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Wo ist der Beweis? Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin ...

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Evans et al.<strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>?Verlag Hans HuberProgrammbereich <strong>Medizin</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Imogen EvansHazel ThorntonIain ChalmersPaul Glasziou<strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>?<strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>Aus dem Englischen von Karin BeifussDeutsche Ausgabe herausgegeben von Gerd AntesVerlag Hans Huber© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Lektorat: Dr. Klaus ReinhardtHerstellung: Jörg Kl<strong>eine</strong> BüningUmschlaggestaltung: Anzinger Wüschner Rasp, MünchenDruckvorstufe: punktgenau gmbh, BühlDruck und buchbin<strong>der</strong>ische Verarbeitung:AALEXX Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyBibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.Die Verfasser haben größte Mühe darauf verwandt, dass die therapeutischen Angabeninsbeson<strong>der</strong>e von Medikamenten, ihre Dosierungen und Applikationen dem jeweiligenWissensstand bei <strong>der</strong> Fertigstellung des Werkes entsprechen. Da jedoch die <strong>Medizin</strong> alsWissenschaft ständig im Fluss <strong>ist</strong> und menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völligauszuschließen sind, übernimmt <strong>der</strong> Verlag <strong>für</strong> <strong>der</strong>artige Angaben k<strong>eine</strong> Gewähr. Je<strong>der</strong>Anwen<strong>der</strong> <strong>ist</strong> daher dringend aufgefor<strong>der</strong>t, alle Angaben in eigener Verantwortung aufihre Richtigkeit zu überprüfen.Anregungen und Zuschriften an:Verlag Hans HuberLektorat <strong>Medizin</strong>Länggass-Strasse 76CH-3000 Bern 9Tel: 0041 (0)31 300 4500verlag@hanshuber.comwww.verlag-hanshuber.com1. Auflage 2013© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernISBN 978-3-456-85245-8© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


InhaltGeleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe (Gerd Antes) .... 9Geleitwort (Ben Goldacre) ............................. 13Vorwort ............................................. 19Einleitung ........................................... 231 Neu – aber auch besser? .......................... 31Warum wir faire Tests von medizinischen Therapienbrauchen. Unerwartete negative Wirkungen: Thalidomid,Vioxx, Avandia, mechanische Herzklappen. Zu schön,um wahr zu sein: Herceptin2 Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen ........ 45Empfehlungen zur richtigen Schlafposition von Säuglingen– Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen– Diethylstilbestrol – Hormonersatztherapie – Nachtkerzenölbei Ekzemen3 Mehr heißt nicht unbedingt besser ................. 55Intensivtherapien bei Brustkrebs: verstümmelndeOperationen – Knochenmarktransplantation. DenGedanken wagen, weniger zu tun© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


6 Inhalt4 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser ................ 67Lehren aus dem Neuroblastom-Screening. Nutzen undSchaden gegeneinan<strong>der</strong> abwägen: Screenings auf Phenylketonurie,Bauchaortenaneurysma, Brustkrebs, Prostatakarzinomund Lungenkrebs. Genetische Tests. Was manmit Screening erreichen will und warum Evidenz sowichtig <strong>ist</strong>. Ist überhaupt jemand normal?5 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick aufTherapieeffekte umgeht .......................... 89Dramatische Behandlungseffekte: selten und leichterkennbar. Mo<strong>der</strong>ate Behandlungseffekte: normal undnicht ganz so offensichtlich. Wenn Ärzte sich nicht einigsind: Koffein bei Frühgeborenen – Antibiotika beivorzeitigen Wehen – Brustkrebs. Unsicherheiten inBezug auf Therapieeffekte thematisieren. <strong>Medizin</strong>ischeVersorgung im Rahmen fairer Tests anbieten6 Faire Tests von Therapien .......................... 107Warum wir faire Therapietests brauchen. Gleiches mitGleichem vergleichen. Vergleiche von Therapien mitdramatischen Effekten. Vergleiche von Therapien mitmäßigen, aber wichtigen Effekten. Faire Erfassungdes Behandlungsergebnisses. Untersuchungen zuunerwünschten Therapiewirkungen7 Den Zufallsfaktor berücksichtigen ................. 133Der Zufallsfaktor und das Gesetz <strong>der</strong> großen Zahl.Wie man beurteilt, welche Rolle <strong>der</strong> Zufall in fairen Testsgespielt haben könnte. Was bedeutet «signifikanterUnterschied»? Wie man ausreichend große Teilnehmerzahlengewinnt© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Inhalt 78 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz . .... 141Kann <strong>eine</strong> einzige Studie genügen? Systematische Reviews<strong>der</strong> relevanten zuverlässigen Evidenz. Was passierenkann, wenn nicht alle relevante verlässliche Evidenzausgewertet wird. Systematische Reviews am Anfang undam Ende neuer Forschung9 Reglementierung von Therapietests:hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? .......................... 155Sind Reglementierungssysteme das Richtige <strong>für</strong>Therapie studien? Information und Einverständnis.Was Reglementierungssysteme nicht tun10 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung . 167Gute Forschung: Schlaganfall, Präeklampsie, HIV-Infektionbei Kin<strong>der</strong>n. Schlechte Forschung: psychiatrischeStörungen, Epiduralanalgesie bei Wehenschmerzen.Überflüssige Forschung: Atemnotsyndrom, Schlaganfall,Aprotinin. Verkehrte Forschungsprioritäten11 Richtige Forschung geht uns alle an ................ 185Welchen Beitrag können Patienten und Öffentlichkeitzur Verbesserung <strong>der</strong> Forschung le<strong>ist</strong>en? Mitwirkung vonPatienten an <strong>der</strong> Forschung. Wie Patienten faire Therapiestudiengefährden können. Sind Patientenverbändeunabhängig? Zusammenarbeit von Patienten undWissenschaftlern12 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessereGesundheitsversorgung aus? ...................... 199Wie könnten die hier gemachten Vorschläge bei Ihnenselbst aussehen? Partizipative Entscheidungsfindung.Fragen zur Umsetzung von wissenschaftlicher Evidenzin die Praxis. Wie geht es weiter?© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


8 Inhalt13 Aus den richtigen Gründen forschen:ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft ............... 221Leitsätze <strong>für</strong> bessere Forschung: Die richtigen Forschungsfragenstellen – Forschungsvorhaben richtigplanen und durchführen – sämtliche Ergebnisse veröffentlichenund zugänglich machen – unverzerrte undbrauchbare Forschungsberichte erstellen. Entwurf <strong>für</strong><strong>eine</strong> bessere Zukunft. Es <strong>ist</strong> Zeit zu handelnLiteratur ............................................ 233Zusätzliche Quellen ................................... 247Über die Autoren ..................................... 253Sachreg<strong>ist</strong>er .......................................... 255© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Geleitwort zurdeutschsprachigen AusgabeDie <strong>Medizin</strong> und unsere Gesundheitsversorgung gehören zu denbeeindruckendsten Errungenschaften <strong>der</strong> Menschheit und habenunser Leben gerade im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t tiefgehend beeinflusst.Alle Segnungen aus dieser Entwicklung können jedoch nicht verdecken,dass die <strong>Medizin</strong> uns gleichzeitig auch regelmäßig in negativerForm berührt. Medienberichte über Skandale in <strong>der</strong> medizinischenForschung o<strong>der</strong> über ärztliche Kunstfehler zeigen das ebenso wieunsere Ohnmacht, mit <strong>der</strong> wir miterleben müssen, wie nahe Angehörigeo<strong>der</strong> Freunde an <strong>eine</strong>r Krebserkrankung sterben, ohne dassdie <strong>Medizin</strong> dies verhin<strong>der</strong>n kann.Selbst einfache Routinebehandlungen und -eingriffe können unerwartetzu Schäden führen und schlimmstenfalls mit dem Tod enden.Der enorme Nutzen von medizinischen Maßnahmen <strong>ist</strong> untrennbarmit Risiken verbunden. Die <strong>Medizin</strong> war, <strong>ist</strong> und bleibt einRisikogebiet, dessen müssen wir uns bewusst sein. Entscheidungenund Handlungen sind mit <strong>eine</strong>m unvermeidlichen Maß an Unsicherheitbehaftet, das deswegen immer berücksichtigt werden muss.Die Bewertung von Verfahren geschah traditionell aufgrund <strong>der</strong>Erfahrung, die ein Arzt in s<strong>eine</strong>r Praxis im Laufe <strong>der</strong> Jahre sammelte.Während dieses so erworbene Wissen zwangsläufig subjektiv undunsystematisch <strong>ist</strong>, haben die letzten Jahrzehnte <strong>eine</strong> beeindruckendeVerbesserung gezeigt: Das Wissen über Vor- und Nachteileeinzelner medizinischer Verfahren – von Arzneimitteln bis hin zuOperationstechniken – wird immer systematischer durch wissenschaftlicheStudien belegt. Heute <strong>ist</strong> Normalität, dass weltweit jedesJahr Hun<strong>der</strong>ttausende von Patienten ihre Diagnose o<strong>der</strong> Behandlunginnerhalb von klinischen Studien erhalten, damit die Ergebnis-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


10 Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabese an<strong>der</strong>en Patienten zu <strong>eine</strong>m späteren Zeitpunkt zur Verfügungstehen. Jedes Jahr werden deswegen zehntausende Studien durchgeführt,in denen Verfahren A bei <strong>eine</strong>r Hälfte und Verfahren B bei<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hälfte <strong>der</strong> Patienten angewendet wird, um damit dieÜberlegenheit von A o<strong>der</strong> B nachzuweisen, gleichzeitig aber auch,um Hinweise auf mögliche Schäden zu bekommen.Die Information aus den klinischen Studien <strong>ist</strong> in den letztenJahren <strong>eine</strong> mächtige Ergänzung <strong>der</strong> ärztlichen Erfahrung gewordenund hat sogar <strong>eine</strong>n eigenen Namen bekommen: Evidenz. Die <strong>evidenzbasierte</strong><strong>Medizin</strong> o<strong>der</strong> besser Gesundheitsversorgung <strong>ist</strong> ein seit1990 vereinheitlichtes Konzept, unter dem das Wissen aus klinischenStudien systematisch zur Entscheidungsunterstützung herangezogenwird. Nutzer hiervon <strong>ist</strong> in erster Linie <strong>der</strong> Arzt. Heutewerden Entscheidungen jedoch zunehmend nicht mehr vom Arztallein gefällt, son<strong>der</strong>n «partizipativ», d. h. gemeinsam mit dem Patientenund oft auch den Angehörigen. Diese partizipative Entscheidungsfindung– mit dem Arzt auf Augenhöhe – erfor<strong>der</strong>t ein grundlegendan<strong>der</strong>es Verständnis <strong>der</strong> Rollen auf beiden Seiten mitwesentlich mehr Verantwortung aufseiten <strong>der</strong> Patienten, als dastraditionell <strong>der</strong> Fall war. Das erfor<strong>der</strong>t nicht nur die Bereitschaft,diese Verantwortung zu tragen, son<strong>der</strong>n auch zumindest grundlegendeFähigkeiten, die Qualität von Behandlungen so weit zu verstehenund einschätzen zu können, dass die notwendigen Entscheidungenmit dem Arzt geteilt werden können.Damit kommen auf den Patienten völlig neue Anfor<strong>der</strong>ungenzu, die nicht leicht zu bewältigen sind. Mehr Kompetenz <strong>für</strong> dieeigene Gesundheit zu entwickeln, <strong>ist</strong> <strong>für</strong> viele Menschen reizvoll,wenn sie intensiver darüber nachgedacht haben. Daraus entwickeltsich zunehmend mehr Interesse an diesen Themen. Die alles überlagerndeSchlüsselfrage <strong>ist</strong> dabei, ob die möglichen Therapien ihreWirksamkeit und Unbedenklichkeit in geeigneten klinischen Studienbewiesen haben. Das bedeutet k<strong>eine</strong> Abwertung <strong>der</strong> oft jahrelangenVorarbeiten in Theorie, im Labor und im Tierversuch, die dieVoraussetzungen <strong>für</strong> die me<strong>ist</strong>en Verfahren schaffen. Es <strong>ist</strong> nur dieEinsicht, dass <strong>für</strong> den Erfolg <strong>der</strong> eigenen Behandlung nur <strong>der</strong> letzteSchritt entscheidend <strong>ist</strong>, und das <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Nachweis in <strong>eine</strong>r klinischenStudie.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Geleitwort zur deutschsprachigen Ausgabe 11Ben Goldacre beschreibt in s<strong>eine</strong>m folgenden Geleitwort eindrücklichdie vielfältigen Gefahren, die sowohl bei <strong>der</strong> Durchführungwie auch in <strong>der</strong> nachträglichen Verarbeitung und Verbreitung<strong>der</strong> Ergebnisse lauern. Eine <strong>der</strong> Hauptfehlerquellen liegt in Erwartungen,Wünschen und Glauben aller Beteiligten, die dem objektivenWissen aus Studien im Wege stehen und oft zu stark verfälschtenErgebnissen führen. Diese in den letzten Jahrzehnten intensiv untersuchtenFehler haben zu <strong>eine</strong>r Reihe strikter Regeln geführt, die dieStudiendurchführung und Berichterstattung aufwendig und anstrengendmachen. Sie sind jedoch unbedingt notwendig und unverzichtbar,um verlässliche Studienergebnisse zu erhalten, von denenin <strong>der</strong> Folge Gesundheit und Leben an<strong>der</strong>er Patienten abhängen.Dieses Buch <strong>ist</strong> <strong>der</strong> konsequente Versuch, die strengen Regeln<strong>für</strong> verlässliche Information <strong>für</strong> Patienten und Betroffene verständlichund nutzbar zu machen. Dass offensichtlich haltlosen Versprechungenvon Eiferern und Scharlatanen nicht getraut werden kann,haben die me<strong>ist</strong>en Menschen verstanden. Dass man jedoch auchseriösen Wissenschaftlern, Ärzten, Krankenkassen, Behörden undgesundheitspolitischen Organisationen nicht blind vertrauen sollte,<strong>ist</strong> weit weniger leicht einsichtig. Täglich verbreitete Empfehlungenund Versprechungen zeigen das jedoch sofort: Neue Behandlungensind nicht automatisch besser; mehr <strong>ist</strong> nicht notwendigerweise besser;das frühe Erkennen <strong>eine</strong>r Krankheit <strong>ist</strong> k<strong>eine</strong>sfalls immer besser;und etabliert bedeutet nicht immer bewährt!Behauptungen dieser Art führen uns immer wie<strong>der</strong> in die Irre,ihre häufige Wie<strong>der</strong>holung macht sie nicht richtiger. Lei<strong>der</strong> beherrschensie auch das Denken vieler Patienten. In den folgenden Kapitelnwird erklärt, warum vieles, was scheinbar plausibel <strong>ist</strong>, nichtstimmt und uns zu falschen Entscheidungen führt. Neben den systematischenFehlern, die dazu führen, werden auch die Zufallsfehlererläutert, die in Studien an Menschen unvermeidlich sind und dasGeschehen noch weiter komplizieren. Gerade weil Studien an unsMenschen so fehlerträchtig sind, muss größter Wert auf strengewissenschaftliche Regeln bei <strong>der</strong> Durchführung gelegt werden. Diesenicht nur grob zu verstehen, son<strong>der</strong>n auch die Notwendigkeitund den Sinn einzusehen, sollte nach dem Lesen dieses Buches sehrviel leichter möglich sein.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


12 Geleitwort zur deutschsprachigen AusgabeWie<strong>der</strong>holt wurde <strong>der</strong> Vorläufer dieses Buchs als «zu englisch»kritisiert. Die Kritik <strong>ist</strong> <strong>eine</strong>rseits berechtigt, an<strong>der</strong>erseits jedochnicht abzustellen. Die angelsächsischen Län<strong>der</strong> haben, vor allemdurch ihre um Größenordnungen umfangreicheren finanziellenMittel <strong>für</strong> dieses Themenfeld, <strong>eine</strong>n jahrelangen Vorsprung gegenüberDeutschland. Das bezieht sich sowohl auf die Anzahl <strong>der</strong> mitöffentlichen Mitteln durchgeführten Studien als auch auf die systematischeBerücksichtigung von Studienergebnissen in <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung,also <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> <strong>evidenzbasierte</strong>n <strong>Medizin</strong>.Insofern müssen wir mit dem Kompromiss leben, das Verständnisvon klinischen Studien an Studien aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n zuerläutern.Neben den Studien aus englischsprachigen Län<strong>der</strong>n <strong>ist</strong> auch dieÜbertragung <strong>der</strong> Terminologie in die deutsche Sprache <strong>eine</strong> steteHerausfor<strong>der</strong>ung, die viel Aufwand erfor<strong>der</strong>t. Für ihre tatkräftigeMithilfe bedanke ich mich bei Caroline Mavergames und BrittaLang, die wesentlich zur Qualität <strong>der</strong> deutschen Ausgabe beigetragenhaben.Februar 2013Gerd Antes© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


GeleitwortIn <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> sollte es nicht um Autorität gehen, und die wichtigsteFrage, die man bezüglich je<strong>der</strong> Behauptung stellen kann, <strong>ist</strong> ganzeinfach. Sie lautet: «<strong>Wo</strong>her wissen Sie das?» Diese Frage soll im vorliegendenBuch beantwortet werden.Die Beziehung zwischen den verschiedenen medizinischen Berufsgruppenund Patienten hat sich enorm gewandelt. In fernerVergangenheit erschöpfte sich das Training <strong>der</strong> «Kommunikationsfertigkeiten»von Ärzten, soweit überhaupt vorhanden, darin zulernen, wie man <strong>eine</strong>m Patienten verschweigt, dass er an Krebs versterbenwürde. Heute bringen wir den Studierenden bei – und dies<strong>ist</strong> ein direktes Zitat aus den entsprechenden Handouts –, «wie mangemeinsam mit dem Patienten auf ein optimales Gesundheitsergebnishinarbeitet». Wenn sich die <strong>Medizin</strong> heutzutage von ihrer bestenSeite zeigt, dann werden die Patienten, wenn sie wollen, in die Besprechungund Auswahl ihrer Therapien eingebunden.Damit es aber dazu kommen kann, muss jedem klar sein, woherwir wissen, ob <strong>eine</strong> Therapie wirksam <strong>ist</strong>, woher wir wissen, ob sieschädliche Wirkungen hat und wie wir ihre Vor- und Nachteile gegeneinan<strong>der</strong>abwägen können, um das jeweilige Risiko zu bestimmen.Lei<strong>der</strong> fallen Ärzte, genauso wie alle an<strong>der</strong>en auch, diesbezüglichmitunter hinter die Erwartungen zurück. Und was nochbedauerlicher <strong>ist</strong>: Da draußen gibt es ganze Heerscharen, die nurdarauf warten, uns in die Irre zu führen.Doch in allererster Linie sind wir selbst es, die sich täuschen können.Die me<strong>ist</strong>en Krankheiten haben <strong>eine</strong>n natürlichen Verlauf: Siebessern o<strong>der</strong> verschlechtern sich periodisch o<strong>der</strong> auch rein zufällig.Wenn die Symptome sehr schlimm sind, dann kann deshalb auchalles, was man ggf. dagegen unternimmt, den Anschein erwecken,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


14 Geleitwortals habe diese Therapie Wirkung gezeigt, weil sich <strong>der</strong> Zustand desPatienten ohnehin gebessert hätte.Ebenso kann uns auch <strong>der</strong> Placebo-Effekt in die Irre führen: Inmanchen Fällen kann es tatsächlich vorkommen, dass es dem Patienteneinfach deswegen besser geht, weil er ein Scheinmedikamentohne aktive Wirkstoffe genommen hat und glaubt, dass es ihm geholfenhat. Robert M. Pirsig drückte dies in Zen und die Kunst einMotorrad zu warten folgen<strong>der</strong>maßen aus: «Der eigentliche Zweck<strong>der</strong> wissenschaftlichen Methode <strong>ist</strong> es, sich zu vergewissern, ob dieNatur <strong>eine</strong>n nicht zu <strong>der</strong> falschen Annahme verleitet hat, man wüssteetwas, was man in Wirklichkeit nicht weiß.»Und dann gibt es auch noch diejenigen, die gegen wissenschaftlicheStudien zu Felde ziehen. Wenn dieses Buch <strong>eine</strong> wichtigeBotschaft vermittelt, dann <strong>ist</strong> es das Konzept des «fairen Testens» –<strong>eine</strong>n Begriff, den ich selber von an<strong>der</strong>en übernommen und bereitsendlose Male benutzt habe. Nicht alle Studien sind aus dem gleichenHolz geschnitzt, denn es gibt so viele Möglichkeiten, wie <strong>eine</strong>wissenschaftliche Forschungsarbeit verzerrt werden kann und irrtümlicherweise<strong>eine</strong> Antwort gibt, die irgendwer irgendwo <strong>für</strong> die«richtige» hält.Manchmal gehen solche Verzerrungen nur auf Unaufmerksamkeitzurück o<strong>der</strong> entspringen sogar den lautersten Motiven. Ärzte,Patienten, Professoren, Pflegekräfte, Beschäftigungstherapeutenund Gesundheitsmanager – sie alle können <strong>der</strong> Idee aufsitzen, dassdie <strong>eine</strong> Therapie, in die sie persönlich so viel Energie gesteckt haben,die einzig wahre <strong>ist</strong>.Zuweilen kommt es auch aus an<strong>der</strong>en Gründen zu <strong>eine</strong>r Verzerrung<strong>der</strong> Evidenz. Es wäre falsch, sich den oberflächlichen Verschwörungstheorienüber die pharmazeutische Industrie anzuschließen:Sie hat gewaltige, lebensrettende Fortschritte erzielt. Aberin manchen Bereichen <strong>der</strong> Forschung geht es um viel Geld, und ausGründen, die Sie in diesem Buch nachlesen können, werden 90 %<strong>der</strong> Studien von <strong>der</strong> Industrie durchgeführt. Dies kann zu <strong>eine</strong>mProblem werden, wenn die von <strong>der</strong> Industrie gesponserten Studien<strong>für</strong> das Medikament des Sponsors viermal häufiger zu <strong>eine</strong>m positivenErgebnis gelangen als unabhängig finanzierte Studien. Ein neuesMedikament in den Handel zu bringen, kostet bis zu 800 Millio-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Geleitwort 15nen Dollar: Der Löwenanteil davon muss aufgebracht werden, bevordas Medikament überhaupt auf den Markt kommt, und wenn sichdann herausstellt, dass es nichts taugt, <strong>ist</strong> dieses Geld weg. <strong>Wo</strong> soviel auf dem Spiel steht, können die Idealvorstellungen von <strong>eine</strong>mfairen Test schon mal baden gehen. 1Ebenso kann auch die Art und Weise, wie Evidenz kommuniziertwird, verzerrend und irreführend sein. Manchmal liegt das daran,wie die Fakten und Zahlen dargestellt werden: Mitunter geben sienur <strong>eine</strong>n Teil <strong>der</strong> Geschichte wie<strong>der</strong>, beschönigen Schwachstellenund picken sich die wissenschaftlichen Belege heraus, die <strong>eine</strong> Therapiein <strong>eine</strong>m beson<strong>der</strong>s günstigen Licht ersch<strong>eine</strong>n lassen.Doch in <strong>der</strong> Alltagskultur können auch noch sehr viel interessantereProzesse am Werk sein. Verständlicherweise hegen wir denWunsch nach Wun<strong>der</strong>heilung, selbst wenn es in <strong>der</strong> Forschunghäufig nur um bescheidene Verbesserungen, um Risikoverringerungund knappe Ermessensentscheidungen geht. In den Mediengeht dieser Aspekt lei<strong>der</strong> nur allzu oft in <strong>eine</strong>m Schwall von Wörternwie «Heilung», «Wun<strong>der</strong>», «Hoffnung», «Durchbruch» und«Opfer» unter. 2In <strong>eine</strong>r Zeit, in <strong>der</strong> es so vielen Menschen wichtig <strong>ist</strong>, die Kontrolleüber ihr eigenes Leben zu haben und an Entscheidungen überihre Gesundheitsversorgung beteiligt zu sein, <strong>ist</strong> es beson<strong>der</strong>sschmerzlich, mit ansehen zu müssen, wie viele verzerrte Informationenes gibt, denn sie machen ohnmächtig. Manchmal geht es beidiesen verzerrten Darstellungen um ein bestimmtes Medikament:Das vielleicht überzeugendste Beispiel aus <strong>der</strong> jüngeren Vergangenheit<strong>ist</strong> die Darstellung von Herceptin in den britischen Medien alsWun<strong>der</strong>droge gegen Brustkrebs. 3Gelegentlich können diese Eiferer und ihre Freunde in den Medien,wenn sie ihre eigenen Produkte (Therapien) bewerben und diegegen sie sprechenden Belege in Zweifel ziehen, aber auch nochgrößeres Unheil anrichten, indem sie nämlich unsere Auffassungdarüber, woher wir wissen, dass etwas gut o<strong>der</strong> schlecht <strong>für</strong> uns <strong>ist</strong>,aktiv untergraben.Homöopathische Zuckerpillen schneiden nicht besser ab alsSchein-Zuckerpillen, wenn sie in wirklich fairen Tests miteinan<strong>der</strong>verglichen werden. Doch wenn man Homöopathen mit diesen Er-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


16 Geleitwortgebnissen konfrontiert, führen sie ins Feld, dass mit dem ganzenKonzept <strong>der</strong> Durchführung von Studien etwas nicht stimmen könne,dass es irgend<strong>eine</strong>n komplizierten Grund gäbe, warum ausgerechnetihre Pillen als einzige nicht getestet werden können. AuchPolitiker warten, wenn man sie mit den Belegen <strong>für</strong> das Versagenihres bevorzugten Schulungsprogramms zur Verhütung von Teenagerschwangerschaftenkonfrontiert, mitunter mit dieser beson<strong>der</strong>enArt von Verteidigung auf. In Wahrheit kann aber, wie diesesBuch zeigen wird, jede Behauptung, die im Hinblick auf die Wirkung<strong>eine</strong>r Maßnahme (Intervention) aufgestellt wird, <strong>eine</strong>m transparenten,fairen Test unterzogen werden. 4Gelegentlich können diese Verzerrungen das öffentliche Meinungsbildsogar noch tiefer untergraben. So ergab <strong>eine</strong> neuere «systematischeÜbersichtsarbeit» zu allen fairen und unverzerrten Testsvon antioxidativ wirkenden Vitamintabletten, dass es k<strong>eine</strong> Hinweisedarauf gibt, dass ihre Einnahme das Leben verlängern kann (tatsächlichkönnen sie es sogar verkürzen). Bei dieser Art von systematischerZusammenfassung werden – wie dieses Buch wun<strong>der</strong>barerklärt – klare Regeln befolgt: So wird dargelegt, wo nach <strong>der</strong> Evidenzgesucht, welche Evidenz eingeschlossen und wie ihre Qualitätbewertet werden sollte. Aber wenn systematische Übersichtsarbeitenzu <strong>eine</strong>m Ergebnis kommen, das die Behauptungen über antioxidativwirkende Nahrungsergänzungsmittel infrage stellt, sind Unternehmen,Zeitungen und Illustrierte voll <strong>der</strong> falschen Kritik: Siebehaupten, dass <strong>für</strong> diese systematische Übersichtsarbeit aufgrundbestimmter politischer Überzeugungen o<strong>der</strong> offener KorruptionStudien bewusst herausgepickt und positive Belege absichtlich ignoriertworden seien usw. 5Das <strong>ist</strong> bedauerlich. Denn das Konzept <strong>der</strong> systematischen Übersichtsarbeitgehört – wenn man die Gesamtheit <strong>der</strong> Evidenz im Blickhat – in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> eigentlich zu den wichtigsten Errungenschaften<strong>der</strong> letzten 30 Jahre. Während sie ihre kl<strong>eine</strong> Geschäftsnische verteidigen,können Journal<strong>ist</strong>en und Arzneimittelunternehmen dadurch,dass sie den öffentlichen Zugang zu diesen Ideen unterlaufen,uns allen <strong>eine</strong>n Bärendienst erweisen.Und genau da liegt das Problem. Es gibt viele Gründe, warumman dieses Buch lesen sollte. Im einfachsten Fall wird es Ihnen hel-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Geleitwort 17fen, hinsichtlich Ihrer eigenen Gesundheit fundiertere Entscheidungenzu treffen. Wenn Sie im Gesundheitswesen arbeiten, wird das,was Sie in den folgenden Kapitel lesen werden, allem, was sie über<strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong> bislang gelernt haben, haushoch überlegensein. Auf die Bevölkerung bezogen bedeutet das: Wenn mehr Menschenverstehen, was <strong>eine</strong>n fairen Vergleich ausmacht, und erkennenkönnen, ob <strong>eine</strong> Intervention besser <strong>ist</strong> als <strong>eine</strong> an<strong>der</strong>e, dannkönnte sich die Öffentlichkeit – so die Argumentation <strong>der</strong> Autoren– aktiv <strong>für</strong> <strong>eine</strong> stärkere Mitwirkung beim Abbau von Unsicherheitenbei <strong>für</strong> sie wichtigen medizinischen Behandlungen einsetzen,anstatt die Forschung mitunter zu <strong>für</strong>chten.Aber es gibt noch <strong>eine</strong>n weiteren Grund, dieses Buch zu lesen,und zwar um die Tricks <strong>der</strong> Branche kennenzulernen, und dieserGrund hat nichts mit praktischen Überlegungen zu tun: Tatsache<strong>ist</strong>, dass dieses Thema interessant, herrlich und vernünftig <strong>ist</strong>. Undin diesem Buch wird <strong>der</strong> Stoff besser erklärt, als es mir jemals untergekommen<strong>ist</strong>, weil die Menschen, die es geschrieben haben, überErfahrung, Wissen und Empathie verfügen.<strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? rückt den menschlichen Aspekt in den Fokusrealer Fragestellungen. In <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> geht es um das Leiden und denTod von Menschen, aber auch um die menschlichen Schwächen beiEntscheidungsträgern und Forschern: Und das wird in diesem Buchin den persönlichen Geschichten und Zweifeln von Wissenschaftlern,ihren Motiven, Anliegen und Meinungsän<strong>der</strong>ungen eingefangen.Nur selten wird diese Seite <strong>der</strong> Wissenschaft <strong>der</strong> Öffentlichkeit offenbart.Dabei bedienen sich die Autoren sowohl des ernsthaften wissenschaftlichenSchrifttums als auch <strong>der</strong> kurzweiligeren Sparten <strong>der</strong>medizinischen Literatur. So <strong>ist</strong> es ihnen mit diesem Buch gelungen,aus den Diskussionssträngen, die wissenschaftlichen Beiträgen, Kommentaren,Autobiographien und Randnotizen zugrunde liegen, bislangungehobene Schätze ans Tageslicht zu för<strong>der</strong>n.Dieses Buch gehört in jede Schule und alle ärztlichen Wartezimmer.Bis dahin liegt es in Ihrer Hand. Lesen Sie es.August 2011Ben Goldacre© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


VorwortDie erste englische Ausgabe von Testing Treatments, die 2006 erschien,ging von folgen<strong>der</strong> Frage aus: «Wie kann sichergestellt werden,dass Therapieforschung den Bedürfnissen <strong>der</strong> Patienten Rechnungträgt?» Unsere kollektiven Erfahrungen – kollektiv zu diesemZeitpunkt bedeutete, dass Imogen Evans Ärztin (davor Wissenschaftlerinund Journal<strong>ist</strong>in) war, Hazel Thornton <strong>eine</strong> Patientinund unabhängige Laienvertreterin <strong>für</strong> Qualität in <strong>der</strong> Forschungund im Gesundheitswesen und Iain Chalmers aus <strong>der</strong> Gesundheitsversorgungsforschungstammte – hatten gezeigt, dass die Forschungin diesem wichtigen Punkt oftmals versagte. Darüber hinaus waruns nur allzu klar, dass viele (sowohl neue als auch alte) Therapiennicht durch solide Evidenz abgesichert waren. Deshalb haben wirein Buch geschrieben, um durch die För<strong>der</strong>ung des Dialogs zwischenPatienten und Ärzten sowie an<strong>der</strong>en Gesundheitsberufen zu<strong>eine</strong>r kritischeren öffentlichen Bewertung von Therapieeffektenbeizutragen.Ermutigt wurden wir zum <strong>eine</strong>n durch das Interesse, das TestingTreatments bei den Lesern geweckt hat (sowohl an <strong>der</strong> British-Library-Originalausgabe als auch an <strong>der</strong> Online-Version, die unterwww.jameslindlibrary.org kostenfrei zugänglich gemacht wurde),zum an<strong>der</strong>en aber auch durch die Tatsache, dass es sowohl Laienalsauch Fachleser ansprach. In vielen Län<strong>der</strong>n fand die erste Ausgabevon Testing Treatments als Unterrichtsmaterial Verwendung,und inzwischen stehen unter www.testingtreatments.org vollständigeÜbersetzungen zum kostenlosen Herunterladen zur Verfügung.Es war von Anfang an klar, dass Testing Treatments ein work inprogress sein würde; denn es würde fast immer irgend<strong>eine</strong> Unsicherheitüber die Wirkungen von Therapien bestehen bleiben – ganz© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


20 Vorwortgleich, ob es sich dabei nun um neue o<strong>der</strong> bekannte Therapien handelt– und deshalb auch weiterhin nötig sein, alle Therapien ausreichendzu testen. Zu diesem Zweck <strong>ist</strong> es unverzichtbar, sich wie<strong>der</strong>und immer wie<strong>der</strong> mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen (Evidenz)auseinan<strong>der</strong>zusetzen, die vorhandene Evidenz kritisch undsystematisch auszuwerten, bevor man sich neuen Forschungsvorhabenzuwendet, und auch neue Ergebnisse vor dem Hintergrund aktualisiertersystematischer Übersichtsarbeiten zu interpretieren.In <strong>der</strong> zweiten Auflage von Testing Treatments wurden aus dreivier Autoren. Neu hinzugekommen <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Allgemeinmediziner undWissenschaftler Paul Glasziou, <strong>der</strong> es sich zur Aufgabe gemacht hat,hochwertigen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch im PraxisalltagRechnung zu tragen. Mit Pinter & Martin haben wir auch <strong>eine</strong>nneuen Verlag gefunden, <strong>der</strong> die erste Auflage 2010 nachdruckte.Die neue Auflage wird, wie auch schon vorher, kostenlos unterwww.testingtreatments.org zugänglich gemacht.In dieser Neuauflage bleiben wir unseren Grundgedanken treu,doch haben wir den ursprünglichen Text umfassend überarbeitetund aktualisiert. So wurden beispielsweise die Abschnitte über VorundNachteile des Screenings in <strong>eine</strong>m eigenen Kapitel (Kapitel 4)unter <strong>der</strong> Überschrift «Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser»erheblich erweitert. Und in Kapitel 9 («Reglementierung von Therapietests:hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?») beschreiben wir, wie es dazukommen kann, dass Forschung zum Schaden <strong>der</strong> Patienten überkontrolliert wird. Im vorletzten Kapitel (Kapitel 12) stellen wir dieFrage «<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheitsversorgungaus?» und zeigen, wie man die verschiedenen Erkenntnisstränge sozusammenführen kann, dass sich <strong>für</strong> uns alle entscheidende Verbesserungenerzielen lassen. Den Abschluss bilden unser Entwurf <strong>für</strong><strong>eine</strong> bessere Zukunft und ein Aktionsplan (Kapitel 13).Wir hoffen, dass unser Buch zu <strong>eine</strong>m besseren Verständnis darüberbeiträgt, wie Therapien fair getestet werden können und auchfair getestet sollten und welchen Beitrag wir selbst dazu le<strong>ist</strong>en können,damit dies auch passiert. Dieses Buch <strong>ist</strong> kein «Führer zu denbesten Behandlungen» und kein Ratgeber zu den Wirkungen einzelnerTherapien. Vielmehr thematisieren wir gezielt die Aspekte, die<strong>eine</strong> grundlegende Voraussetzung da<strong>für</strong> sind, dass Forschung ein© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Vorwort 21solides Fundament hat, richtig durchgeführt wird, zwischen schädlichenund nützlichen Therapien unterscheiden kann und dazu ausgelegt<strong>ist</strong>, die Fragen zu beantworten, auf die es den Patienten, <strong>der</strong>Öffentlichkeit sowie Ärzten und an<strong>der</strong>en Gesundheitsberufenankommt.DanksagungenFür ihre wertvollen Kommentare und an<strong>der</strong>en Beiträge, die uns bei<strong>der</strong> Bearbeitung <strong>der</strong> zweiten Auflage von Testing Treatments geholfenhaben, danken wir folgenden Personen:Claire Allen, Doug Altman, Patricia Atkinson, Alexandra Barratt,Paul Barrow, Ben Bauer, Michael Baum, Sarah Boseley, Joan Box,Anne Brice, Rebecca Brice, Amanda Burls, Hamish Chalmers, JanChalmers, Yao-long Chen, Olivia Clarke, Catrin Comeau, RhiannonComeau, Katherine Cowan, John Critchlow, Sally Crowe, PhilippDahm, Chris Del Mar, Jenny Doust, Mary Dixon-<strong>Wo</strong>ods, BenDjulbegovic, Iain Donaldson, George Ebers, Diana Elbourne,Murray Enkin, Chrissy Erueti, Curt Furberg, Mark Fenton, LesterFirkins, Peter Gøtzsche, Muir Gray, Sally Green, Susan Green, BenGoldacre, Metin Gülmezoǧlu, Andrew Herxheimer, Jini Hetherington,Julian Higgins, Jenny Hirst, Jeremy Howick, Les Irwig, RayJobling, Bethan Jones, Karsten Juhl Jørgensen, Bridget Kenner,Debbie Kennett, Gill Lever, Alessandro Liberati, Howard Mann,Tom Marshall, Robert Matthews, Margaret McCartney, DominicMcDonald, Scott Metcalfe, Iain Milne, Martin McKee, Sarah Moore,Daniel Nicolae, Andy Oxman, Kay Pattison, Angela Raffle, JuneRaine, Jake Ranson, James Read, Kiley Richmond, Ian Roberts, NickRoss, Peter Rothwell, Karen Sandler, Emily Savage-Smith, MarionSavage-Smith, John Scadding, Lisa Schwartz, Haleema Shakur, RuthSilverman, Ann Southwell, Pete Spain, Mark Starr, Melissa Sweet,Tilli Tansey, Tom Treasure, Ulrich Tröhler, Liz Trotman, Liz Wager,Renee Watson, James Watt, Hywel Williams, Norman Williams,Steven <strong>Wo</strong>loshin, Eleanor <strong>Wo</strong>ods, and Ke-hu Yang.Iain Chalmers und Paul Glasziou danken dem National Institutefor Health Research (Großbritannien) <strong>für</strong> Unterstützung. Darüber© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


22 Vorworthinaus <strong>ist</strong> Paul Glasziou auch dem National Health and MedicalResearch Council (Australien) zu Dank verpflichtet.Ein beson<strong>der</strong>er Dank geht an unseren Verleger Martin Wagnervon Pinter & Martin, <strong>der</strong> uns stets Nachsicht und aufmunterndeUnterstützung entgegengebracht und je<strong>der</strong>zeit <strong>eine</strong>n kühlen Kopfbewahrt hat.August 2011Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers und Paul Glasziou© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


EinleitungEs gibt k<strong>eine</strong> Möglichkeit herauszufinden, wann unsere Beobachtungenüber komplexe Ereignisse in <strong>der</strong> Natur vollständig sind. Unser Wissen<strong>ist</strong> begrenzt, wie Karl Popper betont hat, während unsere Unwissenheitgrenzenlos <strong>ist</strong>. In <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> können wir uns niemals sicher sein,welche Folgen unser Handeln haben wird. Wir können lediglich dasAusmaß <strong>der</strong> Unsicherheit eingrenzen. Dieses Eingeständnis <strong>ist</strong> nichtso pessim<strong>ist</strong>isch, wie es klingt: Behauptungen, die wie<strong>der</strong>holten hartnäckigenInfragestellungen standhalten, erweisen sich oftmals als rechtzuverlässig. Solche ‚sich än<strong>der</strong>nden Wahrheiten’ sind die Baust<strong>eine</strong> <strong>für</strong>die einigermaßen festen Strukturen, auf die sich unser ärztliches Handelnam Krankenbett tagtäglich stützen kann.(William A. Silverman. Where’s the evidence?Oxford: Oxford University Press, 1998, S. 165)Die mo<strong>der</strong>ne <strong>Medizin</strong> kann ungeheure Erfolge verzeichnen. Es <strong>ist</strong>nur schwer vorstellbar, wie das Leben ohne Antibiotika ausgesehenhaben muss. Die Entwicklung weiterer wirksamer Arzneimittel hatdie Behandlung von Herzinfarkten und Bluthochdruck revolutioniertund das Leben an Schizophrenie erkrankter Menschen verän<strong>der</strong>t.Die Impfung von Kin<strong>der</strong>n hat Polio und Diphtherie in denme<strong>ist</strong>en Län<strong>der</strong>n zu <strong>eine</strong>r fernen Erinnerung verblassen lassen, unddank künstlicher Gelenke leiden zahllose Menschen weniger starkan Schmerzen und Beeinträchtigungen. Die mo<strong>der</strong>nen Bildgebungsverfahrenwie Ultraschall, Computertomografie (CT) undMagnetresonanztomografie (MRT, «Kernspin») haben dazu beigetragen,dass genaue Diagnosen gestellt werden können und die Patientendie richtige Behandlung erhalten. Früher kam die Diagnosezahlreicher Krebserkrankungen <strong>eine</strong>m Todesurteil gleich, während© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


24 EinleitungPatienten heutzutage regelrecht mit ihrer Krebserkrankung lebenanstatt daran zu versterben. Und weitgehend hat sich auch HIV/AIDS von <strong>eine</strong>r rasch tödlichen zu <strong>eine</strong>r chronischen (lang dauernden)Krankheit gewandelt.Natürlich sind viele Verbesserungen im Gesundheitswesen aufgrundvon sozialen Fortschritten und Fortschritten im Bereich <strong>der</strong>öffentlichen Gesundheit wie etwa sauberes Leitungswasser, Kanalisationund besseren <strong>Wo</strong>hnverhältnissen zustande gekommen. Dochselbst Skeptikern würde es schwerfallen, die beeindruckendenEin flüsse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen medizinischen Versorgung zu leugnen.Während des letzten halben Jahrhun<strong>der</strong>ts hat <strong>eine</strong> bessere Gesundheitsversorgungwesentlich zu <strong>eine</strong>r höheren Lebenserwartung beigetragenund die Lebensqualität vor allem chronisch kranker Menschenverbessert. 1, 2Doch die Triumphe <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Medizin</strong> können uns leichtdazu verführen, viele <strong>der</strong> aktuellen Probleme zu übersehen. Selbstheute kann sich ein viel zu großer Teil <strong>der</strong> medizinischen Entscheidungsfindungnicht auf ausreichende Belege stützen. Es gibt immernoch zu viele Therapien, durch die Patienten Schaden nehmen können,etliche, die k<strong>eine</strong>n Nutzen haben o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Nutzen nichtnachgewiesen <strong>ist</strong>, und wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, welche die Mühe lohnen, dieaber zu selten angewendet werden. Wie kann das sein, wenn dochjedes Jahr Studien über die Wirkungen von Therapien <strong>eine</strong>n ganzenBerg von Ergebnissen erzeugen? Lei<strong>der</strong> sind die Erkenntnisse oftmalsunzuverlässig, und außerdem befasst sich ein Großteil <strong>der</strong>Forschung nicht mit den Fragen, die aus Sicht <strong>der</strong> Patienten beantwortetwerden müssten.Ein Teil des Problems <strong>ist</strong>, dass Therapieeffekte nur in ganz seltenenFällen klar auf <strong>der</strong> Hand liegen o<strong>der</strong> dramatisch ausfallen. Stattdessenherrscht im Normalfall Unsicherheit darüber, wie gut neueTherapien wirken o<strong>der</strong> ob sie vielleicht sogar mehr schaden alsnützen. Um Therapieeffekte zuverlässig zu identifizieren, sind deshalbsorgfältig geplante faire Tests vonnöten – Tests also, die daraufausgelegt sind, systematische Fehler (Bias) zu verringern und demZufallsfaktor Rechnung zu tragen (s. Kap. 6).Die Unmöglichkeit vorherzusagen, was genau passiert, wenn einMensch <strong>eine</strong> Krankheit entwickelt o<strong>der</strong> <strong>eine</strong> Therapie erhält, be-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Einleitung 25zeichnet man gelegentlich als Franklins Gesetz, nach dem amerikanischenStaatsmann Benjamin Franklin (18. Jahrhun<strong>der</strong>t), <strong>der</strong> einmaldie berühmten <strong>Wo</strong>rte gesprochen hat: «Nichts in dieser Welt <strong>ist</strong>sicher außer dem Tod und den Steuern.» 3 Und doch <strong>ist</strong> FranklinsGesetz unserer Gesellschaft wohl kaum zur zweiten Natur geworden.Auf die Unvermeidlichkeit von Unsicherheit wird in unseren Schulennicht stark genug hingewiesen, und auch nicht auf die grundlegendenKonzepte, wie man Erkenntnisse (Evidenz) gewinnt und interpretierto<strong>der</strong> wie Angaben zu Wahrscheinlichkeiten und Risikenzu verstehen sind. Wie ein Kommentator es einmal formuliert hat:In <strong>der</strong> Schule wurde uns etwas über Chemikalien in Reagenzgläsernbeigebracht, über Gleichungen, mit denen man Bewegung beschreibt,und vielleicht haben wir noch etwas über Photosynthese gelernt. Aberaller Wahrscheinlichkeit nach haben Sie nichts über Todesfälle, Risiken,Stat<strong>ist</strong>ik und die Wissenschaft erfahren, die Sie entwe<strong>der</strong> kurierto<strong>der</strong> aber umbringt. 4Und während die auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhendeangewandte <strong>Medizin</strong> schon zahllose Leben gerettet hat, sowürden Sie arg in Verlegenheit geraten, wenn Sie in <strong>eine</strong>m naturwissenschaftlichenMuseum ein einziges Exponat ausfindig machensollten, das die wichtigsten Prinzipien <strong>der</strong> wissenschaftlichen Untersuchungerklärt.Seien Sie sich nicht zu sicher!«Aber im Laufe <strong>der</strong> Zeit finden wir, suchend, das Bess’re. Sichere Wahrheit erkanntekein Mensch (…) Es <strong>ist</strong> alles durchwebt von Vermutung.»(Xenophanes, 6. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr.)«Ich bin mir immer sicher in Sachen, die man nicht wissen kann.»(Charlie Brown, «Peanuts»)«Unsere zahlreichen Irrtümer zeigen, dass <strong>der</strong> Umgang mit Kausalschlüssen …<strong>eine</strong> Kunst bleibt. Auch wenn wir zu unserer Unterstützung analytische Verfahren,stat<strong>ist</strong>ische Methoden und Konventionen sowie logische Kriterien entwickelthaben, so bleiben die Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangen, letztlich doch<strong>eine</strong> Frage des Ermessens.»(Susser M. Causal thinking in the health sciences.Oxford: Oxford University Press, 1983)© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


26 EinleitungDie Begriffe Unsicherheit und Risiko spielen dabei wirklich <strong>eine</strong> großeRolle. Nehmen wir zum Beispiel die logische Unmöglichkeit, etwas«Negatives zu beweisen» – d. h. zu zeigen, dass etwas nicht ex<strong>ist</strong>ierto<strong>der</strong> dass <strong>eine</strong> Therapie wirkungslos <strong>ist</strong>. Dies <strong>ist</strong> nicht bloß einphilosophischer Streit; es hat auch wichtige praktische Konsequenzen,wie die Erfahrungen mit <strong>eine</strong>m Kombinationspräparat namensBendectin (aktive Wirkstoffe Doxylamin und Pyridoxin bzw. VitaminB 6 ) zeigen. Bendectin (auch unter den Namen Debendox undDiclectin im Handel) wurde Frauen häufig zur Lin<strong>der</strong>ung von Übelkeitin <strong>der</strong> Frühschwangerschaft verordnet. Allerdings kamen baldBehauptungen auf, dass Bendectin Geburtsdefekte verursacht. DieseBehauptung wurde bald in <strong>eine</strong>r ganzen Lawine von Gerichtsprozessenuntersucht. Unter dem Druck all dieser anhängigen Gerichtsverfahrennahmen die Hersteller Bendectin 1983 aus dem Handel. Inmehreren nachfolgenden Übersichtsarbeiten <strong>der</strong> verfügbaren Evidenzkonnte aber k<strong>eine</strong> Unterstützung <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Zusammenhangmit dem Auftreten von Geburtsdefekten erbracht werden – es warnicht möglich, den schlüssigen <strong>Beweis</strong> da<strong>für</strong> zu erbringen, dass esnicht schadet, aber es gab auch k<strong>eine</strong> Anhaltspunkte da<strong>für</strong>, dass Bendectinschädlich war. Ironischerweise war Bendectin da schon vomMarkt genommen worden, und die einzigen <strong>für</strong> die Behandlung <strong>der</strong>morgendlichen Übelkeit bei Schwangeren nun noch verfügbarenMedikamente sind solche, über <strong>der</strong>en Potenzial zur Verursachungvon Geburtsdefekten wir noch viel weniger wissen. 5In <strong>der</strong> Regel kann Forschung solche Unsicherheiten bestenfallsverringern helfen. Therapien können sowohl schaden als auch nützen.Solide, gut durchgeführte Forschung kann die Wahrscheinlichkeitangeben, dass <strong>eine</strong> Therapie <strong>für</strong> ein gesundheitliches ProblemVor- o<strong>der</strong> Nachteile bewirkt, indem sie diese Therapie mit <strong>eine</strong>ran<strong>der</strong>en Therapie o<strong>der</strong> überhaupt k<strong>eine</strong>r Behandlung vergleicht. Daimmer Unsicherheit herrschen wird, <strong>ist</strong> es sinnvoll, <strong>der</strong> Versuchungzu wi<strong>der</strong>stehen, alle Dinge nur schwarz und weiß zu sehen. Denndas Denken in Wahrscheinlichkeiten macht uns stärker. 6 Die Menschenmüssen wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit <strong>eine</strong> Krankheit<strong>eine</strong>n bestimmten Ausgang nimmt – sagen wir die Wahrscheinlichkeit,mit <strong>der</strong> bei <strong>eine</strong>m Bluthochdruck-Patienten ein Schlaganfalleintritt – also die Faktoren, die Einfluss nehmen auf das Risiko <strong>eine</strong>s© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Einleitung 27Schlaganfallereignisses sowie die Wahrscheinlichkeit, dass <strong>eine</strong> Therapiedas Risiko <strong>eine</strong>s Schlaganfallereignisses verän<strong>der</strong>t. Wenn ausreichendverlässliche Informationen vorliegen, können Patientenund Ärzte gemeinsam zu beurteilen versuchen, in welchem Verhältniszueinan<strong>der</strong> die Vor- und Nachteile <strong>eine</strong>r Therapie stehen. Anschließendkönnen sie die Option wählen, die sich <strong>für</strong> den betreffendenPatienten – gemessen an s<strong>eine</strong>n persönlichen Umständenund Präferenzen – am besten eignet. 7Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, die Kommunikation zuverbessern und das Vertrauen zu stärken; es <strong>ist</strong> nicht unser Ziel, dasVertrauen <strong>der</strong> Patienten in die Ärzteschaft zu untergraben. Dazukann es aber nur kommen, wenn die Patienten sich selbst und ihrenÄrzten helfen können, die verschiedenen Behandlungsoptionen kritischzu bewerten.In Kapitel 1 wird kurz erläutert, warum wir faire Therapietestsbrauchen und inwieweit manche neuen Therapien schädliche Wirkungengezeigt haben, mit denen man nicht gerechnet hatte. In Kapitel2 beschreiben wir Fälle, in denen sich erhoffte Therapieeffektenicht eingestellt haben, und beleuchten die Tatsache, dass zahlreicheverbreitet eingesetzte Therapien nicht ausreichend evaluiertsind. Kapitel 3 veranschaulicht, warum <strong>eine</strong> intensivere Therapienicht unbedingt besser <strong>ist</strong>. Kapitel 4 erklärt, warum das Screenengesun<strong>der</strong> Menschen auf Krankheitsfrühzeichen sowohl nachteiligals auch hilfreich sein kann. In Kapitel 5 befassen wir uns mit denvielen Unsicherheiten, die nahezu alle Aspekte <strong>der</strong> Gesundheitsversorgungdurchdringen, und zeigen auf, wie man mit diesen Unsicherheitenumgehen kann.Kapitel 6, 7 und 8 enthalten verschiedene «fachliche Informationen»,die aber in allgemein verständlicher Sprache präsentiert werden.In Kapitel 6 stellen wir die Grundlagen <strong>für</strong> faire Therapietestsdar, wobei beson<strong>der</strong>s darauf abgehoben wird, wie wichtig es <strong>ist</strong>,Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Kapitel 7 beleuchtet die Frage,warum die Berücksichtigung des Zufallsfaktors unerlässlich <strong>ist</strong>,und Kapitel 8 erläutert, warum es so wichtig <strong>ist</strong>, alle relevanten zuverlässigenErkenntnisse systematisch auszuwerten.Kapitel 9 legt dar, warum die Systeme zur Reglementierung vonForschung über Therapieeffekte (in Gestalt von Ethikkommissio-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


28 Einleitungnen und an<strong>der</strong>en Gremien) <strong>für</strong> die Durchführung guter Forschunghin<strong>der</strong>lich sein können, und erläutert, warum diese Art von Reglementierungden Patienteninteressen unter Umständen zuwi<strong>der</strong> laufenkann. In Kapitel 10 werden die wichtigsten Unterschiede zwischenguter, schlechter und überflüssiger Forschung überTherapieeffekte herausgearbeitet; es legt dar, inwieweit Forschunghäufig durch wirtschaftliche und akademische Prioritäten verzerrtwird und es ihr deshalb nicht gelingt, die Fragen zu thematisieren,die <strong>für</strong> das <strong>Wo</strong>hlergehen <strong>der</strong> Patienten wirklich wichtig wären.Kapitel 11 zeigt auf, was Patienten und die Öffentlichkeit tunkönnen, um sicherzustellen, dass Therapien besser getestet werden.In Kapitel 12 wenden wir uns <strong>der</strong> Frage zu, wie robuste Evidenz aus<strong>der</strong> Therapieforschung wirklich zu <strong>eine</strong>r besseren Gesundheitsversorgungdes einzelnen Patienten beitragen kann. Und in Kapitel 13stellen wir unseren Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft vor; den Abschlussdieses Kapitels bildet ein Aktionsplan.In jedem Kapitel wird auf <strong>eine</strong> Auswahl an wichtigen QuellenBezug genommen. Am Ende des Buchs (S. 247) findet sich ein eigenerAbschnitt mit zusätzlichen Quellen. Für alle Leser, die sich mitdem <strong>eine</strong>n o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Aspekt noch näher befassen möchten, bietetdie James Lind Library unter www.jameslindlibrary.org <strong>eine</strong>nguten Einstieg. Die kostenlose elektronische Version <strong>der</strong> zweitenAuflage von Testing Treatments <strong>ist</strong> auf <strong>eine</strong>r neuen Webseite (TestingTreatments Interactive) unter www.testingtreatments.org zu finden;diese Webseite soll im Laufe <strong>der</strong> kommenden Jahre um an<strong>der</strong>eMaterialien ergänzt werden.Die Autoren dieses Buchs haben sich dem Prinzip <strong>eine</strong>s gerechtenZugangs zu <strong>eine</strong>r auf die Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen einge hendenwirkungsvollen Gesundheitsversorgung verpflichtet. Diese sozialeVerantwortung hängt wie<strong>der</strong>um von verlässlichen und zugänglichenInformationen über die Wirkungen von Tests und Therapienab, die aus soli<strong>der</strong> Forschung stammen. Da die Gesundheitsressourcenüberall begrenzt sind, müssen sich Therapien auf robuste Evidenzstützen können und effizient und gerecht eingesetzt werden,wenn die ganze Bevölkerung <strong>eine</strong> Chance haben soll, vom medizinischenFortschritt zu profitieren. Es <strong>ist</strong> unverantwortlich, wertvolleRessourcen auf Therapien zu verschwenden, die nur wenig nützen,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Einleitung 29o<strong>der</strong> ohne guten Grund auf Gelegenheiten zur Überprüfung vonTherapien zu verzichten, über die wir bislang nur wenig wissen.Faire Therapietests sind deshalb von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung,weil es darum geht, allen die gleichen Behandlungsoptionen zuermöglichen.Wir hoffen, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, nach <strong>der</strong> Lektürevon Testing Treatments die Bege<strong>ist</strong>erung <strong>für</strong> dieses Thema mituns teilen und sich daran machen werden, unbequeme Fragen überTherapien zu stellen, Lücken im medizinischen Wissen aufzudeckenund sich an <strong>der</strong> Forschung zu beteiligen, um so Antworten zufinden, von denen Sie selbst und auch alle an<strong>der</strong>en profitierenwerden.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


1Neu – aber auch besser?Warum wir faire Tests von medizinischen TherapienbrauchenWenn die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen nicht in fairen– unverzerrten, unvoreingenommenen – Tests geprüft wird, kann espassieren, dass Ärzte ihren Patienten nutzlose o<strong>der</strong> sogar schädlicheTherapien verordnen, in <strong>der</strong> Annahme, sie würden helfen. Umgekehrtkann es vorkommen, dass nützliche Therapien als nutzlosverworfen werden. Alle Therapien sollten <strong>eine</strong>r solchen fairen Überprüfungunterzogen werden – egal, woher sie stammen, und ganzgleich, ob sie <strong>der</strong> Schulmedizin o<strong>der</strong> eher <strong>der</strong> Komplementär-/Alternativmedizinzuzurechnen sind. Ungeprüfte Theorien über Behandlungseffekte,wie überzeugend sie auch klingen mögen, sindschlicht nicht ausreichend. Denn es <strong>ist</strong> schon vorgekommen, dassdie Wirksamkeit von Behandlungen rein theoretisch vorhergesagt,diese Annahme durch «faire Tests» aber wi<strong>der</strong>legt wurde. In wie<strong>der</strong>an<strong>der</strong>en Fällen gab es zuversichtliche Vorhersagen über die Unwirksamkeit<strong>eine</strong>r Therapie, bis Therapiestudien den Gegenbeweiserbrachten.Naturgemäß neigen wir zu <strong>der</strong> Auffassung, dass «neu» – wie in<strong>der</strong> Waschmittelwerbung – immer mit «besser» gleichgesetzt wird.Doch wenn man neue Therapien fair bewertet, dann <strong>ist</strong> die Wahrscheinlichkeit,dass sie schlechter abschneiden als bereits bestehendeBehandlungen, ebenso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass siesich als besser erweisen. Ebenso natürlich <strong>ist</strong> unsere Neigung, etwas<strong>für</strong> sicher und wirksam zu halten, nur weil wir es schon lange kennen.Doch in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> gibt es unzählige Beispiele da<strong>für</strong>, dassTherapien aus Gewohnheit o<strong>der</strong> fester Überzeugung angewendet© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


32 Neu – aber auch besser?werden und nicht, weil ihre Wirksamkeit durch verlässliche Hinweiseaus klinischen Studien (Evidenz) belegt <strong>ist</strong>: Therapien, dieoftmals gar nicht helfen und manchmal sogar erheblichen Schadenanrichten.Dass wir «faire Tests» <strong>für</strong> die Wirksamkeit medizinischer Behandlungenbrauchen, <strong>ist</strong> nichts Neues: Schon im 18. Jahrhun<strong>der</strong>twendete James Lind (Abb. 1) <strong>eine</strong>n solchen fairen Test an. Er wolltewie in <strong>eine</strong>m Experiment sechs Heilmittel vergleichen, die s<strong>eine</strong>rzeitzur Behandlung von Skorbut angewendet wurden – <strong>eine</strong>r Krankheit,<strong>der</strong> auf langen Seereisen unzählige Seeleute zum Opfer fielen.Lind erbrachte den <strong>Beweis</strong>, dass Orangen und Zitronen, von denenwir heute wissen, dass sie Vitamin C enthalten, ein sehr wirksamesHeilmittel waren.Als James Lind 1747 als Schiffsarzt an Bord <strong>der</strong> HMS Salisburydiente, brachte er zwölf s<strong>eine</strong>r Skorbut-Patienten mit vergleichbaremKrankheitsstadium im selben Teil des Schiffs unter und sorgteda<strong>für</strong>, dass sie dieselbe Nahrung erhielten. Dies war entscheidend,denn er schaffte damit «gleiche Ausgangsbedingungen» (s. Kap. 6Abbildung 1: Der schottische Schiffsarzt James Lind (1716–1794) mit den von ihmverfassten Büchern und <strong>der</strong> Titelseite s<strong>eine</strong>r berühmtesten Schrift. In dieser Schrift hatte er<strong>eine</strong> 1747 durchgeführte kontrollierte Studie dokumentiert, mit <strong>der</strong> er nachweisen konnte,dass Orangen und Zitronen zur Behandlung von Skorbut wirksamer waren als fünf an<strong>der</strong>edamals übliche Behandlungen (s. www.jameslindlibrary.org).© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 33und Kasten in Kap. 3, S. 61). Je zwei Seeleute teilte Lind darauf jeweils<strong>eine</strong>r <strong>der</strong> damals bei Skorbut üblichen Behandlungen (Apfelwein,Schwefelsäure, Essig, Meerwasser, Muskatnuss) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> «Behandlung»mit zwei Orangen und <strong>eine</strong>r Zitrone zu. Die Südfrüchtesiegten mühelos. Die Admiralität ordnete später auf allen Schiffendie Ausgabe von Zitronensaft an – mit dem Ergebnis, dass die tödlicheKrankheit in <strong>der</strong> britischen Marine gegen Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tsnur noch Geschichte war.Die damalige britische «Ärztekammer», das Royal College of Physicians,favorisierte von den Behandlungen, die Lind verglich, dieSchwefelsäure, während die Admiralität dem Essig den Vorzug gab.Linds faire Untersuchung erbrachte den Nachweis, dass beide Autoritätendamit falsch lagen. Erstaunlicherweise kommt es gar nicht soselten vor, dass einflussreiche Experten sich irren. Sich allzu sehr aufMeinungen, Gewohnheiten o<strong>der</strong> Präzedenzfälle anstatt auf die Ergebnissefairer Tests zu verlassen, stellt auch heute noch ein schwerwiegendesProblem im Gesundheitswesen dar (s. u. und Kap. 2).Anekdoten sind Anekdoten«Unser Gehirn scheint auf Anekdoten programmiert zu sein, und am leichtestenlernen wir ja auch mithilfe spannen<strong>der</strong> Geschichten. Doch macht es mich immerwie<strong>der</strong> fassungslos, wie viele Menschen, darunter auch nicht wenige m<strong>eine</strong>rFreunde, die darin liegenden Tücken nicht erkennen. In den Naturwissenschaftenweiß man, dass Anekdoten und persönliche Erfahrungen uns auf verhängnisvolleWeise in die Irre führen können. Was man hier braucht, sind überprüfbare undwie<strong>der</strong>holbare Ergebnisse. In <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> dagegen kommt man damit nicht allzuweit. Zwischen den einzelnen Menschen bestehen zu viele Unterschiede, als dassman sich s<strong>eine</strong>r Sache völlig sicher sein könnte, wenn es um den einzelnenPatienten geht. Deshalb <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Spielraum <strong>für</strong> Mutmaßungen häufig recht groß.Aber es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, denn sonst wärendie Wissenschaften verraten und verkauft: Es würde gepfuscht werden, undFakten und Meinungen würden sich vermischen, bis wir kaum mehr das <strong>eine</strong>vom an<strong>der</strong>en unterscheiden könnten.»Ross N. Foreword. In: Ernst E, ed. Healing, hype, or harm? A critical analysisof complementary or alternative medicine. Exeter: Societas, 2008:vi-vii.Heutzutage werden Unsicherheiten hinsichtlich <strong>der</strong> Wirkungen vonTherapien oftmals dann deutlich, wenn Ärzte und an<strong>der</strong>e Klinikersich über das jeweils beste Vorgehen bei <strong>eine</strong>r Krankheit uneinigsind (s. Kap. 5). Bei <strong>der</strong> Ausräumung dieser Unsicherheiten kommt© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


34 Neu – aber auch besser?sowohl den Patienten und <strong>der</strong> Öffentlichkeit, aber auch den Ärztenselbst <strong>eine</strong> wichtige Rolle zu. Patienten sowie Gesundheitsexpertenhaben ein vitales Interesse daran, dass in <strong>der</strong> Erforschung medizinischerBehandlungen strikte Regeln eingehalten werden. Zum <strong>eine</strong>nmuss Ärzten die Gewissheit gegeben werden, dass ihre Behandlungsempfehlungenauf soli<strong>der</strong> Evidenz beruhen, zum an<strong>der</strong>enmüssen die Patienten darauf bestehen, dass genau dies <strong>der</strong> Fall <strong>ist</strong>.Nur durch den Aufbau dieser kritischen Partnerschaft kann die ÖffentlichkeitVertrauen in das haben, was die mo<strong>der</strong>ne <strong>Medizin</strong> zubieten hat (s. Kap. 11, 12 und 13).Unerwartete negative WirkungenThalidomidEin beson<strong>der</strong>s abschreckendes Beispiel <strong>für</strong> ein neues Medikament,das mehr Schaden als Nutzen 1 gebracht hat, <strong>ist</strong> Thalidomid, das inDeutschland unter dem Namen «Contergan» verkauft wurde. DiesesSchlafmittel wurde gegen Ende <strong>der</strong> 1950er-Jahre als <strong>eine</strong> angeblichsichere Alternative zu den damals regelmäßig verordnetenBarbituraten auf den Markt gebracht; denn an<strong>der</strong>s als bei den Barbituratenführte <strong>eine</strong> Überdosierung von Thalidomid nicht zumKoma. Thalidomid wurde speziell <strong>für</strong> Schwangere empfohlen, beidenen es auch zur Lin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> morgendlichen Übelkeit eingesetztwurde.Zu Beginn <strong>der</strong> 1960er-Jahre beobachteten Geburtshelfer beiNeugeborenen dann aber <strong>eine</strong> starke Zunahme von Fällen schwererArm- und Beinfehlbildungen. Diese bis dahin seltene Form vonFehlbildungen führte zu <strong>der</strong>art extrem verkürzten Gliedmaßen, dassHände und Füße direkt aus dem Körper zu wachsen schienen.Deutsche und australische Ärzte führten diese Fehlbildungen beiSäuglingen darauf zurück, dass die Mütter in <strong>der</strong> FrühschwangerschaftThalidomid eingenommen hatten. 2Ende 1961 nahm <strong>der</strong> Hersteller Thalidomid vom Markt. Erstviele Jahre später – nach öffentlichen Kampagnen und gerichtlichenAuseinan<strong>der</strong>setzungen – begann man den Opfern <strong>eine</strong> Entschädi-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 35gung zu zahlen. Der durch diese verheerenden Fehlbildungen angerichteteSchaden war immens hoch. In den rund 46 Län<strong>der</strong>n, in denenÄrzte Thalidomid verordnet hatten (in einigen Län<strong>der</strong>n war essogar frei verkäuflich), waren Tausende von Säuglingen betroffen.Ärzte, pharmazeutische Industrie und Patienten waren angesichts<strong>der</strong> Thalidomid-Tragödie gleichermaßen fassungslos. In <strong>der</strong> Folgekam es weltweit zu <strong>eine</strong>r Neugestaltung <strong>der</strong> Prozesse, die die Entwicklungund Zulassung von Arzneimitteln steuern. 3Eine tragische Epidemie von Blindheit bei Babys«Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche neue Therapieneingeführt, welche die Überlebenschancen von Frühgeborenen verbessern sollten.Im Laufe <strong>der</strong> nächsten paar Jahre zeigte sich jedoch in schmerzlicher Weise,dass verschiedene Än<strong>der</strong>ungen bei den pflegerischen Maßnahmen völlig unerwarteteschädliche Wirkungen zeitigten. Die bedeutendste dieser tragischen klinischenErfahrungen war die in den Jahren 1942 bis 1954 auftretende ‹Epidemie›von Blindheit, <strong>der</strong> sogenannten Frühgeborenen-Retinopathie o<strong>der</strong> retrolentalenFibroplasie. Wie sich herausstellte, stand diese Erkrankung mit <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Sauerstoffzufuhrim Rahmen <strong>der</strong> Behandlung von unvollständig entwickelten Neugeborenenin Zusammenhang. Der zwölf Jahre währende Kampf gegen denAusbruch <strong>der</strong> Krankheit machte auf ernüchternde Weise deutlich, wie wichtig es<strong>ist</strong>, alle medizinischen Neuerungen <strong>eine</strong>r gründlichen Bewertung zu unterziehen,bevor sie zur allgem<strong>eine</strong>n Anwendung zugelassen werden.»Silverman WA. Human experimentation: a guided step into the unknown.Oxford: Oxford University Press, 1985: vii-viii.VioxxDoch obwohl die Arzneimittelprüfrichtlinien erheblich verschärftwurden, können selbst die besten Prüfmethoden k<strong>eine</strong> absoluteSicherheit garantieren. Nichtsteroidale Antiphlog<strong>ist</strong>ika (NSAID)sind ein gutes Beispiel da<strong>für</strong>, warum wir so etwas wie Arzneimittelüberwachungbrauchen. Gewöhnlich werden NSAID außer zurSchmerzlin<strong>der</strong>ung und Entzündungshemmung bei verschie denenErkrankungen (z. B. Arthritis) auch zur Fiebersenkung eingesetzt.Zu den «traditionellen» NSAID gehören viele frei verkäufliche Medikamentewie Aspirin und Ibuprofen. Zu ihren Nebenwirkungenzählen bekanntlich Magen- und Darmreizungen, die zu Dyspepsie(«Verdauungsstörungen») und gelegentlich auch zu Blutungenund sogar gastrischen Ulzera (Magengeschwüren) führen können.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


36 Neu – aber auch besser?Die Arzneimittelhersteller hatten folglich gute Gründe, nachNSAID zu suchen, die k<strong>eine</strong> dieser Komplikationen nach sichziehen.Rofecoxib (besser bekannt unter s<strong>eine</strong>m Handelsnamen Vioxx,auch als Ceoxx bzw. Ceeoxx vermarktet) wurde 1999 als <strong>eine</strong> vermeintlichsicherere Alternative zu den älteren Substanzen eingeführtund schon bald darauf häufig verordnet. Kaum fünf Jahrespäter nahm <strong>der</strong> Hersteller Vioxx wegen <strong>eine</strong>s erhöhten Risikos <strong>für</strong>kardiovaskuläre Komplikationen wie Herzinfarkt und Schlaganfallvom Markt. Was war passiert?1999 hatte Vioxx von <strong>der</strong> US-amerikanischen Zulassungsbehörde(Food and Drug Admin<strong>ist</strong>ration, FDA) die Zulassung zur «Lin<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Zeichen und Symptome von Arthrose, zur Behandlungakuter Schmerzen bei Erwachsenen und zur Behandlung von Menstruationssymptomen»(d. h. Regelschmerzen) erhalten. Später wurdedie Zulassung auf die Lin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Zeichen und Symptomerheumatoi<strong>der</strong> Arthritiden bei Erwachsenen und Kin<strong>der</strong>n erweitert.Im Laufe <strong>der</strong> Entwicklung von Vioxx waren die Wissenschaftler desPharmaunternehmens auf die potenziell schädlichen Wirkungenaufmerksam geworden, die das Medikament auf das Blutgerinnungssystemdes Körpers hat und die das Risiko <strong>der</strong> Blutgerinnselbildungerhöhten. Die hauptsächlich kl<strong>eine</strong>n Studien, die im Rahmendes Zulassungsverfahrens bei <strong>der</strong> FDA eingereicht wurden,hatten sich jedoch auf den Nachweis <strong>der</strong> entzündungshemmendenEffekte von Vioxx konzentriert und waren nicht <strong>für</strong> die Untersuchung<strong>der</strong> möglichen Komplikationen ausgelegt gewesen. 4Bereits vor <strong>der</strong> FDA-Zulassung hatte das Unternehmen <strong>eine</strong> großeStudie begonnen, in <strong>der</strong> bei Patienten mit rheumatoi<strong>der</strong> Arthritishauptsächlich die gastrointestinalen Nebenwirkungen mit denenvon Naproxen, <strong>eine</strong>m an<strong>der</strong>en NSAID, verglichen werden sollten.Auch diese Studie war nicht speziell <strong>für</strong> den Nachweis kardiovaskulärerKomplikationen ausgelegt. Darüber hinaus kamen später nochFragen nach Interessenkonflikten bei den Mitglie<strong>der</strong>n des unabhängigenDatenüberwachungskomitees (Data and Safety MonitoringBoard, DSMB) auf (ein Gremium, das mit <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong>Studienergebnisse betraut <strong>ist</strong>, um beim Vorliegen ausreichen<strong>der</strong>Gründe <strong>eine</strong> Studie ggf. vorzeitig abzubrechen).© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 37Dennoch ließen die Ergebnisse – die zeigten, dass Vioxx wenigerEpisoden von Magenulzera und gastrointestinalen Blutungen verursachteals Naproxen – <strong>eine</strong> höhere Anzahl von Herzinfarkten in<strong>der</strong> Vioxx-Gruppe erkennen. Immerhin wurde <strong>der</strong> in <strong>eine</strong>r bekanntenmedizinischen Fachzeitschrift veröffentlichte Studienberichtheftig kritisiert. Zu den Vorwürfen gehörte, dass die Auswertungund Darstellung <strong>der</strong> Ergebnisse so gewählt worden war, dass sie dieSchwere <strong>der</strong> kardiovaskulären Risiken herunterspielten. Der Herausgeber<strong>der</strong> Zeitschrift klagte später darüber, dass die Forscherkritische Daten zu diesen Nebenwirkungen zurückgehalten hätten.Allerdings waren die Ergebnisse, die <strong>der</strong> FDA im Jahre 2000 vorgelegtund von ihrem Arthritis-Beirat 2001 diskutiert worden waren,schließlich <strong>der</strong> Anlass da<strong>für</strong>, dass die FDA die Sicherheitsinformationauf dem Vioxx-Etikett 2002 um den Hinweis auf ein erhöhtesHerzinfarkt- und Schlaganfallrisiko ergänzen ließ.Der Arzneimittelhersteller setzte s<strong>eine</strong> Untersuchungen zu weiterenAnwendungsmöglichkeiten von Vioxx fort und begann imJahr 2000 <strong>eine</strong> Studie, in <strong>der</strong> geprüft werden sollte, ob das Medikamentkolorektale Polypen (kl<strong>eine</strong> gutartige Tumoren im unterenDarm, aus denen sich ein kolorektales Karzinom entwickeln kann)verhin<strong>der</strong>n konnte. Diese Studie wurde vorzeitig abgebrochen, alsZwischenergebnisse erkennen ließen, dass das Medikament mit <strong>eine</strong>merhöhten Risiko <strong>für</strong> kardiovaskuläre Komplikationen vergesellschaftetwar. In <strong>der</strong> Folge nahm <strong>der</strong> Hersteller Vioxx 2004 ausdem Handel. Im veröffentlichten Studienbericht behaupteten dieStudienautoren, die we<strong>der</strong> beim Hersteller angestellt waren nochBeratungshonorare vom Unternehmen erhalten hatten, dass diekardiovaskulären Komplikationen erst nach 18-monatiger Einnahmevon Vioxx auftraten. Diese Behauptung beruhte auf <strong>eine</strong>r fehlerhaftenDatenauswertung und wurde später von <strong>der</strong> Zeitschrift, inwelcher <strong>der</strong> Studienbericht erschienen war, offiziell richtiggestellt. 4Trotz <strong>der</strong> zahlreichen jur<strong>ist</strong>ischen Schritte, die Patienten im Anschlussunternahmen, behauptet <strong>der</strong> Hersteller weiterhin, dass dasUnternehmen je<strong>der</strong>zeit – angefangen bei den Zulassungsstudien bishin zur Sicherheitsüberwachung nach <strong>der</strong> Markteinführung vonVioxx – verantwortlich gehandelt habe. Das Unternehmen bekräftigtezudem s<strong>eine</strong> Überzeugung, dass die Belege zeigen würden, dass© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


38 Neu – aber auch besser?vorbestehende kardiovaskuläre Risikofaktoren und nicht Vioxx verantwortlichzu machen seien. 5Der Vioxx-Skandal zeigt, dass auch ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t nachThalidomid noch immer viel zu tun bleibt, um die faire Überprüfung<strong>der</strong> Wirksamkeit von Behandlungen, die Transparenz des Prozessesund die Robustheit <strong>der</strong> Belege gewährle<strong>ist</strong>en zu können. Wieeinige Kommentatoren es ausgedrückt haben:Unser System beruht darauf, dass die Interessen <strong>der</strong> Patienten an ersterStelle stehen. Die Zusammenarbeit zwischen in <strong>der</strong> Forschung tätigenÄrzten, praktizierenden Ärzten, <strong>der</strong> Industrie und den Fachzeitschriften<strong>ist</strong> <strong>für</strong> die Erweiterung unserer Kenntnisse und die Verbesserung<strong>der</strong> Patientenversorgung essenziell. Vertrauen <strong>ist</strong> ein notwendiger Bestandteildieser Partnerschaft. Allerdings machen die jüngsten Ereignissedie Einrichtung geeigneter Systeme zum Schutz <strong>der</strong> Patienteninteressenerfor<strong>der</strong>lich. Ein erneutes Bekenntnis aller Beteiligten und dieEinrichtung besagter Systeme stellen die einzige Möglichkeit dar, wieman dieser unglücklichen Geschichte noch etwas Positives abgewinnenkann. 4Avandia2010 schaffte es ein weiteres Medikament wegen unerwünschterNebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System in die Schlagzeilen:und zwar Rosiglitazon, besser bekannt unter s<strong>eine</strong>m HandelsnamenAvandia. Zehn Jahre zuvor war Avandia von europäischen undUS-amerikanischen Zulassungsbehörden als ein neuer Ansatz in <strong>der</strong>Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen worden. Diese Form desDiabetes tritt auf, wenn <strong>der</strong> Körper nicht genug Insulin produzierto<strong>der</strong> wenn die Körperzellen nicht auf Insulin ansprechen. Siekommt sehr viel häufiger vor als <strong>der</strong> Typ-1-Diabetes, bei dem <strong>der</strong>Körper überhaupt kein Insulin herstellen kann. Der Typ-2-Diabetes,<strong>der</strong> oftmals mit Adipositas (Fettleibigkeit) einhergeht, <strong>ist</strong> durchErnährungsumstellung, körperliche Bewegung und orale Medikamenteneinnahme(statt <strong>der</strong> Injektion von Insulin) normalerweisegut behandelbar. Zu den Langzeitkomplikationen des Typ-2-Diabetesgehört ein erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Das© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 39Hauptziel <strong>der</strong> Behandlung <strong>ist</strong> es daher, das Risiko <strong>für</strong> diese Komplikationenzu verringern.Beworben wurde Avandia damit, dass es die Wirkung des körpereigenenInsulins auf <strong>eine</strong> neue Weise verbessere und dass es denälteren Medikamenten bei <strong>der</strong> Kontrolle des Blutzuckerspiegelsüber legen sei. Dabei stand <strong>der</strong> Blutzucker im Mittelpunkt und nichtdie schwerwiegenden, Leiden verursachenden Komplikationen,welche die Patienten letztendlich umbringen.Als Avandia zugelassen wurde, gab es wenige aussagekräftige Belege<strong>für</strong> s<strong>eine</strong> Wirksamkeit und k<strong>eine</strong> Nachweise <strong>für</strong> s<strong>eine</strong> Auswirkungenauf das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Die Zulassungsbehördenfor<strong>der</strong>ten den Hersteller deshalb zur Durchführungzusätzlicher Studien auf, denn inzwischen wurde Avandia weltweithäufig und bege<strong>ist</strong>ert verschrieben. Dann tauchten aber allmählicherste Berichte über unerwünschte kardiovaskuläre Effekte auf, <strong>der</strong>enAnzahl stetig zunahm. 2004 zeigte sich die Weltgesundheitsorganisation(WHO) <strong>der</strong>art beunruhigt, dass sie den Hersteller auffor<strong>der</strong>te,die Evidenz bezüglich dieser Komplikationen noch einmalzu überprüfen. Der Hersteller kam dieser Auffor<strong>der</strong>ung nach undbestätigte das erhöhte Risiko. 6Allerdings dauerte es weitere sechs Jahre, bevor die Zulassungsbehördendie Evidenz genauer unter die Lupe nahmen und handelten.Im September 2010 verkündete die FDA, dass die Anwendungvon Avandia rigoros auf Patienten beschränkt werden müsse, <strong>der</strong>enTyp-2-Diabetes mit an<strong>der</strong>en Medikamenten nicht beherrschbar sei,und im selben Monat empfahl die europäische Arzneimittelzulassungsbehörde(European Medicines Agency, EMA), Avandia im Laufe<strong>der</strong> nächsten zwei Monate vom Markt zu nehmen. Beide Behördengaben als Grund <strong>für</strong> ihre Entscheidung das erhöhteHerzinfarkt- und Schlaganfallrisiko an. Mittlerweile wurde in unabhängigenUntersuchungen <strong>eine</strong> lange L<strong>ist</strong>e verpasster Handlungsmöglichkeitenaufgezeigt, und aus den Reihen <strong>der</strong> Ärzteschaftwurde auf die grundsätzliche Notwendigkeit hingewiesen, dass Zulassungsbehördenund Ärzte «bessere Nachweise verlangen müssten,bevor wir uns auf die Massenmedikation <strong>eine</strong>r großen Gruppevon Patienten einlassen, die sich zur Beratung und Behandlung anuns wenden». 7© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


40 Neu – aber auch besser?Mechanische HerzklappenMedikamente sind aber nicht die einzigen Therapieformen, dieunerwartete negative Auswirkungen haben können: Auch nichtmedikamentöseBehandlungen können schwerwiegende Risikenbergen. Bei Patienten mit <strong>eine</strong>r schweren Herzklappenerkrankungzählen mechanische Herzklappen heutzutage zu den Standardtherapien.Das Design <strong>der</strong> Herzklappen wurde im Laufe <strong>der</strong> Jahremehrfach verbessert. Wie die Erfahrungen mit <strong>eine</strong>m bestimmtenTyp von mechanischer Klappe allerdings gezeigt haben, hatte <strong>eine</strong>rdieser Verbesserungsversuche desaströse Folgen. In den frühen1970er-Jahren kam die sogenannte Björk-Shiley-Herzklappe inden Handel. Die frühen Modelle waren jedoch anfällig <strong>für</strong> Thrombosen(Blutgerinnselbildung), was ihre Funktion beeinträchtigte.Zur Behebung dieses Nachteils wurde das Design Ende <strong>der</strong>1970er-Jahre modifiziert, um die Gefahr <strong>der</strong> Gerinnselbildung zuverringern.Die neue Bauform umfasste <strong>eine</strong> von zwei Metallbügeln (demGerüst) gehaltene Scheibe, von denen weltweit viele tausend Exemplareimplantiert wurden. Lei<strong>der</strong> hatte die Klappenstruktur <strong>eine</strong>ngravierenden Nachteil: Einer <strong>der</strong> Bügel neigte dazu abzubrechen(sogenannte Bügelfraktur), mit <strong>der</strong> Folge <strong>eine</strong>r katastrophalen undoftmals tödlichen Klappenfehlfunktion.Wie es <strong>der</strong> Zufall wollte, waren die Bügelbrüche bereits während<strong>der</strong> Prüfungen vor dem Inverkehrbringen <strong>der</strong> Prothesen als Problemerkannt worden. Dies hatte man jedoch <strong>der</strong> fehlerhaften Verschweißung<strong>der</strong> Bügel zugeschrieben, <strong>der</strong>en Ursache nicht vollständiguntersucht wurde. Nichtsdestotrotz wurde diese Erklärung von<strong>der</strong> FDA ebenso akzeptiert wie die Versicherung des Herstellers,dass das Bügelfrakturrisiko durch die Senkung des Risikos <strong>für</strong> Klappenthrombosenmehr als ausgeglichen wurde. Als die <strong>Beweis</strong>e <strong>für</strong>das desaströse Klappenversagen nicht mehr ignoriert werden konnten,handelte die FDA schließlich und erzwang 1986 den Rückruf<strong>der</strong> Klappen, aber erst nachdem Hun<strong>der</strong>te von Patienten unnötigerweiseverstorben waren. Auch wenn die Systeme zur Produktreglementierunginzwischen verbessert worden sind und <strong>eine</strong> bessereBeobachtung <strong>der</strong> Patienten nach <strong>der</strong> Markteinführung sowie© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 41flächendeckende Patientenreg<strong>ist</strong>er umfassen, besteht bei <strong>der</strong> Einführungneuer <strong>Medizin</strong>produkte nach wie vor ein dringen<strong>der</strong> Bedarf<strong>für</strong> größere Transparenz. 8Zu schön, um wahr zu seinHerceptinKommerzielle Unternehmen sind nicht die einzigen, welche dieVorzüge neuer Therapien lauthals verkünden, während sie ihreNachteile herunterspielen. Auch <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong>betrieb kann so etwasaufbauschen, ebenso wie die enthusiastische Berichterstattung inden Medien – und beide tragen dazu bei, die Vorteile herauszustreichenund gleichzeitig ihre potenziellen Nachteile zu missachten. Beidiesen Nachteilen kann es sich nicht nur um schädliche Nebenwirkungenhandeln, son<strong>der</strong>n auch um diagnostische Probleme, wie dieEreignisse im Zusammenhang mit dem BrustkrebsmedikamentTrastuzumab, besser bekannt unter s<strong>eine</strong>m Handelsnamen Herceptin,gezeigt haben (s. auch Kap. 3).Anfang 2006 veranlassten lautstarke For<strong>der</strong>ungen von PatientenundÄrzteverbänden, angeheizt von <strong>der</strong> pharmazeutischen Industrieund den Massenmedien, den staatlichen britischen Gesundheitsdienst(National Health Service, NHS) dazu, Patientinnen mitBrustkrebs im Frühstadium Herceptin zugänglich zu machen. DiePatientinnen mit ihren hartnäckigen For<strong>der</strong>ungen (und ihrer sogenanntenPester Power) triumphierten, und Herceptin wurde alsJahrhun<strong>der</strong>tmedikament vorgestellt (s. Kap. 11).Damals war Herceptin aber nur <strong>für</strong> die Behandlung von metastasiertem(gestreutem) Brustkrebs zugelassen und <strong>für</strong> Brustkrebs imFrühstadium nicht ausreichend getestet worden. Tatsächlich hatte<strong>der</strong> Hersteller die Zulassung <strong>für</strong> die Behandlung von Frühstadien <strong>der</strong>Erkrankung bei <strong>eine</strong>r sehr kl<strong>eine</strong>n Untergruppe von Frauen – die <strong>für</strong>ein als HER2 bezeichnetes Protein positiv getestet worden waren –gerade erst beantragt. Dieses genetische Profil findet sich aber nurbei <strong>eine</strong>r von fünf Frauen. Über die Schwierigkeiten und Kosten, diemit <strong>der</strong> genauen Klärung <strong>der</strong> Frage, ob <strong>eine</strong> Patientin HER2-positiv© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


42 Neu – aber auch besser?<strong>ist</strong>, verbunden sind, und über die Möglichkeiten <strong>eine</strong>r falschen Diagnose– und damit auch <strong>eine</strong>r «falsch positiven» Behandlung wurde in<strong>der</strong> bege<strong>ist</strong>erten, aber unkritischen Presse nur selten berichtet. Undes wurde auch nicht darauf hingewiesen, dass mindestens vier vonfünf Brustkrebspatientinnen nicht HER2-positiv sind.9, 10, 11, 12Das britische National Institute for Health und Clinical Excellence(NICE) – das mit dem Deutschen Institut <strong>für</strong> Qualität und Wirtschaftlichkeitim Gesundheitswesen (IQWiG) vergleichbar und wiedieses mit <strong>der</strong> unparteiischen Prüfung medizinischer Evidenz und<strong>der</strong> Erarbeitung von Empfehlungen beauftragt <strong>ist</strong> – konnte Herceptinerst im späteren Verlauf des Jahres 2006 als Behandlungsoption<strong>für</strong> Frauen mit HER2-positivem Mammakarzinom im Frühstadiumempfehlen. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt wurde <strong>eine</strong> deutlicheWarnung ausgesprochen. Weil sich die Hinweise verdichteten, dassHerceptin unerwünschte Wirkungen auf die Herzfunktion habenkönnte, riet NICE allen Ärzten, vor <strong>der</strong> Verordnung des Medikamentsdie Herzfunktion <strong>der</strong> Patientinnen zu prüfen. Frauen mitHerzproblemen (von Angina pectoris bis hin zu Herzrhythmusstörungen)sollte das Medikament nicht angeboten werden. NICE warzu <strong>der</strong> Auffassung gelangt, dass angesichts <strong>der</strong> vorliegenden Kurzzeitdatenüber die Nebenwirkungen, von denen einige als schwereingestuft wurden, Vorsicht geboten sei. Bis Langzeitwirkungen –nützliche wie schädliche – erkennbar werden, kann geraume Zeitvergehen. 13Ähnlicher Druck wurde, was die Anwendung von Herceptinbetraf, auch in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n ausgeübt. In Neuseeland beispielsweisefor<strong>der</strong>ten Patientenorganisationen, Presse und Medien, Arzneimittelherstellerwie auch Politiker einmütig, dass BrustkrebspatientinnenHerceptin erhalten sollten. Zu <strong>eine</strong>r vergleichbarenEinschätzung <strong>der</strong> Evidenz über die Anwendung von Herceptin beimMammakarzinom im Frühstadium kam auch die neuseeländischePharmaceutical Management Agency (PHARMAC), die <strong>eine</strong> ähnlicheFunktion erfüllt wie das IQWiG in Deutschland und NICE inGroßbritannien. Im Juni 2007 entschied die PHARMAC aufgrundihrer Prüfungsergebnisse, dass bei Patientinnen mit Brustkrebs imFrühstadium die neunwöchige Gabe von Herceptin angebracht sei.Zudem sollten Herceptin und an<strong>der</strong>e Antikrebsmedikamente nicht© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Neu – aber auch besser? 43nacheinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n gleichzeitig verabreicht werden. DieserNeun-<strong>Wo</strong>chen-Zyklus gehörte zu den drei Therapieschemata, diedamals auf <strong>der</strong> ganzen Welt ausprobiert wurden. Zudem beschlossPHARMAC die Mitfinanzierung <strong>eine</strong>r internationalen Studie, mit<strong>der</strong> die ideale Dauer <strong>der</strong> Herceptin-Therapie bestimmt werden sollte.Im November 2008 ignorierte die neu gewählte RegierungPHARMACs <strong>evidenzbasierte</strong> Entscheidung und sagte die Finanzierung<strong>eine</strong>s 12-monatigen Behandlungszyklus mit Herceptin zu. 14Vom Strudel mitgerissenIm Jahr 2006 sah sich <strong>eine</strong> Patientin in Großbritannien, die selber Ärztin war,unversehens von <strong>der</strong> Herceptin-Welle erfasst. Im Jahr zuvor war bei ihr die Diagnose<strong>eine</strong>s HER2-positiven Mammakarzinoms gestellt worden.«Vor m<strong>eine</strong>r Diagnose wusste ich nur wenig über die mo<strong>der</strong>ne Behandlung vonBrustkrebs und zog, wie viele Patientinnen, deshalb Online-Quellen zu Rate. Diebritische Brustkrebsstiftung Breast Cancer Care führte auf ihrer Internetseite <strong>eine</strong>Kampagne mit dem Ziel durch, allen Frauen mit HER2-positivem Brustkrebs Herceptinzugänglich zu machen; ich unterzeichnete die Petition, weil ich angesichts<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Internetseite und in den Medien veröffentlichten Daten einfach nichtverstehen konnte, warum man Frauen ein so wirksames Medikament vorenthaltensollte, die es bei <strong>eine</strong>m Rezidiv [Krankheitsrückfall] ohnehin erhalten würden.… Mir war, als hätte ich kaum <strong>eine</strong> Chance, m<strong>eine</strong> Krebserkrankung zu überleben,wenn ich dieses Medikament nicht bekäme! Zudem wurde ich auch noch von <strong>der</strong>Zeitschrift The Sun kontaktiert, welche die Herceptin-Kampagne unterstützte undsich an m<strong>eine</strong>r Geschichte – aus <strong>der</strong> Sicht <strong>eine</strong>r Ärztin und <strong>eine</strong>s ‹Krebsopfers›– interessiert zeigte.Nach Beendigung <strong>der</strong> Chemotherapie sprach ich mit m<strong>eine</strong>m Onkologen über <strong>eine</strong>Behandlung mit Herceptin. Er äußerte Bedenken, denn bei <strong>der</strong> Behandlung über<strong>eine</strong>n längeren Zeitraum waren in Studien kardiale Effekte [Auswirkungen auf dasHerz] beobachtet worden, denen man auf besagter Internetseite und seitens <strong>der</strong>Medien aber nur sehr wenig Beachtung geschenkt hatte, zumal das Medikament jaansonsten gesunden Frauen verabreicht würde. Darüber hinaus übersetzte sich <strong>der</strong>‹50 %-Vorteil›, <strong>der</strong> vielfach zitiert worden war und sich in m<strong>eine</strong>m Kopf festgesetzthatte, <strong>für</strong> mich persönlich tatsächlich in <strong>eine</strong>n 4- bis 5-prozentigen Vorteil, dem eingleich hohes kardiales Risiko gegenüberstand! Also entschied ich mich gegen dieEinnahme des Medikaments und werde zu dieser Entscheidung wohl auch dannnoch stehen, wenn <strong>der</strong> Tumor wie<strong>der</strong> auftreten sollte.Diese Geschichte zeigt, dass sogar <strong>eine</strong> medizinisch ausgebildete und normalerweiserational denkende Frau anfällig wird, wenn bei ihr <strong>eine</strong> potenziell lebensbedrohlicheKrankheit diagnostiziert wird. … Ein Großteil <strong>der</strong> Informationen zurAnwendung von Herceptin bei Brustkrebs im Frühstadium entstammte demRiesenrummel, <strong>der</strong> von den Medien und <strong>der</strong> Industrie künstlich erzeugt unddurch Einzelfälle wie den m<strong>eine</strong>n angeheizt worden war.»Cooper J. Herceptin (rapid response). BMJ. Eingestellt am 29. November 2006unter www.bmj.org.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


44 Neu – aber auch besser?Im Zusammenhang mit Herceptin bleiben viele Fragen offen, z. B.wann und wie lange das Medikament verordnet werden sollte, obdie Vorteile durch die bei einigen Frauen auftretenden Langzeitschädenaufgewogen werden und ob das Medikament das Wie<strong>der</strong>auftreten<strong>der</strong> Krebserkrankung verzögert bzw. verhin<strong>der</strong>t. Und eswurden weitere Bedenken geäußert, u. a. auch dass Herceptin, wennes in Kombination mit an<strong>der</strong>en Brustkrebsmitteln wie Anthrazyklinenund Cyclophosphamid verabreicht wird, das Risiko <strong>der</strong> Patientinnen<strong>für</strong> unerwünschte Wirkungen auf das Herz (von rund 4 aufetwa 27 Patientinnen pro 100) erhöhen kann. 15• Die Überprüfung neuer Therapien <strong>ist</strong> notwendig, weil die Wahrscheinlichkeit,dass neue Therapien schlechter sind als bestehendeBehandlungen, ebenso hoch <strong>ist</strong> wie die Wahrscheinlichkeit, dass siebesser sind.• Verzerrte (unfaire) Tests von medizinischen Behandlungen könnenaufseiten des Patienten Leiden und Tod verursachen.• Die Tatsache, dass <strong>eine</strong> Therapie zugelassen <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> k<strong>eine</strong> Gewährda<strong>für</strong>, dass sie auch sicher <strong>ist</strong>.• Oftmals dauert es gewisse Zeit, bis die Nebenwirkungen <strong>eine</strong>r Therapieerkennbar werden.• Die nützlichen Effekte <strong>eine</strong>r Therapie werden häufig übertrieben,während ihre schädliche Wirkungen heruntergespielt werden.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


2 Erhoffte, aber nichteingetretene WirkungenManche Behandlungen werden bereits längere Zeit angewandt, bevorerkannt wird, dass sie mehr schaden als nutzen und die erhofftenEffekte möglicherweise nicht eingetreten sind. In diesem Kapitelerklären wir, wie es dazu kommen kann.Empfehlungen zur richtigen Schlafpositionvon SäuglingenDenken Sie bloß nicht, dass nur Medikamente Schaden anrichtenkönnen – auch Ratschläge können tödliche Folgen haben. VieleMenschen haben schon einmal von dem amerikanischen Kin<strong>der</strong>spezial<strong>ist</strong>enDr. Benjamin Spock gehört. Sein Bestseller Baby andChild Care (dt. Säuglings- und Kin<strong>der</strong>pflege) wurde vor allem in denUSA und Großbritannien im Laufe mehrerer Jahrzehnte zu <strong>eine</strong>rArt «Bibel». Bei <strong>eine</strong>m sehr gut gemeinten Ratschlag hatte sich Dr.Spock allerdings furchtbar geirrt. Mit scheinbar unbestreitbarer Logik– und sicher auch mit <strong>eine</strong>m gewissen Maß an Autorität – stellteer von 1956 bis in die späten 1970er-Jahre folgende Behauptung auf:Es hat zwei Nachteile, wenn ein Baby auf dem Rücken schläft. Zum<strong>eine</strong>n kann es, wenn es erbricht, eher an dem Erbrochenen ersticken.Zum an<strong>der</strong>en neigt ein Säugling dazu, s<strong>eine</strong>n Kopf auf dieselbe Seite zudrehen … dies könnte die Kopfseite abflachen … M<strong>eine</strong>r Meinungnach sollte man ein Baby besser daran gewöhnen, von Anfang an aufdem Bauch zu schlafen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


46 Erhoffte, aber nicht eingetretene WirkungenDie Empfehlung, Babys zum Schlafen auf den Bauch zu legen,wurde in Krankenhäusern zum Standard und von Millionen Elternauch zu Hause pflichtbewusst befolgt. Heute wissen wir jedoch, dassdiese Maßnahme – die niemals gründlich evaluiert wurde – zu Tausendenvermeidbaren Fällen von plötzlichem Kindstod führte. 1 Alsin den 1980er-Jahren dann eindeutige Belege <strong>für</strong> die schädlichenWirkungen des Schlafens in Bauchlage verfügbar wurden, begannenÄrzte und die Medien vor den Gefahren dieser Praxis zu warnen,woraufhin die Anzahl <strong>der</strong> Fälle von plötzlichem Kindstod drastischabzunehmen begann. Verstärkt wurde diese Botschaft später durchkonzertierte «Wie<strong>der</strong> ruhig schlafen!»-Kampagnen, mit denen <strong>der</strong>negative Einfluss von Dr. Spocks bedauerlicher Empfehlung ein <strong>für</strong>alle Mal aus <strong>der</strong> Welt geschafft werden sollte (Abb. 2).Medikamente zur Korrektur vonHerzrhythmusstörungen bei Herzinfarkt-PatientenDr. Spocks Empfehlung mag logisch angemutet haben, doch beruhtesie auf <strong>eine</strong>r ungeprüften Theorie. An<strong>der</strong>e Beispiele <strong>für</strong> die Gefährlichkeit<strong>eine</strong>s solchen Vorgehens sind nicht beson<strong>der</strong>s schwer zufinden. Nach <strong>eine</strong>m Herzinfarkt kommt es bei manchen Menschenzu Herzrhythmusstörungen – sogenannten Arrhythmien. Patientenmit solchen Arrhythmien haben ein höheres Risiko, vorzeitig zuversterben, als Patienten ohne Arrhythmien. Da es Medikamentegibt, mit denen sich diese Arrhythmien unterdrücken lassen, schiendie Annahme, dass diese Medikamente damit auch das Risiko, nach<strong>eine</strong>m Herzinfarkt zu versterben, senken würden, nur folgerichtigzu sein. Tatsächlich hatten diese Medikamente aber genau den gegenteiligenEffekt. Sie waren zwar in klinischen Studien getestetworden, aber nur, um herauszufinden, ob sie Herzrhythmusstörungenverringerten. Als die aus klinischen Studien angesammeltenDaten 1983 erstmals systematisch ausgewertet wurden, ergaben sichaber k<strong>eine</strong> Hinweise darauf, dass diese Medikamente auch die Sterberate<strong>der</strong> betroffenen Patienten senkten. 2Dennoch wurden die Medikamente fast ein Jahrzehnt lang weiterverordnet – und waren auch weiterhin <strong>für</strong> den Tod von Menschen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen 471956 empfiehltDr. Spock jetztdie Bauchlage«Wie<strong>der</strong> gut (auf dem Rücken)schlafen!»-Kampagnenin den USAin Großbritannien1950 1960 1970 1980 1990 2000 20101946 empfiehltDr. Spockdie RückenlageErste Studie mitVerdacht aufschädliche WirkungZweite Studiemit Verdacht aufschädliche WirkungDrei weitere Studien:zwei davon legenschädliche WirkungnaheVeröffentlichung<strong>eine</strong>rsystematischenÜbersichtsarbeitAbbildung 2: Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Empfehlungen zur richtigen Schlafposition von Säuglingenim zeitlichen Verlauf.verantwortlich. Auf dem Höhepunkt ihrer Anwendung in den späten1980er-Jahren sollen <strong>eine</strong>r Schätzung zufolge allein in den USAjedes Jahr Zehntausende von vorzeitigen Todesfällen durch dieseMedikamente verursacht worden sein. Sie töteten jährlich mehrAmerikaner als die Kampfhandlungen im gesamten Vietnamkrieg. 3Später stellte sich heraus, dass die Ergebnisse einiger früher Studien,die erste Hinweise auf die tödliche Wirkung <strong>der</strong> Medikamente gegebenhatten, aus kommerziellen Gründen nie veröffentlicht wordenwaren (s. Kap. 8, S. 146). 4DiethylstilbestrolEs gab <strong>eine</strong> Zeit, da bestand in <strong>der</strong> Ärzteschaft Unsicherheit darüber,ob man Schwangeren mit vorausgegangenen Fehl- und Totgeburtennicht mit <strong>eine</strong>m synthetischen (nichtnatürlichen) Östrogennamens Diethylstilbestrol (DES) helfen könne. Manche Ärzte ver-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


48 Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungenschrieben es, an<strong>der</strong>e nicht. DES war in den frühen 1950er-Jahrenrecht populär geworden, denn man glaubte, es könne <strong>eine</strong> Funktionsstörung<strong>der</strong> Plazenta beheben, die <strong>für</strong> die Schwangerschaftsproblemeverantwortlich gemacht wurde. Ermutigt worden warendie Frauen, die DES anwendeten, durch einzelne (anekdotische)Fallberichte über Frauen mit früheren Fehl- und Totgeburten, dienach <strong>der</strong> Behandlung mit DES ein lebendes Kind geboren hatten.So verordnete z. B. ein britischer Geburtshelfer <strong>eine</strong>r Frau mitzwei vorausgegangenen Totgeburten das Medikament von <strong>der</strong>Frühschwangerschaft an. Die Schwangerschaft endete mit <strong>der</strong> Geburt<strong>eine</strong>s lebenden Babys. Mit <strong>der</strong> Begründung, dass die «natürliche»Fähigkeit <strong>der</strong> Frau zum Austragen <strong>eine</strong>r erfolgreichen Schwangerschaftsich im Laufe <strong>der</strong> Zeit möglicherweise verbessert habe,wurde während ihrer vierten Schwangerschaft auf die Gabe vonDES verzichtet: Das Baby verstarb in <strong>der</strong> Gebärmutter aufgrund <strong>eine</strong>r«Plazenta-Insuffizienz». Deshalb bestanden bei Mutter und Geburtshelferwährend <strong>der</strong> fünften und sechsten Schwangerschaft <strong>der</strong>Frau auch k<strong>eine</strong>rlei Zweifel, dass erneut DES gegeben werden sollte.Beide Schwangerschaften endeten mit lebendgeborenen Kin<strong>der</strong>n.Sowohl <strong>der</strong> Geburtshelfer als auch s<strong>eine</strong> Patientin schlossen darausauf die Wirksamkeit von DES. Lei<strong>der</strong> war die Richtigkeit dieser aufeinzelnen Fallberichten beruhenden Schlussfolgerung nie in fairenStudien nachgewiesen worden. Tatsächlich waren nämlich im selbenZeitraum, in dem diese Frau behandelt wurde, unverzerrte Studiendurchgeführt und veröffentlicht worden, die k<strong>eine</strong> <strong>Beweis</strong>e <strong>für</strong>den Nutzen von DES liefern konnten. 5Obwohl also k<strong>eine</strong> Evidenz aus fairen Wirksamkeitsstudien vorlag,die belegte, dass DES zur Verhütung von Totgeburten wirksamwar, endete die DES-Geschichte hier noch nicht. Hinweise auf dieschädlichen Nebenwirkungen tauchten erst 20 Jahre später auf, alsdie Mutter <strong>eine</strong>r sehr jungen, an <strong>eine</strong>m seltenen Vaginalkarzinomerkrankten Frau <strong>eine</strong> sehr wichtige Beobachtung äußerte. Der Mutterwar während <strong>der</strong> Schwangerschaft DES verordnet worden, undsie hatte den Verdacht, dass die Krebserkrankung ihrer Tochterdurch dieses Medikament verursacht worden sein könnte. 6 In diesemFall war die Beobachtung richtig. Noch wichtiger aber war, dassauch <strong>der</strong> Nachweis ihrer Richtigkeit erbracht wurde. In zahlreichen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen 49Studien sowohl bei Männern als auch Frauen, die im MutterleibDES ausgesetzt gewesen waren, wurde seitdem <strong>eine</strong> Vielzahl anschwerwiegenden Nebenwirkungen von DES nachgewiesen. Dazugehörten neben dem vermehrten Vorkommen seltener Krebsartenauch an<strong>der</strong>e Anomalien des Fortpflanzungsapparats.Als endlich offiziell verlautbart wurde, dass DES nicht in <strong>der</strong>Schwangerschaft angewendet werden sollte, waren bereits mehrereMillionen Menschen dem Medikament ausgesetzt worden. Nachheutigem Kenntnisstand kann man sagen, dass viel weniger ÄrzteDES verschrieben hätten, wenn sie die sehr zuverlässige wissenschaftlicheEvidenz zu DES genutzt hätten, die in den 1950er-Jahrenverfügbar war. Denn <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>, dass DES bezüglich <strong>der</strong> Beschwerden,<strong>für</strong> die es in erster Linie verordnet wurde, auch wirkte, war imGrunde nie erbracht worden. Tragischerweise war das Fehlen <strong>der</strong>Wirksamkeitsbelege auf breiter Front übersehen worden. 7HormonersatztherapieBei Frauen in <strong>der</strong> Menopause <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Hormonersatztherapie (engl.hormone replacement therapy, HRT) zur Lin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> häufig auftretendenund belastenden Hitzewallungen sehr wirksam, und esgibt etliche Anhaltspunkte da<strong>für</strong>, dass sie auch vorbeugend gegenOsteoporose (Knochenschwund) wirkt. Nach und nach wurden <strong>der</strong>HRT immer mehr positive Effekte zugeschrieben, u. a. auch die Verhütungvon Herzinfarkten und Schlaganfällen, sodass Millionenvon Frauen auf ärztlichen Rat hin die HRT wegen dieser und weitererangeblicher Vorteile längerfr<strong>ist</strong>ig anzuwenden begannen. DieGrundlage <strong>für</strong> diese Behauptungen war allerdings mehr als schwach.Sehen wir uns nur einmal die Herzinfarkte an. Mehr als 20 Jahrelang hat man Frauen erzählt, dass die HRT ihr Risiko <strong>für</strong> dieseschwere Krankheit reduziert – tatsächlich beruhte diese Aussage aufden Ergebnissen verzerrter (unfairer) Studien (s. Kap. 1 und Kap. 6).1997 wurde dann <strong>eine</strong> Warnung herausgegeben, dass diese Aussagefalsch sein könnte: Forscher aus Finnland und Großbritannien hattendie Ergebnisse gut durchgeführter Studien systematisch ausgewertet8 und dabei festgestellt, dass die HRT, anstatt das Auftreten© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


50 Erhoffte, aber nicht eingetretene WirkungenKein Wun<strong>der</strong>, dass sie verwirrt warIm Januar 2004 schrieb <strong>eine</strong> Hysterektomie-Patientin an die britische medizinischeFachzeitschrift The Lancet folgenden Brief:«1986 wurde bei mir wegen Gebärmutterfibromen <strong>eine</strong> Hysterektomie durchgeführt.Außer <strong>der</strong> Gebärmutter entfernte <strong>der</strong> Operateur dabei auch die Eierstöckeund stellte zudem fest, dass ich unter Endometriose litt. Weil ich damals erst45 Jahre alt war und die sofortige Menopause eingesetzt hätte, erhielt ich <strong>eine</strong>Hormonersatztherapie (HRT). Im ersten Jahr nahm ich konjugierte Östrogene(Premarin) ein; zwischen 1988 und 2001 bekam ich als Privatpatientin dann abervon dem Chirurgen, <strong>der</strong> mich operiert hatte, alle sechs Monate Östrogenimplantate.Ich war bezüglich <strong>der</strong> Behandlung immer etwas unsicher, weil ich zum <strong>eine</strong>ndas Gefühl hatte, k<strong>eine</strong> Kontrolle mehr zu haben, wenn das Implantat erst einmaleingesetzt war, und zum an<strong>der</strong>en, weil ich nach mehreren Jahren dann oft auchKopfschmerzen bekam. Abgesehen davon fühlte ich mich aber sehr fit.Mein Operateur versicherte mir, dass die HRT viele Vorteile hätte und mir gut täte,was ich nur bestätigen konnte. Mit <strong>der</strong> Zeit war von immer mehr Vorteilen <strong>der</strong>HRT zu lesen. An<strong>der</strong>s als in den Anfangsjahren galt die HRT inzwischen auch nichtmehr nur als Modetherapie. Jetzt war sie auch gut <strong>für</strong> das Herz, gegen Osteoporose,und teilweise sollte sie auch Schlaganfällen vorbeugen. Immer wenn ich m<strong>eine</strong>nOperateur aufsuchte, schien er noch mehr Belege <strong>für</strong> die Vorteile <strong>der</strong> HRTparat zu haben.Als er 2001 dann in den Ruhestand ging, wendete ich mich an m<strong>eine</strong>n Arzt beimNational Health Service. Was <strong>für</strong> ein Schock! Von ihm erfuhr ich genau das Gegenteil:dass es gut wäre, von <strong>der</strong> HRT abzukommen: Sie könne das Risiko <strong>für</strong> Herzkrankheiten,Schlaganfälle und Brustkrebs erhöhen und auch Kopfschmerzenauslösen. Ich erhielt dann noch ein weiteres Implantat und stellte <strong>für</strong> kurze Zeitdann wie<strong>der</strong> auf Premarin um, aber seitdem habe ich acht Monate lang k<strong>eine</strong> HRTmehr gehabt. Mein Arzt meinte, es sei m<strong>eine</strong> Entscheidung, ob ich die Therapiebeibehalten wolle o<strong>der</strong> nicht. Ich war so was von verwirrt …Ich kann nicht verstehen, wie die HRT und all ihre wun<strong>der</strong>vollen Vorzüge sich inso kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehren können. Wie kann ein Laie wie ich danoch die richtige Entscheidung treffen? Ich habe viele Stunden damit zugebracht,darüber zu reden und nachzudenken, ob ich besser bei <strong>der</strong> HRT geblieben wäre,obwohl ich seitdem kaum negative Wirkungen verspürt habe. Ich bin wegendieser ganzen Sache sehr irritiert und bin mir sicher, dass es an<strong>der</strong>en Frauenähnlich ergeht.»Huntingford CA. Confusion over benefits of hormone replacement therapy.Lancet 2004; 363: 332.von Herzkrankheiten zu reduzieren, diese tatsächlich sogar begünstigenkönne. Einige prominente Kommentatoren verwarfen dieseSchlussfolgerung zwar, aber dieses vorläufige Ergebnis wurde mittlerweiledurch zwei große, gut durchgeführte Studien bestätigt. Hätteman die Wirkungen <strong>der</strong> HRT bei ihrer Einführung bereits richtigbewertet, wären die betroffenen Frauen nicht falsch informiert wor-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen 51den, und viele von ihnen wären nicht vorzeitig verstorben. Zu allemÜbel kommt noch hinzu, dass wir heutzutage wissen, dass die HRTdas Risiko <strong>für</strong> Schlaganfall und die Entwicklung von Brustkrebserhöht. 9Insgesamt <strong>ist</strong> die HRT nach wie vor <strong>eine</strong> wertvolle Therapie <strong>für</strong>Frauen mit menopausaler Symptomatik. 10 Tragisch <strong>ist</strong> allerdings,dass sie vor allem als Möglichkeit zur Verringerung des HerzinfarktundSchlaganfallrisikos so stark beworben wurde. Das Risiko <strong>für</strong>diese schweren Krankheiten mag zwar nur geringfügig erhöht sein,es betrifft aber, da die HRT so häufig verschrieben wurde, insgesamtdoch <strong>eine</strong> sehr große Anzahl von Frauen.Nachtkerzenöl bei EkzemenAuch wenn unzureichend bewertete Therapien nicht immer zumTod führen o<strong>der</strong> Schaden verursachen, so können sie immerhin<strong>eine</strong> beträchtliche Geldverschwendung bedeuten. Ein Ekzem <strong>ist</strong> einbelastendes Hautleiden, von dem Kin<strong>der</strong> und Erwachsene gleichermaßenbetroffen sind. Die Hautverän<strong>der</strong>ungen sind nicht nur unansehnlich,sie verursachen auch starken Juckreiz. Die Anwendungvon steroidhaltigen Salben hilft zwar, doch wurden wegen ihrerNebenwirkungen (wie z. B. dem Dünnerwerden <strong>der</strong> Haut) Bedenkengeäußert. In den frühen 1980er-Jahren tauchte als möglicheAlternative mit wenigen Nebenwirkungen ein natürlicher Pflanzenöl-Extrakt,das Nachtkerzenöl, auf. 11 Nachtkerzenöl enthält <strong>eine</strong>essenzielle Fettsäure, die sogenannte Gamma-Linolensäure (engl.gamma-linolenic acid, GLA), <strong>der</strong>en Anwendung auf plausiblen Annahmenberuhte. Eine solche Annahme lautete beispielsweise, dassdie Verstoffwechselung (Metabolisierung) von GLA im Körper beiPatienten mit <strong>eine</strong>m Ekzem beeinträchtigt <strong>ist</strong>. Theoretisch solltealso die Gabe von GLA-Ergänzungsmitteln helfen. Ebenso empfohlenwurde bei Ekzemen Borretschöl (auch als Gurkenkrautöl bekannt),das sogar noch höhere Anteile an GLA enthält.Man hielt GLA <strong>für</strong> sicher, aber war sie auch wirksam? Um dasherauszufinden, wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die jedochwi<strong>der</strong>sprüchliche Ergebnisse lieferten. Die veröffentlichte Evi-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


52 Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungendenz war außerdem stark durch Studien beeinflusst, die von denHerstellern <strong>der</strong> Ergänzungsstoffe gesponsert waren. 1995 beauftragtedas britische Gesundheitsmin<strong>ist</strong>erium Wissenschaftler, die k<strong>eine</strong>Beziehungen zu den Herstellern von Nachtkerzenöl unterhielten,mit <strong>der</strong> Bewertung von 20 veröffentlichten und unveröffentlichtenStudien: Es ließen sich k<strong>eine</strong> Belege <strong>für</strong> die Wirksamkeit von Nachtkerzenölfinden (Abb. 3). Das Min<strong>ist</strong>erium hat s<strong>eine</strong>n Bericht nieveröffentlicht, weil die Hersteller des Präparats dagegen protestierten.Doch fünf Jahre später zeigte <strong>eine</strong> weitere, von denselben Wissenschaftlernerstellte systematische Übersichtsarbeit (systematischerReview) zu Nachtkerzenöl und Borretschöl – <strong>der</strong> dieses Malpubliziert wurde –, dass selbst die größten und weitgehend vollständigenStudien k<strong>eine</strong> überzeugenden Belege <strong>für</strong> die Wirksamkeit dieserBehandlungen erbracht hatten. 12Nachtkerzenöl erstmalsals potenzielle Therapieim GesprächFortsetzungdes Vertriebs inGroßbritannien alsfrei verkäufliches«Nahrungsergänzungsmittel»Britische Medicines ControlAgency entzieht die Zulassungin <strong>der</strong> Indikation Ekzem1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010Veröffentlichung<strong>der</strong> ersten Studiein The LancetBritisches Gesundheitsmin<strong>ist</strong>eriumunterdrückt <strong>eine</strong>n Review von10 veröffentlichten und10 unveröffentlichten StudienVeröffentlichung <strong>eine</strong>spositiven Reviews, aber unterAusschluss <strong>eine</strong>r großennegativen StudieVeröffentlichung <strong>eine</strong>s Reviewsverschiedener Studien im Rahmendes englischen HTA-Programms:k<strong>eine</strong> nützlichen WirkungenAbbildung 3: Chronologie <strong>der</strong> Evidenz zum Nachtkerzenöl und s<strong>eine</strong>r Anwendung beiEkzemen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen 53Eine Möglichkeit gab es allerdings noch: Vielleicht wirkte GLA janur in sehr hoher Dosierung. Aber 2003 wurde auch diese Behauptungdurch <strong>eine</strong> sorgfältig durchgeführte faire Studie wi<strong>der</strong>legt. 13Wie es die Ironie <strong>der</strong> Geschichte wollte, hatte die britische Zulassungsbehörde,die Medicines Control Agency, aber bereits im Oktober2002 – lange bevor diese neuen Ergebnisse veröffentlicht wurden– den Entzug <strong>der</strong> Produktzulassungen <strong>für</strong> zwei wichtigeNachtkerzenölzubereitungen verfügt, weil ihre Wirksamkeit nichtbelegt war.Da jedoch k<strong>eine</strong> Bedenken hinsichtlich <strong>der</strong> Sicherheit von Nachtkerzenölverlautbart wurden, <strong>ist</strong> es noch immer als frei verkäufliches«Nahrungsergänzungsmittel» <strong>für</strong> verschiedenste Beschwerden erhältlich.Was s<strong>eine</strong>n Nutzen bei Ekzemen anbelangt, so finden sichdie Wirksamkeitsbehauptungen in vagen Formulierungen wie<strong>der</strong>wie «kann bei Ekzem-Patienten lin<strong>der</strong>nd wirken», «kann helfen»und «verfügt über bestimmte heilende Kräfte, die beispielsweise beiEkzemleiden entzündungshemmend wirken können».• We<strong>der</strong> Theorien noch Fachmeinungen sind <strong>für</strong> sich allein ein verlässlicherRatgeber <strong>für</strong> sichere, wirksame Behandlungen.• Nur weil <strong>eine</strong> Behandlung «etabliert» <strong>ist</strong>, bedeutet dies nicht, dasssie mehr nützt als schadet.• Selbst wenn Patienten durch unzureichend getestete Behandlungenk<strong>eine</strong>n Schaden nehmen, so kann ihre Anwendung doch <strong>eine</strong> Verschwendungindividueller und öffentlicher Ressourcen darstellen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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3 Mehr heißt nichtunbedingt besserEin weit verbreiteter Irrglauben besagt: Wenn <strong>eine</strong> Behandlung gut<strong>ist</strong>, dann muss mehr davon noch besser sein. Das <strong>ist</strong> aber schlichtfalsch. Denn es hat sich herausgestellt, dass «mehr Behandlung»auch schlechter sein kann. Die «richtige» Dosis zu finden – bei <strong>der</strong><strong>der</strong> Nutzen hoch <strong>ist</strong> und nur geringfügige unerwünschte Nebenwirkungenauftreten – stellt bei allen medizinischen Behandlungen <strong>eine</strong>Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Wird die Dosis erhöht, dann erreichen dienützlichen Effekte irgendwann ein Plateau; die unerwünschten Wirkungennehmen dagegen normalerweise noch zu. Das bedeutet:«Mehr Therapie» kann den eigentlichen Nutzen min<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> insgesamtsogar Schaden verursachen.Ein gutes Beispiel sind Diuretika (Entwässerungstabletten):Niedrig dosiert senken sie den Blutdruck bei nur wenigen unerwünschtenWirkungen. Eine Erhöhung <strong>der</strong> Dosis bewirkt k<strong>eine</strong>weitere Blutdrucksenkung, kann aber unerwünschte Wirkungenwie übermäßige Harnausscheidung, Impotenz und erhöhte Blutzuckerspiegelhervorrufen. Ein ähnliches Beispiel <strong>ist</strong> Aspirin: Inniedrigen Dosen trägt es bei nur sehr wenigen unerwünschten Wirkungenzur Vorbeugung gegen Schlaganfälle bei. Mehrere Aspirintablettenpro Tag können zwar Kopfschmerzen lin<strong>der</strong>n, bewirkenaber k<strong>eine</strong> bessere Schlaganfallprävention und erhöhen gleichzeitigdas Risiko <strong>für</strong> Magengeschwüre.Dieses Prinzip <strong>der</strong> «richtigen Dosis» hat über die medikamentöseTherapie hinaus auch <strong>für</strong> viele an<strong>der</strong>e Behandlungen Gültigkeit, soauch <strong>für</strong> Operationen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


56 Mehr heißt nicht unbedingt besserIntensivtherapien bei BrustkrebsÜber die mit <strong>der</strong> Annahme, dass intensivere Therapien zwangsläufigvorteilhaft sind, verbundenen Gefahren können wir einige beson<strong>der</strong>swertvolle Lektionen aus den bei Brustkrebs empfohlenen Therapienziehen, von denen in den Nachrichten so oft zu hören <strong>ist</strong>.Wir tun das, weil …«Wir [Ärzte] tun manchmal Dinge, weil an<strong>der</strong>e Ärzte es auch so machen und wirnicht an<strong>der</strong>s sein wollen als sie; aus diesem Grund machen wir es genauso, o<strong>der</strong>weil es uns [von Dozenten, Ober- und Ass<strong>ist</strong>enzärzten] so beigebracht wurdeo<strong>der</strong> weil wir [von Dozenten, Verwaltungsdirektoren, Aufsichtsbehörden, Leitlinienentwicklern]dazu angehalten wurden und denken, dass wir das so machenmüssen, o<strong>der</strong> weil die Patienten es so wollen und wir <strong>der</strong> Meinung sind, dass wirihren Wünschen nachkommen sollten, o<strong>der</strong> weil wir das Gefühl haben, dass wirdas wegen größerer Anreize [unnötige Untersuchungen, vor allem bei apparateorientiertenÄrzten, und Arztbesuche] o<strong>der</strong> aus Angst [vor dem Rechtssystem, vorAudits] so machen sollten, o<strong>der</strong> wir machen es so, weil wir Zeit gewinnen wollen[um <strong>der</strong> Natur ihren Lauf zu lassen]; letzten Endes und gar nicht so selten machenwir es aber, damit wir etwas zu tun haben und weil wir unseren gesunden Menschenverstandnicht einschalten.»Parmar MS. We do things because (rapid response). BMJ.Eingestellt am 1. März 2004 unter www.bmj.com.Während des gesamten 20. Jh. und bis in das 21. Jh. hinein habenFrauen mit Brustkrebs etliche ausgesprochen brutale und qualvolleBehandlungen sowohl verlangt als auch über sich ergehen lassen.Einige dieser operativen und medikamentösen Behandlungen gingenaber weit über das hinaus, was zur Bekämpfung <strong>der</strong> Krankheiteigentlich nötig gewesen wäre. Bei etlichen Patientinnen wie auchbei ihren Ärzten waren diese Therapien zweifellos aber auch durchauspopulär. Je radikaler o<strong>der</strong> toxischer die Therapie – so die Überzeugung<strong>der</strong> Patientinnen –, umso größer auch ihre Chance, dieKrankheit besiegen zu können. Ärzte und Patientinnen, die bereitwaren, diese orthodoxen Ansichten über die Krankheit zu hinterfragen,kostete es viele Jahre, bevor es ihnen gelang, den Trend diesesIrrglaubens umzukehren. Sie mussten nicht nur zuverlässige Evidenzzusammentragen, um den Mythos des «Mehr <strong>ist</strong> besser» zubannen, son<strong>der</strong>n auch noch den Spott ihrer Kollegen und den Wi<strong>der</strong>standhoch angesehener Praktiker ertragen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Mehr heißt nicht unbedingt besser 57Auch heute noch sind die Angst und <strong>der</strong> Glaube, dass mehr bessersein müsse, <strong>der</strong> Motor unserer Behandlungsentscheidungen,selbst wenn es k<strong>eine</strong> Belege <strong>für</strong> ihren Nutzen gegenüber einfacherenBehandlungsansätzen gibt und bekanntermaßen beträchtlicheschädliche Wirkungen mit ihnen einhergehen, darunter auch dasRisiko, an <strong>der</strong> Behandlung selbst zu sterben. Diese Einstellung treibtmanche Patientinnen und ihre Ärzte auch heute noch dazu, die«traditionelle» verstümmelnde Operation zu wählen. An<strong>der</strong>e entscheidensich, selbst wenn einfachere Behandlungen ausreichendwären, <strong>für</strong> <strong>eine</strong> hochdosierte Chemotherapie mit ihren bekanntenunangenehmen wie auch schmerzhaften Nebenwirkungen o<strong>der</strong> <strong>für</strong>Herceptin, das schwerwiegende Herzbeschwerden hervorrufenkann (s. Kap. 1). Wie kommt das?Drastische Therapien sind nicht immer am besten«Diejenigen von uns, die Krebserkrankungen behandeln, können sich sehr leichtvorstellen, dass <strong>eine</strong> drastischere Behandlung zu besseren Ergebnissen führt. Umdie Patienten vor sinnlosen Risiken und den frühen o<strong>der</strong> späten Nebenwirkungenunnötig aggressiver Therapien zu schützen, kommt den randomisierten Studien,in denen drastische mit weniger radikalen Therapien verglichen werden, <strong>eine</strong>entscheidende Bedeutung zu. Ein solcher Vergleich <strong>ist</strong> ethisch vertretbar, weildiejenigen, denen ein möglicher Nutzen vorenthalten wird, gleichzeitig auch vormöglichen unnötigen Schäden bewahrt bleiben – und niemand weiß, welcheRichtung die Entwicklung am Ende nimmt.»Brewin T in Rees G, ed. The friendly professional: selected writings of ThurstanBrewin. Bognor Regis: Eurocommunica, 1996.Verstümmelnde OperationenBis Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts stellte die Operation die wichtigsteBehandlungsmethode bei Brustkrebs dar. Dies gründete auf <strong>der</strong> Annahme,dass <strong>der</strong> Krebs langsam und geordnet wächst und sich zunächstvom Tumor in <strong>der</strong> Brust auf die örtlichen (lokalen) Lymphknoten,etwa in <strong>der</strong> Achselhöhle, ausbreitet. Je radikaler und rascher<strong>der</strong> Tumor operiert würde, so die Argumentation, umso größer seidie Chance, die Ausbreitung des Krebses aufzuhalten. Die Therapiebestand aus <strong>eine</strong>r ausgedehnten «lokalen» Operation, d. h. aus <strong>eine</strong>moperativen Eingriff an o<strong>der</strong> nahe <strong>der</strong> Brust. Man mag diesen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


58 Mehr heißt nicht unbedingt besserEingriff zwar lokal genannt haben, doch <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> radikale Mastektomiealles an<strong>der</strong>e als lokal: Sie umfasst die Entfernung <strong>eine</strong>s großenTeils des Brustmuskels und des Lymphknotengewebes aus <strong>der</strong> Achselhöhleund <strong>der</strong> Brust selbst.Die klassische radikale Mastektomie (nach Halsted)Die im späten 19. Jahrhun<strong>der</strong>t von William Halsted entwickelte radikale Mastektomiewar bis in das dritte Quartal des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die am häufigsten durchgeführteOperation bei Brustkrebs. Dabei entfernte <strong>der</strong> Operateur nicht nur diegesamte Brust, son<strong>der</strong>n auch den großen Brustmuskel (Musculus pectoralis major),<strong>der</strong> die Brustwand überzieht. Damit <strong>der</strong> Operateur <strong>eine</strong>n leichteren Zugangzur Achselhöhle (Axilla) hatte, um dort die Lymphknoten und das umgebendeFettgewebe ausräumen zu können, wurde zudem auch noch <strong>der</strong> kl<strong>eine</strong> Brustmuskel(Musculus pectoralis minor) entfernt.Die ausgedehnt radikale MastektomieDer Glaube, mehr sei besser, veranlasste radikale Operateure dazu, sogar nochausgedehntere Operationen vorzunehmen, bei denen auch die Lymphknotenkettenunter dem Schlüsselbein und die Mammaria-interna-Lymphknoten unter demBrustbein entfernt wurden. Um an die Mammaria-interna-Lymphknoten zu gelangen,mussten mehrere Rippen entfernt und das Brustbein mit <strong>eine</strong>m Meißelgespalten werden. Damit noch nicht zufrieden, gingen einige Operateure sogarso weit, auch noch den Arm auf <strong>der</strong> betroffenen Seite zu amputieren und imganzen Körper diverse Drüsen (Nebennieren, Hypophyse, Eierstöcke) herauszuschneiden,um die Produktion von Hormonen zu unterdrücken, von denen manannahm, dass sie die Ausbreitung des Tumors begünstigten.Wenn <strong>eine</strong> Frau solche Operationen überlebte, behielt sie <strong>eine</strong>n stark verstümmeltenBrustkorb zurück, was sich auch durch Kleidung nur schwer verbergenließ. War die Operation auf <strong>der</strong> linken Seite durchgeführt worden, dann blieb dortnur <strong>eine</strong> dünne Hautschicht zur Abdeckung des Herzens übrig.Nach: Lerner BH. The breast cancer wars: hope, fear and the pursuit of a curein twentieth-century America. New York; Oxford University Press, 2003.Nichtsdestotrotz bemerkten etliche aufmerksame Brustkrebsspezial<strong>ist</strong>en,dass diese zunehmend verstümmelnden Operationen ansch<strong>eine</strong>ndüberhaupt k<strong>eine</strong>n Einfluss auf die brustkrebsbedingtenSterblichkeitsraten hatten (Abb. 4). Deshalb stellten sie <strong>eine</strong> ganzan<strong>der</strong>e Theorie auf: Danach breitete sich <strong>der</strong> Brustkrebs nicht von<strong>der</strong> Brust über die nahe gelegenen Lymphknoten aus, son<strong>der</strong>n eshandelte sich dabei von Anfang an um <strong>eine</strong> systemische (d. h. denganzen Körper betreffende) Krankheit. Mit an<strong>der</strong>en <strong>Wo</strong>rten: Siegingen davon aus, dass zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Entdeckung des Knotensin <strong>der</strong> Brust an<strong>der</strong>swo im Körper bereits Krebszellen vorhanden© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Mehr heißt nicht unbedingt besser 59Verschiedene Erweiterungen<strong>der</strong> radikalen MastektomieHalsted entwickeltradikaleMastektomieCrile stellt in Life«Mehr <strong>ist</strong> besser»-Denkweise infrageFisher u.a. beginnenStudien überweniger invasiveOperationenStudien von Fisher u. a.lassen k<strong>eine</strong>n ÜberlebensvorteilerkennenBestätigung <strong>der</strong>Befunde durch20-jährige Nachbeobachtung1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020Einige Ärzte ziehenin Fachkreisendie Notwendigkeit<strong>der</strong> radikalen OPin ZweifelRose KushnerveröffentlichtBuch über ihreErfahrungen mitBrustkrebsAbbildung 4: Infragestellung des «Mehr <strong>ist</strong> besser»-Ansatzes in <strong>der</strong> Brustkrebschirurgie.sein müssten (s. u.). Wenn diese Annahme zutraf, so ihre Vermutung,dann wäre die operative Entfernung des Tumors mit <strong>eine</strong>mangemessenen Sicherheitssaum von gesundem Gewebe sowie diezusätzliche Durchführung <strong>eine</strong>r lokalen Strahlentherapie <strong>für</strong> die betroffenenFrauen nicht nur angenehmer, son<strong>der</strong>n könnte auch genausowirksam sein wie <strong>eine</strong> radikale Operation. Auf dieser neuenTheorie <strong>der</strong> Brustkrebsausbreitung beruhte zu <strong>der</strong> Zeit auch dieEinführung von «systemischen Therapien» – d. h. von Behandlungen,die auf die Produktion o<strong>der</strong> Entstehung von Krebszellen anan<strong>der</strong>en Stellen im Körper abzielten.Als direkte Folge dieser neuen Sichtweise traten die Ärzte <strong>für</strong> <strong>eine</strong>neingeschränkten Eingriff, die sogenannte Lumpektomie ein, in<strong>der</strong>en Rahmen <strong>der</strong> Tumor und ein Saum aus umgebendem gesundemGewebe entfernt wurden. Im Anschluss an die Lumpektomiewurde <strong>eine</strong> Strahlentherapie und bei einigen Frauen auch noch <strong>eine</strong>Chemotherapie durchgeführt. Die Be<strong>für</strong>worter <strong>der</strong> Lumpektomiestießen jedoch auf gewaltige Wi<strong>der</strong>stände, als sie diesen neuen Ansatzmit <strong>der</strong> Radikaloperation verglichen. Manche Ärzte waren sehrfest von <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n und manche sehr fest von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Methodeüberzeugt, und auch die Patientinnen verlangten lautstark nach <strong>der</strong><strong>eine</strong>n o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Behandlung. Die Folge war, dass geraumeZeit verstrich, bis die entscheidenden Belege <strong>für</strong> die Vor- und Nach-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


60 Mehr heißt nicht unbedingt besserteile des neuen Behandlungsansatzes im Vergleich zum alten erbrachtwerden konnten.Ungeachtet dieser Schwierigkeiten wurde letztlich die chirurgischeÜberbehandlung aber infrage gestellt, und zwar sowohl vonOperateuren, die angesichts des fragwürdigen Nutzens <strong>für</strong> ihre Patientinnennicht mehr bereit waren, mit dieser Praxis fortzufahren,als auch von entschlossenen Frauen, die nicht länger gewillt waren,sich verstümmelnden Eingriffen zu unterziehen.Den Anfang machte Mitte <strong>der</strong> 1950er-Jahre <strong>der</strong> amerikanischeChirurg George Crile, als er mit s<strong>eine</strong>n Bedenken über den «Mehr<strong>ist</strong> besser»-Ansatz an die Öffentlichkeit ging. Überzeugt davon, dasses k<strong>eine</strong>n an<strong>der</strong>en Weg gab, um die Ärzteschaft zu <strong>eine</strong>m kritischerenDenken anzuregen, veröffentlichte Crile in <strong>eine</strong>m Beitrag zurbekannten Zeitschrift Life <strong>eine</strong>n Appell. 1 Er traf den richtigen Ton:Die Debatte innerhalb <strong>der</strong> Ärzteschaft wurde damit in die Öffentlichkeitgetragen und war nicht mehr auf rein akademische Kreisebeschränkt. Daraufhin entwickelte Bernard Fisher, ein weitereramerikanischer Chirurg, <strong>der</strong> mit Kollegen aus an<strong>der</strong>en Fachgebietenzusammenarbeitete, <strong>eine</strong> Reihe von aussagekräftigen Experimentenzur Untersuchung <strong>der</strong> Biologie des Krebses. Ihre Ergebnisseließen darauf schließen, dass sich Krebszellen noch vor <strong>der</strong> Entdeckungdes Primärtumors tatsächlich über den Blutstrom im ganzenKörper verbreiten können. So gesehen machten aggressive Operationenwenig Sinn, wenn sich bereits an an<strong>der</strong>en Stellen im KörperKrebszellen befinden konnten.Während Crile klinisches Urteilsvermögen einsetzte, um wenigerradikale lokale Therapien zu empfehlen und umzusetzen, arbeitetenFisher und <strong>eine</strong> immer größer werdende Gruppe von Wissenschaftlernan <strong>eine</strong>m formelleren und rigoroseren Ansatz. Sie versuchten,den Wert <strong>der</strong> radikalen Operation anhand <strong>der</strong> bekanntesten fairen(unverzerrten) Methode, und zwar anhand von randomisiertenStudien (s. Kap. 6), zu beweisen bzw. zu wi<strong>der</strong>legen. Mithilfe solcherStudien wollten sie die medizinische Fachwelt und die Öffentlichkeitvon dem <strong>eine</strong>n o<strong>der</strong> dem an<strong>der</strong>en Therapieansatz überzeugen.Wie Fisher 1971 zudem geradeheraus erklärte, hätten Chirurgendie ethische und moralische Verpflichtung, ihre Theorien zu testen,indem sie solche Studien durchführten. Die 20-jährige Nachbeob-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Mehr heißt nicht unbedingt besser 61achtung (Follow-up) von Fishers Studien hat zweifellos gezeigt, dass<strong>für</strong> die radikale Mastektomie im Vergleich zur Lumpektomie mitanschließen<strong>der</strong> Strahlentherapie kein Vorteil – gemessen am Risiko,vorzeitig zu versterben – nachgewiesen werden konnte. 2Randomisierte Zuteilung – <strong>eine</strong> einfache Erklärung«Randomisierung soll systematische Fehler (Bias) auf ein Minimum begrenzenund sicherstellen, dass sich die Patienten in je<strong>der</strong> Behandlungsgruppe hinsichtlichaller bekannten und unbekannten Faktoren möglichst ähnlich sind. Dadurchwird gewährle<strong>ist</strong>et, dass alle Unterschiede, die man bei <strong>der</strong>/den interessierendenZielgröße(n) zwischen den Gruppen findet, durch die Unterschiede in <strong>der</strong> Wirkung<strong>der</strong> Behandlung (im Therapieeffekt) bedingt und nicht auf die Unterschiedezwischen den Patienten zurückzuführen sind, welche die jeweilige Behandlungerhalten haben.Randomisierung schaltet die Möglichkeit aus, dass ein Arzt die <strong>eine</strong> Therapie– bewusst o<strong>der</strong> unbewusst – <strong>eine</strong>r ganz bestimmten Art von Patient zuteilt unddie an<strong>der</strong>e <strong>eine</strong>m an<strong>der</strong>en Patiententyp o<strong>der</strong> dass <strong>eine</strong> Patientengruppe die <strong>eine</strong>Behandlung wählt, während <strong>eine</strong> an<strong>der</strong>e Gruppe sich <strong>für</strong> die an<strong>der</strong>e Behandlungentscheidet.»Harrison J. Presentation to Consumers’ Advisory Group for Clinical Trials, 1995.Auch Forscher in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n führten randomisierte Studien(s. Kap. 6) durch, in denen die brusterhaltende Therapie mit <strong>der</strong>radikalen Mastektomie verglichen wurde. Zu nennen sind hier beispielsweiseHedley Atkins und Kollegen Anfang <strong>der</strong> 1960er-Jahre inGroßbritannien und später dann Veronesi et al. in Italien. Das Gesamtbild,das sich dabei ergab, bestätigte Fishers Ergebnisse: Es gabauch nach 20 Jahren Nachbeobachtung k<strong>eine</strong> Belege da<strong>für</strong>, dass dieradikale Mastektomie zu <strong>eine</strong>m längeren Überleben führte. 3 Weitererandomisierte Studien wurden in Schweden und Italien sowie inGroßbritannien und den USA durchgeführt, um zahlreiche an<strong>der</strong>eBehandlungsformen miteinan<strong>der</strong> zu vergleichen, beispielsweiseStrahlentherapie nach Operation im Vergleich zu alleiniger Operationo<strong>der</strong> kurzzeitige gegenüber langzeitigen Chemotherapien.Insgesamt stützten die Ergebnisse aus diesen frühen Studien undaus detaillierten Laborstudien die Theorie, dass es sich beim Brustkrebstatsächlich um <strong>eine</strong> systemische (d. h. den ganzen Körper betreffende)Erkrankung handelt, bei <strong>der</strong> sich die Krebszellen über dieBlutbahn ausbreiten, bevor ein Knoten in <strong>der</strong> Brust nachweisbar<strong>ist</strong>. 4 Weltweit ließen sich immer mehr Ärzte durch die wachsende© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


62 Mehr heißt nicht unbedingt besserEvidenz davon überzeugen, dass <strong>eine</strong> radikale Operation mehrSchaden anrichtet als nützt. Und in den letzten Jahrzehnten des 20.Jahrhun<strong>der</strong>ts begannen sich auch die Einstellungen <strong>der</strong> Patientinnenund <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu wandeln. Angeführt durch die Arbeitvon Patientenaktiv<strong>ist</strong>en wie Rose Kushner (s. Kap. 11) in den USAund an<strong>der</strong>swo, fanden sich auf <strong>der</strong> ganzen Welt besser informiertePatientengruppen zusammen, um den «Mehr <strong>ist</strong> besser»-Ansatz in<strong>der</strong> chirurgischen Brustkrebsbehandlung und den damit oftmalseinhergehenden ärztlichen Paternalismus kritisch zu hinterfragen.Diese auf breiter Front stattfindenden Aktivitäten von Patientinnenund Ärzten stellten die chirurgische Überbehandlung <strong>der</strong> vergangenenJahre fast überall erfolgreich infrage. Angesichts dessen <strong>ist</strong>es nahezu unglaublich, dass sich trotzdem noch immer Berichteüber die Durchführung unnötiger und verstümmeln<strong>der</strong> Brustoperationenfinden: So wurden etwa 2003 in Japan noch mehr als 150radikale Brustoperationen ausgeführt. 5Bis zum Jahr 1985 war es allein aufgrund <strong>der</strong> ungeheuren Anzahlvon Brustkrebsstudien zu allen möglichen Aspekten <strong>der</strong> Therapiesehr schwer, sich hinsichtlich <strong>der</strong> neusten Ergebnisse auf dem Laufendenzu halten. Um dieses Problem zu lösen, fassten Richard Petound Kollegen in Oxford alle Studienergebnisse mit sämtlichen Informationenüber alle Frauen, die an den vielen Studien teilgenommenhatten, in <strong>eine</strong>r ganzen Reihe von systematischen Übersichtsarbeiten(systematische Reviews; s. Kap. 8) zusammen. 6 Mittlerweilewerden die systematischen Reviews zu Brustkrebstherapien regelmäßigauf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht undpubliziert. 7, 8KnochenmarktransplantationDennoch bedeutete das Ende <strong>der</strong> verstümmelnden Chirurgie nichtauch das Ende <strong>der</strong> «Mehr <strong>ist</strong> besser»-Denkweise – im Gegenteil.Während <strong>der</strong> letzten 20 Jahre des 20. Jh. wurde ein neuer Ansatz <strong>für</strong>die Therapie des Brustkrebses eingeführt: <strong>eine</strong> hochdosierte Chemotherapiemit anschließen<strong>der</strong> Knochenmarktransplantation o<strong>der</strong>«Stammzellrettung». Ein Bericht in <strong>der</strong> New York Times aus demJahr 1999 fasste die Gründe <strong>für</strong> diesen Ansatz wie folgt zusammen:© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Mehr heißt nicht unbedingt besser 63Ärzte entnehmen <strong>der</strong> Patientin etwas Knochenmark o<strong>der</strong> rote Blutzellenund verabreichen ihr dann toxische Medikamente in sehr hohenDosen, die das verbleibende Knochenmark zerstören. Dahinter stehtdie Hoffnung, dass diese hohen Dosen die Krebszellen vernichten unddas zuvor entnommene Knochenmark bei s<strong>eine</strong>r Rückführung in denKörper schnell genug nachwächst, damit die Patientin nicht an <strong>eine</strong>rInfektion stirbt. Eine Variante dieser Maßnahme, bei <strong>der</strong> Knochenmarkspendenverwendet werden, hatte sich über lange Zeit bei Blutkrebsbewährt, aber nur deshalb, weil <strong>der</strong> Krebs das Knochenmarkbefallen hatte, das dann ersetzt wurde. Die Anwendung dieser Behandlungbei Brustkrebs beruht auf <strong>eine</strong>r ganz an<strong>der</strong>en – und ungeprüften– Argumentation. 9Vor allem in den USA bedrängten Tausende von verzweifeltenFrauen Ärzte und Krankenhäuser, diese ausgesprochen unangenehmeBehandlung bei ihnen vorzunehmen, obwohl nicht weniger alsfünf von 100 Patientinnen an den Folgen <strong>der</strong> Behandlung verstarben.Viele tausend Dollar wurden ausgegeben, und nicht wenigePatientinnen bezahlten die Therapie aus eigener Tasche. EinigeKrankenversicherer gaben dem öffentlichen Druck nach und übernahmenbei einigen Patientinnen die Kosten, obwohl k<strong>eine</strong> Belege<strong>für</strong> die Wirksamkeit <strong>der</strong> Behandlung vorlagen. Viele Krankenhäuserund Kliniken wurden durch diese Einnahmen reich. 1998 erzielte<strong>eine</strong> Krankenhausgesellschaft Einkünfte in Höhe von 128 MillionenDollar, die größtenteils aus ihren Krebszentren stammten, in denenKnochenmarktransplantationen angeboten wurden. Für US-amerikanischeÄrzte war dies <strong>eine</strong> lukrative Einkommensquelle, die ihnenzu Ansehen verhalf und ein weites Publikationsfeld eröffnete. Diehartnäckige Nachfrage vonseiten <strong>der</strong> Patientinnen heizte den Marktan. Unter den privat geführten US-amerikanischen Krankenhäusern,welche die Behandlungen anboten, herrschte ein intensiverWettbewerb, <strong>der</strong> sogar so weit ging, dass mit Son<strong>der</strong>angeboten geworbenwurde. In den 1990er-Jahren wurde diese Behandlung inden USA sogar von medizinischen Lehrzentren angeboten, die versuchten,Patienten <strong>für</strong> klinische Studien zu rekrutieren. Diese fragwürdigenProgramme waren <strong>für</strong> die Krebszentren zu <strong>eine</strong>m wahrenGoldesel geworden.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


64 Mehr heißt nicht unbedingt besserDer uneingeschränkte Zugang zu <strong>eine</strong>r solchen ungeprüftenTherapie hatte noch <strong>eine</strong>n weiteren schwerwiegenden Nachteil: Esstanden nicht genug Patientinnen <strong>für</strong> Studien zur Verfügung, indenen diese Therapien mit Standardbehandlungen verglichen werdensollten. Infolgedessen dauerte es deutlich länger als vorgesehen,bis verlässliche Antworten aus fairen Studien vorlagen.Doch trotz <strong>der</strong> Schwierigkeiten, unter diesem Druck zu unverzerrtenwissenschaftlichen Belegen (Evidenz) zu gelangen, wurdenetliche klinische Studien durchgeführt und an<strong>der</strong>e Evidenz kritischgeprüft. Ein systematischer Review, in dem die akkumulierten Studienergebnisse<strong>der</strong> konventionellen Chemotherapie mit denen <strong>eine</strong>rhochdosierten Chemotherapie und anschließen<strong>der</strong> Knochenmarktransplantationals allgem<strong>eine</strong>r Behandlungsstrategie bei Brustkrebsverglichen wurden, kam 2004 zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass es k<strong>eine</strong> überzeugendenBelege <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Nutzen <strong>der</strong> Chemotherapie plus Knochenmarktransplantationgab.10, 11Der Kampf um unverzerrte Evidenz«Die Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass es ungefähr drei Jahredauern würde, um ca. 1 000 Frauen in die beiden Studien aufzunehmen. Stattdessenbenötigte man dazu sieben Jahre … Das <strong>ist</strong> nicht weiter überraschend …Patientinnen, die an klinischen Studien teilnehmen, müssen <strong>eine</strong> Einverständniserklärungunterzeichnen, in <strong>der</strong> ihre trostlose Prognose explizit benannt unddarauf hingewiesen wird, dass es k<strong>eine</strong>rlei Belege da<strong>für</strong> gibt, dass <strong>eine</strong> Knochenmarktransplantationbesser <strong>ist</strong> als die Standardtherapien. Um in <strong>eine</strong> Studie aufgenommenzu werden, muss man sich diesen Tatsachen stellen, und das <strong>ist</strong> ink<strong>eine</strong>m Fall einfach. Findet <strong>eine</strong> solche Transplantation außerhalb von Studienstatt, die auch über <strong>eine</strong> Kontrollgruppe von Patientinnen verfügen (also außerhalbvon sogenannten randomisierten Studien), dann würden bege<strong>ist</strong>erte Ärzte<strong>der</strong> Patientin vielleicht weismachen, dass <strong>eine</strong> Transplantation ihr Leben rettenkönne. Patienten haben ein Recht auf die Wahrheit, doch werden sie verständlicherweisenicht gerade Ärzte aufsuchen, die ihnen ihre Hoffnung rauben.»Nach Kolata G, Eichenwald K. Health business thrives on unproven treatment,leaving science behind. New York Times Special Report, 2. Oktober 1999.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Mehr heißt nicht unbedingt besser 65Den Gedanken wagen, weniger zu tunMehr <strong>ist</strong> also nicht immer besser – und diese Botschaft hat auchheute nichts von ihrer Bedeutung verloren. Heute blicken Frauenmit metastasiertem (gestreutem) Brustkrebs hoffnungsvoll auf Therapienwie Herceptin (s. o. und Kap. 1). Und doch bietet Herceptindiesen Patientinnen bestenfalls <strong>eine</strong> geringe Chance auf ein längeresLeben – das sich zuweilen nur in Tagen o<strong>der</strong> <strong>Wo</strong>chen bemisst – aufKosten von schwerwiegenden Nebenwirkungen o<strong>der</strong> manchmal sogar<strong>eine</strong>s durch die Therapie selbst bedingten Todes. 12,13 Diese Tendenzzur Überbehandlung <strong>ist</strong> auch am an<strong>der</strong>en Ende des Brustkrebsspektrumszu beobachten. So werden hier beispielsweise beiFrauen, bei denen im Rahmen des Mammographie-ScreeningsKrebsvorstufen wie das duktale Carcinoma in situ (DCIS) entdecktwerden (s. Kap. 4), übermäßige und oftmals unnötige Behandlungenangewendet, obwohl es durchaus sein kann, dass ein solchesDCIS auch ohne Behandlung ein Leben lang nie Probleme verursachenwird. Inzwischen wird die Notwendigkeit <strong>eine</strong>r routinemäßigenEntfernung <strong>der</strong> Lymphknoten in <strong>der</strong> Achselhöhle, die mit unangenehmenKomplikationen am betroffenen Arm wie etwa <strong>eine</strong>mLymphödem (s. Kap. 5) einhergehen kann, zunehmend infrage gestellt,da ihre zusätzliche Anwendung zu an<strong>der</strong>en Behandlungen dasÜberleben nicht zu verbessern scheint. 14• Eine intensivere Therapie <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig von Vorteil undkann manchmal auch mehr schaden als nützen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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4 Früher<strong>ist</strong> nichtzwangsläufig besserIn den ersten drei Kapiteln haben wir dargelegt, dass nicht ausreichendgeprüfte Therapien ernsthaften Schaden anrichten können.In diesem Kapitel geht es nun um die Untersuchung von ansch<strong>eine</strong>ndgesunden Menschen zur Erkennung von Krankheitsfrühzeichen,das sogenannte Screening. Screening klingt vernünftig – wiesonst könnte man schwerwiegende Krankheitsfolgen besser abwendenund gesund bleiben? Doch auch wenn Screeninguntersuchungenbei einigen Krankheiten sinnvoll sind, können sie nicht nurnützen, son<strong>der</strong>n auch schaden.Wir werden hier auf verschiedene Krankheitsbeispiele zurückgreifen,an denen wir zeigen wollen, warum <strong>eine</strong> frühzeitige Diagnosebesser sein kann, aber nicht immer besser sein muss, warumzahlreiche Screenings k<strong>eine</strong>n o<strong>der</strong> nur <strong>eine</strong>n unbestimmten Nutzenaufweisen und wie die Vorteile von Screeninguntersuchungen oftmalsübermäßig angepriesen und ihre schädlichen Effekte heruntergespielto<strong>der</strong> gänzlich ignoriert werden.Vom Menschen zum PatientenAus Menschen, die «positiv» getestet werden, macht das Screening zwangsläufigPatienten – <strong>eine</strong> Verän<strong>der</strong>ung, die man nicht so ohne weiteres wegsteckt. «Wennein Patient <strong>eine</strong>n Arzt um Hilfe bittet, wird <strong>der</strong> Arzt das Bestmögliche <strong>für</strong> ihn tun.Der Arzt <strong>ist</strong> nicht <strong>für</strong> Wissenslücken in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> verantwortlich. Veranlasst erjedoch Screeningmaßnahmen, dann stellt sich die Situation ganz an<strong>der</strong>s dar.Unserer Ansicht nach sollte <strong>der</strong> Arzt über schlüssige Belege da<strong>für</strong> verfügen, dassdas Screening den natürlichen Krankheitsverlauf bei <strong>eine</strong>m signifikanten Anteil<strong>der</strong> gescreenten Personen verän<strong>der</strong>n kann.»Cochrane AL, Holland WW. Validation of screening procedures.British Medical Bulletin 1971; 27: 3–8.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


68 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserDas Screening von gesunden Menschen sollte nicht leichtfertig erfolgen;es hat immer auch gewichtige Nachteile, die uns ein umsichtigesVorgehen abverlangen. Eine Screeninguntersuchung <strong>ist</strong> <strong>eine</strong>medizinische Maßnahme (Intervention). Aber nicht nur das; schondas Angebot <strong>eine</strong>s Screenings stellt <strong>eine</strong> Intervention dar. Selbst beijemandem, <strong>der</strong> dieses Angebot ablehnt, hinterlässt es <strong>eine</strong>n nagendenZweifel, ob er die «richtige» Entscheidung getroffen hat o<strong>der</strong>nicht – das liegt in <strong>der</strong> menschlichen Natur. Etwas ganz an<strong>der</strong>es <strong>ist</strong>es, wenn <strong>eine</strong>m ein Screening gar nicht erst angeboten wird.Ein Screening sollte gesunden Menschen, die dadurch Gewissheiterlangen o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>r Behandlung zugeführt werden können, nurangeboten werden, wenn es fundierte Belege da<strong>für</strong> gibt, dass dasScreening (a) bei annehmbaren Kosten mehr nützt als schadet und(b) im Rahmen <strong>eine</strong>s hochwertigen und gut organisierten Programmsangeboten wird (s. u.). 1Screening <strong>ist</strong> viel mehr als ein einmaliger Test. Menschen, die zurTeilnahme an <strong>eine</strong>m Screening eingeladen werden, benötigen ausreichendunverzerrte, relevante Informationen, damit sie entscheidenkönnen, ob sie das Angebot annehmen wollen o<strong>der</strong> nicht, d. h.,sie müssen wissen, worauf sie sich einlassen (s. u.). 2Tatsächlich sind Screeninguntersuchungen dann und nur dannsinnvoll, wenn <strong>für</strong> die aufzudeckende Erkrankung auch <strong>eine</strong> wirksameBehandlung ex<strong>ist</strong>iert.Lehren aus dem Neuroblastom-ScreeningDie Erfahrungen mit dem Screening auf ein Neuroblastom – <strong>eine</strong>seltene Krebsart, die vorwiegend bei kl<strong>eine</strong>n Kin<strong>der</strong>n auftritt – sindin mehrfacher Hinsicht lehrreich. Dieser Tumor befällt die Nervenzellenin verschiedenen Teilen des Körpers. Die Überlebensraten <strong>der</strong>betroffenen Kin<strong>der</strong> hängen u. a. davon ab, welcher Körperteil betroffen<strong>ist</strong>, wie weit sich <strong>der</strong> Tumor bei <strong>der</strong> Diagnosestellung schonausgebreitet hat und wie alt das Kind <strong>ist</strong>. Die 5-Jahres-Gesamtüberlebensratebei <strong>der</strong> Diagnose von Kin<strong>der</strong>n im Alter zwischen 1 und4 Jahren beträgt rund 55 %. 3 Eine merkwürdige Eigenschaft desNeuroblastoms <strong>ist</strong>, dass es zu den wenigen Krebsarten gehört, die© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 69auch ohne Behandlung manchmal vollkommen verschwinden – einPhänomen, das man als Spontanheilung o<strong>der</strong> Spontanregressionbezeichnet. 4Aus vier Gründen war das Neuroblastom ein verlockendesScreeningziel: Man wusste erstens, dass Kin<strong>der</strong>, bei denen die Diagnosevor dem ersten Lebensjahr gestellt wird, <strong>eine</strong> bessere Prognosehaben als Kin<strong>der</strong>, bei denen das Neuroblastom später diagnostiziertwird; zweitens war bekannt, dass es Kin<strong>der</strong>n mit fortgeschrittenerErkrankung deutlich schlechter ergeht als Kin<strong>der</strong>n mit <strong>eine</strong>m Neuroblastomim Frühstadium; dass es drittens <strong>eine</strong>n einfachen undkostengünstigen Screeningtest gibt, bei dem man nur die feuchteWindel abtupfen und bestimmte Substanzen im Urin messen muss;und dass man viertens durch diesen Test neun von zehn Kin<strong>der</strong>nmit <strong>eine</strong>m Neuroblastom identifizieren kann. 5Das Massenscreening auf ein Neuroblastom bei Säuglingen imAlter von sechs Monaten wurde erstmals 1985 in Japan eingeführt.Während <strong>der</strong> ersten drei Jahre <strong>der</strong> landesweiten Screeningaktionwurden mehr als 337 Säuglinge diagnostiziert, von denen 1990 nachTherapie noch 97 % am Leben waren. Aber auch 20 Jahre später gabes k<strong>eine</strong> Belege da<strong>für</strong>, dass das Neuroblastom-Screening die Anzahl<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, die an dieser Krebsart verstarben, reduzierte. Wie konntedas sein?Als man die Evidenz, auf <strong>der</strong>en Grundlage das Screening in Japaneingeführt und geför<strong>der</strong>t worden war, genauer unter die Lupenahm, stellte sich heraus, dass sie ernsthafte Schwachstellen aufwies– doch hatte man auch gleich <strong>eine</strong> Erklärung bei <strong>der</strong> Hand. Diebeeindruckende Zahl von 97 % Überlebenden veranschaulicht denEffekt <strong>eine</strong>s Phänomens, dass man fachsprachlich als «Length-Time-Bias» o<strong>der</strong> «Überdiagnose-Bias» bezeichnet. Es bedeutet, dassScreening sich am besten zur Erkennung von langsam fortschreitendenKrankheiten eignet (in diesem Fall langsam wachsen<strong>der</strong> Tumoren).Schnell wachsende Tumoren werden dagegen durch ein solchesScreening eher seltener entdeckt; sie äußern sich beim Säuglingvielmehr in Krankheitssymptomen – beispielsweise <strong>eine</strong>r Schwellungim Abdomen (Bauchraum) –, <strong>der</strong>etwegen die Eltern ohnehinme<strong>ist</strong> unverzüglich ärztlichen Rat einholen. Diese schnell wachsendenTumoren sind sehr viel gefährlicher als die langsam wachsen-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


70 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserden. Langsam wachsende Neuroblastome haben im Allgem<strong>eine</strong>n<strong>eine</strong> gute Prognose; auch <strong>eine</strong> Spontanregression <strong>ist</strong> möglich (s. o.). 6So gesehen hätten die 337 mittels Screening diagnostizierten Fällegrößtenteils ohnehin <strong>eine</strong> gute Prognose gehabt; dagegen warendie Säuglinge mit <strong>der</strong> potenziell ungünstigsten Prognose nicht indieser Gruppe enthalten. Und natürlich wurden durch das Screeningauch Neuroblastome entdeckt, die von allein wie<strong>der</strong> verschwundenwären. Ohne das Screening hätte niemand jemals von <strong>der</strong> Ex<strong>ist</strong>enzdieser Tumoren erfahren; das Screening hat durch diese Überdiagnostizierungaus den betroffenen Säuglingen Patienten gemacht, diedaraufhin unnötigen behandlungsbedingten Leiden ausgesetztwurden.Zudem hatte bei <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> ermutigenden Ergebnisse auskl<strong>eine</strong>n Studien, die den Anlass zur Durchführung <strong>eine</strong>s landesweitenScreenings in Japan gegeben hatten, anfangs die Überlebensdauervom Zeitpunkt ab <strong>der</strong> Neuroblastomdiagnose im Mittelpunktgestanden und nicht die Überlebensdauer seit <strong>der</strong> Geburt.Dies <strong>ist</strong> wichtig, weil <strong>eine</strong> frühere Diagnose nicht automatisch dazuführt, dass die Patienten länger leben – sie leben lediglich längereZeit mit <strong>eine</strong>m Krankheitsetikett. An<strong>der</strong>s ausgedrückt: Die Kin<strong>der</strong>sch<strong>eine</strong>n ihre Diagnose länger zu «überleben», weil die «Krankheitsuhr»früher zu ticken beginnt (Abb. 5). Dies <strong>ist</strong> ein Beispiel <strong>für</strong><strong>eine</strong> an<strong>der</strong>e Art von systematischem Fehler (Bias), die man als«Leadtime-Bias» (Vorlaufzeit-Bias) bezeichnet und <strong>der</strong> sich dadurchausschalten lässt, dass man die Ergebnisse nach Geburtsdatum<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und nicht nach ihrem Alter bei <strong>der</strong> Diagnosestellungauswertet.Anhand unverzerrter wissenschaftlicher Belege aus klinischenStudien, die unter Beteiligung von insgesamt drei Millionen Kin<strong>der</strong>nin Kanada und Deutschland durchgeführt worden waren,konnten die Wissenschaftler k<strong>eine</strong>rlei Nutzen <strong>für</strong> dieses Screeningnachweisen, da<strong>für</strong> stießen sie aber auf offensichtliche schädlicheAuswirkungen. 7 Dazu zählten ungerechtfertigte operative Eingriffeund Chemotherapien, die beide mit schwerwiegenden unerwünschtenWirkungen einhergehen können. Im Lichte dieser Evidenz wurdedas Neuroblastom-Screening bei Säuglingen in Japan 2004gestoppt.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 71FrüherkennungÜblicherDiagnosezeitpunktKein ScreeningTodScreening-VorlaufzeitIneffektives ScreeningTodScreening-VorlaufzeitWirksames ScreeningTodAbbildung 5: Länger leben mit dem Etikett «krank».Glauben Sie bloß nicht, dass Früherkennung sich lohnt«Das Neuroblastom-Screening zeigt anschaulich, wie leicht man dem Irrtumerliegen kann, dass Screeninguntersuchungen nützen, nur weil <strong>eine</strong> Krankheitdadurch frühzeitig entdeckt wird … Die beiden Studien belegen, dass dasNeuroblastom-Screening nicht nur nutzlos war, son<strong>der</strong>n darüber hinaus auch zu<strong>eine</strong>r «Überdiagnostizierung» geführt hat und auch Tumoren identifiziert habenmuss, die spontan wie<strong>der</strong> verschwunden wären. Beide Studien berichten überKin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> gescreenten Gruppe, die während <strong>der</strong> Behandlung unter schwerwiegendenKomplikationen litten … Es bleibt zu hoffen, dass diese ErfahrungenBerücksichtigung finden, wenn die Einrichtung weiterer Screeningprogramme inErwägung gezogen wird – beispielsweise ein Prostatakarzinom-Screening.»Morris JK. Screening for neuroblastoma in children.Journal of Medical Screening 2002; 9: 56.Allerdings belegen die japanischen Ergebnisse, wie oben erwähnt,dass die gescreenten Säuglinge vom Zeitpunkt <strong>der</strong> Diagnosestellungan länger überlebten; die von <strong>der</strong> Geburt an gerechnete Überlebensdauerwar nicht analysiert worden. Vor <strong>der</strong> Einführung des© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


72 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserScreeningprogramms im australischen Bundesstaat New SouthWales wertete deshalb ein australischer Spezial<strong>ist</strong> die japanischenErgebnisse erneut aus, dieses Mal auf <strong>der</strong> Grundlage des Geburtsdatums<strong>der</strong> Säuglinge anstelle des Datums <strong>der</strong> Diagnosestellung: S<strong>eine</strong>Analyse ergab k<strong>eine</strong>n Unterschied zwischen den Überlebensraten<strong>der</strong> gescreenten und <strong>der</strong> nicht gescreenten Säuglinge. Dieses Ergebnisüberzeugte die Behörden in New South Wales, sodass sie dasgeplante Screeningprogramm nicht weiter verfolgten. Den Kin<strong>der</strong>nblieben dadurch unnötige Leiden und dem Gesundheitswesen überflüssigeKosten erspart.Nutzen und Schaden gegeneinan<strong>der</strong> abwägenEs gibt zahlreiche Beispiele <strong>für</strong> sinnvolle Screeninguntersuchungen.Am weitesten verbreitet <strong>ist</strong> bei Erwachsenen vermutlich die in <strong>der</strong>Grundversorgung routinemäßig durchgeführte Untersuchung aufRisikofaktoren <strong>für</strong> Herzerkrankungen und Schlaganfall. Vielesspricht da<strong>für</strong>, dass Bluthochdruck, ein hoher Cholesterinspiegelund Rauchen das Risiko <strong>für</strong> diese Krankheiten erhöhen und dassman Herzinfarkten und Schlaganfällen vorbeugen kann, indemman Personen mit diesen Risikofaktoren identifiziert, berät undentsprechend behandelt.Phenylketonurie-Screening: eindeutige VorteileNeugeborene werden routinemäßig auf Phenylketonurie (PKU),<strong>eine</strong> erbliche Stoffwechselstörung, untersucht. Babys mit PKU sindnicht in <strong>der</strong> Lage, die Aminosäure Phenylalanin abzubauen, die inalltäglichen Nahrungsmitteln wie Milch, Fleisch, Fisch und Eiernvorkommt. Bleibt die Krankheit unbehandelt, reichert sich das Phenylalaninim Blut an und führt zu schwerwiegenden irreversiblenHirnschädigungen. Für den PKU-Test müssen nur wenige TropfenBlut aus <strong>der</strong> Ferse des Säuglings entnommen und im Labor untersuchtwerden. Wenn dieser «Fersen-Pricktest» positiv ausfällt unddie Diagnose durch weitere Untersuchungen bestätigt wird, werdendie betroffenen Babys mit <strong>eine</strong>r Spezialdiät behandelt, die ihnen zu<strong>eine</strong>r normalen Entwicklung verhilft.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 73Screening auf Bauchaortenaneurysma: Einsatz mit BedachtAm an<strong>der</strong>en Ende des Altersspektrums kann das Screening auf einBauchaortenaneurysma von Vorteil sein. Die Aorta <strong>ist</strong> das wichtigsteBlutgefäß im Körper (Hauptschlaga<strong>der</strong>). Sie zieht vom Herzendurch die Brust (den Thorax) in den Bauchraum (das Abdomen).Bei manchen Menschen wird die Bauchaortenwand im Alter schwächer,sodass es allmählich zu <strong>eine</strong>r Aussackung kommt – manspricht in diesem Fall von <strong>eine</strong>m Aneurysma, <strong>eine</strong>r Gefäßerkrankung,die nur selten Symptome verursacht und am häufigsten beiMännern ab 65 Jahren auftritt. Große Aneurysmen können ohneVorwarnung schließlich platzen, sodass Blut in den Bauchraumfließt, was oftmals zum Tod führt. 8Solche Belege <strong>für</strong> die Häufigkeit von Aneurysmen bei älterenMännern können den Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Einführung <strong>eine</strong>sScreeningprogramms bilden. In Großbritannien beispielsweise wirdMännern (aber nicht Frauen) ab dem 65. Geburtstag ein Ultraschallscreeningangeboten. Ultraschallaufnahmen (Scans) könnengroße Aneurysmen darstellen, sodass die betroffenen Männerfachärztlich beraten und (me<strong>ist</strong> operativ) behandelt werden können.Männer mit kl<strong>eine</strong>ren Aneurysmen werden mithilfe weitererUltraschalluntersuchungen überwacht; Männer, <strong>der</strong>en Aorta k<strong>eine</strong>Aussackungen zeigt, benötigen kein weiteres Screening. Von entscheiden<strong>der</strong>Bedeutung <strong>ist</strong> sowohl die Screening- als auch die Operationsqualität.Da die Aneurysmachirurgie <strong>eine</strong>n größeren Eingriffdarstellt, würde bei hohen Komplikationsraten mehr Männern geschadetals geholfen werden.Brustkrebs-Screening: etabliert, aber nach wie vor umstrittenDa die routinemäßige Brustuntersuchung mittels Mammographie-Screeningin vielen Län<strong>der</strong>n etabliert <strong>ist</strong>, könnte man wohlannehmen, es lägen fundierte Belege da<strong>für</strong> vor, dass die Vorteile <strong>der</strong>Mammographie ihre Nachteile überwiegen. Ein US-amerikanischerGesundheitsexperte brachte dies 2010 mit folgenden <strong>Wo</strong>rten zumAusdruck:© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


74 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserKein Screeningtest <strong>ist</strong> jemals gründlicher untersucht worden. In denvergangenen 50 Jahren haben mehr als 600 000 Frauen an zehn randomisiertenStudien mit jeweils <strong>eine</strong>r Nachbeobachtung von ungefährzehn Jahren teilgenommen.» Aber, so merkte er weiter an: «Angesichtsdieser außergewöhnlichen Forschungsanstrengungen entbehrt es dochnicht <strong>eine</strong>r gewissen Ironie, dass das Mammographie-Screening unter<strong>Medizin</strong>ern nach wie vor <strong>eine</strong>s <strong>der</strong> strittigsten Themen darstellt. 9<strong>Wo</strong>ran liegt das? Ein wesentlicher Grund <strong>ist</strong>, dass es den Frauen vonScreeninganbietern und Patientengruppen als vernünftig «verkauft»wird. In <strong>der</strong> Broschüre, die Frauen mit <strong>der</strong> Einladung zum Brustkrebs-Screeningerhalten, werden die Vorteile hervorgehoben, währendüber die Nachteile, Grenzen und Folgen <strong>der</strong> Mammographiehinweggegangen wird. 10 Dabei führt die Mammographie nicht nurzu <strong>eine</strong>r frühzeitigen Diagnose, son<strong>der</strong>n auch, genauso wie beimProstatakarzinom (s. unten), dazu, dass Krebsarten diagnostiziertwerden, die den Patienten zu Lebzeiten niemals gesundheitlicheProbleme bereitet hätten. Und natürlich muss man unweigerlichauch mit falsch positiven Ergebnissen rechnen, d. h. <strong>der</strong> diagnostischeTest kann positiv ausfallen, obwohl die Erkrankung gar nichtvorliegt.Die zuverlässigsten Belege stammen aus <strong>der</strong> systematischenÜberprüfung <strong>der</strong> Ergebnisse klinischer Studien, in denen die Frauennach dem Zufallsprinzip (randomisiert) <strong>eine</strong>m Screening o<strong>der</strong> k<strong>eine</strong>mScreening zugeteilt wurden. Und die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich.Wie sie zeigen, müssen 2 000 Frauen regelmäßig überzehn Jahre gescreent werden, damit <strong>eine</strong> von ihnen insofern vondiesem Screening profitiert, dass sie nicht an Brustkrebs verstirbt.Gleichzeitig werden aber aus zehn gesunden Frauen infolge desScreenings «Krebspatientinnen», die unnötigerweise behandelt werden.Bei diesen Frauen hat die Mammographie tatsächlich Gewebeverän<strong>der</strong>ungennachgewiesen, die aber so langsam (o<strong>der</strong> sogar garnicht) wachsen, dass sie sich niemals zu <strong>eine</strong>m echten Karzinomentwickelt hätten. Diesen gesunden Frauen wird dann ein Teilihrer Brust o<strong>der</strong> sogar die ganze Brust entfernt, und danach erhaltensie häufig <strong>eine</strong> Strahlen- und manchmal auch noch <strong>eine</strong>Chemotherapie. 11 © 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 75Des Weiteren kommt es bei 200 von 2 000 gescreenten Frauen zu<strong>eine</strong>m falschen Alarm durch falsch positive Befunde, die weiter abgeklärtwerden müssen: Die psychische Belastung, unter <strong>der</strong> die Betroffenenstehen, bis und auch noch nachdem sie wissen, ob sie anKrebs erkrankt sind, kann sehr schwerwiegend sein. Darüber hinauswird Frauen die Mammographie oft zusammen mit Empfehlungenzur Selbstuntersuchung <strong>der</strong> Brust o<strong>der</strong> zu Brustbewusstsein angeraten– beides Methoden, die nachweislich ebenfalls mehr Schadenanrichten als nutzen. 12Ein britischer Gesundheitsexperte hat darauf hingewiesen, dassdas Potenzial <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n individuellen Nutzen des Mammographie-Screeningssehr gering <strong>ist</strong>. Er merkte dazu an: «Das <strong>ist</strong> nichtallen klar. Zum Teil <strong>ist</strong> dies auf die Verschleierung seitens <strong>der</strong> Organisatorenvon Mammographiediensten zurückzuführen, die <strong>der</strong>Meinung sind, dass sie die Vorteile herausstreichen müssen, um<strong>eine</strong> passable Compliance [mit dem Screening] sicherzustellen.» In<strong>eine</strong>r Bewertung <strong>der</strong> im Jahr 2010 verfügbaren Evidenz erklärte er:«Mammographie rettet Leben – dies trifft in stärkerem Maße <strong>für</strong>ältere Frauen zu; aber es birgt auch gewisse Nachteile.» Mit denNachteilen meint er die Überdiagnostizierung und die falsch positivenBefunde. Kritisch bemerkte er, dass die unvoreingenommenevollständige Untersuchung aller Einzelergebnisse aus neuerenScreeningstudien noch aussteht. 13 Während wir auf <strong>eine</strong> solcheunparteiische Evaluation noch warten, erhalten Frauen auch weiterhinEinladungen zum Mammographie-Screening. Zumindestmüssen ihnen dann aber hinreichend ausgewogene Informationenzur Verfügung gestellt werden, aufgrund <strong>der</strong>er sie (zusammen mitihrer Familie und, wenn sie das wünschen, ihrem Arzt) entscheidenkönnen, ob sie an diesem Screening teilnehmen möchten – o<strong>der</strong>nicht.Prostatakarzinom-Screening: deutliche Nachteile bei unklarenVorteilenDas Prostatakarzinom, die weltweit zweithäufigste Krebsart beiMännern 14 , lässt sich grob in zwei Typen unterteilen. Manche Männerleiden an <strong>eine</strong>r aggressiven Form <strong>der</strong> Krankheit; diese gefährli-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


76 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserchen Karzinome breiten sich rasch aus und gehen mit <strong>eine</strong>r hohenSterblichkeit (Mortalität) einher. Viele <strong>der</strong> Erkrankten haben aberein langsam wachsendes Karzinom, das <strong>für</strong> sie zu Lebzeiten niemalszu <strong>eine</strong>r Bedrohung führen würde. Im Idealfall würde man bei <strong>eine</strong>rScreeninguntersuchung die gefährlichen Karzinome entdecken(und hoffen, dass sie behandelbar sind), nicht aber die langsamwachsenden. Der Grund <strong>ist</strong>, dass die Behandlung bei<strong>der</strong> Formen desProstatakarzinoms belastende Nebenwirkungen wie Inkontinenzund Impotenz mit sich bringt – ein hoher Preis also, den man auchdann bezahlen muss, wenn das Karzinom eigentlich gar k<strong>eine</strong> Problemeverursachen würde. 15Die Mehrzahl <strong>der</strong> an <strong>eine</strong>m Prostatakarzinom erkrankten Männerwe<strong>ist</strong> erhöhte Blutkonzentrationen <strong>eine</strong>r Substanz auf, die manprostataspezifisches Antigen (PSA) nennt. Allerdings gibt es k<strong>eine</strong>neindeutigen Grenzwert, mit dessen Hilfe man Männer mit Prostatakrebsvon Männern ohne Prostatakrebs unterscheiden könnte 16 ,und nicht weniger als <strong>eine</strong>r von fünf Männern mit <strong>eine</strong>m behandlungsbedürftigenProstatakarzinom hat normale PSA-Spiegel. Zudem<strong>ist</strong> das PSA, entgegen s<strong>eine</strong>m Namen, alles an<strong>der</strong>e als «spezifisch»,denn auch gutartige Prostatatumoren, Infektionen und sogareinige frei verkäufliche Schmerzmittel können zu <strong>eine</strong>m Anstieg <strong>der</strong>PSA-Spiegel führen. Allein aus diesen Gründen we<strong>ist</strong> das PSA alsScreeningtest gravierende Schwächen auf.Und doch wird die routinemäßige Durchführung von PSA-Testsbei gesunden Männern von Ärzten, Patientengruppen und Unternehmen,die diese Tests verkaufen, leidenschaftlich be<strong>für</strong>wortet und<strong>ist</strong> in vielen Län<strong>der</strong>n auch verbreitet eingeführt worden. Die dasPSA-Screening be<strong>für</strong>wortende Lobby hat sich beson<strong>der</strong>s lautstark inden USA zu <strong>Wo</strong>rt gemeldet, wo alljährlich schätzungsweise 30 MillionenMänner in dem Glauben getestet werden, dies sei sinnvoll.Welche Belege gibt es also <strong>für</strong> die Behauptung, dass die Früherkennungvon Prostatakrebs mittels PSA-Screening das Behandlungsergebnis<strong>der</strong> Betroffenen verbessert, und was weiß man über die mitdiesem Test verbundenen Nachteile?Inzwischen <strong>ist</strong> auch hochwertige Evidenz <strong>für</strong> die Vor- und Nachteiledes PSA-Screenings verfügbar. Im Jahr 2010 wurden die Ergebnissealler relevanten Studien systematisch ausgewertet. Diese Be-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 77Überdiagnostizierung des Prostatakarzinoms«Das Prostatakarzinom gilt als Paradebeispiel <strong>für</strong> Überdiagnostizierung. Das bedeutetnicht, dass es nicht Männer gibt, die durch die Früherkennung vor <strong>eine</strong>mvorzeitigen, durch Prostatakrebs bedingten Tod bewahrt werden. Aber … es gibtkaum <strong>eine</strong> Möglichkeit, vorab festzustellen, welche Männer von <strong>eine</strong>m Screeningprofitieren und welche sich unnötigerweise <strong>eine</strong>r Therapie unterziehen – oftmalsmit einschneidenden unerwünschten Folgen <strong>für</strong> ihr Leben. Das wesentlicheProblem besteht darin, dass wir durch das Prostatakrebs-Screening und die Untersuchungensehr viel mehr Prostatakarzinome entdecken als jemals zuvor, undso merkwürdig das auch anmuten mag: Viele dieser Karzinome würden niemalszu <strong>eine</strong>r Lebensbedrohung werden. In <strong>der</strong> Vergangenheit hätten diese Männerniemals erfahren, dass sie an Prostatakarzinom erkrankt sind. Sie wären nichtwegen ihres Prostatakarzinoms, son<strong>der</strong>n mit ihm, d. h. an etwas an<strong>der</strong>em, verstorben.Durch den Nachweis all dieser indolenten (schmerzlosen) Prostatakarzinomeerhalten heutzutage mehr Männer die Diagnose Prostatakrebs als jemals zuvor– daher auch <strong>der</strong> Begriff ‹Überdiagnose›. Dies <strong>ist</strong> das Grunddilemma, vor demje<strong>der</strong> Mann steht, <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n solchen Screeningtest in Erwägung zieht.»Chapman S, Barratt A, Stockler M. Let sleeping dogs lie?What men should know before getting tested for prostate cancer. Sydney:Sydney University Press, 2010: S. 25Der Entdecker des PSA meldet sich zu <strong>Wo</strong>rt«Die Popularität des PSA-Tests hat ein immens kostspieliges Public-Health-Desasterausgelöst. Dies <strong>ist</strong> ein Punkt, dessen ich mir schmerzlich bewusst bin – dennich war es, <strong>der</strong> das PSA 1970 entdeckt hat. …Amerikaner geben enorm viel Geld <strong>für</strong> Untersuchungen zur Früherkennung vonProstatakrebs aus. Die jährlichen Kosten <strong>für</strong> das PSA-Screening belaufen sich aufmindestens 3 Milliarden Dollar; ein Großteil dieser Summe wird von <strong>der</strong> öffentlichenKrankenversicherung Medicare und <strong>der</strong> Veteranen-VersorgungsbehördeVeterans Benefit Admin<strong>ist</strong>ration aufgebracht.Das Prostatakarzinom mag zwar in <strong>der</strong> Presse <strong>eine</strong> hohe Aufmerksamkeit genießen,aber sehen wir uns einmal die Zahlen dazu an: Bei amerikanischen Männernliegt die Lebenszeitwahrscheinlichkeit, mit <strong>eine</strong>m Prostatakarzinom diagnostiziertzu werden, bei 16 %; die Wahrscheinlichkeit, daran zu versterben, beträgt dagegennur 3 %. Das liegt daran, dass die Mehrzahl <strong>der</strong> Prostatakarzinome langsamwächst. Mit an<strong>der</strong>en <strong>Wo</strong>rten: Männer, die das Glück haben, ein hohes Alter zuerreichen, sterben sehr viel eher mit als wegen Prostatakrebs.Und selbst dann <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Test kaum effizienter, als <strong>eine</strong> Münze zu werfen. Seit vielenJahren versuche ich nun schon klarzustellen, dass <strong>der</strong> PSA-Test ein Prostatakarzinomnicht nachweisen kann. Was aber noch viel wichtiger <strong>ist</strong>: Er kann nicht zwischenden beiden Typen des Prostatakarzinoms unterscheiden – dem, das tödlichverläuft, und dem, das nicht tödlich <strong>ist</strong>.»Ablin RJ. The great prostate m<strong>ist</strong>ake. New York Times, 10. März 2010.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


78 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserwertung ergab, dass das PSA-Screening die Wahrscheinlichkeit<strong>eine</strong>r Prostatakrebsdiagnose erhöhte (was ja auch zu erwarten <strong>ist</strong>),dass es aber k<strong>eine</strong> wissenschaftlichen Belege <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Einfluss aufdie krebsbedingte Sterblichkeitsrate o<strong>der</strong> die Gesamtsterblichkeitgibt. 17Wendet sich das Blatt also nun gegen das PSA-Screening? Gingees nach Richard Ablin, dem Entdecker des PSA, dann würde genaudas eintreten, was er bereits seit vielen Jahren propagiert. 2010schrieb er dazu in <strong>eine</strong>m Beitrag:Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass m<strong>eine</strong> vier Jahrzehnte zurückreichendeEntdeckung zu <strong>eine</strong>m solchen profitgesteuerten Desasterim Gesundheitswesen führen würde. Die Ärzteschaft muss sich <strong>der</strong> Realitätstellen und diesen unangemessenen Einsatz des PSA-Screeningsstoppen. Das würde Milliarden Dollar einsparen helfen und MillionenMännern unnötige, kräftezehrende Behandlungen ersparen.Zumindest sollte je<strong>der</strong> Mann über die Grenzen des Tests und s<strong>eine</strong>möglichen unerwünschten Folgen beraten werden, bevor er sich <strong>eine</strong>mPSA-Test unterzieht. Eine Gruppe von Experten hat daraufhingewiesen, dass «[Männer] darüber aufgeklärt werden sollten,dass <strong>der</strong> Test [ihnen] k<strong>eine</strong> Auskunft darüber geben kann, ob sie an<strong>eine</strong>r lebensbedrohlichen Krebserkrankung leiden, dass er sie aberdurch <strong>eine</strong>n Dschungel von Tests und Behandlungen führen könnte,auf die sie vielleicht lieber verzichtet hätten.» 18Lungenkrebs-Screening: früh, aber nicht früh genug?Durch ein Screening kann die Krankheit früher diagnostiziert werden,aber sie wird nicht immer früh genug nachgewiesen, um <strong>eine</strong>nUnterschied zu bewirken (Abb. 6).Einige Krebsarten wie beispielsweise das Lungenkarzinom breitensich im Körper aus, bevor <strong>der</strong> Patient Symptome zeigt und dasVorhandensein <strong>der</strong> Krebserkrankung durch Untersuchungen nachweisbar<strong>ist</strong>. Versuche, Lungenkrebs mithilfe von Thorax-Röntgennachzuweisen, veranschaulichen dieses Problem (s. Stadium B inAbb. 6). In den 1970er-Jahren ergaben mehrere großangelegte Stu-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 79Screening (Früherkennung)Diagnose(Späterkennung)A:K<strong>eine</strong> Symptome,k<strong>eine</strong> TumorausbreitungB:K<strong>eine</strong> Symptome,TumorausbreitungC:Symptome,TumorausbreitungAbbildung 6: Wachstum und Ausbreitung des Lungenkarzinoms bei starken Rauchern.dien mit Starkrauchern, dass die Krebserkrankungen zwar früherentdeckt wurden, es ließ sich aber nicht nachweisen, dass dadurchauch die Anzahl <strong>der</strong> lungenkrebsbedingten Todesfälle abnahm. Diein den Röntgenaufnahmen sichtbaren Lungenkarzinome hattensich bereits über die Lunge hinaus ausgebreitet. Somit lebten diesePatienten länger mit ihrer Krebsdiagnose und wurden auch früherbehandelt, doch es gab k<strong>eine</strong>n Anhaltspunkt da<strong>für</strong>, dass dieser Umstandsich auf ihre Lebenserwartung auswirkte.In <strong>eine</strong>r neueren, großen randomisierten Studie, an <strong>der</strong> 53 000aktuelle und ehemalige starke Raucher teilnahmen, wurde das Röntgen-Thorax-Screeningmit <strong>eine</strong>m beson<strong>der</strong>en Verfahren <strong>der</strong> Computertomographie(CT), <strong>der</strong> sog. Spiral-CT, verglichen. Zwei Patientengruppenwurden drei jährlichen Screeninguntersuchungenzugeteilt. Mithilfe <strong>der</strong> Spiral-CT konnte das Lungenkarzinom in <strong>eine</strong>mnoch früheren Stadium diagnostiziert werden als mit demRöntgen-Thorax, und bei <strong>eine</strong>m kl<strong>eine</strong>n Anteil <strong>der</strong> Patienten wurdedie Diagnose früh genug gestellt (Stadium A in Abb. 6), sodass <strong>eine</strong>nutzbringende Behandlung eingeleitet werden konnte (346 lungenkrebsbedingteTodesfälle in <strong>der</strong> Gruppe mit Spiral-CT gegenüber© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


80 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserWie Screenings verkauft werden«Screening zu verkaufen kann ziemlich einfach sein: Angst verbreiten, indem mandas Risiko übertreibt. Hoffnung schüren, indem man den Screeningnutzen übertreibt.Und auf k<strong>eine</strong>n Fall die Nachteile erwähnen. Beson<strong>der</strong>s einfach <strong>ist</strong> diesbeim Thema Krebs – denn k<strong>eine</strong> Diagnose <strong>ist</strong> ge<strong>für</strong>chteter. Und wir alle kennendas Mantra: Früherkennung <strong>ist</strong> <strong>der</strong> beste Schutz. Wenn Sie Zweifel äußern, dannkönnte es Ihnen passieren, dass man Ihnen rät, Ihren Ge<strong>ist</strong>eszustand untersuchenzu lassen: ‹Wenn Sie <strong>eine</strong> Frau und über 35 Jahre alt sind, sollten Sie sich zur Mammographieanmelden. Es sei denn, Sie sind noch immer nicht davon überzeugt,wie wichtig das <strong>ist</strong>. Dann könnte es aber sein, dass Sie nicht nur Ihre Brust untersuchenlassen sollten.› (Plakat <strong>der</strong> American Cancer Society).Botschaften, die uns ein Screening verkaufen wollen, sind allgegenwärtig. In denNachrichten hören wir regelmäßig Geschichten von berühmten Personen, die unsversichern, dass sie <strong>der</strong> Früherkennung <strong>eine</strong>r Krebserkrankung ihr Leben zu verdankenhaben. Selten sind dagegen Geschichten über Menschen zu lesen, diedurch Überdiagnostizierung und Überbehandlung Schaden genommen haben.In gängigen Zeitschriften lesen wir emotional aufgeladene, aber vollkommenunrepräsentative Geschichten über junge Frauen mit Brustkrebs und ihre Angstdavor, daran zu sterben und ihre kl<strong>eine</strong>n Kin<strong>der</strong> zurücklassen zu müssen.<strong>Medizin</strong>ische Zentren nutzen das Screening als Geschäftsstrategie, indem sie, umPatienten anzulocken, kostenlose Untersuchungen anbieten. Öffentliche Werbebotschaften– wie <strong>der</strong> oben zitierte Slogan <strong>der</strong> American Cancer Society – sprechen<strong>für</strong> sich selbst.»<strong>Wo</strong>loshin S, Schwartz LM. Numbers needed to decide. Journal of the NationalCancer Institute 2009; 101: 1163–1165.425 in <strong>der</strong> Gruppe mit Röntgen-Thorax). Doch ging dieses günstigeBehandlungsergebnis zulasten <strong>eine</strong>s großen Anteils von Studienteilnehmern,bei denen die Lungenkrebsdiagnose irrtümlich gestelltwurde. Insgesamt verstarben im Laufe <strong>der</strong> achtjährigen Nachbeobachtungszeitpro 1 000 starke Raucher, die jedes Jahr drei Röntgeno<strong>der</strong>CT-Untersuchungen erhalten hatten, drei Patienten wenigeran Lungenkrebs. Aber 13 starben trotz Früherkennung an Lungenkrebs,und 233 erhielten <strong>eine</strong>n falsch positiven Befund, <strong>der</strong> <strong>eine</strong>weitere Diagnostik erfor<strong>der</strong>lich machte. 19© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 81Genetische Tests: manchmal sinnvoll,oftmals unzuverlässigVor nicht allzu langer Zeit waren «genetische Tests» mehr o<strong>der</strong>weniger auf die generell seltenen monogenen Erkrankungen beschränkt– beispielsweise auf die in <strong>der</strong> Kindheit einsetzende und zuMuskelschwund führende Duchenne-Muskeldystrophie o<strong>der</strong> dieHuntington-Krankheit, <strong>eine</strong> fortschreitende Erkrankung des Nervensystems,die normalerweise im Alter zwischen 35 und 40 Jahrenauftritt. Um solche Erkrankungen zu diagnostizieren, werden genetischeTests durchgeführt. Man kann sie im Hinblick auf die Familienplanungaber auch zum Screening gesun<strong>der</strong> Menschen einsetzen,bei denen die Familienanamnese vermuten lässt, dass die fraglicheKrankheit bei ihnen mit <strong>eine</strong>r überdurchschnittlich hohen Wahrscheinlichkeitauftreten könnte.Die Mehrzahl <strong>der</strong> erblichen Erkrankungen lässt sich allerdingsnicht auf ein einzelnes defektes Gen zurückführen. In <strong>der</strong> Regel <strong>ist</strong><strong>der</strong> Ausbruch dieser Krankheiten davon abhängig, inwieweit inmehreren Genen vorhandene Risikovarianten miteinan<strong>der</strong> inWechselwirkung treten und wie diese mit Umweltfaktoren zusammenwirken.Nur wenn es zu <strong>eine</strong>r «kritischen» Kombination vongenetischen Risikovarianten und Umweltfaktoren kommt, brichtdie Krankheit aus. 1Obwohl es durchaus kompliziert <strong>ist</strong>, die Mehrzahl <strong>der</strong> Krankheitenauf abnormale (aberrante) Gene zurückzuführen, preisen dieMedien und Be<strong>für</strong>worter von Direct-to-Consumer-(DTC-) Gentests(die dem Verbraucher direkt, ohne Umweg über <strong>eine</strong> medizinischeBeratung, angeboten werden) den angeblichen Wert und die Einfachheit<strong>der</strong> Erstellung <strong>eine</strong>s solchen genetischen Risikoprofils an.Zur DNA-Analyse braucht man lediglich <strong>eine</strong> Speichelprobe an einUnternehmen einzusenden, das solche Tests gegen Bezahlung durchführtund Ihnen dann Ihr genetisches Profil zusendet. Doch die Informationen,die Sie so erhalten, werden Ihnen – bzw. Ihrem Arzt –kaum helfen, vernünftige Vorhersagen über Ihr Erkrankungsrisikozu treffen, ganz zu schweigen davon, dass sie Ihnen auch nicht sagen,was man im Fall <strong>der</strong> Fälle – wenn überhaupt – tun könnte. Dieser«Do-it-yourself»-Ansatz erfüllt eindeutig nicht die Kriterien <strong>für</strong> ei-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


82 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig bessernen sinnvollen Screeningtest (s. unten). Stattdessen kann das ErgebnisSie aber sehr wohl beunruhigen und Ihre Entscheidungsfindungerschweren; zudem kann es auch umfangreichere Folgen haben –beispielsweise <strong>für</strong> Ihre Angehörigen. Um es mit den <strong>Wo</strong>rten RayMoynihans, <strong>eine</strong>s australischen Gesundheitsjournal<strong>ist</strong>en, zu sagen:Für alle, die über die schleichende Medikalisierung unseres Lebens besorgtsind, eröffnet <strong>der</strong> Markt <strong>für</strong> genetische Tests mit Sicherheit <strong>eine</strong>neue Front, an <strong>der</strong> durch <strong>eine</strong> ansch<strong>eine</strong>nd harmlose Technologie ausgesunden Menschen ängstliche Patienten werden können, <strong>der</strong>enMenschsein durch multiple genetische Prädispositionen <strong>für</strong> Krankheitund vorzeitigen Tod damit neu definiert wird. 20Pokern Sie nicht mit Ihren Genen«Auf <strong>der</strong> Grundlage des Wissens um <strong>eine</strong> einzelne (o<strong>der</strong> auch einige wenige)Genvariante(n) zu handeln, <strong>ist</strong> ungefähr so, als würden Sie Ihr gesamtes Geld aufein Pokerblatt setzen, obwohl Sie erst <strong>eine</strong> Karte gesehen haben. Sie wissen we<strong>der</strong>,was <strong>für</strong> ein Blatt an genetischen Faktoren Ihnen ausgeteilt wurde, noch wissenSie, welche Auswirkungen Ihre Umwelt haben wird, und hier haben wir esnicht nur mit fünf Karten, son<strong>der</strong>n mit mehr als 20 000 Genen und vielen tausendUmweltfaktoren zu tun. Zudem kann die Wirkung <strong>eine</strong>s Gens durch den EinflussIhrer Lebensführung, Ihrer Familiengeschichte o<strong>der</strong> durch das Vorhandenseinan<strong>der</strong>er, schützen<strong>der</strong> Gene aufgehoben werden. Viele von uns tragen defekteGene in sich, ohne dass es jemals zum Auftreten <strong>eine</strong>r Krankheit kommt.»Sense About Science. Making sense of testing: a guide to why scans andother health tests for well people aren’t always a good idea. London:Sense About Science 2008, S. 7. Erhältlich unter www.senseaboutscience.orgWas man mit Screening erreichen willund warum Evidenz so wichtig <strong>ist</strong>Wie die bisher angeführten Beispiele zeigen, lohnt es sich, <strong>eine</strong>nMoment innezuhalten, bevor man vorschnell <strong>für</strong> ein flächendeckendesScreening eintritt. Denken wir noch einmal über die wichtigstenEigenschaften von Screeningprogrammen nach und rufenuns in Erinnerung, was sie eigentlich bezwecken sollen. Die Menschen,denen ein Screening angeboten wird, zeigen we<strong>der</strong> Symptomenoch Zeichen <strong>der</strong> Krankheit, auf die sie getestet werden sollen,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 83o<strong>der</strong> sie haben diese noch nicht bemerkt – sie haben wegen <strong>der</strong>fraglichen Erkrankung noch k<strong>eine</strong> ärztliche Hilfe in Anspruch genommen.Das Screening von Einzelpersonen o<strong>der</strong> von Bevölkerungsgruppenverfolgt den Zweck, das Sterblichkeitsrisiko o<strong>der</strong> dasRisiko <strong>für</strong> <strong>eine</strong> spätere Erkrankung zu reduzieren, indem man ihnen<strong>eine</strong> Untersuchung anbietet, mit <strong>der</strong> sich diejenigen identifizierenlassen, die von <strong>eine</strong>r Behandlung profitieren könnten.1, 21Die grundlegenden Kriterien <strong>für</strong> die Bewertung des Nutzens vonScreeninguntersuchungen wurden 1968 in <strong>eine</strong>m Bericht <strong>der</strong> Weltgesundheitsorganisationnie<strong>der</strong>gelegt 22 und stetig weiter verf<strong>eine</strong>rt,um unserer mo<strong>der</strong>nen Gesundheitsversorgung Rechnung zu tragen.Menschen, die zu <strong>eine</strong>m Screening eingeladen werden, benötigenausreichende und ausgewogene Informationen über das Untersuchungsangebot– darunter s<strong>eine</strong> möglichen Nachteile, Konsequenzenund Grenzen wie auch s<strong>eine</strong> potenziellen Vorteile – sodass <strong>eine</strong>informierte Entscheidung getroffen werden kann. Die wichtigstenAspekte lassen sich im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: EinScreening sollte nur durchgeführt werden,• wenn die gesuchte Erkrankung ein relevantes allgem<strong>eine</strong>s Gesundheitsproblemdarstellt (wenn es sich beispielsweise um <strong>eine</strong>schwere Krankheit handelt und/o<strong>der</strong> wenn <strong>eine</strong> große Anzahlvon Menschen davon betroffen <strong>ist</strong>)• wenn die Krankheit in <strong>eine</strong>m Frühstadium erkennbar <strong>ist</strong>• wenn es <strong>eine</strong>n validen und zuverlässigen Test <strong>für</strong> die betreffendeErkrankung gibt, <strong>der</strong> <strong>für</strong> die Menschen, denen das Screeningangeboten wird, akzeptabel <strong>ist</strong>• wenn <strong>eine</strong> wirksame und akzeptable Behandlung <strong>für</strong> dieseKrankheit zur Verfügung steht, sodass ein Screening die Prognosewahrscheinlich günstig beeinflussen kann• wenn es sich um <strong>eine</strong> hochwertige Screeningmaßnahme handelt,die in dem Bereich, in dem sie angeboten wird, kosteneffektiv <strong>ist</strong>• wenn die Informationen, die den Betroffenen zur Verfügung gestelltwerden, unvoreingenommen sind, auf soliden wissenschaftlichenDaten basieren und die möglichen Nachteile (z. B.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


84 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserÜberdiagnosen, die zu Überbehandlung führen) wie auch diepotenziellen Vorteile klar dargestellt sind• wenn die Einladung zum Screening nicht mit Zwang verbunden<strong>ist</strong> – d. h. wenn sie <strong>eine</strong>n Hinweis darauf enthält, dass es gerechtfertigtsein kann, die Einladung nicht anzunehmen• wenn die Wahrscheinlichkeit <strong>eine</strong>s körperlichen o<strong>der</strong> seelischenSchadens <strong>für</strong> den Empfänger des Screeningangebots wahrscheinlichgeringer <strong>ist</strong> als s<strong>eine</strong> Nutzenwahrscheinlichkeit• wenn ausreichende Möglichkeiten <strong>für</strong> die Diagnose und Therapie<strong>der</strong> durch das Screening nachgewiesenen gesundheitlichenStörungen verfügbar sind.Diese Kriterien unterstreichen noch einmal unsere am Anfang diesesKapitels formulierte Botschaft: dass nämlich alle Entscheidungenüber die Einführung <strong>eine</strong>s Screeningprogramms auf <strong>der</strong> Grundlagehochwertiger Evidenz getroffen werden sollten, und zwar nichtnur bezüglich s<strong>eine</strong>r Wirksamkeit, son<strong>der</strong>n auch hinsichtlich s<strong>eine</strong>sSchadenspotenzials.Ist überhaupt jemand normal?Untersuchungen mittels Ganzkörper-CTVon Privatkliniken wird zur Untersuchung von Schädel, Hals,Brust, Bauch und Becken u. a. die Ganzkörper-Computertomographie(CT) angeboten. Sie wird dem Konsumenten direkt angebotenund normalerweise ohne Rücksprache mit dem Hausarzt <strong>der</strong> Betreffendendurchgeführt. Ganzkörper-Scans werden häufig alsMöglichkeit beworben, <strong>eine</strong>r potenziellen Erkrankung immer <strong>eine</strong>nSchritt voraus zu sein, davon ausgehend, dass ein «normaler» Befundberuhigend wirkt. Doch die Scans sind nicht nur teuer, son<strong>der</strong>nes <strong>ist</strong> auch nicht belegt, dass sie bei Menschen ohne Krankheitssymptomeo<strong>der</strong> Krankheitszeichen überhaupt <strong>eine</strong>n gesundheitlichenGesamtnutzen haben.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 85Der Screening-Zirkus2009 erfuhr ein frisch pensionierter Professor <strong>für</strong> Neurologie, <strong>der</strong> sich schon längereZeit <strong>für</strong> das Thema Schlaganfallprävention interessierte, von s<strong>eine</strong>n Nachbarn,dass sie <strong>eine</strong> Broschüre erhalten hatten, mit <strong>der</strong> sie zu <strong>eine</strong>m Screening <strong>für</strong>Schlaganfall und an<strong>der</strong>e Komplikationen kardiovaskulärer Erkrankungen eingeladenwurden. Die von <strong>eine</strong>m Gefäßscreening-Unternehmen stammende Broschürelud sie dazu ein, sich <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Reihe von Untersuchungen (zum Preis von € 170)in die örtliche Kirche zu begeben. Neugierig geworden – nicht zuletzt, weil einige<strong>der</strong> Informationen in <strong>der</strong> Broschüre faktisch falsch waren –, beschloss er, sichselbst dorthin zu begeben.«Als erstes stand <strong>eine</strong> Untersuchung auf Aortenaneurysma [Erweiterung <strong>der</strong>Hauptarterie, die das Blut vom Herzen weg beför<strong>der</strong>t] mittels Ultraschall auf demProgramm. Sie wurde von <strong>eine</strong>r Frau durchgeführt, die sich nicht auf ein Gesprächüber die Folgen <strong>eine</strong>s etwaigen Aneurysmabefunds einlassen wollte. Als Nächsteskamen Blutdruckmessungen am Knöchel und am Arm an die Reihe, ‹wegen eventuellerProbleme mit m<strong>eine</strong>m Kreislauf›… gefolgt von <strong>eine</strong>m kl<strong>eine</strong>n Bonus, <strong>der</strong>nichts mit m<strong>eine</strong>n Gefäßen zu tun hatte: ein Osteoporose-Screening m<strong>eine</strong>sSprunggelenks. Dann gab es noch <strong>eine</strong> … Elektrokardiographie zum Nachweisvon ‹Problemen mit den beiden oberen Kammern m<strong>eine</strong>s Herzens› … DasSchlusslicht bildete ein Ultraschall <strong>der</strong> Karotis [Halsarterie], um zu prüfen, ‹ob sichPlaques [Ablagerungen] gebildet haben›. Auf m<strong>eine</strong> Frage, welche Folgen dashaben könne, antworteten sie mir, dass sich Blutgerinnsel bilden und zu <strong>eine</strong>mSchlaganfall führen könnten. Als ich nachhakte, wie man das behandeln könne,bekam ich vage Bemerkungen über blutverdünnende Medikamente zu hören,aber nichts über <strong>eine</strong> operative Therapie. Erst als ich direkt fragte, ob vielleichtauch <strong>eine</strong> Operation möglich sei, wurde diese Frage tatsächlich bejaht. ‹Könntedas gefährlich sein?›, erkundigte ich mich gutgläubig. Die Antwort lautete, dassdie Risiken von <strong>eine</strong>r gründlichen diagnostischen Abklärung abhingen, die m<strong>eine</strong>Hausärztin durchführen müsse und mit <strong>der</strong> ich etwaige auffällige Befunde dieserUntersuchungen besprechen sollte.All diese Untersuchungen (ausgenommen das Aortenaneurysma-Screening)wurden ohne Sichtschutz durchgeführt … Es schien kein Arzt anwesend zu sein,und das Team ließ k<strong>eine</strong> Absicht erkennen bzw. war nicht bereit, mit mir die Folgenfalsch positiver o<strong>der</strong> falsch negativer Befunde, die prognostischen Konsequenzenechter Auffälligkeiten o<strong>der</strong> die Risiken und Vorteile etwaiger Behandlungenzu erörtern.Es war bloß ein Screening, nicht mehr und nicht weniger, in rein kommerziellerAbsicht angeboten: Die Ergebnisse würden mir innerhalb von 21 Werktagen insHaus flattern, und es bliebe m<strong>eine</strong>r Hausärztin überlassen, sich um die emotionalenund körperlichen Folgen etwaiger richtiger o<strong>der</strong> falscher auffälliger Befundezu kümmern, auch wenn sie diese Untersuchungen nicht selbst angefor<strong>der</strong>thatte. … Bei anfälligen Menschen weckt dieser ganze Screening-Zirkus wahrscheinlichAngst, ohne dass darüber gesprochen wird, was passiert, wenn Auffälligkeitennachgewiesen werden, und ohne dass auch nur die geringste Verantwortung<strong>für</strong> die Folgen übernommen wird.»Warlow C. The new religion: screening at your parish church.BMJ 2009; 338: b1940© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


86 Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besserZudem gehen diese Untersuchungen mit <strong>eine</strong>r nicht unerheblichenStrahlenbelastung einher: etwa 400-mal mehr als beim Röntgen-Thorax,d. h. so viel mehr, dass das britische Komitee zur Untersuchungvon Strahlenrisiken durch die Umwelt (COMARE) 2007«Dienstle<strong>ist</strong>ern», die symptomfreien (asymptomatischen) PersonenGanzkörper-CT-Untersuchungen anboten, dringend empfahl, davonAbstand zu nehmen.Nach Beratungen kündigte die britische Regierung 2010 den Erlassstrengerer Regeln <strong>für</strong> den Einsatz von Ganzkörper-Scans an.Auch die US-amerikanische Food and Drug Admin<strong>ist</strong>ration machtedie Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass diese Scans bei Gesundenk<strong>eine</strong>n nachweislichen Nutzen haben und kommentierte dasmit folgenden <strong>Wo</strong>rten:Viele Menschen sind sich nicht darüber im Klaren, dass <strong>eine</strong> Untersuchungmittels Ganzkörper-CT ihnen nicht unbedingt den erhofften«Seelenfrieden» verschafft o<strong>der</strong> die Informationen liefert, die ihnen helfenwürden, <strong>eine</strong>m gesundheitlichen Problem vorzubeugen. So kann esbeispielsweise durchaus vorkommen, dass ein auffälliger Befund nichtsErnstes bedeutet und dass ein normaler Befund ungenau <strong>ist</strong>.23, 24, 25Einen Mittelweg findenEinen Mittelweg zwischen <strong>der</strong> übereifrigen Suche nach Krankheitenund dem Versagen bei <strong>der</strong> Identifizierung <strong>der</strong>jenigen Menschen zufinden, die von <strong>eine</strong>r Früherkennung profitieren könnten, <strong>ist</strong> niemalsleicht und führt unweigerlich zu unpopulären Entscheidungen.Alle Gesundheitssysteme müssen sparsam mit ihren Ressourcenumgehen, wenn die ganze Bevölkerung davon profitieren soll.Dieses grundlegende Prinzip bedeutet mit Sicherheit, dass sichScreeningprogramme bei ihrer Einführung nicht nur auf solide Evidenzstützen können müssen, son<strong>der</strong>n dass man sie auch laufendüberwachen muss, um zu kontrollieren, ob sie auch noch dannsinnvoll sind, wenn neue wissenschaftliche Daten vorliegen und sichdie Umstände vielleicht geän<strong>der</strong>t haben. Ernsthaft zu prüfen <strong>ist</strong> dieFrage, ob Screeningprogramme großen Teilen <strong>der</strong> Bevölkerung angeboteno<strong>der</strong> stärker auf Personen mit <strong>eine</strong>m erhöhten Erkrankungsrisikozugeschnitten werden sollten.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Früher <strong>ist</strong> nicht zwangsläufig besser 87• Eine frühere Diagnose führt nicht zwangsläufig zu besseren Behandlungsergebnissen;manchmal verschlimmert sie die Lage.• Screeningprogramme sollten nur eingeführt werden, wenn es fundiertewissenschaftliche Belege <strong>für</strong> ihre Wirksamkeit gibt.• Manchmal <strong>ist</strong> es besser, auf die Einführung <strong>eine</strong>s Screeningprogrammszu verzichten.• Menschen, die zu <strong>eine</strong>r Screeninguntersuchung eingeladen werden,brauchen ausgewogene Informationen.• Die Vorzüge <strong>eine</strong>s Screenings werden oftmals zu sehr angepriesen.• Die Nachteile <strong>eine</strong>s Screenings werden häufig heruntergespielto<strong>der</strong> ignoriert.• Eine gute Kommunikation über die Vor- und Nachteile sowie dieRisiken <strong>eine</strong>s Screenings <strong>ist</strong> unerlässlich.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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5 Wie man mit Unsicherheitim Hinblick aufTherapieeffekte umgehtIn diesem Kapitel wollen wir uns mit den Unsicherheiten befassen,mit denen die angeblichen Wirkungen neuer o<strong>der</strong> auch bereits bekannterBehandlungen fast unweigerlich behaftet sind. So würdenwohl nur wenige Menschen den routinemäßigen Einsatz von Sauerstoffbei Herzinfarkt-Patienten infrage stellen. Jedoch gibt es k<strong>eine</strong>soliden Daten da<strong>für</strong>, dass diese Maßnahme tatsächlich hilft, undsogar einige Anhaltspunkte da<strong>für</strong>, dass sie schaden könnte. DieseUnsicherheit wurde niemals wirklich angemessen untersucht 1 , undauch viele an<strong>der</strong>e Behandlungseffekte sind umstritten.Dramatische Behandlungseffekte:selten und leicht erkennbarNur selten <strong>ist</strong> die Datenlage so eindeutig, dass alle Zweifel an <strong>der</strong>Wirksamkeit <strong>eine</strong>r Therapie ausgeräumt werden können. 2 In solchenFällen fällt <strong>der</strong> Therapieeffekt dann oftmals dramatisch ausund setzt unmittelbar ein. Nehmen wir z. B. das Kammerflimmern,<strong>eine</strong> Herzrhythmusstörung, bei <strong>der</strong> die Muskelkontraktionin den Ventrikeln (Herzkammern) vollkommen ungeordnet verläuft.Kammerflimmern <strong>ist</strong> ein medizinischer Notfall: Der Todkann innerhalb von Minuten eintreten. Um den normalen Herzrhythmuswie<strong>der</strong>herzustellen, wird aus <strong>eine</strong>m Defibrillator eindirekter elektrischer Stromimpuls an das Herz abgegeben. Ist dieseMaßnahme erfolgreich, kann man den Effekt praktisch sofortsehen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


90 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtAls weitere dramatische Effekte (s. a. Kap. 6, S. 114) sind dasAbsaugen von Eiter aus Abszessen zur Schmerzlin<strong>der</strong>ung, dieBluttransfusion bei Schock infolge schwerer Blutungen sowie dieGabe von Insulin bei Diabetes zu nennen. Bis in die 1920er-Jahrewurden Diabetiker nicht alt, mussten viel leiden und siechten mitunkontrollierbar hohen Blutzuckerspiegeln dahin. Sehr schnell kames deshalb nach den ersten positiven Ergebnissen von Tierversuchenzur Anwendung von Insulin beim Menschen – mit herausragendemErfolg: Das Ansprechen <strong>der</strong> Betroffenen auf diese Therapie galt damalsfast als ein Wun<strong>der</strong>. Ein weiteres Beispiel aus dieser Zeit wardie Gabe von Leber – die sich später als Quelle von Vitamin B 12 herausstellte– zur Behandlung von Patienten mit perniziöser Anämie.Bei dieser damals tödlichen Form <strong>der</strong> Blutarmut (Anämie) fiel dieAnzahl <strong>der</strong> Erythrozyten (roten Blutkörperchen) allmählich auf katastrophalniedrige Werte ab, was den Patienten <strong>eine</strong> ge<strong>ist</strong>erhafteBlässe verlieh und sie stark schwächte. Als man diesen PatientenLeberextrakt gab, erholten sie sich rasch. Heutzutage wird VitaminB 12 bei dieser Form von Anämie routinemäßig verordnet.Auch zu Beginn dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts gab es ähnlich dramatischeErgebnisse zu beobachten, die durch einige Beispiele veranschaulichtwerden sollen.Laserbehandlung von FeuermalenDie auch als «Portweinflecken» bezeichneten Geburts- o<strong>der</strong> Feuermaleentstehen durch dauerhaft und krankhaft erweiterte Blutgefäßein <strong>der</strong> Haut. Häufig treten sie im Gesicht auf. Sie bilden sichnicht zurück, son<strong>der</strong>n werden oft dunkler, wenn das Kind heranwächst,was sehr entstellend wirken kann. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit wurdenverschiedene Behandlungen ausprobiert: u. a. Kältetherapie, Operationund Bestrahlung, die jedoch kaum Wirkungen gezeigt habenund mit zahlreichen Nebenwirkungen einhergingen. Erst die Einführung<strong>der</strong> Lasertherapie brachte eindrucksvolle Ergebnisse: Beiden me<strong>ist</strong>en Feuermalen <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Besserung me<strong>ist</strong> schon nach <strong>eine</strong>reinzigen Laserbehandlung sichtbar. Schäden am angrenzenden Gewebe<strong>der</strong> Haut durch die Hitzestreuung aus dem Laser sind vorübergehen<strong>der</strong>Natur. 2, 3© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 91Imatinib bei chronischer myeloischer LeukämieBeeindruckende Ergebnisse waren auch bei Patienten mit chronischermyeloischer Leukämie nach <strong>der</strong> Gabe des Arzneimittels Imatinibzu beobachten. 4, 5Vor <strong>der</strong> Einführung von Imatinib gegen Ende <strong>der</strong> 1990er-Jahrehatte dieser Leukämietyp nur sehr schlecht auf die Standardtherapienangesprochen. Als das neue Medikament zunächst bei Patientengetestet wurde, die auf die Standardtherapie nicht ansprachen,besserte sich ihre Prognose deutlich. Imatinib beeinflusst denKrankheitsverlauf positiv und scheint das Leben <strong>der</strong> Betroffenen imVergleich zur Zeit vor <strong>der</strong> Einführung dieses Medikaments bei imGroßen und Ganzen nur leichten Nebenwirkungen beträchtlich zuverlängern. Inzwischen gilt Imatinib als Behandlungsoption <strong>der</strong> erstenWahl.Entfernung von Fremdkörpern aus <strong>der</strong> NaseAuch Maßnahmen ohne großen apparativen Aufwand (sogenannteLow-Tech-Verfahren) können dramatische Effekte haben. Manchmalstecken sich Kleinkin<strong>der</strong> kl<strong>eine</strong> Gegenstände (z. B. Plastikspielzeugo<strong>der</strong> Perlen) in die Nase. Häufig schaffen sie es aber nicht,durch die Nase zu schnäuzen, um den Fremdkörper wie<strong>der</strong> auszustoßen.Die im Englischen anschaulich als «Mother’s Kiss», also«mütterlicher Kuss», bezeichnete Methode zur Entfernung vonFremdkörpern – bei <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> Vater dem Kind das freie Nasenlochzuhalten, während sie/er dem Kind in den Mund pustet –<strong>ist</strong> nicht nur ausgesprochen einfach, son<strong>der</strong>n obendrein noch sehreffektiv. 2, 6Eine neue Behandlung von Erdbeer-HämangiomenGelegentlich werden Therapien, die dramatische Wirkungen zeigen,auch rein zufällig entdeckt. Ein gutes Beispiel da<strong>für</strong> <strong>ist</strong> die Therapiedes Hämangioms. Dieser «Blutschwamm» tritt bei Säuglingen aufund <strong>ist</strong>, ähnlich wie die Portweinflecken, ebenfalls auf <strong>eine</strong> Fehlbildungunreifer Blutgefäße zurückzuführen. Hämangiome sind Wucherungenkl<strong>eine</strong>r, neu gebildeter Blutgefäße. Me<strong>ist</strong> <strong>ist</strong> die Haut,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


92 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtüblicherweise an Kopf und Hals, betroffen; Hämangiome könnenaber auch in Körperorganen wie <strong>der</strong> Leber vorkommen. Die Hauterscheinungen(wegen ihres hellroten, erhabenen Erscheinungsbildesauch Erdbeerläsionen genannt) sind normalerweise nicht gleichbei <strong>der</strong> Geburt sichtbar, son<strong>der</strong>n treten im Allgem<strong>eine</strong>n etwa in <strong>der</strong>ersten Lebenswoche auf. Nach den ersten drei Lebensmonaten, indenen sie me<strong>ist</strong> sehr schnell wachsen, verlangsamt sich die Wachstumsgeschwindigkeit.In den me<strong>ist</strong>en Fällen bilden sie sich bis zumAlter von etwa fünf Jahren von selbst zurück; dabei kann einschwach rosafarbenes Mal o<strong>der</strong> überschüssige Haut zurückbleiben.Manche Hämangiome müssen wegen ihrer Lage jedoch behandeltwerden – z. B., wenn sie ein Auge überdecken o<strong>der</strong> die Naseblockieren. Eine Behandlung kann aber auch wegen an<strong>der</strong>er Komplikationenerfor<strong>der</strong>lich werden: Ausgeprägte geschwürartige (ulzerierte)Hämangiome können sich infizieren, o<strong>der</strong> bei Patienten mitgroßflächigen Gewebeverän<strong>der</strong>ungen kann sich <strong>eine</strong> Herzschwäche(Herzinsuffizienz) entwickeln, weil das Herz so viel Blut durch diein diesem Blutschwamm befindlichen Blutgefäße pumpen muss.Bis vor kurzem galten Steroide bei problematischen Blutgefäßenals medikamentöse Behandlung <strong>der</strong> ersten Wahl. 2008 konntenÄrzte jedoch mit <strong>eine</strong>r an<strong>der</strong>en Therapie, auf die sie rein zufälliggestoßen waren, aufsehenerregende Ergebnisse erzielen. Bei <strong>eine</strong>mSäugling mit <strong>eine</strong>m riesigen Hämangiom, das fast das ganze Gesichtund das rechte Auge überdeckte, hatten sie zunächst Steroide eingesetzt.Als das Baby trotz dieser Maßnahme aber <strong>eine</strong> Herzinsuffizienzentwickelte, leiteten sie die Therapie mit Propranolol ein, demStandardmedikament <strong>für</strong> diese Erkrankung. Zu ihrem großen Erstaunenbesserte sich binnen 24 Stunden auch das Aussehen desHämangioms. Innerhalb von <strong>eine</strong>r <strong>Wo</strong>che war <strong>der</strong> Tumor so weitgeschrumpft, dass das Baby ein Augenlid öffnen konnte. Nachsechsmonatiger Behandlung hatte sich das Hämangiom zurückgebildet.Im darauffolgenden Jahr wendeten die Ärzte Propranolol bei<strong>eine</strong>m Dutzend weiterer Kin<strong>der</strong> mit ähnlich großem Erfolg an.Auch an<strong>der</strong>e Ärzte erzielten bei <strong>eine</strong>r kl<strong>eine</strong>n Anzahl von Kin<strong>der</strong>neindrucksvolle Ergebnisse mit diesem Medikament. Mittlerweilewird Propranolol bei <strong>eine</strong>r größeren Anzahl von Säuglingen genaueruntersucht. 7,8© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 93Schrittweise Erfolge sind nicht gerade schlagzeilenträchtig«Die Wissenschaft selbst eignet sich nicht beson<strong>der</strong>s gut <strong>für</strong> die Schlagzeilen:Ihrem Wesen nach <strong>ist</strong> sie besser im Feuilletonteil aufgehoben, denn ihre Fortschritteäußern sich in <strong>der</strong> Regel nicht in plötzlichen, bahnbrechenden Durchbrüchen.Vielmehr schreitet die Wissenschaft eher über sich stufenweise entwickelndeIdeen und Theorien voran. Untermauert werden diese Theorien durch<strong>eine</strong> ganze Reihe von Ergebnissen, die aus den verschiedensten Fachgebietenstammen und den unterschiedlichsten Erklärungsstufen zuzuordnen sind. Undtrotzdem sind die Medien immer nur auf ‹neue Durchbrüche› fixiert.»Goldacre B. Bad Science. London: Fourth Estate, 2008, S. 219.Mo<strong>der</strong>ate Behandlungseffekte:normal und nicht ganz so offensichtlichDie me<strong>ist</strong>en Therapien haben allerdings k<strong>eine</strong> so dramatischen Effekte.Um sie genau einzuschätzen, bedarf es fairer Tests. Gelegentlichkommt es auch vor, dass <strong>eine</strong> Therapie unter bestimmten Umständen<strong>eine</strong> dramatische Wirkung entfaltet, in an<strong>der</strong>en Situationendagegen nicht.Auch wenn die Wirksamkeit von Vitamin B 12 zur Behandlung<strong>der</strong> perniziösen Anämie (s. o.) unbestritten <strong>ist</strong>, wird bis heute darüberdiskutiert, ob die Patienten vierteljährliche o<strong>der</strong> häufigere Injektionenbenötigen. Diese Frage wird man nur mithilfe von sorgfältigkontrollierten Tests und durch Vergleich <strong>der</strong> einzelnen Optionenbeantworten können. Ein weiteres Beispiel <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Hüftgelenkersatz,durch den es zu <strong>eine</strong>r dramatischen Schmerzlin<strong>der</strong>ung kommt. Diejeweiligen Vorzüge <strong>der</strong> verschiedenen Typen von künstlichen Hüftgelenkensind dagegen nicht so offensichtlich, können aber dennochrelevant sein: So unterliegen einige Kunstgelenke <strong>eine</strong>m schnellerenVerschleiß als an<strong>der</strong>e. Auch im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Lasertherapievon Portweinmalen (s. o.) können wir noch viel lernen. DieseBehandlung gilt zwar nach wie als <strong>der</strong> «Goldstandard», doch wirdweiterhin darüber geforscht, warum manche Hautmale nach einigenJahren wie<strong>der</strong> nachdunkeln und welche Auswirkungen dieverschiedenen Typen von Lasern haben: Möglicherweise bestehtein Zusammenhang mit <strong>der</strong> Kühlung <strong>der</strong> Haut während desEingriffs.9, 10©2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


94 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtUnd während die Gabe von Aspirin unmittelbar bei <strong>der</strong> Diagnosestellungdas Sterberisiko von Herzinfarkt-Patienten erheblichsenkt, so hängt die Antwort auf die Frage, ob die Einnahme vonAspirin im Hinblick auf die Herzinfarkt- und Schlaganfallpräventionmehr schadet als nützt, doch auch davon ab, ob die Patienten an<strong>eine</strong>r zugrunde liegenden Herz-Kreislauf- (kardiovaskulären) Erkrankungleiden. Die Vorteile (Senkung des Risikos <strong>für</strong> Herzinfarkt,Schlaganfall und kardiovaskulär bedingten Tod) müssen gegen dieRisiken (insbeson<strong>der</strong>e den durch Blutungen in das Gehirn verursachtenSchlaganfalltyp sowie gastrointestinale Blutungen) abgewogenwerden. Bei Patienten, die bereits an <strong>eine</strong>r Herz-Kreislauf-Erkrankungleiden, wiegen die Vorteile des Medikaments eindeutigschwerer als s<strong>eine</strong> Risiken. Bei ansonsten gesunden Menschen dagegenwird das Blutungsrisiko nicht eindeutig durch die mit Aspirinverbundenen Vorteile aufgewogen (s. Kap. 7). 11Wenn Ärzte sich nicht einig sindBei vielen Erkrankungen und Beschwerden besteht <strong>eine</strong> erheblicheUnsicherheit, inwieweit die verfügbaren Therapien wirksam sindo<strong>der</strong> welche Behandlung <strong>für</strong> welchen Patienten am besten <strong>ist</strong>. Dashin<strong>der</strong>t manche Ärzte allerdings nicht daran, <strong>eine</strong> eindeutige Meinungdazu zu vertreten, obwohl diese von Arzt zu Arzt durchaussehr unterschiedlich ausfallen kann. Dies kann im Hinblick auf dieBehandlungen, die <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bestimmte Erkrankung verordnet werden,zu beträchtlichen Unterschieden führen.Als Iain Chalmers, <strong>eine</strong>r <strong>der</strong> britischen Autoren dieses Buchs,sich in den 1990er-Jahren während <strong>eine</strong>s Urlaubs in den USA dasSprunggelenk brach, musste er dort <strong>eine</strong>n orthopädischen Chirurgenaufsuchen, <strong>der</strong> das Bein vorübergehend in <strong>eine</strong> Schiene legte.Nach Abklingen <strong>der</strong> Schwellung sollte dann <strong>für</strong> sechs <strong>Wo</strong>chen einUnterschenkelgips angelegt werden. Nach Großbritannien zurückgekehrt,suchte er einige Tage später die örtliche Unfallchirurgieauf, wo <strong>der</strong> britische orthopädische Chirurg die Empfehlung s<strong>eine</strong>samerikanischen Kollegen ohne Umschweife verwarf. Das Bein einzugipsensei, so meinte er, vollkommen unangebracht. Angesichts© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 95dieser offensichtlichen fachärztlichen Unsicherheit erkundigte sichIain Chalmers, ob er an <strong>eine</strong>m kontrollierten Vergleich teilnehmenkönne, um herauszufinden, welche Behandlung besser sei.Der britische Chirurg antwortete, kontrollierte Studien wärenetwas <strong>für</strong> Leute, die sich nicht sicher seien, ob sie Recht hätten o<strong>der</strong>nicht – er dagegen habe k<strong>eine</strong>n Zweifel, dass er Recht habe.Wie kann es zu <strong>der</strong>artigen Unterschieden in <strong>der</strong> fachlichen Beurteilungkommen, und wie soll <strong>der</strong> Patient sich in <strong>eine</strong>m solchen Fallverhalten? Beide Chirurgen waren sich sicher, dass sie sich <strong>für</strong> dierichtige Behandlung entschieden hatten. Und doch lassen ihre weitauseinan<strong>der</strong>gehenden Ansichten deutlich die innerhalb <strong>der</strong> orthopädischenChirurgie insgesamt bestehende Unsicherheit über diebeste Behandlung <strong>eine</strong>s gewöhnlichen Knochenbruchs erkennen.Gab es solide Belege da<strong>für</strong>, welche Behandlung besser war? Undwenn ja, war sie <strong>eine</strong>m <strong>der</strong> beiden Chirurgen o<strong>der</strong> k<strong>eine</strong>m von ihnenbekannt? O<strong>der</strong> wusste überhaupt niemand, welche Behandlungdie bessere war (Abb. 7)?Vielleicht lag <strong>der</strong> Unterschied zwischen den beiden Chirurgen jadarin, welchen Stellenwert sie den jeweiligen Behandlungsergebnissenzumaßen: Der amerikanische Chirurg hatte vielleicht eher dieSchmerzlin<strong>der</strong>ung im Sinn – deshalb die Empfehlung <strong>eine</strong>r Gipsschiene–, während sein britischer Kollege vielleicht Bedenken wegendes etwaigen Muskelschwunds hatte, zu dem es kommt, wenn<strong>eine</strong> Gliedmaße durch <strong>eine</strong>n Gipsverband immobilisiert wird.Wenn dies zutraf, warum wurde Iain Chalmers dann von k<strong>eine</strong>m<strong>der</strong> beiden Chirurgen gefragt, welches Behandlungsergebnis <strong>für</strong> ihnPatient mitSprunggelenkfrakturUnterschenkelgips?Kein Gips?Behandlung im Rahmen<strong>eine</strong>r randomisiertenStudieNach wie vor bestehendeärztlicheUnsicherheit mitSchädigungsrisikoNeue Erkenntnissezugunsten <strong>eine</strong>rbesseren PatientenversorungAbbildung 7: Wie soll <strong>der</strong> Arzt entscheiden?© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


96 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtals Patient wichtiger war? Und auch heute, zwei Jahrzehnte später,besteht nach wie vor Unsicherheit über die Behandlung dieser dochsehr häufig vorkommenden Art von Verletzung. 12In diesem Zusammenhang stellen sich verschiedene Fragen. Erstens:Lagen zuverlässige Ergebnisse aus klinischen Studien (Evidenz)vor, anhand <strong>der</strong>er man die beiden sehr unterschiedlichen Ansätze,die von den zwei Chirurgen empfohlen wurden, hätte vergleichenkönnen? Wenn ja, enthielt diese Evidenz Angaben zu den jeweiligenAuswirkungen auf die Behandlungsergebnisse (z. B. Schmerzlin<strong>der</strong>ungo<strong>der</strong> weniger Muskelschwund), die <strong>für</strong> Iain o<strong>der</strong> <strong>für</strong> an<strong>der</strong>ePatienten mit möglicherweise an<strong>der</strong>en Präferenzen wichtig seinkönnten? Und was passiert, wenn es k<strong>eine</strong> Evidenz mit den zur Beantwortungdieser Fragen nötigen Informationen gibt?Sich mit Unsicherheiten auseinan<strong>der</strong>setzen: <strong>eine</strong> Frage auf Leben und Tod«Wenn man sich nicht mit den Unsicherheiten über die Effekte von Therapienauseinan<strong>der</strong>setzt, dann kann dies in ganz massivem Umfang zu Leiden undTodesfällen führen, die eigentlich vermeidbar wären. So hätten hun<strong>der</strong>ttausendenvon Frauen Leiden und Tod erspart werden können, wenn man Diazepamund Phenytoin bei ihrer Einführung zur Behandlung von Eklampsie (d. h. bei ihrerZulassung als Antikonvulsiva) mit dem seit Jahrzehnten in Gebrauch befindlichenMagnesiumsulfat verglichen hätte. Und wenn die Wirkungen systemischer Steroidezur Behandlung traumatischer Hirnverletzungen überprüft worden wären,bevor diese Therapie breite Anwendung fand, hätten zehntausende von unnötigenTodesfällen verhin<strong>der</strong>t werden können. Dies sind nur zwei Beispiele vonvielen, die man anführen könnte, um zu veranschaulichen, warum Ärzte vonBerufs wegen die Pflicht haben, sich an <strong>der</strong> Klärung von Unsicherheiten imHinblick auf Behandlungseffekte zu beteiligen.»Chalmers I. Addressing uncertainties about the effects of treatmentsoffered to NHS patients: whose responsibility?Journal of the Royal Society of Medicine 2007; 100: 440.Manche Ärzte wissen genau, was sie tun müssen, wenn es k<strong>eine</strong> zuverlässigenInformationen über die Wirkungen alternativer Behandlungengibt. Sie sind darauf eingestellt, mit ihren Patienten überdiese Unsicherheit zu sprechen. So meinte ein Arzt, <strong>der</strong> sich auf dieVersorgung von Schlaganfall-Patienten spezialisiert hat, die Forschungsergebnissewürden zwar zeigen, dass es <strong>für</strong> s<strong>eine</strong> Patientenbesser wäre, wenn sie auf <strong>eine</strong>r speziellen Schlaganfallstation (StrokeUnit) versorgt würden, dass es aber – bei vielen Typen von Patienten© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 97– nach wie vor unklar sei, ob sie Blutgerinnsel auflösende Medikamenteerhalten sollten o<strong>der</strong> nicht (s. a. Kap. 11, S. 195). Bei <strong>der</strong> Besprechung<strong>der</strong> verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten erklärte ers<strong>eine</strong>n Patienten, dass diese Medikamente mehr nutzen als schadenkönnen. Bei manchen Patienten könne aber auch <strong>der</strong> Schaden denNutzen überwiegen. Einem Patienten, <strong>für</strong> den das Verhältnis vonNutzen zu Schaden dieser Therapie nicht eindeutig zu klären war,empfahl er diese Behandlung nur unter <strong>der</strong> Voraussetzung, dass sieim Rahmen <strong>eine</strong>s sorgfältig kontrollierten Vergleichs durchgeführtwürde, <strong>der</strong> dazu beitragen könnte, diese Unsicherheit zu verringern.13 Bei den Blutgerinnsel auflösenden Medikamenten bestehenhinsichtlich mehrerer Aspekte nach wie vor Unsicherheiten. 14Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Unsicherheiten zeugt von Professionalität«Eines <strong>der</strong> wichtigsten Merkmale von Professionalität … sollte die Fähigkeit sein,Unsicherheiten in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> zu identifizieren und sich mit ihnen auseinan<strong>der</strong>zusetzen.Tagtäglich sind Ärzte im Hinblick auf die Entstehung von Krankheiten(Pathogenese) sowie ihre Diagnostik und Therapie mit Unsicherheiten konfrontiert.Und doch werden diese Unsicherheiten, die allen drei Gebieten ärztlicherTätigkeit innewohnen, nur selten explizit zur Kenntnis genommen. Manche Ärztefühlen sich sogar unwohl, wenn sie – vor allem gegenüber Patienten – Unsicherheitenzugeben müssen. Unsicherheit dient <strong>der</strong> medizinischen Forschung aberauch als wichtiger Impuls zur Verbesserung <strong>der</strong> menschlichen Gesundheit. Es wirdin Zukunft immer wichtiger werden, dass Ärzte sich mit sämtlichen <strong>für</strong> ihr jeweiligesFachgebiet relevanten Forschungsergebnissen vertraut machen, damit siewissen, wo weiterhin Unsicherheiten bestehen und woran gerade geforscht wirdo<strong>der</strong> woran geforscht werden müsste, um diese Unsicherheiten abzubauen. EinZeichen <strong>für</strong> Professionalität wird alles in allem zukünftig ein Forschungsbewusstseinzum <strong>Wo</strong>hle des Patienten sein. Einige Ärzte werden sich aktiv an dieser Forschungbeteiligen, alle an<strong>der</strong>en sollten sie zumindest för<strong>der</strong>n, ihre Patienten gegebenenfallsaktiv in die medizinischen Forschungsvorhaben einzubinden versuchenund die Ergebnisse dieser Forschung in ihrer ärztlichen Praxis umsetzen.»Aus: Medical Research Council response to Royal College of Physiciansconsultation on medical professionalism. 2005Koffein zur Behandlung von Atemproblemenbei FrühgeborenenGroße Unterschiede bei den Behandlungen, die bei <strong>eine</strong>r bestimmtenKrankheit angewendet werden, sind ein deutlicher Hinweis auffachliche Unsicherheiten bezüglich <strong>der</strong> jeweiligen Vorzüge verschie-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


98 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtdener Therapien. Und eingefahrene Gepflogenheiten können bedeuten,dass es sehr lange dauert, bevor solche Unsicherheitendurch faire Tests zerstreut werden. Ein beson<strong>der</strong>s treffendes Beispiel<strong>ist</strong> die Anwendung von Koffein bei Frühgeborenen. FrühgeboreneBabys haben häufig Schwierigkeiten mit <strong>der</strong> richtigen Atmung, undmanchmal hören sie auch <strong>für</strong> sehr kurze Zeit auf zu atmen. Vondiesen Problemen, die man auch als Frühgeborenen-Apnoe bezeichnet,sind sehr viele Säuglinge betroffen, die vor <strong>der</strong> 34. Schwangerschaftswochegeboren werden. Als Ende <strong>der</strong> 1970er-Jahre <strong>der</strong>Nachweis erbracht wurde, dass die Behandlung mit Koffein die Anzahl<strong>der</strong> Apnoe-Episoden reduziert, wurde sie von etlichen Kin<strong>der</strong>ärztenangewendet.Dennoch blieben die Wirkungen von Koffein umstritten. Obwohlfaire Tests gezeigt hatten, dass die Anzahl <strong>der</strong> Apnoe-Episodendurch die Gabe von Koffein abnahm, waren viele Kin<strong>der</strong>ärzte <strong>der</strong>Meinung, dass diese Episoden nicht schwerwiegend genug waren,um die Anwendung von Koffein zu rechtfertigen; und manche hattenBedenken, dass sie bei diesen winzigen Babys möglicherweisenicht ohne Risiko <strong>für</strong> ihre Gesundheit war. Das bedeutete, dass einigeSäuglinge mit Koffein behandelt wurden und an<strong>der</strong>e nicht. Alsdiese weitverbreitete Unsicherheit schließlich mehr als 30 Jahrenach <strong>der</strong> Einführung dieser Therapie in <strong>eine</strong>r großen internationalenStudie untersucht wurde, stellte sich heraus, dass diese einfacheTherapie nicht nur die Atemschwierigkeiten min<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>nauch – was sehr wichtig war – die Wahrscheinlichkeit <strong>eine</strong>s Langzeitüberlebensohne Zerebralparese und ohne Verzögerung <strong>der</strong> kindlichenEntwicklung signifikant verbesserte. Hätte man sich bereits beiEinführung <strong>der</strong> Therapie mit dieser Unsicherheit auseinan<strong>der</strong>gesetzt,wäre es bei weniger Babys zur Entwicklung von Behin<strong>der</strong>ungengekommen.15, 16Antibiotika bei vorzeitigen WehenWenn medizinische Behandlungen, von denen man sich vorteilhafteEffekte erhofft und die <strong>für</strong> harmlos gehalten werden, durch faireTests untersucht werden, kann sich herausstellen, dass k<strong>eine</strong> von beidenAnnahmen den Tatsachen entspricht. Ärzte verordnen Thera-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 99pien in <strong>der</strong> besten Absicht, vor allem, wenn sie ihren Patienten in <strong>eine</strong>rverzweifelten Situation damit Hoffnung geben können. EineAnnahme lautete beispielsweise, dass <strong>eine</strong> «stumme» (klinisch kaumnachweisbare) Infektion vorzeitige Wehen und <strong>eine</strong> Frühgeburt auslösenkönne. Diese Theorie verleitete Ärzte dazu, Schwangeren Antibiotikazu verschreiben – in <strong>der</strong> Hoffnung, dass sie die Schwangerschaftdann fortsetzen könnten. Niemand dachte ernsthaft daran,dass diese Anwendung von Antibiotika schwerwiegende Problemeverursachen würde. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die betroffenenFrauen selbst mit Antibiotika behandelt werden wollten – nachdem Motto: «Lassen Sie es uns versuchen; es kann ja nicht schaden.»Als man diese Therapie letzten Endes in <strong>eine</strong>m fairen Test untersuchte,hatten die Ergebnisse eindeutige Konsequenzen <strong>für</strong> die klinischePraxis: Zunächst einmal ließen sich k<strong>eine</strong>rlei Vorteile feststellen.Darüber hinaus ergab die langfr<strong>ist</strong>ige Nachbeobachtung <strong>der</strong>Babys in dieser Studie, dass diejenigen, die im Mutterleib Antibiotikaausgesetzt gewesen waren, eher Zerebralparesen und Probleme mit<strong>der</strong> Sprache, dem Sehvermögen und dem Laufen aufwiesen als dieSäuglinge in den Vergleichsgruppen. In all den Jahrzehnten, in denenSchwangeren Antibiotika verordnet worden waren, ohne dassihre Effekte durch faire Tests ausreichend belegt gewesen wären,waren diese Risiken von Antibiotika unerkannt geblieben. Wie sohäufig trugen diejenigen, die im «normalen» klinischen Alltag <strong>eine</strong>nicht ausreichend bewertete Behandlung erhielten, eher Schäden da-Ärzte im Gespräch über das Rätselraten beim Verordnen von BehandlungenIn <strong>eine</strong>m fiktiven Gespräch zwischen zwei Ärzten stellte ein AllgemeinmedizinerFolgendes fest: «Ein Großteil unserer Tätigkeit besteht aus Rätselraten, und ichkann mir nicht vorstellen, dass wir beide uns dabei beson<strong>der</strong>s wohlfühlen. Dieeinzige Möglichkeit herauszufinden, ob etwas wirkt, <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> richtige Studie, aberdie Hürden sind sehr hoch. Was tun wir also? Wir tun, wonach uns gerade <strong>der</strong> Sinnsteht. Und ich bin sicher, dass das manchmal auch völlig in Ordnung <strong>ist</strong> – immerhinhaben wir als Ärzte ja Erfahrung und all das. Den Rest <strong>der</strong> Zeit liegen wirdamit vermutlich genauso oft richtig wie falsch. Doch weil das, was wir da tun,von niemandem als Studie bezeichnet wird, unterliegt es auch k<strong>eine</strong>rlei Vorschriftenund k<strong>eine</strong>r von uns kann was daraus lernen.»In Anlehnung an Petit-Zeman S. Doctor, what’s wrong?Making the NHS human again. London: Routledge, 2005, S. 79–80.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


100 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtvon als diejenigen, denen dieselbe Therapie im Rahmen <strong>eine</strong>r wissenschaftlichenStudie verordnet wurde. An<strong>der</strong>s ausgedrückt: Diejenigen,welche die Medikamente nicht im Rahmen <strong>eine</strong>s fairen Testserhielten, waren generell <strong>eine</strong>m höheren Risiko ausgesetzt.17, 18, 19BrustkrebstherapieDie Behandlung von Brustkrebs (s. Kap. 3) stellt ein weiteres Beispiel<strong>für</strong> fachliche Unsicherheit dar. Im Hinblick auf den Einsatzvon Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie bestehen erheblicheMeinungsunterschiede. Es <strong>ist</strong> ungeklärt, wie man Mammakarzinomein <strong>eine</strong>m sehr frühen Stadium und sogenannte «Pseudokarzinome»<strong>der</strong> Brust am besten behandelt. Das Gleiche gilt auch<strong>für</strong> die Frage, wie viele Lymphknoten im Idealfall aus <strong>der</strong> Achselhöhleentfernt werden müssen o<strong>der</strong> ob überhaupt Lymphknotenentfernt werden sollten. 20 Und als ob das noch nicht genug wäre, sosind auch Fragen, die <strong>für</strong> die Patientinnen von beson<strong>der</strong>em Interessesind, wie etwa die Lin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> therapiebedingten Müdigkeit(Fatigue) o<strong>der</strong> die beste Möglichkeit zur Behandlung von Lymphödemendes Arms – <strong>eine</strong> belastende und beeinträchtigende Folge <strong>der</strong>Operation und <strong>der</strong> Bestrahlung <strong>der</strong> Achselhöhle – noch immernicht angemessen untersucht worden.Unsicherheiten in Bezug auf TherapieeffektethematisierenWie geht es nun weiter? Ärzte müssen Zugriff auf Wissensquellenhaben, in denen sie die beste aktuelle Evidenz über <strong>eine</strong> Therapiefinden, die auf gebündelter Sachkenntnis und systematischen Übersichtsarbeiten(Reviews) aller vorhandenen zuverlässigen Studienberuht. Wenn sie das Gefühl haben, dass danach noch immer Unsicherheitbezüglich <strong>eine</strong>r bestimmten Therapie herrscht, müssen siebereit sein, diesen Umstand mit ihren Patienten zu besprechen, undihnen den Grund da<strong>für</strong> erklären. Patienten und Ärzte können dieverschiedenen Möglichkeiten dann gemeinsam erörtern; dabei giltes die Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen. Und natürlich© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 101können solche Gespräche weitere Unsicherheiten wecken, die erkanntund besprochen werden müssen. Nur die gemeinsame Erkenntnis,dass noch Unsicherheiten bestehen, ermöglicht <strong>eine</strong>nkontinuierlichen Fortschritt, durch den medizinische Behandlungenzielgerichteter und sicherer gemacht werden können. So gesehen<strong>ist</strong> Unsicherheit <strong>eine</strong> Voraussetzung <strong>für</strong> den Fortschritt undnicht das Eingeständnis <strong>eine</strong>r «Nie<strong>der</strong>lage». Diese positive Einstellunggegenüber dem Umgang mit Unsicherheiten spiegelt sich mittlerweileauch in verschiedenen ärztlichen Leitfäden wi<strong>der</strong>. In Großbritannienwird Ärzten in <strong>der</strong> jüngsten Fassung des vom GeneralMedical Council herausgegebenen Leitfadens Good Medical Practice<strong>der</strong> Rat erteilt, dass sie im Zuge <strong>der</strong> Erhaltung und Verbesserungihrer Le<strong>ist</strong>ungen «ihren Beitrag dazu le<strong>ist</strong>en müssen, Unsicherheitenbezüglich <strong>der</strong> Effekte von Behandlungen zu klären». 21 Hierzumüssen Patienten und Ärzte mit dem Ziel zusammenarbeiten, bessereStudien zu planen (s. Kap. 11).<strong>Medizin</strong>ische Versorgung im Rahmen fairer TestsanbietenWas sollte also passieren, wenn relevante Unsicherheiten über dieWirkungen neuer o<strong>der</strong> alter Therapien bestehen, die nicht richtiggeprüft wurden? Eine offensichtliche Antwort lautet, unserem obigenBeispiel des Arztes zu folgen, <strong>der</strong> sich um Schlaganfall-Patientenkümmert: sich mit den bestehenden Unsicherheiten auseinan<strong>der</strong>setzen,indem man unzureichend bewertete Therapien ausschließlichim Rahmen wissenschaftlicher Studien anbietet, die darauf ausgelegtsind, mehr über ihre erwünschten und unerwünschtenWirkungen herauszufinden.Ein <strong>Medizin</strong>ethiker hat das einmal so ausgedrückt:Wenn wir uns unsicher sind, welche spezifischen Vorzüge jeweils [unterschiedliche]Behandlungen haben, dann können wir auch bezüglich<strong>der</strong> Vorzüge <strong>der</strong> Anwendung <strong>eine</strong>r einzelnen Behandlungsmethode –etwa bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>eine</strong>s einzelnen Patienten – k<strong>eine</strong> Gewissheit© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


102 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehthaben. Deshalb scheint es irrational und ethisch nicht vertretbar zusein, vor Abschluss <strong>eine</strong>r geeigneten Studie auf <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enMethode zu beharren. Die Antwort auf die Frage: «Welches <strong>ist</strong> die<strong>für</strong> den Patienten beste Behandlung?» lautet daher: «Die Studie». DieStudie <strong>ist</strong> die Behandlung. Hat das etwas mit Herumexperimentierenzu tun? Ja. Aber was ich damit m<strong>eine</strong>, <strong>ist</strong>: <strong>eine</strong> Entscheidung unterUnsicherheit treffen plus Daten sammeln. Spielt es <strong>eine</strong> Rolle, dass essich dabei um <strong>eine</strong> «zufällige» Entscheidung handelt? Logischerweisenein. Denn welche bessere Methode könnte es geben, um sich, wennUnsicherheit herrscht, zu entscheiden? 22Die Verabreichung von Therapien im Rahmen fairer Tests kann <strong>für</strong>Patienten im Hinblick auf das Behandlungsergebnis <strong>eine</strong>n tief greifendenUnterschied ausmachen. Die Geschichte <strong>der</strong> kindlichenLeukämien liefert da<strong>für</strong> ein sehr drastisches Beispiel. Bis in die1960er-Jahre verstarb nahezu jedes Kind mit Leukämie kurz nach<strong>der</strong> Diagnosestellung. Heutzutage überleben etwa 85 von 100 Kin<strong>der</strong>n.Dies konnte erreicht werden, weil die Mehrzahl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>mit Leukämie an randomisierten Studien teilnahm, in denen die jeweiligeStandardtherapie mit <strong>eine</strong>r neuen Variante dieser Therapieverglichen wurde. 23 Bei den me<strong>ist</strong>en Kin<strong>der</strong>n mit <strong>eine</strong>r Krebserkrankungwird die beste Behandlungsoption deshalb durch die Teilnahmean solchen Studien ausgewählt.Können Patienten mit Unsicherheit umgehen?«<strong>Wo</strong> stehen wir also bezüglich des Umgangs mit Unsicherheiten gegenüberTherapieeffekten? … Ungeachtet <strong>der</strong> allgem<strong>eine</strong>n Anerkenntnis, dass Patientenin <strong>der</strong> medizinischen Forschung und bei gesundheitlichen Entscheidungen Partnersind, sind manche Ärzte von <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Diskussion über therapeutischeUnsicherheiten entnervt. Manche haben einfach Angst, dass sie dadurchbeim Patienten Besorgnis auslösen: <strong>eine</strong> zweifellos aufrichtige Sorge, die aberdennoch bevormundend wirkt. An<strong>der</strong>e versuchen, ihr Handeln unter dem Aspekt<strong>der</strong> Ausgewogenheit zwischen zwei ethischen Argumenten zu rechtfertigen– erstreckt sich die ethische Pflicht, die Wahrheit zu sagen, auch auf das Ansprechenvon Unsicherheiten, o<strong>der</strong> soll die moralische Verpflichtung, den Patientenvor emotionalen Belastungen zu schützen, mehr Gewicht haben? Sind die Patientenbereit, mit Unsicherheiten zu leben? Das müssen wir herausfinden. Vielleichtsind die Menschen sehr viel belastbarer, als Ärzte m<strong>eine</strong>n.»Evans I. More nearly certain.Journal of the Royal Society of Medicine 2005; 98: 195–6.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 103Wenn k<strong>eine</strong> solche Studie verfügbar <strong>ist</strong>, sollten die Ergebnisse, dieaus <strong>der</strong> Anwendung neuer und nicht getesteter Therapien resultieren,in standardisierter Form dokumentiert werden – beispielsweisemithilfe <strong>eine</strong>r Checkl<strong>ist</strong>e, die verschiedene Punkte umfasst: etwaLabor- o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Untersuchungen, die zur Diagnose <strong>eine</strong>r Krankheitherangezogen werden, sowie die Untersuchungen, die durchgeführtwerden, um die Auswirkungen <strong>eine</strong>r Therapie zu bewerten.Ein solcher Untersuchungsplan könnte – wie es auch bei klinischenStudien <strong>der</strong> Fall sein sollte – in <strong>eine</strong>r Datenbank reg<strong>ist</strong>riert werden(s. Kap. 8). Auf diese Weise könnten die Ergebnisse in den vorhandenenWissensfundus eingespe<strong>ist</strong> werden – zum Vorteil <strong>der</strong> Patienten,welche die nicht getestete Therapie erhalten, wie auch alleran<strong>der</strong>en Patienten. Riesige Summen sind bereits in Informationstechnologie-Systeme<strong>für</strong> die Gesundheitsversorgung investiert worden,die problemlos dazu genutzt werden könnten, um diese Informationenzum Nutzen <strong>der</strong> Patienten wie auch <strong>der</strong> Öffentlichkeit zuerfassen (s. a. Kap. 11). 24Wenn Unsicherheiten über die Wirkungen von Behandlungeneffektiver und effizienter angegangen werden sollen, wird es zuVerän<strong>der</strong>ungen kommen müssen. Mit einigen dieser Verän<strong>der</strong>ungen– insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> stärkeren Beteiligung <strong>der</strong> Patienten – werdenwir uns später noch befassen (s. Kap. 11 und 12). Einen Punkt– den wir bereits weiter oben schon kurz angesprochen haben –möchten wir an dieser Stelle aber noch beson<strong>der</strong>s hervorheben.Wenn es nicht genügend Informationen über die Wirkungen vonTherapien gibt, kann man die Erkenntnisse auch dadurch verbessern,dass man da<strong>für</strong> sorgt, dass Ärzte <strong>eine</strong> solche Therapie so langenur im Rahmen <strong>eine</strong>r formalen Bewertung anbieten, bis man mehrüber ihren Wert und ihre möglichen Nachteile in Erfahrung gebrachthat. Doch im Grunde wird <strong>eine</strong> solche risikobegrenzendeVorgehensweise durch manche <strong>der</strong> vorherrschenden Standpunkte,darunter z. B. auch in <strong>der</strong> Reglementierung <strong>der</strong> Forschung (s. Kap.9), eher behin<strong>der</strong>t.Über dieses Problem hat sich vor mehr als 30 Jahren schon einbritischer Kin<strong>der</strong>arzt geärgert: Wenn er <strong>der</strong> Hälfte s<strong>eine</strong>r Patienten<strong>eine</strong> Behandlung zukommen lassen wollte (um etwas über die Wirkungendieser Behandlung herauszufinden, indem er in <strong>eine</strong>m© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


104 Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgehtkontrollierten Vergleich bei <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Hälfte <strong>der</strong> Patienten die neueBehandlung und bei <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hälfte die bereits bekannte Therapieanwandte) bräuchte er – so s<strong>eine</strong> prägnante Feststellung –<strong>eine</strong> Genehmigung. Nicht erfor<strong>der</strong>lich sei <strong>eine</strong> solche Genehmigungdagegen, wenn er allen s<strong>eine</strong>n Patienten dieselbe Behandlungals Standardverordnung gäbe. 25 Dieser unlogische Doppelstandardtaucht immer wie<strong>der</strong> auf und schreckt diejenigen Ärzte ab, die ihrenBeitrag zum Abbau von Unsicherheiten in Bezug auf Therapieeffektele<strong>ist</strong>en wollen. Im Großen und Ganzen kann dies dazu führen,dass Ärzte davon abgehalten werden, aus ihren Erfahrungenmit <strong>der</strong> Versorgung von Patienten neues Wissen zu generieren. Wie<strong>der</strong> amerikanische Soziologe Charles Bosk einmal bemerkte: «Alles<strong>ist</strong> erlaubt, solange wir versprechen, nicht aus unseren Erfahrungenzu lernen.»Die Fähigkeit, Unsicherheiten zu erklären, verlangt aufseiten <strong>der</strong>Ärzte sicherlich Geschick und ein gewisses Maß an Demut. Vielefühlen sich unwohl, wenn sie potenzielle Teilnehmer an <strong>eine</strong>r klinischenStudie darüber aufklären müssen, dass niemand weiß, welcheBehandlung die beste <strong>ist</strong>. Doch die öffentliche Meinung hat sichgewandelt: Mit arroganten Ärzten, die «Gott spielen», wird kurzerProzess gemacht. Wir müssen uns auf die Ausbildung von Ärztenkonzentrieren, die sich nicht schämen zuzugeben, dass sie auch nurMenschen sind und die Unterstützung und Mitwirkung von Patientenan <strong>der</strong> Forschung brauchen, um Behandlungsentscheidungenauf <strong>eine</strong> sicherere Grundlage stellen zu können (s. Kap. 11 und12).Das größte Hin<strong>der</strong>nis stellt <strong>für</strong> viele Ärzte und Patienten diemangelnde Vertrautheit mit den Gegebenheiten solcher fairen Therapietestsdar – ein Problem, mit dem wir uns als Nächstes befassenwollen (s. Kap. 6).© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Wie man mit Unsicherheit im Hinblick auf Therapieeffekte umgeht 105• Dramatische Therapieeffekte kommen selten vor.• Sehr häufig herrscht Unsicherheit über die Wirkungen vonTherapien.• Kl<strong>eine</strong> Unterschiede in den Wirkungen unterschiedlicher Behandlungensind normal, und es <strong>ist</strong> wichtig, diese Unterschiede zuverlässigaufzudecken.• Wenn bei <strong>eine</strong>r relevanten Unsicherheit hinsichtlich <strong>der</strong> Wirkungen<strong>eine</strong>r Therapie niemand die Antwort kennt, muss etwas unternommenwerden, um diese Unsicherheit abzubauen.• Es könnte sehr viel mehr getan werden, damit auch Patienten ihrenBeitrag zur Verringerung von Unsicherheiten über Therapieeffektele<strong>ist</strong>en können.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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6 Faire Tests von TherapienWahrscheinlich sind viele Leser mit den Prinzipien, die fairen Testsmedizinischer Therapien zugrunde liegen, nicht vertraut. Dabei sindsie gar nicht beson<strong>der</strong>s kompliziert. Genau genommen beruht auchein Großteil unseres intuitiven Alltagsverständnisses auf diesen Prinzipien.Trotzdem lernt man sie nicht in <strong>der</strong> Schule, und häufig sindsie auch noch in unnötig komplizierte sprachliche Formulierungenverpackt. Infolgedessen scheuen viele Menschen das Thema, in <strong>der</strong>Annahme, es ginge über ihr Begriffsvermögen hinaus. Wir hoffen,dass dieses und die beiden folgenden Kapitel Sie davon überzeugenwerden, dass Sie die wichtigsten Prinzipien bereits kennen und somitohne weiteres verstehen werden, warum sie so wichtig sind. Leser,die sich näher mit diesen Themen befassen möchten, finden zusätzlicheInformationen unter www.testingtreatments.org sowie in <strong>der</strong>James Lind Library (www.jameslindlibrary.org).Warum wir faire Therapietests brauchenNatürliche HeilkräfteViele gesundheitliche Probleme verschlimmern sich me<strong>ist</strong>ens, wennman sie nicht behandelt, und einige verschlimmern sich auch trotzBehandlung. Manche Krankheiten bessern sich aber auch von allein– man sagt in <strong>eine</strong>m solchen Fall, sie seien «selbstlimitierend». EinWissenschaftler, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Überprüfung <strong>eine</strong>s Behandlungsansatzes<strong>für</strong> Erkältungen beteiligt war, hat dies einmal folgen<strong>der</strong>maßenausgedrückt: «Behandelt man <strong>eine</strong> Erkältung energisch, dann erholtsich <strong>der</strong> Patient innerhalb von sieben Tagen. Lässt man <strong>der</strong> Erkältungihren Lauf, fühlt er sich nach <strong>eine</strong>r <strong>Wo</strong>che wie<strong>der</strong> wohl.» O<strong>der</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


108 Faire Tests von Therapienetwas zynischer ausgedrückt: «Die Natur heilt, <strong>der</strong> Arzt kassiert dasHonorar.» Aber natürlich kann sich ein Krankheitsbild unter Therapieauch verschlechtern.Gerade weil es vorkommt, dass Menschen häufig auch ohne irgend<strong>eine</strong>spezielle Behandlung von <strong>eine</strong>r Krankheit genesen, müssenbei <strong>der</strong> Überprüfung medizinischer Therapien auch <strong>der</strong> «natürliche»Verlauf und die Folgen <strong>der</strong> unbehandelten Krankheitberücksichtigt werden. Sicher haben Sie auch schon einmal Halsschmerzen,Magenkrämpfe o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>n ungewöhnlichen Hautausschlaggehabt. Diese Beschwerden klingen häufig von selbst, d. h.ohne beson<strong>der</strong>e ärztliche Behandlung, wie<strong>der</strong> ab. Wenn Sie aberdeswegen behandelt worden sind, dann haben Sie vielleicht geglaubt,dass das Abklingen <strong>der</strong> Symptome auf die Behandlung zurückzuführenwar (selbst wenn es sich dabei um <strong>eine</strong> unwirksameBehandlung gehandelt haben sollte). Kurzum: Die Kenntnis desnatürlichen Verlaufs <strong>eine</strong>r Krankheit, einschließlich <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeit,dass sie von selbst heilt (Spontanremission), kannsowohl unnötigen Behandlungen wie auch dem falschen Glaubenan Heilmittel vorbeugen, <strong>der</strong>en Wirksamkeit nicht bewiesen <strong>ist</strong>.Falsch verstandene Heilmittel« … zum <strong>eine</strong>n gilt es angeblich als bewiesen, dass sich Taucher, und zwar nichtwenige von ihnen, von <strong>der</strong> Taucherkrankheit als geheilt ansehen, wenn sie Tabakzu sich nehmen, und zum an<strong>der</strong>en, dass kein Mensch dadurch jemals Schadengenommen habe. Zum <strong>eine</strong>n wohnt diesem Argument ein großes Missverständnisinne, zum an<strong>der</strong>en <strong>eine</strong> ungeheuerliche Absurdität: … wenn ein Kranker sichauf dem Höhepunkt s<strong>eine</strong>r Krankheit befindet und in diesem Moment Tabak zusich genommen hat und wenn s<strong>eine</strong> Krankheit danach ihren natürlichen Verlaufnimmt und nachlässt und <strong>der</strong> Patient folglich wie<strong>der</strong> gesundet, ja dann <strong>ist</strong> es<strong>für</strong>wahr <strong>der</strong> Tabak, <strong>der</strong> dieses Wun<strong>der</strong> bewirkt hat.»James Stuart, King of Great Britaine, France and Ireland. A counterblasteto tobacco. In: The workes of the most high and mightie prince, James. Publishedby James, Bishop of Winton, and Deane of his Majesties Chappel Royall.London: printed by Robert Barker and John Bill, printers to the Kings mostexcellent Majestie, 1616: S. 214–222.Gerade wenn die Krankheitssymptome periodisch kommen undgehen, <strong>ist</strong> es schwer, die Wirkungen medizinischer Behandlungennäher zu bestimmen. Patienten mit Arthritis beispielsweise suchenvor allem dann ärztliche Hilfe, wenn sie <strong>eine</strong>n beson<strong>der</strong>s schweren© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 109Schub haben. Ein solcher Schub hält aber naturgemäß selten längereZeit an. Ganz gleich, ob es sich bei <strong>der</strong> Behandlung, welche die Patientendann erhalten, um <strong>eine</strong> wirksame o<strong>der</strong> unwirksame schulmedizinischeo<strong>der</strong> auch alternative Therapie handelt: Nach <strong>der</strong> Behandlungnehmen die Schmerzen <strong>der</strong> Patienten ab, und zwareinfach deshalb, weil <strong>der</strong> Schub abklingt. Verständlicherweise neigenÄrzte und Patienten aber dazu, solche Besserungen auf die Behandlungzurückzuführen, selbst wenn sie möglicherweise gar nichtda<strong>für</strong> verantwortlich <strong>ist</strong>.Die positiven Wirkungen von Optimismus und WunschdenkenHeute wissen wir Einiges über die psychologischen Gründe da<strong>für</strong>,dass Menschen dazu neigen, <strong>eine</strong> Besserung ihrer Krankheit <strong>der</strong>Behandlung zuzuschreiben, die sie erhalten haben. Wir alle neigenzu dem Glauben, dass, wenn ein Ereignis auf das an<strong>der</strong>e folgt, danndas erste Ereignis <strong>für</strong> das zweite verantwortlich <strong>ist</strong>. Ferner neigenwir dazu, Muster zu sehen, wo k<strong>eine</strong> sind: Dies <strong>ist</strong> ein Phänomen,das sich oft und bei so unterschiedlichen Dingen wie dem Münzenwerfen,bei Aktienkursen und Korbwürfen beim Basketball beobachtenlässt. Wir alle sind auch anfällig <strong>für</strong> ein Problem, das man alsBestätigungsbias (engl. confirmation bias) bezeichnet: Wir sehen,was wir zu sehen erwarten: «Glauben heißt sehen». Jedes Argument,das unsere Überzeugungen stützt, stärkt unser Vertrauen darauf,dass wir Recht haben. Umgekehrt erkennen o<strong>der</strong> akzeptieren wirInformationen, die unseren Ansichten wi<strong>der</strong>sprechen, nicht so ohneweiteres und neigen deshalb dazu, die Augen davor zu verschließen,oftmals unbewusst.Die me<strong>ist</strong>en Patienten und Ärzte hoffen natürlich, dass die medizinischeBehandlung hilft. Sie kommen vielleicht zu dem Schluss,dass etwas wirkt, einfach weil dies mit ihrer Überzeugung, dass eswirken sollte, übereinstimmt. Nach Informationen, die ihren Überzeugungenzuwi<strong>der</strong>laufen, wird gar nicht erst gesucht, o<strong>der</strong> sie werdenverworfen. Diese psychologischen Muster erklären auch, warumPatienten, die daran glauben, dass ihnen <strong>eine</strong> Behandlung helfenwird, durchaus auch <strong>eine</strong> Besserung ihres Zustands erleben können– selbst wenn die Behandlung in Wirklichkeit gar k<strong>eine</strong>n aktiven© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


110 Faire Tests von TherapienGlauben heißt sehenDer britische Arzt Richard Asher stellte dazu in <strong>eine</strong>m Vortrag Folgendes fest:«Wenn Sie inbrünstig an Ihre Therapie glauben können, selbst wenn kontrollierteStudien zeigen, dass sie im Grunde nutzlos <strong>ist</strong>, dann erzielen Sie sehr viel bessereBehandlungsergebnisse, Ihren Patienten geht es deutlich besser und auch IhrEinkommen sieht viel besser aus. Mit diesem Phänomen lässt sich m<strong>eine</strong>r Meinungnach zum <strong>eine</strong>n <strong>der</strong> bemerkenswerte Erfolg erklären, den einige wenigertalentierte, doch leichtgläubigere Mitglie<strong>der</strong> unseres Berufsstandes haben, zuman<strong>der</strong>en aber auch die tiefe Abneigung gegen Stat<strong>ist</strong>iken und kontrollierte Studien,die mo<strong>der</strong>ne und erfolgreiche Ärzte <strong>für</strong> gewöhnlich an den Tag legen.»Asher R. Talking sense (Lettsomian lecture, 16 Feb, 1959). Transactions ofthe Medical Society of London, vol LXXV, 1958–59. Reproduced in: Jones, FA, ed.Richard Asher talking sense. London: Pitman Medical, 1972.Wirkstoff enthält (<strong>eine</strong> «Scheinbehandlung», oft auch als «Placebo»bezeichnet). Auch nach <strong>der</strong> Einnahme <strong>eine</strong>r aus Zucker bestehendenTablette, nach <strong>eine</strong>r Injektion mit Wasser, nach <strong>eine</strong>r Behandlungmit inaktivierten elektrischen Geräten o<strong>der</strong> nach <strong>eine</strong>r Operation,bei <strong>der</strong> nicht mehr als ein kl<strong>eine</strong>r Schnitt gesetzt und wie<strong>der</strong>zugenäht wurde, haben Patienten schon über <strong>eine</strong> Besserungberichtet.Warum <strong>der</strong> erste Eindruck nicht alles <strong>ist</strong>Aber warum reicht es nicht, wenn Patienten glauben, dass ihnen etwashilft? Warum <strong>ist</strong> es wichtig, k<strong>eine</strong> Mühen und Kosten <strong>für</strong> Forschungsarbeitenzu scheuen, um die Wirkungen medizinischer Behandlungenauf formalere Art und Weise zu bewerten und vielleichtherauszufinden versuchen, ob und wenn ja, wie sie den Patientengeholfen haben? Da<strong>für</strong> gibt es mindestens zwei Gründe. Zum <strong>eine</strong>nlenken Therapien, die nicht wirken, unsere Aufmerksamkeit vonwirksamen Therapien ab. Zum an<strong>der</strong>en haben viele (wenn nichtsogar die me<strong>ist</strong>en) Therapien unerwünschte Nebenwirkungen, vondenen einige vorübergehend sind, einige länger anhalten und manchenoch gänzlich unerkannt sind. Wenn Patienten diese Therapiennicht anwenden, bleiben sie auch von diesen unerwünschten Wirkungenverschont. Deshalb sollte man versuchen herauszufinden,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 111welche Behandlungen höchstwahrscheinlich gar nicht helfen o<strong>der</strong>welche Behandlungen eventuell mehr schaden als nützen. Zudemkann uns die Forschung wichtige Hinweise darauf geben, wie Therapienwirken, und so Möglichkeiten zur Entwicklung besserer undsichererer Therapien aufzeigen.Die Erforschung von Therapieeffekten spielt überall <strong>eine</strong> Rolle,beson<strong>der</strong>s aber in Gesellschaften, die um die gerechte Verteilung <strong>der</strong>Ressourcen im Gesundheitswesen unter allen Patienten bemühtsind. Beispiele da<strong>für</strong> sind <strong>der</strong> britische National Health Service(NHS) o<strong>der</strong> die US Veterans Health Admin<strong>ist</strong>ration. In diesen Systemenmüssen ständig Entscheidungen darüber getroffen werden,welche Therapien – gemessen an den im Gesundheitswesen zwangsläufignur begrenzt verfügbaren Ressourcen – ihr Geld wert sind.Wenn einige Patienten Behandlungen erhalten, <strong>der</strong>en Wirksamkeitnicht belegt <strong>ist</strong>, kann dies zur Folge haben, dass an<strong>der</strong>en PatientenBehandlungen vorenthalten werden müssen, die sich als wirksamerwiesen haben. In Deutschland wurde <strong>für</strong> solche Nutzenbewertungen2004 das Institut <strong>für</strong> Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitsweseneingerichtet (www.iqwig.de).Die vorangegangenen Ausführungen sollen aber nicht den Eindruckerwecken, als seien die Eindrücke und Vorstellungen von Patientenund Ärzten bezüglich <strong>der</strong> Wirkungen medizinischer Therapienunwichtig. Tatsächlich sind sie häufig <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>für</strong>die formale Untersuchung von ansch<strong>eine</strong>nd vielversprechendenneuen Therapien. Den Beobachtungen von Ärzten und Patientendurch formale Forschung nachzugehen, führt manchmal zur Aufdeckungsowohl schädlicher als auch nützlicher Therapieeffekte.Ein Beispiel da<strong>für</strong> <strong>ist</strong> die Patientin aus Kap. 2 (S. 48) und ihre Vermutung,dass das seltene Vaginalkarzinom ihrer Tochter vielleichtdurch das Medikament Diethylstilbestrol (DES) ausgelöst wordenwar, mit dem sie selbst 20 Jahre zuvor während ihrer Schwangerschaftbehandelt worden war. Und we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Patient, <strong>der</strong> die unerwarteteNebenwirkung des neuen Medikaments erwähnte, das ihmwegen s<strong>eine</strong>s erhöhten Blutdrucks verschrieben worden war, nochsein Arzt hätten sich wohl zu dem Zeitpunkt träumen lassen, dassdiese Beobachtung die Grundlage <strong>für</strong> den Verkaufsschlager Sildenafil(Viagra) legen würde.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


112 Faire Tests von TherapienSolche – manchmal wichtigen – Einzelbeobachtungen eignensich aber nicht als ausreichende Basis, um daraus fundierte Schlussfolgerungenüber Therapieeffekte zu ziehen, ganz zu schweigen vonTherapieempfehlungen <strong>für</strong> an<strong>der</strong>e Patienten.Was also sind faire Tests von Therapien?Wie die me<strong>ist</strong>en von uns wissen, kann es ein Fehler sein, Medienberichteüber irgendwelche medizinischen Fortschritte <strong>für</strong> bare Münzezu nehmen. Doch die traurige Wahrheit <strong>ist</strong>, dass man auch beiTherapieberichten in ansch<strong>eine</strong>nd seriösen Fachzeitschriften auf<strong>der</strong> Hut sein muss. Irreführende und überzogene Behauptungenüber medizinische Therapien sind auch hier k<strong>eine</strong> Seltenheit, unddaher <strong>ist</strong> es wichtig, dass man die Zuverlässigkeit solcher Behauptungenbeurteilen kann.Wenn wir Berichte über die Wirkungen irgendwelcher Therapieneinfach unbesehen glauben, gehen wir zwei Risiken ein: Wirkönnten fälschlicherweise den Schluss ziehen, dass <strong>eine</strong> hilfreicheTherapie nutzlos o<strong>der</strong> sogar gefährlich <strong>ist</strong>. O<strong>der</strong> wir folgern ebenfallsfälschlicherweise, dass <strong>eine</strong> an sich nutzlose o<strong>der</strong> sogar gefährlicheTherapie wirksam <strong>ist</strong>. Faire Therapietests sind daher dazuausgelegt, zuverlässige Informationen über die Wirkungen von Behandlungenzu gewinnen, indem sie:1. Gleiches mit Gleichem vergleichen, um Einflussfaktoren (systematischeFehler, Bias), die zu Ergebnisverzerrungen führen, zureduzieren2. den Zufallsfaktor berücksichtigen3. alle zusätzlichen relevanten, zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnissein die Bewertung einfließen lassen.In diesem und den nächsten beiden Kapiteln wollen wir uns mitdiesen drei wichtigsten Eigenschaften fairer Tests befassen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 113Gleiches mit Gleichem vergleichen:entscheidend <strong>ist</strong> <strong>der</strong> VergleichBei allen fairen Therapiestudien sind Vergleiche von zentraler Bedeutung.Patienten und Ärzte vergleichen manchmal im Stillen diejeweiligen Vorteile zweier Therapien und gewinnen dabei den Eindruck,dass sie selbst bzw. an<strong>der</strong>e Patienten auf <strong>eine</strong> bestimmte Behandlungan<strong>der</strong>s ansprechen als auf frühere Behandlungen. Manchmalwerden auch Vergleiche angestellt, die mehr den Charakter<strong>eine</strong>s Versuchs haben. Schon im 9. Jh. verglich <strong>der</strong> persische ArztAl-Razi das Behandlungsergebnis von Meningitis-Patienten, die mitA<strong>der</strong>lässen behandelt worden waren, mit dem Ergebnis von Meningitis-Patienten,die k<strong>eine</strong> A<strong>der</strong>lässe erhalten hatten, um herauszufinden,ob A<strong>der</strong>lässe bei Meningitis helfen könnten.In <strong>der</strong> Regel werden Therapien getestet, indem man Gruppenvon Patienten vergleicht, die unterschiedlich behandelt wurden.Wenn Therapievergleiche fair sein sollen, dann muss gewährle<strong>ist</strong>etsein, dass Gleiches auch mit Gleichem verglichen wird: dass die Behandlung,welche die Patienten jeweils erhalten haben, den einzigensystematischen Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen darstellt.Diese Erkenntnis <strong>ist</strong> k<strong>eine</strong>swegs neu: Bevor James Lind 1747an Bord <strong>der</strong> HMS Salisbury s<strong>eine</strong>n Vergleich <strong>der</strong> sechs Skorbut-Therapiendurchführte, traf er erstens <strong>eine</strong> sorgfältige Auswahl <strong>der</strong> Patienten,die sich in <strong>eine</strong>m vergleichbaren Stadium dieser oftmalstödlichen Krankheit befanden; zweitens vergewisserte er sich, dassdie Patienten dieselbe Nahrung erhielten; und drittens sorgte erda<strong>für</strong>, dass sie unter ähnlichen Bedingungen untergebracht waren(s. Kap. 1, S. 32). Lind hatte erkannt, dass auch an<strong>der</strong>e Faktoren alsdie Therapien selbst <strong>eine</strong>n Einfluss auf die Heilungschancen s<strong>eine</strong>rPatienten haben können.Eine Möglichkeit, <strong>eine</strong>n solchen Test unfair zu gestalten, hättezum Beispiel darin bestanden, <strong>eine</strong> <strong>der</strong> empfohlenen Behandlungen– sagen wir, die Schwefelsäure, zu <strong>der</strong> das Royal College of Physiciansin London riet – nur Patienten zu verabreichen, die zunächstweniger krank erschienen und sich noch im Frühstadium <strong>der</strong>Krankheit befanden, und <strong>eine</strong> an<strong>der</strong>e Behandlung – beispielsweisedie Zitrusfrüchte, die von manchen Seeleuten empfohlen wurden© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


114 Faire Tests von Therapien– nur Patienten zu geben, die bereits dem Tod nahe waren. In diesemFall hätte die Schwefelsäure besser abgeschnitten, obwohl essich eigentlich um die schlechtere Therapie handelte. Zu solchensystematischen Fehlern kann es kommen, wenn nicht da<strong>für</strong> gesorgtwird, dass in allen wichtigen Punkten Gleiches auch mit Gleichemverglichen wird.Vergleiche von Therapien mit dramatischen EffektenManchmal sprechen Patienten so drastisch auf <strong>eine</strong> Behandlung an,dass man auch ohne sorgfältig durchgeführte Tests zuverlässigeSchlussfolgerungen ziehen kann (s. Kap. 5, S. 89–95). 3 Bei <strong>eine</strong>mPatienten mit <strong>eine</strong>m Lungenkollaps (Pneumothorax) sorgt das Einführen<strong>eine</strong>r Hohlnadel in den Brustraum und das Absaugen <strong>der</strong>eingeschlossenen Luft so unmittelbar <strong>für</strong> Lin<strong>der</strong>ung, dass die Vorzügedieser therapeutischen Maßnahme auf <strong>der</strong> Hand liegen. An<strong>der</strong>eBeispiele <strong>für</strong> dramatische Wirkungen sind die Gabe von Morphiumbei Schmerzen, die Gabe von Insulin bei <strong>eine</strong>m diabetischenKoma und <strong>der</strong> künstliche Hüftgelenkersatz bei arthritisbedingtenSchmerzen. Aber auch die unerwünschten Wirkungen von Behandlungenkönnen dramatische Formen annehmen. So verursachenMedikamente manchmal schwerwiegende, sogar tödliche allergischeReaktionen; als Beispiel <strong>für</strong> dramatische Nebenwirkungenkönnen auch die durch Thalidomid hervorgerufenen seltenen Fehlbildungen<strong>der</strong> Gliedmaßen angeführt werden (s. Kap. 1, S. 34).Allerdings kommen solche dramatischen Wirkungen von Therapien,ganz gleich, ob positiver o<strong>der</strong> negativer Art, nur selten vor. Dieme<strong>ist</strong>en Therapieeffekte fallen schwächer aus. Trotzdem <strong>ist</strong> es gut,über sie Bescheid zu wissen. Beispielsweise bedarf es sorgfältigdurchgeführter Tests, um festzustellen, welche Dosierschemata beiMorphium wirksam und sicher sind, o<strong>der</strong> um herauszufinden, obgentechnisch hergestelltes Insulin Vorteile gegenüber tierischem Insulinaufwe<strong>ist</strong> o<strong>der</strong> ob ein neu auf den Markt gebrachtes künstlichesHüftgelenk, das zwanzigmal teurer <strong>ist</strong> als die kostengünstigsteVariante, diese Zusatzkosten – im Hinblick auf das, worauf es demPatienten ankommt – auch wert <strong>ist</strong>. Unter diesen alltäglichen Um-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 115ständen müssen wir alle unfairen (verzerrten) Vergleiche vermeidenund mit ihnen auch die falschen Schlüsse, die sich daraus ergebenkönnen.Vergleiche von Therapien mit mäßigen,aber wichtigen EffektenVergleich gegenwärtig behandelter Patientenmit Patienten in <strong>der</strong> VergangenheitManchmal vergleichen Wissenschaftler die Patienten, die sie gegenwärtigbehandeln, mit augenscheinlich ähnlichen Patienten, die wegen<strong>der</strong>selben Krankheit früher an<strong>der</strong>s behandelt wurden. SolcheVergleiche können verlässliche Erkenntnisse liefern, wenn die Behandlungseffektedramatisch sind – beispielsweise wenn <strong>eine</strong> neueTherapie bewirkt, dass einige Patienten <strong>eine</strong> Krankheit überleben,die früher in <strong>der</strong> Regel tödlich verlaufen <strong>ist</strong>. Wenn die Unterschiedezwischen den Therapien jedoch nicht dramatisch sind, es sich jedochtrotzdem lohnt, sie zu kennen, können solche Vergleiche, bei denen«h<strong>ist</strong>orische Kontrollen» verwendet werden, aber Probleme verursachen.Auch wenn Wissenschaftler stat<strong>ist</strong>ische Anpassungen (Adjustierungen)und Analysen durchführen, um möglichst sicherzustellen,dass sie wirklich Gleiches mit Gleichem vergleichen, so <strong>ist</strong> es indiesen Analysen jedoch unmöglich, auch den in den Ver gangenheitnicht erfassten, aber relevanten Charakter<strong>ist</strong>ika von Patienten Rechnungzu tragen. Schlussendlich können wir uns also niemals völligsicher sein, dass wirklich Gleiches mit Gleichem verglichen wurde.Diese Probleme lassen sich dadurch veranschaulichen, dass mandie Ergebnisse zu ein und <strong>der</strong>selben Therapie vergleicht, die ähnlichenPatienten zu unterschiedlichen Zeitpunkten verabreichtwurde. Sehen wir uns dazu <strong>eine</strong> Analyse von 19 Patienten mitfortgeschrittenem Lungenkarzinom an. Darin wurde die jährlicheSterblichkeitsrate von ähnlichen Patienten verglichen, die mit exakt<strong>der</strong> gleichen Therapie, aber zu verschiedenen Zeitpunkten behandeltwurden. Obwohl man nur geringfügige Unterschiede in denSterblichkeitsraten erwartet hätte, unterschieden sie sich beträchtlichvoneinan<strong>der</strong>: Die Sterblichkeitsraten schwankten zwischen ei-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


116 Faire Tests von Therapienner Besserung um 24 % und <strong>eine</strong>r Verschlechterung um 46 %. 4 DieseUnterschiede waren eindeutig nicht darauf zurückzuführen, dasssich die Behandlung geän<strong>der</strong>t hatte – sie war gleich geblieben – o<strong>der</strong>dass die Patienten sich nachweislich unterschieden – auch das trafnicht zu. Vielmehr spiegelten die unterschiedlichen Sterblichkeitsratenvermutlich entwe<strong>der</strong> nicht erkannte Unterschiede zwischenden Patienten wi<strong>der</strong> o<strong>der</strong> aber an<strong>der</strong>e, im Zeitverlauf aufgetretene,aber nicht erfasste Verän<strong>der</strong>ungen (z. B. bessere Pflege o<strong>der</strong> bessereInfektionskontrolle), die bei den Vergleichen nicht berücksichtigtwerden konnten.Vergleich zwischen ansch<strong>eine</strong>nd ähnlichen PatientengruppenUm die Wirkungen von Therapien zu beurteilen, vergleicht manauch die Erfahrungen und Behandlungsergebnisse von augenscheinlichähnlichen Patientengruppen, die im selben Zeitraum zufälligunterschiedliche Therapien erhalten haben. Aber auch dieseMethode kann grob irreführend sein. Ähnlich wie bei den Vergleichenmit «h<strong>ist</strong>orischen Kontrollen» besteht auch hier das Problemdarin, dass man wissen muss, ob sich die Personengruppen, die unterschiedlicheTherapien erhalten haben, bereits vor Einleitung <strong>der</strong>Behandlung hinreichend ähnlich waren, damit ein aussagekräftiger(vali<strong>der</strong>) Vergleich überhaupt möglich <strong>ist</strong>. Wie bei den «h<strong>ist</strong>orischenKontrollen» können die Wissenschaftler auch hier wie<strong>der</strong>stat<strong>ist</strong>ische Adjustierungen und Analysen durchführen, um da<strong>für</strong> zusorgen, dass diese Gleichheit gewährle<strong>ist</strong>et <strong>ist</strong>. Das funktioniert abernur dann, wenn relevante Charakter<strong>ist</strong>ika <strong>der</strong> Patienten in den Vergleichsgruppenerfasst und berücksichtigt wurden. Diese Bedingungensind aber nur sehr selten erfüllt, sodass solche Analysen stets mit<strong>eine</strong>r gewissen Vorsicht zu genießen sind. Ihnen einfach zu glaubenkann echte Tragödien auslösen.Ein aufschlussreiches Beispiel da<strong>für</strong> <strong>ist</strong> die Hormonersatztherapie(HRT). Frauen, die während und nach <strong>der</strong> Menopause mit HRTbehandelt worden waren, wurden mit ansch<strong>eine</strong>nd ähnlichen Frauenohne HRT verglichen. Diese Vergleiche ließen darauf schließen,dass HRT das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko verringerte: Daswäre <strong>eine</strong> willkommene Nachricht gewesen, wenn sie sich bewahr-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 117heitet hätte. Lei<strong>der</strong> war dies nicht <strong>der</strong> Fall. Spätere Vergleiche, dievor Beginn <strong>der</strong> Therapie entwickelt worden waren, um sicherzustellen,dass die Vergleichsgruppen ähnlich sind, ergaben, dass die HRTgenau den gegenteiligen Effekt hatte – tatsächlich erhöhte sie dieAnzahl <strong>der</strong> Herzinfarkte und Schlaganfälle (s. Kap. 2, S. 49 f.). Indiesem Fall war <strong>der</strong> offensichtliche Unterschied in den HerzinfarktundSchlaganfallraten auf den Umstand zurückzuführen, dass dieFrauen mit HRT generell gesün<strong>der</strong> waren als die Frauen, die k<strong>eine</strong>HRT erhielten – es hatte nichts mit <strong>der</strong> HRT an sich zu tun. WissenschaftlicheUntersuchungen, bei denen nicht gewährle<strong>ist</strong>et <strong>ist</strong>, dassGleiches wirklich mit Gleichem verglichen wird, können dazu führen,dass Zehntausende von Menschen Schaden erleiden.Wie die Erfahrungen mit <strong>der</strong> HRT zeigen, wird <strong>der</strong> Vergleichvon Gleichem mit Gleichem am besten dadurch gewährle<strong>ist</strong>et, dassdie Vergleichsgruppen noch vor Therapiebeginn zusammengestelltwerden. Die Gruppen müssen aus Patienten bestehen, die sich nichtnur im Hinblick auf die bekannten und zu untersuchenden Faktorenwie Alter und Krankheitsschweregrad ähnlich sind, son<strong>der</strong>nauch in Bezug auf Faktoren, die zwar nicht untersucht werden, dieaber dennoch <strong>eine</strong>n Einfluss auf die Genesung von <strong>eine</strong>r Erkrankungausüben können. Das können die Ernährung, <strong>der</strong> Beruf undan<strong>der</strong>e soziale Faktoren o<strong>der</strong> Angst vor <strong>der</strong> Krankheit o<strong>der</strong> vor denvom Arzt vorgeschlagenen Behandlungen sein. Es <strong>ist</strong> immer schwierigund häufig sogar unmöglich, sicher zu sein, dass sich die Behandlungsgruppenähneln, wenn sie erst nach Therapiebeginn zusammengestelltwerden.Die kritische Frage lautet also: Spiegeln Unterschiede in den BehandlungsergebnissenUnterschiede in den Wirkungen <strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong>verglichenen Behandlungen wi<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Unterschiede zwischenden Patienten in den Vergleichsgruppen?Unverzerrte prospektive Zuteilung zu verschiedenenTherapienIm Jahre 1854 demonstrierte Thomas Graham Balfour, ein in <strong>eine</strong>mMilitärwaisenhaus tätiger Armeearzt, wie man Behandlungsgruppenbilden kann, um zu gewährle<strong>ist</strong>en, dass Gleiches mit Gleichem© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


118 Faire Tests von Therapienverglichen wird. Balfour wollte herausfinden, ob das aus <strong>der</strong> SchwarzenTollkirsche gewonnene «Belladonna», wie manche Leute behaupteten,Kin<strong>der</strong> vor Scharlach schützen könne. Um also «zu vermeiden,dass ihm Selektion unterstellt würde», wie er es formulierte,teilte er die Kin<strong>der</strong> abwechselnd (alternierend) entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppezu, die das Medikament erhalten sollte, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe, die dasMedikament nicht erhielt. 5 Die Anwendung dieser alternierendenZuteilung (Allokation) o<strong>der</strong> irgend<strong>eine</strong>r an<strong>der</strong>en unverzerrten Art<strong>der</strong> Vergleichsgruppenbildung gehört zu den Schlüsselmerkmalenfairer Therapietests. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieVergleichsgruppen ähnlich sind, und zwar nicht nur hinsichtlich<strong>der</strong> bekannten und zu untersuchenden Faktoren, son<strong>der</strong>n auch inBezug auf die nicht untersuchten Faktoren, welche die Genesungvon <strong>eine</strong>r Krankheit beeinflussen und <strong>für</strong> die unmöglich stat<strong>ist</strong>ischeAdjustierungen vorgenommen werden können.Um <strong>eine</strong> faire (unverzerrte) Zuteilung zu verschiedenen Therapienzu erreichen, müssen diejenigen, die solche fairen Tests entwerfen,unbedingt da<strong>für</strong> sorgen, dass Ärzte und Patienten nichtwissen o<strong>der</strong> vorhersehen können, wie die nächste Zuteilung aussehenwird. Wenn sie diese Zuteilung nämlich kennen, könnten sie –bewusst o<strong>der</strong> unbewusst – in Versuchung kommen, <strong>eine</strong> bestimmteTherapie auszuwählen. Wenn ein Arzt beispielsweise weiß, dass <strong>der</strong>nächste <strong>für</strong> die Teilnahme an <strong>eine</strong>r klinischen Studie vorgesehenePatient ein Placebo (<strong>eine</strong> Scheinbehandlung) erhalten wird, könnteer versuchen, <strong>eine</strong>n schwerer erkrankten Patienten von <strong>der</strong> Teilnahmean <strong>der</strong> Studie abzubringen, und auf <strong>eine</strong>n weniger kranken Patientenwarten. Selbst wenn also ein unverzerrtes Zuteilungsschemaerstellt wurde, findet <strong>eine</strong> unverzerrte Zuteilung zu den Behandlungsgruppennur statt, wenn die anstehenden Zuteilungen in diesemSchema erfolgreich vor den Personen geheim gehalten werden,die darüber entscheiden, ob ein Patient an <strong>der</strong> Studie teilnimmto<strong>der</strong> nicht. Auf diese Weise kann niemand vorhersagen, welche Behandlungals nächstes zugeteilt wird, und es wird niemand dazuverführt, vom unverzerrten Zuteilungsschema abzuweichen.Diese verdeckte Behandlungszuteilung wird normalerweise erstensdurch die Erstellung von Zuteilungsschemata erreicht, die wenigervorhersehbar sind als die einfache wechselweise Zuordnung –© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 119zum Beispiel dadurch, dass die Zuteilung auf Zufallszahlen beruht– und zweitens durch Geheimhaltung dieses Schemas. Um die Zuteilungsschematageheim zu halten, kann man verschiedene Methodenanwenden. So kann die Zufallszuteilung beispielsweise bei <strong>eine</strong>mPatienten, <strong>der</strong> sich <strong>für</strong> die Teilnahme an <strong>der</strong> Studie eignet, «aus<strong>der</strong> Ferne» – d. h. per Telefon o<strong>der</strong> Computer – erfolgen (Abb. 8).Eine weitere Möglichkeit stellt die Verwendung <strong>eine</strong>r Serie vonnummerierten Umschlägen dar, die jeweils <strong>eine</strong> Zuteilung enthalten.Ist ein Patient <strong>für</strong> die Teilnahme geeignet, wird jeweils <strong>der</strong>nächste Umschlag in dieser Serie geöffnet, um zu sehen, welcherGruppe er zugeteilt wird. Damit dieses System funktioniert, müssendie Umschläge undurchsichtig sein, damit die Ärzte nicht «schummeln»können, indem sie den Umschlag gegen das Licht halten, umdie Zuteilung darin zu erkennen.Dieses Vorgehen gilt heutzutage als wesentliches Merkmal fairerTherapietests. Studien, in denen <strong>für</strong> die Zuteilung zu den Therapiendas Zufallsprinzip verwendet wird, heißen «randomisierte Studien»(s. den Kasten in Kap. 3, S. 61).Die Patientin eignet sich <strong>für</strong>diese Studie und hat sichzur Teilnahme bereiterklärt.Welches Behandlungspaketsoll sie kriegen?Ja, Herr Doktor, Ihre Patientin<strong>ist</strong> geeignet. Sie wird BehandlungspaketNr. X32 zugeteilt. NachBeendigung <strong>der</strong> Studie werdenwir Sie wissen lassen, worum essich bei Behandlung X32gehandelt hat.Abbildung 8: Verdeckung <strong>der</strong> Behandlungszuteilung in <strong>eine</strong>r Studie durch telefonischeRandomisierung.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


120 Faire Tests von TherapienMöglichkeiten <strong>der</strong> unverzerrten (zufälligen) Zuteilungin TherapievergleichenDie Zufallszuteilung zu Therapievergleichen kann unterschiedlicheingesetzt werden (Abb. 9). So kann sie zum Beispiel dazu verwendetwerden, um unterschiedliche Therapien, die <strong>der</strong>selbe Patient zuunterschiedlichen Zeiten in <strong>eine</strong>r zufälligen Reihenfolge erhält, miteinan<strong>der</strong>zu vergleichen – in diesem Fall spricht man von <strong>eine</strong>r«randomisierten Studie mit Crossover-Design». Um beispielsweisezu beurteilen, ob <strong>eine</strong>m einzelnen Patienten mit anhaltendem trockenemHusten die Inhalation <strong>eine</strong>s Medikaments hilft, könnte dieStudie <strong>für</strong> die Dauer von mehreren Monaten angelegt werden. Ineinigen zufällig ausgewählten <strong>Wo</strong>chen würde <strong>der</strong> Patient <strong>eine</strong>n medikamentenhaltigenInhalator benutzen, und während <strong>der</strong> übrigen<strong>Wo</strong>chen bekäme er <strong>eine</strong>n identisch aussehenden Inhalator, <strong>der</strong> keinMedikament enthält. Die Erkenntnisse aus <strong>der</strong> Forschung auf dieseWeise maßgeschnei<strong>der</strong>t auf einzelne Patienten anzuwenden, <strong>ist</strong>,falls machbar, natürlich wünschenswert. Aber es gibt auch viele Situationen,in denen solche Crossover-Studien einfach nicht möglichsind. So kann man beispielsweise we<strong>der</strong> unterschiedliche chirurgischeEingriffe auf diese Weise miteinan<strong>der</strong> vergleichen, noch dieBehandlungen bei einmaligen akuten Gesundheitsproblemen wiez. B. starken Blutungen nach <strong>eine</strong>m Autounfall.Die Zufallszuteilung kann auch dazu eingesetzt werden, um verschiedeneTherapien zu vergleichen, die bei demselben Patienten anunterschiedlichen Körperteilen angewendet werden. Bei <strong>eine</strong>r Hautkrankheitetwa wie <strong>eine</strong>m Ekzem o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schuppenflechte (Psoriasis)kann nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, welche <strong>der</strong>befallenen Hautflächen mit <strong>eine</strong>r medikamentenhaltigen Salbenzubereitungbehandelt werden sollen und welche mit <strong>eine</strong>r Salbenzubereitungohne aktive Wirkstoffe. O<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>eine</strong>rbeidseitigen Augenerkrankung könnte ein Auge nach dem Zufallsprinzipzur Behandlung ausgewählt und das Ergebnis anschließendmit dem unbehandelten Auge verglichen werden.Eine weitere Anwendung <strong>der</strong> Zufallszuteilung <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Vergleichunterschiedlicher Therapien, die verschiedene Populationen o<strong>der</strong>Personengruppen erhalten, beispielsweise alle Personen, die be-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 121Mo Di Mi Do Fr1. Maiwoche A B A B B2. Maiwoche A A B B A3. Maiwoche B A B A A4. Maiwoche B A B B A5. Maiwoche A B A B BRandomisierung von Tagenim Leben <strong>eine</strong>r PersonA B B AB A A BRandomisierung von rechtem undlinkem Auge von PersonenRandomisierung von Gemeindeninnerhalb <strong>eine</strong>r bestimmten RegionRandomisierung von Einzelpersoneninnerhalb <strong>eine</strong>r GruppeAbbildung 9: Verschiedene Möglichkeiten <strong>der</strong> randomisierten Zuteilung.stimmte Grundversorgungskliniken o<strong>der</strong> Krankenhäuser aufsuchen.Solche Vergleiche nennt man «cluster- (o<strong>der</strong> gruppen-) randomisierteStudien». Um beispielsweise die Auswirkungen desallgem<strong>eine</strong>n Krankenversicherungsprogramms in Mexiko zu beurteilen,untersuchten Wissenschaftler nach <strong>der</strong> Matched-Pairs-Technik74 vergleichbare (gematchte) Patienten-Paare aus den medizinischenEinzugsgebieten – Cluster, die zusammen 118 000 Haushaltein sieben Bundesstaaten repräsentierten. Pro gematchtem Paar wurdenach dem Zufallsprinzip jeweils <strong>eine</strong>r dem Versicherungsprogrammzugeteilt. 6Die bei weitem häufigste Anwendung <strong>der</strong> Zufallszuteilung dientjedoch <strong>der</strong> Entscheidung, welcher Patient welche Behandlung erhaltensoll.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


122 Faire Tests von TherapienNachverfolgung aller Teilnehmer an TherapievergleichenNachdem man sich die Mühe gemacht hat, Vergleichsgruppen zusammenzustellen,um zu gewährle<strong>ist</strong>en, dass Gleiches mit Gleichemverglichen wird, <strong>ist</strong> es wichtig, systematischen Fehlern (Bias) vorzubeugen,die auftreten würden, wenn man bei <strong>der</strong> Auswertung <strong>der</strong>Studie diejenigen Patienten ignorieren würde, die <strong>eine</strong>n von <strong>der</strong>tatsächlichen Planung abweichenden Studienverlauf hatten. Soweitmöglich sollten alle den Vergleichsgruppen zugeteilten Patientennachverfolgt und in <strong>der</strong> Hauptanalyse <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong>jenigenGruppe berücksichtigt werden, <strong>der</strong> sie anfangs zugeteilt wurden,unabhängig davon, welche Behandlung sie später (wenn überhaupt)tatsächlich erhalten haben. Dies nennt man <strong>eine</strong> «Intention-to-Treat»-Analyse. Geschieht dies nicht, <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Vergleich von Gleichemmit Gleichem nicht mehr gewährle<strong>ist</strong>et.Auf den ersten Blick mag es unlogisch ersch<strong>eine</strong>n, Gruppen miteinan<strong>der</strong>zu vergleichen, in denen einige Patienten nicht die Therapienerhalten haben, denen sie zugeteilt wurden. Missachtet mandiesen Grundsatz jedoch, können die Studien unfair werden unddie Ergebnisse in die Irre führen. Patienten beispielsweise, die an<strong>eine</strong>r teilweisen Verstopfung <strong>der</strong> hirnversorgenden Blutgefäße mitSchwindelanfällen leiden, haben ein überdurchschnittlich hohesSchlaganfallrisiko. Wissenschaftler haben <strong>eine</strong> Studie durchgeführt,um herauszufinden, ob <strong>eine</strong> Operation zur Beseitigung <strong>der</strong> Gefäßverstopfungbei diesen Patienten die Zahl späterer Schlaganfälleverringern kann. Zu Recht verglichen sie alle Patienten, die <strong>der</strong>Operation zugeteilt worden waren, und zwar unabhängig davon, obsie den Eingriff überlebten o<strong>der</strong> nicht, mit all den Patienten, die <strong>der</strong>Gruppe ohne Operation zugeteilt worden waren. Hätten sie dieHäufigkeit <strong>der</strong> Schlaganfälle nur bei den Patienten erfasst, welchedie unmittelbaren Auswirkungen <strong>der</strong> Operation überlebten, hättensie die wichtige Tatsache übersehen, dass die Operation selbst <strong>eine</strong>nSchlaganfall verursachen und zum Tod führen kann und dass untersonst gleichen Umständen bei den überlebenden Patienten in dieserGruppe weniger Schlaganfälle auftreten. Das wäre ein unfairer Test<strong>der</strong> Operationswirkungen gewesen, weil <strong>der</strong>en Risiken mit in dieBewertung einfließen müssen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 123Die in <strong>der</strong> Abbildung 10 dargestellten Ergebnisse <strong>der</strong> operativenund <strong>der</strong> medikamentösen Therapie sind tatsächlich gleichwertig.Wenn jedoch die beiden <strong>der</strong> Operation zugeteilten Personen vordem Eingriff versterben und bei <strong>der</strong> Auswertung unberücksichtigtbleiben, wird <strong>der</strong> Vergleich <strong>der</strong> beiden Gruppen verzerrt. Er würdefälschlich darauf schließen lassen, dass die Operation besser <strong>ist</strong>.Wie man mit Abweichungen von <strong>der</strong> BehandlungszuteilungumgehtAus all den bisher in diesem Kapitel genannten Gründen wird deutlich,dass faire Therapietests sorgfältig geplant werden müssen. DieDokumente, in denen diese Pläne ausgeführt werden, nennt manStudienprotokolle. Doch selbst die besten Pläne funktionieren nichtimmer wie beabsichtigt: Manchmal weichen die Therapien, welchedie Patienten tatsächlich erhalten, von den ursprünglich zugeteiltenTherapien ab. Beispielsweise kann es vorkommen, dass PatientenRandomisierenOperationMedikamentVerstorbenTod vor <strong>der</strong>OperationEn<strong>der</strong>gebnis6/6 Patienten sind am Leben 6/8 Patienten sind am LebenAbbildung 10: Warum alle randomisierten Patienten im En<strong>der</strong>gebnis berücksichtigt werdensollten («Intention-to-Treat»).© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


124 Faire Tests von Therapiendie Behandlungen nicht wie vorgesehen durchführen o<strong>der</strong> dass <strong>eine</strong><strong>der</strong> Behandlungen nicht verabreicht wird, weil das benötigte Materialo<strong>der</strong> das Personal da<strong>für</strong> nicht verfügbar sind. Wenn solche Diskrepanzenbemerkt werden, muss man die Folgen berücksichtigenund umsichtig darauf eingehen.Während <strong>der</strong> 1970er- und 1980er-Jahre erzielte man bemerkenswerteFortschritte in <strong>der</strong> Behandlung von Kin<strong>der</strong>n mit akuterlymphatischer Leukämie, dem in dieser Altersgruppe am häufigstenvorkommenden Leukämietyp. Allerdings war es ein Rätsel, warumamerikanische Kin<strong>der</strong> dabei erheblich besser abschnitten als britischeKin<strong>der</strong>, die allem Anschein nach exakt dieselbe Medikamentenabfolgeerhielten. 7 Bei <strong>eine</strong>m Besuch in <strong>eine</strong>m kalifornischenKin<strong>der</strong>krebszentrum stellte ein aufmerksamer britischer Stat<strong>ist</strong>ikerfest, dass amerikanische Kin<strong>der</strong> mit Leukämie deutlich «aggressiver»mit Chemotherapie behandelt wurden als die betroffenen Kin<strong>der</strong>in Großbritannien. Die Therapie hatte <strong>für</strong>chterliche Nebenwirkungen(Übelkeit, Infektion, Anämie, Haarausfall usw.). Wenndiese Nebenwirkungen <strong>für</strong> die Kin<strong>der</strong> allzu belastend wurden, dannneigten britische Ärzte und Krankenschwestern im Gegensatz zuihren amerikanischen Kollegen dazu, die verordnete Therapie zureduzieren o<strong>der</strong> zu pausieren. Dieses «sanftere Vorgehen» schiendie Wirksamkeit <strong>der</strong> Therapie verringert zu haben und war wahrscheinlichein Grund <strong>für</strong> den unterschiedlichen Behandlungserfolgin Amerika und Großbritannien.Den Patienten bei <strong>der</strong> Befolgung <strong>der</strong> zugeteilten TherapienhelfenAuch in an<strong>der</strong>er Hinsicht kann es zu Abweichungen zwischen denbeabsichtigten und den tatsächlich verabreichten Behandlungenkommen, welche die Auswertung von Therapietests erschwerenkönnen. Den Teilnehmern an wissenschaftlichen Studien solltenmedizinisch notwendige Behandlungen nicht vorenthalten werden.Wenn <strong>eine</strong> neue Therapie mit erhofften, aber unbewiesenen günstigenWirkungen in <strong>eine</strong>m fairen Test untersucht wird, sollte mandeshalb allen teilnehmenden Patienten versichern, dass sie in jedemFall alle bewährte und wirksame Therapien erhalten.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 125Wenn man weiß, wer in <strong>eine</strong>r Studie wie behandelt wird, könnensich daraus mehrere systematische Fehler ergeben. Ein solcher Fehler<strong>ist</strong> z. B., dass Patienten und Ärzte das Gefühl haben können, dassTeilnehmer, die <strong>der</strong> «neuen» Therapie zugeteilt sind, Glück haben,und dies kann sie unbewusst zu <strong>eine</strong>r Überbewertung <strong>der</strong> Vorzügedieser Therapie verleiten. An<strong>der</strong>erseits sind Patienten und Ärztevielleicht <strong>der</strong> Meinung, dass die den «älteren» Therapien zugeteiltenTeilnehmer benachteiligt sind, sodass ihre Enttäuschung dazu führenkann, dass sie etwaige positive Effekte unterbewerten. Das Wissenum die Zuteilung <strong>der</strong> Behandlungen kann Ärzte zudem dazuveranlassen, den Patienten, die den älteren Therapien zugeteilt wurden,<strong>eine</strong> zusätzliche Behandlung o<strong>der</strong> Pflege angedeihen zu lassen,um sie gewissermaßen <strong>für</strong> die Tatsache zu entschädigen, dass sienicht <strong>eine</strong>r <strong>der</strong> neueren, wenn auch ungeprüften Therapien zugeteiltwurden. Solche zusätzlichen Behandlungen bei Patienten in <strong>der</strong><strong>eine</strong>n, aber nicht in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Vergleichsgruppe anzuwenden, erschwertdie Beurteilung <strong>eine</strong>r neuen Therapie und birgt die Gefahr,dass <strong>der</strong> Vergleich dadurch unfair wird und die Ergebnisse verfälschtwerden. Eine Möglichkeit, wie man Unterschiede in Vergleichenzwischen beabsichtigten und tatsächlich verabreichtenTherapien vermin<strong>der</strong>n kann, <strong>ist</strong> da<strong>für</strong> zu sorgen, dass die neuerenund älteren Therapien möglichst gleich aussehen, gleich schmeckenund gleich riechen.Und genau das passiert beim Vergleich zwischen <strong>eine</strong>r Therapiemit erhofften nützlichen Wirkungen und <strong>eine</strong>r Therapie ohne aktiveWirkstoffe (<strong>eine</strong>r Scheinbehandlung o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>m Placebo), diegenauso aussieht, riecht, schmeckt und sich anfühlt wie die «richtige»Therapie. Ein solches Vorgehen nennt man «Verblindung» o<strong>der</strong>«Maskierung». Wenn diese «Verblindung» erreicht werden kann(und es gibt viele Fälle, in denen das nicht möglich <strong>ist</strong>), dann unterscheidensich die Patienten in den beiden Vergleichsgruppen imGrunde nur in <strong>eine</strong>r Hinsicht – und zwar darin, ob sie <strong>der</strong> neuenTherapie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Therapie ohne aktive Wirkstoffe zugeteilt wurden.Dadurch können auch die Ärzte und Pflegekräfte, die die Studienteilnehmerversorgen, weniger gut erkennen, ob ihre Patientendie neue Therapie erhalten o<strong>der</strong> nicht. Wenn we<strong>der</strong> Ärzte noch Patientenwissen, welche Therapie verabreicht wird, spricht man von© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


126 Faire Tests von Therapien<strong>eine</strong>r «Doppelblindstudie». Infolgedessen haben die Patienten inbeiden Vergleichsgruppen <strong>eine</strong> ähnlich starke Motivation, die ihnenzugeteilte Behandlung zu befolgen. Zudem nimmt auch die Wahrscheinlichkeitzu, dass die Ärzte, die sich um sie kümmern, allePatienten gleich behandeln.Faire Erfassung des BehandlungsergebnissesEiner <strong>der</strong> Gründe <strong>für</strong> die Anwendung von Scheinbehandlungen inTherapievergleichen <strong>ist</strong> zwar, Patienten und Ärzte bei <strong>der</strong> Befolgung<strong>der</strong> jeweils zugeteilten Behandlung zu unterstützen, doch es gibtnoch <strong>eine</strong>n triftigeren Grund <strong>für</strong> <strong>eine</strong> solche «Verblindung», undzwar die Reduktion von systematischen Fehlern bei <strong>der</strong> Auswertung<strong>der</strong> Behandlungsergebnisse.Die Methode <strong>der</strong> Verblindung hat <strong>eine</strong> interessante Geschichte.So ordnete z. B. im 18. Jh. Ludwig XVI. von Frankreich an, AntonMesmers Behauptung zu prüfen, dass <strong>der</strong> «animalische Magnetismus»(gelegentlich auch als «Mesmerismus» bezeichnet) vorteilhafteWirkungen habe. Der König wollte wissen, ob die Wirkungen auf<strong>eine</strong> «echte (physikalische) Kraft» o<strong>der</strong> eher auf Kräfte <strong>der</strong> «Imagination»(Einbildung) zurückzuführen seien. In <strong>eine</strong>m Behandlungstestteilte man den Teilnehmern, denen die Augen verbundenworden waren, mit, dass sie mit animalischem Magnetismus behandeltbzw. nicht damit behandelt würden, wobei gelegentlich genaudas Gegenteil erfolgte. Die Teilnehmer gaben nur dann an, dass siedie Wirkungen <strong>der</strong> «Behandlung» gespürt hätten, wenn ihnen vorhergesagt worden war, dass sie diese Behandlung erhalten würden.Eine Verzerrung <strong>der</strong> Ergebnisbewertung <strong>ist</strong> bei manchen Ergebniswerten,die in <strong>der</strong> Studie gemessen werden (Outcomes) – beispielsweiseÜberleben – sehr unwahrscheinlich, da kaum Zweifeldarüber aufkommen dürften, ob ein Patient gestorben <strong>ist</strong> o<strong>der</strong>nicht. Bei den me<strong>ist</strong>en Ergebnissen dürfte die Bewertung allerdingsmit <strong>eine</strong>r gewissen Subjektivität einhergehen, weil die zu messendenStudienergebnisse auch das Auftreten von Symptomen wie Schmerzenund Angst bei den Patienten beinhalten sollten und dies oftmalsauch tun.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 127Unter diesen nicht selten auftretenden Umständen stellt die Verblindungein wünschenswertes Merkmal fairer Tests dar. In <strong>eine</strong>rStudie über Therapien <strong>der</strong> multiplen Sklerose beispielsweise wurdenalle Patienten zum <strong>eine</strong>n von <strong>eine</strong>m Arzt untersucht, <strong>der</strong> nichtwusste, ob die Patienten die neuen Medikamente o<strong>der</strong> ein Medikamentohne aktiven Wirkstoff erhalten hatten (d. h., <strong>der</strong> Arzt war«verblindet»), dann aber auch von <strong>eine</strong>m Arzt, <strong>der</strong> über die Zuteilung<strong>der</strong> Patienten zur jeweiligen Vergleichsgruppe informiert war(d. h., <strong>der</strong> Arzt war «unverblindet»). Die von den «verblindeten»Ärzten durchgeführten Untersuchungen legten nahe, dass die neueTherapie nicht nützlich war, während die Beurteilungen <strong>der</strong> «unverblindeten»Ärzte darauf hindeuteten, dass die neue TherapieVorteile brachte. 8 Dieser Unterschied in <strong>der</strong> Beurteilung lässt daraufschließen, dass die neue Therapie nicht wirksam war und dass dieKenntnis <strong>der</strong> Behandlungszuteilung die «unverblindeten» Ärztedazu verleitet hatte, das «zu sehen, woran sie glaubten» o<strong>der</strong> woraufsie hofften. Je stärker also die Komponente <strong>der</strong> Subjektivität bei<strong>der</strong> Beurteilung von Behandlungsergebnissen <strong>ist</strong>, umso wünschenswerter<strong>ist</strong> die Verblindung, um <strong>eine</strong> faire Therapiestudie zugewährle<strong>ist</strong>en.Manchmal gelingt es sogar, Patienten darüber im Unklaren zulassen, ob bei ihnen ein echter chirurgischer Eingriff vorgenommenwurde o<strong>der</strong> nicht. Dazu wurde <strong>eine</strong> Studie bei Patienten mit Kniegelenkarthrosedurchgeführt. Hierbei zeigte <strong>der</strong> operative Eingriff,bei dem das arthrotisch verän<strong>der</strong>te Gelenk gespült und gereinigtwurde, k<strong>eine</strong>n eindeutigen Vorteil gegenüber <strong>eine</strong>m Vorgehen, beidem unter Narkose oberhalb des Knies lediglich ein Hautschnittgesetzt und «nur so getan wurde, als ob» <strong>der</strong> Gelenkraum danachgespült und gereinigt worden wäre. 9Häufig <strong>ist</strong> es aber schlicht unmöglich, Patienten und Ärzte gegenüberden jeweils zu vergleichenden Therapien zu verblinden –beispielsweise wenn <strong>eine</strong> chirurgische mit <strong>eine</strong>r medikamentösenTherapie verglichen wird o<strong>der</strong> wenn ein Medikament <strong>eine</strong> charakter<strong>ist</strong>ischeNebenwirkung aufwe<strong>ist</strong>. Aber selbst bei Ergebnissen, beidenen sich systematische Fehler (Bias) einschleichen könnten – etwabei <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong> Todesursache o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Beurteilung <strong>eine</strong>rRöntgenaufnahme –, <strong>ist</strong> dies vermeidbar, wenn man da<strong>für</strong> sorgt,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


128 Faire Tests von Therapiendass die Auswertung dieser Ergebnisse unabhängig durch Personenerfolgt, die nicht wissen, welche Behandlungen die einzelnen Patientenerhalten haben.Untersuchungen zu unerwünschtenTherapiewirkungenWie Vermutungen bezüglich unerwarteterBehandlungswirkungen entstehenÄrzte bzw. Patienten sind häufig die ersten, bei denen <strong>der</strong> Verdachtauf unerwartete (ob nun positive o<strong>der</strong> negative) Behandlungseffekteaufkommt. 10 Da die <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Marktzulassung benötigtenTherapiestudien nur wenige hun<strong>der</strong>t bzw. wenige tausendMenschen einschließen, die über einige Monate behandelt werden,können me<strong>ist</strong> nur vergleichsweise kurzzeitige und häufig auftretendeNebenwirkungen erfasst werden. Seltene Wirkungen undsolche, die sich erst nach <strong>eine</strong>r gewissen Zeit entwickeln, werdenerst entdeckt, wenn die Therapien in größerem Umfang,über <strong>eine</strong>n längeren Zeitraum und bei <strong>eine</strong>m breiteren Patientenspektrumangewendet werden als bei den Teilnehmern <strong>der</strong>Zulassungsstudien.In immer mehr Län<strong>der</strong>n – darunter auch in Großbritannien, denNie<strong>der</strong>landen, Schweden, Dänemark, den USA und Deutschland –haben Ärzte und Patienten die Möglichkeit, mutmaßliche unerwünschteArzneimittelwirkungen zu melden, denen dann offiziellnachgegangen werden kann. 11 In Deutschland <strong>ist</strong> hier<strong>für</strong> das Bundesinstitut<strong>für</strong> Arzneimittel und <strong>Medizin</strong>produkte (BfArM) zuständig.Auch wenn sich k<strong>eine</strong>s dieser Meldesysteme bei <strong>der</strong> Identifizierungrelevanter unerwünschter Reaktionen auf Arzneimittelbeson<strong>der</strong>s hervorgetan hat, so ließen sich in einzelnen Fällen dochErfolge verbuchen. Als beispielsweise <strong>der</strong> Cholesterinsenker Rosuvastatin2003 in Großbritannien auf den Markt kam, zeichnete sichaus den eingehenden Meldungen bald <strong>eine</strong> seltene schwerwiegende,unerwartete Nebenwirkung auf die Muskulatur ab, die sogenannteRhabdomyolyse. Bei diesem Krankheitsbild kommt es zu <strong>eine</strong>r ra-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 129schen Auflösung von Muskelfasern, <strong>der</strong>en Abbauprodukte schwerwiegendeNierenschäden hervorrufen können. Wie die weitereUntersuchung ergab, bestand das größte Risiko <strong>für</strong> diese Komplikationbei Patienten, die das Medikament in hohen Dosierungeneinnahmen.Untersuchung von Vermutungen über unerwarteteBehandlungswirkungenOft stellen sich Vermutungen über unerwünschte Wirkungen alsfalscher Alarm heraus. 10 Wie also soll man herausfinden, ob es sichum echte Nebenwirkungen handelt? Tests, mit denen man mutmaßlicheunerwartete Wirkungen bestätigen o<strong>der</strong> verwerfen kann,müssen dieselben Prinzipien befolgen wie Tests, die <strong>der</strong> Identifizierungvon erhofften erwarteten Therapieeffekten dienen. Und dasbedeutet, dass man verzerrte Vergleiche vermeiden muss, um sicherzustellen,dass «Gleiches mit Gleichem verglichen wird», und esmuss <strong>eine</strong> angemessene Anzahl von Fällen untersucht werden.Das Yellow-Card-SystemDas Yellow Card Scheme wurde 1964 in Großbritannien eingeführt, nachdem dieThalidomid-Tragödie gezeigt hatte, wie wichtig es <strong>ist</strong>, Probleme zu beobachten,die nach <strong>der</strong> Zulassung <strong>eine</strong>s Medikaments auftreten. Empfänger dieser Meldungen<strong>ist</strong> die Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA),welche die Ergebnisse auswertet. Jedes Jahr gehen bei <strong>der</strong> MHRA mehr als 20 000Meldungen zu möglichen Nebenwirkungen ein. Anfangs konnten nur ÄrzteMeldung erstatten, später wurden dann auch Pflegekräfte, Apotheker, Gerichtsmediziner,Zahnärzte, Röntgenass<strong>ist</strong>enten und Optiker einbezogen. Seit 2005haben auch Patienten und Betreuungspersonen die Möglichkeit, mutmaßlicheunerwünschte Reaktionen zu melden. Die Meldungen können online unterwww.yellowcard.gov.uk, per Post o<strong>der</strong> telefonisch erfolgen.Eine Patientin fasste ihre Erfahrungen wie folgt zusammen: «Nebenwirkungenüber das Yellow-Card-System melden zu können, gibt mir ein Gefühl <strong>der</strong> Kontrolle.Es bedeutet, dass man die Meldung selber machen kann, ohne darauf wartenzu müssen, dass ein vielbeschäftigter Arzt das übernimmt … Damit rückt <strong>der</strong>Patient in den Mittelpunkt <strong>der</strong> medizinischen Versorgung. Es <strong>ist</strong> ein Quantensprungin <strong>der</strong> Patiententeilhabe; es we<strong>ist</strong> den Weg nach vorn und kennzeichnet<strong>eine</strong>n grundlegenden Einstellungswandel.»Bowser A. A patient’s view of the Yellow Card Scheme. In: Medicines &Medical Devices Regulation: what you need to know. London: MHRA, 2008.Abrufbar unter www.mhra.gov.uk© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


130 Faire Tests von TherapienWie bei den erhofften Behandlungseffekten kann man auch bei denunerwarteten Wirkungen die dramatischen leichter erkennen undbestätigen als die weniger dramatischen. Wenn das mutmaßlicheunerwartete Behandlungsergebnis normalerweise nur selten auftritt,nach Anwendung <strong>eine</strong>r Therapie aber recht häufig vorkommt,wird es sowohl dem Arzt als auch dem Patienten auffallen, dass etwasnicht stimmt. Gegen Ende des 19. Jh. erfuhr <strong>der</strong> Schweizer ChirurgTheodor Kocher von <strong>eine</strong>m Hausarzt, dass <strong>eine</strong>s <strong>der</strong> Mädchen,bei denen Kocher einige Jahre zuvor <strong>eine</strong> vergrößerte Schilddrüse(Struma) entfernt hatte, stumpfsinnig und lethargisch gewordenwar. Als er sich näher mit diesem Fall und an<strong>der</strong>en früheren Struma-Patientenbefasste, die er operiert hatte, entdeckte er, dass diekomplette Entfernung <strong>der</strong> vergrößerten Schilddrüse zu Kretinismusund Myxödemen geführt hatte – seltene, aber schwerwiegendeKomplikationen, die, wie wir heute wissen, durch den Mangel andem von <strong>der</strong> Schilddrüse produzierten Hormon bedingt sind. 12Auch hinsichtlich <strong>der</strong> unerwarteten Wirkungen von Thalidomid (s.Kap. 1, S. 34) gab es Vermutungen, die bestätigt wurden, weil <strong>der</strong>Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> Einnahme des Medikaments in <strong>der</strong>Schwangerschaft und <strong>der</strong> Geburt von Kin<strong>der</strong>n ohne Gliedmaßen sodramatisch war. Von solchen Anomalien hatte man bis dahin nochnie gehört.Weniger dramatische unerwartete Behandlungseffekte kommenmanchmal in randomisierten Studien ans Licht, die auf die Beurteilung<strong>der</strong> jeweiligen Vorteile alternativer Therapien ausgelegt sind.Ein randomisierter Vergleich von zwei Antibiotika, die Neugeborenenzur Vorbeugung gegen Infektionen verabreicht wurden, ergab,dass <strong>eine</strong>s <strong>der</strong> Medikamente die Verarbeitung von Bilirubin, <strong>eine</strong>mAbbauprodukt aus <strong>der</strong> Leber, im Körper beeinträchtigte. Die Anreicherungdieses Abbauprodukts im Blut führte bei den Säuglingen,die das <strong>eine</strong> <strong>der</strong> beiden Vergleichsantibiotika erhalten hatten, zuHirnschädigungen. 13Gelegentlich kann auch die weitere Auswertung von in <strong>der</strong> Vergangenheitdurchgeführten randomisierten Studien zur Identifizierungvon weniger dramatischen unerwünschten Wirkungenbeitragen. Nachdem <strong>der</strong> Nachweis erbracht worden war, dassdie Verabreichung des Medikaments Diethylstilbestrol (DES) an© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Faire Tests von Therapien 131Schwangere bei den Töchtern einiger <strong>der</strong> betroffenen Frauen dieUrsache <strong>für</strong> <strong>eine</strong> seltene Krebserkrankung war, kam es zu Spekulationenüber weitere potenzielle unerwünschte Wirkungen. Diesewurden entdeckt, indem man Kontakt zu den Söhnen und Töchtern<strong>der</strong> Frauen aufnahm, die an kontrollierten Studien teilgenommenhatten. In diesen Nachbeobachtungsstudien (Follow-up-Studien)fanden sich sowohl bei Männern als auch Frauen genitaleAnoma lien und Unfruchtbarkeit (Infertilität). Als in <strong>der</strong> jüngerenVergangenheit bei Rofecoxib (Vioxx), <strong>eine</strong>m neuen Arthritismedikament,<strong>der</strong> Verdacht aufkam, dass es Herzinfarkte auslösen könne,wurde ebenfalls durch <strong>eine</strong> detaillierte Untersuchung <strong>der</strong> Ergebnisserelevanter randomisierter Studien nachgewiesen, dass das Medikamentdiese unerwünschte Wirkung tatsächlich aufwies (s. Kap. 1,S. 37). 14Die Nachbeobachtung von Patienten, die an randomisierten Studienteilgenommen haben, bietet offensichtlich <strong>eine</strong> erfolgversprechendeMöglichkeit, um sicherzustellen, dass, wenn man Vermutungenüber unerwartete Therapieeffekte nachgeht, auch wirklichGleiches mit Gleichem verglichen wird. Lei<strong>der</strong> besteht diese Optionaber nur selten, es sei denn, im Voraus wurden entsprechende Vorkehrungengetroffen. Die Untersuchung von Mutmaßungen übermögliche unerwünschte Therapieeffekte wäre <strong>eine</strong> weniger großeHerausfor<strong>der</strong>ung, wenn die Kontaktdaten <strong>der</strong> Teilnehmer an randomisiertenStudien routinemäßig erfasst würden. Dann könntendie Betroffenen erneut kontaktiert und nach weiteren Angaben zuihrem Gesundheitszustand befragt werden.Die Untersuchung mutmaßlicher unerwünschter Wirkungenvon Behandlungen wird leichter, wenn die unter Verdacht stehendenunerwünschten Wirkungen ein ganz an<strong>der</strong>es gesundheitlichesProblem betreffen als das, wo<strong>für</strong> die Therapie verordnet wurde. 15Als Dr. Spock beispielsweise empfahl, Babys zum Schlafen auf denBauch zu legen, betraf s<strong>eine</strong> Empfehlung alle Babys und nicht diejenigen,<strong>für</strong> die ein überdurchschnittlich hohes Risiko <strong>für</strong> plötzlichenKindstod angenommen wurde (s. Kap. 2, S. 45 f.). Der fehlendeZusammenhang zwischen <strong>der</strong> ärztlichen Empfehlung («Babys zumSchlafen auf den Bauch legen») und <strong>der</strong> mutmaßlichen Folge dieserEmpfehlung (plötzlicher Kindstod) trug dazu bei, die Schlussfolge-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


132 Faire Tests von Therapienrung zu untermauern, dass sich in dem beobachteten Zusammenhang(Assoziation) zwischen dem ärztlichen Rat und dem plötzlichenKindstod Ursache und Wirkung wi<strong>der</strong>spiegelten.Eine deutlich größere Herausfor<strong>der</strong>ung stellt im Gegensatz dazudie Untersuchung <strong>der</strong> Vermutung dar, dass wegen Depression verordneteMedikamente zu <strong>eine</strong>m vermehrten Auftreten von suizidalenGedanken führen, die <strong>eine</strong> Depression gelegentlich begleitenkönnen. Ohne randomisierte Studien, in denen die verdächtigtenMedikamente mit an<strong>der</strong>en Therapien <strong>für</strong> Depressionen verglichenwerden, <strong>ist</strong> es kaum gerechtfertigt anzunehmen, dass sich die Personen,welche diese Medikamente eingenommen haben, und diejenigen,die sie nicht eingenommen haben, hinreichend ähnlich sind,um sie zuverlässig miteinan<strong>der</strong> vergleichen zu können. 16• Wir brauchen faire Therapietests, weil wir an<strong>der</strong>nfalls gelegentlichzu dem Schluss kämen, dass Therapien wirksam sind, wenn eigentlichdas Gegenteil <strong>der</strong> Fall <strong>ist</strong>, und umgekehrt.• Zu den wesentlichen Grundlagen aller fairen Therapietests gehörenVergleiche.• Wenn Therapien miteinan<strong>der</strong> (o<strong>der</strong> <strong>eine</strong> Behandlung mit k<strong>eine</strong>r Behandlung)verglichen werden, dann kommt dabei dem Grundsatz«Gleiches mit Gleichem vergleichen» <strong>eine</strong> wichtige Rolle zu.• Wir müssen versuchen, systematische Fehler (Bias) bei <strong>der</strong> Beurteilungvon Behandlungsergebnissen einzugrenzen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


7 Den ZufallsfaktorberücksichtigenDer Zufallsfaktor und das Gesetz <strong>der</strong> großen ZahlDie Glaubwürdigkeit <strong>der</strong> Erkenntnisse (Evidenz) über Therapieeffekteberuht auf <strong>der</strong> Vermeidung von systematischen Fehlern – unddem richtigen Umgang mit den Fehlern, die nicht verhin<strong>der</strong>t werdenkonnten. Wenn diese Eigenschaften fairer Tests nicht gewährle<strong>ist</strong>etsind, dann kann auch k<strong>eine</strong>rlei angemessene Bearbeitung <strong>der</strong>Forschungsdaten die verbleibenden Probleme mit ihren gefährlichen– und gelegentlich auch tödlichen – Folgen lösen (s. Kap. 1und 2). Und selbst wenn die zur Min<strong>der</strong>ung von Bias unternommenenSchritte erfolgreich sind, besteht immer noch die Möglichkeit,dass <strong>der</strong> Zufall uns in die Irre führt.Wie wir alle wissen, kommt es beim Münzenwerfen nicht seltenvor, dass man nacheinan<strong>der</strong> fünfmal o<strong>der</strong> noch öfter ganze Serienvon Kopf o<strong>der</strong> Zahl wirft. Und wie wir ebenfalls wissen: Je öfter man<strong>eine</strong> Münze wirft, umso wahrscheinlicher <strong>ist</strong> es, dass am Ende gleichoft Kopf und Zahl geworfen wurden.Wenn zwei Therapien verglichen werden, dann können etwaigeUnterschiede in den Ergebnissen auch einfach auf <strong>eine</strong>m solchenZufall beruhen. Nehmen wir einmal an, 40 % <strong>der</strong> Patienten versterben,nachdem sie Therapie A erhalten haben, während in <strong>der</strong> Vergleichsgruppenach Anwendung von Therapie B 60 % versterben.Tabelle 1 zeigt, was man erwarten würde, wenn jeweils zehn Patienten<strong>eine</strong> <strong>der</strong> beiden Therapien erhielten. Der Unterschied in <strong>der</strong>Anzahl <strong>der</strong> Todesfälle zwischen den beiden Therapien wird als «Risikoverhältnis»(engl. risk ratio) ausgedrückt. Das Risikoverhältnisin diesem Beispiel liegt bei 0,67.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


134 Den Zufallsfaktor berücksichtigenTabelle 1: Liefert diese kl<strong>eine</strong> Studie <strong>eine</strong>n zuverlässigen Schätzwert <strong>für</strong> den Unterschiedzwischen Therapie A und Therapie B?TherapieATherapieBRisikoverhältnis(A : B = )Anzahl <strong>der</strong> Verstorbenen 4 6 (4 : 6 = 0,67)von (insgesamt) 10 10Wäre es sinnvoll, auf <strong>der</strong> Grundlage dieser niedrigen Teilnehmerzahlenden Schluss zu ziehen, dass Therapie A besser <strong>ist</strong> als TherapieB? Wahrscheinlich nicht. Es könnte purer Zufall sein, dass es einigenPatienten in <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Gruppe besser ging als in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enGruppe. Wenn man den Vergleich in an<strong>der</strong>en kl<strong>eine</strong>n Gruppen vonPatienten wie<strong>der</strong>holen würde, könnten sich die Zahlen <strong>der</strong> in je<strong>der</strong>Gruppe verstorbenen Personen umkehren (6 zu 4) o<strong>der</strong> gleich großsein (5 zu 5). Rein zufällig könnte sich aber auch ein ganz an<strong>der</strong>esVerhältnis ergeben.Was aber würden Sie erwarten, wenn in je<strong>der</strong> Behandlungsgruppegenau <strong>der</strong>selbe Anteil von Patienten (40 % und 60 %) verstorbenwäre, nachdem jeweils 100 Patienten <strong>eine</strong> <strong>der</strong> beiden Therapien erhaltenhätten (Tab. 2)? Auch wenn das Unterschiedsmaß (das Risikoverhältnis)exakt dasselbe <strong>ist</strong> (nämlich 0,67) wie bei dem Vergleichin Tabelle 1, so <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Unterschied zwischen 40 Todesfällenauf <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n und 60 Todesfällen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite doch eindrucksvollerals <strong>der</strong> Unterschied zwischen 4 und 6 Todesfällen. Damit<strong>ist</strong> auch die Wahrscheinlichkeit geringer, dass hier nur Zufall imSpiel <strong>ist</strong>. Um also zu vermeiden, dass wir uns in Therapievergleichenvom Zufallsfaktor täuschen lassen, müssen wir unsere Schlussfolgerungenauf die Untersuchung <strong>eine</strong>r ausreichend großen Anzahl vonTabelle 2: Liefert diese mittelgroße Studie <strong>eine</strong>n zuverlässigen Schätzwert <strong>für</strong> denUnterschied zwischen Therapie A und Therapie B?TherapieATherapieBRisikoverhältnis(A : B = )Anzahl <strong>der</strong> Verstorbenen 40 60 (40 : 60 = 0,67)von (insgesamt) 100 100© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Den Zufallsfaktor berücksichtigen 135Patienten stützen, die versterben können o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Zustand sichverschlechtern o<strong>der</strong> bessern o<strong>der</strong> unverän<strong>der</strong>t bleiben kann. In diesemFall spricht man manchmal vom «Gesetz <strong>der</strong> großen Zahl».Wie man beurteilt, welche Rolle <strong>der</strong> Zufall in fairenTests gespielt haben könnteBei <strong>der</strong> Auswertung <strong>der</strong> Ergebnisse fairer Therapievergleiche kannuns die Rolle, die <strong>der</strong> Zufall dabei spielt, dazu verleiten, zwei Artenvon Fehlern zu begehen: Entwe<strong>der</strong> wir kommen fälschlich zu demSchluss, dass zwischen den Behandlungsergebnissen echte Unterschiedebestehen, wobei dies in Wirklichkeit gar nicht <strong>der</strong> Fall <strong>ist</strong>;o<strong>der</strong> wir folgern, dass sie sich nicht voneinan<strong>der</strong> unterscheiden,obwohl es tatsächlich aber Unterschiede gibt. Je größer die Anzahl<strong>der</strong> beobachteten Behandlungsergebnisse, die uns interessieren, <strong>ist</strong>,desto geringer <strong>ist</strong> die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in <strong>der</strong> beschriebenenArt und Weise irren.Da wir in Therapievergleichen nicht alle Menschen berücksichtigenkönnen, die an <strong>der</strong> behandelten Krankheit leiden o<strong>der</strong> noch daranerkranken werden, lassen sich die «wahren Unterschiede» zwischenden untersuchten Therapien auch niemals endgültig feststellen.Stattdessen müssen Studien möglichst gute Schätzungen darüberabgeben, worin die wahren Unterschiede wahrscheinlich bestehen.Die Zuverlässigkeit dieser geschätzten Unterschiede wird häufigals «Konfidenz- o<strong>der</strong> Vertrauensintervall» (engl. confidence interval,CI) angegeben. Diese Konfidenzintervalle geben den Bereich an,innerhalb dessen die wahren Unterschiede wahrscheinlich liegen.Den me<strong>ist</strong>en Lesern <strong>ist</strong> das Konzept «Konfidenzintervall» bereitsgeläufig, wenn auch nicht unbedingt unter diesem Namen. Wir allekennen Meinungsumfragen im Vorfeld von politischen Wahlen.Eine solche Umfrage könnte beispielsweise ergeben haben, dassPartei A 10 Prozentpunkte vor Partei B liegt; häufig wird in <strong>eine</strong>rsolchen Meldung dann darauf hingewiesen, dass <strong>der</strong> Unterschiedzwischen den Parteien mindestens 5, höchstens aber bis zu 15 Prozentpunktebetragen könnte. Dieses «Konfidenzintervall» gibt an,dass <strong>der</strong> wahre Unterschied zwischen den Parteien wahrscheinlich© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


136 Den Zufallsfaktor berücksichtigenirgendwo zwischen 5 und 15 Prozentpunkten liegt. Je größer dieAnzahl <strong>der</strong> befragten Wähler, umso geringer <strong>ist</strong> die Unsicherheitbezüglich <strong>der</strong> Ergebnisse, und umso schmaler <strong>ist</strong> das zu dem geschätztenUnterschied gehörige Konfidenzintervall (Abb. 11).Genauso wie man den Grad <strong>der</strong> Unsicherheit im Hinblick aufden geschätzten Unterschied in den Anteilen <strong>der</strong> Wähler bewertenkann, die zwei politische Parteien unterstützen, so lässt sich auch<strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Unsicherheit in Bezug auf den geschätzten Unterschiedin den Anteilen <strong>der</strong> Patienten abschätzen, <strong>der</strong>en Zustand sichnach den zwei unterschiedlichen Therapien bessert o<strong>der</strong> verschlechtert.Auch hier heißt es: Je größer die Anzahl <strong>der</strong> untersuchten Behandlungsergebnisse– z. B. die Genesung nach <strong>eine</strong>m Herzinfarkt– beim Vergleich zweier Therapien <strong>ist</strong>, umso schmaler werden auchdie Konfidenzintervalle um die Schätzer <strong>der</strong> Therapieunterschiedesein. Für Konfidenzintervalle gilt: «Je schmaler, desto besser.»Normalerweise wird bei <strong>eine</strong>m Konfidenzintervall angegeben,wie sicher wir sein können, dass <strong>der</strong> wahre Wert innerhalb des angegebenenSchätzwertbereichs liegt. Ein «95 %-Konfidenzintervall»bedeutet beispielsweise, dass wir zu 95 % sicher sein können, dass<strong>der</strong> wahre Wert dessen, was geschätzt wird, innerhalb des durch dasKonfidenzintervall eingegrenzten Bereichs liegt. Das heißt, es besteht<strong>eine</strong> Chance von 5 zu 100 (5 %), dass <strong>der</strong> «wahre» Wert tatsächlichaußerhalb dieses Bereichs liegt.Was bedeutet ein «signifikanter Unterschied»zwischen den Therapien?Dies <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> schwierige Frage, denn <strong>der</strong> Begriff «signifikanter Unterschied»kann mehrere Bedeutungen haben. Zunächst einmal kanner <strong>eine</strong>n <strong>für</strong> den Patienten tatsächlich wichtigen Unterschied bezeichnen.Wenn jedoch die Autoren wissenschaftlicher Forschungsberichtevon <strong>eine</strong>m «signifikanten Unterschied» sprechen, beziehensie sich häufig auf «stat<strong>ist</strong>ische Signifikanz». Und «stat<strong>ist</strong>isch signifikanteUnterschiede» sind nicht unbedingt «signifikant», d. h. «bedeutsam»,im alltäglichen Sinn des <strong>Wo</strong>rtes. Denn ein Unterschiedzwischen Therapien, <strong>der</strong> sehr wahrscheinlich nicht zufallsbedingt <strong>ist</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Den Zufallsfaktor berücksichtigen 13760 %50 %Vorsprung von Partei A vor Partei B40 %30 %20 %10 %0 %–10 %–20 %–30 %–40 %20 100 500 1 000 5 000Anzahl <strong>der</strong> BefragtenAbbildung 11: Das 95%-Konfidenzintervall (CI) <strong>für</strong> den Unterschied zwischen Partei Aund Partei B wird mit zunehmen<strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> befragten Wähler schmaler.– also «ein stat<strong>ist</strong>isch signifikanter Unterschied» – hat unter Umständennur wenig o<strong>der</strong> gar k<strong>eine</strong> praktische Relevanz.Sehen wir uns dazu das Beispiel <strong>eine</strong>s systematischen Reviewsvon randomisierten Studien an, in denen die Erfahrungen zehntausen<strong>der</strong>gesun<strong>der</strong> Männer, die täglich <strong>eine</strong> Aspirintablette eingenommenhaben, mit den Erfahrungen zehntausen<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er gesun<strong>der</strong>Männer verglichen wurden, die kein Aspirin einnahmen. In diesemReview war bei den Männern in <strong>der</strong> Aspiringruppe <strong>eine</strong> niedrigereHerzinfarktrate zu beobachten, und <strong>der</strong> Unterschied war «stat<strong>ist</strong>ischsignifikant», d. h. er war eher nicht durch r<strong>eine</strong>n Zufall zu erklären.Aber das bedeutet nicht, dass er auch praktische Relevanzhat. Wenn bei <strong>eine</strong>m gesunden Mann die Wahrscheinlichkeit, dasser <strong>eine</strong>n Herzinfarkt erleidet, ohnehin nur sehr gering <strong>ist</strong>, dann <strong>ist</strong>die Einnahme <strong>eine</strong>s Medikaments, mit dem dieses Risiko noch stärkergesenkt werden soll, unter Umständen nicht gerechtfertigt, vorallem nicht, wenn man bedenkt, dass Aspirin Nebenwirkungen hat,von denen einige (z. B. Blutungen) tödlich verlaufen können. 1 Auf© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


138 Den Zufallsfaktor berücksichtigen<strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Erkenntnisse aus dem erwähnten systematischenReview können wir davon ausgehen, dass von 1 000 Männern, diezehn Jahre lang täglich 100 mg Aspirin einnehmen, bei fünf in diesemZeitraum ein Herzinfarkt verhin<strong>der</strong>t würde, drei von ihnenaber <strong>eine</strong> stärkere Blutung entwickeln würden.Was bedeutet «stat<strong>ist</strong>isch signifikant»?«Um ehrlich zu sein: Das <strong>ist</strong> ein kniffliger Begriff. Er kann uns sagen, ob beispielsweise<strong>der</strong> Unterschied zwischen <strong>eine</strong>m Medikament und <strong>eine</strong>m Placebo o<strong>der</strong>zwischen den Lebenserwartungen zweier Personengruppen lediglich zufallsbedingtsein könnte … Er bedeutet, dass es unwahrscheinlich <strong>ist</strong>, dass ein Unterschied,<strong>der</strong> so groß <strong>ist</strong> wie <strong>der</strong>, den man beobachtet hat, allein auf Zufall beruht.Um den Grad dieser ‹Unwahrscheinlichkeit› anzugeben, benutzen Stat<strong>ist</strong>ikerStandardwerte. Üblicherweise nehmen sie ein Signifikanzniveau von 5 % an(manchmal als p = 0,05 geschrieben). In diesem Fall bedeutet es, dass ein Unterschiedals ‹signifikant› gilt, weil <strong>eine</strong> Wahrscheinlichkeit von weniger als 1 zu 20besteht, dass das, was passiert <strong>ist</strong>, auf Zufall beruht.»Spiegelhalter D, zitiert in: Making Sense of Stat<strong>ist</strong>ics. 2010.www.senseaboutscience.orgWie man ausreichend große Teilnehmerzahlen<strong>für</strong> faire Therapietests gewinntManchmal gelingt es in Therapietests, <strong>eine</strong> ausreichend große Anzahlvon Forschungsdaten zu gewinnen, die aus <strong>eine</strong>m o<strong>der</strong> zweiStudienzentren stammen. Um zuverlässige wissenschaftliche Datenzu erhalten und damit die Auswirkungen von Behandlungen aufseltene Behandlungsergebnisse (Outcomes) wie z. B. den Todesfallbeurteilen zu können, muss man normalerweise Patienten in vielenZentren und oftmals auch in vielen Län<strong>der</strong>n zur Teilnahme an <strong>eine</strong>rStudie einladen. So ergab sich beispielsweise in <strong>eine</strong>r Studie mit10 000 Patienten aus 13 Län<strong>der</strong>n, dass bei schweren Hirnverletzungendie Gabe von Steroiden – die mehr als drei Jahrzehnte langpraktiziert wurde – tödlich war. 2 In <strong>eine</strong>m weiteren, von demselbenForscherteam organisierten fairen Test erbrachte die Teilnahme von20 000 Patienten aus 40 Län<strong>der</strong>n den Nachweis, dass ein kostengünstigesMedikament namens Tranexamsäure die Anzahl <strong>der</strong>blutungsbedingten Todesfälle nach Verletzungen senkt. 3 Da diese© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Den Zufallsfaktor berücksichtigen 139Studien darauf ausgelegt waren, systematische Fehler (Bias) sowiezufallsbedingte Unsicherheiten zu reduzieren, stellen sie vorbildlicheBeispiele <strong>für</strong> faire Tests. Sie lieferten hochwertige Evidenz, die<strong>für</strong> die Gesundheitsversorgung weltweit von großer Bedeutung <strong>ist</strong>.Die zweite dieser randomisierten Studien wurde dementsprechendin <strong>eine</strong>r vom British Medical Journal (BMJ) durchgeführten Umfragezur wichtigsten Studie des Jahres 2010 gewählt.Abbildung 12 beruht auf Daten, die uns freundlicherweise vondem preisgekrönten Forscherteam zur Verfügung gestellt wurden.Sie veranschaulichen, wie wichtig es <strong>ist</strong>, unsere Schätzungen vonTherapieeffekten auf möglichst viele Informationen zu stützen, umdie Gefahr zu verringern, dass wir uns vom Zufall täuschen lassen.Die Raute im unteren Abschnitt <strong>der</strong> Abbildung gibt das Gesamtergebnis<strong>der</strong> Studie über Tranexamsäure an. Sie zeigt, dass das Medikamentdie Anzahl <strong>der</strong> blutungsbedingten Todesfälle um nahezu30 % reduziert (Risikoverhältnis knapp über 0,7). Dieses Gesamtergebnisstellt die zuverlässigste Schätzung <strong>der</strong> Wirkung dieses Medikamentsdar, auch wenn <strong>der</strong> Schätzwert <strong>der</strong> Zentren in Kontinent ABlutungsbedingte TodesfälleRisikoverhältnis (95 %-Konfidenzintervall)Kontinent AKontinent BKontinent CAn<strong>der</strong>e KontineteKombiniert0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 1,1BehandlungbesserBehandlungschlechterAbbildung 12: Wirkungen von Tranexamsäure auf die Sterblichkeitsrate bei Trauma-Patienten mit signifikanten Blutungen: insgesamt sowie nach dem Kontinent, aus dem dieTeilnehmer stammten (unveröffentlichte Daten aus CRASH-2: Lancet 2010; 376: 23-32).© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


140 Den Zufallsfaktor berücksichtigen<strong>eine</strong>n weniger deutlichen Effekt nahelegt (<strong>der</strong> stat<strong>ist</strong>isch nicht signifikant<strong>ist</strong> und wahrscheinlich <strong>eine</strong> Unterschätzung des wahren Effektsdarstellt) und <strong>der</strong> Schätzwert aus Zentren in <strong>der</strong> Kategorie«an<strong>der</strong>e Kontinente» auf <strong>eine</strong>n stärkeren Effekt schließen lässt (wobeies sich wahrscheinlich um <strong>eine</strong> Überbewertung handelt).Genauso, wie man den Zufallsfaktor min<strong>der</strong>n kann, indem mandie Daten aus vielen Zentren in <strong>eine</strong>r multinationalen klinischenStudie kombiniert, so können auch die Ergebnisse aus ähnlichen,aber voneinan<strong>der</strong> unabhängigen Studien manchmal stat<strong>ist</strong>isch in<strong>eine</strong>r «Meta-Analyse» (s. a. Kap. 8) zusammengefasst werden. DieMethoden <strong>für</strong> solche Meta-Analysen wurden viele Jahre lang vonStat<strong>ist</strong>ikern entwickelt. In größerem Umfang wurden sie aber erst inden 1970er-Jahren eingesetzt, und zwar zunächst von Sozialwissenschaftlernin den USA und später dann von <strong>Medizin</strong>wissenschaftlern.Seit Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts sind Meta-Analysen überall alswichtiger Bestandteil fairer Therapietests anerkannt.So wurden beispielsweise fünf Studien in fünf verschiedenenLän<strong>der</strong>n organisiert und unabhängig voneinan<strong>der</strong> finanziert, um<strong>eine</strong>r Frage nachzugehen, die seit 60 Jahren unbeantwortet gebliebenwar: «Bei welchem Sauerstoffspiegel im Blut <strong>ist</strong> die Wahrscheinlichkeitam höchsten, dass Frühgeborene ohne größere Behin<strong>der</strong>ungenüberleben?» Ist <strong>der</strong> Sauerstoffspiegel im Blut nämlich zu hoch,können die Säuglinge erblinden; <strong>ist</strong> er zu niedrig, können sie sterbeno<strong>der</strong> <strong>eine</strong> Zerebralparese entwickeln. Da die verschiedenen Sauerstoffdosierungenselbst bei diesen winzigen Babys wahrscheinlichnur mäßige Unterschiede bewirken, braucht man <strong>eine</strong> große Anzahlvon Säuglingen, um diese Unterschiede nachweisen zu können.Deshalb erklärten sich die <strong>für</strong> jede dieser fünf Studien verantwortlichenForscherteams zu <strong>eine</strong>r Zusammenfassung <strong>der</strong> Ergebnisse ihrerjeweiligen Studien bereit, um dadurch <strong>eine</strong> zuverlässigere Schätzungzu ermöglichen, die mit je<strong>der</strong> einzelnen ihrer Studien nichtmöglich gewesen wäre. 4• Bei <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Frage, wie viel Vertrauen man in die Qualitätund Quantität <strong>der</strong> verfügbaren Evidenz setzen kann, muss auchdem «Zufallsfaktor» Rechnung getragen werden.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


8 Bewertung <strong>der</strong>relevantenverlässlichen EvidenzKann <strong>eine</strong> einzige Studie genügen?Die einfache Antwort lautet: «<strong>Wo</strong>hl kaum». Nur selten wird ein einzigerfairer Therapievergleich hinreichend verlässliche Erkenntnisse(Evidenz) liefern, auf <strong>der</strong>en Grundlage <strong>eine</strong> Entscheidung überverschiedene Therapieoptionen getroffen werden kann. Gelegentlichkann das aber doch vorkommen. Zu diesen seltenen Einzelstudiengehört <strong>eine</strong> Studie, in <strong>der</strong> nachgewiesen wurde, dass die Einnahmevon Aspirin während <strong>eine</strong>s Herzinfarkts das Risiko <strong>eine</strong>s vorzeitigenTodes senkt 1 , <strong>eine</strong> zweite, in <strong>der</strong> deutlich wurde, dass die Gabe vonSteroiden bei akuten traumatischen Hirnverletzungen tödlich <strong>ist</strong> (s. u.und Kap. 7, S. 138), sowie <strong>eine</strong> dritte Studie, in <strong>der</strong> Koffein als einzigesMedikament identifiziert wurde, mit dem sich bei Frühgeborenen<strong>eine</strong> Zerebralparese verhin<strong>der</strong>n lässt (s. Kap. 5, S. 99). Normalerweise<strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Einzelstudie aber nur <strong>eine</strong>r von mehreren Vergleichen, in denendenselben o<strong>der</strong> ähnlichen Fragen nachgegangen wird. Deshalbsollten die Ergebnisse aus Einzelstudien immer zusammen mit denErgebnissen aus an<strong>der</strong>en, ähnlichen Studien ausgewertet werden.Der britische Stat<strong>ist</strong>iker Austin Bradford Hill, <strong>eine</strong>r <strong>der</strong> Pionierefairer Therapietests, for<strong>der</strong>te in den 1960er-Jahren, dass in Forschungsberichtendie folgenden vier Fragen beantwortet werdenmüssten:• Warum wurde die Untersuchung begonnen?• Was wurde gemacht?© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


142 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz• Was wurde herausgefunden?• Und was bedeuten ihre Ergebnisse überhaupt?Warum wurde die Untersuchung begonnen?«Nur wenige Prinzipien sind <strong>für</strong> die wissenschaftliche und ethische Validitätmedizinischer Forschung wichtiger als <strong>der</strong> Grundsatz, dass Studien Fragenuntersuchen sollten, die dringend beantwortet werden müssen, und dass sieso ausgelegt sein sollten, dass sie <strong>eine</strong> bedeutsame Antwort auf diese Fragengeben können. Diese beiden Ziele setzen voraus, dass dazu relevante frühereForschungsarbeiten identifiziert werden. … Ein unvollständiges Bild <strong>der</strong> bereitsvorhandenen Erkenntnisse stellt <strong>eine</strong> Verletzung <strong>der</strong> unausgesprochenen ethischenGrundlage des Vertrags mit den Studienteilnehmern dar, wonach dieInformationen, die mit ihrer Hilfe gewonnen werden sollen, notwendig und <strong>für</strong>an<strong>der</strong>e Menschen von Nutzen sind.»Robinson KA, Goodman SN. A systematic examination of thecitation of prior research in reports of randomized, controlled trials.Annals of Internal Medicine 2011; 154: 50–55.Auch heute haben diese Schlüsselfragen nichts von ihrer Bedeutungverloren, und doch werden sie nur allzu oft unzureichend thematisierto<strong>der</strong> gar völlig übersehen. Die Antwort auf die letzte Frage –Was bedeuten die Ergebnisse? – <strong>ist</strong> beson<strong>der</strong>s wichtig, weil sie sehrwahrscheinlich Einfluss auf Therapieentscheidungen sowie Entscheidungenüber zukünftige Forschungsvorhaben hat.Nehmen wir das Beispiel <strong>der</strong> kurzzeitigen Verabreichung <strong>eine</strong>spreiswerten steroidhaltigen Medikaments an Frauen mit drohen<strong>der</strong>Frühgeburt. Der erste faire Test zu dieser Therapie, über den 1972berichtet wurde, ergab, dass die Sterblichkeitswahrscheinlichkeitvon Frühgeborenen nach <strong>der</strong> mütterlichen Einnahme <strong>eine</strong>s solchensteroidhaltigen Medikaments abnimmt. Zehn Jahre später warendazu weitere Untersuchungen durchgeführt worden: Es handeltesich dabei allerdings um kl<strong>eine</strong> Studien, <strong>der</strong>en Einzelergebnisse verwirrendwaren, weil k<strong>eine</strong> von ihnen früher durchgeführte ähnlicheStudien systematisch berücksichtigt hatte. An<strong>der</strong>nfalls wäre nämlichdeutlich geworden, dass man aus ihnen sehr stichhaltige Belegezugunsten <strong>eine</strong>s vorteilhaften Effekts dieser Medikamente hätte ableitenkönnen. Da dies erst 1989 nachgeholt wurde, war den me<strong>ist</strong>enGeburtshelfern, Hebammen, Kin<strong>der</strong>ärzten und Säuglingsschwes-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 143tern zwischenzeitlich gar nicht bewusst, wie wirksam diese Therapiewar. Infolgedessen hatten zehntausende Frühgeborene unnötig leidenund sterben müssen. 2Um die Frage «Was bedeuten die Ergebnisse?» zu beantworten,müssen die aus <strong>eine</strong>m einzelnen fairen Therapievergleich stammendenErkenntnisse zusammen mit den Ergebnissen an<strong>der</strong>er, ähnlicherfairer Vergleiche ausgewertet werden. Neue Studienergebnissezu veröffentlichen, ohne sie im Licht an<strong>der</strong>er relevanter und imRahmen systematischer Übersichtsarbeiten zusammengefasster Ergebnissezu interpretieren, kann zu <strong>eine</strong>r verzögerten Identifizierungsowohl nützlicher als auch schädlicher Therapien und auch zuunnötiger Forschung führen.Informationen aus <strong>der</strong> Forschung zusammenfassenSchon vor mehr als <strong>eine</strong>m Jahrhun<strong>der</strong>t äußerte sich Lord Rayleigh, <strong>der</strong> damaligePräsident <strong>der</strong> British Association for the Advancement of Science, über die Notwendigkeit,die Ergebnisse neuer Forschungsarbeiten in den Kontext an<strong>der</strong>errelevanter Forschungsergebnisse zu stellen: «Bestünde die Wissenschaft, wiezuweilen angenommen wird, lediglich aus dem mühseligen Sammeln von Fakten,würde sie bald zum Stillstand kommen und sozusagen von ihrem eigenenGewicht erdrückt werden … Deshalb müssen hier zwei Prozesse gleichzeitigstattfinden: die Aufnahme neuer Ergebnisse sowie die «Verdauung» und Integrationbereits vorhandener Erkenntnisse; und da beide Prozesse wichtig sind, könnenwir uns die Diskussion ihrer jeweiligen Bedeutung an dieser Stelle sparen …Die Arbeiten, die die me<strong>ist</strong>e Anerkennung verdienen, aber lei<strong>der</strong> nicht immererhalten, sind diejenigen, bei denen Entdeckung und Erklärung Hand in Handgehen, in <strong>der</strong>en Zusammenhang nicht nur die neuen Fakten vorgestellt werden,son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Zusammenhang mit den schon vorhandenen aufgezeigt wird.»Rayleigh, Lord. In: Report of the fifty-fourth meeting of the British Associationfor the Advancement of Science; held at Montreal in August and September 1884.London: John Murray, 1884: pp. 3–23.Systematische Reviews <strong>der</strong> relevanten zuverlässigenEvidenzZu verlangen, dass wir die Ergebnisse <strong>eine</strong>r bestimmten Studie vordem Hintergrund an<strong>der</strong>er relevanter und zuverlässiger Erkenntnisseprüfen sollten, fällt zwar nicht schwer, doch stellt diese For<strong>der</strong>ungin vielfacher Hinsicht <strong>eine</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Es <strong>ist</strong> wichtig, dass© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


144 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen EvidenzReviews systematisch durchgeführt werden – die Menschen müssensich auf sie verlassen können. Unsystematische Reviews sind anfälliger<strong>für</strong> Ergebnisverzerrungen und können uns in die Irre führen.Die Bedeutung systematischer Reviews«Systematische Übersichtsarbeiten (Reviews) und Meta-Analysen haben imGesundheitswesen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ärzte lesen sie, umsich in ihrem Fachgebiet auf dem Laufenden zu halten, und häufig dienen sieauch als Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Erstellung von klinischen Leitlinien. Institutionen<strong>für</strong> Forschungsför<strong>der</strong>ung verlangen mitunter <strong>eine</strong>n systematischen Review, umsicherzustellen, dass weitere Forschungsvorhaben gerechtfertigt sind, und auchetliche medizinische Fachzeitschriften bewegen sich bereits in diese Richtung.Wie bei allen Forschungsarbeiten hängt auch <strong>der</strong> Wert <strong>eine</strong>s systematischenReviews davon ab, was gemacht wurde, was dabei festgestellt wurde und wieübersichtlich und genau darüber berichtet wird. Wie bei an<strong>der</strong>en Veröffentlichungenvariiert die Berichtsqualität auch bei den systematischen Übersichtsarbeiten;und dies schränkt auch die Möglichkeit des Lesers ein, die Stärken und Schwächensolcher Reviews zu beurteilen.»Moher D, Liberati A, Tetzlaff, Altman DG. The PRISMA Group. Preferred reportingitems for systematic reviews and meta-analyses: The PRISMA statement(www.equator-network.org), 2009.Auch wenn systematische Übersichtsarbeiten zu bestimmten Therapienansch<strong>eine</strong>nd dieselbe Fragestellung untersuchen, können sie zuunterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen. Manchmal liegt dasdaran, dass die untersuchten Fragen sich geringfügig unterscheideno<strong>der</strong> dass die Forscher unterschiedliche Methoden angewandt haben;und manchmal hat es damit zu tun, dass die Forscher die Ergebnissenur aus <strong>eine</strong>m <strong>für</strong> sie interessanten Blickwinkel betrachten.Deshalb <strong>ist</strong> es wichtig, Reviews zu identifizieren, in <strong>der</strong> die Therapienmit Fragestellungen untersucht werden, die jenen ähneln, <strong>für</strong> diewir selbst uns interessieren. Zugleich sollten die Reviews mit hoherWahrscheinlichkeit so erstellt worden sein, dass sie die Auswirkungenvon systematischen Fehlern und Zufallsfaktoren erfolgreichreduziert haben und somit ehrliche Schlussfolgerungen ermöglichen,in denen sich die dargestellten Ergebnisse (Evidenz) auchwi<strong>der</strong>spiegeln.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 145Wie man Bias in systematischen Reviews reduziertGenauso wie systematische Fehler die Ergebnisse einzelner Therapietestsverzerren und zu falschen Schlussfolgerungen führen können,so können sie auch die Ergebnisse von Übersichtsarbeiten überdie vorhandene Evidenz verzerren. Wissenschaftler könnten sichz. B. einfach diejenigen Studien «herauspicken», die ihre eigenenBehauptungen über die betreffende Therapie untermauern.Um diesen Problemen vorzubeugen, sollten die Arbeitsschritte<strong>für</strong> systematische Reviews genauso wie bei wissenschaftlichen Studienin Forschungsprotokollen nie<strong>der</strong>gelegt werden. In diesen Protokollensollten die Wissenschaftler festlegen, welche Maßnahmen siebei <strong>der</strong> Erstellung des Reviews zur Vermin<strong>der</strong>ung von systematischenFehlern und Zufallseffekten ergreifen werden. Beispielsweisesollten sie u. a. angeben, mit welchen Fragen zur Therapie sich <strong>der</strong>Review befassen wird, und Kriterien festlegen, anhand <strong>der</strong>er überdie Eignung von Studien <strong>für</strong> den Einschluss in den Review entschiedenwird, wie potenziell geeignete Studien ermittelt werden sollenund welche Schritte unternommen werden, um bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong><strong>für</strong> den Review und die Datenanalyse geeigneten Studien systematischeFehler auf ein Minimum zu begrenzen.Wie man die gesamte relevante Evidenz <strong>für</strong> systematischeReviews identifiziertDie Identifizierung <strong>der</strong> gesamten relevanten Evidenz <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n systematischenReview – unabhängig von <strong>der</strong> Sprache o<strong>der</strong> vom Format<strong>der</strong> relevanten Studienberichte – stellt jedes Mal <strong>eine</strong> Herausfor<strong>der</strong>ungdar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass manche relevantenwissenschaftlichen Daten mitunter gar nicht veröffentlicht werden.Dieses sogenannte «Un<strong>der</strong>reporting» («Nichtpublizieren») <strong>ist</strong>hauptsächlich dadurch bedingt, dass Wissenschaftler ihre Ergebnissenicht aufschreiben o<strong>der</strong> ihre Forschungsberichte nicht zur Veröffentlichungeinreichen, wenn sie von den Ergebnissen enttäuschtsind. Und pharmazeutische Unternehmen unterdrücken Studien, indenen ihre Produkte k<strong>eine</strong> günstige Beurteilung erhalten. AuchFachzeitschriften zeigen sich dann als voreingenommen, wenn sie© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


146 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenzeingereichte Berichte ablehnen, weil sie <strong>der</strong>en Ergebnisse <strong>für</strong> nicht«aufsehenerregend» genug halten. 3Das auf Voreingenommenheit beruhende «Nichtpublizieren»von Forschungsergebnissen <strong>ist</strong> unwissenschaftlich und unethischund inzwischen auch allgemein als ernst zu nehmendes Problemerkannt worden. Menschen, die versuchen, sich <strong>für</strong> <strong>eine</strong> von mehrerenTherapiemöglichkeiten zu entscheiden, können dadurch, dassStudien mit «enttäuschenden» o<strong>der</strong> «negativen» Ergebnissen seltenerzur Veröffentlichung kommen, in die Irre geführt werden. Dagegen<strong>ist</strong> bei Studien mit spektakulären Ergebnissen eher ein «Overreporting»(«Mehrfachpublikation») zu beobachten.Das Ausmaß von Un<strong>der</strong>reporting <strong>ist</strong> erstaunlich: Mindestens dieHälfte aller klinischen Studien wird niemals o<strong>der</strong> unvollständigveröffentlicht. Dieses Nichtpublizieren von Forschungsergebnissenstellt <strong>eine</strong> Verzerrung dar und betrifft sowohl große als auch kl<strong>eine</strong>klinische Studien. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen,wurde u. a. vereinbart, dass Studien schon bei ihrem Beginn reg<strong>ist</strong>riertwerden und dass Wissenschaftler die Protokolle ihrer Studienveröffentlichen sollten. 3Ein durch Voreingenommenheit bedingtes Un<strong>der</strong>reporting vonForschungsergebnissen kann sogar tödliche Folgen haben. Es <strong>ist</strong> <strong>eine</strong>rGruppe von britischen Forschern hoch anzurechnen, dass sie noch1993 die Ergebnisse <strong>eine</strong>r klinischen Studie veröffentlichten, die siebereits 13 Jahre zuvor durchgeführt hatten. In dieser Studie war esum ein neues Medikament zur Verringerung von Herz rhythmusstörungenbei Herzinfarkt-Patienten gegangen. Neun Patienten warennach <strong>der</strong> Einnahme des Medikaments verstorben, während in <strong>der</strong>Vergleichsgruppe nur ein Todesfall aufgetreten war. «Als wir unsereStudie 1980 durchführten», so schrieben die Wissenschaftler,dachten wir, die erhöhte Sterblichkeitsrate in <strong>der</strong> Medikamentengruppesei zufallsbedingt gewesen. … Die Entwicklung des Medikaments[Lorcainid] wurde aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben, weshalbdiese Studie niemals veröffentlicht wurde; heutzutage stellt sie ein gutesBeispiel <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n «Publikationsbias» dar. Die hier beschriebenen Ergebnisse… hätten uns vielleicht frühzeitig vor den sich abzeichnendenProblemen warnen können. 4© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 147Mit den «sich abzeichnenden Problemen» meinten sie, dass ähnlicheMedikamente wie das von ihnen getestete Präparat auf demHöhepunkt ihrer Anwendung allein in den USA jedes Jahr zehntausendevon vorzeitigen Todesfällen verursachten (s. Kap. 2, S. 46 f.). 5Marketingbasierte <strong>Medizin</strong>«Interne Dokumente aus <strong>der</strong> pharmazeutischen Industrie lassen darauf schließen,dass die öffentlich zugängliche Evidenzbasis die ihren Produkten zugrunde liegendenDaten womöglich nicht exakt wi<strong>der</strong>spiegelt. Der Industrie und den mitihr zusammenarbeitenden medizinischen Kommunikationsberatern zufolgedienen Veröffentlichungen in <strong>der</strong> medizinischen Literatur in erster LinieMarketing interessen. Die Unterdrückung und Än<strong>der</strong>ung negativer Daten sowiedas Ghostwriting [s. Kap. 10, S. 179] sind zu <strong>eine</strong>m Mittel geworden, mit dem manPublikationen in medizinischen Fachzeitschriften optimal auf den Absatz <strong>der</strong>eigenen Produkte ausrichten kann, während das Erfinden von Krankheiten unddie Marktsegmentierung hinsichtlich <strong>der</strong> Ärzteschaft zur effizienten Gewinnmaximierungeingesetzt werden. Unserer Meinung nach <strong>ist</strong> die <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>zwar ein nobles Ideal, Realität <strong>ist</strong> <strong>der</strong>zeit aber die marketingbasierte <strong>Medizin</strong>.»Spielmans GI, Parry PI. Aus: Evidence-based Medicine to Marketing-basedMedicine: Evidence from Internal Industry Documents. Journal of Bioethical Inquiry2010; 7(1): 13–29. Zugänglich unter http://tinyurl.com/Spielmans.Wie man in systematischen Reviews den Einfluss des ZufallsverringertIn Kapitel 7 (S. 140) haben wir dargelegt, wie <strong>der</strong> Einfluss des Zufallsverringert werden kann, indem man Daten aus ähnlichen, aber eigenständigenStudien in <strong>eine</strong>r sogenannten «Meta-Analyse» zusammenfasst.Wir haben dazu das Beispiel von fünf Studien, die unabhängigvoneinan<strong>der</strong> in fünf verschiedenen Län<strong>der</strong>n organisiert undfinanziert wurden, gewählt, um <strong>eine</strong>m 60 Jahre alten Dilemma aufdie Spur zu kommen. Es ging dabei um die Frage, wie hoch <strong>der</strong> Sauerstoffspiegelim Blut von Frühgeborenen sein muss, um die Wahrscheinlichkeitihres Überlebens ohne größere Behin<strong>der</strong>ungen zumaximieren. Dieses Beispiel zeigt auf, wie die Verringerung des Zufallsfaktorsbereits vor <strong>der</strong> Verfügbarkeit <strong>der</strong> Studienergebnisse geplantwerden konnte. Ein solches Vorgehen <strong>ist</strong> aber auch noch nachdem Abschluss <strong>eine</strong>r Reihe von ähnlichen Studien möglich.So erstellte beispielsweise 1974 ein schwedischer Arzt <strong>eine</strong> systematischeÜbersichtsarbeit von Studien, in denen die Ergebnisse von© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


148 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen EvidenzBrustkrebsoperationen mit bzw. ohne Strahlentherapie miteinan<strong>der</strong>verglichen wurden. 6 Dabei stellte er fest, dass die strahlentherapeutischbehandelten Gruppen von Frauen in all diesen Studien <strong>eine</strong>höhere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit aufwiesen. Als er die Gesamtheit<strong>der</strong> Ergebnisse mithilfe <strong>eine</strong>r Meta-Analyse stat<strong>ist</strong>isch zusammenfasste,wurde klar, dass die übermäßige Sterblichkeit kaumzufallsbedingt sein konnte. Nachfolgende detailliertere Analysen,die auf den Daten von einzelnen Patientinnen beruhte, bestätigten,dass die in <strong>der</strong> damaligen Zeit angewandte Strahlentherapie dieSterblichkeit tatsächlich erhöhte. 7 Auf <strong>der</strong> Basis dieser Erkenntniskonnten sicherere Vorgehensweisen entwickelt werden.Wie man in systematischen Reviews das Vorhandensein vonpersönlichen Interessen und Datenmanipulation erkenntWas passiert, wenn Reviewautoren noch an<strong>der</strong>e Interessen verfolgen,welche die Durchführung o<strong>der</strong> Auswertung ihres Reviews beeinflussen?Es kann z. B. vorkommen, dass die Reviewer von demUnternehmen, das die Prüfung <strong>der</strong> neuen Therapie in Auftraggegeben hat, finanziell unterstützt werden. Bei <strong>der</strong> Bewertung<strong>der</strong> Evidenz <strong>für</strong> die Wirksamkeit von Nachtkerzenöl bei Ekzemenfiel die Einschätzung <strong>der</strong> Reviewer, die Verbindungen zum Herstellerunterhielten, sehr viel enthusiastischer aus als bei den Reviewernohne entsprechende kommerzielle Interessen (s. Kap. 2,S. 51 f.). Aber nicht nur kommerzielle Interessen führen zu voreingenommenenReviews. Wir alle haben Vorurteile, die uns voreingenommen machen – und zwar Forscher, Ärzte und Patientengleichermaßen.Diese Voreingenommenheit kann Wissenschaftler– häufig auskommerziellen Gründen – dazu verleiten, vorhandene Erkenntnisseabsichtlich zu ignorieren. Sie planen, analysieren und publizierenForschungsarbeiten, um ihre eigenen Ergebnisse zu <strong>eine</strong>r bestimmtenTherapie in <strong>eine</strong>m günstigen Licht ersch<strong>eine</strong>n zu lassen. 8 Genaudas passierte in den 1990er-Jahren, als <strong>der</strong> Hersteller des AntidepressivumsSeroxat (Paroxetin) wichtige Daten zurückhielt, die daraufhinwiesen, dass das Medikament bei Jugendlichen die depressivenSymptome tatsächlich verstärkte, und einiger dieser jungen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 149Patienten in <strong>der</strong> Folge <strong>eine</strong>n Suizid als Ausweg aus ihrer Depressionin Erwägung zogen. 9Ein weiteres Problem stellt das Overreporting dar. Bei dem als«Salamitaktik» bezeichneten Phänomen nehmen Wissenschaftlerdie Ergebnisse <strong>eine</strong>r einzelnen Studie (<strong>der</strong> «Salami») und teilen dieErgebnisse in mehrere Berichte auf, ohne klarzustellen, dass es sichbei den einzelnen Berichten nicht um voneinan<strong>der</strong> unabhängigeStudien handelt. Auf diese Weise kann <strong>eine</strong> einzelne «positive» Studiein Fachzeitschriften und unterschiedlichen Artikeln mehrfachveröffentlicht und als mehrere Studien wahrgenommen werden,wodurch ein Bias entsteht. 10 Die Verwirrung, die ein solches Vorgehenstiften kann, lässt sich dadurch verringern, dass Studien bereitsbei Studienbeginn in ein Reg<strong>ist</strong>er eingetragen werden und dabei<strong>eine</strong> Identifikationsnummer zugewiesen bekommen.Was passieren kann, wenn nicht alle relevanteverlässliche Evidenz ausgewertet wirdZu <strong>eine</strong>r fairen Therapiestudie gehört auch die systematische Prüfung<strong>der</strong> gesamten relevanten und verlässlichen Evidenz. Nur sokann festgestellt werden, ob die Erkenntnisse aus Tier- o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>enLaborstudien stammen o<strong>der</strong> von gesunden Probanden (Freiwilligen),an denen manchmal neue Therapien getestet werden, o<strong>der</strong>aus früheren Forschungsarbeiten, an denen Patienten beteiligt waren.Wird dieser Schritt ausgelassen o<strong>der</strong> nicht sorgfältig durchgeführt,können sich daraus ernsthafte Folgen ergeben: So kann espassieren, dass Patienten im Allgem<strong>eine</strong>n sowie Teilnehmer an klinischenStudien im Beson<strong>der</strong>en Schaden nehmen (und manchmalauch unnötigerweise sterben) und dass in <strong>der</strong> Gesundheitsversorgungund -forschung wertvolle Ressourcen verschwendet werden.Vermeidbare Nachteile <strong>für</strong> PatientenDie Therapieempfehlungen bei Herzinfarkt, die über <strong>eine</strong>n Zeitraumvon 30 Jahren in verschiedenen Lehrbüchern erschienen sind,wurden mit <strong>der</strong> Evidenz verglichen, die die Autoren durch <strong>eine</strong> sys-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


150 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenztematische Auswertung <strong>der</strong> Ergebnisse fairer Therapietests aus dembesagten Zeitraum hätten gewinnen und berücksichtigen können. 11Der Vergleich zeigte, dass die Lehrbuchempfehlungen häufig falschwaren, weil die Autoren die relevante Evidenz nicht systematischgeprüft hatten. Das hatte katastrophale Folgen. In einigen Fällenkam es dazu, dass Patienten mit Herzinfarkt deshalb lebensrettendeTherapien (z. B. gerinnselauflösende Medikamente) vorenthaltenblieben. Und es gab an<strong>der</strong>e Fälle, in denen Ärzte Therapien auchdann noch empfahlen, nachdem faire Tests längst gezeigt hatten,dass diese tödlich verlaufen können (z. B. die Gabe von Medikamenten,die bei Herzinfarkt-Patienten Herzrhythmusstörungenmil<strong>der</strong>n sollen; s. o. und Kap. 2, S. 46 f.).Die Wissenschaft <strong>ist</strong> kumulativ, aber Wissenschaftler akkumulierendie Evidenz nicht wissenschaftlich«Wissenschaftler reden schon seit etwa 25 Jahren von <strong>der</strong> sogenannten ‹kumulativenMeta-Analyse›: Dazu lässt man parallel zur voranschreitenden Forschung<strong>eine</strong> Meta-Analyse zu <strong>eine</strong>r bestimmten Intervention laufen. Jedes Mal, wenn <strong>eine</strong>Studie abgeschlossen <strong>ist</strong>, gibt man die entsprechenden Daten ein und erhält soein aktualisiertes gepooltes Ergebnis. Auf diese Weise entwickelt man ein Gefühlda<strong>für</strong>, in welche Richtung sich die Ergebnisse bewegen. Beson<strong>der</strong>s nützlich dabei<strong>ist</strong>, dass auf diese Weise <strong>eine</strong> gute Chance besteht, <strong>eine</strong> stat<strong>ist</strong>isch signifikanteAntwort zu erkennen, sobald sich Anhaltspunkte da<strong>für</strong> ergeben, ohne dass mandas Leben von Menschen in weiteren unnötigen wissenschaftlichen Untersuchungengefährden muss.»Goldacre B. Bad Science: How pools of blood trials could save lives.The Guardian, 10. Mai 2008, S. 16.Noch immer erleiden Patienten Schaden, weil es nicht gelingt, dieErgebnisse von Studien in systematischen Reviews zusammenzufassen,sobald neue Erkenntnisse verfügbar werden. Blutersatzstoffez. B., bei denen auf Kühlung und Kreuzproben verzichtet werdenkann, stellen bei <strong>der</strong> Versorgung von Blutungen offensichtlich <strong>eine</strong>attraktive Alternative zu echtem Blut dar. Lei<strong>der</strong> erhöhen diese Produkteauch das Risiko, <strong>eine</strong>n Herzinfarkt zu erleiden und zu versterben.Wie <strong>eine</strong> systematische Übersichtsarbeit zu den seit den späten1990er-Jahren veröffentlichten randomisierten Studien ganz klarzeigte, hätte man die mit diesen Blutersatzstoffen verbundenen Ge-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 151fahren bereits mehrere Jahre vorher erkennen können und auch erkennenmüssen. 1Vermeidbare Nachteile <strong>für</strong> StudienteilnehmerWenn versäumt wird, die gesamte relevante und zuverlässige Evidenzzu bewerten, kann dies auch bei den Teilnehmern an wissenschaftlichenUntersuchungen zu Schädigungen führen, die eigentlichvermeidbar wären. Noch immer erhalten Forscher den Auftragund die Genehmigung, Studien durchzuführen, bei denen sie denTeilnehmern bekanntermaßen wirksame Therapien vorenthalten.So gab es beispielsweise zuverlässige Hinweise darauf, dass die Gabevon Antibiotika bei Patienten, die sich <strong>eine</strong>r Darmoperation unterzogen,die Wahrscheinlichkeit reduzierte, dass sie an Operationskomplikationenverstarben. Trotzdem führten Forscher, die esversäumt hatten, bereits vorhandene Erkenntnisse systematisch auszuwerten,weiterhin Vergleichsstudien durch, in denen die Hälfte<strong>der</strong> Teilnehmer an kontrollierten Studien k<strong>eine</strong> Antibiotika erhielt.Offensichtlich hatten die Einrichtungen, die diese Forschung för<strong>der</strong>ten,und die wissenschaftlichen Ethikkommissionen, welche dieStudienprotokolle geprüft hatten, diesen schwerwiegenden Fehlerübersehen und es versäumt, entsprechenden Druck auf die Forscherauszuüben.Wenn Forscher das, was bereits über die Wirkungen von Therapien,die sie einsetzen, bekannt <strong>ist</strong>, nicht systematisch auswerten,gefährden sie damit nicht nur behandlungsbedürftige Patienten,son<strong>der</strong>n auch gesunde Probanden. An <strong>der</strong> ersten Phase <strong>eine</strong>r Therapiestudienimmt oftmals nur <strong>eine</strong> sehr geringe Anzahl gesun<strong>der</strong>Freiwilliger teil. 2006 beispielsweise wurden sechs jungen männlichenProbanden an <strong>eine</strong>r privaten Forschungseinrichtung in WestLondon Infusionen <strong>eine</strong>s Medikaments gegeben, das zuvor nochnicht beim Menschen angewendet worden war. Sie alle erlitten lebensbedrohlicheKomplikationen, die ihre Gesundheit langfr<strong>ist</strong>igbeeinträchtigten: Einer von ihnen verlor Finger und Zehen. DieseTragödie hätte sehr wahrscheinlich verhin<strong>der</strong>t werden können, 13wenn erstens ein Bericht über <strong>eine</strong> schwerwiegende Reaktion auf einähnliches Medikament zur Publikation eingereicht worden wäre 14© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


152 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenzund wenn zweitens die Forscher systematisch ausgewertet hätten,was man über die Wirkungen solcher Medikamente bereits wusste.15 Sie hätten in diesem Fall ihre Untersuchung vielleicht überhauptnicht fortgesetzt o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>nfalls den Probanden das Medikamentvielleicht nacheinan<strong>der</strong> anstatt gleichzeitig infundiert.Zudem hätten sie die gesunden jungen Probanden vor den möglichenGefahren warnen können (und auch müssen). 16Verschwendung von Ressourcen im Gesundheitswesenund in <strong>der</strong> ForschungAuch wenn Patienten bzw. Studienteilnehmer k<strong>eine</strong>n unmittelbarenSchaden nehmen, hat ein Verzicht auf die Durchführung vonsystematischen Reviews <strong>der</strong> relevanten zuverlässigen Belege auswissenschaftlichen Studien negative Folgen. Denn es kann dadurchzur Vergeudung von Ressourcen im Gesundheitswesen und in<strong>der</strong> Gesundheitsforschung kommen. Während <strong>der</strong> 1980er- und1990er-Jahre nahmen beispielsweise insgesamt mehr als 8 000 Patientenan mehreren Studien zu <strong>eine</strong>m neuen Schlaganfallmedikamentteil. Nie<strong>der</strong>ländische Forscher, welche die Ergebnisse dieserMedikamentenstudien systematisch auswerteten, konnten k<strong>eine</strong>rleivorteilhafte Effekte nachweisen (s. Kap. 10, S. 168). 17 Deshalb beschlossensie, auch die Ergebnisse von Medikamentenstudien auszuwerten,die zuvor an Tieren durchgeführt worden waren, undauch hier gelang ihnen <strong>der</strong> Nachweis günstiger Effekte nicht. 18 Hättendie Wissenschaftler, die die Tierversuche durchgeführt hatten,und die klinischen Forscher die Ergebnisse <strong>der</strong> Tierstudien zum damaligenZeitpunkt systematisch ausgewertet, wären wahrscheinlichnicht Tausende von Patienten zur Teilnahme an den klinischenStudien eingeladen worden. Tatsächlich hätten die Ressourcen dannbesser <strong>für</strong> die Behandlung von Schlaganfall-Patienten und <strong>für</strong> Studienaufgewendet werden können, die <strong>für</strong> die Identifizierung vonMöglichkeiten zur Verbesserung von Schlaganfalltherapien relevantergewesen wären. Und dies <strong>ist</strong> bei weitem kein Einzelfall. 19© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen Evidenz 153Hätte sich ein Todesfall durch vorherige Prüfung <strong>der</strong> Evidenz verhin<strong>der</strong>n lassen?«Unter tragischen Umständen, die hätten verhin<strong>der</strong>t werden können, verstarb imJuni [2001] die zuvor gesunde 24-jährige Ellen Roche, weil <strong>eine</strong> Chemikalie, die sieim Rahmen <strong>eine</strong>r Asthmastudie <strong>der</strong> Johns Hopkins University inhalieren sollte, zuprogredientem Lungen- und Nierenversagen führte. Bei <strong>der</strong> Aufarbeitung diesesTodesfalls wurde deutlich, dass <strong>der</strong> Forscher, <strong>der</strong> das Experiment durchgeführt,und die Ethikkommission, die es genehmigt hatte, ansch<strong>eine</strong>nd zahlreiche Hinweiseauf die Gefahren <strong>der</strong> Chemikalie Hexamethonium, die Ellen Roche inhalierenmusste, übersehen hatten. Beson<strong>der</strong>e Brisanz erhielt <strong>der</strong> Fall zudem dadurch,dass man die Belege <strong>für</strong> die Gefährlichkeit <strong>der</strong> Chemikalie leicht in <strong>der</strong> veröffentlichtenLiteratur hätte finden können. Die Tageszeitung Baltimore Sun gelangtezu dem Fazit, dass <strong>der</strong> behandelnde Arzt Dr. Alkis Togias zwar ‹aufrichtig bemüht›gewesen war, die unerwünschten Wirkungen des Medikaments zu recherchieren,dass s<strong>eine</strong> Recherche sich aber ansch<strong>eine</strong>nd auf <strong>eine</strong> begrenzte Anzahl von Quellengestützt habe, u. a. auf PubMed, dessen durchsuchbares Archiv aber nur biszum Jahr 1966 zurückreichte. Die Warnungen vor den mit Hexamethonium einhergehendenLungenschäden stammten jedoch aus früheren Artikeln, die bereitsin den 1950er-Jahren veröffentlicht und in späteren Publikationen zitiert wordenwaren.»Perkins E. Johns Hopkins Tragedy. Information Today 2001; 18: 51–4.Am Anfang und am Ende neuer Forschungsollte ein systematischer Review stehenDer Bericht über <strong>eine</strong> Studie 20 , in <strong>der</strong> die Wirkungen von Steroidenbei akuten traumatischen Hirnverletzungen untersucht wurden, <strong>ist</strong>beispielhaft da<strong>für</strong>, wie die vier obigen, von Bradford Hill formuliertenFragen adressiert werden können: Als Grund <strong>für</strong> die Durchführung<strong>der</strong> Studie gaben die Autoren an, dass ihr systematischer Review<strong>der</strong> vorhandenen Belege sowie <strong>der</strong> Hinweis auf Unterschiedein <strong>der</strong> klinischen Anwendung dieser Therapie relevante Unsicherheitenüber die Wirkungen dieser weit verbreiteten Therapie ergebenhatte. Ihren Angaben zufolge wurde das Studienprotokoll zuBeginn <strong>der</strong> Studie reg<strong>ist</strong>riert und veröffentlicht.Des Weiteren beschrieben sie, dass sie, um systematische Fehlerzu minimieren und Zufallsfaktoren zu kontrollieren, <strong>eine</strong> hinreichendgroße Anzahl von Patienten untersucht hatten. Ihren Angabenzufolge erbrachte die Studie den Nachweis, dass die Verabreichungvon Steroiden an Patienten mit schweren Hirnverletzungendie Sterbewahrscheinlichkeit bei diesen Patienten erhöhte.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


154 Bewertung <strong>der</strong> relevanten verlässlichen EvidenzAutorenhinweise <strong>der</strong> Herausgeber <strong>der</strong> medizinischen Fachzeitschrift«The Lancet» zur Einordnung von Forschungsergebnissen in den jeweiligenKontextSystematischer Review: In diesem Abschnitt sollten die Autoren ihre Suche nach<strong>der</strong> gesamten vorhandenen Evidenz beschreiben. Sie sollten auch angeben, wiesie die Qualität dieser Evidenz bewertet haben – d. h., wie sie die Evidenz ausgewähltund zusammengefasst haben.Interpretation: Hier sollten die Autoren angeben, inwieweit ihre Studie die vorhandeneEvidenz bereichert, wenn man sie im Lichte schon durchgeführter Forschungsarbeitenbetrachtet.«In allen ab dem 1. August eingereichten Forschungsberichten – randomisierto<strong>der</strong> nicht – … sind die Ergebnisse im Abschnitt ‹Diskussion› in den Gesamtzusammenhang<strong>der</strong> verfügbaren Evidenz einzuordnen.»Clark S, Horton R. Putting research in context – revisited. Lancet 2010; 376: 10–11.Und schließlich machten sie dem Leser, was beson<strong>der</strong>s wichtig <strong>ist</strong>,sämtliche Ergebnisse zugänglich. Indem sie ihre ursprüngliche systematischeÜbersichtsarbeit über frühere Studien mit den neuenErkenntnissen ihrer eigenen Studie aktualisierten, schafften sie dieGrundlage da<strong>für</strong>, Tausende <strong>der</strong> durch diese weit verbreitete Therapieverursachten Todesfälle zu verhin<strong>der</strong>n.• Eine einzelne Studie liefert nur selten genügend Belege, um bei <strong>der</strong>Entscheidung über Behandlungsoptionen im Gesundheitswesen<strong>eine</strong> Orientierungshilfe geben zu können.• Bewertungen <strong>der</strong> jeweiligen Vorzüge verschiedener Behandlungsoptionensollten sich auf systematische Übersichtsarbeiten allerrelevanten und zuverlässigen Erkenntnisse stützen.• Wie auch in einzelnen Studien, in denen Therapien getestet werden,müssen <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n systematischen Review entsprechendeSchritte unternommen werden, um den irreführenden Einfluss vonsystematischen Fehlern und Zufallsfaktoren einzugrenzen.• Die Nichtberücksichtigung <strong>der</strong> Ergebnisse systematischer Reviewsführt zu eigentlich vermeidbaren Schäden bei Patienten und imGesundheitswesen und in <strong>der</strong> Gesundheitsforschung zur Vergeudungvon Ressourcen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


9 Reglementierung vonTherapietests: hilfreicho<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?Inzwischen wissen Sie, dass Therapien lei<strong>der</strong> nur allzu oft nichtsorgfältig bewertet werden und dass unnötigerweise auch weiterhinUnsicherheit über die Wirksamkeit mancher Therapien herrscht.Paradoxerweise halten etliche Vorurteile, wie bereits in Kapitel 5angemerkt, Ärzte davon ab, mit Patienten zusammenzuarbeiten,um auf diese Weise mehr über Therapieeffekte zu erfahren. Somerkwürdig es auch anmuten mag, in den me<strong>ist</strong>en Län<strong>der</strong>n tragenauch die <strong>für</strong> die Reglementierung <strong>der</strong> medizinischen Forschung verantwortlichenInstitutionen zu diesem Problem noch bei, indem sie<strong>eine</strong> künstliche Aufteilung zwischen Forschung und Therapie erzwingen.Forschung gilt als hochriskante Tätigkeit, die nach <strong>eine</strong>rstrengen Aufsicht verlangt. Routinetherapien dagegen werden alsdeutlich weniger problematisch gesehen – und das, obwohl Patienten,wie wir gesehen haben, bei <strong>der</strong> Verabreichung von nicht o<strong>der</strong>nur unzureichend bewerteten Therapien außerhalb wissenschaftlicherStudien Gefahren ausgesetzt sein können.Wer sagt, medizinische Forschung sei schlecht <strong>für</strong> Ihre Gesundheit?«Die me<strong>ist</strong>en Diskussionen über Ethik in <strong>der</strong> medizinischen Forschung betreffendie Frage, wie die Forschung reguliert werden soll. Tatsächlich <strong>ist</strong> die medizinischeForschung in vielerlei Hinsicht sehr viel strenger reglementiert als die medizinischePraxis. Und wenn Sie sich die unzähligen Richtlinien zur medizinischen Forschungeinmal durchlesen, dann kann man Ihnen den Gedanken, dass medizinischeForschung genauso wie das Rauchen schlecht <strong>für</strong> Ihre Gesundheit sein muss,kaum verübeln.»Hope T. Medical ethics: a very short introduction. Oxford: Oxford University Press,2004, S. 99.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


156 Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?Warum gilt Forschung als so riskant und reglementierungsbedürftig,nicht aber die alltäglichen Therapien, von denen sehr viel mehrPatienten betroffen sind? Natürlich darf man nicht vergessen, dassWissenschaftler in <strong>der</strong> Vergangenheit auch Missbrauch getriebenhaben, u. a. in Experimenten, in denen Patienten ausgenutzt und alsMittel zum Zweck benutzt wurden. Und von Zeit zu Zeit geht in <strong>der</strong>Forschung auch tatsächlich etwas schief, sodass es also durchaus die<strong>eine</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Horrorgeschichte gibt. Zudem besteht auch immerdie Sorge, dass Ärzte die persönlichen Interessen <strong>der</strong> Menschen,wenn diese erst einmal zu Probanden <strong>der</strong> Forschung geworden sind,den Gesamtinteressen <strong>der</strong> Forschung unterordnen.Noch komplizierter wird die Situation durch die sehr unterschiedlichenMotive von Forschern: Während einige Forscher Studienin erster Linie zum <strong>Wo</strong>hl <strong>der</strong> Allgemeinheit durchführen, stehenbei an<strong>der</strong>en als Motivation eindeutig Geld o<strong>der</strong> die Karriere imVor<strong>der</strong>grund. Und manchmal lassen sich die Motive <strong>der</strong> Wissenschaftlerauch gar nicht so genau beurteilen. Aus diesen Gründenkann Forschung auf die Patienten und die Öffentlichkeit durchausbeängstigend wirken. Das <strong>ist</strong> teilweise auch <strong>der</strong> Grund, warumForschung im Gesundheitswesen so starken Reglementierungenunterliegt.Unabhängige Gremien in <strong>der</strong> Forschung, die allgemein alsEthik-Kommissionen (engl. Research Ethics Committees, RECs, o<strong>der</strong>in den USA z. B. Institutional Review Boards, IRBs, in Deutschlanddie Ethik-Kommissionen an den medizinischen Fakultäten sowie injedem Bundesland) bezeichnet werden, tragen dazu bei, Menschenvor Missbrauch im Namen <strong>der</strong> Wissenschaft zu schützen. Sie prüfenjedes Forschungsvorhaben und nehmen dazu Stellung, ob ein Projektdurchgeführt werden kann o<strong>der</strong> nicht. Zudem spielen sie <strong>eine</strong>wichtige Rolle im Rahmen <strong>der</strong> Forschungsaufsicht und geben <strong>der</strong>Öffentlichkeit die Gewissheit, dass ihre Interessen bei <strong>der</strong> Planung<strong>der</strong> zugelassenen Studien Berücksichtigung finden.Ethik-Kommissionen bestehen häufig aus unbezahlten freiwilligenExperten, u. a. auch aus Laien. Sie prüfen verschiedenste Artenvon Studienprotokollen (was die Wissenschaftler in ihren Forschungsvorhabenzu tun beabsichtigen, s. Kap. 8) und darüber hinausauch alle Informationen, die den potenziellen Teilnehmern <strong>der</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? 157Studie ausgehändigt werden. Ethik-Kommissionen können von denWissenschaftlern Än<strong>der</strong>ungen an ihren Studienprotokollen o<strong>der</strong> anden Informationen <strong>für</strong> Studienteilnehmer verlangen. Eine Studiedarf ohne Zustimmung <strong>der</strong> Ethik-Kommission nicht durchgeführtwerden. Ethik-Kommissionen sorgen also da<strong>für</strong>, dass Studienteilnehmerk<strong>eine</strong>n unnötigen Risiken ausgesetzt werden. Zudem gebensie sowohl den Teilnehmern als auch <strong>der</strong> Öffentlichkeit die Gewissheit,dass die Wissenschaftler nicht einfach tun können, was siewollen.Darüber hinaus unterliegt die Forschung auch noch vielen an<strong>der</strong>enFormen <strong>der</strong> Reglementierung. Die me<strong>ist</strong>en Län<strong>der</strong> verfügenüber forschungsspezifische gesetzliche Regelungen. So müssen sichbeispielsweise alle Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Europäischen Union an die ClinicalTrials Directive (Richtlinie 2001/20/EC) halten, in denen die Anfor<strong>der</strong>ungenan die Durchführung sogenannter «klinischer Prüfungenvon <strong>Medizin</strong>produkten» nie<strong>der</strong>gelegt sind – im Wesentlichen gehtes hierbei um Medikamentenstudien. In mehreren Län<strong>der</strong>n sindzudem Gesetzes- und Regelwerke in Kraft, die auch auf alle o<strong>der</strong>wenigstens die me<strong>ist</strong>en Formen medizinischer Forschung Anwendungfinden. Potenziell können sich auch viele an<strong>der</strong>e Gesetze aufdie Forschung auswirken, selbst wenn sie vorrangig nicht im Zusammenhangmit <strong>der</strong> Forschung erlassen wurden. So haben z. B. invielen Län<strong>der</strong>n die Datenschutzgesetze, welche die Vertraulichkeitpersonenbezogener Daten schützen sollen, auch <strong>für</strong> die medizinischeForschung Gültigkeit. In den me<strong>ist</strong>en Län<strong>der</strong>n sind üblicherweiseauch verschiedene Behörden in die Forschungsreglementierungeingebunden.Zudem wird die Durchführung von Forschungsprojekten auchdurch das jeweilige Standes- o<strong>der</strong> Berufsrecht sowie durch internationaleVereinbarungen reguliert. Die Ärzteschaft und das Pflegepersonalsind beispielsweise an die Standes- o<strong>der</strong> Berufsordnungenihrer Berufsverbände gebunden: Wenn sie diese Ordnungen verletzen,können sie ihre Zulassung verlieren o<strong>der</strong> müssen mit an<strong>der</strong>enSanktionen rechnen. Bei <strong>der</strong> Festlegung von Standards sind oft auchinternationale Erklärungen wie die Deklaration des Weltärztebundes(engl. <strong>Wo</strong>rld Medical Association) von Helsinki maßgeblich,selbst wenn sie k<strong>eine</strong> Gesetzeskraft haben. In deutscher Übersetzung© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


158 Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?<strong>ist</strong> die Deklaration von Helsinki auf den Webseiten <strong>der</strong> Bundesärztekammerzu finden (www.bundesaerztekammer.de/downloads/deklHelsinki2008.pdf).Sind Reglementierungssysteme das Richtige<strong>für</strong> Therapiestudien?Ein solches Ausmaß an Reglementierung kann zwar beruhigendwirken, doch erwachsen aus den <strong>der</strong>zeitigen Reglementierungssystemenvor allem denjenigen erhebliche Belastungen, die <strong>eine</strong> unzulänglichbewertete Therapie testen wollen, anstatt sie ihren Patienteneinfach im normalen Praxisalltag anzubieten. In vielen Län<strong>der</strong>n<strong>ist</strong> allein die Komplexität dieses Systems – Gesetze, Behörden, Berufsordnungenusw. – erdrückend und zeitaufwändig. Wissenschaftlermüssen sich unter Umständen mehrere Genehmigungenvon unterschiedlichen Stellen beschaffen und sehen sich gelegentlichauch mit wi<strong>der</strong>sprüchlichen Anfor<strong>der</strong>ungen konfrontiert.Darüber hinaus kann das System in s<strong>eine</strong>r Gesamtheit auch dieErhebung <strong>der</strong> Informationen, welche die allgem<strong>eine</strong> Gesundheitsversorgungsicherer machen würden, ernsthaft beeinträchtigen undverlangsamen. Auch wenn sie in bester Absicht erlassen wurden,machen es beispielsweise die Datenschutzgesetze und Verfahrensregeln<strong>für</strong> den Umgang mit vertraulichen Daten den Forschern extremschwer, Routinedaten aus Krankenakten zu erheben, die zurpunktgenauen Bestimmung von Therapienebenwirkungen beitragenkönnten. Bei <strong>der</strong> Planung klinischer Studien kann es von <strong>der</strong>Forschungsidee bis zur Rekrutierung des ersten Patienten mehrereJahre dauern, und selbst dann kann die Rekrutierung von Studienteilnehmerndurch die Bedingungen <strong>der</strong> Zulassungsbehörden nochverzögert werden. Und während die Wissenschaftler versuchen, ihreStudien durch das System zu manövrieren, müssen Menschen unnötigleiden und sterben.In <strong>der</strong> Praxis bedeutet dies, dass Ärzte <strong>eine</strong>m Patienten, wenn ers<strong>eine</strong> Zustimmung dazu gibt, ungeprüfte Therapien verabreichenkönnen, solange diese Therapien im Rahmen des «routinemäßigen»ärztlichen Alltags erfolgen. Dagegen würde die Durchführung <strong>eine</strong>r© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? 159In <strong>eine</strong>r idealen Welt«In <strong>eine</strong>r idealen Welt, soweit <strong>eine</strong> solche möglich erscheint, könnten wir anonymisierteErgebnisdaten erheben und sie mit <strong>der</strong> Medikamentenanamnese vergleichen;Ausnahmen würden nur bei denjenigen gemacht, die ihre Bedenkenhinsichtlich des Persönlichkeitsschutzes über das Leben an<strong>der</strong>er Menschenstellen … In <strong>eine</strong>r idealen Welt würden Patienten, wenn sie sich in Behandlungbegeben und ernsthafte Unsicherheiten hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>für</strong> sie besten Therapiebestünden, einfach und effizient zu <strong>eine</strong>r Therapie randomisiert und <strong>der</strong> Verlaufbeobachtet werden. In <strong>eine</strong>r idealen Welt wären diese Vorgänge einfach Teilunseres Verständnisses von Gesundheitsversorgung, sodass kein Patient sichdarüber Gedanken machen müsste.»Goldacre B. Pharmaco-epidemiology would be fascinating enough even if societydidn’t manage it really really badly. The Guardian, 17. Juli 2010. Online zugänglichunter: www.badscience.net/2010/07/pharmaco-epidemiology-would-befascinating-enough-even-if-society-didnt-manage-it-really-really-badlyStudie, in <strong>der</strong> dieselben Therapien sachgemäß beurteilt würden,bedeuten, dass man den langwierigen Reglementierungsprozessdurchlaufen müsste. Deshalb schrecken Ärzte vor <strong>eine</strong>r fairen Bewertungmedizinischer Behandlungen zurück. Stattdessen verordnensie weiterhin Therapien und sind nicht verpflichtet, sich mitetwaigen Unsicherheiten über diese Therapien auseinan<strong>der</strong>zusetzen(s. Kap. 5).Aus Sorge um die Gefährdung potenzieller Studienteilnehmerund <strong>der</strong>en Schutz sind die Systeme zur Reglementierung <strong>der</strong> Forschungüberprotektiv geworden und übersehen dabei die Tatsache,dass Patienten und Öffentlichkeit zunehmend als Partner am Forschungsprozessmitwirken (s. Kap. 11). Es <strong>ist</strong> allerdings ermutigend,dass die Reglementierungsbehörden langsam erkennen, dass ein«Einheitskonzept» <strong>für</strong> die Prüfung <strong>der</strong> ethischen Aspekte von Forschungsvorhabenunnötig hin<strong>der</strong>lich <strong>ist</strong>. 1 In Großbritannienbei spielsweise werden inzwischen Verfahrensweisen <strong>für</strong> <strong>eine</strong> «angemessenePrüfung» evaluiert, um herauszufinden, ob ein vereinfachterund schnellerer Prüfvorgang sich bei wissenschaftlichen Studien,die k<strong>eine</strong> grundlegenden ethischen Probleme aufwerfen, unbedenklichanwenden lässt.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


160 Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?Die Voreingenommenheit <strong>der</strong> Ethik«Wenn ein Arzt <strong>eine</strong> neue Therapie ausprobiert, mit <strong>der</strong> Absicht, sie sorgfältig zubeobachten, ihre Auswirkungen zu bewerten und die Ergebnisse zu veröffentlichen,dann betreibt er Forschung. Die Objekte dieser Forschung (d. h. die Versuchspersonen/Probanden),so die Idee, bedürfen <strong>eine</strong>s beson<strong>der</strong>en Schutzes. SeinStudienprotokoll muss von <strong>eine</strong>r Ethik-Kommission geprüft werden. Auch dieEinwilligungserklärung <strong>der</strong> Teilnehmer nach erfolgter Aufklärung (engl. informedconsent) wird sorgfältig geprüft, und unter Umständen wird das Forschungsvorhabenuntersagt. An<strong>der</strong>erseits kann ein Arzt diese neue Therapie [in s<strong>eine</strong>r Praxis]ausprobieren, ohne sie genauer untersuchen zu wollen, bloß weil er davon überzeugt<strong>ist</strong>, dass s<strong>eine</strong> Patienten davon profitieren. In diesem Fall stellt sein Ausprobieren<strong>der</strong> neuen Therapie k<strong>eine</strong> Forschung dar: Für den ‹Therapieversuch› benötigter k<strong>eine</strong> Genehmigung seitens <strong>der</strong> Ethik-Kommission, und das Einholen <strong>der</strong>Zustimmung s<strong>eine</strong>r Patienten wird lediglich vom Risiko <strong>eine</strong>r Arzthaftungsklagekontrolliert.Es scheint, dass die Patienten im zweiten Szenario (ohne Forschung) ein deutlichhöheres Risiko tragen als die Patienten im ersten Szenario (als Teilnehmer an <strong>eine</strong>roffiziellen klinischen Studie). Zudem scheint <strong>der</strong> Arzt im ersten Szenario vomethischen Standpunkt her mehr Anerkennung zu verdienen. Er führt <strong>eine</strong> Bewertung<strong>der</strong> Therapie durch, wohingegen <strong>der</strong> Arzt im zweiten Szenario die Therapieauf <strong>der</strong> Grundlage s<strong>eine</strong>r unvollkommenen Intuition anwendet. Da im Mittelpunktethischer Verhaltensrichtlinien, die den Schutz des Patienten im Sinn haben,aber das Ziel <strong>der</strong> Schaffung verallgem<strong>eine</strong>rbarer Erkenntnisse steht, reglementierensie den verantwortlichen Studienarzt, nicht aber denverantwortungslosen Abenteurer.»Lantos J. Ethical issues – how can we d<strong>ist</strong>inguish clinical research from innovativetherapy? American Journal of Pediatric Hematology/Oncology 1994; 16: 72–75.Information und EinverständnisAuch die Anfor<strong>der</strong>ungen seitens <strong>der</strong> Reglementierungssysteme andie Bereitstellung von Patienteninformationen und die Zustimmungzur Studienteilnahme dienen eher <strong>der</strong> Abschreckung als demAnreiz, sich mit Unsicherheiten bezüglich medizinischer Therapienauseinan<strong>der</strong>zusetzen. Es <strong>ist</strong> wichtig – und ethisch unabdingbar – dieInteressen all <strong>der</strong>jenigen zu berücksichtigen, die sich <strong>der</strong>zeit in Behandlungbefinden, und nicht nur <strong>der</strong> wenigen Personen, die ankontrollierten Studien teilnehmen. 2 Deshalb sollte <strong>der</strong> Standard <strong>für</strong>die Einwilligung in <strong>eine</strong> Therapie nach erfolgter Aufklärung («informierteEinwilligung») <strong>für</strong> alle Personen gleich sein, egal, ob sie dieTherapie innerhalb o<strong>der</strong> außerhalb offizieller Therapiestudien erhalten.Um <strong>eine</strong> Entscheidung treffen zu können, die mit ihren© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? 161Wertvorstellungen und Präferenzen in Einklang steht, sollten denPatienten die nötigen Informationen in dem von ihnen gewünschtenUmfang und zu dem von ihnen gewünschten Zeitpunkt zugänglichgemacht werden.Wenn im Praxisalltag <strong>eine</strong> Behandlung angeboten o<strong>der</strong> verordnetwird, wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Patienten jeweilsunterschiedliche Vorlieben und Bedürfnisse haben, die sich imLaufe <strong>der</strong> Zeit zudem auch än<strong>der</strong>n können. Ferner gilt als anerkannt,dass die Menschen nicht nur unterschiedliche Ansprüche andie Menge o<strong>der</strong> die Art <strong>der</strong> gewünschten Informationen haben,son<strong>der</strong>n dass sie auch unterschiedlich befähigt sind, all diese Informationenin <strong>der</strong> verfügbaren Zeit zu verarbeiten, und sich auch in<strong>der</strong> Ausprägung ihrer Sorgen und Ängste unterscheiden. Ärzte sindaufgefor<strong>der</strong>t, ihre Patienten bei Behandlungsentscheidungen einfühlsamzu unterstützen und je<strong>der</strong>zeit auf die jeweiligen Bedürfnissedes Einzelnen einzugehen.Die Einwilligungserklärung noch einmal überdenken«[Manche] sind zu <strong>der</strong> Auffassung gelangt, dass die ‹informierte Zustimmung›[Einwilligungserklärung] <strong>für</strong> <strong>eine</strong> gute biomedizinische Praxis gar nicht wesentlich<strong>ist</strong>, und … alle Versuche, sie dazu zu machen, we<strong>der</strong> notwendig noch durchführbarsind. Wir hoffen, dass <strong>der</strong> im Laufe <strong>der</strong> letzten 50 Jahre geschaffene Molochaus Einwilligungserfor<strong>der</strong>nissen nun in <strong>eine</strong>m deutlich kürzeren Zeitraum reformiertund verkl<strong>eine</strong>rt werden wird.»Manson NC, O’Neill O. Rethinking informed consent in bioethics. Cambridge:Cambridge University Press, 2007, S. 200.In <strong>der</strong> Forschung wird die Aufklärung potenzieller Studienteilnehmervon den Reglementierungsbehörden beaufsichtigt, die oftmalsdarauf bestehen, dass schon zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Einladung zur Studienteilnahme<strong>eine</strong> möglichst umfassende Weitergabe aller potenziellrelevanten Informationen erfolgt. Bei Patienten, die es vorziehen,die Entscheidung ihrem Arzt zu überlassen, könnte diesunnötigerweise zu Aufregung, Frustration o<strong>der</strong> Angst führen bzw.unnötige Bedenken wecken. 3Die klinische Studie zur Verabreichung von Koffein an Frühgeborenen,die wir in Kapitel 5 (S. 98) erwähnt haben, <strong>ist</strong> ein anschaulichesBeispiel da<strong>für</strong>, welcher Schaden angerichtet werden kann,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


162 Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?wenn man auf <strong>eine</strong>r möglichst umfassenden Aufklärung <strong>der</strong> Kandidaten<strong>für</strong> wissenschaftliche Studien beharrt. Für die Koffeinstudiewurden weltweit mehr als 2 000 Frühgeborene rekrutiert, aber dieserVorgang dauerte ein Jahr länger als erwartet, weil die Rekrutierung<strong>für</strong> die Studie nur schleppend verlief. Beson<strong>der</strong>s langsam erfolgtesie in Großbritannien, wo mehrere Studienzentren sich wegenregulatorischer Verzögerungen im Genehmigungsprozess aus <strong>der</strong>Studie zurückzogen. Zu allem Überfluss bestand die Ethik-Kommissionauch noch darauf, die Eltern darüber aufzuklären, dassKoffein bei den Säuglingen Krampfanfälle auslösen könne – obwohldiese Komplikation erst nach <strong>eine</strong>r zehnfachen Überdosierung auftrat.Also wurden die Eltern mit offensichtlich beängstigenden Informationenkonfrontiert, die sie wahrscheinlich gar nicht gebrauchtund vermutlich auch nicht erhalten hätten, wenn dasKoffein im Rahmen <strong>eine</strong>r Routinebehandlung verabreicht wordenwäre.Eine vernünftige Einstellung zur Patienteneinwilligung im Rahmenguter medizinischer Praxis«Was in <strong>der</strong> Debatte um die Patienteneinwilligung fehlt, <strong>ist</strong> die Frage, was Patientenbereits wissen, welche Informationen sie haben möchten und wie man mitPatienten umgehen soll, die nur das Nötigste wissen wollen. Es gibt nur wenigeArbeiten, in denen untersucht wird, wie Patienten die Informationen, die sieerhalten, verstehen. Ärzten fällt es oftmals schwer zu beurteilen, in welchemUmfang ihre Patienten o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Angehörige die Informationen richtig verstehen.Wie viel verstanden wird, richtet sich nach dem Informationsgeber, nachs<strong>eine</strong>n Erläuterungen und nach <strong>der</strong> Zeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Umgebung, die <strong>für</strong> die Informationsaufnahmeerfor<strong>der</strong>lich <strong>ist</strong>. Ein paternal<strong>ist</strong>isches Vorgehen <strong>ist</strong> in <strong>der</strong> medizinischenPraxis nicht mehr akzeptabel; gute medizinische Praxis setzt <strong>eine</strong> vernunftorientierteVorgehensweise voraus, bei welcher <strong>der</strong> Sachverhalt verständlicherklärt wird, das Gesagte sich daran orientiert, was <strong>der</strong> Patient ansch<strong>eine</strong>ndmöchte, und überprüft wird, ob er es verstanden hat.»Gill R. How to seek consent and gain un<strong>der</strong>standing. BMJ 2010; 341: c4000.Es gibt kaum Belege da<strong>für</strong>, dass die gemeinhin propagierten Formen<strong>der</strong> Forschungsreglementierung mehr nutzen als schaden. 4 Das Wenige,was uns an Evidenz vorliegt, <strong>ist</strong> freilich verstörend. So kannbeispielsweise in Studien, in denen die Wirkungen von Therapienuntersucht werden, die akut verabreicht werden müssen (z. B. inNotfallsituationen), das «Ritual» <strong>der</strong> obligatorischen Einholung <strong>der</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? 163schriftlichen Patienteneinwilligung nicht nur zu Todesfällen führen,die vermeidbar wären, son<strong>der</strong>n auch zu <strong>eine</strong>r Unterschätzung <strong>der</strong>Therapieeffekte. 5Das Einholen <strong>der</strong> Patienteneinwilligung stellt <strong>eine</strong> Public- Health-Intervention dar, die mitunter mehr Schaden anrichtet als Nutzenbringt. Wie bei an<strong>der</strong>en gut gemeinten Interventionen sollten ihreWirkungen <strong>eine</strong>r strengen Bewertung unterzogen werden. Die tödlichenFolgen, die wir an an<strong>der</strong>er Stelle beschrieben haben, hättenvielleicht schon vor Jahrzehnten erkannt werden können, wenn auchdie Ethik-Kommissionen verpflichtet wären, solide Belege da<strong>für</strong> zuerbringen, dass ihre «Verordnungen» mehr nützen als schaden.Flexibilität bei <strong>der</strong> Aufklärung potenzieller Studienteilnehmer,die anerkennt, dass das Vertrauen zwischen Arzt und Patient dieGrundlage <strong>für</strong> <strong>eine</strong> zufriedenstellende Konsultation darstellt, <strong>ist</strong>besser als ein starres, standardisiertes Vorgehen. Aber aufgrund <strong>der</strong>Art und Weise, wie die Reglementierungssysteme in die Forschungeingreifen, können Ärzte <strong>der</strong>zeit nicht frei entscheiden, wie sie ihrePatienten über <strong>eine</strong> wissenschaftliche Studie aufklären. Zudem fälltes ihnen oft schwer, über die <strong>der</strong> Forschung innewohnenden Unsicherheitenzu sprechen. Wie wir in Kapitel 5 erwähnt haben, fühlensich Ärzte bei <strong>der</strong> Rekrutierung von Patienten <strong>für</strong> klinische StudienAkademischer Schnickschnack o<strong>der</strong> sinnvolle Entscheidung?«Vor zwölf Jahren überschritt ich die Arzt-Patient-Grenze, als bei mir im Alter von33 Jahren Brustkrebs festgestellt wurde. Damals saß ich gerade an m<strong>eine</strong>r Doktorarbeit,in <strong>der</strong> es um die Schwierigkeiten <strong>der</strong> Anwendung von randomisiertenkontrollierten Studien (RCTs) bei <strong>der</strong> Bewertung <strong>der</strong> Wirksamkeit von Therapienin m<strong>eine</strong>m eigenen Fach, <strong>der</strong> Kieferorthopädie, ging. Im Rahmen m<strong>eine</strong>r Forschungsarbeitenhatte ich erkannt, welche Vorteile die Teilnahme an klinischenStudien hatte, und wusste ironischerweise auch um die Unsicherheiten hinsichtlich<strong>der</strong> Behandlung von jüngeren Frauen mit Brustkrebs im Frühstadium. ZumZeitpunkt <strong>der</strong> Diagnosestellung fragte ich deshalb m<strong>eine</strong>n Arzt, ob es irgendwelcheRCTs gäbe, an denen ich teilnehmen könnte. S<strong>eine</strong> Antwort schockierte mich.Er meinte, ich dürfe nicht zulassen, dass die <strong>für</strong> mich am besten geeignete Therapiedurch wissenschaftliche Spitzfindigkeiten torpediert würde. Doch was wardie beste Therapie? Ich jedenfalls wusste es nicht und musste zudem feststellen,dass auch in <strong>der</strong> Ärzteschaft Zweifel an <strong>der</strong> optimalen Therapie <strong>für</strong> Frauen unter50 Jahren mit Brustkrebs im Frühstadium herrschten. Was sollte ich nur tun?»Harrison J. Testing times for clinical research. Lancet 2006; 368: 909–910.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


164 Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich?oftmals unbehaglich, wenn sie sagen müssen: «Ich weiß nicht, welcheBehandlung die beste <strong>ist</strong>», und die Patienten wollen das oft auchgar nicht hören. Sowohl Ärzte als auch Patienten müssen Unsicherheitenbesser einschätzen und verstehen können, warum Forschungwichtig <strong>ist</strong> (s. Kap. 11).Was Reglementierungssysteme nicht tunDie Reglementierungssysteme <strong>für</strong> die Forschung verlangen vonWissenschaftlern, dass sie vor Beginn <strong>eine</strong>r Studie hohe Auflagenerfüllen müssen, und doch gibt es auffallend viele Dinge, die sienicht o<strong>der</strong> nicht zufriedenstellend regeln. Zahlreiche Systeme stellennicht ausreichend sicher, dass die geplanten Studien auch tatsächlichbenötigt werden – beispielsweise verlangen sie von den Wissenschaftlernk<strong>eine</strong>n Nachweis darüber, dass sie die bereits vorhandenenErkenntnisse gründlich ausgewertet haben, bevor sie <strong>eine</strong> neueStudie in Angriff nehmen (zur Frage, warum systematische Reviewsso wichtig sind, s. Kap. 8).Zudem befinden sich die me<strong>ist</strong>en Maßnahmen zur Reglementierung<strong>der</strong> Forschung noch im Anfangsstadium, wobei das Hauptaugenmerkauf <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> Aufnahme von Teilnehmern in dieStudien liegt. Erstaunlich wenige Anstrengungen gelten <strong>der</strong> Überwachunglaufen<strong>der</strong> Studien und <strong>der</strong> Gewährle<strong>ist</strong>ung, dass die Forscherihre Studienberichte am Ende ihrer Forschungsarbeiten umgehend(bzw. überhaupt) veröffentlichen und angeben, inwieweitihre Ergebnisse zur Verringerung von Unsicherheiten beitragen.Was Forschungsreglementierung le<strong>ist</strong>en sollte«Wenn Ethiker und an<strong>der</strong>e Kritik an klinischen Studien üben wollen, dann solltensie ihr Augenmerk auf wissenschaftlich unzulängliche Arbeiten, auf die Neuerfindungdes Rades und vor allem auf grundlose Ausschlüsse sowie die ungerechtfertigteund unsinnige Inanspruchnahme von Ressourcen richten. Ein Schwachpunkt<strong>der</strong> aktuellen Debatte <strong>ist</strong>, dass sie dem Zweck von Studien k<strong>eine</strong> Beachtungschenkt – nämlich zu gewährle<strong>ist</strong>en, dass die in Gebrauch befindlichen Therapiensicher sind und auch wirklich das le<strong>ist</strong>en, was sie besser können als ihre Alternativen.In <strong>der</strong> Ethik gibt es k<strong>eine</strong>n Königsweg – ebenso wenig wie in Studien.»Ashcroft R. Giving medicine a fair trial. BMJ 2000; 320: 1686.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Reglementierung von Therapietests: hilfreich o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>lich? 165Menschen, die zur Teilnahme an <strong>eine</strong>r Studie über Therapieeffekteeingeladen werden, brauchen Gewissheit, dass die Studien dieseMühe wert sind und dass ihr persönlicher Beitrag an<strong>der</strong>en nutzt.Reglementierungssysteme müssen noch mehr tun, um ihnen in bei<strong>der</strong>leiHinsicht Gewissheit zu geben. Darüber hinaus müssen sieunnötige Hin<strong>der</strong>nisse <strong>für</strong> solide Forschung abbauen, <strong>der</strong>en Ziel dieBeantwortung patientenrelevanter Forschungsfragen <strong>ist</strong>. Zunehmendwächst die Einsicht, dass die Überprüfung <strong>der</strong> Wirksamkeitvon Therapien uns alle angeht. Da Patienten und Öffentlichkeit diesich nun bietenden Gelegenheiten zur Mitwirkung an <strong>der</strong> Planungund Durchführung von Forschungsvorhaben aufgreifen (s. Kap.11), werden sie wahrscheinlich auch ein zunehmendes Mitspracherechthaben, wenn es um die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit regulatorischenHin<strong>der</strong>nissen geht.• Die Forschungsreglementierung <strong>ist</strong> unnötig kompliziert.• Die <strong>der</strong>zeitigen Forschungsreglementierungssysteme behin<strong>der</strong>ndie Durchführung von fairen Therapietests, die <strong>eine</strong> bessere Gesundheitsversorgunggewährle<strong>ist</strong>en würden.• Trotz <strong>der</strong> lästigen Reglementierungsanfor<strong>der</strong>ungen, denen Wissenschaftlerunterliegen, geben die Reglementierungssysteme aberkaum <strong>eine</strong> Gewähr, dass die vorgeschlagenen Studien auch wirklichgebraucht werden.• Die Forschungsreglementierung trägt nur wenig zur Überwachungund Nachbeobachtung genehmigter Forschungsvorhaben bei.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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10 Gute, schlechteund überflüssigeklinische ForschungIn den vorangegangenen Kapiteln haben wir Fragen angesprochen,die <strong>für</strong> Patienten und Öffentlichkeit <strong>eine</strong> wichtige Rolle spielen, undwir haben dargelegt, warum Therapietests richtig geplant werdenmüssen. Wenn dies gelingt, dann können wir alle mit uns und denErgebnissen zufrieden sein, selbst wenn sich die erhofften Vorteilenicht bestätigen, weil auf diese Weise wichtige Einsichten gewonnenund Unsicherheiten abgebaut werden konnten.Obschon ein Großteil <strong>der</strong> Gesundheitsforschung von hoherQualität <strong>ist</strong> und sich zudem ständig verbessert, solange PlanungsundBerichtsstandards 1 erfüllt werden –, so wird aus verschiedenenGründen aber auch weiterhin schlechte und überflüssige Forschungdurchgeführt und veröffentlicht. Und was die gebetsmühlenartigvorgetragene For<strong>der</strong>ung «es bedarf weiterer Forschungsarbeiten»angeht, so wäre man manchmal besser beraten, weniger zu tun, dabeiaber den Schwerpunkt <strong>der</strong> Forschung auf die Patientenbedürfnissezu legen, damit sichergestellt wird, dass aus den richtigenGründen geforscht wird. Mit diesen Aspekten wollen wir uns imvorliegenden Kapitel beschäftigen.Gute ForschungSchlaganfallSchlaganfälle gehören zu den führenden Ursachen <strong>für</strong> Tod undLangzeitbehin<strong>der</strong>ung. Die Sterblichkeit liegt zwischen 1 : 6 und 2 : 6© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


168 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungbeim ersten Schlaganfall und steigt auf 4 : 6 bei weiteren Schlaganfällenan. Eine Ursache, die dem Schlaganfall zugrunde liegt, <strong>ist</strong> <strong>eine</strong>Verengung (Stenose) <strong>der</strong> Halsschlaga<strong>der</strong> (Arteria carotis), die dasGehirn mit Blut versorgt. Zuweilen löst sich das Fettgewebe, das dieInnenseiten <strong>der</strong> Halsschlaga<strong>der</strong> auskleidet, verstopft kl<strong>eine</strong>re arterielleZuflüsse und verursacht dadurch <strong>eine</strong>n Schlaganfall. Um dieseFettablagerungen zu entfernen, führten Gefäßchirurgen in den1950er-Jahren erstmals <strong>eine</strong> Operation, die sogenannte Endarteriektomie,durch. Man hoffte, das Schlaganfallrisiko durch diesenEingriff zu verringern. Wie bei je<strong>der</strong> Operation besteht aber auchhier ein durch den Eingriff selbst bedingtes Komplikationsrisiko.Trotz zunehmen<strong>der</strong> Popularität <strong>der</strong> Karotis-Endarteriektomiewurden erst in den 1980er-Jahren randomisierte Studien begonnen,um Vorteile und Risiken <strong>der</strong> Operation zu bewerten. Man nahm an,dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse sowohl <strong>für</strong> die Patientenals auch ihre Ärzte von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung sein würden. Umden chirurgischen Eingriff mit <strong>der</strong> besten verfügbaren nichtchirurgischenTherapie zu vergleichen, wurden mit Patienten, die bereitsSymptome <strong>eine</strong>r Karotisstenose aufwiesen (leichter Schlaganfallo<strong>der</strong> flüchtige schlaganfallähnliche Symptome), zwei gut geplanteStudien durchgeführt – <strong>eine</strong> in Europa, die an<strong>der</strong>e in Nordamerika.An diesen Langzeitstudien nahmen mehrere tausend Patienten teil.Die Ergebnisse, die in den 1990er-Jahren veröffentlicht wurden,zeigten, dass die Operation das Schlaganfall- bzw. das Mortalitätsrisikosenken kann, dass dieser Vorteil aber vom Grad <strong>der</strong> Stenose in<strong>der</strong> Halsschlaga<strong>der</strong> abhängig <strong>ist</strong>. Für Patienten mit <strong>eine</strong>r vergleichsweisegeringfügigen Verengung war die Operation, die selbst <strong>eine</strong>nSchlaganfall auslösen kann, alles in allem eher von Nachteil. Diesewichtigen Erkenntnisse hatten unmittelbare Auswirkungen auf dieklinische Praxis. 2, 3Präeklampsie in <strong>der</strong> SchwangerschaftEin weiteres hervorragendes Beispiel <strong>für</strong> gute Forschung betrifftschwangere Frauen. Weltweit versterben jährlich ca. 600 000 Frauenan schwangerschaftsbedingten Komplikationen. Die me<strong>ist</strong>en dieserTodesfälle ereignen sich in Entwicklungslän<strong>der</strong>n, und viele davon© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 169stehen mit schwangerschaftsbezogenen Krampfanfällen in Zusammenhang,<strong>eine</strong>r Erkrankung, die man als Eklampsie bezeichnet. DieEklampsie <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> verheerende Krankheit, an <strong>der</strong> sowohl Mutter alsauch Kind versterben können. Frauen mit <strong>der</strong> da<strong>für</strong> prädisponierendenErkrankung, <strong>der</strong> sogenannten Prä-Eklampsie (auch alsschwangerschaftsbedingte Toxämie bezeichnet), weisen Bluthochdruckund Eiweiß im Urin (Proteinurie) auf.1995 zeigten Forschungsergebnisse, dass sich das Wie<strong>der</strong>auftreten(Rezidive) von Krampfanfällen bei Frauen mit Eklampsie durch dieInjektion von Magnesiumsulfat, <strong>eine</strong>m einfachen und preiswertenMedikament, verhin<strong>der</strong>n ließ. Dieselbe Studie ergab zudem, dassMagnesiumsulfat zur Beendigung von Krampfanfällen besser warals an<strong>der</strong>e krampflösende Medikamente (Antikonvulsiva), zu denenauch ein deutlich teureres Medikament gehörte. Deshalb war denWissenschaftlern klar, wie wichtig es war herauszufinden, ob Magnesiumsulfatauch das Auftreten von Krampfanfällen bei Frauen mitPrä-Eklampsie verhin<strong>der</strong>n konnte.Die Magpie-Studie, mit <strong>der</strong> diese Frage beantwortet werden sollte,war ein größeres Unterfangen, an dem in 33 Län<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong>ganzen Welt mehr als 10 000 Schwangere mit Prä-Eklampsie teilnahmen.Zusätzlich zur normalen medizinischen Versorgung erhielt<strong>eine</strong> Hälfte <strong>der</strong> Frauen <strong>eine</strong> Injektion mit Magnesiumsulfatund die an<strong>der</strong>e Hälfte <strong>eine</strong> Injektion mit <strong>eine</strong>m Placebo (<strong>eine</strong>mScheinmedikament). Die Magpie-Studie lieferte eindeutige undüberzeugende Ergebnisse. Sie zeigte, dass Magnesiumsulfat dasM<strong>eine</strong> Erfahrungen mit <strong>der</strong> Magpie-Studie«Ich war wirklich froh, an <strong>eine</strong>r so wichtigen Studie teilnehmen zu können. In <strong>der</strong>32. Schwangerschaftswoche begannen bei mir Schwellungen durch Wassereinlagerungenaufzutreten, die immer schlimmer wurden, bis bei mir schließlich <strong>eine</strong>Prä-Eklampsie diagnostiziert und ich in <strong>der</strong> 38. <strong>Wo</strong>che ins Krankenhaus eingeliefertwurde. Mein Baby wurde durch Kaiserschnitt geboren, und glücklicherweisehaben wir uns beide vollständig erholt. Die Prä-Eklampsie <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> beängstigendeKrankheit, und ich hoffe von ganzem Herzen, dass Frauen wie ich von den Ergebnissen<strong>der</strong> Studie profitieren werden.»Clair Giles, Teilnehmerin <strong>der</strong> Magpie-StudieMRC News Release. Magnesium sulphate halves risk of eclampsia andcan save lives of pregnant women. London: MRC, 31. Mai 2002© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


170 Gute, schlechte und überflüssige klinische ForschungRisiko <strong>für</strong> das Auftreten von Krampfanfällen um mehr als die Hälfteverringerte. Darüber hinaus gab es Anhaltspunkte da<strong>für</strong>, dass dieseTherapie zwar nicht das Sterberisiko des Kindes, wohl aber das <strong>der</strong>Mutter senken kann. Und abgesehen von geringfügigen Nebenwirkungenschien Magnesiumsulfat we<strong>der</strong> Mutter noch Baby zuschädigen. 4, 5HIV-Infektion bei Kin<strong>der</strong>nDie Ergebnisse guter Forschung haben auch das Leben von Kin<strong>der</strong>ndie mit HIV (dem <strong>für</strong> die Immunschwächekrankheit AIDS verantwortlichenhumanen Immundefizienz-Virus) infiziert sind, entscheidendverbessert. Ende 2009 zeigten die im Rahmen vonUNAIDS (dem gemeinsamen HIV/AIDS-Programm <strong>der</strong> VereintenNationen) erhobenen Zahlen, dass weltweit schätzungsweise 2,5Millionen Kin<strong>der</strong> mit HIV leben, 2,3 Millionen davon in den südlich<strong>der</strong> Sahara liegenden afrikanischen Län<strong>der</strong>n. Damals starbenstündlich ca. 30 Kin<strong>der</strong> an den Folgen von AIDS. 6 Eine häufige Todesursachesind bakterielle Infektionen wie Lungenentzündungen(Pneumonien), die mit dem geschwächten Immunsystem <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>in Zusammenhang stehen. Zur Behandlung von Kin<strong>der</strong>n undErwachsenen mit nicht durch AIDS bedingten Atemwegsinfektionenwird seit vielen Jahren Co-trimoxazol eingesetzt, ein überall erhältlichespreiswertes Antibiotikum. Studien mit HIV-infiziertenErwachsenen hatten zudem ergeben, dass das Medikament auchan<strong>der</strong>e durch bakterielle Infektionen bedingte Komplikationen lin<strong>der</strong>nkann. 7Als vorläufige Ergebnisse darauf hindeuteten, dass das Medikamentauch die Infektionsrate bei HIV-infizierten Kin<strong>der</strong>n senkte,arbeitete <strong>eine</strong> Gruppe britischer Wissenschaftler mit Kollegen inSambia zusammen, um die Wirkungen von Co-trimoxazol als möglichesProphylaxemedikament in <strong>eine</strong>r großangelegten Untersuchungzu bewerten. In dieser Studie, die 2001 begonnen wurde undca. zwei Jahre lief, wurde das Antibiotikum bei mehr als 500 Kin<strong>der</strong>nmit Placebo verglichen. Die Ergebnisse zeichneten sich früher als erwartetab: Es konnte nachgewiesen werden, dass das Medikamentsowohl die AIDS-bedingten Todesfälle um 43 % senkte (74 Todes-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 171fälle in <strong>der</strong> Co-trimoxazol-Gruppe im Vergleich zu 112 Todesfällenin <strong>der</strong> Placebo-Gruppe) als auch die Anzahl <strong>der</strong> Krankenhauseinweisungenreduzierte. Zu diesem Zeitpunkt empfahl das unabhängigeGremium, das die Ergebnisse prüfte, die vorzeitige Beendigung<strong>der</strong> Studie (weil die Ergebnisse so eindeutig waren und es aus ethischenGründen nicht vertretbar gewesen wäre, den Kin<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Placebo-Gruppedas Medikament weiter vorzuenthalten).Die Studie hatte unmittelbar zur Folge, dass alle Kin<strong>der</strong>, die an<strong>der</strong> Studie teilgenommen hatten, im Rahmen <strong>eine</strong>r Initiative <strong>der</strong>sambischen Regierung Co-trimoxazol erhielten. Eine noch weitreichen<strong>der</strong>eFolge war, dass die Weltgesundheitsorganisation undUNICEF ihre Arzneimittelempfehlungen <strong>für</strong> HIV-infizierte Kin<strong>der</strong>unverzüglich abän<strong>der</strong>ten. 8, 9Von beiden Organisationen wird Co-trimoxazol auch weiterhinals kostengünstige, lebensrettende und sichere Behandlung <strong>für</strong>HIV-infizierte Kin<strong>der</strong> empfohlen. 10Schlechte ForschungPsychiatrische StörungenBedauerlicherweise <strong>ist</strong> die Durchführung von Forschungsprojektennicht immer zufriedenstellend bzw. <strong>ist</strong> die Forschung nicht immerrelevant. Sehen wir uns dazu als Beispiel die sogenannte tardive o<strong>der</strong>Spätdyskinesie an, ein sehr belastendes Beschwerdebild. Dabei handeltes sich um <strong>eine</strong> schwerwiegende Nebenwirkung, die mit <strong>der</strong>Langzeitanwendung von Neuroleptika (Antipsychotika) einhergeht.Diese Medikamente werden bei psychiatrischen Erkrankungen, insbeson<strong>der</strong>ebei Schizophrenie, verordnet. Das auffälligste Merkmalvon Spätdyskinesien sind ständig wie<strong>der</strong>holte, unwillkürliche Bewegungenim Mund- und Gesichtsbereich wie Grimassieren, Schmatzen,häufiges Vorstrecken <strong>der</strong> Zunge und Einziehen o<strong>der</strong> Aufblasen<strong>der</strong> Wangen. Gelegentlich sind sie von Zuckungen im Bereich <strong>der</strong>Hände und Füße begleitet. Diese Nebenwirkungen treten bei <strong>eine</strong>mvon fünf Patienten auf, die ein Antipsychotikum länger als drei Monateeinnehmen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


172 Gute, schlechte und überflüssige klinische ForschungIn den 1990er-Jahren begann <strong>eine</strong> Gruppe von Wissenschaftlernsystematisch zu erforschen, wie Spätdyskinesien im Laufe <strong>der</strong> letzten30 Jahre behandelt worden waren. Verwun<strong>der</strong>t stellten sie 1996 zeigtenin <strong>eine</strong>m Artikel fest, dass sie ungefähr 500 randomisierte Studienidentifiziert hatten, in denen 90 verschiedene medikamentöseTherapien untersucht wurden. Doch hatte k<strong>eine</strong> dieser Studien irgendwelchebrauchbaren Daten ergeben. In manchen Studien wardie Anzahl <strong>der</strong> eingeschlossenen Patienten zu gering, um verlässlicheErgebnisse liefern zu können; in an<strong>der</strong>en waren die Medikamente sokurz verabreicht worden, dass die Studie k<strong>eine</strong> Aussagekraft hatte. 11Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong>selben Forschergruppe veröffentlichten außerdem<strong>eine</strong> umfassende Übersicht über Inhalt und Qualität von randomisiertenStudien, die ganz allgemein <strong>für</strong> die Behandlung von Schizophrenienrelevant waren. Sie sichteten 2 000 Studien: Die Ergebnissewaren enttäuschend. Sicherlich haben die Medikamente die Prognosevon Schizophrenie-Patienten im Laufe <strong>der</strong> Jahre in mancherlei Hinsichtverbessert. So können beispielsweise die Patienten mittlerweileme<strong>ist</strong>ens zu Hause o<strong>der</strong> in <strong>eine</strong>r Gemeinschaft leben. Doch selbst inden 1990er-Jahren (und auch heute noch) wurden (bzw. werden) dieme<strong>ist</strong>en Medikamente an stationär behandelten Patienten getestet,sodass bezüglich ihrer Relevanz <strong>für</strong> die ambulante Therapie Unsicherheitherrscht. Überraschend war darüber hinaus auch die uneinheitlicheBewertung <strong>der</strong> Behandlungsergebnisse. Die Wissenschaftlerstellten fest, dass in den Studien mehr als 600 Therapien – hauptsächlichMedikamente, z. B. aber auch Psychotherapie – untersucht, zurBewertung <strong>der</strong> Ergebnisse aber 640 verschiedene Bewertungsskalenangewendet worden waren; davon waren 369 lediglich ein einzigesMal benutzt worden. Es war daher kaum möglich, die Ergebnisse <strong>der</strong>verschiedenen Studien zu vergleichen; zudem waren die Ergebnisse<strong>für</strong> Ärzte bzw. Patienten kaum interpretierbar. Neben vielen an<strong>der</strong>enProblemen stießen die Wissenschaftler auf zahlreiche Studien, die zuklein o<strong>der</strong> zu kurz angelegt waren, um brauchbare Ergebnisse liefernzu können. Zudem wurden neue medikamentöse Therapien häufigmit unangemessen hohen Dosierungen <strong>eine</strong>s <strong>für</strong> s<strong>eine</strong> Nebenwirkungenbekannten Medikaments verglichen, obwohl besser verträglicheTherapien verfügbar waren – ein ganz offensichtlich unfairer Test.Die Autoren dieser Übersichtsarbeit kamen zu dem Schluss, dass© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 173nach <strong>eine</strong>m halben Jahrhun<strong>der</strong>t von Studien unzureichen<strong>der</strong> Qualitätund Dauer sowie eingeschränktem klinischem Nutzen noch immergenügend Spielraum <strong>für</strong> gut geplante, korrekt durchgeführteund kompetent publizierte Studien blieb. 12Epiduralanalgesie bei WehenschmerzenWie wichtig die Bewertung von Behandlungsergebnissen <strong>ist</strong>, die <strong>für</strong>Patienten wichtig sind, zeigt sich anschaulich – auf <strong>eine</strong> sehr negativeWeise – an den frühen Studien über die Epiduralanalgesie zurSchmerzlin<strong>der</strong>ung bei <strong>der</strong> Geburt.In den 1990er-Jahren überprüften Wissenschaftler die Erfahrungenmit Studien zur Epidural- im Vergleich zur Nicht-Epiduralanalgesie.Obwohl in den vorangegangenen 20 Jahren schätzungsweiseMillionen von Frauen <strong>eine</strong> den Schmerz blockierende Epiduralanalgesieangeboten worden war, nahmen ansch<strong>eine</strong>nd noch nichteinmal 600 Frauen an einigermaßen unverzerrten Vergleichen mitan<strong>der</strong>en Formen <strong>der</strong> Schmerzlin<strong>der</strong>ung teil. Die Wissenschaftleridentifizierten neun Vergleichsstudien, die zuverlässig ausgewertetwerden konnten. Gemeinhin wurden bei diesen Vergleichen dieSpiegel von Hormonen und an<strong>der</strong>en Substanzen gemessen, von denenman annimmt, dass sie die Belastungen während <strong>der</strong> Wehenanzeigen. Zudem galt das Interesse auch den kindlichen Outcomes.In allen bis auf zwei Studien fehlte jedoch ein Vergleich <strong>der</strong> von denFrauen selbst angegebenen Schmerzen. Mit an<strong>der</strong>en <strong>Wo</strong>rten: Vonden Studienärzten war <strong>eine</strong> mit Sicherheit äußerst wichtige Zielgrößeübersehen worden: und zwar <strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Schmerzlin<strong>der</strong>ungbei den betroffenen Frauen. 13Überflüssige ForschungAtemnotsyndrom bei FrühgeborenenManche Forschungsarbeiten sind we<strong>der</strong> gut noch schlecht, son<strong>der</strong>nschlicht überflüssig. Ein Beispiel da<strong>für</strong> stammt aus <strong>der</strong> Frühgeborenenforschung.Wenn Babys zu früh geboren werden, sind ihre Lungenunter Umständen noch unreif, was mit <strong>eine</strong>m Risiko <strong>für</strong> lebens-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


174 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungbedrohliche Komplikationen wie dem Atemnotsyndrom einhergeht.Anfang <strong>der</strong> 1980er-Jahre lagen überwältigende Belege vor, dass sichdie Häufigkeit von Atemnotsyndrom und Sterblichkeit bei Neugeborenenverringern ließ, wenn man den frühgeburtsgefährdetenSchwangeren ein steroidhaltiges Medikament verabreichte. Trotzdemwurden während <strong>der</strong> folgenden zehn Jahre weiterhin Studiendurchgeführt, in denen die Gabe von Steroiden mit Placebo o<strong>der</strong>Nichtbehandlung verglichen wurde. Hätte man die Ergebnisse frühererStudien systematisch ausgewertet und mittels Meta-Analysezusammengefasst (s. Kap. 7 und 8), wären viele <strong>der</strong> späteren Studienwahrscheinlich gar nicht erst begonnen worden – die kollektivenErgebnisse hätten nämlich gezeigt, dass da<strong>für</strong> schlicht kein Bedarfbestand. In diesen unnötigen Studien wurde somit <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong>Studienteilnehmerinnen <strong>eine</strong> wirksame Therapie vorenthalten.SchlaganfallEin an<strong>der</strong>es Beispiel <strong>für</strong> überflüssige Forschung – auch hier wie<strong>der</strong>,weil die Ergebnisse früherer Studien nicht zusammengefasst ausgewertetwurden – betrifft die Behandlung von Schlaganfällen mit <strong>eine</strong>mMedikament namens Nimodipin (das zur Medikamentenklasse<strong>der</strong> Kalziumantagon<strong>ist</strong>en gehört). Ausgangspunkt war folgendeÜberlegung: Wenn es gelänge, das Ausmaß <strong>der</strong> Hirnschädigung beiSchlaganfall-Patienten zu verringern, dann sollte auch das Behin<strong>der</strong>ungsrisiko<strong>der</strong> Betroffenen abnehmen. Mit Beginn <strong>der</strong> 1980er-Jahrewurde, nachdem etliche Tierstudien ermutigende Ergebnisseerbracht hatten, Nimodipin deshalb bei Schlaganfall-Patienten untersucht.Obwohl <strong>eine</strong> 1988 veröffentlichte klinische Studie mitSchlaganfall-Patienten auf <strong>eine</strong>n vorteilhaften Effekt schließen ließ,waren die Resultate verschiedener weiterer klinischer Studien überNimodipin und an<strong>der</strong>e Kalziumantagon<strong>ist</strong>en aber wi<strong>der</strong>sprüchlich.Als man die akkumulierte Evidenz aus diesen klinischen Studien,die nahezu 8 000 Patienten umfassten, 1999 systematisch auswertete,waren k<strong>eine</strong> vorteilhaften Effekte dieser Medikamente nachweisbar(s. Kap. 8, S. 152). 14 Doch die Anwendung von Nimodipin beruhteja ansch<strong>eine</strong>nd auf soliden wissenschaftlichen Belegen. Wiewar dies also zu erklären?© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 175Im Lichte <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Patientenstudien wurden die Resultate<strong>der</strong> tierexperimentellen Studien erstmals richtig geprüft. Erst alsman die Tierstudien in <strong>eine</strong>m systematischen Review zusammenfasste,wurde erkennbar, dass die Versuchsplanung in den tierexperimentellenStudien generell unzulänglich war und die Ergebnissemit systematischen Fehlern (Bias) behaftet und somit unzuverlässigwaren. An<strong>der</strong>s gesagt: Es hatten von Anfang an gar k<strong>eine</strong> überzeugendenGründe <strong>für</strong> die Durchführung von Studien mit Schlaganfall-Patientenvorgelegen. 15Aprotinin: Wirkung auf intra- und postoperative BlutungenAn diesem Fall überflüssiger Forschung haben alle ihren Anteil:Forschungssponsoren, akademische Einrichtungen, Wissenschaftler,Ethik-Kommissionen wie auch wissenschaftliche Fachzeitschriften(s. Kap. 9). Wie wir in Kapitel 8 dargelegt haben und wie auchdie ersten beiden Beispiele unnötiger Forschung zeigen, sollten neueForschungsvorhaben nicht geplant o<strong>der</strong> umgesetzt werden, ohnedie aus früheren Forschungsarbeiten gewonnenen Erkenntnisse systematischauszuwerten.Im Mittelpunkt <strong>eine</strong>r 2005 publizierten schockierenden Analysestanden kontrollierte Studien über Aprotinin, ein Medikament zurEindämmung von Blutungen während (intraoperativ) und nach<strong>eine</strong>m chirurgischen Eingriff (postoperativ). Aprotinin wirkt.Schockierend daran war die Erkenntnis, dass auch noch lange Zeit,nachdem fundierte Belege vorlagen und zeigten, dass das Medikamentdie Notwendigkeit von Bluttransfusionen erheblich verringerte,weitere kontrollierte Studien zu diesem Thema durchgeführtwurden. 16Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Analyse waren die Berichte über 64 Studienveröffentlicht worden. Zwischen 1987 und 2002 fiel <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong>relevanten früheren Studienberichte, die in den späteren Berichtenüber Aprotinin-Studien zitiert wurden, von ursprünglich 33 % aufnur noch 10 % in den neusten Studienberichten. Nur 7 von 44 späterenStudienberichten nahmen Bezug auf den Bericht zur größtenStudie (sie war 28-mal größer als die Studien mittlerer Größe); undin k<strong>eine</strong>m <strong>der</strong> Berichte wurden die systematischen Übersichtsarbei-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


176 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungten zu diesen Studien erwähnt, die 1994 und 1997 publiziert wordenwaren.Wie die Autoren <strong>der</strong> Analyse betonen, sollte Wissenschaft eigentlichkumulativ sein, doch von vielen Wissenschaftlern werdendie Forschungsergebnisse nicht wissenschaftlich akkumuliert. Bei<strong>der</strong> Planung <strong>der</strong> neusten Studien wird häufig nicht nur versäumt,die systematischen Übersichtsarbeiten zur vorhandenen Evidenz zuberücksichtigen, son<strong>der</strong>n in den Studienberichten wird oftmalsauch vergessen, die neue Evidenz in den Kontext dieser aktualisiertenÜbersichtsarbeiten zu stellen (s. Kap. 8).Verkehrte ForschungsprioritätenDie me<strong>ist</strong>en Organisationen, die biomedizinische Forschung för<strong>der</strong>n,und die me<strong>ist</strong>en Wissenschaftler, die sie durchführen, verfolgenein hehres Ziel: nämlich Erkenntnisse beizusteuern, die <strong>eine</strong>nBeitrag zur Verbesserung <strong>der</strong> menschlichen Gesundheit le<strong>ist</strong>en.Doch wie viele <strong>der</strong> Millionen von alljährlich veröffentlichten biomedizinischenForschungsberichten le<strong>ist</strong>en wirklich <strong>eine</strong>n nützlichenBeitrag zur Verwirklichung dieses noblen Ziels?Für Patienten relevante FragenWissenschaftler aus Br<strong>ist</strong>ol beschlossen, <strong>eine</strong>r grundsätzlichen Fragenachzugehen: «In welchem Umfang finden Fragen, die <strong>für</strong> Patientenmit Kniegelenkarthrose und ihre behandelnden Ärzte relevantsind, in <strong>der</strong> Forschung zu diesem Krankheitsbild tatsächlich Berücksichtigung?»17 Dazu stellten sie zunächst vier Fokusgruppenzusammen: Patienten, Rheumatologen, Physiotherapeuten und Allgemeinmediziner.Diese Gruppen waren einhellig <strong>der</strong> Meinung,dass sie k<strong>eine</strong> weiteren von pharmazeutischen Unternehmen gesponsertenStudien wollten, in denen schon wie<strong>der</strong> ein neuesnichtsteroidales Antiphlog<strong>ist</strong>ikum (Medikamentenklasse, zu <strong>der</strong>z. B. auch Ibuprofen gehört) mit <strong>eine</strong>m Placebo verglichen werdenwürde. Anstelle von Medikamentenstudien wünschten sich die Patienten<strong>eine</strong> gründliche Bewertung von Physiotherapie und Opera-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 177tion sowie von Bewegungsschulungen und Bewältigungsstrategien,die Patienten im Umgang mit dieser chronischen, behin<strong>der</strong>ndenund oft auch schmerzhaften Krankheit besser unterstützen können.Diese Formen <strong>der</strong> Behandlung und Krankheitsbewältigung bietennatürlich <strong>eine</strong>n deutlich geringeren Spielraum <strong>für</strong> die kommerzielleNutzung als Medikamente, weshalb man sie häufig einfachignoriert.In wie vielen an<strong>der</strong>en Bereichen <strong>der</strong> Therapieforschung würdewohl ein ähnliches Ungleichgewicht hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>für</strong> Patientenund Ärzte relevanten Fragen zu Therapieeffekten und den Fragen,mit denen sich die Wissenschaftler tatsächlich beschäftigen, zu Tagetreten, wenn man sie wie oben beschrieben bewerten würde? Lei<strong>der</strong>scheint <strong>eine</strong> solche Diskrepanz eher die Regel als die Ausnahme zusein. 18–21Geringfügige Än<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Arzneimittelformulierung habennur selten zur Folge, dass die Medikamente vollkommen neueund noch vorteilhaftere Wirkungen zeigen. Und doch herrscht in<strong>der</strong> Therapieforschung diese Art von Studien vor, nicht nur in Bezugauf Arthritis, son<strong>der</strong>n auch hinsichtlich an<strong>der</strong>er chronischerKrankheiten. Was <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Vergeudung von Ressourcen!Wer entscheidet, was untersucht wird?Diese Situation <strong>ist</strong> alles an<strong>der</strong>e als befriedigend. Wie konnte es dazukommen? Ein Grund <strong>ist</strong>, dass das, was von Wissenschaftlern untersuchtwird, durch äußere externe Faktoren verzerrt wird. 22 So betreibtz. B. die pharmazeutische Industrie Forschung vorrangig, umihre Verantwortung gegenüber den Anteilseignern zu erfüllen, d. h.um Gewinne zu erzielen. Die Verantwortung gegenüber Patientenund Ärzten kommt erst an zweiter Stelle. Unternehmen unterliegendem Einfluss großer Märkte – etwa dem Markt <strong>der</strong> Frauen, die vor<strong>der</strong> Frage stehen, ob sie sich <strong>eine</strong>r Hormonersatztherapie unterziehensollen, o<strong>der</strong> dem Markt aller depressiven, ängstlichen o<strong>der</strong> unglücklichenMenschen o<strong>der</strong> dem <strong>der</strong> Schmerzpatienten. Doch hat diesekommerziell ausgerichtete Vorgehensweise in den letzten Jahrzehntennur selten wichtige neue Therapien hervorgebracht – noch nichteinmal <strong>für</strong> die sogenannten «Volkskrankheiten». Stattdessen werden© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


178 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungvon <strong>der</strong> Industrie me<strong>ist</strong> viele sehr ähnliche Verbindungen aus <strong>eine</strong>rMedikamentenklasse auf den Markt gebracht, die sogenannten «Metoo»-o<strong>der</strong> Analogpräparate. Das lässt an die Zeiten denken, als es in[britischen] Supermärkten als einzige Brotsorte nur geschnittenesweißes Toastbrot zu kaufen gab – das aber in unendlich vielen Varianten.Daher <strong>ist</strong> es kaum verwun<strong>der</strong>lich, dass die pharmazeutischeIndustrie mehr Geld <strong>für</strong> das Marketing als <strong>für</strong> die Forschung ausgibt.Aber wie schafft die Industrie es, die verordnenden Ärzte davonzu überzeugen, dass diese neuen Produkte besser sind als die schonvorhandenen preiswerteren Alternativen? Eine gebräuchliche Strategie<strong>ist</strong> die Vergabe zahlreicher kl<strong>eine</strong>rer Forschungsprojekte, mitdenen man nachwe<strong>ist</strong>, dass es besser <strong>ist</strong>, die neuen Medikamente zuverabreichen als gänzlich auf Medikamente zu verzichten. Über dieFrage, ob die neuen Medikamente besser sind als die bereits vorhandenenwird dagegen überhaupt nicht geforscht. Lei<strong>der</strong> fällt es <strong>der</strong>Industrie nicht beson<strong>der</strong>s schwer, Ärzte zu finden, die bereit sind,ihre Patienten in ein solches nutzloses Unterfangen aufzunehmen.Und diese Ärzte sind es dann auch, die die auf diese Weise beforschtenMedikamente letztes Endes verschreiben. 23 Zu allem ÜberflussAuswirkungen von Analogpräparaten in Kanada«In British Columbia wurde ein Großteil (80 %) des Anstiegs bei den Arzneimittelkostenzwischen 1996 und 2003 mit <strong>der</strong> Anwendung neuer patentierter Medikamenteerklärt, die gegenüber den vor 1990 erhältlichen preiswerteren Alternativenaber k<strong>eine</strong> wesentlichen Verbesserungen aufwiesen. Die steigenden Kostendieser Me-too-Präparate, <strong>der</strong>en Preise diejenigen von seit langem bewährtenKonkurrenzprodukten deutlich übersteigen, bedürfen <strong>eine</strong>r sorgfältigen Prüfung.Konzepte <strong>für</strong> die Preisgestaltung bei Arzneimitteln wie in Neuseeland ermöglichenunter Umständen Einsparungen, die <strong>für</strong> die Finanzierung an<strong>der</strong>er Erfor<strong>der</strong>nisseim Gesundheitswesen nutzbar gemacht werden könnten. So hätten inBritish Columbia $ 350 Millionen (26 % <strong>der</strong> Gesamtausgaben <strong>für</strong> verschreibungspflichtigeMedikamente) eingespart werden können, wenn die Hälfte <strong>der</strong> 2003verbrauchten Me-too-Präparate sich preislich an den älteren Alternativen orientierthätte. Mit diesen Einsparungen könnte man die Honorare von mehr alstausend neuen Ärzten bezahlen.Geht man davon aus, dass die L<strong>ist</strong>e <strong>der</strong> 20 weltweit umsatzstärksten Medikamenteauch neu patentierte Versionen von Medikamenten aus lange bekanntenMedikamentenklassen enthält … so werden die Ausgabentrends in den me<strong>ist</strong>enIndustrienationen wahrscheinlich von den Me-too-Präparaten beherrscht.»Morgan SG, Bassett KL, Wright JM, et al. «Breakthrough» drugs and growth inexpenditure on prescription drugs in Canada. BMJ 2005; 331: 815–816.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 179verschärfen die Arzneimittelzulassungsbehörden das Problem häufignoch dadurch, dass sie darauf bestehen, dass neue Medikamentegegen Placebo und nicht mit den schon vorhandenen wirksamenMedikamenten verglichen werden.Eine weitere Strategie <strong>ist</strong> das Ghostwriting. Dabei wird ein Textvon <strong>eine</strong>m Auftragsschreiber verfasst, als Autor offiziell aber <strong>eine</strong>an<strong>der</strong>e Person angegeben. Die me<strong>ist</strong>en von uns haben bestimmtschon einmal die Autobiographie <strong>eine</strong>r berühmten Persönlichkeitin <strong>der</strong> Hand gehabt, die eindeutig aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> <strong>eine</strong>s solchenGhostwriters stammte. Solche frem<strong>der</strong>stellten Texte tauchen aberauch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf – und zwar mitpotenziell beunruhigenden Folgen. Manchmal beauftragt die pharmazeutischeIndustrie ein Kommunikationsunternehmen mit <strong>der</strong>Erstellung von Artikeln, die das Produkt des betreffenden Herstellerserwartungsgemäß in <strong>eine</strong>m günstigen Licht präsentieren. NachFertigstellung des Artikels wird ein Akademiker vertraglich, gegen«Honorar», verpflichtet, als dessen «Autor herzuhalten». Anschließendwird <strong>der</strong> Beitrag zur Publikation eingereicht. Ganz beson<strong>der</strong>sbeliebt <strong>ist</strong> in dieser Hinsicht die Zeitschriftenrubrik «Kommentare».Ein weiteres Zielobjekt <strong>der</strong> Industrie sind Zeitschriftensupplemente– das sind separate gebundene Son<strong>der</strong>hefte, die zwar den Namen<strong>der</strong> Trägerzeitschrift führen, häufig aber von <strong>der</strong> Industrie gesponsertsind und me<strong>ist</strong> <strong>eine</strong>m weniger strengen Peer-Review-Verfahrenunterliegen als die Trägerzeitschrift selbst. 24 Auf diese Weise generierteund geför<strong>der</strong>te Werbebotschaften führen dazu, dass die Vor-Ärzte und die Pharmaindustrie«Niemand kennt die genaue Summe, welche die Pharmaindustrie an Ärzte zahlt,aber aus den Jahresberichten <strong>der</strong> neun führenden US-amerikanischen Pharmaunternehmenwürde ich schätzen, dass sie sich pro Jahr auf mehrere zehn MilliardenDollar beläuft. Damit hat die pharmazeutische Industrie <strong>eine</strong> enorme Kontrolledarüber, wie ihre Produkte von Ärzten beurteilt und verordnet werden. Mit ihrenweitreichenden Verbindungen zu Ärzten, vor allem zu leitenden Wissenschaftlernan angesehenen medizinischen Hochschulen, nehmen sie Einfluss auf die Ergebnisse<strong>der</strong> Forschung, auf die Art und Weise, wie <strong>Medizin</strong> praktiziert wird, undsogar auf das Verständnis dessen, was <strong>eine</strong> Krankheit ausmacht.»Angell M. Drug companies & doctors: a story of corruption.New York Review of Books, 15. Januar 2009.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


180 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungzüge <strong>der</strong> jeweiligen Produkte zu stark angepriesen und ihre Nachteilebagatellisiert werden (s. auch Kap. 8, S. 147).Arzneimittelhersteller platzieren gern auch Werbeanzeigen <strong>für</strong>ihre Produkte in medizinischen Fachzeitschriften. Üblicherweiseenthalten diese Anzeigen Hinweise auf wissenschaftliche Evidenzquellen,um die darin aufgestellten Behauptungen zu untermauern.Auf den ersten Blick mögen sie ja überzeugend sein, doch bei unabhängigerPrüfung <strong>der</strong> Evidenz ergibt sich ein ganz an<strong>der</strong>es Bild.Selbst wenn die Ergebnisse aus randomisierten Studien stammen –was die Leser dieser Anzeigen vermutlich als zuverlässige Bewertungeinschätzen – so <strong>ist</strong> doch nicht alles so, wie es scheint. Denn alsWissenschaftler die Werbeanzeigen in führenden medizinischenFachzeitschriften analysierten, um herauszufinden, ob die Erkenntnisseaus diesen randomisierten Studien plausibel waren, stellten sieFolgendes fest: Überhaupt nur 17 % <strong>der</strong> zitierten Studien waren vonhochwertiger Qualität, stützten die bezüglich des fraglichen Medikamentsaufgestellten Behauptungen und waren nicht vom Pharmaunternehmenselbst gesponsert worden. Und wie man weiß, besteht<strong>eine</strong> erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass <strong>der</strong>art gesponserteForschungsarbeiten zu Ergebnissen gelangen, die <strong>für</strong> das Produktdes betreffenden Unternehmens günstig ausfallen.25, 26Zwielichtig, undurchsichtig und hinters Licht geführt?In <strong>eine</strong>m humor<strong>ist</strong>ischen Beitrag zur Weihnachtsausgabe des British MedicalJournal stellten zwei Wissenschaftler ein erfundenes Unternehmen aus <strong>der</strong> zweitältestenBranche <strong>der</strong> Welt mit dem Namen «HARLOT plc» vor, das Studiensponsorenverschiedenste Dienstle<strong>ist</strong>ungen offerierte, beispielsweise:«Garantiert positive Ergebnisse versprechen wir allen Herstellern von dubiosenMedikamenten und <strong>Medizin</strong>produkten, die <strong>eine</strong> Erhöhung ihrer Marktanteileanstreben, allen ärztlichen Berufsgruppen, welche die Nachfrage nach überflüssigendiagnostischen und therapeutischen Le<strong>ist</strong>ungen mehren möchten, sowieallen regionalen und nationalen Gesundheitsbehörden, welche die Umsetzungunvernünftiger und eigennütziger gesundheitspolitischer Maßnahmen umzusetzenbestrebt sind … und bei zwielichtigen ‹Me too›-Medikamenten verschafftIhnen unser Team ‹Me-Too-Prüfpläne leicht gemacht› garantiert positive Studienergebnisse.»Zu Ihrer großen Verwun<strong>der</strong>ung gingen bei den Autoren doch etliche ansch<strong>eine</strong>n<strong>der</strong>nst gemeinte Anfragen zu diesem erstaunlichen Portfolio <strong>der</strong> Fa. HARLOT plc ein.Sackett DL, Oxman AD. HARLOT plc: an amalgamation of the world’stwo oldest professions. BMJ 2003; 327: 1442–1445.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 181In renommierten medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet 27wurde in verschiedenen Kommentaren auf die abnormen Anreize,von denen sich manch <strong>eine</strong>r, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> klinischen Forschung tätig<strong>ist</strong>, motiviert fühlt, sowie die zunehmend zweifelhaften Beziehungenzwischen Universitäten und <strong>der</strong> Industrie eingegangen. Eineehemalige Herausgeberin des New England Journal of Medicine stelltedie unverblümte Frage: «Ist die Hochschulmedizin käuflich?» 28Kommerzielle Prioritäten stellen aber nicht die einzigen abnormenEinflüsse auf Verhaltensmuster in <strong>der</strong> biomedizinischen Forschungdar, welche die Interessen <strong>der</strong> Patienten missachten. VieleMenschen an Universitäten und in Einrichtungen zur Forschungsför<strong>der</strong>unggehen davon aus, dass sich Verbesserungen <strong>der</strong> Gesundheitsehr wahrscheinlich auf Versuche zur Entschlüsselung <strong>der</strong>grundlegenden Mechanismen von Krankheit zurückführen lassen.Deshalb führen sie ihre Untersuchungen in Laboratorien und anTieren durch. Diese Art von Grundlagenforschung <strong>ist</strong> unbestreitbarnötig. Allerdings gibt es nur herzlich wenig Belege, mit denen sichrechtfertigen ließe, warum auf sie ein erheblich größerer Anteil anFör<strong>der</strong>mitteln entfällt als auf die unter Mitwirkung von Patientendurchgeführte Forschung. 29, 30 Trotzdem haben wir es mit <strong>eine</strong>rriesigen Flut von Laborexperimenten zu tun, <strong>der</strong>en Relevanz <strong>für</strong>den Patienten nicht hinreichend evaluiert wird.Man braucht nur das richtige Gen zu finden«Es steht … zu hoffen, dass die genetische Revolution <strong>eine</strong>s Tages alle Problemedes Menschen lösen wird. Wir werden imstande sein, diejenigen Gene zu lokalisierenund zu replizieren, die uns dazu prädisponieren, bessere Häuser zu bauen,<strong>der</strong> Umweltverschmutzung Herr zu werden, Krebserkrankungen tapferer zu ertragen,die Mittel <strong>für</strong> Kin<strong>der</strong>betreuungseinrichtungen bereitzustellen, die <strong>für</strong> je<strong>der</strong>mannzugänglich sind, und uns über Standort und Bauweise <strong>eine</strong>s nationalenSportstadions einig zu werden. Bald wird je<strong>der</strong> Säugling unter genetisch ausgeglichenenBedingungen geboren. Das Gen, das – sagen wir einmal – bewirkt, dassMädchen im Abitur besser abschneiden als Jungen, wird identifiziert und entfernt.Es gibt endlose genetische Möglichkeiten. … Also ja, wir betreten <strong>eine</strong>unsichere Welt, aber <strong>eine</strong>, die in gewisser Weise auch Hoffnung macht. Dennwelche schwerwiegenden moralischen Dilemmata die genetischen Fragen auchaufwerfen mögen, <strong>eine</strong>s Tages wird es gelingen, das Gen zu isolieren, das sielösen wird.»Iannucci A. The Audacity of Hype. London: Little, Brown, 2009, S. 270–271.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


182 Gute, schlechte und überflüssige klinische ForschungEin Grund <strong>für</strong> diese Ungleichheit <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Rummel um die klinischenFortschritte, die man sich aus <strong>der</strong> Grundlagenforschung, insbeson<strong>der</strong>e<strong>der</strong> Genetik, erhofft (zu genetischen Untersuchungen s. Kap. 4,S. 81 f.). Sir David Weatherall, ein bedeuten<strong>der</strong> <strong>Medizin</strong>er und Genetiker,drückte dies 2011 wie folgt aus:Unsere häufigsten Todesursachen spiegeln den Einfluss <strong>eine</strong>r großenAnzahl von Genen mit jeweils kl<strong>eine</strong>n Effekten in Verbindung mitwichtigen Beiträgen physikalischer und sozialer Einflussfaktoren wi<strong>der</strong>.Diese Arbeiten liefern wertvolle Informationen über etliche Krankheitsprozesse,unterstreichen aber auch die Individualität und Variabilität<strong>der</strong> zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen. Das Zeitalter<strong>eine</strong>r personalisierten <strong>Medizin</strong>, die auf unserer genetischen Ausstattungberuht, liegt mit Sicherheit noch in weiter Ferne. 31Heute, 50 Jahre nach <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> DNA-Struktur, scheintdiese Kakophonie von Behauptungen über die schon bald zu erwartendenVorteile <strong>der</strong> «genetischen Revolution» <strong>für</strong> die Gesundheitsversorgungallmählich zu verklingen. Ansch<strong>eine</strong>nd bricht langsamdie Wirklichkeit über uns herein. In <strong>eine</strong>m Vortrag über das Potenzial<strong>der</strong> Genetik <strong>für</strong> die Entwicklung neuer Medikamente kommentierteein Wissenschaftler dies wie folgt:Wir sind im Zeitalter des Realismus angekommen. … Genetische Aspektemüssen im Zusammenhang mit an<strong>der</strong>en Faktoren wie z. B. <strong>der</strong>Umwelt und dem klinischen Einsatz von Medikamenten gesehen werden.Nur weil ein Medikament bei <strong>eine</strong>m Patienten nicht wirkt, bedeutetdies nicht, dass die Ursache da<strong>für</strong> in <strong>eine</strong>r genetischen Variation desTherapieansprechens zu suchen <strong>ist</strong>. 32Im Editorial <strong>eine</strong>r Ausgabe <strong>der</strong> Wissenschaftszeitschrift Nature zurFeier des zehnten Jahrestages <strong>der</strong> Entschlüsselung des menschlichenGenoms hieß es dazu:… gewisse Fortschritte hat es in Form von Medikamenten gegeben, diegegen spezifische genetische Defekte gerichtet sind, wie sie z. B. bei einigenKrebsarten und auch bei einigen seltenen erblichen Krankheiten© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschung 183identifiziert wurden. Doch die Komplexität <strong>der</strong> postgenomischen Biologiehat die anfänglichen Hoffnungen, dass aus dem Rinnsal an Therapien<strong>eine</strong> wahre Flut werden könnte, zunichte gemacht. 33Psoriasis-Patienten – Stiefkin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Forschung«Nur wenige Studien beinhalteten <strong>eine</strong>n Vergleich <strong>der</strong> verschiedenen Behandlungsoptioneno<strong>der</strong> untersuchten Fragen zur Langzeittherapie. Angesichts <strong>eine</strong>rKrankheit mit potenziell lebenslangem (chronischem) Verlauf sind auch die kurzenStudiendauern nicht überzeugend. Sicher wissen wir ansch<strong>eine</strong>nd nur, dassunsere Therapien besser sind als gar nichts. Bezeichnen<strong>der</strong>weise haben die Wissenschaftlerdie Erfahrungen, Auffassungen, Präferenzen o<strong>der</strong> die Zufriedenheit<strong>der</strong> Patienten vollkommen außer Acht gelassen.»R. Jobling, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Psoriasis AssociationJobling R. Therapeutic research into psoriasis: patients’ perspectives, prioritiesand interests. In: Rawlins M, Littlejohns P, eds. Delivering quality in the NHS 2005.Abingdon: Radcliffe Publishing Ltd, S. 53–56.Wenn wir verantwortungsvoll handeln wollen, dann führt einfachkein Weg daran vorbei, dass wir gut geplante Studien unter <strong>der</strong> Mitwirkungvon Patienten brauchen, um die therapeutischen Konzeptezu prüfen, die sich aus <strong>der</strong> Grundlagenforschung ergeben. Und nurallzu oft werden solche Theorien nie bis zum Ende verfolgt, um herauszufinden,ob sie <strong>für</strong> die Patienten auch relevant sind. Mehr alszwei Jahrzehnte, nachdem Wissenschaftler den Gendefekt entdeckthaben, <strong>der</strong> die Mukoviszidose (zystische Fibrose) verursacht, stellenMukoviszidose-Kranke noch immer <strong>eine</strong> entscheidende Frage:«Wann endlich wird sich diese Entdeckung <strong>für</strong> unsere Gesundheitbezahlt machen?»Aber auch dann, wenn die Forschung patientenrelevant zu seinscheint, sehen Wissenschaftler bei <strong>der</strong> Planung ihrer Studien nochoft genug über die Interessen <strong>der</strong> Patienten hinweg. Sehr aufschlussreich<strong>ist</strong> ein Fall, in dem Lungenonkologen aufgefor<strong>der</strong>t wurden,sich in die Lage <strong>der</strong> Patienten zu versetzen und zu überlegen, ob siesich zur Teilnahme an den sechs Lungenkrebsstudien bereit erklärenwürden, <strong>für</strong> die sie als Patienten vielleicht infrage kämen. Zwischen36 und 89 % antworteten darauf, dass sie selber nicht an solchenStudien teilnehmen würden. 34Auch in klinischen Studien über Psoriasis – <strong>eine</strong> chronische undbelastende Hautkrankheit, von <strong>der</strong> weltweit ca. 125 Millionen Men-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


184 Gute, schlechte und überflüssige klinische Forschungschen betroffen sind – finden die Patienteninteressen kaum Berücksichtigung.35, 36 So hat beispielsweise die Psoriasis Association inGroßbritannien herausgefunden, dass Wissenschaftler in vielen Studienzur Beurteilung <strong>der</strong> Effekte <strong>der</strong> verschiedenen Therapien auchweiterhin ein weitgehend in Verruf geratenes Bewertungssystem anwenden.Zu den Schwachstellen dieses Systems gehört, dass im MittelpunktZielgrößen wie die Gesamtfläche <strong>der</strong> betroffenen Haut unddie Dicke <strong>der</strong> Hautverän<strong>der</strong>ungen stehen, während die Patienten,was kaum verwun<strong>der</strong>lich sein dürfte, vor allem unter Problemstellenim Gesicht, an den Handflächen und Fußsohlen sowie im Genitalbereichleiden. 37• Unnötige Forschung bedeutet Verschwendung von Zeit, Arbeit,Geld und an<strong>der</strong>en Ressourcen; zudem <strong>ist</strong> sie ethisch nicht vertretbarund <strong>für</strong> den Patienten potenziell schädlich.• Neue Forschungsvorhaben sollten nur in Angriff genommen werden,wenn <strong>eine</strong> aktualisierte Übersicht über die bisherige Forschungden Bedarf da<strong>für</strong> nachwe<strong>ist</strong> und nachdem ihre Eintragungin ein Reg<strong>ist</strong>er erfolgt <strong>ist</strong>.• Die wissenschaftlichen Daten aus neuen Forschungsarbeiten solltendazu benutzt werden, um die bisherigen Übersichtsarbeitenüber alle relevanten Erkenntnisse zu aktualisieren.• Ein Großteil <strong>der</strong> Forschung <strong>ist</strong> von min<strong>der</strong>wertiger Qualität undwird aus fragwürdigen Gründen betrieben.• Die Forschungsagenda steht unter wi<strong>der</strong>sinnigen Einflüssen seitens<strong>der</strong> Industrie wie auch <strong>der</strong> Wissenschaft.• Für den Patienten relevante Fragen werden oft gar nicht thematisiert.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


11 Richtige Forschunggeht uns alle anWie wir im vorigen Kapitel dargelegt haben, wird im Rahmenschlechter o<strong>der</strong> überflüssiger Forschung – welche die Fragen, auf diees den Patienten ankommt, we<strong>der</strong> jetzt noch in Zukunft beantwortet– viel Zeit, Geld und Arbeit verschwendet. Wir haben Sie hoffentlichdavon überzeugen können, dass aus <strong>der</strong> produktiven Partnerschaftzwischen Patienten, Ärzten, Öffentlichkeit und Wissenschaft in Zukunftauch bessere Therapietests resultieren sollten.Welchen Beitrag können Patienten und Öffentlichkeitzur Verbesserung <strong>der</strong> Forschung le<strong>ist</strong>en?Die einstmals geschlossene Welt <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> <strong>ist</strong> dabei, ihre Pfortenimmer weiter zu öffnen, um neuen Ideen und früheren «Außenseitern»Zutritt zu gewähren. Der Paternalismus <strong>ist</strong> im Schwinden begriffen.Infolgedessen tragen nun in zunehmendem Maße die Patientenund die Öffentlichkeit zur Gesundheitsforschung bei – undzwar im Hinblick darauf, was erforscht wird und wie Studien durchgeführtwerden. 1 Weltweit wird die Zusammenarbeit mit Patientenals Partnern im Forschungsprozess zunehmend be<strong>für</strong>wortet, undinzwischen stehen <strong>für</strong> Ärzte, die Patienten und Öffentlichkeit in ihreArbeit einbeziehen möchten, auch entsprechende Orientierungshilfenzur Verfügung.2, 3, 4Patienten verfügen über Erfahrungen, die Abwägungen und Entscheidungenerleichtern und neue Einsichten eröffnen können. Ihram eigenen Leib erfahrenes Wissen ermöglicht wertvolle Einblickein die Art und Weise, wie Menschen auf Krankheiten reagieren und© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


186 Richtige Forschung geht uns alle anwelchen Einfluss dies auf ihre Therapieentscheidungen hat. Wie dieinzwischen angesammelte Evidenz aus Umfragen 5 , systematischenÜbersichtsarbeiten über Forschungsberichte 1 , Berichten zu einzelnenStudien 6 und Folgenabschätzungen 7 zeigt, kann die Einbindungvon Patienten und Öffentlichkeit zur Verbesserung von Therapiestudienbeitragen.Die Entscheidung des Patienten: David und Goliath«Wer hat die Macht, da<strong>für</strong> zu sorgen, dass sich die Forschung tatsächlich mit denFragen befasst, die <strong>für</strong> die Patienten in all ihrer Not und Vielfalt am dringlichstensind? Warum werden nicht die Fragen gestellt, die die größte Relevanz haben?Wer stellt <strong>der</strong>zeit die Fragen, und wer sollte sie eigentlich stellen? Wer sollte diePriorisierung kontrollieren? Patienten sind am ehesten in <strong>der</strong> Lage, die Gesundheitsthemenzu benennen, die <strong>für</strong> sie am wichtigsten sind und die Einfluss auf ihr<strong>Wo</strong>hlbefinden, ihre Versorgung, ihre Lebensqualität und Lebenserwartung haben.Die Patienten sind wie David: Sie bestücken ihre Schleu<strong>der</strong>n gegen die Goliaths<strong>der</strong> Pharmaunternehmen, welche die Evidenz brauchen, um ihre Waren zu vermarktenund Gewinne zu erzielen, und die Studienärzte, die getrieben sind vonNeugier, <strong>der</strong> Notwendigkeit, sich Forschungsgel<strong>der</strong> zu sichern, dem Wunsch nachfachlicher Anerkennung und beruflicher Weiterentwicklung. Profite, wissenschaftlicherForschungsdrang, För<strong>der</strong>mittel und wissenschaftliche Publikationen sindnur dann akzeptabel, wenn ihre hauptsächliche Motivation das <strong>Wo</strong>hl des Patienten<strong>ist</strong>. Unabhängige Patienten und Organisationen, die sich <strong>für</strong> hochwertigeForschung einsetzen, sollten ihre Schleu<strong>der</strong>n herausholen, ihre Munition sorgfältigauswählen, genau zielen und ihre Gegner bezwingen.»Refractor. Patients’ choice: David and Goliath. Lancet 2001; 358: 768.Zu den zahlreichen Initiativen in dieser Richtung gehört die CochraneCollaboration (www.cochrane.org). Der Name steht <strong>für</strong> eininternationales Netzwerk von Wissenschaftlern, welche die besteverfügbare Evidenz zu medizinischen Behandlungen systematischzusammenfassen und die Erfahrungen von Patienten schon seit ihrenAnfängen im Jahr 1993 berücksichtigen. Die 2004 gegründeteJames Lind Alliance (www.lindalliance.org) bringt Patienten, Pflegekräfteund Ärzte an <strong>eine</strong>n Tisch, um die nach ihrer übereinstimmendenMeinung wichtigsten unbeantworteten Fragen über dieEffekte medizinischer Therapien zu identifizieren und nach ihrerWichtigkeit zu ordnen (d. h. zu priorisieren). Diese Informationenüber Unsicherheiten in <strong>der</strong> Therapie tragen dazu bei, dass die För<strong>der</strong>ervon Gesundheitsforschung wissen, was <strong>für</strong> Patienten und Ärzteam wichtigsten <strong>ist</strong>. 8 Seit 2008 finanziert die Europäische Kom-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 187mission ein Projekt, mit dem die Rolle von Patientenorganisationenin klinischen Studien gestärkt werden soll. Ziel <strong>ist</strong> die Bündelungvon Erfahrungen innerhalb <strong>der</strong> europäischen Län<strong>der</strong> durch <strong>Wo</strong>rkshops,Berichte und an<strong>der</strong>e Formen des Austauschs. 9 Auch in an<strong>der</strong>enLän<strong>der</strong>n <strong>ist</strong> die Öffentlichkeit im Allgem<strong>eine</strong>n aktiv in Forschungsvorhabeneingebunden.Eine wichtige Partnerschaft«Forschung im National Health Service, in <strong>der</strong>en Mittelpunkt <strong>der</strong> Mensch steht, <strong>ist</strong>ohne die Beteiligung <strong>der</strong> Patienten und <strong>der</strong> Öffentlichkeit undenkbar.Ganz gleich, wie kompliziert die Forschung o<strong>der</strong> wie brillant <strong>der</strong> Forscher auchsein mag: Stets können Patienten und Öffentlichkeit ganz beson<strong>der</strong>s wertvolleErkenntnisse liefern. Bei <strong>der</strong> Planung, Umsetzung und Bewertung von Forschungsvorhabensorgen ihre Anregungen da<strong>für</strong>, dass Studien effizienter,glaubwürdiger und oftmals auch kosteneffektiver werden.»Professor Dame Sally Davies. Vorwort zu Staley K.Exploring impact: public involvement in NHS, public health and social care research.Eastleigh: INVOLVE, 2009. Zugänglich unter www.invo.org.uk.Diese Rollen entwickeln sich auf vielfältige Weise immer weiter 10und ermöglichen so den Patienten und <strong>der</strong> Öffentlichkeit die Zusammenarbeitmit Ärzten und an<strong>der</strong>en Gesundheitsberufen, und eswerden da<strong>für</strong> ständig neue Methoden entwickelt (s. u. den Abschnitt«Die Kluft zwischen Patienten und Wissenschaftlern überwinden»sowie Kap. 13, Punkt 2: Richtige Planung und Durchführung vonForschungsvorhaben). 11 Dies gilt <strong>für</strong> das gesamte Spektrum <strong>der</strong>Forschungsaktivitäten:• Formulierung <strong>der</strong> zu untersuchenden Fragen• Planung von Projekten, darunter auch die Auswahl <strong>der</strong> wichtigstenZielgrößen• Projektmanagement• Erstellung von Informationsbroschüren <strong>für</strong> Patienten• Analyse und Interpretation <strong>der</strong> Ergebnisse• Verbreitung und Umsetzung <strong>der</strong> Erkenntnisse zur Unterstützungvon Behandlungsentscheidungen.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


188 Richtige Forschung geht uns alle anMitwirkung von Patienten an <strong>der</strong> ForschungWie <strong>ist</strong> es überhaupt zur Mitwirkung von Patienten an <strong>der</strong> Forschunggekommen? In Kapitel 3 haben wir beispielsweise dargelegt,dass die Therapieexzesse, die Brustkrebspatientinnen früherzugemutet wurden, sowohl aufseiten <strong>eine</strong>r neuen Art von«Arzt-Wissenschaftler» als auch aufseiten <strong>der</strong> Patientinnen zuneuen Denkanstößen und Verän<strong>der</strong>ungen geführt haben. Ärzteund Patienten arbeiteten zusammen, um wissenschaftliche Belegebeizubringen, die <strong>eine</strong>rseits strengen wissenschaftlichen Standardsgenügten und an<strong>der</strong>erseits den Bedürfnissen <strong>der</strong> Frauen Rechnungtrugen. Als Frauen die Praxis <strong>der</strong> radikalen Mastektomie infrage zustellen begannen, gaben sie damit zu verstehen, dass es ihnen ummehr als die Bekämpfung ihrer Krebserkrankung ging: Sie verlangtenauch ein Mitspracherecht bei den Strategien, mit denen wirksameWege zur Bewältigung <strong>der</strong> Krankheit gefunden werdenkönnen.Für diejenigen Patienten und Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit, diein vollem Umfang als «Co-Wissenschaftler» mitwirken wollen, bietensich verschiedene Möglichkeiten an. Sie können sich individuello<strong>der</strong> als Mitglied <strong>eine</strong>r Selbsthilfegruppe einbringen, o<strong>der</strong> sie könnenan <strong>eine</strong>r mo<strong>der</strong>ierten Gruppenaktivität wie z. B. <strong>eine</strong>r Fokusgruppeteilnehmen. Unabhängig von <strong>der</strong> Form ihrer Mitwirkungkann es mit Sicherheit nicht schaden, wenn sie sich mit den praktischenGrundlagen <strong>der</strong> Forschungsmethodik vertraut machen, damitsie sich selbstbewusst und effektiv in die Partnerschaft mit Ärztenund an<strong>der</strong>en Berufsgruppen im Gesundheitswesen einbringenkönnen. Und da<strong>für</strong> brauchen sie hochwertige Informationen undSchulungen, die auf ihre Rolle zugeschnitten sind. Wir werden inKapitel 12 erklären, warum es <strong>für</strong> das richtige Verständnis so überauswichtig <strong>ist</strong>, wie diese Informationen – insbeson<strong>der</strong>e, was dieStat<strong>ist</strong>ik betrifft – dargeboten werden. Zudem gibt es noch zahlreichean<strong>der</strong>e, weniger herausragende Möglichkeiten, wie Patientenund Öffentlichkeit <strong>eine</strong>n Beitrag zu den Forschungsanstrengungenle<strong>ist</strong>en können – vor allem dann, wenn es gelingt, <strong>eine</strong> Kultur <strong>der</strong>Zusammenarbeit zu entwickeln, welche die Erkenntnisse und Beobachtungenaus Sicht des Patienten anerkennt.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 189Der aktive «Patient-Wissenschaftler» von heute kann dankbarauf die wegweisenden Le<strong>ist</strong>ungen <strong>der</strong> ersten «Patientenpioniere»zurückblicken, die erkannt haben, dass sie <strong>für</strong> sich eintreten undden Status quo infrage stellen müssen – und dass sie, um dies tun zukönnen, präzise Informationen benötigten. So machte sich beispielsweisein den USA Anfang <strong>der</strong> 1970er-Jahre <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> Gruppevon Brustkrebs-Patientinnen unter <strong>der</strong> Leitung von Rose Kushnerdaran, sich weiterzubilden, um wirksam eingreifen zu können.Anschließend führten sie Schulungen <strong>für</strong> an<strong>der</strong>e Frauen durch.Kushner war Brustkrebs-Patientin und freie Autorin, und sie stellteAnfang <strong>der</strong> 1970er-Jahre das traditionell autoritäre Arzt-Patient-Verhältnis und die Notwendigkeit <strong>der</strong> radikalen Brustoperation infrage.12 Auf <strong>der</strong> Grundlage ihrer gründlichen Bewertung <strong>der</strong> Erkenntnisseüber die Wirkungen <strong>der</strong> radikalen Mastektomie verfasstesie ein Buch. Gegen Ende des Jahrzehnts hatte sie <strong>eine</strong>n solchenEinfluss und <strong>eine</strong> solche Anerkennung errungen, dass sie in Zusammenarbeitmit dem US-amerikanischen National Cancer InstituteVorschläge <strong>für</strong> neue Forschungsvorhaben prüfte. 13 Ähnlich veranlassteauch in Großbritannien <strong>der</strong> Informationsmangel Frauendazu, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. So rief etwa BettyWestgate in den 1970er-Jahren die Mastectomy Association ins Leben,und in den 1980er-Jahren gründete Vicky Clement-Jones die<strong>Wo</strong>hltätigkeitsorganisation CancerBACKUP (mittlerweile Teil vonMacmillan Cancer Support).Das Thema AIDS mithilfe von Laien neu überdenken«Glaubwürdigkeitskämpfe in <strong>der</strong> AIDS-Arena finden an mehreren Fronten statt: Essind ungewöhnlich viele Parteien beteiligt. Und dass sich Laien in die Verkündungund Beurteilung wissenschaftlicher Behauptungen einmischen, hat das, was wirüber AIDS zu wissen glauben, mitgeprägt – genauso, wie es auch dazu beigetragenhat, unser Verständnis darüber, wer als ‹Laie› und wer als ‹Experte› anzusehen <strong>ist</strong>,infrage zu stellen. Stets geht es dabei um die Glaubwürdigkeit <strong>der</strong> jeweiligen Wissensansprücheo<strong>der</strong> <strong>Wo</strong>rtführer. Im Kern geht es jedoch darum, wie eigentlichGlaubwürdigkeit festgestellt wird: Wie wird über wissenschaftliche Behauptungenentschieden, und wer trifft diese Entscheidungen? [Wie diese Studie zeigt,] sindDebatten innerhalb <strong>der</strong> Wissenschaft gleichzeitig auch Debatten über die Wissenschaftund wie sie betrieben werden sollte – bzw. wer sie betreiben sollte.»Epstein S. Impure science: AIDS, activism and the politics of knowledge.London: University of California Press, 1996.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


190 Richtige Forschung geht uns alle anEnde <strong>der</strong> 1980er-Jahre hatten mit HIV infizierte o<strong>der</strong> an AIDS erkrankteMenschen in den USA erstaunlich viel Wissen über ihreKrankheit angehäuft. Politisch waren sie darauf ausgerichtet, ihreInteressen gegen das Establishment zu verteidigen, wodurch sie Patientenden Weg zur Mitbestimmung über das Design von Studienebneten. Diese Mitsprache führte schließlich dazu, dass den Patientenin den Studien verschiedene Behandlungsoptionen und flexibleStudiendesigns angeboten wurden, um sie zur Teilnahme an Studienzu ermutigen. Diesem Beispiel folgte man Anfang <strong>der</strong> 1990er-Jahrein Großbritannien, als man <strong>eine</strong> AIDS-Patientengruppe an Studienbeteiligte, die am Chelsea and Westminster Hospital in Londondurchgeführt wurden: Die Patienten halfen bei <strong>der</strong> Auswahl desrichtigen Studiendesigns. 14Diese AIDS-Aktiv<strong>ist</strong>en ließen die Studienleiter aufhorchen: Wasmanche Wissenschaftler als ein durch organisierte Patientengruppenverursachtes Chaos ansahen, war genau genommen die legitimeInfragestellung <strong>der</strong> Interpretation von Unsicherheit durch die Wissenschaftler.Bis dahin hatten die Wissenschaftler bei ihrem Vorgehendie von Patienten bevorzugten Studienzielgrößen schlicht übersehen.An<strong>der</strong>erseits lernten die Patienten einzuschätzen, welcheGefahren damit verbunden sind, wenn man vorschnell über dieWirkungen neuer Medikamente urteilt und den For<strong>der</strong>ungen nachZulassung <strong>eine</strong>s «vielversprechenden» neuen AIDS-Medikamentsnachgibt, bevor es <strong>eine</strong>r strengen Prüfung unterzogen wurde. DieWissenschaftler mögen eingewendet haben, dass <strong>eine</strong> solche «mitfühlendeZulassung» (engl. compassionate release) neuer Medikamentedie Qual <strong>der</strong> Ungewissheit <strong>für</strong> gegenwärtige und zukünftigePatienten nur verlängere. Die Patienten hielten jedoch dagegen,dass dadurch sowohl bei Patienten als auch Wissenschaftlern letztendlichdie Einsicht beschleunigt wurde, dass wir besonnene, kontrollierteTherapiebewertungen brauchen, die gemeinsam geplantwerden und die die Bedürfnisse bei<strong>der</strong> Seiten berücksichtigen. 15In den 1990er-Jahren hat beson<strong>der</strong>s <strong>eine</strong> AIDS-Studie sehr eindrücklichgezeigt, wie wichtig es <strong>ist</strong>, Patienten an <strong>der</strong> Forschung zubeteiligen. Sie fiel in die Zeit, als das Medikament Zidovudin geradeerst zur Behandlung von AIDS zugelassen worden war. Es gab fundierteBelege <strong>für</strong> <strong>eine</strong> positive Wirkung bei Patienten mit fortge-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 191schrittener Erkrankung. Die naheliegende Frage lautete nun, ob sichdie Krankheitsprogression hinauszögern und die Überlebensdauerverlängern ließe, wenn Zidovudin bereits in <strong>eine</strong>m früheren Infektionsstadiumverabreicht würde. Um diese Möglichkeit zu prüfen,wurden sowohl in den USA als auch in Europa Studien auf den Weggebracht. Die US-Studie wurde vorzeitig abgebrochen, als sich einmöglicher, aber noch ungewisser positiver Effekt ergab. Trotz <strong>der</strong> inden USA erzielten Ergebnisse wurde die europäische Studie unteraktiver Beteiligung und mit Zustimmung <strong>der</strong> Patientenvertreter biszum Erreichen <strong>eine</strong>s eindeutigen Endpunkts fortgeführt. IhreSchlussfolgerungen waren grundverschieden: Die frühzeitige Gabevon Zidovudin im Infektionsverlauf brachte ansch<strong>eine</strong>nd k<strong>eine</strong>rleiNutzen. Die unter diesen Umständen einzigen eindeutigen Effektedes Medikaments waren s<strong>eine</strong> unerwünschten Nebenwirkungen. 16Wie Patienten faire Therapiestudien gefährden könnenDie Beteiligung von Patienten an <strong>der</strong> Forschung wirkt sich auf faireTherapiestudien nicht immer nur för<strong>der</strong>lich aus. Eine im Jahr 2001unter Wissenschaftlern durchgeführte Umfrage zeigte einige ausgesprochenpositive Erfahrungen mit <strong>der</strong> Einbeziehung von Patientenin klinische Studien auf. Gleichzeitig deckte sie aber auch einige sehrreale Probleme auf, die hauptsächlich darauf zurückzuführen waren,dass die Beteiligten k<strong>eine</strong> Erfahrungen mit dieser Art von Zusammenarbeithatten. Zunächst einmal gab es häufig beträchtlicheVerzögerungen beim Beginn solcher Forschungsprojekte. Zudembestanden Bedenken wegen Interessenkonflikten und <strong>der</strong> «Repräsentativität»einiger Patienten, die noch nicht erkannt hatten, wiewichtig es <strong>ist</strong>, in die im Rahmen des Studienmanagements stattfindendenSitzungen nicht nur ihre eigenen Interessen einzubringen. 5Viele dieser Probleme ergaben sich ansch<strong>eine</strong>nd aus dem aufseiten<strong>der</strong> Patienten verständlicherweise bestehenden Mangel an Wissenüber den Ablauf und die Finanzierung von Forschungsvorhaben.Verzweifelte Umstände führen manchmal zu dem verzweifeltenBemühen, sich Zugang zu Behandlungen zu verschaffen, die nochnicht ausreichend geprüft wurden und die – selbst bei Patienten, die© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


192 Richtige Forschung geht uns alle anim Sterben liegen – möglicherweise mehr schaden als nützen. Wirhaben bereits an an<strong>der</strong>er Stelle darauf hingewiesen, dass diese Artvon Lobbyismus durch Patienten und ihre Fürsprecher im Hinblickauf die «mitfühlende» Zulassung «vielversprechen<strong>der</strong>» neuer medikamentöserTherapien <strong>für</strong> AIDS auch s<strong>eine</strong> Schattenseiten hat: DieIdentifizierung von Therapien, die auf patientenrelevante Ergebnisseausgerichtet sind, wurde dadurch verzögert; so hat sich z. B. in <strong>der</strong>jüngeren Vergangenheit die Fürsprache durch falsch informierteEinzelpersonen bzw. Patientengruppen kontraproduktiv auf dieVerordnung von Medikamenten gegen multiple Sklerose (MS) undBrustkrebs ausgewirkt.Mitte <strong>der</strong> 1990er-Jahre wurden Interferone zur Behandlung vonPatienten mit schubförmig remittieren<strong>der</strong> MS auf <strong>der</strong> Grundlagespärlicher Wirksamkeitsnachweise zugelassen. Sehr schnell verlangtenalle Patienten mit allen möglichen MS-Formen nach diesenkostspieligen Medikamenten, und ihre Anwendung wurde von denKrankenkassen sogar finanziert. Interferone wurden zu <strong>eine</strong>r anerkanntenStandardtherapie <strong>für</strong> diese kräftezehrende Krankheit. Infolgedessenwerden wir niemals erfahren, wie man Interferone beimultipler Sklerose richtig verordnet – darüber wurde nie geforscht,und mittlerweile <strong>ist</strong> es zu spät, um die Uhr zurückzudrehen. ImLaufe <strong>der</strong> Zeit <strong>ist</strong> <strong>eine</strong>s aber ganz deutlich geworden: Interferonehaben unangenehme Nebenwirkungen wie z. B. «grippeähnliche»Symptome.Auch Herceptin (Trastuzumab) <strong>ist</strong>, wie wir in Kapitel 1, S. 42–44, erläutert haben, kein Wun<strong>der</strong>medikament, das allen Brustkrebs-Patientinnenhilft. Zunächst einmal hängt s<strong>eine</strong> Wirksamkeitvon <strong>eine</strong>r beson<strong>der</strong>en genetischen Konstellation des Tumors ab, dienur bei <strong>eine</strong>r von fünf Frauen mit Brustkrebs vorliegt. Zudem hatdas Medikament potenziell schwerwiegende kardiale Nebenwirkungen.Und doch wurden Politiker von Patientenvertretern durchSchüren des Medienrummels dazu gebracht, mit dem Strom <strong>der</strong>öffentlichen Meinung zu schwimmen: Die Anwendung von Herceptinwurde offiziell empfohlen, ohne sich groß um die vorhandeneEvidenz bzw. die Erkenntnis zu kümmern, dass weitere Belege<strong>für</strong> ein ausgewogenes Verhältnis von Vor- und Nachteilen nochausstanden.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 193«Pester Power» und neue Medikamente«Bei neuen Medikamenten handelt es sich naturgemäß um unausgereifte Produkte,da die vollständigen Angaben über ihre Sicherheit, Wirksamkeit und Kostenauswirkungennoch nicht vorliegen. Dabei sollte auch bedacht werden, dass dieenthusiastische Fürsprache <strong>für</strong> alles ‹Neue› nicht die alleinige Domäne <strong>der</strong> Presse<strong>ist</strong>, son<strong>der</strong>n oftmals auch in den an<strong>der</strong>en Medien sowie in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> und denNaturwissenschaften zu beobachten <strong>ist</strong>. ‹Pester Power› <strong>ist</strong> ein Konzept, das mannormalerweise mit kin<strong>der</strong>orientierten Werbestrategien in Zusammenhang bringt.In diesem Zusammenhang müssen wir uns die Frage stellen, ob wir es hier mit<strong>der</strong> Pester Power von Patienten zu tun haben o<strong>der</strong> etwa mit direkt an den Patientenals Endverbraucher gerichteter Werbung ( sogenannte Direct-to-Consumero<strong>der</strong>DtC-Werbung), durch die das Bewusstsein <strong>für</strong> neue Produkte geweckt wirdund Patienten, <strong>Wo</strong>hltätigkeitsorganisationen und tatsächlich auch Ärzte dannverlangen, dass diese Produkte zugänglich gemacht werden. Wenn dies zutrifft,dann müssen wir mehr über diejenigen in Erfahrung bringen, die hinter dieser Artvon Marketing stehen, welche Auswirkungen dieses Marketing auf das Arzt- unddas Konsumentenverhalten hat und ob es im Rahmen <strong>der</strong> geltenden Zulassungsregelnüberhaupt statthaft <strong>ist</strong>.»Wilson PM, Booth AM, Eastwood A et al. Deconstructing media coverageof trastuzumab (Herceptin): an analysis of national newspaper coverage.Journal of the Royal Society of Medicine 2008: 101: 125–32Sind Patientenverbände unabhängig?Ein weiterer, weniger bekannter Interessenkonflikt herrscht im Verhältniszwischen Patientenorganisationen und <strong>der</strong> pharmazeutischenIndustrie. Die me<strong>ist</strong>en Patientenverbände verfügen nur überknappe Finanzmittel, sind auf die Arbeit Freiwilliger angewiesen undbeziehen nur geringe unabhängige För<strong>der</strong>mittel. Zuwendungen vonund gemeinsame Projekte mit pharmazeutischen Unternehmenkönnen ihnen zu Wachstum und mehr Einfluss verhelfen, aber auchdie Ziele <strong>der</strong> Patienten, darunter auch ihrer Forschungsvorstellungen,verzerren und falsch darstellen. Die Größenordnung dieses Problemslässt sich nur schwer ermessen, doch <strong>eine</strong>n faszinierendenEinblick gewährt <strong>eine</strong> Umfrage, die durchgeführt wurde, um festzustellen,in welchem Maße Patienten- und Verbraucherorganisationen,die mit <strong>der</strong> Europäischen Arzneimittelbehörde EMA (EuropeanMedicines Agency) zusammenarbeiten, durch Firmensponsoren geför<strong>der</strong>twerden. Die EMA koordiniert die Bewertung und Überwachungneuer Medikamente in ganz Europa und lässt Patienten- und© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


194 Richtige Forschung geht uns alle anVerbrauchergruppen erfreulicherweise aktiv an ihren Zulassungsaktivitätenteilhaben. Als allerdings zwischen 2006 und 2008 <strong>eine</strong> Umfrageunter 23 dieser Gruppen durchgeführt wurde, ergab sich dabei,dass 15 teilweise o<strong>der</strong> sogar in erheblichem Umfang von Arzneimittelherstellerno<strong>der</strong> Verbänden <strong>der</strong> pharmazeutischen Industrie geför<strong>der</strong>twurden. Darüber hinaus konnte weniger als die Hälfte dieserGruppen gegenüber <strong>der</strong> Behörde genaue Angaben über Herkunfto<strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> von ihnen bezogenen För<strong>der</strong>mittel machen. 17Die Bürger an <strong>der</strong> Verbesserung <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung beteiligen«Die Verschmelzung <strong>der</strong> Interessen von Patientenvertretungen, denjenigen,welche medizinische Therapien verkaufen, und denen, die sie verordnen, sorgt <strong>für</strong><strong>eine</strong> starke Mixtur aus verschiedenen Einflüssen, welche die Entscheidungsträgerfast immer in <strong>eine</strong> Richtung drängt: noch mehr Tests, noch mehr Eingriffe, nochmehr Betten, noch mehr Tabletten …Als jemand, <strong>der</strong> sich seit mehr als zehn Jahren mit diesem Thema befasst, habeich das Gefühl, dass in dieser Debatte häufig <strong>eine</strong> Stimme fehlt, nämlich diejenige,die das öffentliche Interesse nachhaltig vertritt. Gesponserte Patientenvertretungensind schnell bereit, <strong>eine</strong> neue Therapie o<strong>der</strong> Technologie in den Himmel zuheben, zögern aber, ihre begrenzte Wirksamkeit, ihre übermäßigen Kosten o<strong>der</strong>offenkundigen Gefahren öffentlich zu kritisieren. Und wie viele Journal<strong>ist</strong>en neigenauch Politiker dazu, sich unnötigerweise durch führende Ärzte und leidenschaftlicheFürsprecher einschüchtern zu lassen, die sich nur allzu oft <strong>für</strong> Marketingkampagneneinspannen lassen, in denen Krankheitsdefinitionen erweitertund die teuersten Lösungen beworben werden.Vielleicht kann die Gründung neuer Bürgerlobbys im Gesundheitswesen, die sichdamit auskennen, wie man wissenschaftliche Evidenz nutzen und missbrauchenkann, bewirken, dass die Debatte über die Ausgabenpriorisierung auf <strong>eine</strong> fundiertereGrundlage gestellt wird. Solche Bürgergruppen könnten es sich zur Aufgabemachen, irreführendes Marketing in den Medien routinemäßig aufzudeckenund sowohl Öffentlichkeit als auch Entscheidungsträgern real<strong>ist</strong>ische und differenzierteBewertungen <strong>der</strong> Risiken, Vorteile und Kosten <strong>eine</strong>r sehr viel breiterenPalette von Gesundheitsstrategien zugänglich zu machen.»Moynihan R. Power to the people. BMJ 2011; 342: d2002.In einigen Fällen haben Pharmaunternehmen selbst Patientenorganisationengegründet, um Einfluss zugunsten ihrer Produkte zunehmen. So hat <strong>eine</strong>s <strong>der</strong> Unternehmen, die Interferon herstellen,<strong>eine</strong> neue Patientengruppe mit dem Namen «Action for Access» insLeben gerufen, um den britischen National Health Service dazu zubewegen, Interferone zur Behandlung <strong>der</strong> multiplen Sklerose verfügbarzu machen (siehe oben). 18, 19 Die Botschaft, die diese Patien-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 195tengruppen mit ihrer beträchtlichen Öffentlichkeitswirkung verkündeten,lautete, dass Interferone zwar wirksam, aber zu teuerseien. Dabei ging es in Wahrheit um die Frage, ob diese Medikamenteüberhaupt irgendwelche vorteilhaften Wirkungen haben.Zusammenarbeit von Patienten und WissenschaftlernDie Kluft überbrückenWir haben weiter oben auf die Probleme aufmerksam gemacht, dieaus <strong>der</strong> Mitwirkung von Patienten an Therapietests erwachsen könnenund wie Patienten faire Therapietests unabsichtlich torpedierenkönnen. Wie bei den me<strong>ist</strong>en Dingen gilt auch hier: Gute Absichtensind k<strong>eine</strong> Gewähr da<strong>für</strong>, dass mehr Nutzen als Schaden entsteht.Dennoch finden sich auch eindeutige Beispiele <strong>für</strong> die Vorteile, diesich aus <strong>der</strong> Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Patientenmit dem Ziel <strong>eine</strong>r Steigerung <strong>der</strong> Forschungsrelevanz und Forschungsplanungergeben. Deshalb suchen viele Wissenschaftler aktivnach Patienten, mit denen sie zusammenarbeiten können.Wie wertvoll <strong>eine</strong> vorbereitende Zusammenarbeit sein kann,zeigt folgendes Beispiel, in dem Wissenschaftler gemeinsam mit Patientenund potenziellen Patienten einige schwierige Fragen erörterten,die bei <strong>der</strong> Prüfung von Notfalltherapien auftreten. Damit Therapienbei <strong>eine</strong>m akuten Schlaganfall Erfolg haben können, müssensie möglichst rasch nach Auftreten des Schlaganfalls eingeleitet werden.Da die Wissenschaftler sich unsicher waren, wie man am bestenverfährt, baten sie Patienten und ihre Betreuungspersonen umUnterstützung. Sie hielten ein Sondierungstreffen mit <strong>eine</strong>r Gruppevon Patienten und Ärzten ab und führten Fokusgruppen durch, andenen ältere Menschen teilnahmen. Dadurch gelang es, klarere Studienpläneauszuarbeiten, und die Patienten unterstützten die Wissenschaftlerbeim Entwurf und bei <strong>der</strong> Überarbeitung <strong>der</strong> Aufklärungsbroschüre<strong>für</strong> diese Studie. 20Diese sorgfältigen Forschungsvorarbeiten mündeten in Pläne <strong>für</strong>die Durchführung <strong>eine</strong>r randomisierten Studie, die von <strong>der</strong> zuständigenEthik-Kommission ohne Umschweife genehmigt wurde. DieTeilnehmer <strong>der</strong> Fokusgruppe hatten das ethische Dilemma erkannt,© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


196 Richtige Forschung geht uns alle andas mit dem Versuch einhergeht, <strong>eine</strong> Einwilligungserklärung (engl.informed consent) von <strong>eine</strong>r akut erkrankten Person zu erhalten, dieunter Umständen verwirrt o<strong>der</strong> sprachunfähig, wenn nicht gar bewusstlos<strong>ist</strong>. So konnten sie Lösungen vorschlagen, die zu <strong>eine</strong>m <strong>für</strong>alle Beteiligten akzeptablen Studiendesign und zu bedeutsamenVerbesserungen in <strong>der</strong> Informationsbroschüre führten.Immer häufiger finden sich unter den Mitglie<strong>der</strong>n von Forschungsteamsauch Sozialwissenschaftler, welche die sensiblen Aspektevon Krankheit gemeinsam mit Patienten formal untersuchenund die Durchführung von Studien auf diese Weise verbessern. In<strong>eine</strong>r klinischen Studie bei Männern mit lokalisiertem Prostatakrebswollten Wissenschaftler drei sehr unterschiedliche Behandlungsmöglichkeitenmiteinan<strong>der</strong> vergleichen: Operation, Strahlentherapieund das «beobachtende Abwarten» (engl. watchful waiting). Dasführte zu Problemen, und zwar sowohl aufseiten <strong>der</strong> Ärzte, die denPatienten die Studienteilnahme vorschlagen sollten, als auch aufseiten<strong>der</strong> Patienten, die <strong>eine</strong> Entscheidung über ihre Teilnahme andieser Studie treffen mussten. Bei den Ärzten stieß die Beschreibung<strong>der</strong> Option «beobachtendes Abwarten » auf so wenig Gegenliebe,dass sie sie bis zuletzt aufhoben. Zudem erläuterten sie diese Möglichkeit,ohne dabei allzu zuversichtlich zu wirken, weil sie fälschlicherweisedavon ausgingen, dass diese Option <strong>für</strong> die Männer,denen die Teilnahme an <strong>der</strong> Studie angeboten werden sollte, inakzeptabelwäre. Deshalb wurden Sozialwissenschaftler gebeten, <strong>der</strong>Frage <strong>der</strong> Akzeptanz nachzugehen, um so festzustellen, ob die Studiein dieser Form überhaupt durchführbar war.Die Ergebnisse, zu denen die Sozialwissenschaftler gelangten, kamen<strong>eine</strong>r Offenbarung gleich. 21 Sie zeigten, dass <strong>eine</strong> Studie, in <strong>der</strong>«beobachtendes Abwarten» als dritte Option angeboten wird, dannannehmbar <strong>ist</strong>, wenn man sie als «aktive Überwachung» (engl. activemonitoring) bezeichnet, wenn <strong>der</strong> Arzt sie nicht als letzte Möglichkeitanbietet und wenn er sie einfühlsam und <strong>für</strong> den Patientenverständlich erklärt.Die Untersuchung, die die Kluft zwischen Ärzten und Patientenschließen sollte, hatte die beson<strong>der</strong>en Aspekte aufgedeckt, die beidenParteien Schwierigkeiten bereiteten und die sich durch <strong>eine</strong> bessereDarstellung <strong>der</strong> Behandlungsoptionen leicht beheben ließen. Ein Er-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Richtige Forschung geht uns alle an 197gebnis war, dass die Akzeptanzrate bei den Männern, die zur Teilnahmean <strong>der</strong> Studie eingeladen wurden, im Laufe <strong>der</strong> Zeit von vierpro zehn auf sieben pro zehn Zustimmungen anstieg. Diese schnellereRekrutierung bedeutete, dass man über die Wirkung dieser dreiTherapien <strong>für</strong> Männer mit lokalisiertem Prostatakarzinom früherBescheid wissen würde als ohne diese Vorarbeiten. Und da Prostatakrebshäufiger vorkommt, können davon in Zukunft viele Männerprofitieren, und zwar früher, als es sonst möglich gewesen wäre.Durch Zusammenarbeit ein Zeichen <strong>für</strong> die Zukunft setzenEs gibt zahllose Möglichkeiten, wie man Patienten und die Öffentlichkeitin Therapietests einbeziehen kann. Wie wir bereits ausgeführthaben, können sie die Hauptakteure sein – diejenigen, dieVerständnislücken aufdecken und darauf aufmerksam machen,dass neue Wege gefunden werden müssen. Sie können von Wissenschaftlerndabei unterstützt werden; sie können in einigen Phasendes Forschungsprojekts mitwirken, in an<strong>der</strong>en dagegen nicht; siekönnen von dem Moment an beteiligt sein, in dem <strong>eine</strong> bestimmteUnsicherheit aufgedeckt wird, mit <strong>der</strong> man sich auseinan<strong>der</strong>setzenmuss, indem man die Ergebnisse des Projekts verbreitet, umsetztund in <strong>eine</strong> aktualisierte systematische Übersichtsarbeit integriert;und sie können auf ganz unterschiedliche Art und Weise in ein unddasselbe Projekt eingebunden werden. Gelegentlich initiieren sie einForschungsvorhaben auch selbst. Da<strong>für</strong> gibt es k<strong>eine</strong> allgemeingültigeRegel: Die Angemessenheit <strong>der</strong> verschiedenen Strategien undVorgehensweisen in <strong>der</strong> jeweiligen Studie diktiert die Wahl <strong>der</strong> Strategie.Wie die oben beschriebene Studie zum lokalisierten Prostatakarzinomzeigt, entwickeln sich die Methoden mit <strong>der</strong> Zeit weiter –selbst im Verlauf <strong>eine</strong>s Projekts.Aus <strong>der</strong> Zusammenarbeit von Patienten und Wissenschaftlernerwächst ein starkes Bündnis, auf dessen Grundlage es gelingenkann, Therapieunsicherheiten zum <strong>Wo</strong>hle aller Beteiligten abzubauen.Die verschiedenen Methoden, die diese Zusammenarbeitmöglich machen und die sich – mit <strong>der</strong> Billigung und Unterstützungnationaler Forschungseinrichtungen – <strong>für</strong> Einzelstudien alsgeeignet erweisen, verheißen Gutes <strong>für</strong> die Zukunft.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


198 Richtige Forschung geht uns alle an• Wenn Patienten und Wissenschaftler zusammenarbeiten, könnensie zur Identifizierung und Verringerung von Therapieunsicherheitenbeitragen.• Anregungen vonseiten <strong>der</strong> Patienten können zu besserer Forschungführen.• Manchmal gefährden Patienten faire Therapietests, ohne es zuwollen.• Die Beziehungen zwischen Patientenorganisationen und <strong>der</strong> pharmazeutischenIndustrie können zur Verzerrung von Informationenüber die Wirkungen von Therapien führen.• Um <strong>eine</strong>n wirksamen Beitrag le<strong>ist</strong>en zu können, müssen Patientenmehr über die Forschung wissen und <strong>eine</strong>n schnelleren Zugang zuunvoreingenommenen Informationen erhalten.• Es gibt k<strong>eine</strong>n Königsweg <strong>für</strong> die Realisierung gemeinschaftlicherMitwirkung in <strong>der</strong> Forschung.• Die Mitwirkung von Patienten sollte sich am jeweiligen Forschungszweckorientieren.• Die Methoden zur Einbindung von Patienten in die Forschung entwickelnsich kontinuierlich.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


12 <strong>Wo</strong>durch zeichnetsich <strong>eine</strong> bessereGesundheitsversorgungaus?In den vorangehenden Kapiteln haben wir anhand zahlreicher Beispieleveranschaulicht, warum Therapien sich auf solide Forschungstützen sollten und können – auf Forschung also, die auf die Untersuchungpatientenrelevanter Fragen ausgelegt <strong>ist</strong>. Ganz gleich, obwir Teil <strong>der</strong> Öffentlichkeit o<strong>der</strong> Patienten o<strong>der</strong> im Gesundheitswesenbeschäftigt sind: Auf die <strong>eine</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Weise gehen die Wirkungenmedizinischer Behandlungen uns alle an. Und dabei spieltrobuste Evidenz aus fairen Therapietests <strong>eine</strong> wirklich wichtigeRolle.In diesem Kapitel gehen wir <strong>der</strong> Frage nach, wie solche Evidenzdie Praxis <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung mitgestalten kann, damitÄrzte und Patienten gemeinsam über die Behandlung Einzelnerentscheiden können. Gute Entscheidungen sollten auf soli<strong>der</strong> Evidenzbasieren, die uns über die wahrscheinlichen Konsequenzenverschiedener Behandlungsmöglichkeiten aufklärt. Allerdings habendiese Konsequenzen <strong>für</strong> verschiedene Menschen jeweils <strong>eine</strong>unterschiedliche Bedeutung und <strong>eine</strong>n unterschiedlichen Stellenwert.So gesehen kann <strong>der</strong> <strong>eine</strong> Patient auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong>selbenEvidenz zu <strong>eine</strong>r ganz an<strong>der</strong>en Entscheidung gelangen als ein an<strong>der</strong>erPatient. Beispielsweise kann <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Berufsmusiker ein vollfunktionsfähiger Finger, <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Chefkoch ein gut ausgebildeterGeruchssinn und <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Fotografen ein gutes Sehvermögen sehrviel wichtiger sein als <strong>für</strong> an<strong>der</strong>e Menschen. Um ein <strong>für</strong> sie beson<strong>der</strong>swichtiges Behandlungsergebnis zu erzielen, sind sie unter Um-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


200 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?ständen bereit, größere Anstrengungen o<strong>der</strong> größere Risiken inKauf zu nehmen. Die Schnittstelle zwischen Evidenz und Entscheidungen<strong>ist</strong> so komplex, dass sich ein Großteil dieses Kapitels einigen<strong>der</strong> öfter auftretenden Fragen zu diesem Problem widmet.Zuvor wollen wir uns jedoch näher mit Shared Decision Makingbefassen und darlegen, wie <strong>eine</strong> solche «partizipative Entscheidungsfindung»in <strong>der</strong> Praxis aussehen könnte. Bei <strong>eine</strong>r solchenpartnerschaftlichen Entscheidungsfindung handelt es sich um <strong>eine</strong>nMittelweg zwischen ärztlichem Paternalismus auf <strong>der</strong> <strong>eine</strong>n undPatienten sich selbst zu überlassen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Patientenbeklagen sich regelmäßig über mangelhafte Informationen, dochhaben sie verständlicherweise unterschiedliche Vorstellungen davon,wie viel Verantwortung sie dabei zu übernehmen bereit sind. 1, 2Partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision-Making)«Partizipative Entscheidungsfindung wird definiert als «<strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Einbeziehungvon Patienten in medizinische Entscheidungen». Dem Anspruch nach sindÄrzte darum bemüht (bzw. sollten es sein), Probleme hinreichend deutlich undoffen zu beschreiben, damit Patienten die Unsicherheiten, mit denen die me<strong>ist</strong>enEntscheidungen in <strong>der</strong> <strong>Medizin</strong> behaftet sind, verstehen und so gesehen auchnachvollziehen können, dass es hier Entscheidungen zwischen konkurrierendenMöglichkeiten zu treffen gilt. Die ärztliche Expertise liegt in <strong>der</strong> Diagnosestellungund dem Aufzeigen <strong>der</strong> Behandlungsoptionen nach klinischen Prioritäten; dieAufgabe des Patienten <strong>ist</strong> es, s<strong>eine</strong> Wertvorstellungen und persönlichen Prioritäten,die von s<strong>eine</strong>n jeweiligen sozialen Umständen geprägt sind, auf wohlinformierterGrundlage zu erkennen und mitzuteilen.»Aus: Thornton H. Evidence-based healthcare. What roles for patients? In: Edwards A,Elwyn G, eds. Shared decision-making in health care. Achieving evidence-basedpatient choice. Second edition. Oxford: Oxford University Press, 2009, S. 39.Manche Patienten ziehen es vor, nicht allzu genau über ihre Krankheitund ihre Behandlungsoptionen informiert zu werden, undüberlassen die Entscheidungen darüber lieber ihrem beratendenArzt; aber es gibt auch viele, die gern mehr wissen möchten. Wersich weitergehend informieren wollen, sollte Zugang zu sorgfältigformulierten Informationsmaterialien erhalten und sich an erfahreneGesundheitsfachkräfte wenden können, die sie dazu beratenkönnen, wie und wo sie diese Informationen in dem <strong>für</strong> sie geeignetenFormat erhalten können.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 201Was die «ideale ärztliche Konsultation» ausmacht, kann sichvon Patient zu Patient stark unterscheiden. Manche Leute sind damitzufrieden, wenn sie <strong>eine</strong> untergeordnete Rolle übernehmenkönnen, während an<strong>der</strong>e <strong>für</strong> sich <strong>eine</strong> Führungsrolle beanspruchen.Eine stärkere Mitsprache bei <strong>der</strong> Entscheidungsfindung kann– mit ärztlicher Unterstützung – sehr befriedigend sein. Und wennein Patient erst einmal erlebt hat, wie so etwas funktioniert, wird esvielleicht sogar zu s<strong>eine</strong>m bevorzugten Vorgehen. Wie wir untennoch sehen werden, kann schon <strong>eine</strong> einfache Frage des Patientendas Gespräch eröffnen. Wichtig <strong>ist</strong>, dass die Patienten sich in ihremedizinische Versorgung eingebunden fühlen, wenn sie, unabhängigvom Grad ihrer Mitwirkung, als ebenbürtige Partner behandeltwerden.Wie könnten die hier gemachten Vorschlägebei Ihnen selbst aussehen?Auch wenn k<strong>eine</strong> zwei Arztbesuche identisch ablaufen, so sinddoch die in diesem Buch dargelegten Grundprinzipien, wie manzur bestmöglichen Entscheidung gelangt, dieselben. Das Ziel <strong>ist</strong>,dass sich sowohl beim Patienten als auch beim Arzt am Ende <strong>der</strong>Konsultation Zufriedenheit darüber einstellt, dass sie das Problemvor dem Hintergrund <strong>der</strong> besten verfügbaren relevanten Evidenzgemeinsam erörtert haben. Patienten wenden sich mit den verschiedenstengesundheitlichen Problemen an ihre Ärzte: manchemit akuten, manche mit chronischen, manche mit lebensbedrohlichenund wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e mit bloß «lästigen» Beschwerden. Ihrepersönlichen Umstände sind zwar von <strong>eine</strong>r unendlichen Vielfalt,aber sie alle haben Fragen, mit denen man sich auseinan<strong>der</strong>setzenmuss, damit über das weitere Vorgehen entschieden werden kann(Abb. 13).Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, wollen wir mit <strong>eine</strong>mGespräch zwischen Patient und Arzt über ein häufig auftretendesProblem, die Kniegelenkarthrose (Gelenkverschleiß), beginnen. ImAnschluss werden wir uns einigen grundlegenden Fragen über dieAnwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in <strong>der</strong> Praxis widmen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


202 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?Die Untersuchung hat unsereDiagnose also bestätigt. Jetztmüssen wir entscheiden, wiewir bei Ihnen am bestenvorgehen wollen.1. Was würde passieren, wenn ich gar nichts täte?2. Welche Behandlungen können Sie mir vorschlagen?3. Welche davon <strong>ist</strong> <strong>für</strong> mich wohl am besten geeignet?4. <strong>Wo</strong>rin liegen wahrscheinlich die Vorteile?Gibt es dabei irgendwelche Nachteile <strong>für</strong> mich?Abbildung 13: Gespräch zwischen Arzt und Patient und einige Fragen, die man stellensollte.– Fragen, die Patienten mit den verschiedensten Krankheitsbil<strong>der</strong>nbeantwortet wissen wollen, wenn sie <strong>eine</strong>n Arzt aufsuchen, und Fragen,welche die Leser dieses Buchs nach <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> vorangegangenenKapitel zu Recht werden stellen wollen.Partizipative Entscheidungsfindung:Besuch beim Arzt wegen <strong>eine</strong>r häufigen ErkrankungArzt: Nun, Sie leiden an <strong>eine</strong>r mittelschweren Kniegelenkarthrose.Das kommt häufiger vor, wenn man älter wird. Man bezeichnet dasauch als Gelenkabnutzung. Der normale Krankheitsverlauf <strong>ist</strong> fluktuierend,d. h. es geht mal besser, und mal geht es schlechter. DieserGelenkverschleiß schreitet aber nur langsam im Laufe von Jahrenbzw. Jahrzehnten voran. Welche Beschwerden haben Sie <strong>der</strong>zeit?Patient: Na ja, wenn ich es übertreibe, schmerzen die Knie dochziemlich. Das kann dann über Stunden anhalten, sodass ich Problememit dem Schlafen habe. Vor kurzem sind die Schmerzen schlimmergeworden. Deshalb habe ich mich gefragt, ob ich wohl <strong>eine</strong>nKniegelenkersatz brauche.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 203Arzt: Ein Kniegelenkersatz <strong>ist</strong> sicher <strong>eine</strong> Option, aber normalerweisegreifen wir auf diese Möglichkeit erst zurück, wenn einfachereMaßnahmen versagen.Patient: Was können Sie mir also sonst vorschlagen?Arzt: Nun, einfache Analgetika o<strong>der</strong> entzündungshemmende Medikamentekönnen die Schmerzen lin<strong>der</strong>n. Abgesehen von Medikamentenkönnen aber auch einige spezielle Übungen zur Stärkung<strong>der</strong> Muskeln im Bereich des Kniegelenks helfen, die Funktionsfähigkeitdes Knies zu erhalten und die Schmerzen zu verringern. MöchtenSie gern mehr darüber wissen?Patient: Die Medikamente bereiten mir Magenprobleme. Deshalbwürde ich gern mehr über die Übungen erfahren.Arzt: Schön. Ich gebe Ihnen <strong>eine</strong> Broschüre mit, in <strong>der</strong> einige Übungenerklärt werden. Aber Sie sollten auch Ihren Physiotherapeutenaufsuchen. In <strong>der</strong> Zwischenzeit können Sie gegen die Schmerzengefahrlos regelmäßig Paracetamol einnehmen und sich einfach vielbewegen.Patient: Das <strong>ist</strong> gut zu wissen. Aber gibt es sonst k<strong>eine</strong> an<strong>der</strong>en Behandlungsmöglichkeitenmehr?Arzt: Für die Behandlung <strong>eine</strong>r schweren Arthrose sind noch weitereBehandlungsmöglichkeiten verfügbar. Aber in diesem Stadiumwerden Sie vielleicht feststellen, dass Sie <strong>eine</strong> stetige Besserung erzielenkönnen, wenn Sie Ihre Muskeln mithilfe <strong>der</strong> Übungen aufbauen.Dann werden Sie auch wie<strong>der</strong> besser schlafen, weil Sie wenigerSchmerzen haben und insgesamt wie<strong>der</strong> mehr le<strong>ist</strong>en können. Siekönnten auch schwimmen gehen o<strong>der</strong> öfter mit Ihrem Hund rausgehen.Das stärkt nicht nur Ihre Muskeln, son<strong>der</strong>n hilft Ihnen auch,sich «wohl zu fühlen». Außerdem können Sie so auch Ihr Gewichtin Schach halten! Ich denke, über drastischere Optionen brauchenwir jetzt noch nicht nachzudenken. Wir warten erst einmal ab, wieSie mit den Übungen und dem Schmerzmittel zurechtkommen.Aber kommen Sie ruhig wie<strong>der</strong> vorbei, wenn Sie mit Ihren Fortschrittennicht zufrieden sind.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


204 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?Fragen zur Umsetzung von wissenschaftlicher Evidenzin die PraxisFrage 1: Wenn ein Patient an <strong>eine</strong>r lebensbedrohlichenKrankheit leidet, lohnt es sich dann nicht, alles Erdenklichezu versuchen?Es kann durchaus verlockend sein, das neueste «Wun<strong>der</strong>mittel»auszuprobieren o<strong>der</strong> dem Beispiel von Prominenten zu folgen, diein <strong>der</strong> Boulevardpresse Behauptungen über <strong>eine</strong> Therapie aufstellen,die sie selber ausprobiert haben wollen, vielleicht sogar ein«alternativmedizinisches» Verfahren, das sich gut verkauft, das abernie getestet wurde. Schulmedizinische Maßnahmen muten dagegenmitunter sehr viel weniger glanzvoll und vielversprechend an. Dieme<strong>ist</strong>en dieser Therapien, die bei lebensbedrohlichen Krankheitenzur Anwendung kommen, sind jedoch gewissenhaften Tests unterzogenworden, um herauszufinden, wie wirksam und unbedenklichsie sind. Sich also zunächst einmal mit <strong>der</strong> besten Evidenz vertrautzu machen, kann viel Zeit, Kummer und Geld sparen.Im Großen und Ganzen erkennt die Schulmedizin an, dass hinsichtlich<strong>der</strong> Wirksamkeit und Unbedenklichkeit <strong>der</strong> auf dem Marktbefindlichen Medikamente gewisse Unsicherheiten herrschen. Sie<strong>ist</strong> deshalb bestrebt, diese Unsicherheiten durch Tests sowie dieständige und systematische Auswertung <strong>der</strong> Evidenz auf ein akzeptablesMaß zu verringern, um die angebotenen Therapien auf dieseWeise zu verbessern. Solche Verbesserungen hängen in ganz entscheidendemMaße von <strong>der</strong> Mitwirkung von Patienten ab, die erkannthaben, dass dies die einzige Möglichkeit <strong>ist</strong>, um <strong>eine</strong>n dauerhaftenFortschritt zu erzielen.Verständlicherweise sind Patienten mit lebensbedrohlichenKrankheiten entschlossen, alles Mögliche auszuprobieren, auch ungeprüfte«Therapien». Für sie wäre es aber deutlich besser, wenn siedie Teilnahme an <strong>eine</strong>r <strong>für</strong> sie geeigneten klinischen Studie in Betrachtziehen würden, in <strong>der</strong> <strong>eine</strong> neue Therapie mit <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitbesten Behandlung verglichen wird. Ein solcher Vergleich decktnicht nur auf, welche zusätzlichen Vorteile die neue Behandlungmöglicherweise mit sich bringt, son<strong>der</strong>n auch, welche Schäden sie© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 205hervorrufen könnte. Lebensbedrohliche Krankheiten bedürfen mitunterhoch wirksamer Therapien – und es gibt k<strong>eine</strong> Therapie, dienicht auch irgendwelche Nebenwirkungen hätte. Umso wichtiger <strong>ist</strong>es, dass <strong>eine</strong> neue Therapie gründlich und auf faire Weise getestetwird, um die Ergebnisse systematisch erfassen und feststellen zukönnen, ob sie den Patienten wirklich hilft.Frage 2: Vielleicht möchten Patienten wissen, ob <strong>eine</strong> Therapiewirkt. Doch was <strong>ist</strong>, wenn sie nicht alle Einzelheiten erfahrenwollen?Es <strong>ist</strong> wichtig, das richtige Maß zwischen Informationsüberladung<strong>eine</strong>rseits und dem Vorenthalten von brauchbaren Informationenan<strong>der</strong>erseits zu finden, damit die Patienten <strong>eine</strong> ausreichend informierteEntscheidung treffen können. Ebenso wichtig <strong>ist</strong> es, daran zudenken, dass ein Patient, wenn er auf dem Weg zu <strong>eine</strong>r Entscheidungjeweils das Für und Wi<strong>der</strong> abwägen muss, anfangs nur wenige,im weiteren Verlauf aber mehr Informationen benötigt. Während<strong>der</strong> Konsultation sollte sich sowohl beim Arzt als auch beim Patientendas Gefühl einstellen, dass <strong>der</strong> Patient die Menge an Informationenerhalten hat, die er braucht, um im Weiteren gemeinsam mitdem Arzt entscheiden zu können, worin die <strong>der</strong>zeit beste Behandlungsmaßnahme<strong>für</strong> ihn besteht. Doch das <strong>ist</strong> noch nicht alles.Nachdem <strong>der</strong> Patient <strong>eine</strong> Weile über alles nachgedacht hat, hat ervielleicht noch weitere Fragen und möchte nähere Einzelheiten wissen.Dann sollte <strong>der</strong> Arzt ihm helfen herauszufinden, was er möglicherweisenoch wissen muss, und ihm alles, was noch unklar <strong>ist</strong>,erklären.Bei manchen Entscheidungen fällt die Abwägung schwer. Möglicherweiseläuft es darauf hinaus, dass man das kl<strong>eine</strong>re von zweiÜbeln wählen muss. In Kapitel 4 haben wir beispielsweise über dasAortenaneurysma gesprochen – <strong>eine</strong> Aussackung <strong>der</strong> vom Herzenwegführenden Hauptarterie – bei dem es zur Ausbildung <strong>eine</strong>s tödlichverlaufenden Gefäßlecks kommen kann. Das Problem kanndurch <strong>eine</strong>n größeren Eingriff behoben werden. Allerdings versterbenein o<strong>der</strong> zwei pro 100 Patienten bei <strong>der</strong> Operation selbst. Indiesem Fall muss also die operationsbedingte Frühmortalität gegen© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


206 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?das Risiko <strong>eine</strong>r späteren tödlich verlaufenden Aortenruptur abgewogenwerden. Langfr<strong>ist</strong>ig <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Operation die bessere Wahl.Doch entscheiden sich manche Patienten nach eigenem Ermessengegen diesen Eingriff o<strong>der</strong> schieben ihn zumindest auf, weil nochein wichtiges persönliches Ereignis wie z. B. die Hochzeit ihrerTochter ansteht. Anstatt sich also blindlings in <strong>eine</strong> Lösung zu verrennen,die als «einzige Hoffnung» anmutet, <strong>ist</strong> es besser, die jeweiligenRisiken und den richtigen Zeitpunkt abzuwägen.Frage 3: Stat<strong>ist</strong>iken sind verwirrend. Sollten Patienten sichwirklich mit Zahlen befassen?Wie Zahlen manchmal präsentiert werden, kann schon sehr abschreckendwirken – o<strong>der</strong> auch geradewegs in die Irre führen. WennSie zwei Behandlungen aber wirklich miteinan<strong>der</strong> vergleichen o<strong>der</strong>mehr darüber herausfinden möchten, wie sich <strong>eine</strong> Krankheit, an<strong>der</strong> Sie erkrankt sind, bei an<strong>der</strong>en Menschen auswirkt, kommenimmer irgendwo Zahlen ins Spiel. Einige Darstellungsformen eignensich da<strong>für</strong> aber besser als an<strong>der</strong>e.Um die Bedeutung von Zahlen <strong>für</strong> medizinische Laien (und auchÄrzte!) zu veranschaulichen, eignen sich Häufigkeiten am besten.Das bedeutet, es wird mit ganzen Zahlen gerechnet. So <strong>ist</strong> beispielsweisedie Formulierung «15 von 100 Personen» <strong>der</strong> Angabe 15 %generell vorzuziehen. Zudem hilft es oftmals, die Zahlen nicht nurmit <strong>Wo</strong>rten auszudrücken, son<strong>der</strong>n auch irgendwie graphisch darzustellen– z. B. in Form <strong>eine</strong>s Balkendiagramms (Abb. 14), <strong>eine</strong>sKreis- o<strong>der</strong> Tortendiagramms, in Form von Strichmännchen/Smileys und traurigen Gesichtern in Kästen etc. o<strong>der</strong> in Tabellenform.Zahlen mit dieser Art von «Entscheidungshilfe» darzustellen,gewährle<strong>ist</strong>et, dass möglichst viele Menschen die Bedeutung <strong>der</strong>Daten verstehen.Um die Wirkung von Blutdruckmedikamenten auf das Risiko<strong>für</strong> <strong>eine</strong> Herzkrankheit und <strong>eine</strong>n Schlaganfall bei Patienten mitBluthochdruck im Laufe von zehn Jahren darzustellen, eignet sichbeispielsweise ein Balkendiagramm. 3Von 100 Menschen mit nicht behandeltem Bluthochdruck werdenin den nächsten zehn Jahren erwartungsgemäß 13 <strong>eine</strong> Herz-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 207Anzahl <strong>der</strong> Betroffenen1009080706050403020100130871128710387Wird mit o<strong>der</strong> ohneBehandlung an <strong>eine</strong>mHerzleiden o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>mSchlaganfall erkrankenDie Behandlung wird<strong>eine</strong> Herzkrankheit o<strong>der</strong><strong>eine</strong>n Schlaganfallverhin<strong>der</strong>nK<strong>eine</strong>BehandlungBlutdruckmedikamentABlutdruckmedikamentBWird mit o<strong>der</strong> ohneBehandlung NICHT an<strong>eine</strong>m Herzleiden o<strong>der</strong><strong>eine</strong>m SchlaganfallerkrankenAbbildung 14: Was wird mit 100 Menschen in <strong>der</strong>selben Situation im Laufe <strong>der</strong> nächsten10 Jahre passieren?krankheit entwickeln o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Schlaganfall erleiden. Wenn alle100 Personen das Blutdruckmedikament A nähmen, würden 11 vonihnen <strong>eine</strong> Herzkrankheit o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Schlaganfall bekommen – undbei zwei von ihnen ließe sich <strong>eine</strong> Herzerkrankung o<strong>der</strong> ein Schlaganfallvermeiden. Hätten alle 100 Patienten BlutdruckmedikamentB eingenommen, dann käme es bei 10 von ihnen zu <strong>eine</strong>rHerzkrankheit o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>m Schlaganfall, was bei dreien von ihnenvermeidbar wäre. Das <strong>ist</strong> einfach. Und doch werden diese einfachenZahlen häufig in <strong>Wo</strong>rte gekleidet, die nur Stat<strong>ist</strong>iker verstehenkönnen.Sehen wir uns nun an, wie sich diese Zahlen statt in <strong>eine</strong>m Balkendiagrammin <strong>eine</strong>r Tabelle ausnehmen (Tab. 3). In diesem Beispielkonzentrieren wir uns auf die bessere Therapie – in diesem FallMedikament B: Dazu wollen wir die Zahlen zunächst als natürlicheHäufigkeiten (einfache Zahlen) ausdrücken, die wir uns im Anschlussgenauer ansehen wollen.Ohne Behandlung beträgt das Risiko <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Herzerkrankungo<strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Schlaganfall 13 % (o<strong>der</strong> 13 von 100), während es bei Behandlungmit Medikament B 10 % (o<strong>der</strong> 10 von 100) sind – dasmacht <strong>eine</strong>n Unterschied von 3 % (o<strong>der</strong> 3 von 100) aus. Da durchMedikament B drei von 13 Fällen <strong>eine</strong>r Herzerkrankung o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>s© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


208 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?Tabelle 3: Herzinfarkt- bzw. Schlaganfallrisiko mit und ohne Behandlung.K<strong>eine</strong> BehandlungBehandlung mitMedikament BHerzerkrankung bzw.Schlaganfall(im Laufe von 10 Jahren)K<strong>eine</strong> Herzerkrankung bzw.kein Schlaganfall13 von 100 Personen 10 von 100 Personen87 von 100 Personen 90 von 100 PersonenInsgesamt 100 100Schlaganfalls verhin<strong>der</strong>t werden, die sonst aufgetreten wären, beträgtdie relative Risikoreduktion 3/13 o<strong>der</strong> ca. 23 %. Wir könnenalso sagen, dass mit Behandlung B die absolute Risikoreduktion 3 %und die relative Risikoreduktion 23 % beträgt. Das sind zwei verschiedeneMöglichkeiten, um ein und dasselbe auszudrücken.Die relative Risikoreduktion gibt immer <strong>eine</strong>n höheren Zahlenwertan – manchmal auch <strong>eine</strong>n sehr viel höheren – und erregt deshalbauch deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wenn Sie also irgendwo<strong>eine</strong> Schlagzeile sehen, in <strong>der</strong> es heißt: «23 % Schlaganfälle verhin<strong>der</strong>t»,dann sagt das gar nicht aus. Denn alle weiteren Angaben zurspezifischen Personengruppe <strong>der</strong> Betroffenen, zur Zeitspanne bzw.,was am wichtigsten <strong>ist</strong>, zur Höhe des Schlaganfallrisikos ohne <strong>eine</strong>Behandlung fehlen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich in diesemFall um die relative Risikoreduktion (aber das müssten Sie prüfen).Manchmal unterscheiden sich die Zahlen beträchtlich voneinan<strong>der</strong>.Sehen wir uns <strong>eine</strong>n Zeitungsbericht über <strong>eine</strong> Studie zumProstatakrebs-Screening an: «Könnte die Zahl <strong>der</strong> Todesfälle um20 % senken» klingt nach viel. Die Ergebnisse hätten aber auch an<strong>der</strong>sausgedrückt werden können, und zwar als 1 verhin<strong>der</strong>ter Todesfallpro 1 410 gescreente Männer (o<strong>der</strong> als klitzekl<strong>eine</strong> 0,07 %,d. h. die Verhütung von sieben vorzeitigen Todesfällen pro zehntausendgescreente Männer). Die 20 % geben die relative Risikoreduktionund die 0,07 % die absolute Risikoreduktion an. Letztere <strong>ist</strong>sehr viel niedriger, weil die Sterblichkeitsrate bei Prostatakrebsniedrig <strong>ist</strong> – und es wahrscheinlich nicht bis in die Schlagzeilen geschaffthätte. Die Quintessenz lautet: Wenn <strong>eine</strong> Behauptung in ei-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 209ner Schlagzeile viel zu optim<strong>ist</strong>isch klingt, dann <strong>ist</strong> sie es wahrscheinlichauch! 4Es kommt also auf die Zahlen an, und richtig präsentiert könnensie bei <strong>der</strong> Entscheidungsfindung sogar helfen. Patienten sollten sichnicht scheuen, ihren Arzt zu bitten, ihnen die Ergebnisse so zu erklären,dass sie sie auch problemlos verstehen können – bei Bedarfund wenn es <strong>der</strong> Klarheit dient auch mithilfe von bildlichen Darstellungen.Wenn Entscheidungen über <strong>eine</strong> Behandlung gemeinsamgetroffen werden sollen, dann müssen sich Ärzte wie auch Patientenklar darüber sein, was die Zahlen tatsächlich bedeuten.Lassen Sie sich von aufsehenerregenden Stat<strong>ist</strong>iken nicht ins Bockshorn jagen«Sagen wir, Ihr Risiko, im Alter zwischen 50 und 60 Jahren <strong>eine</strong>n Herzinfarkt zuerleiden, <strong>ist</strong> um 50 % höher, wenn Sie <strong>eine</strong>n hohen Cholesterinspiegel haben. Dashört sich ziemlich schlimm an. Wenn wir sagen, dass Ihr zusätzliches Risiko, <strong>eine</strong>nHerzinfarkt zu bekommen, bei <strong>eine</strong>m hohen Cholesterinspiegel nur 2 % beträgt,hört sich das <strong>für</strong> mich ganz in Ordnung an. Es handelt sich aber um dieselben(hypothetischen) Zahlen. Versuchen wir es einmal damit: Von hun<strong>der</strong>t Männernzwischen 50 und 60 Jahren mit <strong>eine</strong>m normalen Cholesterinspiegel werden viererwartungsgemäß <strong>eine</strong>n Herzinfarkt erleiden; dagegen <strong>ist</strong> zu erwarten, dass vonhun<strong>der</strong>t Männern mit <strong>eine</strong>m hohen Cholesterinspiegel sechs <strong>eine</strong>n Herzinfarkterleiden werden. Das macht pro hun<strong>der</strong>t zwei zusätzliche Herzinfarkte.»Goldacre B. Bad Science. London: Fourth Estate 2008, S. 239–240.Frage 4: Wie kann ein Patient wissen, ob die wissenschaftlicheEvidenz auf ihn zutrifft?Alle Entscheidungen beruhen auf allen möglichen früheren – individuelleno<strong>der</strong> kollektiven – Erfahrungswerten. Faire Therapietestswie etwa randomisierte Studien sind gut strukturierte Versionendieser Erfahrungen. Sie sind dazu ausgelegt, systematische Fehlerauf ein Minimum zu begrenzen. Aber ob nun gut strukturiert o<strong>der</strong>nicht, es wird immer <strong>eine</strong> gewisse Unsicherheit bezüglich <strong>der</strong> Fragebleiben, inwieweit frühere Erfahrungen in <strong>eine</strong> Empfehlung <strong>für</strong> dennächsten Patienten einfließen können. Wenn also die Patienten, diein fairen Therapietests untersucht wurden, <strong>eine</strong> ähnliche Krankheitin <strong>eine</strong>m ähnlichen Stadium o<strong>der</strong> mit <strong>eine</strong>m ähnlichen Schweregradhatten wie <strong>der</strong> fragliche Patient, dann lautet die vernünftigste Annahme,dass dieser Patient ähnlich auf die Therapie anspricht – es© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


210 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?sei denn, es liegt ein guter Grund <strong>für</strong> die Annahme vor, dass dieStudienpatienten ganz an<strong>der</strong>e Eigenschaften hatten o<strong>der</strong> sich ihreKrankheit deutlich von <strong>der</strong> des fraglichen Patienten unterschied.Aber auch wenn die Evidenz auf ihn anwendbar wäre, könnte<strong>der</strong> Patient natürlich zu Recht fragen: «Die Menschen sind dochalle verschieden. Also werden sie doch auch unterschiedlich aufTherapien ansprechen?» Ein «fairer Therapietest» sagt uns nur, wie<strong>eine</strong> Therapie im Durchschnitt wirkt, garantiert aber nur selten,dass sie bei allen Menschen gleich gut wirkt; und sie kann üblicherweisenicht vorhersagen, bei wem unerwünschte Nebenwirkungenauftreten werden. Die wissenschaftliche Evidenz kann Orientierungshilfengeben, welche Behandlung wahrscheinlich am besten<strong>ist</strong>, damit sie dann beim einzelnen Patienten ausprobiert werdenkann. Bei <strong>eine</strong>m Exanthem (ein entzündlicher Hautausschlag) beispielsweisekönnte die <strong>evidenzbasierte</strong> Therapie auf <strong>eine</strong> Körperregionangewendet werden, während ein an<strong>der</strong>er Körperbereich alsKontrolle dient (s. Kap. 6, S. 120). Durch den Vergleich des Ansprechensin den beiden Körperregionen können Arzt und Patienterkennen, ob die Therapie wirkt o<strong>der</strong> ob <strong>eine</strong> unerwünschte Wirkungauftritt. Wenn <strong>der</strong>matologische Therapien – z. B. Aknetherapienim Gesicht – zum ersten Mal bei <strong>eine</strong>m Patienten angewendetwerden, <strong>ist</strong> es sogar üblich, zunächst einmal ein «Testpflaster»aufzubringen.Me<strong>ist</strong>ens haben wir aber nicht das Glück, <strong>eine</strong>n so direkten Vergleichzur Hand zu haben. Bei einigen chronischen und nicht lebensbedrohlichenProblemen wie Schmerzen o<strong>der</strong> Juckreiz kannman ein Medikament beim selben Patienten in bestimmten Zeiträumenwie<strong>der</strong>holt geben und absetzen. Ein solches Vorgehen wirdauch als N-gleich-1-Studie (engl.: n-of-1 trial) bezeichnet; das bedeutet,dass die Anzahl <strong>der</strong> Teilnehmer (N) in <strong>der</strong> Studie eins beträgt– also <strong>eine</strong>n einzigen Patienten umfasst. Die Prinzipien, die wirin Kapitel 6 <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n fairen Vergleich erarbeitet haben, gelten auch<strong>für</strong> solche Studien mit einzelnen Patienten, einschließlich <strong>eine</strong>r unverzerrteno<strong>der</strong> verblindeten Bewertung des Behandlungsergebnissesusw. Im Idealfall würden wir <strong>für</strong> die Hauttherapien o<strong>der</strong> Tablettendann Placebokontrollen einsetzen, aber das lässt sich oftmalsnur schwer organisieren.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 211Bei vielen Krankheiten haben wir nicht die Möglichkeit, <strong>eine</strong>Therapie auszuprobieren und abzuwarten, was passiert: Das Behandlungsergebnis<strong>ist</strong> nicht zeitnah verfügbar o<strong>der</strong> zu ungewiss. Obbeispielsweise Aspirin bei <strong>eine</strong>m Patienten <strong>eine</strong>n Schlaganfall verhin<strong>der</strong>t,kann man erst erkennen, wenn es zu spät <strong>ist</strong>. In <strong>der</strong> Präventivmedizinstellt das in den me<strong>ist</strong>en Fällen ein Problem dar. Dasselbegilt auch <strong>für</strong> die Behandlung zahlreicher akuter Erkrankungenwie z. B. Hirnhautentzündung (Meningitis), Lungenentzündung(Pneumonie) o<strong>der</strong> Schlangenbisse, bei denen wir k<strong>eine</strong> Gelegenheithaben, die Therapie bei jedem einzelnen Patienten zu testen undabzuwarten. Deshalb sind wir darauf angewiesen zu prüfen, ob undwie wir die Evidenz aus den Erfahrungen mit <strong>der</strong> Untersuchungan<strong>der</strong>er Patienten anwenden können.Wenn wir in <strong>der</strong> Praxis dann Glück haben und die Evidenz sichauf <strong>eine</strong>n Patienten anwenden lässt, muss man sich unbedingt fragen,inwiefern sich <strong>der</strong> Schweregrad <strong>der</strong> Krankheit bei diesem Patienten(bzw. bei Gesunden das vorhergesagte Risikoausmaß) mitdem <strong>der</strong> Studienpatienten vergleichen lässt. Im Allgem<strong>eine</strong>n profitierenschwerer erkrankte Patienten stärker von <strong>eine</strong>r Therapie alsweniger schwer erkrankte. Wenn also <strong>der</strong> Schweregrad gleich o<strong>der</strong>höher <strong>ist</strong> als in den Studien, in denen <strong>der</strong> Nutzen <strong>eine</strong>r Therapienachgewiesen wurde, dann können wir in <strong>der</strong> Regel darauf vertrauen,dass sich die Evidenz auf unseren Patienten übertragen lässt.Wenn ihre Krankheit weniger schwer <strong>ist</strong> (bzw. die noch Gesundenein vergleichsweise geringeres vorhergesagtes Risiko aufweisen),lautet die wichtigste Frage, ob auch ein Nutzen, <strong>der</strong> geringer als <strong>der</strong>in den Studien beobachtete ausfällt, noch als lohnenswert angesehenwerden kann.Frage 5: Bedeuten genetische Untersuchungen und«personalisierte <strong>Medizin</strong>» nicht, dass Ärzte <strong>für</strong> jeden einzelnenPatienten <strong>eine</strong> spezifische Therapie entwickeln könnten, unddass alles, was wir hier erörtert haben, damit hinfällig wird?Obwohl <strong>der</strong> Gedanke, dass wir bei Bedarf <strong>für</strong> jeden einzelnen Patienten<strong>eine</strong> spezifische Therapie entwickeln könnten, zweifellosverlockend und <strong>für</strong> einige wenige Krankheiten vielleicht auch mach-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


212 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?bar <strong>ist</strong>, so erscheint es doch sehr unwahrscheinlich, dass sich dieserAnsatz in <strong>der</strong> Behandlung von Patienten auf breiter Front durchsetzenwird. Wie wir schon im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Besprechunggenetischer Untersuchungen erläutert haben (Kap. 4, S. 81 f.), hängt<strong>der</strong> Ausbruch <strong>der</strong> me<strong>ist</strong>en Krankheiten nicht nur von komplexenWechselwirkungen zwischen mehreren Genen, son<strong>der</strong>n auch vonden sogar noch viel komplexeren Wechselwirkungen zwischen Genenund Umweltfaktoren ab.Die Ergebnisse genetischer Analysen sind wichtig als Entscheidungshilfe<strong>für</strong> Familien und Einzelpersonen mit erblichen Krankheitenwie Chorea Huntington, Thalassämien (erbliche Blutungsstörungen)sowie einigen an<strong>der</strong>en (me<strong>ist</strong> seltenen) Krankheiten.Diese genetischen Informationen erweisen sich bei <strong>der</strong> Beratungvon Familien, in denen diese Krankheiten gehäuft auftreten, als großerSegen. Was aber häufiger auftretende Krankheiten, an denen wiralle erkranken können, betrifft, so liefert die genetische Untersuchungzusätzlich zu den Informationen, die aus <strong>der</strong> Familienanamneseund <strong>der</strong> klinischen Untersuchung bekannt sind, allerdings nurwenig Neues. Auch wenn sich diese Situation wahrscheinlich nochän<strong>der</strong>n wird, bedeutet unser <strong>der</strong>zeit begrenztes Wissen, dass wir unsvor <strong>eine</strong>r Überbewertung <strong>der</strong> Risiken <strong>für</strong> die häufigen Krankheiten,die sich auf <strong>der</strong> Grundlage von Genanalysen vorhersagen lassen,hüten müssen.Wir sollten an dieser Stelle erklären, dass k<strong>eine</strong>r <strong>der</strong> Autoren diesesBuchs sein genetisches Profil in Auftrag gegeben hat o<strong>der</strong> dies zutun beabsichtigt. Deshalb sollte es Sie auch nicht wun<strong>der</strong>n, dass wiruns im Allgem<strong>eine</strong>n gegen genetische Untersuchungen aussprechen,es sei denn, ein Patient hat entwe<strong>der</strong> <strong>eine</strong> Familienanamnese,die Anhaltspunkte gibt <strong>für</strong> das Vorliegen <strong>eine</strong>r bestimmten bekanntenerblichen Krankheit o<strong>der</strong> <strong>eine</strong> <strong>der</strong> wenigen <strong>der</strong>zeit bekanntenKrankheiten, bei denen ein Gen o<strong>der</strong> mehrere Gene eindeutig vorhersagen,wer von ihnen auf <strong>eine</strong> Therapie ansprechen wird.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 213Frage 6: Wie kann jemand, <strong>der</strong> an <strong>eine</strong>r Krankheit leidet, diegerade in <strong>eine</strong>r laufenden klinischen Studie untersucht wird,und dessen Arzt nichts von dieser Studie weiß, doch etwasdarüber herausfinden?Weniger als <strong>eine</strong>r von 100 Arztbesuchern wird <strong>für</strong> <strong>eine</strong> klinischeStudie angemeldet. Je nach Krankheit und äußeren Bedingungenunterliegt dieser Anteil erheblichen Schwankungen. Selbst innerhalbvon Krebszentren – in denen Studien allgemein anerkannt sindund weithin genutzt werden – herrscht in diesem Punkt <strong>eine</strong> enormeBandbreite: Die me<strong>ist</strong>en an Krebs erkrankten Kin<strong>der</strong> werden inStudien aufgenommen, aber bei den Erwachsenen sind es wenigerals <strong>eine</strong>r von zehn. In den me<strong>ist</strong>en Fällen richtet sich die Aufnahmein <strong>eine</strong> Studie danach, welches Zentrum <strong>der</strong> Patient zur Behandlungaufsucht: Nimmt das Zentrum nicht an <strong>eine</strong>r Studie teil, dann könnensie auch k<strong>eine</strong> Patienten rekrutieren. Deshalb müssen sich Patientenunter Umständen nach <strong>eine</strong>m Zentrum erkundigen, das sichan klinischen Studien beteiligt. Es gibt einige ambulante Studien,<strong>für</strong> die sich Patienten direkt anmelden können. Solche Studien werdenhäufiger im Rahmen von Forschungsvorhaben durchgeführt,anhand <strong>der</strong>er man herausfinden möchte, wie man Menschen mitpsychischen Gesundheitsproblemen wie z. B. <strong>eine</strong>r Depression o<strong>der</strong>Angststörung helfen kann. Für einige an<strong>der</strong>e Studien werden dieTeilnehmer neuerdings auch direkt über das Internet rekrutiert.Beispielsweise wurden <strong>für</strong> <strong>eine</strong> vor kurzem durchgeführte Studie, in<strong>der</strong> die Wirkungen von Dehnübungen vor <strong>der</strong> Aufnahme sportlicherAktivitäten beurteilt werden sollten, alle Teilnehmer auf dieseWeise rekrutiert: Sie haben niemals <strong>eine</strong> Klinik aufgesucht, son<strong>der</strong>nsämtliche Anweisungen über das Internet erhalten. Auch die Nachbeobachtungwurde über das Internet durchgeführt.Wenn Ärzte zögern, ihre Patienten <strong>für</strong> die Teilnahme an Studienanzumelden, sollten die Patienten versuchen, den Grund da<strong>für</strong> herauszufinden.Es könnte beispielsweise sein, dass <strong>der</strong> Patient nichtwirklich <strong>für</strong> die Studienteilnahme geeignet <strong>ist</strong>. Es kann aber aucheinfach daran liegen, dass <strong>der</strong> Arzt die zusätzliche Arbeit in <strong>der</strong> Formvon belastenden regulatorischen Anfor<strong>der</strong>ungen scheut (s. Kap. 9).Patienten, die glauben, dass sie sich wahrscheinlich <strong>für</strong> die Teilnah-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


214 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?me an <strong>eine</strong>r laufenden Studie eignen, sollten daher nicht locker lassen.Wenn <strong>eine</strong> passende Studie läuft und ein Patient klarstellt, dasser unbedingt daran teilnehmen möchte, sollte sein Arzt dies unterstützen(s. a. den Abschnitt «Zusätzliche Quellen» ab. S. 247).Frage 7: Wie lässt sich am besten feststellen, ob die Evidenz(im Netz o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>swo) zuverlässig <strong>ist</strong>? <strong>Wo</strong>rauf sollte mandabei achten?Lei<strong>der</strong> gibt es k<strong>eine</strong> hun<strong>der</strong>tprozentig verlässlichen Kennzeichen, andenen sich ablesen lässt, ob <strong>eine</strong> Information zuverlässig <strong>ist</strong>. Wennman sich selber nicht mit <strong>der</strong> Originalliteratur befassen will, mussman sich in diesem Punkt auf die Einschätzung Dritter verlassen.Deshalb <strong>ist</strong> es wichtig, die mutmaßliche Kompetenz <strong>der</strong> betreffendenPerson (o<strong>der</strong> Organisation) zu beurteilen und festzustellen, obes da irgendwo Interessenkonflikte (o<strong>der</strong> <strong>eine</strong> offene Rechnung)gibt. Wenn nicht, sollten Sie sich fragen, ob Sie darauf vertrauen,dass diese Person die besten Forschungserkenntnisse aufgespürtund ausgewertet hat: Wurden die Forschungsergebnisse beschrieben?Sind entsprechende Literaturangaben vorhanden?Angenommen, jemand möchte z. B. wissen, ob Beta-Carotin(Vorstufe von Vitamin A) das Krebsrisiko erhöht o<strong>der</strong> es senkt. EineSuche in Google nach «beta-carotene cancer» liefert mehr als800 000 Treffer. Sieht man sich die ersten zehn Treffer an, dann findensich darunter vier Primärstudien und sechs Übersichtsarbeiteno<strong>der</strong> Meinungen. Unter dreien dieser sechs Links standen Werbeanzeigen<strong>für</strong> Vitamine o<strong>der</strong> alternative Medikamente auf <strong>der</strong>selbenSeite: ein beunruhigendes Zeichen.Auf <strong>eine</strong>r dieser schlechteren Webseiten heißt es:Frage: Beugt Beta-Carotin Krebs vor? Antwort: Studien haben gezeigt,dass Beta-Carotin helfen kann, das Krebsrisiko zu senken. Beta-Carotinkommt in gelben, roten und dunkelgrünen Gemüsesorten, aberauch in Früchten vor. Man geht allgemein davon aus, dass die Einnahme<strong>eine</strong>s Beta-Carotin-haltigen Nahrungsergänzungsmittels dieselbeWirkung hat wie <strong>der</strong> Verzehr von Obst und Gemüse, das Beta-Carotin© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 215enthält. Dies <strong>ist</strong> aber nicht <strong>der</strong> Fall. In Studien wurde unter den Studienteilnehmernein erhöhtes Lungenkrebsrisiko festgestellt.Abgesehen von den Werbeanzeigen werden zwar «Studien» erwähnt,sie werden aber nicht näher beschrieben bzw. es werdenk<strong>eine</strong> Literaturangaben zu veröffentlichten Studien gemacht – dassollte Sie aufhorchen lassen. Es lässt sich unmöglich sagen, ob <strong>der</strong>Autor diese «Studien» recherchiert und ausgewertet hat o<strong>der</strong> lediglichüber Studien gestolpert <strong>ist</strong>, <strong>der</strong>en Schlussfolgerungen ihm gefallenhaben.Stellen wir dieser Website den Eintrag in Wikipedia gegenüber (<strong>der</strong>ebenfalls unter den ersten zehn Treffern genannt wird):Eine Übersichtsarbeit über alle randomisierten, kontrollierten Studienim wissenschaftlichen Schrifttum, die von <strong>der</strong> Cochrane Collaborationerstellt und 2007 in JAMA veröffentlicht wurde, ergab, dass Beta-Carotindie Sterblichkeit um 1 bis 8 % erhöht (relatives Risiko 1,05,95 %-Konfidenzintervall 1,01 bis 1,08). [15]] Allerdings umfasste dieseMeta-Analyse zwei große Studien über Raucher, sodass nicht klar <strong>ist</strong>,ob die Ergebnisse auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar sind. [16]Dieser Eintrag nennt die Art <strong>der</strong> Evidenz (randomisierte Studien)und gibt die Literaturstellen an (die hochgestellten Zahlen in eckigenKlammern). Die Tatsache, dass k<strong>eine</strong> Werbeanzeigen auf <strong>der</strong>Seite zu finden sind und spezifische Angaben zur Evidenz gemachtwerden, schafft Vertrauen.Frage 8: Gibt es zuverlässige, empfehlenswerteInformationsquellen?Es gibt k<strong>eine</strong> Informationsquelle, die über alle Krankheiten undTherapien Auskunft gibt. Um die in diesem Buch vorgestelltenPrinzipien anzuwenden, möchte vielleicht <strong>der</strong> <strong>eine</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>eLeser s<strong>eine</strong> Fertigkeiten in diesem Bereich noch weiterentwickeln.Ergänzend zu Kapitel 6 bis 8 in diesem Buch gibt das Buch SmartHealth Choices 5 etliche Tipps, wie man hochwertige Gesundheitsin-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


216 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?formationen findet und worauf man dabei achten sollte. Ab S. 247finden Sie weitere Lektüreempfehlungen.Nur wenige <strong>der</strong> vorhandenen Webseiten beruhen vorwiegendauf systematischen Übersichtsarbeiten. Zu diesen gehören dieCochrane Database of Systematic Reviews (www.cochrane.org/cochrane-reviews o<strong>der</strong> summaries.cochrane.org), die vorwiegendenglischsprachige Zusammenfassungen <strong>für</strong> Laien enthält, sowie dieInternetseite des Instituts <strong>für</strong> Qualität und Wirtschaftlichkeit imGesundheitswesen (IQWiG; www.gesundheitsinformation.de). Zudemgibt es zahlreiche Webseiten in englischer Sprache, die generellgute Informationen bereitstellen, sich aber nicht immer auf systematischeReviews <strong>der</strong> besten verfügbaren Evidenz stützen – beispielsweiseNHS Choices (www.nhs. uk) und PubMed Health (www.pubmed.gov/health).Natürlich muss man auf <strong>der</strong> Hut sein. Achten Sie vor allem aufInteressenkonflikte, etwa auf Internetseiten, denen finanzielle Vorteiledaraus erwachsen, wenn die Besucher <strong>der</strong> Webseite die angebotenenInformationen glauben, o<strong>der</strong> Seiten, die etwas zu verkaufenversuchen. Manchmal lässt sich das allerdings nur schwer erkennen:Beispielsweise erhalten, wie in Kapitel 11 erwähnt, manche Patientenvertretungenfinanzielle Unterstützung von Pharmaunternehmen,die nicht deklariert <strong>ist</strong> und den dargebotenen Informationen<strong>eine</strong> gewisse «Färbung» verleiht.Frage 9: Wie kann man vermeiden, dass man mit <strong>eine</strong>m«Krankheitsetikett» versehen und unnötig behandelt wird?Die <strong>Medizin</strong> hat erstaunliche Fortschritte gemacht: z. B. Impfstoffeund Antibiotika zur Verhütung und Behandlung von Infektionen,Gelenkersatz, Kataraktoperation und die Therapie von Krebserkrankungenbei Kin<strong>der</strong>n, um nur einige wenige zu nennen. Dochdieser Erfolg verführt die <strong>Medizin</strong> auch dazu, ihre Fühler in Bereichevorzustrecken, in denen sie weniger Nutzen mit sich bringt. Für<strong>eine</strong>n Mann mit <strong>eine</strong>m Hammer sieht die ganze Welt wie ein Nagelaus, und <strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Arzt (o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>n Arzneimittelhersteller!) mit <strong>eine</strong>rneuen Therapie sieht alles nach Krankheit aus. Weil z. B. bessereTherapien gegen Diabetes und Bluthochdruck verfügbar geworden© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 217sind, sind Ärzte versucht, die Anwendung dieser Therapien auchihren Patienten vorzuschlagen, <strong>der</strong>en Befunde nur geringfügig vonden Normalwerten abweichen. Dadurch steigt die Anzahl <strong>der</strong> Menschen,die als Diabetiker o<strong>der</strong> Hypertoniker etikettiert werden, dramatischan, sodass viele Menschen «medikalisiert» werden, <strong>der</strong>enWerte früher als normal eingestuft worden wären.Abgesehen von den unerwünschten Wirkungen <strong>der</strong> (zuweilenunnötigen) Behandlungen hat diese «Etikettierung» auch psychischeund soziale Konsequenzen, die das persönliche <strong>Wo</strong>hlbefindenbeeinträchtigen und Probleme am Arbeitsplatz o<strong>der</strong> beim Versicherungsträgermit sich bringen können. Deshalb <strong>ist</strong> es <strong>für</strong> Patientenund Öffentlichkeit wichtig, diese Ereigniskette zu erkennen und ersteinmal innezuhalten, um den wahrscheinlichen Schaden gegen denNutzen abzuwägen, bevor man <strong>eine</strong>r Therapie allzu schnell zustimmt.Wie wir in Kapitel 4 dargelegt haben, sind <strong>für</strong> diese problematischeEtikettierung häufig Screenings verantwortlich, die mitÜberdiagnosen und potenzieller Übertherapie einhergehen.Die erste Verteidigungsstrategie <strong>ist</strong> Wachsamkeit gegenüber solchenEtiketten und weiteren Untersuchungsangeboten. Die scheinbarflapsige Bemerkung, dass ein normaler Mensch jemand <strong>ist</strong>, <strong>der</strong>noch nicht ausreichend untersucht wurde, hat <strong>eine</strong>n sehr ernstenWer <strong>ist</strong> Diabetiker?Wie wird also entschieden, wer Diabetes hat? Als ich <strong>Medizin</strong> studierte, galt folgendeeinfache Regel: Wenn man <strong>eine</strong>n Nüchternblutzucker von mehr als 140hatte, war man Diabetiker. 1997 wurde diese Krankheit vom Expert Committee onthe Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus neu definiert. Danach gilt manbereits ab <strong>eine</strong>m Nüchternblutzuckerspiegel von 126 als Diabetiker. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong><strong>eine</strong>n Blutzuckerspiegel zwischen 126 und 140 hat, wurde früher als normalangesehen, leidet nach dieser Definition nun aber an Diabetes. Diese geringfügigeÄn<strong>der</strong>ung hat aus mehr als 1,6 Millionen Menschen Patienten gemacht.Stellt das ein Problem dar? Kann sein, kann auch nicht sein. Weil wir die Regelngeän<strong>der</strong>t haben, behandeln wir heute mehr Menschen wegen Diabetes. Das kannbedeuten, dass wir bei einigen dieser neuen Patienten die Wahrscheinlichkeit <strong>für</strong>die Entwicklung diabetischer Komplikationen verringert haben. Doch da diesePatienten <strong>eine</strong>n leichteren Diabetes haben (d. h. vergleichsweise niedrige Blutzuckerspiegelzwischen 126 und 140), <strong>ist</strong> ihr Risiko <strong>für</strong> diese Komplikationen aberzunächst einmal auch vergleichsweise gering.Welch HG, Schwartz LM, <strong>Wo</strong>loshin S. Overdiagnosed: making people sickin the pursuit of health. Boston: Beacon Press, 2011: S. 17–18.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


218 <strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus?Hintergrund. Deshalb <strong>ist</strong> es klug, stets nachzufragen, ob <strong>eine</strong> Krankheitmit <strong>eine</strong>m hohen o<strong>der</strong> <strong>eine</strong>m niedrigen Risiko einhergeht, undauch zu fragen, was passieren könnte, wenn man erst einmal abwartenwürde: Wie könnte die Krankheit überwacht werden, und waswäre ein Zeichen da<strong>für</strong>, dass man handeln müsste? Manche Ärztesind erleichtert, wenn Patienten nicht gleich behandelt werden wolleno<strong>der</strong> nicht sofort weitere Untersuchungen verlangen. Es gibtaber auch Ärzte, die in die Etikettenfalle – Etikett = Krankheit =obligatorische Behandlung – hineintappen, weil sie nicht erkennen,dass <strong>der</strong> Patient vielleicht damit zufrieden wäre, erst einmal abzuwarten,um zu sehen, ob s<strong>eine</strong> Beschwerden von allein besser werdeno<strong>der</strong> sich verschlimmern.Wie geht es weiter?Die oben angesprochenen Probleme – mit den individuellen Sorgenund Wertvorstellungen, mit dem Verständnis stat<strong>ist</strong>ischer Zahlenund ihrer Anwendung auf Einzelpatienten und mit den Bedenkengegenüber <strong>der</strong> Ausweitung wirksamer Therapien auf immer leichtereKrankheitsschweregrade – zeigen alle, dass <strong>eine</strong> bessere Kommunikationvonnöten <strong>ist</strong>: und zwar zwischen Arzt und Patient sowiezwischen dem Gesundheitswesen und den Bürgern, denen es dient.Deshalb beenden wir dieses Kapitel mit <strong>der</strong> Salzburger Erklärungzur partizipativen Entscheidungsfindung, in <strong>der</strong> an die verschiedenenGruppen gerichtete Handlungsempfehlungen formuliert sind,die auf <strong>eine</strong> Verbesserung unser aller Zusammenarbeit abzielt. 6, 7Die Salzburger Erklärung zur partizipativen EntscheidungsfindungWir rufen Ärzte dazu auf,• anzuerkennen, dass es ihre ethische Pflicht <strong>ist</strong>, wichtige Entscheidungen zusammenmit ihren Patienten zu treffen;• <strong>eine</strong>n wechselseitigen Informationsfluss anzuregen und ihre Patienten zu ermutigen,Fragen zu stellen, ihre Lebensumstände zu erklären und ihre persönlichenPräferenzen zum Ausdruck zu bringen;• genaue Informationen über Behandlungsalternativen, <strong>der</strong>en Unwägbarkeiten,Nutzen und mögliche Folgeschäden entsprechend den Grundsätzen guterRisikokommunikation zu vermitteln;© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


<strong>Wo</strong>durch zeichnet sich <strong>eine</strong> bessere Gesundheits versorgung aus? 219• die Informationen auf die individuellen Bedürfnisse von Patienten zuzuschneidenund ihnen genügend Zeit zu lassen, ihre Wahlmöglichkeiten abzuwägen;• anzuerkennen, dass die me<strong>ist</strong>en Entscheidungen nicht sofort getroffen werdenmüssen, und Patienten und <strong>der</strong>en Familien Zeit, Ressourcen und Unterstützung<strong>für</strong> ihre Entscheidungsfindung zu geben.Wir rufen Ärzte, Forscher, Verleger, Journal<strong>ist</strong>en und an<strong>der</strong>e Akteure dazu auf,• sicherzustellen, dass sie Informationen veröffentlichen, die klar, evidenzbasiertund aktuell sind, und dass sie Interessenskonflikte offen legen.Wir rufen Patienten dazu auf,• sich zu trauen, Bedenken und Fragen offen zu äußern und deutlich zu machen,was <strong>für</strong> sie wichtig <strong>ist</strong>;• zu erkennen, dass sie ein Recht darauf haben, an ihrer Versorgung gleichberechtigtmitzuwirken;• qualitativ hochwertige Informationen zu Gesundheitsfragen zu suchen und zunutzen.Wir rufen politische Entscheidungsträger dazu auf,• politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die die partizipative Entscheidungsfindungeinschließlich <strong>der</strong>en Messung als Anreiz zur Verbesserung för<strong>der</strong>n;• durch Gesetzesän<strong>der</strong>ungen die Entwicklung von Fähigkeiten und Instrumentenzur partizipativen Entscheidungsfindung zu unterstützen.Warum?Ein großer Teil <strong>der</strong> Versorgung wird gemäß den jeweiligen Fähigkeiten und <strong>der</strong>Bereitschaft <strong>der</strong> Ärzte erbracht, eben diese Versorgung bereitzustellen. Nichtimmer entspricht sie den allgemein anerkannten Standards o<strong>der</strong> geht auf dieWünsche und Präferenzen <strong>der</strong> Patienten ein.Ärzte erkennen häufig nur unzureichend, wie groß <strong>der</strong> Wunsch von Patientennach Beteiligung <strong>ist</strong>, um ihre gesundheitlichen Probleme zu verstehen, <strong>für</strong> sie zurVerfügung stehende Behandlungsalternativen zu kennen und Entscheidungenauf Grundlage ihrer persönlichen Präferenzen zu treffen.Viele Patienten und <strong>der</strong>en Familien erleben es als schwierig, bei Entscheidungenüber ihre eigene Gesundheitsversorgung <strong>eine</strong>n aktiven Part zu übernehmen.Manche scheuen sich davor, das Handeln von Ärzten und an<strong>der</strong>en Gesundheitsfachkräftenzu hinterfragen. Viele haben nur begrenzte Kenntnisse über dasThema Gesundheit und gesundheitliche Einflussfaktoren und wissen nicht, wo sieInformationen bekommen können, die klar, vertrauenswürdig und leicht verständlichsind.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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13 Aus den richtigenGründen forschen:ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong>bessere ZukunftZweifellos hat die medizinische Forschung ihren Beitrag zu <strong>eine</strong>rbesseren Lebensqualität und <strong>eine</strong>r höheren Lebenserwartung gele<strong>ist</strong>et.Und doch haben wir in diesem Buch gezeigt, dass die bestehenden– wirtschaftlichen wie auch akademischen – «Impulsgeber» <strong>der</strong>Forschung nicht genug tun, um die Prioritäten von Patienten zuidentifizieren und sich mit ihnen auseinan<strong>der</strong>zusetzen.Für die medizinische Forschung werden riesige Geldsummenausgegeben: Weltweit sind es mehr als 100 Milliarden Dollar proJahr. 1 Der größte Teil dieser För<strong>der</strong>mittel wird allerdings in Laborstudienund Tierversuche investiert, anstatt in Studien zu fließen,die <strong>für</strong> Patienten wahrscheinlich relevantere Erkenntnisse liefernkönnen.Selbst wenn es um die Entscheidung geht, welche Fragen zu Therapieeffektenuntersucht werden sollen, werden die Prioritäten <strong>der</strong>Patienten weitgehend ignoriert. Aufgrund ihrer Wirtschaftsmachtübt die Pharmaindustrie <strong>eine</strong>n großen Einfluss auf die Entscheidungenüber die jeweiligen Forschungsthemen aus. Da die Industrie <strong>für</strong>jeden Patienten, <strong>der</strong> <strong>für</strong> ihre klinischen Studien rekrutiert wird,großzügig bezahlt (Tausende von britischen Pfund/amerikanischenDollar), beteiligen sich Akademiker – und die Institutionen, <strong>für</strong> diesie arbeiten – viel zu oft an klinischen Studien, die sich mit Fragenbefassen, die eher <strong>für</strong> die Industrie als <strong>für</strong> die Patienten von Interessesind.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


222 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere ZukunftBedauerlicherweise wird ein Großteil des <strong>für</strong> medizinische Forschungzur Verfügung gestellten Geldes auf verschiedenen Stufenvergeudet – und zwar dadurch, dass die falschen Forschungsfragengestellt werden, dass Studien durchgeführt werden, die unnötigo<strong>der</strong> schlecht geplant sind, dass versäumt wird, die Forschungsergebnissevollständig zu veröffentlichen und zugänglich zu machen,und dadurch, dass verzerrte und unbrauchbare Forschungsberichteerstellt werden (Abb. 15). Das sollte uns allen zu denken geben –Forschern, Geldgebern, Ärzten, Steuerzahlern und vor allen Dingenden Patienten.Bevor wir unseren Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft vorstellen, wollenwir uns kurz folgenden Fragen widmen: Wenn Forschung besserwerden soll, warum <strong>ist</strong> es dann unerlässlich,1. die richtigen Forschungsfragen zu stellen2. Forschungsvorhaben richtig zu planen und auszuführen3. sämtliche Ergebnisse zu veröffentlichen und zugänglich zumachen4. unvoreingenommene und brauchbare Forschungsberichte zuerstellen?Leitsätze <strong>für</strong> bessere Forschung1. Die richtigen Forschungsfragen stellenManchmal wissen Ärzte nicht, welche Behandlung <strong>für</strong> ihre Patientenwahrscheinlich am besten <strong>ist</strong>, weil die verfügbaren Therapiemöglichkeitennicht richtig untersucht worden sind. Es kann sein,dass Industrie o<strong>der</strong> Wissenschaft an Studien, die wichtige Auswirkungenauf die Patientenversorgung haben können, nur wenig o<strong>der</strong>gar kein Interesse haben. Dadurch bleiben wichtige Fragen unbeantwortet.Die Nichtbeantwortung dieser Fragen kann aber ungeheuresLeid hervorrufen. Sehen wir uns als Beispiel einfach nur folgendeFrage an: Erhöht o<strong>der</strong> min<strong>der</strong>t die Gabe von Steroiden dieÜberlebenschancen von Patienten mit Hirnschäden, die sie sich in-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft 2231Verschwendung in vier Phasen <strong>der</strong> Forschung2 3 4Sind die Fragen<strong>für</strong> Ärzteund Patientenrelevant?Sind Designund Methodenrichtiggewählt?Ist diePublikationvollständigzugänglich?Ist <strong>der</strong>Studienberichtunverzerrt undbrauchbar?Untersucht werdenFragen niedrigerPrioritätWichtige Ergebnisse(Endpunkte) bleibenunbewertetÄrzte und Patientenwerden nicht anForschungsplänenbeteiligtMehr als die Hälfte<strong>der</strong> Studien werdengeplant, ohne aufsystematischeÜbersichtsarbeiten<strong>der</strong> vorhandenenErkenntnisse Bezugzu nehmenIn mehr als <strong>der</strong>Hälfte <strong>der</strong> Studienwerden k<strong>eine</strong>angemessenenVorkehrungen zurMinimierung vonsystematischenFehlern getroffen(z. B. k<strong>eine</strong> verdeckteBehandlungszuteilung)Mehr als die Hälfte<strong>der</strong> Studien werdenniemals vollständigveröffentlichtZu VerzerrungenführendesUn<strong>der</strong>reporting vonStudien mitenttäuschendenErgebnissenFast ein Drittel <strong>der</strong>Studieninterventionensind nichtausreichendbeschriebenMehr als die Hälfte<strong>der</strong> ursprünglichgeplantenStudienendpunktewird nicht berichtetDie me<strong>ist</strong>en neuenForschungsergebnissewerden nicht vordem Hintergrund<strong>eine</strong>r systematischenBewertung an<strong>der</strong>errelevanterForschungserkenntnisseinterpretiertVergeudung von ForschungsmittelnAbbildung 15: Wie die in die medizinische Forschung fließenden Gel<strong>der</strong> auf denverschiedenen aufeinan<strong>der</strong>folgenden Stufen verschwendet werden. 1folge <strong>eine</strong>r körperlichen Verletzung zugezogen haben? Jahrzehntelangwurden Steroide angewendet, bevor <strong>eine</strong> gut geplante Studiezeigte, dass diese etablierte Therapie wahrscheinlich Zehntausendenvon hirnverletzten Patienten das Leben gekostet hatte. 2 Industriesowie verschiedene an Universitäten tätige Forscher hatten Vorschlägen<strong>für</strong> <strong>eine</strong> dementsprechende Studie anfänglich Wi<strong>der</strong>standentgegengebracht. Der Grund da<strong>für</strong> war einfach: Sie waren an kommerziellenStudien beteiligt, in denen sie die Wirkungen teurer neuerMedikamente (sogenannter neuroprotektiver Substanzen) aufZielgrößen untersuchten, die <strong>für</strong> die Patienten von fragwürdiger© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


224 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere ZukunftRelevanz waren. Zudem wollten sie den Wettbewerb um Studienteilnehmervermeiden.Ein weiterer Grund da<strong>für</strong>, sich dieser bislang unbeantwortetenFragen anzunehmen, besteht darin, dass dies dazu beiträgt, die kostbarenRessourcen, die uns <strong>für</strong> die Gesundheitsversorgung zur Verfügungstehen, nicht zu verschwenden. Als in den 1940er-JahrenHumanalbumin-Lösungen, die als intravenöse Infusion verabreichtwurden, zur Wie<strong>der</strong>belebung (Reanimation) von Verbrennungsopfernund an<strong>der</strong>en kritisch kranken Patienten eingeführt wurden,ging man theoretisch davon aus, dass sie das Sterberisiko dieser Patientenreduzieren würden. Erstaunlicherweise wurde diese Theorieerst in den 1990er-Jahren fairen Tests unterworfen. Zu diesem Zeitpunktkonnten in <strong>eine</strong>r systematischen Übersichtsarbeit k<strong>eine</strong> Belegeda<strong>für</strong> gefunden werden, dass Humanalbumin-Lösungen dasSterberisiko im Vergleich zu einfachen Salzlösungen, <strong>eine</strong>r an<strong>der</strong>enim Rahmen <strong>der</strong> Reanimation verabreichten Flüssigkeit, senkten.Wenn Albumin überhaupt <strong>eine</strong>n Einfluss auf das Sterberisiko hatte,dann wurde dieses Risiko – das zeigte dieser systematische Review– dadurch höchstens erhöht. 3 Diese Erkenntnisse veranlassten Ärztein Australien und Neuseeland, sich zusammenzutun, um die ersteausreichend große faire Vergleichsstudie zu Humanalbumin-Lösungenund Kochsalz (Salzwasser) durchzuführen. 4 In dieser Studie– die eigentlich ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t früher hätte durchgeführtwerden sollen – konnte <strong>der</strong> Nachweis, dass Albumin besser alsKochsalzlösung war, nicht erbracht werden. Da Albumin ungefährzwanzigmal teurer <strong>ist</strong> als Kochsalzlösung, sind somit im Laufe <strong>der</strong>letzten 50 Jahre weltweit gigantische Geldsummen aus den Gesundheitsetatsverschwendet worden.2. Forschungsvorhaben richtig planen und durchführenAngeregt durch Umfragen, in denen die schlechte Qualität vielerBerichte zu klinischen Studien beklagt wurde, hat man Berichtsstandardsentwickelt, die inzwischen angewendet werden. SolcheStandards lassen erkennen, wie viele Patienten zur Teilnahme an<strong>eine</strong>r Studie eingeladen wurden und wie viele von ihnen <strong>eine</strong> Teilnahmeabgelehnt haben. Die Ergebnisse werden den zu Beginn <strong>der</strong>© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft 225Studie festgelegten Behandlungsgruppen entsprechend dargestellt.Wir haben aber noch <strong>eine</strong>n weiten Weg vor uns. Verbesserungsbedürftigsind nach wie vor (a) die Wahl <strong>der</strong> in <strong>eine</strong>m Forschungsvorhabenzu untersuchenden Fragen, (b) die Art und Weise, wie dieseFragen formuliert werden, um zu gewährle<strong>ist</strong>en, dass es sich bei den<strong>für</strong> die Bewertung ausgewählten Behandlungsergebnissen auch umdiejenigen handelt, welche die Patienten als wichtig erachten, und(c) die Bereitstellung von Informationen <strong>für</strong> Patienten (s. Kap. 11und 12).Um festzustellen, ob <strong>eine</strong> beantragte Studie durchführbar undakzeptabel <strong>ist</strong>, können Vorarbeiten unter Beteiligung <strong>eine</strong>r Gruppevon Patienten sinnvoll sein. Sie helfen Schwachstellen in den Entwürfenaufzudecken o<strong>der</strong> Endpunkte mit höherer Relevanz festzulegen,o<strong>der</strong> lassen vielleicht sogar erkennen, dass schon das Konzeptan sich ein «Rohrkrepierer» <strong>ist</strong>. 5, 6Dadurch könnte <strong>eine</strong> Menge Zeit, Geld und Frustration gespartwerden. Die klinische Studie über Männer mit lokalisiertem Prostatakarzinom,über die wir in Kapitel 11 (S. 196) berichtet haben, hatgezeigt, wie das Studiendesign verbessert werden konnte, indemman die Formulierungen, welche die Ärzte bei <strong>der</strong> Erläuterung <strong>der</strong>Studienziele und <strong>der</strong> Behandlungsoptionen benutzten, sorgfältigauswählte. Die Erforschung <strong>der</strong> Sichtweise von Patienten half, dieBedenken und Informationsbedürfnisse <strong>der</strong> zur Studienteilnahmeeingeladenen Männer zu identifizieren. Diese konnten dann in denInformationen, die man den potenziellen Teilnehmern gab, berücksichtigtwerden, was <strong>eine</strong> akzeptable Studie möglich machte. 73. Sämtliche Ergebnisse veröffentlichen und zugänglichmachenDie selektive Berichterstattung von Forschungsergebnissen kann zuschwerwiegenden systematischen Fehlern führen. Einige «negative»Studien kommen niemals zur Veröffentlichung, weil ihre Ergebnisseden Erwartungen <strong>der</strong> Studienleiter o<strong>der</strong> Sponsoren nicht entsprechen.Ohne die Veröffentlichung <strong>eine</strong>s Studienberichts, <strong>der</strong> über dieStudie Auskunft gibt, verschwinden diese Studien aber von <strong>der</strong> Bildfläche,ohne die geringste Spur zu hinterlassen. 8 Zudem kann es© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


226 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunftvorkommen, dass selektiv über die Ergebnisse von veröffentlichtenStudien berichtet wird, d. h., dass einige Ergebnisse von <strong>der</strong> Veröffentlichungausgeschlossen werden, weil sie <strong>für</strong> die untersuchteTherapie nicht so «positiv» o<strong>der</strong> günstig ausfallen. 9 Es musstenschon Patienten leiden und sterben, weil Forschungsberichte überdie Wirkungen von Therapien verzerrt wie<strong>der</strong>gegeben wurden.Deshalb <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> solche Vorgehensweise sowohl unethisch als auchunwissenschaftlich.4. Unverzerrte und brauchbare Forschungsberichte erstellenAber auch wenn Studien veröffentlicht werden, so werden häufigwichtige Elemente weggelassen, die dem Leser <strong>eine</strong> echte Bewertungund Anwendung <strong>der</strong> Studienergebnisse ermöglichen würden. In <strong>eine</strong>rÜbersichtsarbeit zu 519 randomisierten Studien, die im Dezember2000 in angesehenen Fachzeitschriften publiziert worden war,wurde festgestellt, dass 82 % <strong>der</strong> analysierten Studien k<strong>eine</strong> Informationenzur Geheimhaltung <strong>der</strong> Behandlungszuteilung enthielten,und in 52 % k<strong>eine</strong> näheren Angaben darüber gemacht worden waren,welche Maßnahmen sie zur Reduzierung des Beobachterbiasergriffen hatten – beides sind, wie wir in Kapitel 6 erläutert haben,wichtige Kennzeichen guter Studien. 10 Die ungenügenden Angabenvon Einzelheiten erstrecken sich sogar auf die Beschreibung <strong>der</strong> untersuchtenTherapien. So wurde beispielsweise in <strong>eine</strong>r Studie, in<strong>der</strong> nachgewiesen wurde, dass das Aushändigen <strong>eine</strong>r bestimmtenBroschüre Patienten mit Reizdarmsyndrom (im Vergleich zu Patientenohne diese Broschüre) geholfen hat, nicht beschrieben, worumes in <strong>der</strong> Broschüre inhaltlich ging o<strong>der</strong> wie man sie sich beschaffenkann; diese «Behandlung» konnte deshalb nicht vonan<strong>der</strong>en Patienten o<strong>der</strong> Ärzten angewendet werden. Dies <strong>ist</strong> nur einBeispiel von vielen. Insgesamt wurde in dieser Untersuchung festgestellt,dass etwa ein Drittel <strong>der</strong> Studien k<strong>eine</strong> Angaben zu <strong>der</strong>artwichtigen Einzelheiten enthielt. 11Und schließlich versäumen es die me<strong>ist</strong>en veröffentlichten Studien,ihre Ergebnisse in den Kontext ähnlicher, früher durchgeführterStudien zu stellen. Ohne diesen wichtigen Schritt kannman, wie wir in Kapitel 8 dargelegt haben, unmöglich sagen, was© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft 227die Ergebnisse tatsächlich bedeuten. Alle vier Jahre durchgeführteÜberprüfungen von randomisierten Studien, über die im Laufevon 12 Jahren (von 1997 bis 2009) in fünf größeren medizinischenFachzeitschriften berichtet worden war, lassen das wahre Ausmaßdieses Problems erkennen. Insgesamt wurde überhaupt nur in 25von 94 (27 %) Studien auf systematische Übersichtsarbeiten zuähnlichen Studien Bezug genommen. Tatsächlich berücksichtigtenlediglich drei von 94 Studienberichten aktualisierte Übersichtsarbeiten,die neue Erkenntnisse beinhalteten und so deutlich machten,inwiefern sich die neuen Ergebnisse von <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong>vorhandenen Evidenz unterschieden. Lei<strong>der</strong> gibt es auch k<strong>eine</strong>Anzeichen da<strong>für</strong>, dass sich die Berichterstattung über die Jahreverbessert hätte. 12 Dieses Versäumnis kann dazu führen, dass Ärzteunterschiedliche Therapien anwenden, je nachdem, welcheFachzeitschriften sie zufällig lesen.Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere ZukunftSicherlich könnte man medizinische Forschung aus den richtigenGründen betreiben, und auch die Berichterstattung darüber könnteangemessen sein. Für sich allein genommen <strong>ist</strong> k<strong>eine</strong>r <strong>der</strong> nachfolgendenVorschläge wirklich neu. Doch in ihrer Gesamtheit und mitUnterstützung von Patienten und Ärzten stellt unser Acht-Punkte-Plan <strong>eine</strong> Blaupause <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft im Hinblick auf dieÜberprüfung und Anwendung von Therapien dar.1. Das Allgemeinwissen über die Beurteilung <strong>der</strong>Glaubwürdigkeit von Therapieeffekten verbessernEine Bedingung <strong>für</strong> den Wandel besteht in <strong>eine</strong>m stärkeren Bewusstsein<strong>der</strong> Öffentlichkeit da<strong>für</strong>, inwieweit die Belege <strong>für</strong> dieEffekte von Therapien durch systematische Fehler und Zufallsfaktorenernsthaft verzerrt sein können. Eines <strong>der</strong> wichtigsten Kennzeichenwissenschaftlicher Untersuchungen – und zwar die Erkennungund Minimierung von systematischen Fehlern – gehörtheutzutage nicht wirklich zum «Allgemeinwissen». Daher bedarf es© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


228 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunftgrößerer Anstrengungen, um diese wichtigen Verständnislücken zufüllen und diese Begriffe in den allgem<strong>eine</strong>n Bildungskatalog aufzunehmen,und zwar schon in <strong>der</strong> Schule.2. Die Möglichkeiten zur Erstellung, Pflege und Verbreitungvon systematischen Übersichtsarbeiten über diewissenschaftliche Evidenz zu Therapieeffekten verbessernViele <strong>der</strong> Fragen zu den Wirkungen von Therapien lassen sich problemlosbeantworten, wenn man die vorhandene Evidenz in systematischenÜbersichtsarbeiten zusammenfasst, diese Übersichtsarbeitenaktualisiert und die Ergebnisse effizient unter Ärzten undPatienten verbreitet. Doch es wird noch lange dauern, bis die Erkenntnisseaus <strong>der</strong> vorhandenen Evidenz vollständig in Form vonsystematischen Übersichtsarbeiten erfasst sind. Diesem Mangel abzuhelfen,sollte zu den vorrangigen Zielen <strong>eine</strong>s Gesundheitssystemsgehören, damit zuverlässige Informationen über die Wirkungenmedizinischer Behandlungen zusammengeführt und zugänglichgemacht werden.3. An die Ehrlichkeit appellieren, wenn über die Wirkungen<strong>eine</strong>r Therapie Unsicherheit herrschtOftmals fällt es Ärzten schwer, Unsicherheiten zuzugeben, undmanchmal wird dies von den Patienten auch gar nicht so gern gesehen.Deshalb wird ihnen gelegentlich ein falsches Gefühl von Sicherheitvermittelt, und sie werden nicht darüber aufgeklärt, welcheUnsicherheiten hinsichtlich <strong>der</strong> Evidenz bestehen. Wenn Ärzte undPatienten zugunsten <strong>eine</strong>r effizienteren Bewertung von Therapieeffektenerfolgreich zusammenarbeiten sollen, dann müssen beideParteien bereit sein anzuerkennen, dass unzureichend bewerteteTherapien erheblichen Schaden anrichten können, und sie müssensich mehr damit befassen, mit welchen Methoden man verlässlicheEvidenz gewinnen kann. Wir müssen herausfinden, wie sich das ambesten bewerkstelligen lässt.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft 2294. Identifizierung und Priorisierung von Forschungsvorhaben,in denen von Patienten und Ärzten als relevant erachteteFragen untersucht werdenDie Konzepte von Forschungsför<strong>der</strong>ungs- sowie akademischen Einrichtungensind zum Einen von Grundlagenforschung beherrscht,von <strong>der</strong> die Patienten in absehbarer Zukunft aber eher nicht profitierenwerden, zum an<strong>der</strong>en von Forschungsprojekten, die Gewinnmaximierung<strong>für</strong> die Industrie zum Ziel haben. Angewandte Forschungzu Fragen, die kein finanzielles Potenzial bergen, aber auf die es denPatienten ankommt, muss um För<strong>der</strong>mittel kämpfen, selbst wennihre Durchführung öffentlich unterstützt wird. Wir sollten da<strong>für</strong>sorgen, dass mehr getan wird, um herauszufinden, welche FragenPatienten und Ärzte bezüglich <strong>der</strong> Wirkungen von Therapien haben,und dass Forschungsför<strong>der</strong>ungseinrichtungen diese Fragen bei <strong>der</strong>Priorisierung von Forschungsvorhaben berücksichtigen, um auf dieseWeise die bestehenden Unsicherheiten abzubauen.5. Sich gegen Doppelstandards bei <strong>der</strong> Einwilligung in <strong>eine</strong>Therapie zur Wehr setzenÄrzte, die bereit sind, Unsicherheiten bezüglich <strong>der</strong> Wirkungen vonTherapien zuzugeben, und sich dieses Problems in formalen Therapievergleichenanzunehmen, unterliegen im Umgang mit ihren Patientenstrengeren Regeln als ihre Kollegen, die das nicht tun. Dieserübertriebene Doppelstandard <strong>ist</strong> unlogisch und unhaltbar. WennUnsicherheit über Therapieeffekte herrscht, dann sollte die Teilnahmean randomisierten Studien o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Formen <strong>eine</strong>r unvoreingenommenenBeurteilung die Norm sein. Wir sollten da<strong>für</strong> Sorgetragen, dass sich <strong>eine</strong> Teilnahme an Forschungsarbeiten über dieWirkungen von Therapien nicht als ein notwendigerweise riskantesUnterfangen darstellt, denn das würde bedeuten, dass das «Standard»-Vorgehenimmer wirksam und sicher <strong>ist</strong>.6. Gegen Ineffizienz in <strong>der</strong> Forschungsgemeinschaft vorgehenNicht selten wird erstaunt festgestellt, dass von Wissenschaftlernk<strong>eine</strong> systematische Auswertung <strong>der</strong> vorhandenen Evidenz verlangt© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


230 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunftwird, wenn sie sich um die Finanzierung neuer Forschungsprojekteund die Zustimmung von Ethik-Kommissionen bemühen. Denndies hat unweigerlich zur Folge, dass schlecht geplante und, offengesagt, auch unnötige Forschung immer noch in <strong>eine</strong>m Umfangdurchgeführt wird, <strong>der</strong> sowohl aus ethischen als auch wissenschaftlichenGründen nicht hinnehmbar <strong>ist</strong>. Wir sollten Druck aufForschungsför<strong>der</strong>ungseinrichtungen und Ethik-Kommissionenausüben, damit sie sicherstellen, dass Forscher k<strong>eine</strong> neuen Forschungsprojektein Angriff nehmen, ohne auf die systematischenÜbersichtsarbeiten zur vorhandenen relevanten Evidenz einzugehen.Berichte über neue Forschungsarbeiten sollten mit <strong>der</strong> Bezugnahmeauf systematische Übersichtsarbeiten eingeleitet werden, umdarzulegen, warum wir das neue Forschungsprojekt brauchen,und auch damit abschließen, um aufzuzeigen, worin sich dieneuen Ergebnisse von <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> vorhandenen Evidenzunterscheiden.7. Zu Verzerrungen führende Publikationspraktiken ächtenUm zu Verzerrungen führende Publikationspraktiken auszumerzen,müssen sowohl zu Beginn als auch bei <strong>der</strong> Beendigung <strong>eine</strong>rStudie entsprechende Maßnahmen ergriffen werden: Dazu gehört,dass Studien bei Beginn reg<strong>ist</strong>riert und die Studienprotokolle zurKontrolle öffentlich zugänglich gemacht werden. Nach Studienabschlusssollten die Ergebnisse aller Studien veröffentlicht und dieRohdaten zur Kontrolle und zur weiteren Auswertung zugänglichgemacht werden.8. Transparenz <strong>der</strong> Informationen über wirtschaftlicheInteressen und an<strong>der</strong>e Interessenkonflikte for<strong>der</strong>nMittlerweile liegen solide Hinweise darauf vor, dass bei <strong>der</strong> Planung,Durchführung, Auswertung, Interpretation und Anwendung vonForschungsergebnissen eigennützige finanzielle und an<strong>der</strong>e Interessenmanchmal über die Interessen <strong>der</strong> Patienten gestellt werden.Dies gefährdet das gegenseitige Vertrauen. Dieses Vertrauen <strong>ist</strong> abernötig, um zu gewährle<strong>ist</strong>en, dass Forschung sich stärker an Patien-© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft 231teninteressen ausrichtet. Deshalb sollte man verlangen, dass alleBeteiligten – angefangen bei den Wirtschaftsunternehmen bis hinzu den Interessenvertretungen <strong>der</strong> Patienten – ihre über das <strong>Wo</strong>hlergehen<strong>der</strong> Patienten hinausgehenden persönlichen Interessen offenlegenmüssen.Es <strong>ist</strong> Zeit zu handelnHinsichtlich <strong>der</strong> Überprüfung von Therapien <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> völlige Neuausrichtunglängst überfällig. Für ein Aktionsbündnis von Ärztenund Patienten sind die im Folgenden empfohlenen Schritte beson<strong>der</strong>szweckmäßig. Die Zeit <strong>ist</strong> gekommen, dass Sie, die Leser, sich<strong>für</strong> <strong>eine</strong>n Wandel einsetzen.Ein Aktionsplan: Was Sie selber tun können• Identifizieren Sie Fragen zu Therapieeffekten, die Ihnen wichtigsind.• Lernen Sie Unsicherheiten erkennen. Sagen Sie Ihre Meinung. StellenSie Fragen, und verlangen Sie ehrliche Antworten.• Scheuen Sie sich nicht, Ihren Arzt danach zu fragen, welche Behandlungsmöglichkeitenes gibt, was passieren könnte, wenn Siesich <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bestimmte Therapie entscheiden, UND was passierenkönnte, wenn Sie das nicht tun.• Wenn Sie über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten nachdenken,könnten Ihnen die Informationen über Entscheidungshilfenunter www.patient-als-partner.de helfen. Siehe auch «ZusätzlicheQuellen»• Nutzen Sie verlässliche Websites (wie z. B. www.gesundheitsinformation.de).Siehe dazu Kapitel 12 und den Abschnitt «ZusätzlicheQuellen».© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


232 Aus den richtigen Gründen forschen: ein Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessere Zukunft• Bewahren Sie sich <strong>eine</strong> gesunde Skepsis gegenüber unbegründetenBehauptungen und Medienberichten über «therapeutischeDurchbrüche» und gegenüber <strong>der</strong> Art und Weise, wie die Medienmit «Zahlen» umgehen – vor allem mit großen Zahlen in denSchlagzeilen!• Misstrauen Sie Therapien, die Ihnen o<strong>der</strong> Ihren Angehörigen angebotenwerden und die auf Überzeugungen und Dogmen gründen,aber nicht durch verlässliche Evidenz untermauert sind.• Hüten Sie sich vor unnötiger «Krankheitsetikettierung» und übermäßigerDiagnostik (s. Kap. 2 und 4). Finden Sie heraus, ob die fraglicheKrankheit <strong>für</strong> Sie mit <strong>eine</strong>m hohen o<strong>der</strong> niedrigen Risiko verbunden<strong>ist</strong>. Fragen Sie nach, was passieren würde, wenn <strong>eine</strong>Behandlung nicht sofort eingeleitet würde.• Erklären Sie sich zur Teilnahme an <strong>eine</strong>r klinischen Studie nur unter<strong>der</strong> Bedingung bereit, dass 1. die Studie reg<strong>ist</strong>riert und das Studienprotokollöffentlich zugänglich gemacht wird, 2. im StudienprotokollBezug auf systematische Übersichtsarbeiten zur vorhandenenEvidenz genommen und dadurch nachgewiesen wird, dass dieDurchführung <strong>der</strong> Studie gerechtfertigt <strong>ist</strong>, und 3. Ihnen schriftlichversichert wird, dass die vollständigen Studienergebnisse veröffentlichtund an alle Teilnehmer verschickt werden, die den entsprechendenWunsch äußern.• Unterstützen Sie Ärzte, Wissenschaftler, Forschungssponsoren undan<strong>der</strong>e, die bemüht sind, Forschungsprojekte zu för<strong>der</strong>n, die sichmit unzureichend beantworteten Fragen zu Therapieeffekten, dieSie selbst als wichtig erachten, auseinan<strong>der</strong>setzen, und arbeiten Siemit ihnen zusammen.• Treten Sie <strong>für</strong> <strong>eine</strong> breitere Aufklärung über die Auswirkungen vonsystematischen Fehlern (Bias) und Zufallsfaktoren ein, und nehmenSie über Ihren gewählten politischen Vertreter und an<strong>der</strong>e Einfluss,damit dies – und zwar schon ab <strong>der</strong> Grundschule – in die schulischeBildung aufgenommen wird.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


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Zusätzliche QuellenWenn Sie an weiteren allgem<strong>eine</strong>n Informationen überTesting Treatments («<strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>?») interessiert sindWebsitesTesting Treatments Interactivewww.testingtreatments.orgAuf dieser Seite finden Sie <strong>eine</strong> kostenlos zugängliche elektronische Version <strong>der</strong> 2.Auflage von Testing Treatments, die im Laufe <strong>der</strong> kommenden Jahre um Übersetzungenund weitere Materialien ergänzt werden soll. Zudem sind auf dieser Seite bereitsÜbersetzungen <strong>der</strong> 1. Auflage von Testing Treatments in arabischer, chinesischer,deutscher, italienischer, polnischer und spanischer Sprache zugänglich.James Lind Librarywww.jameslindlibrary.orgCochrane Collaborationwww.cochrane.orgNHS Choiceswww.nhs.uk (im Suchfenster research eingeben)UK Clinical Research Collaborationwww.ukcrc.orgHealthtalkonlinewww.healthtalkonline.orgUS National Cancer InstituteSchulungsmaterial zu klinischen Studien http://cancertrials.nci.nih.gov/clinicaltrials/learning© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


248 Zusätzliche QuellenBücherBen Goldacre. Bad science. London: Harper Perennial, 2009.Bengt D Furberg, Curt D Furberg. Evaluating clinical research: all that glitters is notgold. 2nd edition. New York: Springer, 2007.Steven <strong>Wo</strong>loshin, Lisa Schwartz, Gilbert Welch. Know your chances: un<strong>der</strong>standinghealth stat<strong>ist</strong>ics. Berkeley: University of California Press, 2008. Kostenlos zugänglichunter: www.jameslindlibrary.org.Les Irwig, Judy Irwig, Lyndal Trevena, Melissa Sweet. Smart health choices: makingsense of health advice. London: Hammersmith Press, 2008. Kostenlos zugänglichunter: www.jameslindlibrary.org.Trisha Greenhalgh. How to read a paper: the basics of evidence-based medicine. 4thedition. Oxford and London: Wiley-Blackwell and BMJI Books, 2010. Dt.: Einführungin die Evidence-based Medicine. Bern: Hans Huber, 2. Aufl. 2003.H Gilbert Welch, Lisa M. Schwartz, Steven <strong>Wo</strong>loshin. Overdiagnosed: making peoplesick in the pursuit of health. Boston: Beacon Press, 2011.http://www.inkanet.de/db/special/trias/index.htmlWenn Sie Informationen darüber suchen,was man über die Wirkungen von Therapien weißCochrane Librarywww.thecochranelibrary.comNHS Evidencewww.evidence.nhs.ukInformed Health Onlinewww.informedhealthonline.orgPubMed Healthwww.pubmed.gov/healthPatienteninformationen des Instituts <strong>für</strong> Qualität und Wirtschaftlichkeitim Gesundheitswesen (IQWiG)www.gesundheitsinformation.deDer Krebsinformationsdienstwww.krebsinformationsdienst.dePatientenportal von Kassenärztlicher Vereinigung und Bundesärztekammerwww.patienten-information.deDas Deutsche Cochrane Zentrumwww.cochrane.de© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Zusätzliche Quellen 249Wenn Sie Informationen darüber suchen,was man nicht über die Wirkungen von Therapien weißUK Database of Uncertainties about the Effects of Treatments (UK DUETs)www.evidence.nhs.ukWenn Sie an Informationen über aktuelle Forschungsprojekteinteressiert sind, die Unsicherheiten in Bezug auf Therapieeffektezum Thema habenWHO International Clinical Trials Reg<strong>ist</strong>ry Platformwww.who.int/trialsearchUS National Institutes of Health Clinical Trials Reg<strong>ist</strong>rywww.clinicaltrials.govEU Clinical Trials Reg<strong>ist</strong>erhttps://www.clinicaltrialsreg<strong>ist</strong>er.euAustralian Cancer Trialswww.australiancancertrials.gov.auDas Deutsche Reg<strong>ist</strong>er Klinischer Studienwww.drks.deWenn auch Sie dazu beitragen möchten, die Relevanz undQualität <strong>der</strong> Forschung über Therapieeffekte zu verbessernJames Lind Alliancewww.lindalliance.orgFör<strong>der</strong>t die Kooperationspartnerschaft zwischen Patienten und Ärzten zum Zwecke<strong>der</strong> Identifizierung und Priorisierung relevanter Unsicherheiten bezüglich <strong>der</strong> Wirkungenvon TherapienNational Institute for Health ResearchNIHR Health Technology Assessmentwww.ncchta.orgBeteiligt die Nutzer aktiv an allen Phasen ihrer ProjekteNIHR Clinical Research Network Coordinating Centrewww.crncc.nihr.ac.uk/ppiSetzen sich <strong>für</strong> die Mitwirkung von Patienten, Betreuungspersonen und Öffentlichkeitan klinischen Studien und ihre aktive Beteiligung als «Forscher» ein© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


250 Zusätzliche QuellenCochrane Consumer Networkwww.consumers.cochrane.orgUnterstützt die Mitwirkung von Patienten an den von <strong>der</strong> Cochrane Collaborationerstellten systematischen Übersichtsarbeiten von TherapiestudienUK Clinical Research Networkwww.ukcrn.org.ukDeutsches Netzwerk Evidenzbasierte <strong>Medizin</strong>(Fachbereich Patienteninformation)www.ebm-netzwerk.deWenn Sie an <strong>eine</strong>r Schulung zur Bewertungvon Forschungsergebnissen teilnehmen möchtenCritical Appraisal Skills Programmewww.casp-uk.netOrganisiert <strong>Wo</strong>rkshops und an<strong>der</strong>e Maßnahmen, mit <strong>der</strong>en Hilfe interessierte Teilnehmerdie Fertigkeiten erwerben können, die sie zum Auffinden und Verstehenwissenschaftlicher Evidenz befähigenUS Cochrane CenterUn<strong>der</strong>standing Evidence-based Healthcare: A Foundation for Actionus.cochrane.org/un<strong>der</strong>standing-evidence-based-healthcare foundation-actionEin Internetkurs, <strong>der</strong> Interessierten helfen soll, die grundlegenden Konzepte undFertigkeiten <strong>der</strong> <strong>evidenzbasierte</strong>n Gesundheitsversorgung zu verstehenKompetenztraining <strong>für</strong> Patientinnen und Patientenwww.fgz.co.at/Wissen-macht-stark-und-gesund.335.0.htmlHintergrundmaterial <strong>der</strong> Universität Hamburg, Fachwissenschaft Gesundheitwww.patienteninformation.deWenn Sie mehr über partizipative Entscheidungsfindungerfahren möchtenThe Foundation for Informed Medical Decision Makingwww.informedmedicaldecisions.orgDartmouth-Hitchcock Medical Center: Center for Shared Decision Makingpatients.dartmouth-hitchcock.org/shared_decision_making.html© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Zusätzliche Quellen 251Salzburger Erklärungwww.bmj.com/content/342/bmj.d1745.fullwww.salzburgglobal.orgPatient als Partnerwww.patient-als-partner.deWenn Sie sich <strong>für</strong> systematische Übersichtsarbeitenvon Tierstudien interessierenwww.sabre.org.ukwww.camarades.infoWenn Sie Fachbegriffe nachschlagen wollenGlossar des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte <strong>Medizin</strong> e. V.www.ebm-netzwerk.de/was-<strong>ist</strong>-ebm/grundbegriffe/glossar© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Über die AutorenImogen Evans praktizierte und lehrte <strong>Medizin</strong> in Kanada undGroßbritannien, bevor sie sich in <strong>der</strong> britischen FachzeitschriftThe Lancet dem <strong>Medizin</strong>journalismus zuwandte. Von 1996 bis 2005arbeitete sie <strong>für</strong> das britische Medical Research Council, zuletzt aufdem Gebiet <strong>der</strong> Forschungsethik, und war als Vertreterin <strong>der</strong> britischenRegierung im Committee on Bioethics des Europarates tätig.Hazel Thornton wurde nach <strong>eine</strong>r Routine-Mammographie zurTeilnahme an <strong>eine</strong>r klinischen Studie eingeladen, an <strong>der</strong> sie wegen<strong>der</strong> unzureichenden Patienteninformationen jedoch nicht teilnahm.Diese Erfahrung veranlasste sie aber, sich öffentlich <strong>für</strong> die Erforschungpatientenrelevanter Endpunkte einzusetzen. Zu diesemThema hat sie zahlreiche Beiträge verfasst und Vorträge gehalten.Iain Chalmers arbeitete als Arzt in Großbritannien und Palästina,bevor er sich <strong>der</strong> Health Services-Forschung zuwandte und die nationaleEinrichtung <strong>für</strong> perinatale Epidemiologie und später das britischeCochrane Centre leitete. Seit 2003 koordiniert er die JamesLind Initiative, die vor allem durch <strong>eine</strong> stärkere Einbindung <strong>der</strong>Öffentlichkeit mit besser kontrollierten Studien <strong>eine</strong> bessere Gesundheitsversorgungzu erreichen sucht.Paul Glasziou <strong>ist</strong> nicht nur in <strong>der</strong> medizinischen Forschung tätig,son<strong>der</strong>n arbeitet in Teilzeit auch als Hausarzt. Wegen <strong>der</strong> zwischenbeiden Bereichen bestehenden Kluft hat er s<strong>eine</strong>n Arbeitsschwerpunktauf die Identifizierung und Beseitigung von Barrieren gelegt,die <strong>der</strong> Anwendung hochwertiger Forschungserkenntnisse im Praxisalltagentgegenstehen. Beim British Medical Journal (BMJ) war er© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


254 Über die AutorenHerausgeber des Journal of Evidence-Based Medicine und von 2003bis 2010 Direktor des Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford.Er hat mehrere Bücher zum Thema <strong>evidenzbasierte</strong> Praxis verfasst.Derzeit hält er <strong>eine</strong> Forschungsprofessur des australischen NationalHealth and Medical Research Council, die er im Juli 2010 an <strong>der</strong> BondUniversity angetreten hat.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Sachreg<strong>ist</strong>erAblin, Richard 78Abwarten, beobachtendes 196Abweichung von <strong>der</strong>Behandlungszuteilung 123active monitoring 196AIDS 170, 189–, Medikament 190Aktionsbündnis Arzt–Patient 231Aktionsplan 231Albumin 224Allgemeinwissen 227Allokation 118Al-Razi 113Analogpräparat 178Anämie 90Anekdote 33Aneurysma 73Antibiotikum, bei vorzeitigenWehen 98Antipsychotikum 171Aortenaneurysma 85, 205Aprotinin 175Arrhythmie 46Arzneimittelwirkung,unerwünschte 128 ff.Arzt, Umgang mit Unsicherheiten 102Arzt-Wissenschaftler 188Aspirin 55, 137, 211– und Herzinfarkt 94Atemnotsyndrom beiFrühgeborenen 173Atkins, Hedley 61Auseinan<strong>der</strong>setzen mitUnsicherheiten 97Avandia 38Balfour, Thomas Graham 117Bauchaortenaneurysma-Screening 73Behandlung, unnötige 216Behandlungseffekt, mo<strong>der</strong>ater 93Behandlungsergebnis, faireErfassung 126Behandlungswirkung, unerwartete 129Behandlungszuteilung,Abweichung 123Belladonna 118Berichterstattung, selektive 225Berichtstandard 224Bestätigungsbias 109Bewusstsein <strong>der</strong> Öffentlichkeit 227Bias 61, 122, 139, 232– in systematischen Reviews 145Bilirubin 130Björk-Shiley-Herzklappe 40Blindheit bei Säuglingen 35Blutarmut 90Bluthochdruck 206Blutschwamm 91Blutung, intra- und postoperativ 175Brustkrebs 41, 192–, Chirurgie 56 ff.–, Screening 73–, Therapie 56 ff., 100Bundesinstitut <strong>für</strong> Arzneimittel und<strong>Medizin</strong>produkte (BfArM) 128Bürgerlobby imGesundheitswesen 194CancerBACKUP 189Checkl<strong>ist</strong>e 102Clement-Jones, Vicky 189Clinical Trials Directive 157© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


256 Sachreg<strong>ist</strong>erCochrane Collaboration 186Cochrane Database of SystematicReviews 216compassionate release 190confidence interval (CI) 135confirmation bias 109Contergan 34Cotrimoxazol 170Crile, George 60Crossover-Studie 120Datenmanipulation bei systematischenReviews 148Deklaration von Helsinki 157Diabetes 90Diabetiker, Definition 217Diagnostik, übermäßige 232Diethylstilbestrol (DES) 47 ff., 111, 130Direct-to-Consumer-(DTC-)Gentest 81Diuretika 55Doppelblindstudie 126Doppelstandard 229Dosis, richtige 55Duchenne-Muskeldystrophie 81Ehrlichkeit 228Einverständnis zurStudienteilnahme 160Einwilligungserklärung 161, 196– <strong>der</strong> Teilnehmer 160Einzelstudie 141Eklampsie 169Ekzem 51Entfernen von Fremdkörpern aus <strong>der</strong>Nase 91Entscheidungsfindung,partizipative 200, 217Entwurf <strong>für</strong> <strong>eine</strong> bessereZukunft 221 ff.Epidemie von Blindheit 35Epiduralanalgesie beiWehenschmerzen 173Erdbeer-Hämangiom 91Ethik, Voreingenommenheit 160Ethik-Kommission 156European Medicines Agency(EMA) 39, 193Evidenz 96, 133, 199–, relevante verlässliche 141 ff.–, systematische Prüfung 149–, unverzerrte 64–, wissenschaftliche 209–, zuverlässig? 214Fehlbildung bei Säuglingen 34Fehler, systematischer 61, 122, 139,232Fehlgeburt 47Fersen-Pricktest 72Feuermal, Laserbehandlung 90Food and Drug Admin<strong>ist</strong>ration(FDA) 36Forschung–, bessere 222–, Einbindung von Patienten undÖffentlichkeit 186–, gute 167 ff.–, Informationen zusammenfassen 143–, klinische 167 ff.–, medizinische 155 ff.–, Mitwirkung von Patienten 188 ff.–, richtige 185 ff.–, schlechte 171 ff.–, überflüssige 173 ff.–, Verbesserung 185 ff.–, Verschwendung vonRessourcen 152Forschungsbericht–, Schlüsselfragen 141–, unbrauchbarer 222–, unverzerrter und brauchbarer 226Forschungsergebnis 143–, Einordnung 154–, selektive Berichterstattung 225Forschungsför<strong>der</strong>ung 229Forschungsfragen, richtige 222Forschungsgemeinschaft,Ineffizienz 229Forschungspriorität, verkehrte 176 ff.Forschungsregulierung 164Forschungsvorhaben, richtig planenund durchführen 224Fragen–, <strong>für</strong> Patienten relevante 176© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Sachreg<strong>ist</strong>er 257– zur Umsetzung von wissenschaftlicherEvidenz in die Praxis 204Franklins Gesetz 25früher = besser? 67 ff.Frühgeborenen-Apnoe 98Frühgeborenen-Retinopathie 35Frühgeborenes–, Atemnotsyndrom 173–, Koffein-Studie 97, 161gamma-linolenic acid (GLA) 51Ganzkörper-CT 84 ff.Genetik 181Gentest,Direct-to-Consumer-(DTC-) 81Gesetz <strong>der</strong> großen Zahlen 133 ff.Gespräch Arzt–Patient 202Gesundheitsforschung 167 ff.Gesundheitsversorgung, bessere199 ff.Gesundheitswesen, Verschwendungvon Ressourcen 152Ghostwriting wissenschaftlicherVeröffentlichungen 179Gleiches mit Gleichemvergleichen 113 ff.Good Medical Practice 101Heilkraft, natürliche 107Herceptin 41 ff., 65, 192Herzinfarkt und Aspirin 94Herzklappe, mechanische 40Herzrhythmusstörung 46Hexamethonium 153Hill, Austin Bradford 141HIV 190–, Infektion bei Kin<strong>der</strong>n 170Hochschulmedizin – käuflich? 181hormone replacement therapy(HRT) 49 ff.Hormonersatztherapie (HRT) 49 ff.,116Humanalbumin-Lösung 224Huntington-Krankheit 81Imatinib 91Industrie, pharmazeutische 177 ff.Ineffizienz in <strong>der</strong>Forschungsgemeinschaft 229Information– und Einverständnis 160– aus <strong>der</strong> Forschungzusammenfassen 143Informationsquelle, zuverlässige 215Informationstransparenz 230informed consent 160, 196Institutional Review Board (IRB) 156Intensivtherapie, Brustkrebs 56 ff.Intention-to-Treat-Analyse 122Interferon 191James Lind Alliance 186Kampf um unverzerrte Evidenz 64Kniegelenkarthrose 201Knochenmarktransplantation 62Kocher, Theodor 130Koffein-Studie an Frühgeborenen 97,161Konfidenzintervall 135Krankheit–, erbliche 212–, lebensbedrohliche 204–, unbehandelte 108Kushner, Rose 62, 189Laserbehandlung von Feuermalen 90Leadtime-Bias 70Length-Time-Bias 69Leukämie–, lymphatische 124–, myeloische 91Lind, James 32, 113Lorcainid 146Lumpektomie 59Lungenkrebs-Screening 78Macmillan Cancer Support 189Magnesiumsulfat 169Magnetismus, animalischer 126Magpie-Studie 169Mammakarzinom 100Mammographie-Screening 73Maskierung 125© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


258 Sachreg<strong>ist</strong>erMastectomy Association 189Mastektomie, radikale 58, 188Medicines and Healthcare ProductsRegulatory Agency (MHRA) 129<strong>Medizin</strong>–, marketingbasierte 146–, personalisierte 211<strong>Medizin</strong>produkt, klinischePrüfung 157mehr = besser? 55 ff.Mehrfachpublizieren 146Mehr-<strong>ist</strong>-besser-Ansatz 55 ff.Menopause 48, 116Mesmer, Anton 126Mesmerismus 126Meta-Analyse 140, 144–, kumulative 150Me-too-Präparat 178Mother’s Kiss 91multiple Sklerose (MS) 127, 191Nachtkerzenöl 51 ff.National Cancer Institute 189National Health Service (NHS) 41, 111National Institute for Health undClinical Excellence (NICE) 42Nebenwirkung 129Negativbeweis 26neu = besser? 31 ff.Neuroblastom-Screening 68N-gleich-1-Studie 210NHS Choices 216Nichtpublizieren 145Nichtsteroidale Antiphlog<strong>ist</strong>ika(NSAID) 35Nimodipin 174n-of-1 trial 210Operation, verstümmelnde 57Optimismus und Wunschdenken 109Outcome 126, 138Overreporting 146, 149Paroxetin 148Patient–, relevante Fragen 176–, Studienteilnahme 213–, vermeidbare Nachteile 149– und Wissenschaftler,Zusammenarbeit 195 ff.Patienten-Einwilligung 162Patientengruppe, Vergleich 116Patienteninformation 205Patientenorganisation 187, 193Patientenvertretung 193Patient-Wissenschaftler 189personalisierte <strong>Medizin</strong> 211Pester-Power 193Peto, Richard 62Pharmaceutical Management Agency(PHARMAC) 42Pharmaindustrie 221– und Ärzte 179–, Einfluss <strong>der</strong> 177 ff.Phenylketonurie (PKU) 72Phenylketonurie-Screening 72Placebo 110, 125plötzlicher Kindstod 45, 131Präeklampsie in <strong>der</strong>Schwangerschaft 168Propranolol 92Prostatakarzinom 196, 208, 225–, Screening 74–, Überdiagnostizierung 77prostataspezifisches Antigen (PSA) 75Pseudokarzinom 100Psoriasis 183Publikationsbias 146PubMed Health 216Randomisierung 61Regulierung von Therapietests 155 ff.Regulierungssystem <strong>für</strong>Therapiestudien 158 ff.Research Ethics Committee (REC) 156Review, systematischer 100, 137,143 ff.–, Bias 145–, Datenmanipulation 148–, Einfluss des Zufalls 147Revolution, genetische 181Rhabdomyolyse 128Richtlinien besserer Forschung 222Risiko 26© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


Sachreg<strong>ist</strong>er 259Risikoreduktion, absolute undrelative 208Risikoverhältnis 133risk ratio 133Rofecoxib 36, 131Röntgen-Thorax-Screening 79Rosuvastatin 128Royal College of Physicians 33Salamitaktik 149Salzburger Erklärung zur partizipativenEntscheidungsfindung 217Säugling–, Blindheit 35–, Fehlbildung 34–, Schlafposition 45Scharlach 118Scheinbehandlung 110, 125Schizophrenie 172Schlafposition beim Säugling 45Schlaganfall 122, 152, 167, 174, 195,206–, Prävention 85Schlüsselfragen beimForschungsbericht 141Screening 67 ff.–, Sinn und Zweck 82Screeningprogramme – sinnvoll? 87Screeninguntersuchung, Nutzen undSchaden 72 ff.Screening-Zirkus 85Selbsthilfegruppe 188Seroxat 148Shared Decision Making 200, 217Signifikanz, stat<strong>ist</strong>ische 136Sildenafil (Viagra) 111Skorbut 32Spiral-CT 79Spock, Benjamin 45, 131Spontanremission 108Stammzellrettung 62Stat<strong>ist</strong>ik 206stat<strong>ist</strong>isch signifikant 138Störung, psychiatrische 171Studie, «negative» 225Studie–, cluster-randomisierte 121–, randomisierte 119–, randomisierte mitCrossover-Design 120–, wissenschaftliche 101Studienprotokoll 123, 232Studienteilnehmer 124–, vermeidbare Nachteile 151Teilnahme an <strong>eine</strong>r klinischenStudie 232Teilnehmerzahl 138Test–, fairer 31 ff., 101, 107 ff., 141, 209–, genetischer 81Thalidomid 34Therapie–, mit dramatischen Effekten 114–, drastische 57–, systemische 59–, Überprüfung 231–, Überprüfung und Nützlichkeit 44–, mit wichtigen, aber mäßigenEffekten 115Therapieeffekt 231–, dramatischer 89–, Unsicherheiten 89 ff.Therapiestudie,Regulierungssysteme 158 ff.Therapietest, Regulierung 155 ff.Therapievergleiche 113 ff.Therapiewirkung,unerwünschte 128 ff.Therapiezuteilung, unverzerrteprospektive 117 ff.Totgeburt 47Tranexamsäure 138Transparenz <strong>der</strong> Informationen 230Trastuzumab 41, 192Typ-2-Diabetes 38Überdiagnose-Bias 69Überdiagnostizierung 71– des Prostatakarzinoms 77Überprüfung von Therapien 231Übersichtsarbeit, systematische 228Überwachung, aktive 196Un<strong>der</strong>reporting 145© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.


260 Sachreg<strong>ist</strong>erUnsicherheit 26, 228, 231–, Auseinan<strong>der</strong>setzen mit 97– beim Therapieeffekt 89 ff.–, Umgang mit 102Unterschied, signifikanter 136Untersuchung–, genetische 211– zu unerwünschtenTherapiewirkungen 128 ff.US Veterans HealthAdmin<strong>ist</strong>ration 111Verbesserung <strong>der</strong> Forschung 185 ff.Verblindung 125Versorgung, medizinische, im Rahmenfairer Tests 101Vertrauensintervall 135Verzerrrung 230Viagra 111Vioxx 35, 131Vitamin B 12 90Voreingenommenheit <strong>der</strong> Ethik 160Vorlaufzeit-Bias 70Wahrscheinlichkeit 26watchful waiting 196Wehen, vorzeitige 98Weltärztebund 157Wirkung–, erhoffte und nicht eingetretene 45 ff.–, unerwartete negative 34<strong>Wo</strong>rld Medical Association 157Yellow-Card-System 129Zidovudin 190Zufall, Einfluss auf systematischeReviews 147Zufallsfaktor 133 ff., 232Zufallszuteilung zuTherapieversuchen 120 ff.Zulassung, mitfühlende 190ZusammenarbeitPatient–Wissenschaftler 195 ff.Zuteilung–, unverzerrte prospektive 117 ff.–, zufällige 120 ff.© 2013 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernDieses Dokument <strong>ist</strong> nur <strong>für</strong> den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in k<strong>eine</strong>r Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden.Aus: Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers, Paul Glasziou; <strong>Wo</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Beweis</strong>? – <strong>Plädoyer</strong> <strong>für</strong> <strong>eine</strong> <strong>evidenzbasierte</strong> <strong>Medizin</strong>. 1. Auflage.

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