75 2007 Jahrgang 103 THEOLOGISCHE REVUE Nr. 1 76gemeine kulturelle Milieu, Martin Riesebrodts Interpretation <strong>des</strong> religiösenF<strong>und</strong>amentalismus, Monika Wohlrab-Sahrs <strong>und</strong> Julika Rosenstocks Analyse<strong>des</strong> Zusammenhangs von Religion, Gender, Moral <strong>und</strong> sozialer Ordnung.Der Bd legt den Schwerpunkt auf die Rolle der christlich-jüdischenReligion in einer westlich geprägten <strong>und</strong> damit durch dasSäurebad der Aufklärung hindurchgegangenen Gesellschaft, das istsein gutes Recht. Interessant wäre als Desiderat, auch Texte zu einermuslimisch <strong>und</strong> jedenfalls auûerchristlich inspirierten Religionssoziologiezu sammeln, um dann in einen globaleren Dialog zur Rolleder Religion eintreten zu können. Jedenfalls ist dieser Bd sehr gelungen<strong>und</strong> sehr informativ <strong>und</strong> sehr geeignet, die notwendige Diskussionum die Rolle <strong>und</strong> den Einfluss von Religion in säkularisiertenpostmodernen Gesellschaften zu befruchten.FuldaPeter SchallenbergDie Bedeutung der Religion für die Gesellschaft. Erfahrungen <strong>und</strong> Probleme inDeutschland <strong>und</strong> den USA, hg. v. Anton R a u s c h e r. ± Berlin: Duncker &Humblot 2004. 280 S. (Soziale Orientierung, 17), pb e 48,00 ISBN:3±428±11560±0Der zu besprechende Bd geht auf eine gemeinsame Tagung deutscher<strong>und</strong> amerikanischer Wissenschaftler zur Bedeutung der Religionfür die Gesellschaft im Juli 2002 zurück <strong>und</strong> versammelt 15 Beiträgezu drei Themenschwerpunkten: (1.) zum Verhältnis von Religion<strong>und</strong> Kultur; (2.) zum Verhältnis von Staat, Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft;(3.) zur Rolle der Religion <strong>und</strong> der Bedeutung religiöserOrientierung in ¸säkularen Gesellschaften. Den Reizder Sammlungmacht die Kombination von prominenten US-amerikanischen <strong>und</strong>deutschen Perspektiven aus. Während man hinsichtlich der erwähntenFragestellung gemeinhin geneigt ist, erhebliche Unterschiedezwischen US-amerikanischen <strong>und</strong> westeuropäischen Kontexten zuvermuten, betont der Hg. im Vorwort <strong>und</strong> betonen auch viele derAutoren, dass es hier wie dort eine Tendenzder Verdrängung <strong>des</strong> Religiösenaus gesellschaftlichen, staatlichen <strong>und</strong> kulturellen Zusammenhängengebe, die an Selbstverständlichkeiten der Durchdringungder westlichen Kultur durch die christliche Religion rührten: ¹In beidenKontinenten haben die Bestrebungen zugenommen, unter Berufungauf die weltanschaulich-religiöse Neutralität <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> diepluralistische Gesellschaft die Religion aus allen staatlichen Einrichtungenzu verdrängen <strong>und</strong> sie womöglich auch aus der gesellschaftlichenÖffentlichkeit zu verbannen.ª (5) Während etwa der Spruch¹In God we trustª auf jeder US-Dollarnote noch an das religiöse Bewusstseinerinnere, ¹das bis zu den Vätern der amerikanischen Verfassungzurückreichtª, gebe es heute auch in den USA Bestrebungen,homosexuelle Paare den Institutionen Ehe <strong>und</strong> Familie gleichzustellen(ebd.). In Deutschland seien beispielsweise der hessische ¹Schulgebetsstreitª,¹das skandalöse Kruzifix-Urteil <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>verfassungsgerichts(1995)ª (bei dem man eine staatlich sanktioniertePflicht zum Anbringen von Kreuzen in Schulen für verfassungswidrigerklärte) <strong>und</strong> der ¹Kampf gegen die Abtreibungª (?) Ausdruckdieser Tendenzder Verdrängung <strong>des</strong> Religiösen aus der Öffentlichkeit.Dabei berufe man sich ¹gerne auf das Prinzip der Gleichheit,dem geradezu eine Priorität vor sämtlichen Lebensgebieten eingeräumtwerden sollª, so dass die Gefahr bestehe, ¹daû dem ¸demokratischenAnspruch der Gleichheit auch die für den Christen maûgeblicheSchöpfungswirklichkeit geopfert werden soll <strong>und</strong> die Identitätennicht mehr zu ihrem Recht kommenª (6). Die Marschrichtung istalso im Vorwort bereits abgesteckt.William A. Frank beschreibt zunächst (13±33) das Phänomen ¸western irreligion,<strong>des</strong>sen Kennzeichen es sei, dass zunächst Einzelpersonen in der Überzeugunghandeln, ¹that the immanent realm of history and material existence isthe final horizon for human lifeª (18). Wenn diese, insbesondere in den Elitenverbreitete (vgl. 18), überzeugte oder auch indifferente (vgl. 13; vgl. 18) Beschränkungauf innerweltliche Bezugspunkte der menschlichen Existenz <strong>und</strong><strong>des</strong> geschichtlichen Werdens einer Gemeinschaft die Formen <strong>des</strong> Zusammenlebenserreiche <strong>und</strong> mehr <strong>und</strong> mehr präge, schlieûlich auch die Bedingungender ¹basic relationships of solidarityª verforme, ¹then we can speak of the cultureof irreligionª (18). Ein derartiges Urteil setzt natürlich voraus, dass derAutor eine religiöse Orientierung als konstitutiv für gesellschaftliches Zusammenlebenbetrachtet. Tatsächlich sei ja der Liberalismus nur ein ¹political constructª,der ¹freedom for the practice of different religions in civil peaceª ermögliche,nicht aber ¹freedom from religionª, wie es die ¸western irreligios societyinterpretiere (17). Die gr<strong>und</strong>legenden Fragen der liberalen politischenPhilosophie könne diese letztlich nicht selbst beantworten: ¹[W]hat is the truthof personal and political freedom? What authority legimizes it?ª Es scheinedoch eine solche Autorität geben zu müssen ¹beyond the claims of instrumentalreason, self-interest, and personal autonomyª (17). Wenn dem so ist, sei religiösePraxis <strong>und</strong> Orientierung konstitutiv für das Zusammenleben in modernenGesellschaften: ¹Religion provi<strong>des</strong> for a community of people the ultimaterationale for life.ª (16) Zusammenleben in Gesellschaften sei dann eben nichtmehr nur dem rationalen Vorteilsstreben der Bürger nach materiellem Wohlstand<strong>und</strong> Sicherheit geschuldet, sondern die Religion ¹gives all the membersof its community a common vision and personal motivation with respect to themost important concerns of life. Birth, education, marriage, work, death, groupidentity, knowledge of good and evil ± no major concern of human life is leftwithout a religious significance. In short, civilizations emerge due to the directionand the inspiration of religious authority.ª (16) Anm. 6 auf S. 17 weistdarauf hin, dass sich John Locke (im Brief über Toleranz) in Bezug auf Atheistenausgesprochen skeptisch geäuûert habe: ¹Locke thought that atheistswould not make good citizens.ª Frank leugnet übrigens in seinem Aufsatz nichteine durchaus rege religiöse Praxis; aus den die westliche Kultur formierenden¸Zentren sei diese religiöse Praxis aber weitgehend verschw<strong>und</strong>en ± die westlicheareligiöse Gesellschaft sei in dieser Hinsicht durchaus ambivalent (15;vgl. 18).Zur ¹Begründung unveräuûerlichter Menschenrechte im Kontext neuzeitlicherkultureller Differenzenª äuûert sich Anton Losinger (55±67). Im Anschlussan Jacques Maritain weist Losinger auf das Problem hin, dass 1948zwar die Menschenrechte als praktische Prinzipien, gemeinsame Zielsetzungen<strong>und</strong> als ¸gemeinsamer Nenner allseitige Anerkennung fanden, dass esaber keine Übereinstimmung über eine gemeinsame Begründung der Menschenrechtegegeben habe <strong>und</strong> gebe (59f.). Allerdings scheint doch gerade diesdie Pointe <strong>und</strong> der groûe Vorzug der Menschenrechte zu sein, dass sie auf derRechtsebene gemeinsame (universelle) Standards festlegen, denen auf derEbene der (partikularen) Konzeptionen <strong>des</strong> guten Lebens keine geteilte Begründungsüberzeugungentsprechen muss. Wenn in den Menschenrechtendie Vielfalt weltanschaulicher Begründungsperspektiven ihren ¸kleinsten gemeinsamenNenner findet, ist das doch ein groûartiges Ergebnis. LosingersArgumentation erscheint umso verwirrender, als er selbst einen dezidiert (jüdisch-)christlich-theologischenBegründungsweg vorschlägt: ¹Es geht schlieûlichum den Zugang zu einer transzendenten Begründung der Würde dermenschlichen Person, den die Kirche in ihrem Selbstverständnis als ¸Zeichen<strong>und</strong> Schutzder Transzendenzder menschlichen Person im Dialog mit allenKräften der Gesellschaft immer neu zu vermitteln <strong>und</strong> zu begründen hat.ª (62)Man kann doch nicht im Ernst die fehlende gemeinsame Begründung der Menschenrechtebeklagen, um dann darauf mit einem ganzausgesprochen weltanschaulichen-partikularBegründungsvorschlag zu reagieren. Zumal der Autorim dritten Teil seines Aufsatzes u.a. auf die ¹Menschenrechte im Spannungsfeldweltanschaulich-religiöser Widersprücheª eingeht (63f.). Zunächstwird ¹insbesondere die restaurative Revitalisierung <strong>des</strong> Koran als gelten<strong>des</strong>Staatsrecht <strong>und</strong> die teilweise ideologisch anmutende Verschärfung der Bestimmungenin der Bewegung <strong>des</strong> islamischen F<strong>und</strong>amentalismusª als besorgniserregendbewertet (63). Anstatt aber diese Verbindung von weltanschaulicherOrientierung (Koran) <strong>und</strong> staatlichem Recht, also die fehlende Trennung vonRechtsebene <strong>und</strong> Ebene <strong>des</strong> guten Lebens, mithin die in entsprechenden islamischenKontexten unterbliebene Aufklärung zu kritisieren, richtet sich dieKritik auf den Koran selbst: Es werden zweifellos frauenfeindlich <strong>und</strong> blutrünstiganmutende Textpassagen zitiert, die sich aber selbstverständlich ebensoaus der Bibel zitieren lieûen, ganz zu schweigen von der christlich-theologischenTradition. Das Problem sind eben nicht die zeitgeb<strong>und</strong>enen (aus heutigerSicht:) Irrungen solcher Texte, sondern die heute unzeitgemäûe Verschränkungvon Weltanschauung <strong>und</strong> Recht.Wolfgang Ockenfels differenziert in seinem Beitrag (175±186) demgegenübergerade die Frage der Aufklärung, bezieht den Ausdruck aber nicht auf dieTrennung von Recht <strong>und</strong> weltanschaulicher Gesinnung, sondern auf die Vermittlungchristlicher Glaubensinhalte mit philosophischem Denken bzw. mitder modernen Welt, wobei er überraschend argumentiert: ¹Der Islam brauchtheute eine Aufklärung, wie sie das Christentum bereits im Mittelalter durchThomas von Aquin erfuhr.ª Das aristotelisch-thomasische Naturrechtsdenkenhabe ¹im Christentum für eine gr<strong>und</strong>legende Unterscheidung zwischen Glaube<strong>und</strong> Politik, Kirche <strong>und</strong> Staat, Moral <strong>und</strong> Recht gesorgtª, auf die die ¹Gewaltenteilungeiner freiheitlichen Gesellschaftsordnung mitsamt den Menschenrechtsgarantiengründenª (179). Schlieûlich sei die Interpretation <strong>des</strong> Koransamt der Frage, inwieweit er überhaupt interpretierbar sei, ein Kennzeichenunterbliebener Aufklärung; denn selbst islamische Gelehrte, die zu einer rationalen<strong>und</strong> kritischen Schriftinterpretation neigten, hielten sich aus verschiedenenGründen hinsichtlich der Lehre <strong>des</strong> Propheten sehr zurück. Die ¹Preisfragenfür den künftigen Dialogª zwischen Christentum <strong>und</strong> Islam ¹lauten also:Wie kann sich der Islam 1. auf die allgemeine Religionsfreiheit einlassen. 2.Wie weit lässt er sich entpolitisieren, d.h. von staatlicher Macht trennen? Und3. Wie weit lässt sich die islamische Glaubensgemeinschaft institutionalisierenoder verkirchlichen, ohne ihre ¸Identität preiszugebenª (181). Es liege in derNatur dieser Fragen, daû sich eigentlich zunächst die verschiedenen islamischenTendenzen darüber verständigen müssten. Ein christlich-islamischerDialog steht insofern immer unter dem Vorbehalt innerhalb <strong>des</strong> Islam nicht geklärter,für <strong>des</strong>sen Selbstverständnis aber höchst bedeutender Fragen. Auch dasProblem <strong>des</strong> Zusammenhangs von Religion <strong>und</strong> Gewalt sei davon betroffen,also die Frage etwa, wie entsprechende Textpassagen im Koran, die der wörtlichenBedeutung nach doch auf eine militärisch-kriegerische Interpretation <strong>des</strong>dschihad hinausliefen, in Zukunft interpretiert würden. Für das Christentumverweist Ockenfels auf eine uneinheitliche Entwicklung <strong>und</strong> Irrtümer in derGeschichte, um schlieûlich die klassische Lehre vom gerechten Krieg überzeugendals eine Art Gewalt minimierende Legitimierung der Gewalt zu skizzieren(184f.).
77 2007 Jahrgang 103 THEOLOGISCHE REVUE Nr. 1 78Für eine präzise Unterscheidung hinsichtlich unterschiedlicher inhaltlicherTendenzen <strong>des</strong> Koran einerseits <strong>und</strong> unterschiedlicher Interpretationendieser Inhalte in der Gegenwart andererseits wirbt auch Alberto M. Piedra(187±207). Ob der Islam für den Westen eher eine Herausforderung im positivenSinne oder eine Bedrohung sei, hänge dementsprechend auch oder maûgeblichdavon ab, welche Interpretationslinie sich innerhalb <strong>des</strong> Islam durchsetze<strong>und</strong> welche Textpassagen im Rahmen der islamischen Selbstdefinition inden Mittelpunkt rückten. Das Verständnis <strong>des</strong> dschihad sei in dieser HinsichtDreh- <strong>und</strong> Angelpunkt <strong>des</strong> künftigen Verhältnisses zwischen Christentum <strong>und</strong>Islam. Piedra zeigt in diesem Zusammenhang, dass es selbstverständlich ± beiprinzipieller Texttreue ± unterschiedliche Auslegungstraditionen <strong>des</strong> Korangibt. Freilich lege der Koran selbst unterschiedliche Auslegungen nahe: ¹It isclear that the Qur'an lends itsself to different interpretations. On the one hand,it clearly condemns in the harshest of terms the unbelievers but on the other itcontinuously asserts the existence of a compassionate and forgiving God.ª(196) Neben diesen Text- <strong>und</strong> Interpretationsproblemen weist Piedra auf einenprinzipiellen Unterschied zwischen westlicher Kultur <strong>und</strong> islamischemKulturkreis hin, der für die Entwicklung <strong>des</strong> Verhältnisses beider Kulturen entscheidendsein könnte. ¾hnlich wie es im Kalten Krieg zur Abgrenzungsrhetorik<strong>des</strong> Westens gegenüber den Staaten <strong>des</strong> Warschauer Pakts gehört habe,darauf hinzuweisen, dass diese gottlos seien, gehöre es nun zur identitätsstiftendenpolitischen Rhetorik <strong>des</strong> militanten Islamismus, auf die Gottlosigkeit<strong>des</strong> Westens hinzuweisen. Jenseits strategischer Aspekte verweise diese Rhetorikauf einen wirklichen gr<strong>und</strong>legenden Unterschied zwischen liberalemWesten <strong>und</strong> islamischer Welt: ¹Contrary to a secular West that has lost muchof its Christian theocentric fo<strong>und</strong>ations, Islam continues to be a powerful pointof reference in the Muslim world.ª (202) In dieser Hinsicht sei die Frage, ob derIslam dem Westen als Bedrohung oder Herausforderung entgegentrete, nichtnur eine Frage der islamischen Selbstinterpretation, sondern auch der westlichenSelbstinterpretation. Welche Rolle spielt die religiöse Orientierung inden westlichen Gesellschaften? Diese Frage sei vielleicht die eigentliche Herausforderungfür westlich-säkulare Gesellschaften angesichts der Präsenz<strong>des</strong>Religiösen in islamisch geprägten Gesellschaften: ¹The danger facing the Westlies less in the threat of an external jihad than in the loss of its true Christianidentity.ª (203)Zwei sehr unterschiedliche Aspekte dieses ¸loss of the true Christian identitydiskutieren Jude P. Dougherty in Bezug auf die ¸Säkularisierung der öffentlichenSchulbildung (¹Secularization of Educationª) in den Vereinigten Staaten<strong>und</strong> Jürgen Aretz in Bezug auf die komplexe Faktenlage hinsichtlich derreligiösen Orientierung in den neuen Bun<strong>des</strong>ländern.Dougherty (211±220) weist auf eine erhebliche Veränderung in der Interpretationder für das Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Religion maûgeblichen Zusatzartikelder US-amerikanischen Verfassung durch den Supreme Court nach dem Ende<strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs hin. Seit 1947 ¹the neutrality doctrine that governedlegislation and the courts in the early days of the Republic came to be construednot simply as neutrality among sects but a neutrality between religion and irreligionª(211). Zwar habe es anfangs noch eine Gegenbewegung zu dieser Neuinterpretationgegeben (<strong>und</strong> sei es um der sozio-kulturellen Nützlichkeit derReligion willen), doch habe sich die Ansicht rasch durchgesetzt, dass die staatlicheGesetzgebung nicht nur gegenüber den unterschiedlichen Phänomenenreligiöser Praxis bzw. gegenüber unterschiedlichen Religionen <strong>und</strong> Denominationenneutral sein müsse, sondern auch gegenüber der Frage, welche Bedeutung<strong>und</strong> Rolle religiöse Orientierungen überhaupt haben sollten, insbesondereals Garantie einer gewissen moralischen Gr<strong>und</strong>orientierung. An die Stelle derreligiösen Neutralität sei mithin eine bewusste Indifferenzgegenüber religiösenFragen überhaupt getreten. Den Verlust religiöser Orientierung <strong>und</strong> Bindungbeklagt Dougherty v. a. hinsichtlich <strong>des</strong> Verlusts moralischer Orientierung,u. a., weil im Rahmen der öffentlichen Schulbildung aufgr<strong>und</strong> der Rechtsprechung<strong>des</strong> Supreme Court die Vermittlung religiös f<strong>und</strong>ierter moralischerWerte nur noch sehr eingeschränkt möglich sei. Unter den beiden Voraussetzungen,dass einerseits Erziehung ¹the key to moral behaviourª sei (219) <strong>und</strong>andererseits moralisches Verhalten letztlich in religiöser Orientierung gründe(215±217), muss Dougherty einen fatalen ¸Verlust der Tugend diagnostizieren,der auch auf die höchstrichterlich forcierte religiöse Indifferenz zurückzuführensei.Einige der Thesen Doughertys scheinen die Ausführungen von JürgenAretz in Bezug auf einen ganz anderen Zusammenhang zu bestätigen. So seidie überproportionale Beteiligung von aktiven Christen beider Konfessionensowohl bei den Ereignissen der ¸Wende also auch an den Neuordnungsprozessennach dem Ende der DDR nicht nur auf die ¹nahe liegende Erklärungzurückzuführen, dass nach der Überwindung einer Diktatur die bisher Unterdrücktenbei der Neuordnung <strong>des</strong> Gemeinwesens die zentrale Rolle spielenª,sondern auch die altruistische, weniger selbstbezogene Haltung kirchlich geb<strong>und</strong>enerChristen. Im Anschluss an Gerhardt Schmidtchen betont Aretz, dass¹[k]eine andere soziale Organisation [. ..] dem ¸ethischen Denken <strong>und</strong> Fühleneine vergleichbare ¸deutliche Richtungª gebe: Das ¹Zusammenleben werdebesser, Konflikte würden leichter lösbar, das Bewusstsein für die Problemeder Mitmenschen nehme zuª (223, Gerhard Schmidtchen referierend), sodass der Schluss naheliege: ¹Je mehr aktive Christen, <strong>des</strong>to besser kann derAufbau, die Weiterentwicklung <strong>und</strong> Stabilisierung eines demokratischen Gemeinwesensgelingen.ª (223) Bedauerlich also, dass sich trotzdieser Vorzügeder Christenmenschen keine Rechristianisierung auf dem Gebiet der ehemaligenDDR vollzog. Der Gr<strong>und</strong> dafür habe aber nicht erst in der gezielten Entchristlichungzu Zeiten der DDR, sondern bereits in der protestantischen PrägungMittel- <strong>und</strong> Ostdeutschlands gelegen, denn ¹die Verbindung von Thron<strong>und</strong> Altarª habe die evangelischen Kirchen in Misskredit gebracht <strong>und</strong> zu einerrelativ groûen Distanzder Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaftzu den Kirchen geführt, an die das DDR-Regime nach dem Krieg gut habe anschlieûenkönnen (224f.). Das eigentlich für den Zusammenhang relevantePhänomen in den neuen Bun<strong>des</strong>ländern sei nicht ein Atheismus, sondern religiöseIndifferenz. Das Festhalten an der Jugendweihe, bei der es eher um eininitiationsrituelles Familienfest gehe als um eine anti-kirchliche oder antichristlicheDemonstration, spiegele dies wider. Im Streit um den Religionsunterrichtbzw. um das Schulfach LER müssten sich die Beteiligten allerdingspositionieren, seien gewissermaûen gezwungen, aus der Gleichgültigkeit herauszutreten<strong>und</strong> explizit Stellung zu beziehen zu der Frage, in welchem VerhältnisStaat, Gesellschaft <strong>und</strong> Religion nun stehen sollen (229±231). ¾hnlicheAspekte wie Dougherty <strong>und</strong> Aretzspricht auch Martin Heckel in seinemBeitrag an, der v. a. eine genaue juristische Klärung der diskutierten Problemebietet (141±173).Gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen zur Bedeutung der Religion bzw. religiöserOrientierung für die Demokratie bzw. für demokratische Gesellschaften stelltMichael Novak an, indem er sich in sehr interessanten Ausführungen auf dieSozialtheorie Charles Alexis H. C. de Tocquevilles bezieht (71±87). Im engenAnschluss an Tocqueville schlägt er dann einige Gesichtspunkte vor, die freilichein ± selbst im Vergleich zu anderen Beiträgen <strong>des</strong> B<strong>des</strong> ± extrem konservativesGesellschaftsverständnis widerspiegeln: Es handelt sich dabei um Ergänzungen,die (jüdisch-christlicher) Glaube zur praktischen Vernunft <strong>und</strong>zur Konzeption von Demokratie hinzufüge, die Novak ± wie Alexis de Tocqueville± für unverzichtbar hält (82). Erstens handelt es sich dabei um eine dienormative Orientierung der Bürger stabilisierende Funktion, d. h. religiöse Orientierungevoziert korrektes Verhalten auf unterschiedlichen Praxisebenen(Moral, Sitte, Recht), wie umgekehrt die Erfahrung gezeigt habe, dass die Erosionreligiöser Bindung mit moralischem Verfall einhergehe: ¹Colonial Americanshad already experienced periods of decline in religion, accompanied bya steady moral decline.ª (83). Zweitens seien feste <strong>und</strong> starke Orientierungenhinsichtlich der Bestimmung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Sinns menschlicher Existenzunverzichtbarfür das (alltägliche) menschliche Leben. Während die Philosophiediesbezüglich meistenteils unbestimmt bleibe, biete die Heilige Schrift solide<strong>und</strong> über Generationen erprobte Sinn- <strong>und</strong> moralische Orientierungen (ebd.).Drittens sei es die Religion, die ein Verständnis <strong>des</strong> Menschen als animalischesBündel von Freud <strong>und</strong> Leid (gewissermaûen als besseres Viech) verbiete <strong>und</strong>den Aspekt der menschlichen Seele ins Spiel bringe (83f.). Viertens stabilisierereligiöse Orientierung das menschliche Handeln bis in das Herzhinein, weilsie von einer allwissenden Gerichtsbarkeit ausgehe, die prinzipiell die Vollkommenheitmoralischen Handelns erfordere: ¹Thus, faith adds motives formaintaining high standards, and for seeking to do things perfectly even whenno one is looking. Faith gives us reason to paint the bottom of the chair, andclean the unseen corners of a roomª (84). Der liebe Gott sieht alles! Fünftensschlieûlich regiere der Glaube die häusliche Moral, weil er die Seele <strong>des</strong> Weibesregiere. Das sei die Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben auch inGesellschaft <strong>und</strong> Staat. Es ist nicht ganzklar, inwieweit Novak TocquevillesEinlassungen Relevanzfür die Gegenwart beimisst.Mit dem liberalen Postulat, Religion sei Privatsache, setzen sich die Beiträgevon Anton Rauscher <strong>und</strong> Brian Benestad auseinander. Seinen mit aufschlussreichenAusführungen über die unterschiedlichen historischen Bedingungenreligiöser Praxis in den USA <strong>und</strong> in Westeuropa beginnenden Beitragnutzt Rauscher dann bedauerlicherweise für eine Auseinandersetzung mit derSPD, wobei ihm einige Fehler unterlaufen. ¹Es berührt einen merkwürdig,wenn in zentralen ethischen Fragen wie dem Lebensrecht <strong>des</strong> ungeborenenKin<strong>des</strong> oder der Bedeutung von Ehe <strong>und</strong> Familie in der SPD sich keine Stimmerührt, die sich auf das christliche Menschenbild beruft oder auf das Gr<strong>und</strong>gesetz,das in dieser Frage in gleicher Weise je<strong>des</strong> Leben schützt.ª Wahr ist entgegendieser Darstellung erstens, dass das Gr<strong>und</strong>satzprogramm der SPD dieOrientierung an christlichen Gr<strong>und</strong>werten an prominenter (nämlich an erster!)Stelle nennt: ¹Der demokratische Sozialismus in Europa hat seine geistigenWurzeln im Christentum <strong>und</strong> in der humanistischen Philosophie, in der Aufklärung,in Marxscher Geschichts- <strong>und</strong> Gesellschaftslehre <strong>und</strong> in den Erfahrungender Arbeiterbewegung.ª (Gr<strong>und</strong>satzprogramm der SPD, Leipziger Fassungvon 1998, 10). Wahr ist zweitens, dass SPD-Politiker (RenØ Röspel, WolfgangWodarg) in der Bun<strong>des</strong>tagsdebatte um die Forschung an humanen embryonalenStammzellen, die wenige Monate vor der im besprochenen Bd dokumentiertenTagung, am 30. Januar 2002, stattfand, ausdrücklich <strong>und</strong> wiederholt unterBezugnahme auf Menschenwürde <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz auf das Lebensrecht ungeborenerKinder insistierten. Wahr ist drittens, dass es sich bei der geltendenNeuregelung <strong>des</strong> § 218 um einen Kompromiss zwischen den Volksparteienhandelt, dass also die CDU exakt derselben Regelung zugestimmt hat wie dieSPD. Wahr ist viertens, dass hinsichtlich Präimplantationsdiagnostik <strong>und</strong>Stammzellforschung die Anträge <strong>und</strong> Meinungen sich überhaupt nicht an Parteigrenzenorientierten, dass vielmehr beispielsweise SPD-Politiker (wie WolfgangWodarg, Andrea Nahles, Herta Däubler-Gmelin, Wolfgang Thierse <strong>und</strong>viele weitere) einen strikten Lebensschutzbefürworteten <strong>und</strong> den Antrag aufvölliges Verbot embryonaler Stammzellforschung unterstützten, währendCDU-Politiker wie Heiner Geiûler, Wolfgang Schäuble, Peter Hintze <strong>und</strong> vieleweitere, denen man im Übrigen nicht einfachhin ihre aufrichtige christlicheGesinnung absprechen sollte, den Antrag auf weitgehende Freigabe der Embryonenforschungunterstützten. All das wurde im Jahr 2002 ausführlich auch inder Tagespresse thematisiert <strong>und</strong> wäre dort nachzulesen gewesen. Es kommthier eine merkwürdig unzeitgemäûe ideologische Orientierung <strong>des</strong> Autorszum Ausdruck.