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Streitkräfteentwicklung, Rückblick und Ringen um neue Wege ...

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44 <strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblickdem Nordatlantikrat unter Vorsitz des Generalsekretärs, demhöchsten Entscheidungsgremi<strong>um</strong> der NATO mit seinen hochrangigenpolitischen Konsultationen sowie alle zwei bis dreiJahre stattfindenden Gipfeltreffen der Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs<strong>und</strong> im «Defence Planning Committee (DPC)»,dem zentralen Gremi<strong>um</strong> für militärpolitsche Angelegenheiten,das zweimal im Jahr auf der Ebene der Außenminister tagt,wurde <strong>und</strong> wird die politische Konsultation <strong>und</strong> Koordinationdes Bündnisses geleistet. Der «Supreme Allied CommanderEurope (SACEUR)», bisher immer ein amerikanischer General/Admiral,hat hingegen die Entscheidungsgewalt über diemilitärischen Verteidigungsplanungen sowie die Operationenim Verteidigungsfall.Wie von Clausewitz gefordert,bestimmten in den Jahren des KaltenKrieges die Politiker stufengerechtdie «Hauptlineamente» der Verteidigungsvorbereitungen.Wie von Clausewitz gefordert, bestimmten in den Jahrendes Kalten Krieges die Politiker stufengerecht die «Hauptlineamente»der Verteidigungsvorbereitungen. Die Strategieder «Flexible Response» fasste den «ganzen kriegerischenAkt» zusammen. Die Säulen Verteidigungsfähigkeit <strong>und</strong> Entspannungsbemühungenbildeten ein wirkungsvolles Konzept.Glaubhafte Abschreckung lähmte im Kalten Krieg «den feindlichenMut» zu politischer Erpressung <strong>und</strong> einem Angriff desWarschauer Pakts. Die Politik stellte an die Soldaten keineForderungen, die sie nicht zu leisten vermochten. Durchausreichend lange Wehrdienstzeiten in den Armeen mit AllgemeinerWehrpflicht, durch ständiges, multinational verflochtenesÜben der Verteidigungsplanungen auf allen Führungsebenen<strong>und</strong> mit ausreichend ausgebildeten Reservistenstanden Soldaten zur Verfügung, die ihren Mann im Gefechtgestanden hätten. Auf deutscher Seite gab es jedoch Versä<strong>um</strong>nisseder politisch-strategischen Ebene, die sich aber,so unglaublich dies anmutet, positiv auf die Verteidigungsplanungen<strong>und</strong> Übungen jener Zeit ausgewirkt haben.In seinem Buch «In der Pflicht» von 1989 beklagte der Generalinspekteurder B<strong>und</strong>eswehr von 1966 bis 1972, Generalde Maizière, die CINCENTs seien nie in Deutschland ihrerBedeutung gemäß von der politisch-strategischen Ebenewahrgenommen worden, also als die Generale, welche dieVerteidigung planten <strong>und</strong> im Krieg alle Truppen in der Zentralregiongeführt hätten. [11] Die deutschen verantwortlichenPolitiker überließen die Verteidigungsplanungen <strong>und</strong> ihr Übenden CINCENTs <strong>und</strong> ihren nachgeordneten Truppenführern.Diese, aber auch die wenigen deutschen Generalstabsoffiziere,die in der «Land Ops Branch» des Hauptquartiers inBrunss<strong>um</strong> / Niederlande den «General Defence Plan» (GDP)bearbeiteten <strong>und</strong> in den Übungen sowie im Verteidigungsfallauf den Gefechtsständen die beurteilenden Teile desLagevortrags zur Entscheidung des CINCENT zu erarbeiten<strong>und</strong> später die Befehle auszufertigen hatten, konnten aufden Gr<strong>und</strong>lagen der deutschen Militärkultur, dem preußischdeutschenGeneralstabssystem <strong>und</strong> der Auftragstaktik, professionellarbeiten. Das waren in der Regel zwei deutscheGenerale, zwei Obersten <strong>und</strong> vier Oberstleutnante i.G..[6]Dieser Sachverhalt setzte dem Verteidigungsbeitrag der damaligenB<strong>und</strong>esrepublik Deutschland einen Januskopf auf: Diepolitisch-strategische Ebene, das Verteidigungsministeri<strong>um</strong>,der B<strong>und</strong>estag, der Wehrbeauftragte des Deutschen B<strong>und</strong>estagessowie der Verteidigungsausschuss beschäftigten sich inden Jahren des Kalten Krieges vor allem mit Interna der B<strong>und</strong>eswehrwie der Traditionspflege, der anwachsenden Zahl derKriegsdienstverweigerer, der sogenannten Wehrgerechtigkeit,den Folgen der Hetze der «Friedensbewegung» gegen NATO<strong>und</strong> B<strong>und</strong>eswehr, dem Protest gegen den Nachrüstungsbeschlussder NATO <strong>und</strong> den ungeprüften Konzepten von Sozialwissenschaftlernsowie Pädagogen, die ihre auf tradierwürdigenGr<strong>und</strong>lagen beruhende militärische Substanz auslöschenwollten. Im Mittelpunkt dieser Aktivitäten stand das Wohlergehender Gr<strong>und</strong>wehrdienstleistenden. Die Abwehr <strong>und</strong> Kanalisierungdieser Einflüsse hat bei den militärischen Führern derdamaligen B<strong>und</strong>eswehr Kräfte, Zeit <strong>und</strong> Mittel absorbiert, dieder professionellen Sphäre entzogen wurden. Sie empfandensich als NATO-Offiziere <strong>und</strong> haben den Schwerpunkt «Ausbildungzur Befähigung im Einsatz» nie aus dem Auge verloren.Die Abwehr <strong>und</strong> Kanalisierung dieserEinflüsse hat bei den militärischenFührern der damaligen B<strong>und</strong>eswehrKräfte, Zeit <strong>und</strong> Mittel absorbiert, dieder professionellen Sphäre entzogenwurden.Diese Vorgänge tangierten die deutschen Generale in hohenStellungen bei der NATO <strong>und</strong> die deutschen Offizierein den Hauptquartieren der Zentralregion, die Vorsitzendendes Militärausschusses, die CINCENTs, die Chefs der Stäbeder Heeresgruppen, bei AAFCE <strong>und</strong> in den Luftflotten desKommandobereichs Europa Mitte bei ihrer Arbeit ka<strong>um</strong>, auchnicht die deutschen Offiziere, die an den Verteidigungsplanungenarbeiteten. Die Abstinenz der damaligen politischstrategischenEbene im Bereich der Verteidigungsplanungenfür das «Schlachtfeld Deutschland» hätte jedoch immer dannfolgenreich sein können, wenn durch dieses Verhalten dieWahrnehmung vitaler deutscher Interessen unterlassen wordenwäre. Hierzu ein Beispiel, das nur wenigen bekannt ist:MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


<strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblick 45[7]Die Franzosen hatten damals ihre konventionellen <strong>und</strong> sogenanntenprästrategischen Atomwaffen unlösbar miteinanderin einer eigenen Doktrin der Abschreckung verkoppelt. BeimEinsatz der 1. Französischen Armee in der Zentralregion alsoperative Reserve des CINCENT – nach ihrer Freigabe durchden französischen Staatspräsidenten – hätte es daher früherz<strong>um</strong> Einsatz von taktischen Nuklearwaffen auf dem Bodender damaligen B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, der DeutschenDemokratischen Republik <strong>und</strong> der Tschechoslowakei kommenkönnen, als von der NATO beabsichtigt. Das wurde inDeutschland hingenommen, als die CINCENTs in die Korpsgefechtsstreifendes verzahnten Dispositivs immer <strong>neue</strong> Aufmarschplänefür die 1. Französische Armee planen ließen. [12]Die deutschen Oberbefehlshaber der Zentralregion <strong>und</strong> ihreUntergebenen kannten die künstlichen Elemente des «GeneralDefence Plan», die aus Bündnisrücksichten entstandenwaren, <strong>und</strong> ihnen war bewusst, dass bei einem Angriff desWarschauer Paktes der Krieg seine eigenen Gesetze diktierthätte <strong>und</strong> die Operationen freier hätten geführt werden müssen,als es die Planungen vorsahen.Diese Erkenntnis löste deutsche Initiativen aus, die großenEinfluss auf den geplanten Ablauf der Vorneverteidigung habensollten. 1988 gab General von Sandrart als CINCENT derbisher vernachlässigten zweiten Schlacht das ihr gebührende[11] Vgl. Ulrich de Maizière, In der Pflicht, Lebensbericht eines deutschenSoldaten im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Herford; Bonn; Mittler 1989, S. 297.[12] Zur die konventionellen <strong>und</strong> nuklearen Elemente untrennbar verkoppelndenStrategie der Französischen Armee vgl. Général d’Armée Lacaze,French Military Doctrine, in: Armées d’aujourd’hui 72, Juli/ August1982.[6] Die B<strong>und</strong>eswehr stellte im Kalten Krieg mit drei Korps einen Hauptanteilan der Vorneverteidigung. Hier leistet ein deutscher Leopard 2Kampfpanzer des Pz Bat 31 Schiedsrichterdienst bei der 1. US Pz Brim Norden Deutschlands. Dies im Rahmen der NATO-Übung «Lionheart»im September 1984. (Foto: Jürg Kürsener)[7] Mögliche Einsätze der 1. Französischen Armee als operative Reservedes CINCENTMILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


46 <strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblick[8] [9]Gewicht. Er setzte für die operative Ebene das Konzept desSACEUR, General Rogers, <strong>um</strong>, die zweite operative Staffeldes Warschauer Paktes mit Luftstreitkräften zu verzögern<strong>und</strong> abzunutzen, bevor sie in der Zentralregion eingreifenkonnte. Nach langen Verständigungsdebatten wurde dieses«Follow-on-Forces Attack» oder «FOFA-Konzept» in den letztenJahren des Kalten Krieges zu einem «Combined JointOperations Concept» ausgestaltet.Diese Erkenntnis löste deutscheInitiativen aus, die großen Einflussauf den geplanten Ablauf derVorneverteidigung haben sollten.Hinzu kam, dass Initiativen der deutschen CINCENTs denNATO- <strong>und</strong> nationalen Stabs- <strong>und</strong> Truppenübungen das vomBewältigen der ersten Schlacht allzu oft geprägte Schnittmustergenommen haben: Verzögerung über geringe Tiefe,danach Verteidigung mit starken Kräften <strong>und</strong> schließlich Gegenangriffmit Reserven, welche oft die Stärke von einemDrittel aller zur Verfügung stehender Kräfte hatten.Der Höhepunkt im Bereich der Gr<strong>und</strong>sätze z<strong>um</strong> Führen derersten <strong>und</strong> zweiten Schlacht in der Zentralregion währendden letzten Jahren des Kalten Krieges waren die «OperationalPrinciples for the Employment of Land and Air Forcesin Defence of the Central Region», die General von Sandrartals CINCENT 1988 herausgab. Sie haben auf militärischemGebiet die Jahre des Kalten Krieges professionell für denBereich des militärischen Führens gekrönt. «As operationalthinking is a continous process», führte von Sandrartin der Einleitung aus, «these Principles will need furtherrefinement in the future as doctrine and experience is gained.»[13]Das war prophetisch formuliert: Die der «Flexible Response»folgenden Strategien der NATO konnten auf der Gr<strong>und</strong>lagedieser «Principles» für die militärstrategische <strong>und</strong> operativeEbene <strong>um</strong>gesetzt werden. Damals wurde das F<strong>und</strong>ament fürdas multinationale Zusammenwirken in der NATO von heutegelegt, <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>eswehr befand sich mit den Amerikanernauf Augenhöhe.Umsetzung <strong>neue</strong>r NATO Strategien <strong>und</strong> Herantasten derDeutschen an internationale KrisenreaktionseinsätzeAm 8. November 1991 wurde die Strategie der «Flexible Response»durch <strong>neue</strong> «Strategic Principles» abgelöst, die auf derTriade Dialog, Kooperation <strong>und</strong> Erhaltung der Verteidigungsfähigkeitgründeten. Für die Landes- <strong>und</strong> Bündnisverteidigungwurden im NATO-Dok<strong>um</strong>ent MC 400/1 das Prinzip der militärstrategischenGegenkonzentration für Krisenmanagement <strong>und</strong>bei dessen Scheitern Kampfeinsätze festgelegt, die bis heutegelten. Es wurde als «the massing of significant military forceat a particular time and place with sufficient capability to counteran aggressor’s force concentration» definiert <strong>und</strong> gefordert:«NATO’s armed forces must be able to counter-concentrate inorder to defend as close as possible to threatened borders.» [14]Am 8. November 1991 wurde dieStrategie der «Flexible Response»durch <strong>neue</strong> «Strategic Principles»abgelöst, die auf der Triade Dialog,Kooperation <strong>und</strong> Erhaltung derVerteidigungsfähigkeit gründeten.Dort, wo Krisen sich entwickeln oder Angriffe auf NATO-Gebiet sich abzeichnen, sollen die aufmarschierten Kräftedes Bündnisses beim Scheitern ihrer «Crises Management»– Aufgabe, die Clausewitz als Suche nach <strong>Wege</strong>n <strong>um</strong> dieentscheidende Schlacht her<strong>um</strong> bezeichnet hat, in allen Gefechtsarteneingesetzt werden. Das war die strategische Defensivemit allen ihren Elementen <strong>und</strong> Stärken, wie er sie alsstärkste Form des Einsatzes von Streitkräften erkannt hat.1992 erklärte die NATO darüber hinaus ihre Bereitschaft zu«Out of Area»-Einsätzen nach einer Ermächtigung durch denSicherheitsrat der Vereinten Nationen oder die OSZE mittelsder Militärstrategie der Gegenkonzentration. 1994 wurde derNATO-Kooperationsrat (NAKR) für die Zusammenarbeit inmilitärischen <strong>und</strong> sicherheitspolitischen Fragen gegründet.Die NATO suchte eine enge Partnerschaft z<strong>um</strong> Programm«Partnership for Peace», an dem auch frühere Angehörigedes Warschauer Paktes <strong>und</strong> neutrale Staaten, z.B. beim IFOR<strong>und</strong> SFOR-Einsatz in Bosnien <strong>und</strong> Herzegowina, ab 1999MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


<strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblick 47[10] [11]auch im Rahmen der KFOR auf der Gr<strong>und</strong>lage von Resolutionendes Sicherheitsrats der Vereinten Nationen teilnahmen.Mit der Resolution 1386 der Vereinten Nationen vom Dezember2001 wurde der friedenserzwingende internationaleKrisenreaktionseinsatz in Afghanistan ingang gesetzt. Er wirdvom deutschen Oberbefehlshaber der «Allied Joint Force» inBrunss<strong>um</strong>, der Nachfolgeorganisation von AFCENT, geführt.1992 erklärte die NATO darüberhinaus ihre Bereitschaft zu«Out of Area»-Einsätzen nach einerErmächtigung durch den Sicherheitsratder Vereinten Nationen oderdie OSZE …Im «Strategic Concept» von 1999 wurden Konfliktverhütung<strong>und</strong> Krisenbewältigung in «Out of Area»-Einsätzen, auch zurprophylaktischen Gefahrenabwehr, Schwerpunkt der NATO.Ende der 1990er Jahre schuf sie sich als Kampfinstr<strong>um</strong>entmit dem «Combined Joint Task Force (CJTF)»-Konzeptschnelle Eingreifkräfte <strong>und</strong> nahm eine <strong>neue</strong> Struktur ein. Am18. März 2009 kehrte Frankreich in die militärische Strukturder NATO zurück, die es 1966 verlassen hatte.Mit dem Abzug der meisten verbündeten Truppen von deutschemBoden, dem Wegfall nationaler deutscher Korps, derKonzentration auf internationale Krisenreaktionseinsätze<strong>und</strong> nach Aufgabe der bisherigen großen Übungen mit Volltruppezerbröckelte das eng geknüpfte Netz des multinationalenZusammenwirkens der Interoperabilität der Zeit desKalten Krieges.Die damit einhergehenden berufsfachlichen Defizite für Truppenführer<strong>und</strong> ihre Gehilfen veranlassten im Herbst 1993den damaligen SACEUR, General Shalikashvili, eine Übunganlegen <strong>und</strong> durchführen zu lassen, an der Generale ab dersogenannten Zweisterneebene systematisch in Fragen deroperativen Führung in jährlich stattfindenden Planübungen,durch kriegesgeschichtliche Beispiele unterstützt, geschultwerden sollten. Der SACEUR führte in seiner Weisung, diezur Anlage der Übung führte, aus:«In the new environment in Europe, I am concerned that, forobvious reasons, the requirement for NATO commanders toconcentrate on peace support operations rather than warfightingcould mean that we shall lose a whole spectr<strong>um</strong> ofcommand skills, particularly at senior levels … The end ofthe threat from the Warsaw Pact has reduced the incentiveand opportunity for improving competence in military command.New roles throw extra political emphasis on seniorcommanders competences. Constant reductions and reorganisationsrequire managerial rather than operational skills.… Lack of coordinated operational thinking and education[13] Headquarters Allied Forces Central Europe Brunss<strong>um</strong>, The Netherlands,Operational Principles For the Employment of Land and AirForces in Defence of the Central Region, CINCENT’s Operational Principles1988. Vgl. ebenso Christian Millotat, Operative Führung ausdeutscher Sicht, a.a.O., S. 283–290.[14] Directive for Implementation of Alliance Strategy, MC 400/1 vom14.6.1996. Vgl. ebenso Christian E.0. Millotat, Operative Führungaus deutscher Sicht, a.a.O., S. 286 f. Ein überzeugendes historischesBeispiel zur Überlegenheit der strategischen Defensive nach Clausewitzhat Günter Hochauer vorgelegt: Die zwölfte Schlacht am Isonzo<strong>und</strong> Clausewitz, in: Clausewitz-Gesellschaft, Band 6, Jahrbuch 2010,Herausgeber <strong>und</strong> Copyright Clausewitz-Gesellschaft e.V. Hamburg, S.296–309.Vgl. Auch Clausewitz, a.a.O., S. 496.[8] Auch die Tschechoslowakische Armee CVA war in die Struktur desWarschauer Paktes eingeb<strong>und</strong>en. Hier demonstrieren Mot Schützenmit ihrem BMP-1 Schützenpanzer einen Einsatz anlässlich der grossenÜbung «S<strong>um</strong>ava 88» im Nordwesten des Landes. (Foto: Jürg Kürsener)[9] Man ging im Kalten Krieg davon aus, dass zu allfälligen Kriegsvorbereitungendes Warschauer Paktes auch der Einsatz der sogenanntzweiten strategischen Staffel gehörte. Dazu zählten sowjetische Formationenin den westlichen Militärbezirken. Die Aufnahme zeigt einenT-72 Kampfpanzer während einer Übung in der Ukraine 1990. (Foto:Jürg Kürsener)[10] Mi-26 HALO Helikopter anlässlich einer Übung der UdSSR auf demTruppenübungsplatz von Lepel (Vitebsk) im Militärbezirk Weissrussland(Foto: Jürg Kürsener)11] Damals eine Seltenheit. Anlässlich einer grossen Truppenübung desWarschauer Paktes in der DDR 1987 unterhält sich Oberst d G Herrichvon der Nationalen Volksarmee der DDR (rechts) vor einem Hotel inMagdeburg mit zwei B<strong>und</strong>eswehroffizieren <strong>und</strong> Manöverbeobachternaus der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. (Foto: Jürg Kürsener)MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


48 <strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblickthroughout NATO cannot help but reduce coherence in ourapproach to standardisation, interoperability and weapon procurement».«In the new environment in Europe,I am concerned that, for obviousreasons, the requirement for NATOcommanders to concentrate on peacesupport operations rather than warfightingcould mean that we shall losea whole spectr<strong>um</strong> of command skills,particularly at senior levels …»Dann forderte er für den Inhalt der Übung: «Concentrate onwhat the Commanders need to think about their operationallevel – it should therefore not follow the WINTEX formulaewith much time devoted to political/ military problems.» [15]Eine aus deutschen, amerikanischen <strong>und</strong> britischen Offizierenzusammengesetzte Arbeitsgruppe legte die Übung an. InÜbereinstimmung mit der Militärstategie der Gegenkonzentrationwählte sie einen «Out of Area»-Einsatz <strong>und</strong> eine Lageder strategischen Defensive, die an Clausewitzens Gedankenangelehnt war. Die Übung wurde vom SACEUR gebilligt <strong>und</strong>findet seither statt. Sie ist ständig <strong>neue</strong>n Entwicklungen angepasstworden. Diese Aushilfe des SACEUR als Ersatz fürdie weggefallenen Übungen der NATO in der Zeit des KaltenKrieges zur Schulung hoher Truppenführer <strong>und</strong> ihrer Gehilfengilt als fordernd, weil die Teilnehmer ohne ihre Stäbe arbeitenmüssen. Sie hat sich bewährt, kann aber die operative Professionalitätnicht zurückgewinnen, die im früheren Übungsgeschehenerworben werden konnte. [16]Die Übung wurde vom SACEURgebilligt <strong>und</strong> findet seither statt …Sie hat sich bewährt, kann aber dieoperative Professionalität nichtzurückgewinnen, die im früherenÜbungsgeschehen erworben werdenkonnte.Am 12. Juni 1994 legte das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht fest,dass für die B<strong>und</strong>eswehr internationale Krisenreaktionseinsätze,die nicht unter Artikel V des NATO-Vertrags fallen, jeweilsnach der Darlegung der genauen Einsatzbedingungen<strong>und</strong> Einsatzstärken mandatiert werden dürfen. Nach einemJahrzehnt Erfahrungen mit solchen Einsätzen legte das deutscheParlament die genauen Abläufe in verschiedenen Abstufungenfür die Intensität der B<strong>und</strong>estagsbefassung 2005 im«Parlamentsbeteiligungsgesetz» fest. Im Mai 2008 stärktedas B<strong>und</strong>esverfassungsgericht diese parlamentarischenRechte abermals, indem es auch Routineaufgaben im Zusammenhangmit Bündnisverpflichtungen immer dann unterZustimmungsvorbehalt stellte, wenn eine bewaffnete Auseinandersetzungkonkret zu erwarten ist.Die Absorbierung der Kräfte der NATO für die Einsätze aufdem Balkan verlangsamte den Prozess, aus ihrer Militärstrategieder Gegenkonzentration konkrete operative Vorgaben<strong>und</strong> Konzepte abzuleiten. Während der SACEUR «ContingencyOperation Plans» mit dem Charakter von Aufmarschplänenfür die Flankenregionen der NATO entwickeln ließ,begann der CINCENT mit dem «Schnüren» von «Kräftepaketen»von Expeditionsstreitkräften für alle Einsatzformen.Die 2002 geschaffene «NATO Response Force» aus Land-,Luft- <strong>und</strong> Seestreitkräften <strong>und</strong> einer Stärke von 25’000 Soldatenist aus diesem Ansatz entstanden. Planungen für dieVerteidigung deutschen Bodens sind seitdem unterblieben.In diesen Jahren der Transformation der NATO mit ihren nichtimmer genügend deutlich werdenden Parametern wurden inder B<strong>und</strong>eswehr immer häufiger Einsätze nach Artikel V desNATO-Vertrags im Bündnisfall <strong>und</strong> internationale Krisenreaktionseinsätze– unter der Annahme, dass in DeutschlandFriede herrscht – von der Lehre <strong>und</strong> der Truppe vermischt.Dies führte zu Missverständnissen <strong>und</strong> Fehlinterpretationenbei der Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der Führer der B<strong>und</strong>eswehr<strong>und</strong> zu fehlerhaften Übungen.Eine Auswertung der Übungen des Jahres 1995 im Führungsstabdes Heeres zeigte, dass ihre Anlage <strong>und</strong> Durchführungdas Denken in den Dimensionen der aneinandergereihten Korpsgefechtsstreifen in der Zentralregion in denJahren des Kalten Krieges noch nicht überall überw<strong>und</strong>enhatte. Das militärstrategische Prinzip der Gegenkonzentration<strong>und</strong> die notwendige Neugewichtung der operativen FaktorenKräfte, Ra<strong>um</strong> <strong>und</strong> Zeit bereitete bei seiner UmsetzungProbleme. Es wurde noch nicht von allen Truppenführern,Führergehilfen <strong>und</strong> in der Lehre eingesetzten Offizieren verstanden,dass Führen von Truppen in die militärstrategischeGegenkonzentration vor allem den anspruchsvollenAufmarsch in nationaler Verantwortung, die Unterstellungunter den Bündnisbefehlshaber, die Gliederung der Truppenz<strong>um</strong> Einsatz gemäss Operationsplan sowie der Einsatz in allenGefechtsarten verlangt. Auch nicht, dass der Befehlshaberim Rahmen der Freiheit, die ihm die militärstrategischeWeisung gibt, in allen Gefechtsarten beweglich operierensoll, wobei der operative Faktor Ra<strong>um</strong> eine <strong>neue</strong> Dimensionerhielt.Das militärstrategische Prinzip derGegenkonzentration <strong>und</strong> die notwendigeNeugewichtung der operativenFaktoren Kräfte, Ra<strong>um</strong> <strong>und</strong> Zeitbereitete bei seiner UmsetzungProbleme.Es wurde auch deutlich, dass Missverständnisse z<strong>um</strong> Maßdes Einwirkens <strong>und</strong> Eingreifens der deutschen politischstrategischen<strong>und</strong> militärstrategischen Führung in Artikel V-Operationen entstanden waren, die im Spannungs- <strong>und</strong> Verteidigungsfallvon der NATO in Übereinstimmung mit denNationen geführt werden. Die Möglichkeit, dass bei den<strong>neue</strong>n internationalen Krisenreaktionseinsätzen der B<strong>und</strong>eswehrggf. der B<strong>und</strong>esminister der Verteidigung, im Friedender Inhaber der Befehls- <strong>und</strong> Kommandogewalt, deutscheMILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


<strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblick 49[12]Truppen am kürzeren Zügel führt, wurde mit den Verhältnissenin Artikel V-Einsätzen gemäß NATO-Vertrag vermischt.Die bei internationalen Krisenreaktionseinsätzenohne Kampf geltenden rechtlichen Leitlinien wie das Prinzipder Verhältnismäßigkeit der Mittel beim Waffeneinsatz oderdie sorgfältige Beachtung von Notwehrrecht, Elementen desPolizeirechts <strong>und</strong> den Einsatz bestimmende, von den Truppenstellernvereinbarte «Rules of Engagement» wurden aufArtikel V-Einsätze sowie Krisenreaktionseinsätze mit Kampfübertragen. In diesem Zusammenhang wurde auch vielfachdie Auffassung vertreten, das Prinzip Führen mit Auftragwerde bei internationalen Krisenreaktionseinsätzen immermehr eingeschränkt.In diesem Zusammenhang wurdeauch vielfach die Auffassungvertreten, das Prinzip Führen mitAuftrag werde bei internationalenKrisenreaktionseinsätzen immermehr eingeschränkt.Auch das Zusammenwirken der politisch-strategischen, militärstrategischen,operativen <strong>und</strong> taktischen Ebenen beiArtikel V-Einsätzen <strong>und</strong> den <strong>neue</strong>n internationalen Krisenreaktionseinsätzenwar vielfach unbekannt, der Gang des Zusammenwirkenszwischen Vorgesetzten <strong>und</strong> untergebenenTruppenführern war aus den Augen verloren worden: DerTruppenführer erhält einen Auftrag. In ihm befinden sich Auflagen.Er bekommt Mittel <strong>und</strong> Kräfte zugewiesen. Er stelltAnträge. Diese werden beschieden. Dann hat er seinen Auftragdurchzuführen, d.h. zu gehorchen. Die unzutreffendeAuffassung, der Truppenführer habe ständig bei der politischstrategischenFührung vorstellig zu werden, <strong>um</strong> Kräfte <strong>und</strong>militärisch verfügbare Vorbereitungszeit direkt dort einzufordern,war verbreitet.Der Einsatz der neu geschaffenen bi- <strong>und</strong> multinationalenKorps, wie sie im Gefecht zu führen sind, insbesondere ihrKampf in der Tiefe, der Einsatz luftmechanisierter Kräfte <strong>und</strong>das Gewinnen von Reserven aus dem unterstellten Bereichwar für viele Truppenführer <strong>und</strong> ihre Gehilfen noch schattenhaft.[15] Weisung SACEUR an die von mir geleitete «ACE High Level WorkingGroup» vom 1. September 1993.[16] «Senior Mentors» der Übung waren u.a. die früheren CINCENTs Generala.D. Hans Henning von Sandrart <strong>und</strong> General a.D. Helge Hansen.[12] B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel besucht Einheiten der B<strong>und</strong>eswehrim Ausland. Sie wird u.a. begleitet von ihrem militärischen BeraterBrigadegeneral Dr Vad. (Foto: BMVg, Berlin)MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


50 <strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – AusblickDie zu dieser Zeit entstehenden <strong>neue</strong>n Dienstvorschriftender Reihe HDv 100 des Deutschen Heeres <strong>und</strong> wieder eingeführteTruppenführerreisen sollten die entstandene Begriffsverwirrungim Bereich der Einsatzgr<strong>und</strong>sätze Zug <strong>um</strong> Zugbeseitigen. [17]Von 1994 bis 1998 wurden unter der Leitung des StabsabteilungsleitersIII im Führungsstab des Heeres durch eine Arbeitsgruppedie <strong>neue</strong> Dienstvorschriftenreihe der Reihe HDv100 für das Deutsche Heer geschaffen <strong>und</strong> mit den anderenTeilstreitkräften sowie den Verbündeten abgestimmt. Die Entwürfewurden ab 1996 in den nachgeordneten Bereich alsAusbildungshilfen gegeben, <strong>um</strong> dort rasch wieder doktrinäreSicherheit zu erreichen. Ihre Inhalte wurden in der Militärpressedes In- <strong>und</strong> Auslandes veröffentlicht.Die Arbeit erfolgte auf Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Leitlinien, die anClausewitz sowie den Erfahrungen deutscher <strong>und</strong> ausländischerTruppenführer der Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart sowiemilitärischer Denker ausrichtet waren. Wie von Clausewitzgefordert <strong>und</strong> in der deutschen Militärkultur weiter entwickelt,wurden in die <strong>neue</strong>n Dienstvorschriften nur Gr<strong>und</strong>sätzeaufgenommen, die den Truppenführern Handlungsfreiheitbei ihrer Umsetzung durch individuelle Führungskunstanbieten. [18]Wie von Clausewitz gefordert <strong>und</strong>in der deutschen Militärkultur weiterentwickelt, wurden in die <strong>neue</strong>nDienstvorschriften nur Gr<strong>und</strong>sätzeaufgenommen, die den TruppenführernHandlungsfreiheit bei ihrerUmsetzung durch individuelleFührungskunst anbieten.In der Vorlage an Verteidigungsminister Rühe vom 04. September1998, die zur Billigung der Leitvorschrift der Dienstvorschriftenreihe,der HDv 100/ 100, «Truppenführung2000» führte, wurde fomuliert:«Die zwischen 1987 <strong>und</strong> 1990 erlassenen <strong>und</strong> bisher geltendenDienstvorschriften der Reihe HDv 100 waren auf denEinsatz der B<strong>und</strong>eswehr für die Landes- <strong>und</strong> Bündnisverteidigungzur Zeit des Ost-West-Gegensatzes ausgerichtet. Die<strong>neue</strong>n zusätzlichen Aufgabenfelder des Deutschen Heeres,Krisenbewältigung <strong>und</strong> Verteidigung im Bündnis außerhalbZentraleuropas sowie internationale Krisenreaktions- sowieRettungs- <strong>und</strong> Evakuierungseinsätze sowie Hilfeleistungen,sind darin noch nicht behandelt worden, weil es sie nochnicht gab. Seit 1994 sind eine Reihe von politisch-strategischen,militärstrategischen, planerischen, strukturellen <strong>und</strong>juristischen Gr<strong>und</strong>lagen für die B<strong>und</strong>eswehr erlassen worden,die in den Vorschriften zu berücksichtigen waren.»Dann folgen die leitenden Gedanken, die in der Dienstvorschriftenreihe<strong>um</strong>gesetzt wurden:• «Den Primat der politisch-strategischen Ebene bei jedemEinsatz von deutschen Streitkräften <strong>und</strong> deren uneingeschränkteRechtsbindung sowie die Kompetenzen <strong>und</strong> dasIneinandergreifen der politischen <strong>und</strong> militärischen Führungsebenenbei allen Einsatzformen darstellen.• Die Unterschiede zwischen «klassischen» Einsätzen vonStreitkräften im Kampf <strong>und</strong> die für das Deutsche Heer<strong>neue</strong>n internationalen Krisenreaktionseinsätze ohne <strong>und</strong>mit Kampf in Zusammenarbeit mit den Verbündeten <strong>und</strong>den Vereinten Nationen entwickeln, harmonisieren <strong>und</strong>darstellen.• Die in internationalen Krisenreaktionseinsätzen geltendenBesonderheiten wie eine mögliche engere Anbindung derKräfte im Einsatz an die politisch-strategische Ebene verdeutlichen.• Die aus der modifizierten Strategie der <strong>neue</strong>n Flanken- sowie«Out of Area»-Einsätze im Spannungs- <strong>und</strong> Verteidigungsfallgem. Artikel V NATO-Vertrag <strong>und</strong> der Militärstrategieder Gegenkonzentration abzuleitenden Anforderungenan die Truppenführung entwickeln <strong>und</strong> darstellen.• Die im gesamten Aufgabenspektr<strong>um</strong> notwendigen teilstreitkraftübergreifendenEinsätze («Joint Operations»)<strong>und</strong> den Weg in die multinationale Integration ebenso herausstellenwie das Zusammenwirken von Streitkräftenverschiedener Nationen («Combined Operations»).•Das dem Leitbild vom mündigen Staatsbürger in Uniformangemessene Führungsprinzip der Auftragstaktik sowiedie Beratungspflicht des deutschen Generalstabsoffiziersmit dem Recht, von seinem Vorgesetzten vor dessen Entscheidunggehört zu werden, deutlicher als in den früherenDienstvorschriften der Reihe HDv 100 behandeln <strong>und</strong>mögliche Einschränkungen des Prinzips der Auftragstaktikin internationalen Krisenreaktionseinsätzen herausstellen.»[19]Das Zusammenwirken der politisch-strategischen Ebene <strong>und</strong>ihr Zusammenwirken mit den anderen Führungs- <strong>und</strong> Entscheidungsebenenwurde aus Clausewitzens Forderungen<strong>und</strong> Axiomen abgeleitet. Für die Ebenen der militärstrategischen<strong>und</strong> operativen Führung sowie der Taktik wurden dieErkenntnisse bedeutender deutscher Soldaten der Vergangenheit,für die Gegenwart verbündeter Truppenführer herangezogen,die nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> vor allemim ersten Irakkrieg von 1991 Erfahrungen gesammelt hatten.Sie sind in den späteren Dienstvorschriften des DeutschenHeeres beibehalten sowie fortgeschrieben worden.In der von ihm 1998 erstmals seitlanger Zeit wieder durchgeführtenGeneralstagung, einer Nachfolgerinder früheren Truppenführerreisen,hat er die modifizierten <strong>und</strong> <strong>neue</strong>nEinsatzgr<strong>und</strong>sätze des DeutschenHeeres mit internationaler Beteiligungin einer mehrtägigen Planübungvertiefen lassen.In den 1998 erschienenen «Gedanken zur Operationsführungim Deutschen Heer» hat der damalige Inspekteur des Heeres,Generalleutnant Willmann, die <strong>neue</strong> Vorschriftenreihefür die Praxis von Ausbildung <strong>und</strong> Truppenführung griffig in-MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


<strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – Ausblick 53nierenden «Comprehensive Approach». Es gründete auf purerAutosuggestion, als die deutsche B<strong>und</strong>eskanzlerin <strong>und</strong>der frühere Verteidigungsminister Jung behauptet haben, der«Comprehensive Approach» sei eine deutsche Erfindung <strong>und</strong>funktioniere bereits erfolgreich. [24]«Nur wer klare Begriffe hat, kann befehlen», sagte Goetheeinmal. Bei der Planung, Leitung <strong>und</strong> Unterstützung dermultinationalen Balkan- <strong>und</strong> Afghanistaneinsätze ist auchdeshalb so häufig gegen die Erkenntnisse <strong>und</strong> Axiome vonClausewitz verstoßen worden, weil vielen Verantwortlichen inDeutschland das ebenengerechte Verständnis nationaler, internationaler<strong>und</strong> multinationaler Kompetenzen, Verantwortlichkeitensowie Handlungsebenen noch immer versiegelt ist.Der folgende «rote Faden» sollte politisches <strong>und</strong> militärischesHandeln in unserer Zeit angesichts nie ausschließbarer zukünftigerbewaffneter Konflikte sowie bei internationalen Krisenreaktionseinsätzendurchziehen (der aus Erkenntnissen<strong>und</strong> Axiomen von Clausewitz gesponnen werden kann):• Erstens: Die politisch-strategische Ebene behält in bewaffnetenKonflikten <strong>und</strong> in internationalen Krisenreaktionseinsätzenimmer die Führung. Vor Abschluss einesvon einer internationalen Koalition geführten bewaffnetenKonflikts oder eines internationalen Krisenreaktionseinsatzesmit einem Mandat der Vereinten Nationen mussdie politisch-strategische Ebene, d.h. die Vereinten Nationen,die NATO, die Europäische Union <strong>und</strong> / oder andereinternationale Organisationen im Konsens mit den am Einsatzbeteiligten Nationen bereits bei der Planung ihrermilitärischen Komponente den angestrebten Friedenszustanddefinieren. Sie wird dabei durch die verantwortlichenSoldaten beraten. Sie entwickelt hierzu zusammenmit den Soldaten ein den gesamten Einsatz <strong>um</strong>fassendesstrategisches Konzept, das von den nachgeordneten Führungsebenen<strong>um</strong>gesetzt werden muss. Sie vermeidet weitestgehend,über Führungsebenen hinweg in die Durchführungder Operationen einzugreifen.• Zweitens: Die Führung <strong>und</strong> Unterstützung eines bewaffnetenKonflikts oder eines internationalen Krisenreaktionseinsatzesmuss ständig von der Lage im jeweiligenEinsatzgebiet beeinflusst werden. Wenn es notwendigwird, sind Planungen <strong>und</strong> Weisungen der politisch-strategischenEbene der tatsächlichen Lage im Einsatzgebietanzupassen <strong>und</strong> die Triade Ziel, Zweck <strong>und</strong> Mittel mussneu austariert werden. Immer lenkt die politisch-strategischeEbene basierend auf ihrer Zielsetzung die Durchführungeines Einsatzes.Immer lenkt die politisch-strategischeEbene basierend auf ihrer Zielsetzungdie Durchführung eines Einsatzes.• Drittens: Internationale Akteure in bewaffneten Konflikten<strong>und</strong> in internationalen Krisenreaktionseinsätzen, obPolitiker, Diplomat, Soldat, Polizist oder Angehöriger eineranderen, in ihr eingeb<strong>und</strong>enen Organisation, müssen mitden Gr<strong>und</strong>problemen <strong>und</strong> dem Wesen der Politik, des Militärs,der Wirtschaft <strong>und</strong> vor allem den Bedingungen imjeweiligen Einsatzgebiet vertraut sein. Außerdem müssensie geschult <strong>und</strong> gewillt sein, zusammenzuarbeiten, komplexeSachverhalte gemeinsam zu analysieren, Lösungengemeinsam zu entwickeln <strong>und</strong> – jeder nach seiner Kompetenz– ressort- <strong>und</strong> ebenengerecht zu handeln.Wann <strong>und</strong> ob alle Akteure, die bei der Planung, Führung <strong>und</strong>Nachbereitung eines bewaffneten Konflikts gemäß der <strong>neue</strong>nNATO-Strategie von 2010 oder eines multinational strukturierteninternationalen Krisenreaktionseinsatzes beteiligtsind, jemals diese für alle Verantwortungsebenen geltendenErkenntnisse <strong>und</strong> Axiome von Clausewitz befolgen werden,steht in den Sternen. Wer dies fordert, stößt in Deutschlandvor allem auf Widerstände von Vertretern der politisch-strategischenEbene. Die NATO hat in den Jahren des KaltenKrieges den Gr<strong>und</strong>stein für ihre Verwirklichung gelegt. IhreStrategien von 1991, 1999 <strong>und</strong> 2010 konnten <strong>und</strong> könnenauf ihre professionelle sowie multinationale Substanz aufbauen,die für die militärische Sphäre im Kern unverändertgeblieben ist.Die «raison d’être» heutiger StreitkräfteDie «raison d’être» der B<strong>und</strong>eswehr kann wie folgt beschriebenwerden:Die B<strong>und</strong>eswehr ist ein Instr<strong>um</strong>ent der Staatsführung,das, unberührt von innenpolitischen Entwicklungen, seinerAufgabe als militärischer Arm der Sicherheitsvorsorgefür Deutschland <strong>und</strong> seiner Bündnispartner gerecht werdenmuss.Die B<strong>und</strong>eswehr ist ein Instr<strong>um</strong>entder Staatsführung, das, unberührtvon innenpolitischen Entwicklungen,seiner Aufgabe als militärischer Armder Sicherheitsvorsorge für Deutschland<strong>und</strong> seiner Bündnispartnergerecht werden muss.Die eingeleitete Reform der B<strong>und</strong>eswehr steht unter demLeitgedanken «vom Einsatz her denken.» [25] Der Einsatz istfür sie der gewichtigste Orientierungspunkt <strong>und</strong> nicht mehrdie Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, der Schatten von Stalingradoder die ungeprüften Konzepte von Sozialwissenschaftlern,Pädagogen <strong>und</strong> Politikern, die auf sie einwirkten<strong>und</strong> manchen Irrweg zu verantworten haben. Die internationalenKrisenreaktionseinsätze, an denen mittlerweile mehrals 300’000 deutsche Soldaten teilnehmen konnten, habeneinen zukunftsweisenden Prozess eingeleitet, der die «raisond’être» der zukünftigen Armee bestimmen wird.[22] Vgl. Christian E.0. Millotat, Eliten der B<strong>und</strong>eswehr im Einsatz, a.a.O.,S. 264f.[23] So der deutsche B<strong>und</strong>espräsident Roman Herzog bei der Kommandeurstagungder B<strong>und</strong>eswehr 1996 in München.[24] Zur Bedeutung von Carl von Clausewitz z<strong>um</strong> Entschlüsseln zukünftigerbewaffneter Konflikte <strong>und</strong> internationaler Krisenreaktionseinsätze vgl.Christian E.0. Millotat, Generalmajor Carl von Clausewitz – Erbe <strong>und</strong>Einfluss heute. Annäherung an Clausewitz, in: Clausewitz Jahrbuch2010, a.a.O.,S. 46–68. Vgl. ebenso Christian E.0. Millotat, Clausewitz<strong>und</strong> der Balkankonflikt, in: Military Power Revue der Schweizer ArmeeNr. 3/2008, S. 4–11.[25] Vgl. Bericht der Strukturkommission der B<strong>und</strong>eswehr Oktober 2010,Vom Einsatz her denken, Konzentration, Flexibilität, Effizienz.MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013


54 <strong>Streitkräfteentwicklung</strong>, <strong>Rückblick</strong> <strong>und</strong> <strong>Ringen</strong> <strong>um</strong> <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> – AusblickDas ständige Zusammenwirken deutscher Soldaten in Einsätzenmit Kameraden aus anderen Militärkulturen hat ihrSelbstverständnis verändert. Bisherige Prägungen auf derGr<strong>und</strong>lage der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs <strong>und</strong> denJahren des Kalten Krieges werden im Zuge dieses Prozessesan Bedeutung verlieren. Das Empfinden <strong>und</strong> Handeln vielerdeutscher Soldaten wird sich durch täglich erlebte Multinationalitätim Einsatz auf das weltweit ausgerichtete, pragmatischere<strong>und</strong> inungebrochene, historische Kontinuität eingebettetefranzösisch-angelsächsische Selbstverständnissoldatischer Existenz zu bewegen. So entsteht eine multinationalgeprägte Soldatenfamilie, die von dem gemeinsamenAuftrag, von täglich erlebter Kameradschaft <strong>und</strong> dem Miteinanderim Einsatz zusammengehalten wird.Das ständige Zusammenwirkendeutscher Soldaten in Einsätzenmit Kameraden aus anderen Militärkulturenhat ihr Selbstverständnisverändert.Die Führung der B<strong>und</strong>eswehr muss das tradierwürdige Erbedeutscher soldatischer Existenz neu akzentuieren <strong>und</strong> in dieErziehung ihrer Soldaten einbringen. Die in den deutschenStreitkräften von vielen Soldatengenerationen entwickeltemilitärische Führungskultur erhält nur so aktuelle Konturen.Dies gilt vor allem für das unverzichtbare, in Deutschlandentwickelte Prinzip der Auftragstaktik <strong>und</strong> die dieses überwölbendeKonzeption der Inneren Führung mit ihren Säulen«Staatsbürger in Uniform», «Integration in die Gesellschaft»sowie «zeitgemäße Menschenführung». Wenn erreicht werdensoll, dass dieser Prozess ohne Umwege <strong>und</strong> unerwünschten«Wildwuchs» verläuft, bedarf es rasch klarer Zielvorgabendurch die Führung der B<strong>und</strong>eswehr. Neue Konturen werdenin einigen Bereichen bereits deutlich. Sie müssen aber nochabschließend formuliert <strong>und</strong> zu einem unsere heutige soldatischeExistenz tragenden F<strong>und</strong>ament zusammengefügt werden.[26]Vieles von dem ist in der B<strong>und</strong>eswehr bereits eingeleitet worden,vieles bleibt aber noch als Voraussetzung einer tragfähigen«raison d’être» der zukünftigen Armee im Einsatz zu tun.So gibt es 2011 noch immer kein schlüssiges Bild der Führungüber den Offizier <strong>und</strong> den Unteroffizier der B<strong>und</strong>eswehr.Denjenigen, die der B<strong>und</strong>eswehr aus der Zeit des Kalten KriegesTränen nachweinen <strong>und</strong> sich der Mitgestaltung der <strong>neue</strong>nArmee durch Rat <strong>und</strong> Tat verweigern, wird die folgende ErkenntnisGoethes entgegengehalten:«Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte,es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweitertenElementen des Vergangenen gestaltet, <strong>und</strong> die echte Sehnsuchtmuss stets produktiv sein, ein <strong>neue</strong>s Besseres zuschaffen.» [27][26] Gedankenführung auf der Gr<strong>und</strong>lage meines Erfahrungsberichts, «Ein-Satz als Deputy Commander der Kosovo Force vom September 2001bis Oktober 2002», Headquarters Kosovo Force, im September 2002,S. 12 f.[27] Johann Wolfgang von Goethe an die Pianistin Symanowska 1832.MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/2013

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