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Jens Halfwassen, Heidelberg HEGEL UND PLOTIN ÜBER ...

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<strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, <strong>Heidelberg</strong><strong>HEGEL</strong> <strong>UND</strong> <strong>PLOTIN</strong> <strong>ÜBER</strong> SELBSTERKENNTNIS <strong>UND</strong> DENKEN SEINER SELBST:ZUR BEDEUTUNG DES NEUPLATONISMUS FÜR <strong>HEGEL</strong>S BEGRIFF DES GEISTESHegels programmatischer Rückgriff auf die antike Geistmetaphysik“Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. – Diese Defintionzu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absoluteTendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hin hat sich alle Religion undWissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen.” 1 Indiesen Worten kulminiert Hegels Beschreibung des “Begriffs des Geistes” in derEnzyklopädie. Im Begreifen des Geistes als der höchsten Bestimmung des Absolutenvollendet sich für Hegel die Philosophie; Hegels eigene Philosophie erhebt den Anspruch,dies in ultimativer und systematisch nicht mehr überbietbarer Form zu leisten.Da Hegel die Geschichte der Philosophie als Fortschrittsgeschichte konzipiert, könnteman das ultimative Begreifen der höchsten Wahrheit auch erst am Ende der geschichtlichenEntwicklung der Philosophie erwarten. Es mag darum durchaus überraschen, daß Hegel diesehöchste Einsicht schon der antiken Philosophie zuspricht. Er schreibt nicht nur, “das Wortund die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden”, 2 er beendet seine Enzykloplädie auch miteinem unkommentierten Zitat aus Aristoteles, 3 dessen Aussagen über den höchsten,vollkommensten und göttlichen Nus als reine Tätigkeit und Denken seiner selbst damitoffenbar für die ultimative Einsicht der Philosophie überhaupt stehen.Hegels eigene Philosophie versteht sich denn auch programmatisch als Rückgriff aufdie antike Nus-Metaphysik. Hegel denkt den Geist und sein Prinzip, die logische Idee, nichtals individuelles oder transzendentales Subjekt, sondern als die Totalität aller Bestimmungen.Solche Bestimmungstotalität aber läßt sich nur spekulativ begreifen; sie entzieht sich derRationalität des Verstandes, der jede Bestimmung immer nur in ihrer Einseitigkeit undEndlichkeit, nämlich in ihrer gegen alles andere fixierten, je besonderen Bestimmtheit denkt,ohne ihre dialektische Einheit mit ihrem jeweiligen Gegensatz und zuletzt mit allen anderenBestimmungen zu bedenken; das Wesen des Geistes aber ist “die absolute Einheit des1 G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl. <strong>Heidelberg</strong> 1830, §384 Anmerkung.2 Ebd.3 Aristoteles, Metaphysik XII 7, 1072 b 18–30.


3mit beißendem Spott vorhält; 8 und eben aufgrund dieser Unhintergehbarkeit seinerSelbstbeziehung kann der Geist sich selbst nicht als eine besondere, endliche Bestimmungneben anderen besonderen und endlichen Bestimmungen und unabhängig von ihnen denken,sondern nur als die Einheit aller Bestimmungen, auch und gerade der entgegengesetzten.Auch wenn Hegel Aristoteles als Beispiel für ein “wahrhaft spekulatives” Begreifen desGeistes nennt, 9 so ist es gleichwohl nicht Aristoteles, an dem sich Hegels eigeneGeistmetaphysik orientiert, sondern der Neuplatonismus. 10 Erst im Neuplatonismus nämlichwird die Selbstbeziehung des Denkens, die Aristoteles als das Auszeichnende des Geistesherausgestellt hatte, mit der Totalität aller Bestimmungen und mit der Einheit der Gegensätzezusammengebracht und damit ein nach Hegels Maßstäben angemessener Begriff des Geistesentfaltet. 11 Dachte Aristoteles den sich selbst denkenden göttlichen Nus noch als einbesonderes Seiendes neben anderem Seienden, so begreift Plotin als erster den Nus als dieFülle und den Inbegriff des Seins überhaupt. Wo Aristoteles die Identität von Denken undSein im Geist noch gleichsam punktuell als die Auszeichnung des höchsten Seienden dachte,begreift sie Plotin als das universale Wesen des Seins selbst, als die Einheit aller Ideen.Darum beginnt erst mit dem Neuplatonismus und noch nicht mit Aristoteles “die Welt derGeistigkeit”, 12 wie Hegel sagt; “denn dies ist erst der Geist – nicht nur das reine Denken,sondern das Denken, das sich gegenständlich macht und in dieser Gegenständlichkeit sicherhält, die Gegenständlichkeit sich adäquat macht, darin bei sich ist”. 13 Darum hat erst mitdem Neuplatonismus “die Philosophie [...] den Standpunkt erreicht, daß sich dasSelbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute wußte”. 14Ich möchte nun die Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Begriff des Geistesanhand von drei grundlegenden Einsichten herausarbeiten, die für Hegel und für Plotingleichermaßen wesentlich sind, um den Geist in seinem unendlichen Selbstbezug begreifen zukönnen: 1. Für beide ist der Geist wesentlich Resultat; er kommt durch die Entfaltung derursprünglichen Einheit des Seins in die Totalität seiner reinen eidetischen Bestimmungen zu7 Ebd. S. 195.8 Ebd. S. 193 und ff.9 Ebd. S. 195.10 Vgl. dazu umfassend <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zurMetaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, 2. Aufl. Hamburg2005.11 Vgl. dazu ebd., bes. S. 350–385 (zu Plotin) und S. 432–462 (zu Proklos).12 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (Theorie-Werkausgabe, Band 19),Frankfurt a. M. 1986, S. 413.13 Ebd., S. 412.14 Ebd., S. 404. Dazu ausführlich <strong>Halfwassen</strong>, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, a.a.O. (Anm. 10), S.118 ff.


4sich selbst, welche Entfaltung beide als eine Selbstvermittlung des Seins konzipieren, in derdas Sein sich erfüllt und als Geist zu sich selbst zurückkehrt. 2. Beide fundieren dieSelbstbeziehung des reinen Denkens, das Denken seiner selbst, in einer Struktur, die Hegelkonkrete Totalität nennt, die aber in der Sache schon Plotin konzipiert. 3. Beide begreifen denGeist dabei als eine triadische Einheit, deren unterschiedene Momente in dynamischerIdentität durcheinander hindurchgehen und sich wechselseitig bestimmen.Geist als Selbstvermittlung des SeinsHegel denkt den Geist idealistisch als die Identität von Subjekt und Objekt, von Denkendemund Gedachtem. Diese Identität aber ist keine in sich unterschiedslose Einfachheit undEinerleiheit, sondern die Einheiten bildende Tätigkeit des Sich-von-sich-selbst-Unterscheidens, die im Sich-Unterscheiden zugleich alle Weltformen hervorbringt, die derInhalt des Wissens sind. Die erfüllte Selbstbeziehung des Geistes, die sich selbst wissendeEinheit mit sich im Unterschied, ist darum das Resultat der Tätigkeit des Sich-Unterscheidens, die alle reinen Bestimmungen des Seins, des Wesens und des Begriffshervorbringt, dies aber so tut, daß sie in der Totalität der hervorgebrachten Unterschiedezugleich zu sich selbst zurückkehrt und in ihr sich selbst als die hervorbringend tätige Einheitaller Unterschiede weiß. Der Geist ist dabei in einem doppelten Sinne Resultat: als absoluteIdee ist er die hervorbringend tätige Einheit aller logischen Kategorien; und als absoluterGeist ist er die hervorbringend tätige Einheit aller Realität in Idee, Natur und Geschichte.Diese Selbstvermittlung der Idee und des Geistes aber geht aus von einer in sichundifferenzierten, einfachen Einheit: dem reinen Sein, das als unbestimmte Unmittelbarkeitder reine, weil selbst völlig bestimmungslose Anfang aller Bestimmungen ist. Diedialektische Entfaltung aller reinen Bestimmungen aus diesem bestimmungslosen Anfang istdarum zugleich die Erfüllung des Seins, so daß Hegel sagen kann: “die absolute Idee allein istSein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit”; 15 der Geist aberist “die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee [...], deren Objekt ebensowohl als ihr Subjekt derBegriff ist”. 16Wie Hegel, so denkt auch Plotin den sich selbst denkenden Geist als die Erfüllung desSeins, die das Resultat seiner Selbstentfaltung und Selbstvermittlung ist. Das Sein denktPlotin dabei freilich nicht wie Hegel als unbestimmte Unmittelbarkeit, sondern als das seiendeEine im Sinne Platons, das in seiner Zweiheit aus Einheit und Sein das absolute Minimum an15 Hegel, Logik II, a.a.O. (Anm. 4), Ges. Werke, Band 12, S. 236.16 Hegel, Enzyklopädie, a.a.O. (Anm. 1) § 381.


5Bestimmtheit und Denkbarkeit darstellt, von dem die Entfaltung aller übrigen Bestimmungenihren Ausgang nehmen muß; Plotin orientiert sich dabei an der zweiten Hypothesis desPlatonischen Parmenides. 17 Das seiende Eine bringt nun alle Ideen dadurch hervor, daß essich in sich selbst unterscheidet in eine Vielheit von seienden Einheiten, welche die Ideensind. Diese Selbstunterscheidung in die verschiedenen Ideen aber vollzieht sich so, daß in ihrdas seiende Eine zugleich zu sich selbst als Einheit zurückkehrt und so mit sich identischeEinheit bleibt, obwohl es zur Vielheit wird. Diese Selbstunterscheidung und Selbsterfüllungdes seienden Einen in der Totalität aller Ideen aber ist wie die logische Entwicklung derKategorien bei Hegel kein zeitlicher Prozeß, sondern vollzieht sich prozeßfrei in zeitloserEwigkeit. Ihr Resultat ist der Nus, der ewig sich selbst als die Einheit aller Ideen anschaut undweiß. 18Der sich selbst wissende Nus ist dabei für Plotin genau wie die Idee für Hegel dasMovens der Selbstentfaltung des Seins in die Ideentotalität, denn der Geist ist das Zu-sichselbst-Kommenund Bei-sich-Sein der intelligiblen Totalität: “der Geist”, so schreibt Plotin,“fängt an als einfache Einheit, bleibt aber nicht, wie er anfing, sondern von sich selbstunbemerkt wird er zur Vielheit, wie schlaftrunken, er entfaltet sein Selbst, weil er Alles insich haben will”. 19 Hegel kommentiert: “Der νους ist das Sich-selbst-Finden seinerselbst”. 20 Die Entfaltung des Geistes aus unentfalteter Einheit gründet also im Sich-Selbst-Besitzen-Wollen des Geistes und damit in der Selbstbeziehung des Denkens, das nur durchseine Selbstentfaltung zu sich kommt. Dieses Zu-Sich-Kommen des Geistes ist unwillkürlichund absichtslos, weil der Geist dadurch allererst er selbst wird, seiner eigenen Entfaltung alsonicht als wollender Geist schon vorausgehen kann. Der Geist sieht seiner eigenenSelbstentfaltung in die Totalität aller Ideen gleichsam nur zu, weiß dabei aber zugleich sichselbst nicht nur als das Telos jener Entfaltung, sondern auch als ihren Grund, der sie initiiertund in allen ihren Stufen trägt.Konkrete Totalität als Grundstruktur denkender SelbstbeziehungWarum ist nun aber die Entfaltung des anfänglich unentfalteten Seins in die Totalität allerreinen Bestimmungen Geist und d.h. Denken seiner selbst, Sich-Wissen oderSelbstbewußtsein? Von der Beantwortung dieser Frage hängt für Hegel wie für Plotin einangemessenes Verständis dessen ab, was Geist überhaupt ist. Und beide beantworten diese17 Vgl. Platon, Parmenides 142 B ff.18 Vgl. dazu <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, S. 68–84.19 Plotin, Enneade III 8, 8, 30–34.


6entscheidende Frage gleich. Der beiden gemeinsame Grundgedanke ist dabei der, daß dieSelbstunterscheidung des als ursprüngliche Einheit und Ganzheit aufgefaßten Seins zugleichdessen Rückkehr zu sich selbst ist und eben als diese Selbstbeziehung schon Denken, undzwar Denken seiner selbst oder Denken des Denkens selbst. 21Hegel konzipiert diese Rückkehr zu sich selbst als die konkrete Allgemeinheit desBegriffs. Der Begriff bestimmt sich dadurch selbst, daß eine ursprüngliche, anfänglichunbestimmte, aber gleichwohl als Ganzheit aufgefaßte Einheit sich zunächst immanent in diein ihr enthaltenen Besonderheiten entzweit. Dabei werden die Besonderheiten, in die sich dieAnfangseinheit, das ursprüngliche Allgemeine entzweit, zunächst für sich gesetzt und alsEntgegengesetzte aufeinander bezogen, so daß sie sich in dieser Entgegensetzungwechselseitig negieren und eben dadurch zugleich bestimmen (nach dem Grundsatz: “omnisdeterminatio est negatio”). Als Entzweiungen eines ursprünglichen Ganzen, die diesemimmanent bleiben, schließen sich die in ihrer Bestimmtheit negativ aufeinander bezogenenBesonderheiten nun wechselseitig aus, – sie bilden einen “Widerspruch”; durch diesenWiderspruch aber werden sie zugleich in ihrer Selbständigkeit aufgehoben, jedoch nicht insNichts, sondern in die höhere Einheit des sie umfassenden Allgemeinen, das nunmehr selberdadurch mit Bestimmtheit erfüllt ist, daß es die Besonderheiten und ihren Widerspruch alsaufgehobene und unselbständige Momente in sich enthält; dies ist die begriffslogischeEinzelheit. Die ursprüngliche Allgemeinheit kehrt also durch ihre Selbstunterscheidungzugleich zu sich selbst zurück und bleibt in ihren Unterschieden mit sich selbst identisch.Weil sie kraft der untrennbaren Einheit ihrer Momente “das sich selbst Besondernde(Spezifizierende) und in seinem Anderen in ungetrübter Klarheit bei sich selbst Bleibende”ist, 22 ist die konkrete Allgemeinheit Prinzip und Inbegriff reiner denkender Selbstbeziehung.Sie ist darum für Hegel der sich selbst begreifende Begriff, der sich in spekulativen Urteilenund Schlüssen weiter entfaltet und sich dabei zugleich in immer vollendeterer Weise mit sichselbst vermittelt, bis er in der absoluten, sich selbst denkenden Idee seine höchste, zugleichvollständig entfaltete und vollkommen vermittelte Einheit erreicht. In dieser allumfassendenEinheit sind alle besonderen Bestimmungen im bekannten Hegelschen Dreifachsinn“aufgehoben”, d.h. sie sind in ihr auf die Weise enthalten, daß ihre einseitige, das jeweiligeGegenteil nur ausschließende und dadurch endliche Bestimmtheit negiert ist, dabei aber ihrGehalt durch die Einheit mit ihrem Gegensatz zugleich bewahrt und ent-grenzt, also20 Hegel, Vorlesungen, a.a.O. (Anm. 12), Theorie-Werkausgabe, Band 19, S. 448.21 Vgl. dazu auch <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, “Geist und Subjektivität bei Plotin”, in: Probleme der Subjektivität inGeschichte und Gegenwart, hg. v. Dietmar H. Heidemann, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 243–262.


7gesteigert wird. Auf diese Weise ist die Idee die Totalität aller Bestimmungen und als solchewahrhaft unendlich.Wie sehr Plotin diese selbstbezügliche Struktur der konkreten Allgemeinheitvorwegnimmt, beweist eine eindrucksvolle Stelle, auf die schon Hegel hingewiesen hat, undan der Plotin die Frage erörtert, in welchem Sinne das seiende Eine der Grund der Ideen ist:“Vielleicht darf man gar nicht sagen, das seiende Eine sei der Grund (ατιον) der anderenIdeen, sondern man muß diese gleichsam als seine Momente (μρη) und gleichsam als seineElemente (στοιχεα) auffassen und das Ganze als eine einheitliche Wesenheit, die nur durchunser begriffliches Denken (πνοια) gleichsam zerteilt wird, während es selbst durch seinewunderbare Kraft Eines in Allem ist und als Vieles erscheint und zu Vielem wird, wenn essich gleichsam bewegt, und diese Vielfältigkeit seiner Wesenheit bewirkt, daß das Eine nichtEines ist. Wir heben gleichsam Teile von ihm heraus, setzen sie als je besondere Einheit undnennen sie Idee, ohne zu wissen, daß wir nicht das Ganze in eins und zumal erblickt haben,sondern nur einen Teil herausheben und die Teile dann wieder verknüpfen, da wir sie nichtlange Zeit festhalten können; denn sie streben zu sich selbst zurück. Deshalb entlassen wir siewieder in das Ganze und lassen sie wieder Eines werden, vielmehr Eines sein”. 23Daß die Einheit des seienden Einen im Vollzug ihrer Selbstentfaltung in die Vielheitder Ideen nicht verschwindet, sondern sich als Einheit durchhält und in der entfaltetenVielheit zu sich selbst zurückkehrt, dies begründet Plotin damit, daß jede einzelne Idee in sichselbst zugleich das Ganze aller Ideen enthält, also selbst die Einheit des Seins ist, und nurvom diskursiven Denken, nicht aber vom Nus selbst künstlich von diesem Ganzen abgetrenntwird: “im Geist ist das Einzelne ewig aus dem Ganzen, es ist Einzelnes und Ganzes ineins”. 24Darum bleibt das seiende Eine in seinen Unterschieden auch mit sich selbst identisch. DieIdeen sind also die artikulierenden Momente des Nus genau in dem Sinne, in dem Hegel vonden Momenten des Begriffs spricht, von denen jeder selbst das Ganze des Begriffs ist. 25Damit aber wird die Identität von Sein und Denken, die der Nus ist, durchsichtig: Dasseiende Eine, die Einheit des Seins, ist selbst Denken und Nus, weil es sich in die Ideenentfaltet und durch diese Selbstentfaltung so zu sich selbst zurückkehrt, daß es alle entfalteteVielheit in seiner Einheit im Hegelschen Sinne zugleich aufhebt und bewahrt; so ist das Seinerfüllte All-Einheit. Die Selbstentfaltung des seienden Einen in die Totalität der Ideen hat22 Hegel, Enzyklopädie, a.a. O. (Anm. 1), § 163 Zusatz.23 Plotin, Enneade VI 2, 3, 20–32. – Hegel, Vorlesungen, a.a.O. (Anm. 12), Theorie-Werkausgabe, Band 19, S.451 f verweist auf diese Stelle bei Plotin.24 Plotin, Enneade V 8, 4, 22 f.25 Vgl. Hegel, Enzyklopädie, a.a.O. (Anm. 1), § 160.


8darum in sich selbst schon den Charakter geisthafter Selbstbeziehung; sie ist alsSelbstvermittlung des Seins ein seinshaftes, im Sein selbst ausgesprochenes Denken, dasPlotin eine οσιδης νησις nennt. 26 Das erfüllte Sein ist in sich selbst Denken und Geist,weil es nur so es selbst und d.h. die sich tätig zu sich selbst vermittelnde Fülle der Ideen ist.Geist als triadische EinheitVon dieser Plotin und Hegel gemeinsamen Bestimmung des geistigen Seins als einer All-Einheit aus, die sich in der durchgängigen Relationalität ihrer Momente zu sich selbstvermittelt, wird nun auch einsichtig, wieso sich das Denken in seiner Beziehung auf seineGehalte immer schon zugleich auf sich selbst bezieht und wie dabei die Einheit seinerdenkenden Selbstbeziehung, sein Selbstbewußtsein, zustande kommt. Denken ist für Plotinnämlich genau wie für Hegel gerade kein Akt eines zunächst fürsichseienden Subjekts, dassich darin auf ein von ihm getrenntes, ihm nur gegenüberstehendes Objekt bezieht, so daßunbegreiflich bleiben muß, wie es sich in dieser Beziehung zugleich auf sich selbst beziehenkann; eine solche am Modell der Sinneswahrnehmung orientierte Ansicht bleibt dem sich aufsich beziehenden Denken vielmehr prinzipiell unangemessen. Das, worauf das reine Denkensich ursprünglich richtet, ist kein von ihm getrenntes Objekt, sondern die Einheit desnoetischen Seins; diese ist aber das seiende Eine, das in seiner Selbstentfaltung zu sichzurückkehrt und darum in sich selbst schon denkende Selbstbeziehung ist. Darum erkennt dasDenken im Erfassen der Einheit der Ideen sich selbst als Denken, und zwar als reines Denkenseiner selbst; der Nus steht den Ideen also nicht als ein von ihnen verschiedenes Subjektgegenüber, sondern er ist mit dem ideenhaften Sein als sich zu sich selbst vermittelnder All-Einheit identisch.Für Plotin besitzt darum das Denken seiner selbst, die Noesis Noeseos, keinezweipolige, sondern eine dreipolige Struktur: “Er unterscheidet im νος das Denken (νος),das Gedachte (νοητν) und den Gedanken (νησις), so daß der νος Eins und zugleich Allesist; die νησις ist aber die Einheit der Unterschiedenen”, 27 so paraphrasiert Hegel diese“Grundidee” Plotins. Der Denkakt, die Noesis, ist darum das vereinigende Dritte, weil sowohlder denkende Geist als auch das Gedachte, die Viel-Einheit des intelligiblen Seins, jeweils insich selbst Denkvollzug ist. Denn Denken ist nichts anderes als diejenige selbsttätigeEntfaltung der Einheit in die Vielheit, in deren Vollzug die Einheit zugleich zu sich selbst26 Plotin, Enneade V 3, 5, 37. Vgl. dazu Werner Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit.Plotins Enneade V 3, Frankfurt a. M. 1991, S. 197 ff.27 Hegel, Vorlesungen, a.a.O. (Anm. 12), Theorie-Werkausgabe, Band 19, S. 453. Hegel zitiert hier verkürzendPlotin, Enneade V 3, 5, 43–48.


9zurückkehrt; darum erkennt der Geist in der von ihm gedachten All-Einheit des Seins sichselbst als denkender Geist; er steht der gedachten All-Einheit nicht als ein von ihrverschiedenes “Subjekt” gegenüber, sondern ist selbst mit ihr identisch: Geist istSelbstvollzug der konkreten Totalität der Ideen. 28Plotin betont freilich die Einheit des Nus so sehr, daß er von ihm jede Diskursivitätkonsequent ausschließt. Das selbstbezügliche Wissen des Nous hat den Charakter einerintellektuellen Anschauung, eines δεν κα ασθνεσθαι; 29 Plotin unterscheidet dieNoesis darum wie Platon und Aristoteles systematisch von der diskursiven Denkform derDianoia, des Logismos oder der Epinoia. 30 Die intellektuelle Selbstanschauung des Nus ist indem Sinne einfach, daß sie zwar den Unterschied – ja die gesamte eidetische Differenziertheitdes Ideenkosmos – in sich enthält, aber kein Auseinandertreten der Unterschiede in dieGetrenntheit und Selbständigkeit kennt wie das diskursive Denken, dem Plotin eben wegendieser Trennung seiner Momente die Möglichkeit zu erfüllter Selbsterkenntnis abspricht. Inder konkreten Totalität des Nus sind alle besonderen Ideen die immanenten Momente eineruntrennbaren Einheit, der gegenüber sie keine Selbständigkeit gewinnen und von der sie dasdiskursive Denken nur durch einen Akt der Abstraktion abtrennt. Weil das erfüllte Sich-Wissen des Geistes durch die konkrete Totalität der Ideen zustande kommt, genügt es fürPlotin sich selbst; es bedarf keiner weiteren diskursiven Entfaltung und Vermittlung, umvollständig zu sich selbst zu kommen, weil es kraft der untrennbaren Einheit aller Momenteim Nus in jedem einzelnen seiner Momente immer schon ganz und gar bei sich selbst ist. DerNus ist so “gleichsam unentfaltet entfaltet”, 31 so Plotin. Anders als Proklos kennt Plotindarum auch keine spekulative Deutung des Syllogismus, in dessen Vereinigung der diskursivgetrennten Momente Proklos ähnlich wie Hegel eine Selbstdarstellung der selbstbezüglichenEinheit des Nus sah. 32Dagegen konzipiert Hegel seine spekulative Dialektik als die vollständigeVereinigung der beiden Vollzugsformen des Denkens: intellektuelle Anschauung unddiskursive Reflexion; beide sind in der dialektischen Methode nicht mehr getrennt, sondernvollkommen miteinander verschmolzen. Die vollständig entwickelte konkrete Allgemeinheitmuß ihren eigenen Gehalt in spekulativen Urteilen und Schlüssen eigens entfalten und enthält28 Vgl. dazu <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, Mainz und Stuttgart1994.29 Plotin, Enneade V 3, 4, 4.30 Vgl. dazu immer noch Klaus Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon undAristoteles, 2. Aufl. Hamburg 1985.31 Plotin, Enneade VI 8, 18, 18.32 Proklos, Commentarius in Platonis Parmenidem, Col. 1152, 2–8 Cousin.


10darum die Diskursivität des Denkens als ein wesentliches Moment ihres Sich-Wissens in sich.Dieses diskursive Wesensmoment bleibt auch in der Idee und im Geist als der höchsten undvollkommensten Weise des Sich-Wissens und Sich-Denkens erhalten. Denn die absolute Ideeerkennt sich selbst als die entfaltete und zugleich einfache Einheit aller logischen Kategorienin der absoluten Methode; diese aber enthält mit dem analytischen und dem synthetischenMoment der Methode die Diskursivität des endlichen Erkennens als ein aufgehobenes, darinaber zugleich bewahrtes Moment in sich. Und auch der absolute Geist erkennt sich selbstvollendet erst im System der drei Schlüsse, in denen sich die logische Idee in die Natur undden Geist entzweit und sich durch deren Entwicklung zugleich mit sich selbst zur Einheitzusammenschließt. Erst diese polysyllogistische Bewegung schließt darum den ganzenReichtum der Natur und des realen, subjektiven und objektiven Geistes in dieSelbsterkenntnis des absoluten Geistes ein. 33Unbeschadet dieser Unterschiede bleibt aber festzuhalten, daß mit der triadischenStruktur der konkreten Totalität, die Plotin als erster klar formuliert hat und die Hegel derSache nach von Plotin übernimmt, der Schlüssel gefunden ist, der erschließt, warum der Geistsich selbst weiß, wenn er die Gesamtheit seiner Gehalte weiß, und warum er in der Einheitseiner Gehalte und nur in ihr auch sich selbst als Einheit weiß, seine eigene Einheit also nichtüber der Vielheit seiner verschiedenen Gehalte aus dem Blick verliert, während der trennendeVerstand buchstäblich den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Mit dem Gedanken einer sichselbsttätig in sich unterscheidenden und sich in ihren Unterschieden selbst bestimmendenEinheit ist schließlich auch jenes Prinzip entdeckt, welches die Realitätshaltigkeit desDenkens in allen seinen Bestimmungen garantiert und die Philosophie damit vor den Aporiender neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Spaltung bewahrt mit ihrem weltlosen Subjekt, das leer nurin sich selbst kreist, auf der einen und dem Ungedanken eines extramentalen Urgesteins aufder anderen Seite. Es ist die Selbstunterscheidung des Denkens in sich selbst, in der diesessich mit Bestimmtheit und Gehalt erfüllt, ja mehr noch, in der der Geist alle Bestimmtheit undallen Gehalt allererst selbst hervorbringt. Darum erkennt er sich selbst nur als die unendlicheTotalität aller Gehalte, als die Fülle des Seins.Resumee: Hegel und Plotin33 Vgl. dazu eingehend Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, 3. Aufl. Bonn 1995, bes.S. 251 ff, 266 ff, 313 ff; ferner ders., “Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik”, in: HegelsWissenschaft der Logik, hg. v. Dieter Henrich, Bonn 1986, S. 15–39. – Zu den Unterschieden zwischen Plotinund Hegel in der Konzeption des Zustandekommens und der Struktur denkender Selbstbeziehung vgl.eingehender <strong>Halfwassen</strong>, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, a.a.O. (s. Anm 10), S. 378 ff.


11Ziehen wir abschließend Bilanz! Die Gemeinsamkeiten Hegels mit Plotin in der Art undWeise, in der beide den Geist als die Totalität aller Gehalte denken, in der sie dieBestimmtheit generierende und dabei sich selbst mit Gehalt erfüllende konkreteAllgemeinheit konzipieren und in der sie das Sich-selbst-Denken des Geistes als triadischeEinheit begreifen, zeigen wohl hinreichend, daß Plotins Nusmetaphysik die entscheidendehistorische Vorlage für Hegels Begriff des Begriffs, der Idee und des Geistes ist. 34 DieSystematisierung der Nuslehre Plotins durch Proklos, in der Hegel selbst den Höhepunkt desantiken Denkens erblickt, basiert gerade in dem Punkt, den Hegel als den allesentscheidenden hervorhebt, ganz und gar auf den Einsichten Plotins: nämlich in derdurchgängen dynamischen Identität aller Momente in der selbtbezüglichen Einheit des Nus.Zugleich zeigen die Unterschiede, auf die ich hingewiesen habe, daß Hegels Begreifendes Geistes auch über Plotin hinausgeht: die Einbeziehung der Diskursivität des Denkens unddie Einbeziehung der Geschichtlichkeit des Geistes in die Selbsterkenntnis des absolutenGeistes sind unbestreitbar Vorzüge, denn sie beziehen Dimensionen ein, die auch schonPlotin als Manifestationen des Geistes begriffen hat: diskursiv denkende Seele, Natur undGeschichte sind für Plotin Entäußerungen des Nus, in denen dieser sich sucht, aber ohne sichwahrhaft zu finden. Hegel begreift sie als Stufen zum erfüllten Sich-Wissen des Geistes, diein diesem aufbewahrt sind. In dieser Perspektive erscheint Plotins Nusmetaphysik als eine beialler Genialität gleichwohl noch vorläufige Vorgestalt der Hegelschen Metaphysik.Doch ist dies nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit besagt, daß Plotin nicht nurVorgestalt, sondern auch Alternative zu Hegel ist. Das hängt mit einem Unterschiedzusammen, von dem bisher noch gar nicht die Rede war: für Plotin nämlich ist der Geist nichtdas Absolute. Das Absolute ist vielmehr das Eine selbst jenseits des Seins und jenseits desGeistes. Deswegen läßt sich Plotins henologische Metaphysik nicht positiv in Hegelsabsoluten Idealismus aufheben. Plotin begründet nämlich die Notwendigkeit, über den Geisthinauszugehen, genau mit jener entscheidenden Einsicht in die Struktur des Geistes, die er mitHegel teilt. Es ist gerade die spezfische Einheitsweise des Geistes, die dynamische All-Einheitder konkreten Totalität, die es für Plotin notwendig macht, über den Geist hinauszugehen. DerGeist kann seine eigene Einheit genau deswegen nicht allein aus sich selbst begründen, weiler konkrete Totalität ist, so Plotin. Als konkrete Totalität ist das Denken nämlich die Tätigkeitdes Vereinigens und des Unterscheidens in einem. Und weil dem Denken das Unterscheiden34 Zu diesem Ergebnis kam schon André Doz, La Logique de Hegel et les problémes traditionelles de l’ontologie, Paris 1987, bes. S. 178 ff.


12genau so wesentlich ist wie das Vereinigen, kann es nicht selbst der absolute Grund seinereigenen Einheit sein; es ist nämlich Einheit nur, insofern es zugleich Zweiheit ist. 35Weil das Denken aber in seiner Selbstunterscheidung alle Gehalte allererst selbsterzeugt, kann das Absolute, dem das Denken seine eigene Einheit verdankt, selbst keindenkbarer Gehalt mehr sein. Das Absolute kann darum nur noch via negationis als absoluteTranszendenz gedacht werden: “Es ist das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, undzwar in der Weise, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, nicht Sein, nochWesen, noch Leben – das all diesem Transzendente ist”, 36 so Plotin. Plotin fundiert dieEinheit des Geistes nicht in ihm selbst, sondern in seinem Transzendenzbezug zum Einenselbst. Plotin weiß dabei, daß die Selbstbeziehung des Denkens im Denken unhintergehbar ist,also auch im Denken des Absoluten nicht gegenständlich hintergriffen werden kann. DerTranszendenzbezug zum Absoluten ist darum kein Bezug auf einen dem Denken jenseitigenGehalt, sondern der absolut ungegenständliche letzte Einheitshorizont, der den Bezug aufGehalte überhaupt und in ihnen den Bezug auf sich selbst erst ermöglicht, genau darin aberüber beide hinaus geht; und dieser letzte Einheitshorizont wird gerade im Selbstbezug desDenkens entdeckt. –Die Aufgabe des Philosophiehistorikers ist damit erfüllt. Sie besteht in dem Nachweisder Verwandtschaft zwischen Hegel und Plotin in der Weise, wie sie den Geist begreifen, undin dem Nachweis ihrer unaufhebbaren Differenz in der Frage des Absoluten. Für diePhilosophie aber ergibt sich damit eine Aufgabe, die bisher noch nicht in Angriff genommenwurde: dies wäre der Versuch, die Grundgedanken von Hegel und Plotin zu vereinigen, ohneden einen in den anderen aufzuheben.Prof. Dr. <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>Hirtenaue 4169118 <strong>Heidelberg</strong>j.halfwassen@gmx.de35 Vgl. dazu <strong>Halfwassen</strong>, Plotin, a.a.O. (Anm. 18), S. 84 ff.36 Plotin, Enneade III 8, 10, 28–31. – Zum Absoluten als absoluter Transzendenz und zur Herkunft diesesGedankens von Platon und Speusipp vgl. <strong>Jens</strong> <strong>Halfwassen</strong>, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platonund Plotin, 2. Aufl. München und Leipzig 2006.

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