so auch der Hl. Geist. — Doch, sag’ <strong>an</strong>, <strong>Paulus</strong>,was ist es, worum du bittest?„Mitzuringen im Gebete zu Gott für mich, daßich den Widersachern im Judenl<strong>an</strong>de entgehe.“— Ein schwerer Kampf st<strong>an</strong>d ihm bevor;darum ruft er <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> <strong>zum</strong> Gebete für sichauf. Er sagt nicht: „damit ich mit ihnen imKampf bestehe“, sondern: „damit ich ihnenentgehe“. Beten heißt uns ja auch Christus,damit wir nicht in Versuchung fallen. DerApostel deutet mit seinen Worten auf gewissesc<strong>hl</strong>imme Wölfe hin, <strong>die</strong> ihm damals nachstellten,wilden Tieren ähnlicher als Menschen.Er bezweckt aber auch noch etwas<strong>an</strong>deres damit. Er will zeigen, daß er es mitRecht auf sich genommen hat, den Heiligen(in Jerusalem) den Dienst zu erweisen, wenn<strong>die</strong> Za<strong>hl</strong> der Widersacher so groß ist, daß erselbst darum beten muß, ihnen zu entgehen.Jene Christen müßten ja inmitten so vielerFeinde Hungers sterben; darum bedürfen sieder Hilfe von <strong>an</strong>derer Seite.„Daß mein Liebes<strong>die</strong>nst von den Heiligen in Jerusalemrecht wo<strong>hl</strong> aufgenommen werde“,d. h. daß mein Opfer ihnen willkommenwerde, daß sie das ihnen Geschenkte erhobenenHauptes <strong>an</strong>nehmen möchten. Siehst dudaraus, wie hoch seine Achtung vor denEmpfängern ist, wenn er <strong>des</strong> Gebetes einer so<strong>an</strong>gesehenen Gemeinde zu bedürfen glaubt,damit seine Gaben <strong>an</strong>genommen werden?Auch etwas <strong>an</strong>deres ist daraus ersichtlich,nämlich daß bei einem Almosen das Geben allein nicht hinreicht, um guteAufnahme zu finden. Denn wenn jem<strong>an</strong>dnur notgedrungen gibt, wenn er von ungerechtErworbenem oder wenn er ausRuhmsucht gibt, so geht dem Almosen <strong>die</strong>Frucht ab.V. 32: „Damit ich in Freude zu euch komme nachdem Ratsc<strong>hl</strong>usse Gottes.“Ähnlich hat er auch am Anf<strong>an</strong>g <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>sgesagt: „ob ich etwa einmal Gelegenheit habenmöchte, nach dem Ratsc<strong>hl</strong>usse Gottes zu


euch zu kommen“. Hier kommt er auf denselbenRatsc<strong>hl</strong>uß (Gottes) zurück und spricht:Darum liegt es mir so sehr am Herzen undbete ich darum, den Feinden zu entkommen,damit ich euch recht bald sehe, und zwar mitFreuden sehe, ohne daß <strong>die</strong>se Freude durchböse Erinnerungen <strong>an</strong> dort getrübt sei.„Und damit ich mich bei euch ausruhe.“— Beachte da, wie der Apostel sich wiederfrei von jeglichem Stolze zeigt. Er sagt nicht:„damit ich euch Unterricht, damit ich euchUnterweisungen erteile“, sondern: „damit ichmich bei euch ausruhe“. War er ja doch inbeständigem Kampf und Streit begriffen; warumsagt er also: „ich will bei euch ausruhen“?Er will ihnen damit etwas Angenehmessagen und ihren Mut heben, indem er sie<strong>an</strong> seinen Siegen teilnehmen läßt und ihnenauch Kämpfe und Mühen in Aussicht stellt.D<strong>an</strong>n läßt er gewohnterweise einen Segensspruchder Ermahnung folgen, indem erspricht:V. 33: „Der Gott <strong>des</strong> Friedens sei mit euch allen.Amen.“Kap. XVI V. 1: „Ich empfe<strong>hl</strong>e euch <strong>die</strong>Schwester Phoebe, derzeit Diakonin der Kirchein Kenchreä.“— Sieh, mit wie auszeichnenden Worten derApostel <strong>die</strong>se Frau ehrt! Er tut ihrer Erwähnungvor allen <strong>an</strong>dern und nennt sie„Schwester“. Nichts Geringes ist es, Schwester<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> gen<strong>an</strong>nt zu werden. Er setztauch ihre Würde hinzu, indem er sie „Diakonin“nennt.V. 2: „Daß ihr sie aufnehmet im Herrn, wie esHeiligen gehört“, d. h. um <strong>des</strong> Herrnwillen, daß sie von euch Achtung erfahre.“Denn wer einen um <strong>des</strong> Herrn willen aufnimmt,der nimmt ihn mit fürsorglicherGastlichkeit auf, wenn er in dem Gast auchnicht ger<strong>ad</strong>e einen bedeutenden M<strong>an</strong>n aufnimmt.Ist der Aufgenommene aber gar einHeiliger, d<strong>an</strong>n stelle dir vor, welche Verehrunger genießen soll! Darum fügt der Apostelbei: „Wie es Heiligen gehört“, wie m<strong>an</strong>solche aufnehmen soll. Einen zweifachen311Grund, von euch mit Verehrung beh<strong>an</strong>deltzu werden, hat <strong>die</strong>se Frau: daß sie um <strong>des</strong>Herrn willen aufgenommen wird, und daßsie eine Heilige ist.„Und steht ihr bei, wo sie eurer bedarf!“— Siehst du, wie wenig er lästig fallen will?Er sagt nicht, daß ihr sie g<strong>an</strong>z aushalten sollt,sondern daß ihr sie unterstützt, so viel in eurenKräften steht, und ihr <strong>die</strong> H<strong>an</strong>d reicht,und: „wo sie eurer bedarf“; also nicht in allem,sondern nur da, wo sie euch in Anspruchnimmt; sie wird euch aber nur in solchenDingen in Anspruch nehmen, in denenihr imst<strong>an</strong>de seid, zu helfen. D<strong>an</strong>n folgt wiederein ausnehmend großes Lob:„Denn sie ist selbst vielen eine Stütze gewesenund auch mir.“Siehst du da <strong>die</strong> Klugheit <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>? Zuerstkommt Lob, d<strong>an</strong>n in der Mitte eine Ermahnung(der Frau behilflich zu sein) und d<strong>an</strong>nwieder Lob. So umgibt <strong>Paulus</strong> von allen Seitenseine Bitte um Hilfe mit Lobsprüchen auf<strong>die</strong>se glückselige Frau. Wie sollte sie nichtglückselig sein, sie, <strong>die</strong> von <strong>Paulus</strong> ein solchesZeugnis ausgestellt erhält und <strong>die</strong> demVölkerlehrer selbst einen Dienst erweisendurfte! Das war der Gipfel ihrer Auszeichnung.Darum kommt <strong>zum</strong> Sc<strong>hl</strong>uß: „und auchmir“. Was heißt das: „und auch mir“? Mir,dem Weltprediger, der so viel gelitten hat,der vielen Tausenden seine Kräfte gewidmethat. Ahmt darum, ihr Männer und Frauen,<strong>die</strong>ses heilige Weib nach und auch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere,<strong>die</strong> gleich nach ihr kommt, zugleich mitihrem M<strong>an</strong>ne! Nun, wer sind denn <strong>die</strong>se beiden?V. 3: „Grüßt <strong>die</strong> Priscilla und den Aquila, meineMitarbeiter in Christus Jesus.“ DieTugend <strong>die</strong>ser beiden bezeugt auch Lukas,und zwar einmal, wenn er sagt: „Bei ihnenblieb <strong>Paulus</strong>; sie waren nämlich ihres H<strong>an</strong>dwerkesZeltmacher“ 486 und d<strong>an</strong>n, wenn ererzä<strong>hl</strong>t, daß <strong>die</strong>ses Weib den Apollo aufge-486 Apg. 18, 3.


nommen und ihn den Weg <strong>des</strong> Herrn gelehrthabe 487 .3.Das sind ja auch recht <strong>an</strong>sehnliche Leistungen;viel größer aber ist das, was <strong>Paulus</strong> vonihnen berichtet. Was sagt er: Erstlich nennt ersie „Mitarbeiter“ und deutet d<strong>ad</strong>urch <strong>an</strong>, daßsie <strong>an</strong> seinen unaussprec<strong>hl</strong>ichen Mühen undGefahren teilgenommen haben. D<strong>an</strong>n sagt er:V. 4: „Weil sie für mein Leben ihren Hals eingesetzthaben.“— Siehst du da <strong>die</strong> fertigen Märtyrer? Es istja auch naheliegend, daß unter Nero tausendGefahren <strong>die</strong> Christen umlauerten, da erauch den Befe<strong>hl</strong> gegeben hatte, daß alle Judenaus Rom fort müßten.„Denen d<strong>an</strong>ke nicht allein ich, sondern auch alleheidenchristlichen Gemeinden.“Hier deutet der Apostel ihre Gastfreundlichkeitund ihre Hilfeleistung durch Geld <strong>an</strong>; erbewundert sie, daß sie ihr Blut vergossenund ihr g<strong>an</strong>zes Vermögen der Gemeinde zurVerfügung gestellt hatten. Siehst du dahochgemute Frauen, <strong>die</strong> sich durch <strong>die</strong>Schwäche ihrer Natur nicht aufhalten ließenauf der Bahn der Tugend? Und das ist echtchristliche Art; „denn in Christus Jesus gibtes nicht M<strong>an</strong>n und nicht Frau“ 488 . Dasselbe,was <strong>Paulus</strong> von der erstgen<strong>an</strong>nten Frau gesagthat, das sagt er auch von <strong>die</strong>ser; von jenerhieß es: „Sie ist vielen eine Stütze gewesenund auch mir“; von <strong>die</strong>ser heißt es:„Nicht allein ich d<strong>an</strong>ke ihr, sondern auch alleheidenchristlichen Gemeinden.“ Damit seineWorte nicht als bloße Schmeichelei erscheinen,führt er noch viel mehr Zeugen für <strong>die</strong>seFrauen <strong>an</strong>: V. 5: „Und ihre kirc<strong>hl</strong>icheHausgemeinde.“Sie war nämlich so bewährt (im Glauben),daß sie ihr Haus zu einer kirc<strong>hl</strong>ichen Ge-meinde machte teils d<strong>ad</strong>urch, daß sie alle zuGläubigen machte, teils d<strong>ad</strong>urch, daß sie esallen Fremden öffnete. Nicht leicht pflegt derApostel Privathäuser kirc<strong>hl</strong>iche Gemeindenzu nennen; nur d<strong>an</strong>n, wenn große Frömmigkeitund große Gottesfurcht darin Wurzelgesc<strong>hl</strong>agen hat. Darum sagt er auch im <strong>Briefe</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> Korinther: „Grüßt den Aquila und <strong>die</strong>Priscilla mitsamt ihrer Hausgemeinde!“ 489Und betreffs <strong>des</strong> Onesimus schreibt er: „<strong>Paulus</strong><strong>an</strong> Philemon und Apphia, <strong>die</strong> geliebteSchwester, und deine Hausgemeinde“ 490 . Esist ja auch im verheirateten St<strong>an</strong>de möglich,Bewunderung zu ver<strong>die</strong>nen und Edelmut zuhaben. Sieh, auch Aquila und Priscilla warenverheiratet und leuchteten doch gewaltighervor, obzwar ihr Beruf nicht ger<strong>ad</strong>e einglänzender war; sie waren nämlich Zeltmacher.Aber ihre Tugend verdeckte alles undmachte sie glänzender als <strong>die</strong> Sonne. Wederihr H<strong>an</strong>dwerk noch das Joch der Ehe warihnen <strong>zum</strong> Sch<strong>ad</strong>en; sie legten eben jene Liebe<strong>an</strong> den Tag, welche Christus gefordert hat.„Eine größere Liebe“, sagt er, „hat niem<strong>an</strong>dals der, welcher sein Leben einsetzt für seineFreunde“ 491 . Auch was das Zeichen einesJüngers (Christi) ist, das übten sie: sie nahmenihr Kreuz auf sich und folgten ihm nach.Denn wenn sie für <strong>Paulus</strong> <strong>die</strong>s taten, so würdensie <strong>die</strong>selbe M<strong>an</strong>nhaftigkeit noch vieleher für Christus <strong>an</strong> den Tag gelegt haben.Hört das, ihr Armen und ihr Reichen! WennLeute, <strong>die</strong> von ihrer Hände Arbeit lebten undeiner Werkstätte vorst<strong>an</strong>den, eine solcheFreigebigkeit <strong>an</strong> den Tag legen, daß sie vielenkirc<strong>hl</strong>ichen Gemeinden nützlich wurden, wiesollen reiche Leute Verzeihung erl<strong>an</strong>gen, <strong>die</strong>Arme über <strong>die</strong> Achsel <strong>an</strong>sehen? Jene achtetennicht einmal ihres Lebens, um Gott zu gefallen,du aber schaust auf ein paar Heller undschaust dabei oft auf deine Seele nicht? Oderhat sich jenes Ehepaar nur gegen den Völkerlehrer so benommen, nicht aber487 Ebd. 14, 26 .488 Gal. 3, 28.312489 1 Kor. 16, 9. 1490 Phil. 1, 1.491 Joh. 15, 13.


gegen seine Schüler? Nein, das läßt sich nichtbehaupten. Heißt es ja doch, daß auch „<strong>die</strong>heidenchristlichen Gemeinden“ ihnen d<strong>an</strong>ken.Obzwar von Hause aus Juden, hatten sieden christlichen Glauben doch so aufrichtig<strong>an</strong>genommen, daß sie mit aller Bereitwilligkeitauch den Heiden Dienste leisteten.So sollen <strong>die</strong> Frauen sein. „Nicht in künstlichgekräuselten Haaren oder in Goldschmuckoder Prunkkleidern“ 492 , sondern in solchenguten Werken sollen sie ihren Ruhm suchen.Sag’ <strong>an</strong>, welche Königin hat solchen Gl<strong>an</strong>zerl<strong>an</strong>gt, welche wird so besungen wie <strong>die</strong>seFrau <strong>des</strong> Zeltmachers? Sie ist in aller Mund,nicht zehn oder zw<strong>an</strong>zig Jahre l<strong>an</strong>g, sondernbis zur Wiederkunft Christi. Alle preisen sieauf Grund <strong>die</strong>ser paar Worte <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>, <strong>die</strong>sie mehr zieren als ein königliches Di<strong>ad</strong>em.Denn was gibt es Größeres, was kommt demgleich, dem <strong>Paulus</strong> eine Stütze gewesen zusein, den Lehrer <strong>des</strong> Erdkreises mit eigenerGefahr gerettet zu haben? Bedenke, wie vieleKöniginnen werden mit Schweigen überg<strong>an</strong>gen,<strong>die</strong>se Zeltmachersfrau dagegen wird mitihrem M<strong>an</strong>ne allenthalben gepriesen, und soweit <strong>die</strong> Sonne <strong>die</strong> Erde bescheint, reicht ihrRuhm. Perser und Skythen und Thraker und<strong>die</strong> <strong>an</strong> den Enden <strong>des</strong> Erdkreises wohnen,besingen <strong>die</strong>ses Weib und preisen es selig.Was für Geld, was für Geschmeide, was fürPurpurgewänder sollte m<strong>an</strong> nicht gerne hingebendafür, ein solches Zeugnis zu bekommen!M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n auch nicht einwenden, daßsie nur in Gefahren sich so benahmen undfreigebig im Geldausgeben waren, um <strong>die</strong>Verkündigung <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums aber sichnicht kümmerten; der Apostel nennt sie jaseine Helfer und Mitarbeiter. Er findet esauch nicht unter seiner Würde, ein Weib seine„Mitarbeiterin“ zu nennen, er, das Gefäßder Auserwä<strong>hl</strong>ung, sondern er rühmt sich<strong>des</strong>sen sogar. Nicht auf das Gesc<strong>hl</strong>echtkommt es ihm <strong>an</strong>, sondern dem guten Willenreicht er <strong>die</strong> Krone. Was kommt solchem492 1 Tim. 2, 9.313Schmucke gleich? Wo bleibt da der Reichtum,der euch allenthalben umgibt? Wo dasschön ge- schminkte Gesicht? Woder eitle Ruhm? Lerne da den echtenSchmuck <strong>des</strong> Weibes kennen, der nicht amLeibe hängt, sondern <strong>die</strong> Seele ziert, der niemalsabgelegt wird, der nicht im Kasten liegt,sondern im Himmel hinterlegt ist!4.Betrachte <strong>die</strong> Bemühung <strong>die</strong>ses Ehepaaresum <strong>die</strong> Verkündigung <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliums, seineMärtyrerkrone, seine Freigebigkeit inGeldsachen, seine Liebe zu <strong>Paulus</strong>, seineHingabe für Christus! Vergleiche damit deinTun und Treiben: deine Geldgier, deinenZ<strong>an</strong>k um feile Weiber, dein Streiten um Kleinigkeiten;und d<strong>an</strong>n wirst du sehen, wer jenewaren, und wer du bist. Oder besser, vergleichedich nicht nur mit jener Frau, sondernahme sie nach! Leg’ ab <strong>die</strong> Bündel unnützenZeugs — denn das ist <strong>die</strong> Kleiderpracht —,leg’ <strong>an</strong> den himmlischen Schmuck und lerne,wodurch Priscilla und <strong>die</strong> Ihrigen zu solcherHeiligkeit gel<strong>an</strong>gt sind! Wodurch sind siedazu gel<strong>an</strong>gt? Zwei Jahre beherbergten sieden <strong>Paulus</strong>. Was mochten zwei solche Jahrenicht für eine Wirkung auf ihre Seele gehabthaben! — Ja, aber was soll aus mir werden,fragst du, da ich keinen <strong>Paulus</strong> habe? —Wenn du willst, so k<strong>an</strong>nst du ihn noch vollkommenerhaben als jene. Auch sie hat nichtder Anblick <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> zu dem gemacht, wassie waren, sondern seine Worte. Nun k<strong>an</strong>nstaber du, wenn du willst, den <strong>Paulus</strong> und denPetrus und den Joh<strong>an</strong>nes und den g<strong>an</strong>zenReigen der Propheten samt den Apostelnbeständig in deiner Gesellschaft haben.Nimm nur <strong>die</strong> Bücher <strong>die</strong>ser heiligen Männerzur H<strong>an</strong>d und vertief dich häufig in ihreSchriften, und sie werden aus dir etwas Ähnlichesmachen wie aus jener Zeltmachersfrau.Doch was sag’ ich, den <strong>Paulus</strong>? Wenn du


314willst, k<strong>an</strong>nst du ja sogar den Herrn <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>um dich haben; denn durch den Mund<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> spricht auch er mit dir.Auch auf eine <strong>an</strong>dere Weise k<strong>an</strong>nst du Christusbei dir aufnehmen, wenn du nämlich <strong>die</strong>Heiligen aufnimmst, wenn du denen zuDiensten bist, <strong>die</strong> <strong>an</strong> ihn glauben. Wenn sieauch längst wieder fort sind, wirst du nochviele fromme Erinnerungen <strong>an</strong> sie haben.Denn der Tisch, <strong>an</strong> welchem der Heilige gespeist,der Stu<strong>hl</strong>, auf dem er gesessen,das Ruhebett, auf dem er gelegen, pflegtden Gastgeber noch fromm <strong>an</strong>zuregen, wennder Gast auch fortgeg<strong>an</strong>gen ist. Welch frommeAnregungen, meinst du wo<strong>hl</strong>, mag jeneSunamiterin nicht empf<strong>an</strong>gen haben, wennsie das obere Gemach betrat, worin Elisäusgeweilt hatte, wenn sie den Tisch sah unddas Ruhebett, auf welchem jener Heilige gelegenwar? Welch fromme Empfindungenmag sie nicht daraus geschöpft haben! Dennwenn dem nicht so gewesen wäre, so hättesie nicht ihren toten Knaben darauf gelegt,wenn sie nicht selbst den Segen verspürt hätte,der von <strong>die</strong>sen Gegenständen ausging.Denn wenn wir uns gehoben fü<strong>hl</strong>en, sobaldwir nach so l<strong>an</strong>ger Zeit einen Ort betreten,wo <strong>Paulus</strong> geweilt, wo er in Ketten gelegen,wo er gesessen ist und gelehrt hat, und wennuns <strong>die</strong> Örtlichkeiten das Andenken <strong>an</strong> ihnselbst ins Gedächtnis zurückrufen: welchfromme Anregungen mögen jene Gastgeberdamals empfunden haben, als <strong>die</strong> Erinnerung<strong>an</strong> <strong>die</strong>se Dinge noch frisch war?Da wir <strong>die</strong>s wissen, so laßt uns <strong>die</strong> Heiligenaufnehmen, damit unser Haus in hellemGl<strong>an</strong>z erstra<strong>hl</strong>e, damit es frei werde vonDornen, damit <strong>die</strong> Hütte <strong>zum</strong> Hafen werde!Laßt uns sie aufnehmen und ihnen <strong>die</strong> Füßewaschen! Du bist gewiß nicht besser als Sara,auch nicht vornehmer und nicht vermögender,selbst wenn du eine Königin wärest.Hatte sie doch dreihundertachtzehn Sklavenzu einer Zeit, wo es schon für ein Zeichenvon Reichtum galt, nur zwei Dienstleute zuhaben! Doch was rede ich von ihren dreihundertachtzehnSklaven? Den g<strong>an</strong>zen Erdkreisbesaß sie gewissermaßen in ihrer Nachkommenschaftund in den Verheißungen, <strong>die</strong>ihr zuteil geworden waren. Den Freund Gotteshatte sie <strong>zum</strong> M<strong>an</strong>n, Gott selbst <strong>zum</strong> Beschützer,sie war mehr als jede Königin. Aberobgleich sie in solchem Gl<strong>an</strong>ze und solcherEhre lebte, wirkte sie doch eigenhändig denKuchenteig aus, leistete den Gästen alle <strong>an</strong>dernDienste und st<strong>an</strong>d als Be<strong>die</strong>nerin <strong>an</strong>ihrer Seite, als sie speisten. Du bist nicht vornehmerals Abraham; und doch leistete <strong>die</strong>ser<strong>die</strong> H<strong>an</strong>dreichungen eines Dieners, unddas nach seinen glänzenden Siegen, nach seinerEhrung durch den König von Ägypten,nach der Ver- treibung der persischenKönige, nach der Errichtung einesherrlichen Siegesdenkmals. Schau nicht darauf,daß <strong>die</strong> Heiligen, <strong>die</strong> bei dir einkehren,dem Äußeren nach armselig und unscheinbarsind — sie sind ja allerdings oft in Lumpengehüllte Bettler —, sondern denk <strong>an</strong> jenesHeil<strong>an</strong>dswort: „Was ihr dem Geringstenvon <strong>die</strong>sen tuet, das habt ihr mir get<strong>an</strong>“ 493 ,und: „Verachtet nicht einen von <strong>die</strong>sen Kleinen;denn ihre Engel schauen beständig dasAngesicht meines Vaters, der im Himmelist!“ 494 Nimm sie mit Bereitwilligkeit auf! Siebringen dir mit dem Friedensgruß tausendfältigenSegen ins Haus. Und neben der Sarabetrachte Rebekka, wie sie Wasser schöpfte,(<strong>die</strong> Kamele) tränkte, den Fremden ins Hauseinlud und jede Anw<strong>an</strong>dlung von Stolz unterdrückte.Alle <strong>die</strong> Gen<strong>an</strong>nten ernteten reichen Lohn fürihre Gastfreundschaft. Du aber k<strong>an</strong>nst nochreicheren ernten, wenn du willst. Denn nichtbloß ein Knäblein wird dir Gott als Fruchtderselben schenken, sondern den Himmelund seine Seligkeit, <strong>die</strong> Befreiung von derHölle und <strong>die</strong> Verzeihung deiner Sünden. Ja,groß, gar groß ist <strong>die</strong> Frucht der Gastfreundschaft.Eine solche war es, daß Jothor, nochdazu ein Heide, einen Schwiegersohn bekam,493 Matth. 25, 40 .494 Ebd. 18, 10.


der mit solcher Macht über das Meer gebot.Seine Töchter machten da fürwahr einen gutenF<strong>an</strong>g.Das bedenke (christliche Frau), betrachte denstarken Sinn und <strong>die</strong> wahre Weisheit jenerFrauen, tritt mit Füßen den Stolz <strong>des</strong> gegenwärtigenLebens, verschmähe Kleiderpracht,Goldgeschmeide und Salbenduft! Gib denAbschied eitlem Getändel, lüsternem Gebarenund geziertem G<strong>an</strong>g! Richte deine g<strong>an</strong>zeSorgfalt auf deine Seele und entzünde in deinemHerzen Liebessehnsucht nach demHimmel! Hat dich d<strong>an</strong>n <strong>die</strong>se Liebe einmalgepackt, d<strong>an</strong>n werden dir <strong>die</strong> Augen aufgehenüber den Kot und Schmutz (der sinnlichenLiebe), und du wirst verlachen, was dufrüher bewundert hast; denn es ist nichtmöglich, daß ein Weib, welches den geistigenSchmuck guter Werke trägt, sichnoch nach solchen Lächerlichkeiten sehne.Weise also das alles von dir, was Weltdamen,was Tänzerinnen und Flötenspielerinnen sosehnsüchtig begehren! Dein Gew<strong>an</strong>d seichristliche Weisheit, Gastfreundlichkeit, Unterstützungder Heiligen, Zerknirschung <strong>des</strong>Herzens, beständiges Gebet! Das ist besserals goldgestickte Gewänder, kostbarer alsPerlenschnüre. Solcher Schmuck gibt dir Ansehenvor den Menschen und trägt dir reichenLohn ein bei Gott. Dieser Schmuck gehörtin <strong>die</strong> Kirchen, jener in <strong>die</strong> Theater; <strong>die</strong>serist würdig <strong>des</strong> Himmels, jener paßt fürPferde und Maultiere; jener k<strong>an</strong>n auch Leichen<strong>an</strong>gelegt werden, <strong>die</strong>ser k<strong>an</strong>n nur <strong>an</strong>einer tugendhaften Seele erstra<strong>hl</strong>en, in derChristus wohnt. Diesen Schmuck also wollenwir zu besitzen trachten, damit wir hier aufErden überall gefeiert werden und Christusgefallen, durch den und mit dem Ehre seidem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste bis inalle Ewigkeit. Amen. ZWEIUNDDREISSIGSTEKap. XVI, V. 5—16.HOMILIE.1.Kap. XVI, V. 5—16.V. 5: „Grüßt meinen geliebten Epänetus, welcherder erste Achaias für Christus ist.“Ich glaube, daß viele auch scheinbar rechteifrige Schriftleser <strong>die</strong>ses Kapitel <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>sals überflüssig und inhaltslos übersc<strong>hl</strong>agen.Ich meine, es geht ihnen damit ebenso wiemit dem Gesc<strong>hl</strong>echtsregister im Ev<strong>an</strong>gelium.Weil es nur ein Verzeichnis von Namen ist,so glauben sie keinen großen Gewinn darausziehen zu können. Die Kinder der Goldarbeitersammeln sorgfältig auch <strong>die</strong> kleinstenGoldstäubchen, <strong>die</strong>se Leute aber gehen <strong>an</strong>g<strong>an</strong>zen Goldmassen achtlos vorbei. Um sievon <strong>die</strong>ser leichtfertigen Auffassung abzubringen,reicht das Gesagte hin. Ich habeeuch in meiner letzten Rede gezeigt, daß sichkein geringer Gewinn aus <strong>die</strong>sem Sc<strong>hl</strong>ußkapitelziehen lasse, indem ich eure Seele durch<strong>die</strong> darin enthaltenen Grüße aufgefrischt habe.Ich will versuchen, auch aus der verlesenenStelle wieder das Gold aus<strong>zum</strong>ünzen. Esist nämlich möglich, auch in bloßen Nameneinen großen Schatz zu finden. Wenn du erfährst,warum Abraham so gen<strong>an</strong>nt wurde,warum Sara, warum Israel, warum Samuel,so k<strong>an</strong>nst du aus den Namen allein <strong>die</strong> Geschichteza<strong>hl</strong>reicher Begebenheiten herauslesen.Dasselbe gilt von den Zeit- und Ortsnamen.Der eifrige Schriftleser gewinnt aus ihnenreichen Ertrag, der nac<strong>hl</strong>ässige ziehtauch aus den deutlichsten Stellen keinenGewinn. So ersc<strong>hl</strong>ießt uns der Name Adamkeine geringe Erkenntnis, ebenso der seinesSohnes, seines Weibes und mehrerer <strong>an</strong>derer.Die Namen sind nämlich Denkmäler m<strong>an</strong>chergeschichtlicher Ereignisse. Sie weisenhin auf eine Wo<strong>hl</strong>tat Gottes und den D<strong>an</strong>kdafür von Seiten der Frauen. Je nach denGn<strong>ad</strong>engeschenken, <strong>die</strong> sie von Gott empf<strong>an</strong>genhatten, legten sie ihren Kindern <strong>die</strong>Namen bei.315


Doch was stellen wir jetzt tiefsinnige Untersuchungen<strong>an</strong> über <strong>die</strong> Namen, wo doch soviele nicht auf <strong>die</strong> Ged<strong>an</strong>ken achten,ja nicht einmal <strong>die</strong> Namen der heiligen Bücherkennen? Doch nein, wir dürfen uns <strong>die</strong>Erklärung der Hl. Schrift nicht leicht machen;heißt es ja: „Du hättest sollen dein Geld auf<strong>die</strong> Tische der Wechsler legen“ 495 . Darumwollen wir das unsrige tun, auch wenn unsniem<strong>an</strong>d dafür D<strong>an</strong>k wüßte, und aufzeigen,daß nichts in der Schrift überflüssig, nichtsumsonst steht. Wenn das Sc<strong>hl</strong>ußkapitel nichtauch seinen Nutzen hätte, so hätte es <strong>Paulus</strong>nicht hergesetzt, und er hätte nicht geschrieben,was er geschrieben hat. Aber da gibt esso unwissende, blöde, <strong>des</strong> Himmels unwerteLeute, <strong>die</strong> nicht bloß Namen, sondern g<strong>an</strong>zeBücher der Hl. Schrift für überflüssig halten,z. B. das Buch Levitikus, das Buch Josua undmehrere <strong>an</strong>dere. So haben m<strong>an</strong>che von <strong>die</strong>senurteilslosen Leuten sogar das g<strong>an</strong>ze AlteTestament beiseite geworfen und, in Fortsetzung<strong>die</strong>ses unheilvollen Verfahrens auchviele Stellen aus dem Neuen Testament gestrichen.Doch auf <strong>die</strong>se wollen wir als aufTrunkene und dem Fleisch Nac<strong>hl</strong>ebendenicht viel Rücksicht nehmen. Wer aber einLiebhaber der christlichen Wahrheit und einFreund geistiger Erbauung ist, der möge siches gesagt sein lassen, daß auch <strong>die</strong> scheinbargeringfügigen Stellen in der Hl. Schrift nichtumsonst und ohne Grund darin stehen, unddaß auch das Alte Testament seinen großenNutzen hat. Es heißt ja: „Das alles warenVorbilder, und es wurde zu unserer Warnunggeschrieben“ 496 ; und zu Timotheusspricht <strong>Paulus</strong>: „Halte dich <strong>an</strong>s Vorlesen, <strong>an</strong>sErmahnen!“ 497 Damit empfie<strong>hl</strong>t er das Lesender Hl. Schrift <strong>des</strong> Alten Testaments einemM<strong>an</strong>ne, der solchen Geist besaß, daß er Teufelaustrieb und Tote auferweckte.Halten wir uns also <strong>an</strong> den vorliegendenText: „Grüßt meinen geliebten Epänetus!“ Es495 Matth. 25, 17.496 1 Kor. 10, 11.497 1 Tim. 4, 13.316ist hier bemerkenswert, wie <strong>Paulus</strong> dem einzelnenin verschiedener Weise Lob erteilt. Esist gewiß kein geringes Lob, sondern einrecht großes und läßt auf viel Tugend sc<strong>hl</strong>ießen,daß <strong>Paulus</strong>, der nicht nach blinderGunst, sondern mit weisem Urteilzu lieben verst<strong>an</strong>d, einen lieb hat. D<strong>an</strong>n folgtein <strong>an</strong>deres Lob: „welcher der erste Achaiasfür Christus ist.“ Das will entweder sagen,daß Epänetus allen <strong>an</strong>dern in der Annahme<strong>des</strong> Glaubens zuvor kam — und das ist auchkein geringes Lob — oder daß er größereFrömmigkeit als alle <strong>an</strong>deren <strong>an</strong> den Tag legte.Doch bricht der Apostel nach dem Satze:„welcher der erste Achaias ist“, nicht ab, damitm<strong>an</strong> nämlich nicht <strong>an</strong> einen weltlichenRuhm denke, sondern setzt hinzu; „fürChristus“. Denn wenn es schon als etwasGroßes erscheint, in Dingen <strong>des</strong> öffentlichenLebens als erster zu glänzen, um wievielmehr in denen <strong>des</strong> geistlichen Lebens? DaEpänetus wahrscheinlich von niederer Herkunftwar, nennt <strong>Paulus</strong> seinen wahren Adelund Vorzug und zeichnet ihn d<strong>ad</strong>urch aus.Er sagt von ihm, daß er nicht nur der erstevon Korinth, sondern von dem g<strong>an</strong>zen Volkesei, gleichsam <strong>die</strong> Tür und der Eing<strong>an</strong>g für<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern. Dafür winkt aber kein geringerLohn; denn ein solcher wird auch Vergeltungfür <strong>die</strong> guten Werke der <strong>an</strong>dern ernten, da erzu denselben d<strong>ad</strong>urch, daß er den Anf<strong>an</strong>ggemacht hat, viel beigetragen hat.V. 6: „Grüßt Maria, <strong>die</strong> sich viel Mähe um euchgemacht hat!“Wie? Wieder wird ein Weib belohnt und gepriesen,wieder werden wir Männer beschämt,oder besser gesagt: wir werden nichtallein beschämt, sondern wir können unsauch geehrt fü<strong>hl</strong>en. Geehrt können wir unsfü<strong>hl</strong>en, daß wir solche Frauen haben; beschämtwerden wir aber d<strong>ad</strong>urch, daß wirMänner weit hinter ihnen zurückbleiben.Aber wenn wir nur einmal erk<strong>an</strong>nt haben,wo sich der Ruhm jener Frauen herschreibt,werden auch wir ihnen bald nachkommen.Wo schreibt sich ihr Ruhm also her? Hört es,


ihr Männer und Frauen! Nicht von Armbändern,nicht von Halsketten, nicht von Kammer<strong>die</strong>nernund Kammerzofen und goldgesticktenGewändern, sondern von Mühen für<strong>die</strong> Verbreitung der Wahrheit. „Denn <strong>die</strong>se“,heißt es, „hat sich viel Mühe um euch gemacht“;nicht allein um sich, nicht um ihreeigene Tugend, was viele Frauen auch jetzttun, indem sie fasten und auf derbloßen Erde sc<strong>hl</strong>afen, sondern auch um <strong>an</strong>dere.Sie hat Apostel- und Ev<strong>an</strong>gelistenarbeitgeleistet. Wie k<strong>an</strong>n also der Apostel sagen:„Zu lehren gestatte ich dem Weibe abernicht“? 498 Damit untersagt er ihr nur, denVorsitz in der Versammlung zu führen undden Sitz auf der Rednerbühne einzunehmen,nicht aber überhaupt mit Worten zu lehren.Wenn dem so wäre, wie könnte er da zu einerFrau, <strong>die</strong> einen ungläubigen M<strong>an</strong>n hat,sagen: „Denn was weißt du, Frau, ob du deinenM<strong>an</strong>n nicht <strong>zum</strong> Heile führen wirst?“ 499Wie hätte er <strong>die</strong> Frau dazu <strong>an</strong>halten können,ihre Kinder zu unterweisen, indem er sagt:„Sie wird aber selig werden durch Kindergebären,wenn <strong>die</strong>se im Glauben und in derLiebe und im Streben nach Heiligkeit, verbundenmit Sittsamkeit, verharren“? 500 Wiehätte Priscilla den Apollo unterweisen können?— Der Apostel will also damit (denFrauen) nicht Privatbelehrung verbieten, <strong>die</strong>ja mit allem Nutzen geschehen k<strong>an</strong>n, sondernnur das Lehren in der öffentlichen Versammlung,das allerdings nur den Predigern zukommt.Ebensowenig hindert er den M<strong>an</strong>n,wenn er im Glauben ziemlich fortgeschrittenund imst<strong>an</strong>de ist, zu lehren, seine Frau zubelehren und auf den rechten Weg zu bringen,damit sie weiser werde. Der Apostelsagt auch nicht: „<strong>die</strong> viel gelehrt hat“, sondern:„<strong>die</strong> sich viel Mühe gemacht hat“. Ergibt damit zu verstehen, daß sie außer derprivaten Unterweisung auch <strong>an</strong>dere Dienste498 1 Tim. 2, 12.499 1 Kor. 7, 16.500 1 Tim. 2, 15.317geleistet hat: Gefahren auf sich genommen,Geld hergegeben, Reisen gemacht.2.Ja, jene damaligen Frauen waren mutiger alsLöwen in der Unterstützung der Apostel beiihren Arbeiten für <strong>die</strong> Verkündigung <strong>des</strong>Ev<strong>an</strong>geliums. Sie unternahmen Reisen mitihnen und <strong>die</strong>nten ihnen in allem <strong>an</strong>dern.Auch Christus folgten ja Frauen, <strong>die</strong> ihm mitihrem Vermögen <strong>die</strong>nten und dem Lehrerauch sonstige Liebes<strong>die</strong>nste leisteten. V. 7: „Grüßt den Andronikus und <strong>die</strong> Junias,meine L<strong>an</strong>dsleute.“Schon darin scheint ein Lob zu liegen; nochmehr aber in dem folgenden. Wie lautet es?„Und meine Mitgef<strong>an</strong>genen.“Das ist wo<strong>hl</strong> der schönste Ruhmeskr<strong>an</strong>z, derhöchste Lobpreis! Wo ist aber <strong>Paulus</strong> einKriegsgef<strong>an</strong>gener gewesen, daß er sagt:„meine Mitgef<strong>an</strong>genen“? Kriegsgef<strong>an</strong>generist er zwar nicht gewesen, aber er hat mehrÜbel der Gef<strong>an</strong>genschaft ausgest<strong>an</strong>den alsKriegsgef<strong>an</strong>gene: er war nicht bloß fern vonHeimat und Haus, sondern er hatte auch beständigzu kämpfen mit Hunger und Todund unzä<strong>hl</strong>igen <strong>an</strong>dern Übeln. Für denKriegsgef<strong>an</strong>genen liegt das Üble seiner Lageallein darin, daß er fern von seinen Angehörigenweilen muß und statt eines Freien oftein Sklave wird. Bei <strong>die</strong>sem heiligen M<strong>an</strong>neaber ist eine g<strong>an</strong>ze Wolke von Dr<strong>an</strong>gsalen zunennen, <strong>die</strong> er auszustehen hatte; er wurdehin und hergetrieben, gegeißelt, in Kettengelegt, gesteinigt, auf dem Meere herumgetriebenund hatte unzä<strong>hl</strong>ige Nachstellungenzu erdulden. Die Kriegsgef<strong>an</strong>genen habenkeinen Feind mehr, wenn sie einmal hinweggeführtsind, im Gegenteil, sie erfreuen sichsogar großer Fürsorge von seiten derer, <strong>die</strong>sie gef<strong>an</strong>gen genommen haben. <strong>Paulus</strong> dagegenbef<strong>an</strong>d sich beständig inmitten vonKämpfen, überall sah er gezückte Speere um


sich starren und scharfe Schwerter; Kampfund Krieg war sein Los. Weil nun <strong>die</strong> Gen<strong>an</strong>ntenwahrscheinlich seine Genossen invielen dergleichen Gefahren gewesen waren,darum nennt er sie seine „Mitgef<strong>an</strong>genen“;so sagt er auch <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle: „Aristarchusmein Mitgef<strong>an</strong>gener“ 501 . — D<strong>an</strong>nfolgt ein weiteres Lob:„Welche unter den Aposteln hervorragend sind.“Es ist schon etwas Großes, ein Apostel zusein; aber erst unter den Aposteln hervorragendzu sein, bedenke, was das für ein Lobist! Hervorragend waren sie durch ihre Tatenund guten Werke. Ach, was muß das für eine erleuchtete Tugend <strong>die</strong>ser Fraugewesen sein, daß sie <strong>des</strong> Titels eines Apostelswürdig erachtet wurde! Aber <strong>Paulus</strong>bleibt dabei noch nicht stehen, sondern fügtnoch ein <strong>an</strong>deres Lob bei:„Die schon vor mir in Christus gewesen sind.“Auch darin liegt ein sehr großes Lob, vorausgewesen und vor <strong>an</strong>dern gekommen zu sein.Betrachte da <strong>die</strong> heilige Seele, wie sie frei warvon Ruhmsucht! Trotz seines hohen Ansehensstellt er doch <strong>an</strong>dere über sich; er verbirgtes nicht, daß er später gekommen warals sie, und schämt sich nicht, <strong>die</strong>s zu bekennen.Was wundert dich das, daß er sich <strong>des</strong>sennicht schämt, da er doch keinen Anst<strong>an</strong>dnimmt, sein früheres Leben <strong>an</strong> <strong>die</strong> große Glockezu hängen, indem er sich selbst „einenGotteslästerer und Verfolger“ nennt. Da erkeinen <strong>an</strong>dern Grund findet, sie (den Andronikusund <strong>die</strong> Junias) über sich zu stellen, sosucht er ihn darin, daß er nach ihnen <strong>zum</strong>Glauben gekommen sei, und findet darineinen Grund, ihnen Lob zu spenden, indemer sagt: „<strong>die</strong> schon vor mir in Christus gewesensind“.V. 8: „Grüßt mir meinen geliebten Amplias!“Auch <strong>die</strong>sem spendet er wieder Lob aufGrund seiner Liebe zu ihm. Die Liebe <strong>des</strong><strong>Paulus</strong> war ja eine solche um Gottes willenund barg darum tausendfältigen gegen insich. Ist es schon etwas Großes, von einemKönige geliebt zu werden, welche Auszeichnungist es erst, <strong>die</strong> Freundschaft eines <strong>Paulus</strong>zu genießen? Denn wenn Amplias nichtgroße Tugend besessen hätte, so hatte er ihmwo<strong>hl</strong> nicht seine Liebe zugew<strong>an</strong>dt. Es warihm eigen, Menschen, <strong>die</strong> in Sünden undLastern dahinlebten, nicht nur nicht seineFreunde zu nennen, sondern sie sogar zuverfluchen, wie wenn er z. B. sagt: „Wenneiner den Herrn Jesus nicht liebt, Anathema!“502 und: „Wenn euch einer ein Ev<strong>an</strong>geliumverkündet, welches abweicht von dem,was ihr (von mir) überkommen habt, der seiim B<strong>an</strong>ne!“ 503 V. 9: „Und Urb<strong>an</strong>,meinen Mitarbeiter im Herrn.“Das ist ein noch größeres Lob als das vorausgehende,denn es begreift jenes in sich.„Und meinen geliebten Stachys.“Auch <strong>die</strong>sem spendet er dasselbe Lob wieden <strong>an</strong>dern.V. 10: „Grüßt den Apelles, den bewährten inChristus!“Diesem Lobe kommt nichts gleich, unt<strong>ad</strong>eligzu sein und in göttlichen Dingen gar keinenAnlaß zu einer Ausstellung zu geben. Wenner sagt: „den bewährten in Christus“, so umfaßter damit jegliche Tugend.Warum gibt wo<strong>hl</strong> <strong>Paulus</strong> keinem der gen<strong>an</strong>ntenden Titel „Herr“? Weil das Lob, daser ihnen spendet, ein größeres ist, als es <strong>die</strong>serTitel enthält. Denn der ist ein bloßesKompliment, <strong>die</strong> <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> dagegen besageneine Tugend. D<strong>ad</strong>urch leistete er ihnennicht in der gewöhnlichen Weise eine Ehrenbezeugung,indem m<strong>an</strong> nämlich tiefer Stehendewie höher Stehende und Hochmögende<strong>an</strong>redet. D<strong>ad</strong>urch, daß er sie <strong>an</strong>redet, undzwar einen nach dem <strong>an</strong>dern und im selben<strong>Briefe</strong>, leistet er allen <strong>die</strong> gleiche Ehrenbezeugung;d<strong>ad</strong>urch aber, daß er jedem ein besonderesLob zollt, stellt er uns <strong>die</strong> besondereTugend eines jeden vor Augen. Auf <strong>die</strong>seWeise weckte er keinen Neid, wie wenn er501 Kol. 4, 10.318502 1 Kor. 16, 22.503 Gal. 1, 8.


dem einen eine Ehrenbezeugung geleistethätte und dem <strong>an</strong>dern nicht; er ließ aber auchkeine Gleichgiltigkeit und keine Verwirrungaufkommen, wie wenn er etwa allen dasgleiche Lob erteilt hätte, obwo<strong>hl</strong> doch allegleiches Lob ver<strong>die</strong>nten. — Sieh, wie er nunwieder auf bewundernswerte Frauen zusprechen kommt, nämlich nach den Worten:V. 11: „Grüßt <strong>die</strong> aus dem Hause <strong>des</strong> Aristobulosund meinen L<strong>an</strong>dsm<strong>an</strong>n Herodion, auch <strong>die</strong> ausder Familie <strong>des</strong> Narzissus!“Das waren wahrscheinlich ihm nicht so nahestehendeLeute wie <strong>die</strong> früher gen<strong>an</strong>nten;darum erwähnt er sie nicht alle dem Namennach und gibt ihnen nur das ihnen zukommendeLob, daß sie Gläubige seien; denn dasheißt: „welche im Herrn sind.“ 3.Und nun kommt der Apostel wieder auf <strong>die</strong>Frauen zu sprechen, indem er sagt:V. 12: „Grüßt <strong>die</strong> Tryphäna und <strong>die</strong> Tryphosa,<strong>die</strong> sich Mühe geben im Herrn!“Von einer <strong>an</strong>dern hat er früher gesagt, daßsie sich Mühe gegeben hat, von <strong>die</strong>sen aber,daß sie sich Mühe geben. Kein geringes Lob,überhaupt tätig zu sein, und nicht allein tätigzu sein, sondern sich Mühe zu geben. — DiePersis nennt er auch „geliebte“ und deutetdamit <strong>an</strong>, daß sie ihm näher stehe als <strong>die</strong>Vorgen<strong>an</strong>nten:„Grüßt mir meine geliebte Persis!“Auch <strong>die</strong>ser gibt der Apostel das Zeugnis,daß sie große Mühen auf sich genommenhabe, indem er sagt:„Welche sich viele Mühe gegeben hat im Herrn.“So versteht es der Apostel, jeden nach Ver<strong>die</strong>nstnamhaft zu machen. Er erhöht denMut seiner Zuhörer, indem er den einen keineihrer guten Seiten abspricht, sondern auchjeden geringsten ihrer Vorzüge laut bek<strong>an</strong>ntmacht, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern aber macht er reger underhöht ihren Eifer durch <strong>die</strong> Lobsprüche, <strong>die</strong>er jenen spendet.319V. 13: „Grüßt den Rufus, den Auserlesenen imHerrn, und seine Mutter, <strong>die</strong> auch meine ist!“Wieder eine Fülle von Gutem, wenn derSohn und <strong>die</strong> Mutter so beschaffen sind,wenn das Haus voll Segen ist und <strong>die</strong> Wurzelder Frucht entspricht! Der Apostel hätte nichtso leichthin gesagt: „seine Mutter, <strong>die</strong> auchmeine ist“, wenn er <strong>die</strong>ser Frau nicht dasZeugnis großer Tugend hätte ausstellen wollen.V. 14: „Grüßt den Asynkritus, P<strong>hl</strong>egon, Hermas,Patrobas, Hermes und <strong>die</strong> Brüder bei ihnen!“Hier mag dir nicht auffallen, daß er <strong>die</strong> Gen<strong>an</strong>ntenohne ein Lob erwähnt, sondern beachtevielmehr, daß er sie, obzwar sie ihmviel weniger nahest<strong>an</strong>den als <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern,doch seines Grußes würdigt! Übrigens liegtja auch kein geringes Lob darin, daß er sieBrüder nennt wie <strong>die</strong> im folgenden Gen<strong>an</strong>nten„Heilige“; denn es heißt: V. 15:„Grüßt den Philologus und <strong>die</strong> Julia, den Nereusund seine Schwester und alle Heiligen bei ihnen!“Das ist <strong>die</strong> höchste Würde und ein Ehrenerweisvon unaussprec<strong>hl</strong>icher Größe. — Damitaber keine Eifersucht daraus entstehe, daß er<strong>die</strong> einen so, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern so grüßt, <strong>die</strong> einenmit Namen nennt, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern nur im allgemeinen<strong>an</strong>führt, den einen größeres, den <strong>an</strong>derngeringeres Lob spendet, gleicht er imfolgenden jeden Unterschied zwischen ihnenaus, indem er sie alle in gleicher Weise durch<strong>die</strong> Versicherung seiner Liebe und den heiligenKuß ehrt. Er sagt:V. 16: „Grüßt ein<strong>an</strong>der mit heiligem Kuß!“Durch <strong>die</strong>sen Friedenskuß b<strong>an</strong>nt er aus ihrerMitte jeden störenden Ged<strong>an</strong>ken und jedeengherzige Regung, damit nicht der Großeden Kleinen von oben herab <strong>an</strong>sehe und derKleine den Großen beneide. Alle Geringschätzungund aller Neid werden geb<strong>an</strong>ntdurch <strong>die</strong>sen Kuß, der alles versöhnt undausgleicht. Darum läßt er allein sie nicht bloßgrüßen, sondern übersendet ihnen auch denGruß von allen Kirchengemeinden:„Es grüßen euch“


— hier nennt er nicht <strong>die</strong>se oder jene besonders,sondern alle zusammen —„<strong>die</strong> Gemeinden Christi.“Siehst du, wie wir auch aus <strong>die</strong>sen Grüßennicht geringen Gewinn gezogen haben? Anwelchen Ged<strong>an</strong>kenschätzen wären wir vorübergeg<strong>an</strong>gen,wenn wir nicht auch <strong>die</strong>senTeil <strong>des</strong> <strong>Briefe</strong>s sorgfältig untersucht hätten,ich meine, so weit dazu meine Kräfte reichten!Fände sich ein weiser Geistesm<strong>an</strong>n, sowürde er noch tiefer hinabsteigen und mehrPerlen erblicken. Weil aber m<strong>an</strong>che fragen,warum der Apostel in <strong>die</strong>sem <strong>Briefe</strong> so vielegrüßt, was er in keinem <strong>an</strong>dern <strong>Briefe</strong> tut, somöchten wir darauf <strong>an</strong>tworten: Das tut er,weil er <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> noch nicht gesehen hatte.Aber, <strong>an</strong>twortet m<strong>an</strong> mir, er k<strong>an</strong>nte ja <strong>die</strong>Kolosser auch nicht und tut <strong>die</strong>s (in dem<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> sie) doch nicht. Nun, <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>waren <strong>an</strong>gesehener als <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern; d<strong>an</strong>nwohnten auch Leute aus <strong>an</strong>dernStädten daselbst, als in der Hauptst<strong>ad</strong>t, <strong>die</strong>mehr Sicherheit bot. Weil sie also da in derFremde lebten und weil sie sich da sicherfü<strong>hl</strong>en sollten, ferner weil Bek<strong>an</strong>nte <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>unter ihnen waren, <strong>die</strong> ihm viele undgroße Dienste geleistet hatten, darum empfie<strong>hl</strong>ter sie aus gutem Grunde. Der Ruhm<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> war nämlich damals schon nichtmehr gering, sondern so groß, daß es schonfür eine große Empfe<strong>hl</strong>ung galt, bloß einSchreiben von ihm bekommen zu haben.M<strong>an</strong> feierte ihn nicht bloß, sondern m<strong>an</strong>fürchtete ihn auch. Wenn dem nicht so gewesenwäre, hätte er nicht gesagt: „Die vieleneine Stütze gewesen ist und auch mir“, undwieder: „Ich habe gewünscht, selbst ein Anathemzu sein“ 504 . Im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> Philemonschreibt er: „Als <strong>Paulus</strong>, Ges<strong>an</strong>dter JesuChristi, jetzt aber auch sein Gef<strong>an</strong>gener“ 505 ,und im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Galater: „Sieh, ich, <strong>Paulus</strong>,sage euch“ 506 , und: „Wie Jesus Christushabt ihr mich aufgenommen“ 507 . Im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong><strong>die</strong> Korinther sagt er: „Es haben m<strong>an</strong>che denMund voll genommen, als käme ich nichtmehr nach Korinth“ 508 , und: „Dies aber habeich auf mich und Apollo übertragen, damitihr <strong>an</strong> uns lernen sollt, euch nicht eine höhereVorstellung (von einem Lehrer) zu machen,als geschrieben steht“ 509 . Aus dem allem istersichtlich, daß alle von ihm eine hohe Meinunghatten. Da er nun wollte, daß <strong>die</strong> <strong>Römer</strong>sich sicher und geehrt fü<strong>hl</strong>en sollten,läßt er jeden von ihnen grüßen und rühmtsie, so viel er k<strong>an</strong>n. (Von den Männern) nennter den einen „seinen Geliebten“, den <strong>an</strong>dern„seinen L<strong>an</strong>dsm<strong>an</strong>n“, einen dritten bei<strong>des</strong>;den „seinen Mitgef<strong>an</strong>genen“, den „seinenMitarbeiter“, den „bewährt“ und den „auserlesen“,(Von den Frauen) nennt er <strong>die</strong> einebei ihrer amtlichen Würde; er nennt sie nichteinfach Dienerin — denn wenn er <strong>die</strong>s gewollthätte, so hätte er auch der Tryphänaund der Persis denselben Namen gegeben —,sondern „Diakonin“; <strong>die</strong> <strong>an</strong>dere „Mitarbeiterinund Gehilfin“, <strong>die</strong> dritte „Mutter“, <strong>die</strong>vierte nennt er wegen der Mühe, <strong>die</strong>sie sich gegeben hat. (Von den Männern)nennt er <strong>die</strong> einen „<strong>zum</strong> Hause gehörig“, <strong>die</strong><strong>an</strong>dern beehrt er mit dem Namen „Brüder“,und wieder <strong>an</strong>dere spricht er als „Heilige“<strong>an</strong>; <strong>die</strong> einen ehrt er durch eine allgemeineBenennung, <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern durch Anführungihres Namens; <strong>die</strong> einen nennt er „<strong>die</strong> ersten“,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern der Zeit nach „ältere“. Mitgrößerer Auszeichnung als alle <strong>an</strong>dern nennter <strong>die</strong> Priscilla und den Aquila. Denn wennsie auch alle Christen waren, so waren siedoch nicht alle gleich, sondern sie waren verschiedenvonein<strong>an</strong>der <strong>an</strong> Ver<strong>die</strong>nsten. Umsie alle zu größerem Eifer <strong>an</strong>zuspornen, vorenthielter keinem sein Lob. Denn m<strong>an</strong>chewerden zu lässig, wenn sie für größere Arbeitnicht größeren Lohn erhalten.504 Röm. 9, 3.505 Phil. 1, 9.506 Gal. 5, 2.507 Gal. 4, 14.320508 1 Kor. 4, 18.509 Ebd. 4, 6.


4.So wird auch im Himmelreich nicht <strong>die</strong> Herrlichkeiteine gleiche sein. Auch unter denJüngern Christi waren nicht alle gleich, sonderndrei stachen unter den <strong>an</strong>dern besondershervor, und auch unter <strong>die</strong>sen dreienselbst wieder war ein großer Unterschied. BeiGott gibt es nämlich eine überaus feine Unterscheidung,<strong>die</strong> bis ins kleinste geht. „EinStern“, heißt es, „ist verschieden von dem<strong>an</strong>dern <strong>an</strong> Klarheit“ 510 . Obzwar alle Apostelwaren, obzwar alle auf den zwölf Thronensitzen sollten, alle das Ihrige verlassen hattenund alle mit Christus umgeg<strong>an</strong>gen waren, sohatte er doch <strong>die</strong>se drei in besonderer Weisesich zu eigen genommen. Und auch von denenwieder, sagte er, würden welche einenbesonderen Vorzug haben. „Das Sitzen <strong>zum</strong>einer Rechten oder Linken“, sagte er, „istnicht meine Sache, zu verleihen, sondern denenes bestimmt ist.“ 511 Den Petrus stellte er<strong>an</strong> <strong>die</strong> Spitze der <strong>an</strong>dern Apostel, indem ersprach: „Liebst du mich mehr als <strong>die</strong>se?“ 512Joh<strong>an</strong>nes wieder wurde von ihm vor den <strong>an</strong>derngeliebt. Es wird eine ungemein genauePrüfung von allem stattfinden. Wenn du deinemNächsten nur um ein Geringes vor bist,wenn es auch nur g<strong>an</strong>z un- merklich ist, so wird es doch Gott nichtaußer acht lassen. Diese Beobachtung k<strong>an</strong>nm<strong>an</strong> schon in früher Vorzeit machen. So warLot ja gerecht, aber nicht so wie Abraham;Ezechias ebenfalls, aber nicht so wie David;und <strong>die</strong> Propheten alle waren es, aber nichtso wie Joh<strong>an</strong>nes.Wo sind nun <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong> bei einer so genauenUnterscheidung von Seiten Gottesnicht zugeben wollen, daß es eine Hölle gibt?Denn wenn schon <strong>die</strong> Gerechten nicht alle<strong>die</strong>selbe Seligkeit genießen werden, wenn sienur um ein g<strong>an</strong>z Geringes von <strong>an</strong>dern überragtwerden — „ein Stern“, heißt es, „ist ver-schieden von dem <strong>an</strong>dern <strong>an</strong> Klarheit“ —,wie können d<strong>an</strong>n <strong>die</strong> Sünder auf derselbenStufe stehen mit den Gerechten? Einen solchenMischmasch würde nicht einmal einMensch zulassen, geschweige denn Gott.Wollt ihr’s aber, so werde ich euch <strong>an</strong> Sündern,und zwar <strong>an</strong> solchen, <strong>die</strong> früher gelebthaben, <strong>die</strong>se genaue Unterscheidung ihrergrößeren oder geringeren Verschuldungnachweisen. Merkt auf! Es hatte Adam gesündigt,es hatte Eva gesündigt. Beide hattenGottes Gebot übertreten, aber ihre Sünde warnicht g<strong>an</strong>z gleich. Darum wurden sie auchnicht g<strong>an</strong>z gleich gestraft. Der Unterschiedwar, wie <strong>Paulus</strong> sagt, daß „Adam sich nichtverleiten ließ, daß aber das Weib bei der Ü-bertretung <strong>die</strong> Verführte war“ 513 . Und dochf<strong>an</strong>d bei beiden eine Verführung statt. Aber<strong>die</strong> genaue Prüfung (der Sünde) durch Gottstellte doch einen solchen Unterschied fest,daß <strong>Paulus</strong> ihn <strong>an</strong>geben konnte. — Weiter:Kain wurde gestraft; Lamech dagegen, dernach ihm ebenfalls einen Mord beg<strong>an</strong>genhatte, erlitt nicht <strong>die</strong>selbe Strafe. Und doch,das war ein Mord und das war ein Mord, jasogar noch ein viel sc<strong>hl</strong>immerer, weil Lamechsich durch das Beispiel <strong>des</strong> Kain nichthatte bessern lassen. Aber weil er seinenBruder nicht getötet hatte nach einer Ermahnung(es nicht zu tun), weil er ferner keinesMahnens, auch keiner Frage seitens Gottesbedurfte, sondern, ohne daß ihm jem<strong>an</strong>d einenVorwurf machte, sich selbst <strong>an</strong>klagteund verdammte, darum erhielt er Verzeihung.Siehst du, mit welcher GenauigkeitGott <strong>die</strong> Taten prüft? Darum strafteer <strong>die</strong> Menschen zur Zeit der Sintflut <strong>an</strong>dersals <strong>die</strong> Bewohner von Sodoma; <strong>die</strong> Israelitenwieder <strong>an</strong>ders als <strong>die</strong> Bewohner von Babylonund <strong>die</strong> Menschen zur Zeit <strong>des</strong> Antiochus. Erzeigt damit, daß er große Rücksicht nimmtauf <strong>die</strong> Verhältnisse, unter denen wir leben.Die einen waren siebzig Jahre in der Sklaverei,<strong>die</strong> <strong>an</strong>dern vierhundert, <strong>die</strong> dritten aßen510 1 Kor. 15, 41.511 Mark. 10, 40 .512 Joh. 21, 15.321513 1 Tim. 2, 14.


ihre eigenen Kinder auf und hatten unzä<strong>hl</strong>ige<strong>an</strong>dere noch sc<strong>hl</strong>immere Dr<strong>an</strong>gsale zu erdulden.Sie werden nicht erlöst davon, so wenigwie <strong>die</strong> Bewohner von Sodoma, <strong>die</strong> lebendigverbr<strong>an</strong>nten. „Erträglicher wird es den Bewohnernvon Sodoma und Gomorrha ergehen“,heißt es, „als jener St<strong>ad</strong>t.“ 514 Wenn sichGott nicht darum kümmerte, ob wir sündigenoder gute Werke verrichten, so hätte ja<strong>die</strong> Rede: „es gibt keine Höllenstrafe“, nochimmerhin einen Sinn. Wenn er aber so daraufsieht, daß wir nicht sündigen, und solcheVorkehrungen trifft, daß wir Gutes tun, d<strong>an</strong>nist es doch klar, daß er <strong>die</strong> Sünder bestraftund <strong>die</strong> Guten belohnt.Beachte, wie unfolgerichtig viele in ihremUrteile sind! Da machen sie Gott Vorwürfe,daß er oft l<strong>an</strong>gmütig ist und vielen Nichtswürdigen,Schwelgern und Gewaltmenschendurch <strong>die</strong> Finger sieht, daß sie nicht gestraftwerden; droht er ihnen aber mit Strafe, soerheben sie darob gegen ihn heftige undschwere Beschuldigungen. Und doch, wennihnen das letztere wirklich leid ist, so solltensie das erstere gutheißen und bewundern.Aber nein. O über <strong>die</strong>se Sinnlosigkeit, <strong>die</strong>setörichte und eselhafte Art zu urteilen! O übereine solche in <strong>die</strong> Sünde verliebte, nach demLaster hinschielende Seele! Denn daraus gehenalle <strong>die</strong>se Lehrsätze hervor. Wollten nur<strong>die</strong>, welche solche Reden führen, einmalErnst machen mit der Tugend, sie würdensich bald überzeugen lassen von dem Daseinder Hölle und würden nicht mehr dar<strong>an</strong>zweifeln.Aber wo, fragst du, <strong>an</strong> welcher Stelle (<strong>des</strong>Weltalls) wird denn <strong>die</strong> Hölle sein? — Waskümmert dich das? Was in Frage steht, ist,daß es eine Hölle gibt, nicht wo und<strong>an</strong> welchem Orte sie sich befindet. M<strong>an</strong>chefabeln allerdings, daß sie im Tale Josaphatsei; sie beziehen dabei aber etwas, was voneinem Krieg aus verg<strong>an</strong>gener Zeit gesagt ist,auf <strong>die</strong> Hölle. Die Hl. Schrift sagt nichts da-von. Du fragst aber doch, <strong>an</strong> welchem Ortesie sein wird? Meiner Meinung nach außerhalb<strong>die</strong>ser gesamten Welt. Denn ger<strong>ad</strong>e so,wie <strong>die</strong> Gefängnisse und Strafbergwerke derKönige in weiter Ferne liegen, so wird auch<strong>die</strong> Hölle irgendwo außerhalb <strong>die</strong>ses Erdkreisesliegen.5.Laßt uns also nicht darnach fragen, wo <strong>die</strong>Hölle ist, sondern wie wir ihr entrinnen können!M<strong>an</strong> darf nicht den Glauben <strong>an</strong> <strong>die</strong> zukünftigenStrafen <strong>des</strong>wegen aufgeben, weilGott im Diesseits nicht alle straft. Er ist jabarmherzig und l<strong>an</strong>gmütig. Er droht <strong>des</strong>halbwo<strong>hl</strong>, aber er führt <strong>die</strong> Drohung nicht sofortaus. „Ich will nicht“, spricht er, „den Tod <strong>des</strong>Sünders.“ 515 Gäbe es keinen „Tod <strong>des</strong> Sünders“,so wäre <strong>die</strong>s umsonst gesagt. Wo<strong>hl</strong>weiß ich, daß euch nichts mehr zuwider ist,als eine Predigt von der Hölle. Mir aber istnichts lieber als das. Daß wir doch beim Mittagessen,beim Aben<strong>des</strong>sen, im B<strong>ad</strong>e undüberall von der Hölle sprächen! Wir würdend<strong>an</strong>n nicht trauern über <strong>die</strong> Bitternisse <strong>des</strong>irdischen Lebens und nicht fro<strong>hl</strong>ocken überseine guten Gaben. Was k<strong>an</strong>nst du mir wo<strong>hl</strong>für ein Ungemach nennen? Armut oderKr<strong>an</strong>kheit oder Gef<strong>an</strong>genschaft oder Körperverstümmelung?Alles das ist <strong>zum</strong> Lachenim Vergleich mit der Strafe im Jenseits. Wenndu mir auch Menschen nennst, <strong>die</strong> von Hungergepeinigt werden, oder solche, <strong>die</strong> in frühesterJugend blind geworden sind und bettelnmüssen, so ist das immer noch Wo<strong>hl</strong>seinim Vergleich mit jenen Übeln.Ja, laßt uns nur beständig von <strong>die</strong>sen Dingenreden; denn <strong>die</strong> Erinnerung <strong>an</strong> <strong>die</strong> Hölle bewahrtvor dem Fall in <strong>die</strong>selbe. Hörst dunicht das Wort <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>: „Mit ewiger Strafewerden sie es büßen, verstoßen vom An-514 Matth. 10, 15.322515 Ezech. 18, 32.


gesichte <strong>des</strong> Herrn“? 516 Hast du nichts davongehört, was Nero für ein Menschgewesen, den <strong>Paulus</strong> „das Geheimnis <strong>des</strong>Antichrist“ nennt? „Das Geheimnis der Bosheit“,heißt es, „ist bereits in Tätigkeit versetzt.“517 Was also? Wird Nero nichts erleiden?Wird der Antichrist nichts erleiden?Nichts der Teufel? So wird also immer derAntichrist sein und auch der Teufel. Dennnicht gestraft, werden sie doch von ihrerBosheit nicht abstehen.Nun ja, sagt m<strong>an</strong>, daß es eine Hölle gibt, ist jajedem klar. Aber nur <strong>die</strong> Ungläubigen werdenihr verfallen. — Weswegen, sag’ mir? —Weil <strong>die</strong> Gläubigen ihren Herrn erk<strong>an</strong>nt haben.— Und was folgt daraus? Wenn ihr Lebensündenbefleckt war, so werden sie nurnoch schwerere Strafen erleiden als <strong>die</strong> Ungläubigen.„Die, welche ohne Gesetz gesündigthaben, werden auch ohne Gesetzzugrunde gehen; und <strong>die</strong>, welche im Gesetzegesündigt haben, werden durch das Gesetzgerichtet werden.“ 518 Und: „Der Sklave, welcherden Willen seines Herrn gewußt undnicht ausgeführt hat, wird viele Streiche bekommen“519 . Wenn m<strong>an</strong> über sein Leben keineRechenschaft abzulegen hat, sondernwenn alles nur so bedeutungslos hingesagtist, so wird auch der Teufel nicht gestraftwerden; denn auch er kennt Gott und vielmehr als viele Menschen. Denn auch alleTeufel kennen ihn, zittern vor ihm und <strong>an</strong>erkennenihn als ihren Richter. Wenn m<strong>an</strong> nunvon seinem Leben und seinen sc<strong>hl</strong>immenTaten keine Rechenschaft abzulegen braucht,so werden auch sie straflos ausgehen.Doch nein, so verhält sich <strong>die</strong> Sache nicht!Täuschet euch nicht, Geliebte! Wenn es keineHölle gibt, wie werden da <strong>die</strong> Apostel <strong>die</strong>zwölf Stämme Israels richten? Wie könnte<strong>Paulus</strong> sagen: „Wisset ihr nicht, daß wir überEngel zu Gerichte sitzen werden, geschweigedenn über Alltagssachen?“ 520 Wie hätteChristus sagen können: „Die Männer werdenaufstehen und über <strong>die</strong>ses Gesc<strong>hl</strong>echt zu Gerichtesitzen“ 521 , und wiederum: „Er- träglicher wird es Sodoma ergehen amTage <strong>des</strong> Gerichtes“? 522 Warum spielst dualso mit Dingen, <strong>die</strong> nicht <strong>zum</strong> Spielen sind?Warum betrügst du dich selbst und täuschestdich? Was kämpfst du <strong>an</strong> gegen <strong>die</strong> MenschenliebeGottes? Denn ger<strong>ad</strong>e darum hatGott <strong>die</strong> Hölle vorbereitet und droht mit ihr,damit wir uns durch <strong>die</strong> Furcht davor bessernlassen und nicht hineinstürzen. Wer alsovon der Hölle nicht geredet wissen will, dertut eigentlich nichts <strong>an</strong>deres, als daß er durch<strong>die</strong>sen Trug <strong>die</strong> Leute in <strong>die</strong> Hölle hineinstößtund hineinwirft. Falle also denen nichtin den Arm, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Tugend arbeiten undbestärke <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong>afenden nicht in ihrer Trägheit!Denn wenn <strong>die</strong> Mehrza<strong>hl</strong> der Menschender Überzeugung wäre, daß es keine Höllegibt, wie würden sie abstehen von der Sünde?Wo träte da <strong>die</strong> Gerechtigkeit zutage, ichwill nicht sagen beim Vergleich von Sündernmit Gerechten, sondern von Sündern mitSündern? Warum wird der eine hieniedengestraft, der <strong>an</strong>dere aber, obzwar er <strong>die</strong>selbenSünden oder noch viel sc<strong>hl</strong>immere hat, nicht?Wenn es keine Hölle gibt, d<strong>an</strong>n k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong>gar keine Antwort geben auf <strong>die</strong>sen Einw<strong>an</strong>d.Darum bitte ich euch, hört auf mit <strong>die</strong>semlächerlichen Gerede und stopft denenden Mund, <strong>die</strong> euch darin widersprechen! Eswird eine g<strong>an</strong>z genaue Prüfung auch der geringfügigstenH<strong>an</strong>dlungen stattfinden, sowo<strong>hl</strong>in bezug auf ihre Sündhaftigkeit alsauch in bezug auf ihre Ver<strong>die</strong>nstlichkeit. Sogarfür lüsterne Blicke werden wir Strafe erleiden,für je<strong>des</strong> Scherz- und Schmähwort,für jede Trunkenheit werden wir Rechenschaftgeben müssen. Andererseits werdenwir auch für <strong>die</strong> guten Taten Lohn empf<strong>an</strong>gen,für jeden Trunk kalten Wassers, für ein516 2 Thess. 1, 9.517 2 Thess. 2, 7 .518 Röm. 2, 12.519 Luk. 12, 47.323520 1 Kor. 6, 3.521 Matth. 12, 41.522 Matth. 11, 24.


gutes Wort, ja sogar für einen bloßen Seufzer.Denn es heißt: „Mache ein Zeichen auf dasAngesicht derer, <strong>die</strong> da seufzen und klagen!“523 Wie wagst du also zu sagen, daßGott, der mit solcher Genauigkeit unsereH<strong>an</strong>dlungen prüft, nur so ohne Ernst mit derHölle droht? Ich ermahne dich: Richte nichtdich selbst und <strong>die</strong>, welche dir glauben, mitsolchen leeren Hoffnungen zugrunde!Wenn du meinen Worten nicht glaubenwillst, so frage <strong>die</strong> Juden, <strong>die</strong> Heiden, <strong>die</strong>Ketzer alle; wie aus einem Munde werden siedir <strong>an</strong>tworten: Es gibt ein Gericht, eine Vergeltung.Oder genügen dir Menschen nicht?D<strong>an</strong>n frage <strong>die</strong> Teufel, und du wirst sie rufenhören: „Warum bist du gekommen, uns vorder Zeit zu quälen?“ 524 Das alles fasse zusammenund bringe deine Seele dazu, nichttörichtes Zeug zu schwätzen, damit du nicht<strong>die</strong> Hölle aus Erfahrung kennen lernst, sondern,zur rechten Einsicht gekommen, imst<strong>an</strong>debist, ihren Peinen zu entgehen undder Güter im Jenseits teilhaftig zu werdendurch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseres HerrnJesus Christus, mit welchem dem Vaterzugleich mit dem Hl. Geiste sei Ruhm, Herrlichkeitund Ehre jetzt und allezeit bis in E-wigkeit. Amen. DREIUNDDREISSIGSTEKap. XVI, V. 17—24.1.HOMILIE.Kap. XVI, V. 17—24.V. 17: „Ich bitte euch aber, Brüder, auf <strong>die</strong>jenigeneuer Augenmerk zu richten, welche Spaltungenund Ärgernisse hervorrufen, der Lehre zuwider,<strong>die</strong> ihr gelernt habt; weicht ihnen aus!“V. 18: „Denn solche Leute <strong>die</strong>nen nicht unseremHerrn Jesus Christus, sondern ihrem Bauche, und523 Ezech. 9, 4.524 Matth. 8, 29.324durch salbungsvolle Reden und schöne Wortetäuschen sie <strong>die</strong> Gemüter der Arglosen.“Wieder eine Ermahnung und nach der Ermahnungein Gebet. Nachdem der Apostel<strong>die</strong> <strong>Römer</strong> ermahnt hat, auf <strong>die</strong>jenigen ihrAugenmerk zu richten, welche Spaltungenhervorrufen, und nicht auf sie zu horchen,fährt er fort: „Der Gott <strong>des</strong> Friedens wird denSat<strong>an</strong> zermalmen unter euren Füßen“, und:„Die Gn<strong>ad</strong>e <strong>des</strong> Herrn sei mit euch!“ Beachteda, in eine wie milde Form der Apostel <strong>die</strong>Ermahnung kleidet, nicht einmal in <strong>die</strong> einesRates, sondern in <strong>die</strong> einer Bitte und mit demAusdruck großer Hochachtung! Er nennt <strong>die</strong>Christen zu Rom „Brüder“ und erscheint vorihnen als Bittender. „Ich bitte euch, Brüder“,sagt er. Hierauf ruft er sie zur Wachsamkeitauf, indem er hinweist auf <strong>die</strong> Arglist derSc<strong>hl</strong>echtgesinnten. Da <strong>die</strong>selben nicht vonselbst erkennbar sind, sagt er: „Ich bitte euch,euer Augenmerk auf sie zu richten“, d. h.eifrig besorgt zu sein, sie kennen zu lernenund ausfindig zu machen. Wen? sag’ <strong>an</strong>.„Diejenigen, welche Spaltungen und Ärgernissehervorrufen der Lehre zuwider, <strong>die</strong> ihrgehört habt.“ Die Uneinigkeit, <strong>die</strong> ist so rechtdas Verderben der Kirche; <strong>die</strong> ist <strong>die</strong> Waffe<strong>des</strong> Teufels, <strong>die</strong> kehrt alles von unterst zuoberst. So l<strong>an</strong>ge <strong>die</strong> Gemeinde einen einigenKörper bildet, vermag er nicht in sie Eing<strong>an</strong>gzu finden; aber von der Spaltung kommt dasÄrgernis. Woher kommt aber <strong>die</strong> Spaltung?Von den Lehren, <strong>die</strong> nicht im Einkl<strong>an</strong>ge stehenmit der Apostellehre.Und <strong>die</strong>se Lehren, woher kommen sie? Vonder Bauch<strong>die</strong>nerei und den <strong>an</strong>dern Leidenschaften.„Denn solche Leute“, heißt es,„<strong>die</strong>nen nicht unserm Herrn, sondern ihremBauch.“ So gäbe es denn kein Ärgernis, esgäbe keine Spaltung, wenn nicht eine Lehreausgedacht worden wäre, <strong>die</strong> der Apostellehrezuwider ist. Auch heißt es nicht: „welchewir gelehrt haben“, sondern: „welche ihrgelernt habt“. Damit macht er ihnen eineVerbeugung, indem er zu erkennen gibt, daßsie <strong>die</strong> Apostellehre im Glauben <strong>an</strong>gehört


und <strong>an</strong>genommen haben. Was sollen wir nunsolchen böswilligen Leuten gegenüber tun?Der Apostel sagt nicht: „Geht sie <strong>an</strong>, laßteuch in einen Kampf mit ihnen ein!“ sondern:„Weicht ihnen aus!“ Wenn sie nämlichaus Unwissenheit und Irrtum so h<strong>an</strong>delten,müßte m<strong>an</strong> sie auf den rechten Weg zu bringentrachten. Weil sie aber freiwillig ihrsündhaftes Wesen treiben, so geht ihnen ausdem Wege! Auch <strong>an</strong> einer <strong>an</strong>dern Stelle sagter dasselbe: „Laßt euch mit keinem Bruderein“, heißt es, „der unordentlich w<strong>an</strong>delt!“ 525Im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> Timotheus spricht er von demGeldgießer und warnt vor ihm, indem ersagt: „Vor dem hüte dich!“ 526Im weiteren deckt er das Gebaren derer auf,<strong>die</strong> sich solcher Dinge erkühnen, und nenntden Grund, aus welchem sie <strong>die</strong> Spaltungersonnen haben. „Denn solche Leute“, heißtes, „<strong>die</strong>nen nicht unserm Herrn Christus,sondern ihrem Bauche.“ Dasselbe sagt er im<strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> <strong>die</strong> Philipper: „Deren Gott derBauch ist“ 527 . Hier scheint er auf Christen ausdem Judentume hinzudeuten, <strong>die</strong> er meistenteilsals Bauch<strong>die</strong>ner zu t<strong>ad</strong>eln pflegt. Dennauch im <strong>Briefe</strong> <strong>an</strong> Titus sagt er von ihnen:„Sc<strong>hl</strong>imme Bestien, faule Bäuche!“ 528 AuchChristus t<strong>ad</strong>elt <strong>die</strong> Juden in demselben Punkte:„Ihr zehrt <strong>die</strong> Häuser der Witwen auf“ 529 .Und <strong>die</strong> Propheten machen ihnen denselbenVorwurf: „Der Liebling (Gottes) wurde fettund feist und sc<strong>hl</strong>ug aus“ 530 . Darum mahntauch Moses: „Wenn du gegessen und getrunkenhast und ge- sättigt bist,denk <strong>an</strong> den Herrn, deinen Gott! 531 <strong>In</strong> denEv<strong>an</strong>gelien sprechen <strong>die</strong> Juden zu Christus:„Welches Zeichen zeigst du uns?“ 532 Sie gehen<strong>an</strong> allen unsern Wundertaten (Gottes)vorüber und erwähnen nur das M<strong>an</strong>na. Soerscheinen sie überall beherrscht von <strong>die</strong>ser525 2 Thess. 3, 6.526 2 Tim. 4, 15.527 Phil. 3, 19.528 Tit. 1, 12.529 Matth. 23, 14 .530 Deut. 32, 15 .531 Deut. 6, 11 .532 Joh. 2, 18.325Leidenschaft. Wie sollte sich also der BruderChristi nicht schämen, Diener <strong>des</strong> Bauches zuLehrern zu haben?Das ist nun der Boden, auf dem der Irrtumgewachsen ist; <strong>die</strong> Art und Weise ihrer listigenMachenschaften ist wieder eine <strong>an</strong>dereKr<strong>an</strong>kheit, <strong>die</strong> Schmeichelei. „Durch salbungsvolleReden“, sagt er, „täuschen sie <strong>die</strong>Gemüter der Arglosen.“ Treffend sagt er:„Durch salbungsvolle Reden“; denn ihreg<strong>an</strong>ze Leistung besteht eben nur in Reden.Ihre Gesinnung stimmt aber nicht damit ü-berein, sondern ist voller Arglist. Der Apostelsagt auch nicht: „Sie täuschen euch“, sondern:„Die Gemüter der Arglosen.“ Nichtgenug dar<strong>an</strong>, fährt er fort, um seine Redemöglichst wenig <strong>an</strong>stößig zu machen:V. 19: „Euer Gehörgeben (der Predigt) ist zurKenntnis aller gekommen.“Das tut er, um sie nicht <strong>an</strong>maßend werden zulassen, sondern er sucht ihre Gunst durchLob zu gewinnen und sie durch <strong>die</strong> Mengeder Zeugen im Rechten zu erhalten. Nicht ichallein bin Zeuge, sondern <strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Welt.Auch sagt der Apostel nicht: „eure Klugheit“,sondern: „euer Gehörgeben“, d. h. eureGlaubenswilligkeit. Damit gibt er ihnen dasZeugnis, daß sie im Rechten sind.„Mich freut das für euch.“Kein geringes Lob! Auf das Lob folgt d<strong>an</strong>nwieder <strong>die</strong> Ermahnung. Um sie nämlich nichtd<strong>ad</strong>urch, daß er sie von T<strong>ad</strong>el freispricht,nach und nach allzu sorglos zu machen, deuteter doch wieder einen Vorwurf leise <strong>an</strong>:„Ich will aber, daß ihr weise seid für das Gute,unzugänglich dagegen für das Böse.“ Siehst du, wie der Apostel ihnen wiedereinen T<strong>ad</strong>el ausspricht und das kaummerklich? Was er <strong>an</strong>deuten will, ist, daß sicheinige von ihnen doch haben verführen lassen.V. 20: „Der Gott <strong>des</strong> Friedens wird in Bälde denSat<strong>an</strong> unter euren Füßen zermalmen.“Weil der Apostel von Leuten gesprochen hat,<strong>die</strong> Spaltungen und Ärgernisse hervorrufen,spricht er nun vom Gott <strong>des</strong> Friedens, damit


<strong>die</strong> <strong>Römer</strong> guten Mutes seien in betreff derBefreiung von ihnen. Denn Er, der seineFreude hat am Frieden, wird <strong>die</strong> Friedensvernichterschon kaltstellen. Er sagt nicht: „erwird sie unterwerfen“, sondern: „er wird siezermalmen“, und nicht allein sie, sondernauch ihren Heerführer, den Sat<strong>an</strong>. Auch wirder sie nicht bloß zermalmen, sondern: „untereuren Füßen“; sie sollen also einen glänzendenSieg über sie erringen. Im weitern folgtein Trostwort, hergenommen von der Zeit; erfährt nämlich fort: „in Bälde“. Das ist ein Gebetund eine Voraussagung zugleich.„Die Gn<strong>ad</strong>e unseres Herrn Jesus Christus sei miteuch.“— Die stärkste Waffe, <strong>die</strong> feste Mauer, derunerschütterliche Turm. Er erinnert <strong>die</strong> <strong>Römer</strong><strong>an</strong> <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, um sie recht frohgemut <strong>zum</strong>achen. Wenn ihr frei geworden seid vonviel sc<strong>hl</strong>immeren Feinden und frei gewordenseid einzig durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, so werdet ihrnoch viel eher frei werden von wenigersc<strong>hl</strong>immen, da ihr ja Freunde Christi gewordenseid und das eurige dazu mitgewirkthabt.2.Siehst du, wie der Apostel weder Gebet ohneeigene Mitwirkung, noch eigene Arbeit ohneGebet haben will? Er bezeugt den <strong>Römer</strong>nihre Geneigtheit, auf das Ev<strong>an</strong>gelium zu horchen,und spricht d<strong>an</strong>n ein Gebet. D<strong>ad</strong>urchzeigt er, daß wir bei<strong>des</strong> notwendig haben,wenn wir wollen gerettet werden: eigene Arbeitund Hilfe von selten Gottes. Nicht bloßfrüher, sondern auch jetzt, auch wenn wirgroß und hochberühmt wären, bedürfen wirder Gn<strong>ad</strong>e von seiten Gottes. V. 21:„Es grüßt euch Timotheus, mein Mitarbeiter“— siehst du da wieder <strong>die</strong> gewohnten ehrendenTitel? —„und Lucius und Jason und Sosipater, meineL<strong>an</strong>dsleute.“326Dieses Jason tut auch Lukas Erwähnung undstellt uns seine m<strong>an</strong>nhafte Unerschrockenheitvor Augen, wenn er von ihm erzä<strong>hl</strong>t, daßm<strong>an</strong> ihn unter Geschrei vor <strong>die</strong> St<strong>ad</strong>tobrigkeitgeführt habe. Auch <strong>die</strong> <strong>an</strong>dern warenjedenfalls Leute von einigem Ruf; denn derApostel hätte sie wo<strong>hl</strong> nicht als seine L<strong>an</strong>dsleuteerwähnt, wenn sie ihm nicht <strong>an</strong> Tugendähnlich gewesen wären.V. 22: „Ich, Tertius, grüße euch, der ich den Briefgeschrieben habe.“Auch das ist kein geringer ehrender Titel,Geheimschreiber <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> zu sein. Er sagt<strong>die</strong>s wo<strong>hl</strong> nicht, um sich d<strong>ad</strong>urch vor ihnenherauszustreichen, sondern um wegen <strong>die</strong>sesDienstes sich <strong>die</strong> besonders warme Zuneigungder <strong>Römer</strong> zu gewinnen.„Es grüßt euch Erastus, der St<strong>ad</strong>tkämmerer, undQuartus, der Bruder.“Siehst du, was für einen Ruhmeskr<strong>an</strong>z <strong>Paulus</strong><strong>die</strong>sem M<strong>an</strong>ne flicht, indem er ihm eineso große Gastfreundschaft bezeugt, daß er<strong>die</strong> g<strong>an</strong>ze Gemeinde in sein Haus zu Gastaufgenommen habe; denn „Gastfreund“nennt er ihn in der Bedeutung von „Herbergsvater“.Wenn du aber hörst, daß er derHerbergsvater <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> gewesen sei, sobewundere nicht bloß <strong>die</strong> Ehre, <strong>die</strong> darinliegt, sondern auch seine sorgfältige Lebensführung.Denn wenn Gaius <strong>die</strong>s nicht seinerTugend wegen ver<strong>die</strong>nt gehabt hätte, wärewo<strong>hl</strong> <strong>Paulus</strong> nicht bei ihm eingekehrt. Er, derin seinem Eifer viele Gebote Christi über ihreneigentlichen <strong>In</strong>halt hinaus zu erfüllensich bestrebte, wird gewiß sein Gebot nichtübertreten haben, das befie<strong>hl</strong>t, sich <strong>die</strong> Herbergsleutegut <strong>an</strong>zuschauen und nur beiwürdigen einzukehren.„Es grüßt euch Erastus, der St<strong>ad</strong>tkämmerer, undQuartus, der Bruder.“ Nicht ohneGrund fügt er bei: „der St<strong>ad</strong>tkämmerer“. Wieer den Philippern geschrieben hatte: „Es grüßeneuch <strong>die</strong> aus dem Hause <strong>des</strong> Kaisers“ 533 ,um zu zeigen, daß <strong>die</strong> Verkündigung <strong>des</strong>533 Phil. 4, 22.


Ev<strong>an</strong>geliums bis in hohe Kreise gedrungenwar, so erwähnt er auch hier <strong>die</strong> Würde, umdasselbe zu beweisen und zu zeigen, daß fürden, der guten Willens ist, weder der Reichtumein Hindernis bildet noch <strong>die</strong> Sorgeneines Amtes noch irgend etwas <strong>an</strong>deres dergleichen.V. 24: „Die Gn<strong>ad</strong>e unseres Herrn Jesus Christussei mit euch! Amen.“Siehst du, wie m<strong>an</strong> <strong>an</strong>f<strong>an</strong>gen und immer endensoll? Der Apostel hat den Grund gelegtzu seinem <strong>Briefe</strong>, und so hat er ihm denDachfirst aufgesetzt, indem er <strong>die</strong> Quelle allesGuten über <strong>die</strong> <strong>Römer</strong> herabflehte undihnen zugleich jegliche Wo<strong>hl</strong>tat Gottes inErinnerung rief. Ger<strong>ad</strong>e das ist einem rechtenLehrer eigen, daß er seinen Schülern nichtallein durch sein Wort, sondern auch durchsein Gebet zu nützen sucht. Darum sagte erauch: „Wir aber werden dem Gebete unddem Dienste <strong>des</strong> Wortes beständig obliegen“534 .Wer wird nun für uns beten, nachdem <strong>Paulus</strong>von hinnen geg<strong>an</strong>gen ist? — Die Nacheiferer<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>. Uns laßt für nichts <strong>an</strong>deressorgen, als daß wir uns einer solchen Fürbittewürdig erweisen, damit wir nicht bloß hienieden<strong>die</strong> Stimme <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> hören, sondernauch, wenn wir einmal von hinnenscheiden, gewürdigt werden, <strong>die</strong>sen KämpenChristi zu schauen. Ja, wenn wir im Diesseitsauf ihn hören, so werden wir ihn im Jenseitsgewiß erschauen. Wenn wir auch nicht ger<strong>ad</strong>enahe bei ihm werden zu stehen kommen,so werden wir ihn doch leuchten sehen g<strong>an</strong>znahe am Throne Gottes, wo <strong>die</strong> CherubimGott lobpreisen und <strong>die</strong> Seraphim ihn aufihren Flügeln umschweben. Dort werden wir<strong>Paulus</strong> erschauen <strong>an</strong> der Seite von Petrus alsHaupt und Chorführer <strong>des</strong> Reigens der Heiligenund werden seine hochherzige Liebeerfahren. Denn wenn er schon hienieden <strong>die</strong> Menschen so sehr geliebt hat, daßer, als ihm <strong>die</strong> Wa<strong>hl</strong> gelassen war, aufgelöst534 Apg. 6, 4.327zu werden und bei Christus zu sein, es vorzog,hier auf Erden zu bleiben, so wird er imJenseits eine noch viel heißere Liebe <strong>an</strong> denTag legen.Darum liebe ich auch <strong>die</strong> St<strong>ad</strong>t Rom so sehr.Obzwar ich <strong>an</strong>dere Gründe hätte, sie zu preisen— ihre Größe, ihr Alter, ihre Schönheiten,ihre große Einwohnerza<strong>hl</strong>, ihre Herrschaftüber Völker, ihren Reichtum, ihre Kriegstaten—, so will ich doch absehen von alledemund preise sie <strong>des</strong>wegen selig, daß <strong>Paulus</strong> zuseinen Lebzeiten den <strong>Römer</strong>n geschrieben,weil er sie so sehr geliebt, persönlich mit ihnenverkehrt und dort sein Leben besc<strong>hl</strong>ossenhat. D<strong>ad</strong>urch ist <strong>die</strong>se St<strong>ad</strong>t berühmterals durch alles <strong>an</strong>dere. Wie ein großer, starkerLeib hat sie zwei leuchtende Augen, <strong>die</strong>Leiber <strong>die</strong>ser zwei Heiligen. Der Himmelleuchtet nicht so, wenn <strong>die</strong> Sonne erstra<strong>hl</strong>t,als wie <strong>die</strong>se St<strong>ad</strong>t mit <strong>die</strong>sen zwei Leuchten,<strong>die</strong> überallhin ihre Stra<strong>hl</strong>en aussenden. Vonhier wird <strong>Paulus</strong>, von hier wird Petrus in denHimmel entrückt werden. Stellt euch vor undstaunet, was für ein Schauspiel Rom erblickenwird, den <strong>Paulus</strong> urplötzlich auferst<strong>an</strong>denaus jenem Grabe neben Petrus undChristus entgegengeführt! Welchen Rosenflorüberreicht Rom Christus, welch herrlichesDoppelkr<strong>an</strong>zgewinde hat <strong>die</strong>se St<strong>ad</strong>tum ihre Stirne gewunden, mit welch prächtigenGoldketten ist sie umsc<strong>hl</strong>ungen, welchreiche Segensquellen besitzt sie! Dessentwegenbewundere ich <strong>die</strong>se St<strong>ad</strong>t, nicht wegenihres strotzenden Gol<strong>des</strong>, nicht wegen ihrerSäulenhallen und ihres sonstigen Prunkes,sondern wegen <strong>die</strong>ser (zwei) Säulen der Kirche.3.Daß es mir doch gegönnt wäre, den Leib <strong>des</strong><strong>Paulus</strong> zu umf<strong>an</strong>gen, einen Kuß auf seinGrabmal zu drücken, den Staub jenes Leibeszu schauen, der das <strong>an</strong> sich ergänzt hat, was


Christi Leiden abging, der <strong>des</strong>sen Wundmale<strong>an</strong> sich trug und den Samen <strong>des</strong> Ev<strong>an</strong>geliumsallenthalben ausstreute! Den Staub jenes Leibes,mit dem <strong>Paulus</strong> überall hineilte, denStaub jenes Mun<strong>des</strong>, durch den Christussprach, aus dem ein Licht erstra<strong>hl</strong>te, hellerals jeder Blitz, und eine Stimme er- tönte, den Dämonen schrecklicher alsjeder Donner — jenes Mun<strong>des</strong>, aus dem jenesselige Wort erscholl: „Ich wünsche, ein Fluchzu sein für meine Brüder“! Mit welchem ervor Königen sprach, ohne sich zu scheuen;durch welchen wir <strong>Paulus</strong> kennen gelernthaben und durch das Mittel <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong> seinenHerrn! Uns schreckt nicht so der Donnerwie jene Stimme <strong>die</strong> Teufel. Wenn sie schonvor seinen Kleidern Schreck hatten, wievielmehr vor seiner Stimme! Diese war es, <strong>die</strong> siegefesselt einherführte, <strong>die</strong> den Erdkreis reinfegte, <strong>die</strong> Kr<strong>an</strong>kheiten verscheuchte, <strong>die</strong>Sünde verb<strong>an</strong>nte, der Wahrheit freie Bahnschaffte, Christus in sich trug und mit ihmüberall hinging. Ja, was <strong>die</strong> Cherubim sind,das war <strong>die</strong> Stimme <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>; denn so wieer auf jenen Mächten thront, so in der Stimme<strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>. Und sie war würdig, ChristiThron zu sein; sie sprach ja nur, was Christuslieb war und erhob sich wie <strong>die</strong> Seraphim zuden geheimnisvollen Höhen (<strong>des</strong> Himmels).Was ist erhabener als jenes Wort, das sie gesprochenhat: „Ich bin sicher, daß weder Engelnoch Herrschaften noch Gewalten, wederGegenwärtiges noch Zukünftiges, wederHöhe noch Tiefe noch irgend <strong>an</strong>deres Erschaffenesuns wird scheiden können vonder Liebe Gottes, <strong>die</strong> ist in Christus Jesus“ 535 .Welche Schwingen, kommt dir nicht vor, hat<strong>die</strong>ses Wort? Welche Augen? Mit Bezug daraufheißt es: „Seine Ged<strong>an</strong>ken sind uns nichtunbek<strong>an</strong>nt“ 536 . Daher flohen <strong>die</strong> Teufel, nichtbloß, wenn sie ihn sprechen hörten, sondernwenn sie auch nur von weitem sein Kleiderblickten. Ja, sehen möchte ich den Staubjenes Mun<strong>des</strong>, durch den Christus so großeund geheimnisvolle Dinge ausgesprochenhat, größere als durch seinen eigenen; denngera<strong>des</strong>o wie er größere Dinge durch seineJünger vollbrachte, so sprach er solche auchdurch sie aus. (Den Staub jenes Mun<strong>des</strong>möchte ich sehen,) durch welchen der Hl.Geist dem Erdkreis jene wunderbaren segensvollenAussprüche zuteil werden ließ.Denn was für Gutes hat nicht jener Mundgewirkt? Er hat <strong>die</strong> Dämonen vertrieben, <strong>die</strong>Lösung der Sünden bewirkt, <strong>die</strong>Gewalthaber verstummen gemacht, den Philosophen<strong>die</strong> Rede versc<strong>hl</strong>agen, <strong>die</strong> Welt zuGott geführt, <strong>die</strong> Barbaren zu Weisen umgeschaffen,alles auf Erden in <strong>die</strong> rechte Ordnunggebracht; ja, auch im Himmel hat ernach seinem Belieben geschaltet, indem erb<strong>an</strong>d, wen er wollte, und dort löste vermögeder ihm verliehenen Gewalt.Aber nicht allein den Staub jenes Mun<strong>des</strong>,sondern auch den jenes Herzens möchte ichsehen, das m<strong>an</strong> mit vollem Recht das Herz<strong>des</strong> Erdkreises nennen könnte, eine Quelleungemessenen Segens, den Beginn und den<strong>In</strong>halt unseres (wahren) Lebens. Denn vondort aus ergoß sich der Geist <strong>des</strong> Lebens überalle und teilte sich den Gliedern Christi mit,nicht vermittelst der Adern, sondern vermittelstguter Willensentsc<strong>hl</strong>üsse. So weit war<strong>die</strong>ses Herz, daß es g<strong>an</strong>ze Städte und Völkerund Nationen umfaßte. „Mein Herz“, sagt erselbst, „hat sich geweitet.“ 537 Und doch hat<strong>die</strong>ses Herz <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> es geweitet, auchgar oft zusammengepreßt und beklemmt.„Ich schrieb euch“, sagt er, „aus großerDr<strong>an</strong>gsal und Beklemmung <strong>des</strong> Herzens.“ 538Dieses (in Staub) aufgelöste Herz verl<strong>an</strong>gt esmich zu sehen, das glühte für einen jeden,der in Gefahr war, zugrunde zu gehen, das<strong>die</strong> totgeborenen Kinder <strong>zum</strong> zweitenmalgebar, das jetzt Gott <strong>an</strong>schaut. „Denn <strong>die</strong> reinenHerzens sind“, heißt es ja, werden Gott<strong>an</strong>schauen.“ 539 Jenes <strong>zum</strong> Opfer gewordene535 Röm. 8, 38.536 2 Kor. 2, 11.328537 2 Kor. 6, 11.538 Ebd. 2, 4.539 Matth. 5, 8.


Herz; denn „ein Opfer vor Gott ist ein zerknirschtesHerz“ 540 . Dieses Herz, erhabenerals der Himmel, weiter als <strong>die</strong> Erde, leuchtenderals der Sonnenstra<strong>hl</strong>, brennender alsFeuer, fester als der Diam<strong>an</strong>t, <strong>die</strong>ses Herz,das Ströme von sich ausgehen ließ; denn„Ströme lebendigen Wassers“, heißt es,„werden sich aus seinem <strong>In</strong>nern ergießen“ 541 .Hier (in <strong>die</strong>sem Herzen) war ein Springquell,der nicht das Angesicht der Erde berieselte,sondern <strong>die</strong> Seelen der Men- schen.Von da nahmen nicht allein Wasserströme,sondern auch Tränenbäche ihren Ausg<strong>an</strong>g,<strong>die</strong> r<strong>an</strong>nen Tag und Nacht. Jenes Herz(möchte ich sehen), das ein neues Leben lebte,nicht so eins wie wir. „Denn“, heißt es,„nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt inmir.“ 542 Also Christi Herz war <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>Herz, es war eine Schreibtafel <strong>des</strong> Hl. Geistes,ein Buch der Gn<strong>ad</strong>e. Dieses Herz, das zittertewegen der Sünden <strong>an</strong>derer. „Ich fürchte“,sagt er ja, „daß ich mich vergeblich für euchabgemüht habe“ 543 , „daß euch <strong>die</strong> Sc<strong>hl</strong><strong>an</strong>geverführt wie <strong>die</strong> Eva“ 544 , „daß ich euch, wennich komme, etwa nicht so finden werde, wieich euch möchte.“ 545 Jenes Herz (möchte ichsehen), das für sich selbst in Furcht und Zuversichtschwebte; „denn“, heißt es, „ichfürchte, daß ich, nachdem ich <strong>an</strong>dern gepredigthabe, selbst verloren gehe“ 546 , und: „ichbin sicher, daß weder Engel noch Erzengelwerden scheiden können“ 547 . Jenes Herz, dasgewürdigt wurde, Christus zu lieben, wie ihnkein <strong>an</strong>deres geliebt hat, das Tod und Höllenicht achtete und bei den Tränen der Brüderzerfloß. „Was tut ihr“, heißt es, „daß ihr weinetund mir das Herz schwer macht?“ 548 Jenesviel duldende Herz, das sich nicht zugute540 Ps. 50, 19.541 Joh. 7, 38.542 Gal. 2, 20.543 Ebd. 4, 11.544 2 Kor. 11, 3.545 Ebd. 12, 20.546 1 Kor. 9, 27.547 Röm. 8, 38.548 Apg. 21, 13.329geben konnte darüber, von den Thessalonikernfern zu sein 549 .4.Ich möchte sehen den Staub jener Hände, <strong>die</strong>mit Ketten gefesselt waren, durch deren Auflegungder Hl. Geist verliehen ward, mit denen<strong>die</strong>se Buchstaben geschrieben wordensind. „Sieh, mit was für Buchstaben ich euchmit meiner H<strong>an</strong>d geschrieben habe“ 550 , undwieder: „Ein Gruß von meiner, <strong>des</strong> <strong>Paulus</strong>,eigener H<strong>an</strong>d“ 551 . Den Staub jener Hände(möchte ich sehen), bei deren Anblick <strong>die</strong>Natter ins Feuer fiel.Ich möchte sehen den Staub jener Augen, <strong>die</strong>zu ihrem Glück geblendet wurden, <strong>die</strong> d<strong>an</strong>nauf das Heil der Welt schauten und gewürdigtwurden, Christus leibhaftig zusehen, <strong>die</strong> irdische Dinge sahen und dochnicht sahen, <strong>die</strong> Unsichtbares schauten, <strong>die</strong>keinen Sc<strong>hl</strong>af k<strong>an</strong>nten, <strong>die</strong> um Mitternachtwach waren, <strong>die</strong> nicht der Augenlust unterlagen.Ich möchte auch sehen den Staub jener Füße,<strong>die</strong> den Erdkreis durc<strong>hl</strong>iefen und nicht müdewurden, <strong>die</strong> im Pflock eingesp<strong>an</strong>nt lagen, alsder Kerker erbebte, <strong>die</strong> bewohnte und unbewohnteGegenden durcheilten, <strong>die</strong> so oft unterwegswaren.Soll ich jedoch alle Glieder einzeln aufzä<strong>hl</strong>en?Ich wünschte das Grab zu sehen, wo <strong>die</strong>Waffen der Gerechtigkeit ruhen, <strong>die</strong> Waffen<strong>des</strong> Lichtes, jene Glieder, <strong>die</strong> jetzt leben, damalsaber, als <strong>Paulus</strong> lebte, gestorben waren,jene Glieder Christi, <strong>die</strong> Christus <strong>an</strong>gezogenhatten, jenen Tempel <strong>des</strong> Hl. Geistes, jenesheilige Gebäude, jene Glieder, <strong>die</strong> gebundenwaren vom Hl. Geiste, durchbohrt von derFurcht Gottes, im Besitze der WundmaleChristi. Dieser heilige Leib umgibt jene St<strong>ad</strong>t549 1 Thess. 3, . 5550 Gal. 6, 11.551 1 Kor. 16, 21.


wie eine Mauer und gewährt ihr größere Sicherheitals jeder Turm und tausend Bollwerke.Und d<strong>an</strong>eben der Leib <strong>des</strong> Petrus!Ehrte ihn <strong>Paulus</strong> ja schon bei Lebzeiten. „Ichbin hinauf geg<strong>an</strong>gen, um <strong>die</strong> Bek<strong>an</strong>ntschaft<strong>des</strong> Petrus zu machen.“ 552 Darum widerfuhrihm <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e, gewürdigt zu werden, nachseinem Hing<strong>an</strong>ge <strong>des</strong> Petrus Genosse zu sein.Ich mochte ihn sehen, <strong>die</strong>sen Löwen demGeiste nach; denn wie ein Löwe, der Feuerschnaubt gegen <strong>die</strong> Rudel von Füchsen, sostürzte er sich auf <strong>die</strong> Schar der Dämonenund Weltweisen, und wie ein Blitzsc<strong>hl</strong>ag fieler in <strong>die</strong> Truppen <strong>des</strong> Teufels. Und <strong>die</strong>serselbst vermochte ihm nicht <strong>die</strong> Stirne zu bieten,sondern er zitterte und bebte schon,wenn er nur seinen Schatten sah oder seineStimme hörte. So übergab er ihm, in der Ferneweilend, den Unzüchtigen und entriß ihnwieder seinen Händen 553 ; so übergab er ihmauch <strong>an</strong>dere, damit sie es verlernten zu lästern.Sieh auch, wie der Apostel <strong>die</strong> ihm unterstehendenKampftruppen <strong>an</strong>feuert, wie ersie aufmuntert und <strong>an</strong>eifert! So sagt er einmalzu den Ephesern: „Wir haben esja nicht zu tun (mit Gegnern) von Fleisch undBlut, sondern mit Fürsten und Gewalthabern.“554 . D<strong>an</strong>n stellt er ihnen den Kampfpreisin Aussicht, indem er von „Dingen imHimmel“ spricht: „Denn unser Ringkampfgeht nicht um irdische Dinge, sondern umden Himmel und um Dinge im Himmel.“ Ein<strong>an</strong>dermal sagt er: „Wisset ihr nicht, daß wirüber <strong>die</strong> Engel zu Gericht sitzen werden; umwieviel mehr nicht über Alltagsdinge?“ 555Das alles laßt uns bedenken und wackerst<strong>an</strong>dhalten! Auch <strong>Paulus</strong> war ein Menschvon derselben Natur wie wir und hatte mituns alles <strong>an</strong>dere gemeinsam. Weil er abereine große Liebe zu Christus bewies, darumstieg er über <strong>die</strong> Himmel empor und nahmseinen St<strong>an</strong>d ein unter den Engeln. Wir werden<strong>die</strong>sem Heiligen nachkommen, wenn wiruns ein wenig aufraffen und jenes Feuer (derLiebe) in uns <strong>an</strong>fachen wollen. Wäre <strong>die</strong>snicht möglich, so hätte er uns nicht zugerufen:„Seid meine Nachahmer, wie ich Christi!“556 So wollen wir ihn denn nicht bloß bewundernund <strong>an</strong>staunen, sondern auchnachahmen, damit wir nach unserem Hing<strong>an</strong>gegewürdigt werden, ihn zu schauenund <strong>an</strong> seiner unaussprec<strong>hl</strong>ichen Herrlichkeitteilzuhaben! Dieser mögen wir alle gewürdigtwerden durch <strong>die</strong> Gn<strong>ad</strong>e und Liebe unseresHerrn Jesus Christus, mit dem Ehre seidem Vater zugleich mit dem Hl. Geiste jetztund allezeit bis in alle Ewigkeit. Amen.552Gal. 1, 18.5531 Kor. 5, 5.554 Eph. 6, 12.555 5561 Kor. 6, 3.330

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