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Gotische Kunst II Lernheft 9Saal wurde erst 1515 beendet. Erneut dienten französische Kapellen als Vorbilder wieetwa die Pariser Sainte-Chapelle (s. Lernheft 8).Abb. 8:Cambridge, King’s College ChapelDie Gewölbe, die sich aus vier Trichtervierteln zusammensetzen, sind ganz und garmit Maßwerk (vgl. Lernheft 8) überzogen und heben die klaren Strukturen desKreuzrippengewölbes auf (vgl. Kapitel 8.3.1). Durch die vielleicht fantastischstenGewölbe der ausgehenden Gotik entsteht ein unglaublich schwebender Eindruck, zudem auch die zu riesigen Fenstern geöffneten Seitenwände beitragen.Abb. 9:Schema Trichtergewölbe7


Gotische Kunst II Lernheft 9gen Langhaus, das dem Innenraum eine in vergleichbaren Sakralbauten seltenerlebbare Weite und Großzügigkeit verschafft.Abb. 11: Köln, Dom, AußenansichtAbb. 12: Mittelschiff nach OstenPrag war während der Herrschaft Kaiser Karls IV. (1316 – 1378, deutscher König1346, König von Böhmen 1347, Kaiser 1355) zwischen 1346 und 1378 die eigentlicheHauptstadt des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Mit dem vermutlich ab1344 begonnenen Chorneubau des Veitsdoms, als Prag (bis dahin abhängig vomErzbischof von Mainz) zum Erzbistum erhoben wurde, beauftragte der in Pariserzogene Karl IV. zunächst den französischen Architekten Matthias von Arras.Abb. 13: Prag, Veitsdom, Triforium9


Gotische Kunst II Lernheft 9Das Äußere des Baus ist von schnörkelloser Monumentalität und wird von den fast125 m hohen Türmen und dem ca. 70 m langen Mittelschiff mit den kraftvollenStrebebögen bestimmt, die die Last der Hochschiffwände auf mächtige Strebepfeilerableiten.Die Wirkung des Inneren wirdbestimmt von der gigantischenGewölbehöhe des Mittelschiffs,das mit fast 39 m sogar nochetwas die Kathedrale in Reimsübertrifft (vgl. Lernheft 8); dieSeitenschiffe sind mit ca. 20 mnur etwa halb so hoch.Mächtige, im Kern quadratischeBündelpfeiler steigen in denObergaden, der – mehr noch alsim Kölner Dom – das Triforiumgleichsam in sich aufsaugt, indem das Licht nur durch denoberen Teil der Fensterbögeneinfällt, während der untere Teilbemalt ist. So entsteht einzweizoniger Aufriss.Abb. 15: Lübeck, St. Marien, ChorEs mag noch einmal daran erinnert sein, dass die frühgotischen Wandgliederungendes Mittelschiffs – etwa in Noyon oder Laon – neben Arkadenzone, Obergaden undTriforium noch durch eine Emporenzone charakterisiert waren. Dann hatte derArchitekt von Chartres die weitreichende Idee, den Aufriss zu straffen, indem er aufdie Emporenzone verzichtete. Dadurch wurde eine immer extremer werdendeVertikalisierung des Raumes möglich.Sie wurde in der Lübecker Marienkirche besonders durch die an den Pfeilernemporsteigenden schmalen Stäbe betont, die in den Gewölberippen fortgesetztwerden und das Mittelschiffgewölbe wenn nicht fragil, so doch fast elegant erscheinenlassen. Dieser Eindruck von Eleganz wird durch die feinsinnigen Wandmalereien aufspektakuläre Weise unterstützt.9.4.1.3 Gotische HallenkirchenDie vermutlich vor 1400 entstandene wunderbare Kirche St. Maria zur Wiese in Soestist ein herausragendes Beispiel für eine Hallenkirche. Sie setzt dem Siegeszug der‚Urform‘ gotischen Sakralbaus, der Basilika, eine faszinierende, ebenso lichtdurchfluteteAlternative entgegen. Bei dem fast quadratischen (so genanntes westfälischesQuadrat), rechteckigen Hauptraum von neun Jochen mit Mittel- und Seitenschiffenvon gleicher Höhe und drei Apsiden sind die Außenwände zugunsten eines überwältigendenLichteinfalls ganz und gar durchbrochen. Die Gurten und Rippen der(dünnen) Pfeiler setzen sich ohne gliedernde und damit unterbrechende Kapitelle bis11


Gotische Kunst II Lernheft 9in die Gewölbe fort und demonstrieren den aufstrebenden Charakter des gotischenRaumes, wenngleich anders als in den basilikalen Formen.Abb. 16: Soest, St. Maria zur Wiese, Innenansicht und ChorHallenkirchen haben entweder ein hohes Einheitsdach über den Schiffen, paralleleDächer über jedem einzelnen Schiff – wie beispielsweise die Danziger Marienkirche(s. Abb.) – oder aber ein Längsdach über dem Mittelschiff und Querdächer über denSeitenschiffen.Abb. 17: Danzig, Marienkirche12


Gotische Kunst II Lernheft 99.4.1.4 Monastische Architektur der Gotik1294 begannen die Franziskanerden Neubau ihrer Kirche SantaCroce in Florenz (s. Abb.), die um1385 fertiggestellt wurde. 3 Sie wurdemit ihren Dimensionen von 115 mLänge, fast 75 m Breite und gut38 m Höhe die größte italienischeFranziskanerkirche überhaupt undzeigt Macht, Einfluss und Ansehendes Bettelordens in der Stadt. DerPopularität des Ordens war es auchgeschuldet, dass sich in seinerKirche auch gerne reiche FlorentinerBürger durch Grabmale oderKunstwerke verewigen ließen, umsich von ihren Sünden erlösen zulassen.Abb. 18: Florenz, Santa CroceAuch viele berühmte Italiener wie Michelangelo, Niccolò Machiavelli, Galileo Galileioder Gioacchino Rossini haben hier ihr Grabmal.Der Architekt des Florentiner Doms, Arnolfo di Cambio (um 1240/45 – 1302) soll auchSanta Croce geplant haben – wie der Architekt, Maler und Künstlerbiograf GiorgioVasari überliefert hat. Der Grundriss ist alles andere als den klassischen gotischenVorbildern verpflichtet: ein sehr ausladendes Langhaus mit Querschiff und sehrkurzem Chorraum; der offene Dachstuhl und die weit geöffneten Arkaden desMittelschiffs zu den Seitenschiffen tragen zu dem weiträumigen Eindruck von SantaCroce bei, der trotz der basilikalen Form einen fast hallenkirchlichen Raum empfindenlässt (vgl. „Gotische Hallenkirchen“). Über der Arkadenzone verläuft eine Galerie, dievor dem Querschiff ansteigt (s. Abb.): als würde der Kirchenraum in östlicher Richtunghöher werden.9.4.1.5 Gotische Architektur in SüdeuropaWie an der Fassade des Doms in Siena (begonnen 1284 von Giovanni Pisano) findetman auch an der des Doms in Orvieto (s. Abb.), die um 1300 entstanden ist, imGegensatz zu den französischen Kathedralfassaden einen klareren, gestraffterenzweizonigen Aufbau. Das Portalgeschoss wird durch ein schmales Arkadenband vomGiebelgeschoss getrennt. Klare geometrische Formen sind beherrschend, die denreichen Fassadenschmuck umgrenzen.3Nicht selten wird Santa Croce als ein früher Sakralbau der Renaissance behandelt.13


Gotische Kunst II Lernheft 9Abb. 19: Orvieto, Dom, WestfassadeDie (relativ wenigen) gotischen Fassadenitalienischer Sakralbauten zeichnen sichdurch eine Flächigkeit aus, die zwar dasgotische Formenrepertoire wie etwaSpitzbogen, Wimperge, Fialen oder dasvon einem Skulpturenfries umgebeneRosenfenster (1354 von Andrea Arcagna,s. Detailabbildung) aufgreifen, es jedochin ganz eigentümlicher Weise einsetzen,so dass durch eine reduzierte Plastizitätein zeichnerischer Eindruck dieskulpturale Wirkung der französischenPortalarchitektur überwiegt. So entstehtgeradezu eine Zweidimensionalität, dieallenfalls gotischen Architekturzeichnungenfranzösischer Provenienzentspräche (s. Abb. Straßburg, Münster).Interessant dabei ist, dass vermutlichArchitekten aus Straßburg am Dombau inOrvieto beteiligt waren.Abb. 20: Straßburg, Münster, Westfassade(Entwurf um 1275)Abb. 21: Orvieto, Dom, Westfassade(Detail)Die gotische Baukunst berührte Italien mehr, als dass sie wirklich dort Fuß fasste.Nach der byzantinisch beeinflussten Romanik (s. Lernheft 7, Kapitel „RomanischeMalerei“) entstanden dort schon bald erste Zeugnisse der Renaissance(s. Lernheft 10).14


Gotische Kunst II Lernheft 9Abb. 23: Brügge, Tuchhallen9.4.2 Gotische Skulptur zwischen Frankreich undDeutschlandDie Deutungen des Bamberger Reitersim Bamberger Dom (vgl. Lernheft 7) sindlegendär. Untersuchungen haben weißeFarbe am Pferd und rote am Mantelnachgewiesen. Deswegen hat man denReiter als ‘König der Könige’ interpretiert,der in der Apokalypse des Johannes(19, 1 – 13) beschrieben wird: “Und ichsah den Himmel aufgetan; und siehe einweißes Pferd, und der darauf saß, hieß:Treu und Gerechtigkeit. / Seine Augensind eine Feuerflamme und auf seinemHaupt viele Kronen [...] / Und er warangetan mit einem Kleide, das mit Blutbesprengt war, und sein Name heißt: dasWort Gottes“.Abb. 24: Bamberg, Dom, Reiter16


Gotische Kunst II Lernheft 9Der Reiter wäre also eine Darstellung von Christus als Weltenrichter. Aber die Skulpturhat auch viele andere Deutungen erfahren. Einig war man sich jedoch immer überdie außergewöhnliche künstlerische Qualität des würdevoll in die Ferne schauendenReiters und seines Pferds.Schon früh wurde angenommen, dass der anonyme Bildhauer die französischenKathedralskulpturen gekannt haben muss, ja dass er möglicherweise sogar in derReimser Bauhütte gearbeitet hat.Abb. 25: Naumburg, Westchor desDoms, EkkehardAbb. 26: Naumburg, Westchor desDoms, Uta (Detail)Die möglicherweise berühmtesten Skulpturen der Gotik in Deutschland sind dieStifterfiguren im Naumburger Dom – allen voran das Paar Ekkehard und Uta. Zwölflebensgroße Figuren stehen vor den Seitenwänden und den Gewölbediensten desWestchors, an Stellen also, wo normalerweise Heiligenfiguren stehen – in einemhohen, hellen Raum, dessen zweibahnige Maßwerkfenster noch die weitgehenderhaltenen Glasmalereien schmücken. Dargestellt sind die adligen Stifter des 11. und12. Jahrhunderts, die in einem Dokument von 1249 als ‚primi fundatores‘ (lat. ersteStifter) bezeichnet werden.Kunsthistorisch bedeutsam ist die außergewöhnliche Lebendigkeit der Figurenzusammen mit ihren individuellen Gesichtszügen. Aufgrund dessen hat man langeangenommen, dass es französische Bildhauer gewesen sein müssten, die vermutlichüber Mainz nach Naumburg gekommen waren, um auch hier die immer lebendigerwerdenden Figurendarstellungen französischer Kathedralskulptur Gestalt werden zulassen.Die Kühnheit jedoch, mit der der so genannte Naumburger Meister Gestalt undHaltung mittelalterlicher Aristokraten ins Bild gesetzt hat, ist unvergleichlich: Selbstbewusstund distanziert, zugleich von lebendiger innerer Bewegung durchdrungen,tritt das Markgrafenpaar Ekkehard und Uta mit seinen feinen Gesichtszügen demBetrachter entgegen.17


Gotische Kunst II Lernheft 9Mit dem Andachtsbild ist um 1300 neben dem Kultbild und der Bauskulptur derKathedralen eine neue Form von Bildwerken entstanden. Dazu gehören etwaDarstellungen Marias mit dem Leichnam ihres Sohns, die so genannte Pietà (Mitleid),des leidenden Christus, des Schmerzensmannes (Empathie), und der vor allem inSüdwestdeutschland verbreiteten Christus-Johannes-Gruppen (Liebe), eineFormation, die aus Abendmahlsdarstellungen herausgelöst wurde.Beim letzten Abendmahl Christi, soberichtet die Bibel, ‚war aber einerunter seinen Jüngern, welchenJesus lieb hatte, der lag bei Tischean der Brust Jesu‘ (Joh. 13, 23).Diese intime Zuneigungsgestewurde im Mittelalter zu einemParadigma vertrauensvollerBindung zwischen zwei Menschen.Die vor allem in Klösternverbreiteten Bildwerke zeigen wiedie heute in Berlin verwahrte um1330 entstandene Christus-Johannes-Gruppe (vermutlich ausSigmaringen, s. Abb.) eine ruhige,intime Zweisamkeit, in der sichdurchaus auch sublimierteerotische Empfindungenwiderspiegeln.Abb. 27: Südwestdeutschland, Christus-Johannes-Gruppe,heute Berlin, Bode-Museum9.4.3 Gotische MalereiWie die genialen gotischen Baumeister ihre gewaltigen Kathedralen proportioniert undvermessen haben, so stellte man sich um 1250 auch den Weltenbaumeister Gott vor.Dieses erste Blatt der so genannten ‚Bible moralisée‘ zeigt Gott in der linken Hand dasWeltenrund haltend.In seiner rechten hält er einen Zirkel, dessen einen Schenkel er in die Mitte des Rundsgestoßen hat, um mit dem anderen den ‚Weltenkreis‘ zu ziehen. Man sieht in ihmschon Sonne und Mond, eine wolkenartige Struktur und in der Mitte ein klumpenförmigesGebilde: die Erde. Diese vielschichtige Darstellung zeigt die mittelalterliche18


Gotische Kunst II Lernheft 9Vorstellung einer rational durchgeplanten Welt. Zu dieser Zeit begann auch dieBedeutung der neugegründeten Universitäten zuzunehmen.Abb. 28: Bible moralisée, Gott als Vermesser der WeltJan van Eyck (um 1390 – 1441) gilt als der bedeutendste Repräsentant altniederländischerMalerei. Sein vermutlich um 1426 entstandenes Gemälde Maria in derKirche (Abb. links), ein kleines Format von 31 x 14 cm, zeigt den Maler als Virtuosender (gotischen) Architekturmalerei.In der äußerst filigranen Darstellung des Inneren einer gotischen Kirche – mit dembeispielhaften Aufriss von Arkadenzone, Triforium und Obergaden (vgl. Lernheft 8) –,deren großartig gestaltete Perspektive die Abbildungen architektonischer Formenfrüherer Zeit weit hinter sich lässt, schwebt Maria mit dem Jesuskind in Übergröße mitprachtvoller Krone, bewegtem Gewand und feinsinnig gestaltetem Gesicht. Gegenüberden dramatischeren und zugleich intimeren Mariendarstellungen von MatthiasGrünewald etwa drei Generationen später zeigt die Jan van Eycks eine abgeklärte, insich ruhende Figur der Gottesmutter.Die vermutlich um 1450 entstandene Grablegung Christi von Rogier van derWeyden (um 1400 – 1464, 110 x 96 cm) zeigt deutliche Einflüsse italienischerRenaissancemalerei (vgl. Lernheft 10), die der Maler auf einer Italienreise um 1450kennen gelernt hat.19


Gotische Kunst II Lernheft 9Abb. 29: Jan van Eyck, Maria inder KircheAbb. 30: Rogier van der Weyden,Grablegung Christi9.4.4 Zwischen Architektur, Skulptur und Malerei:gotische AltäreDer vermutlich großartigste gotische Altar inNorddeutschland ist der für die HamburgerSt.-Petri-Kirche geschaffene Hochaltar vonMeister Bertram aus Minden(um 1340 – 1414/15). Eine mittelalterlicheUrkunde berichtet: ‚Anno 1383 wort de tafeldes hogen altares tho S. Peter thoHamborch gemaket. De se makede, hetedemester Bartram van Mynden.Abb. 32: Meister Bertram, ehem. St.-Petri-Hochaltar, Erschaffung der Tiere20


Gotische Kunst II Lernheft 9Der Altar hat im geöffneten Zustand eine Breite von 7,26 m, dabei eine Höhe von2,77 m und beeindruckt den Betrachter schon allein durch seine Größe.Es ist ein Wandelaltar, dessen Flügel den Gläubigen eine jeweils andere Ansichtgemäß den Wochen-, Sonn- und Feiertagen vorstellte. Der Altar befindet sich heute inder Hamburger Kunsthalle. Der geöffnete Altarschrein überwältigt den Betrachter miteiner Unzahl von fast achtzig geschnitzten sitzenden oder stehenden Heiligenfiguren.Über den in zwölf spitzbogigen Nischen platzierten Figuren des Unterbaus (derPredella) erhebt sich ein zweigeschossiger Aufbau, in dessen Zentrum eine sich überdie zwei Geschosse erstreckende Kreuzigung befindet, das Zentrum christlicherHeilslehre.Die Malereien des Innenflügels des Altars zeigen in geöffnetem Zustand GottesErschaffung der Welt, den Sündenfall des Menschen, die jüdischen Patriarchen undSzenen aus der Kindheit Christi. Gern wüsste man, ob Meister Bertram von Mindeneinmal in Hildesheim gewesen ist. Wäre er dort gewesen, so hätte er sicher auch dieknapp 300 Jahre zuvor geschaffenen bronzenen Bernwardstüren von St. Michaelgesehen (vgl. Lernheft 6, Kapitel „Ottonische Skulptur“).Die drastische Darstellung derVerurteilung Adams und Evas nachdem Sündenfall durch Gott setztBertram in seinem Hamburger Altarauf fast gleiche Weise um, nur dassGott nicht – wie in Hildesheim – aufAdam, sondern auf den Baum derErkenntnis zeigt. Das Gewundene vonAdams Leib setzt er genauso ins Bildwie die Schuldzuweisungen, wennAdam auf Eva und diese auf die amBoden kriechende Schlange deutet.Im Gegensatz zu dem von alttestamentarischerWucht durchdrungenenHildesheimer Relief wirkt die MalereiMeister Bertrams gleichsam naiv unddurch die Nähe der Figuren zueinanderweit weniger dramatisch.Abb. 32: Meister Bertram, ehem. St.-Petri-Hochaltar, Strafrede Gottes21


Gotische Kunst II Lernheft 9In fast allen gotischen Kirchen findetman einen Flügelaltar, nicht seltenauch mehrere. Ob nun als Hochaltarim Chor, als (Seiten-)Altäre inKapellen oder auch einfach nur vorWänden oder Pfeilern – als zentraleAusstattungsstücke gotischer Kirchenwurden mit zunehmender HeiligenundReliquienverehrung immer mehrAltäre aufgestellt.Abb. 33: Schema FlügelaltarDer Aufbau eines Flügelaltars (s. Abb.) besteht im Allgemeinen aus einem als Stipes(lat. Klotz) bezeichneten Unterbau (f) und einer Mensa genannten Altarplatte (e).Darüber beginnt mit der Predella (d) die eigentliche künstlerische Gestaltung desAltars, über der sich der Schrein (b) mit den daran angesetzten Flügeln (c) befindet.Diese drei Teile enthalten geschnitzte oder gemalte Bildwerke. Vor allem überspätgotischen Altarschreinen befindet sich häufig ein so genanntes Gesprenge (a),eine filigrane Anordnung von Maßwerk, Fialen und Baldachinen, unter denen sichnicht selten weitere Heiligenfiguren befinden.Einer der faszinierendsten Schnitzaltäre der Spätgotik (manchmal wird er auch schonder Renaissance zugerechnet – vor allem wegen der Perspektivkonstruktionen derTafelbilder) ist der vollständig erhaltene, zwischen 1471 und 1481 entstandeneHochaltar der Pfarrkirche von St. Wolfgang im Salzkammergut mit einer Gesamthöhevon 11,10 m und einer Breite in geschlossenem Zustand von 3,16 m und von 6,50 mbei geöffneten Flügeln.22


Gotische Kunst II Lernheft 9Abb. 34: Michael Pacher, St. Wolfgang, Hochaltar (Schrein)Sein Schöpfer ist der in Bruneck in Südtirol und in Salzburg wirkende Maler undBildhauer Michael Pacher (um 1435 – 98). In seinem berühmtesten, vollständigerhaltenen Werk stellen lebensgroße Figuren im Schrein, dem Zentrum des Altars, dieKrönung der Gottesmutter Maria dar. Oberitalienische Einflüsse der Renaissance wieeine perfekt perspektivische Gestaltung sind verbunden mit gotischen Elementen, diezur Zeit der Entstehung des Altars für die Kunst nördlich der Alpen noch ungebrochenGeltung hatten:Bewegte Gewänder, das Maßwerk mit seinen filigranen Formen und Baldachine überden zentralen Figuren sind durchaus noch von gotischem Geist durchdrungen undsind auf eindrucksvolle Weise miteinander verbunden. Zum Eindruck des Kostbarenträgt auch die farbige, größtenteils goldene Fassung bei – und so kann von demMittelschrein (s. Abb.) als von der wunderbarsten Bildschnitzerei des 15. Jahrhundertsgesprochen werden.Tilman Riemenschneider (um 1460 – 1531) hat mit seiner Werkstatt in Würzburg mitdem berühmten Heilig-Blut-Altar in der St.-Jakobs-Kirche in Rothenburg ob derTauber (s. Abb.) einen Reliquienaltar geschaffen (1499 – 1504), der zur Verehrungeines angeblich dort aufbewahrten Blutstropfens Christi diente. Dieser noch später alsder von Michael Pacher geschaffene Altar scheint aber noch viel mehr als PachersWerk den gotischen Gestaltungsprinzipien verhaftet. Der dreiteilige Hintergrund (desChors einer gotischen Kirche) versammelt die Jünger Jesu beim letzten Abendmahlvor der Kreuzigung. Zudem zeigt er auch charakteristische Züge spätgotischerFormgebung: ihre immer unruhigere Linienführung und ihre ausschweifenderwerdende Formfantasie.23


Gotische Kunst II Lernheft 9Abb. 35: Tilman Riemenschneider, Heilig-Blut-Altar (Detail)Aber auch ikonografisch geht Riemenschneider neue und ungewöhnliche Wege: NichtJesus, sondern der ‚Verräter‘ Judas wird zur zentralen Figur, die als einzige stehenddargestellt ist.9.5 Selbstlernaufgaben1. Welche Perioden unterscheidet man in der englischen Gotik und wie würden Siediese stilistisch beschreiben?2. Welche sakrale Bauform hat die Gotik neben der Basilika geschaffen?3. Beschreiben Sie die (ikonografischen) Gemeinsamkeiten und Unterschiede derSündenfall-Darstellungen der Hildesheimer Bernwardstür und der AltarmalereiMeister Bertrams.4. Nennen Sie Formen des mittelalterlichen Andachtsbildes und erläutern Sie ihreFunktion.5. Wie nennt man die verschiedenen Teile, aus denen ein (spät) gotischer Flügelaltarbesteht?24


Gotische Kunst II Lernheft 99.6 ZusammenfassungDie aus Frankreich kommenden Formen der gotischen Kunst haben sich in ganzEuropa ausgebreitet, allerdings in ganz eigenen Formen. In England entstandengewaltige Sakralbauten, die die französischen Anregungen mit eigenen Traditionenverbanden und daraus äußerst fantasievolle Formen entwickelten. In Nordeuropaentwickelte sich die Backsteingotik. In Italien schufen die Architekten mit demgotischen Formenrepertoire einen ganz eigentümlichen Stil. Auch die städtischeArchitektur erhielt in gotischer Zeit durch repräsentative Bauten ein neues Gesicht.Die französische Kathedralskulptur fand besonders in Deutschland bedeutendeNachfolgelösungen, so in Bamberg und in Naumburg.In der Gotik bildet sich neben der Buch- und Glasmalerei die Tafelmalerei mehr undmehr aus und bleibt auch nicht länger auf die Altarmalerei beschränkt. Erstmals imMittelalter werden so einzelne Künstler individuell und namentlich wahrgenommen.9.7 HausaufgabeStellen Sie die Besonderheiten der Entwicklungen der gotischen Kunst dar, indem Sieden jeweiligen Ländern (England, Deutschland, Italien) in Abgrenzung zurfranzösischen Gotik Ihre Aufmerksamkeit widmen.9.8 Lösungen zu den Selbstlernaufgaben1. Man unterscheidet im Wesentlichen drei Phasen: Early English(um 1180 – 1240), Decorated Style (1240 – 1330) und Perpendicular Style(1330 – 1500). Sie lassen sich am Maßwerk der Fenster ablesen, das immeraufwändiger und fantasievoller gestaltet wurde.2. Den Typus der Hallenkirche, bei der Mittel- und Seitenschiffe gleiche Höhehaben.3. Im Gegensatz zur dramatischen Strenge des Hildesheimer Reliefs mit derDistanzierung der Figuren voneinander wirkt das Gemälde Meister Bertramsgleichsam naiv und durch die Nähe der Figuren zueinander weit wenigerdramatisch.4. Dazu gehören etwa die Pietà, der Schmerzensmann und die Christus-Johannes-Gruppe. Sie sollen bei ihren Betrachtern Mitleid, Empathie (Einfühlung) und Liebezu/mit ihren Mitmenschen hervorrufen.5. Stipes, Mensa, Predella, Schrein mit Flügeln, Gesprenge (von unten nach oben).25

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