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Fütter- und Essstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter

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<strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> <strong>Essstörungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Säuglings</strong>- <strong>und</strong> <strong>Kleinkindalter</strong>Dr. N. von HofackerAm 02. Dezember fand für Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte<strong>und</strong> Pädagogen ein Inhouse-Seminar von Dr. Nikoklaus vonHofacker statt. Herr Dr. von Hofacker ist Kinderarzt, Kinder<strong>und</strong>Jugendpsychiater <strong>und</strong> Psychotherapeut. Als einer derführenden Experten auf dem Gebiet der Diagnose <strong>und</strong>Therapie von <strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> <strong>Essstörungen</strong> <strong>im</strong> Kindesalter betreuter unsere Patienten als Konsilarzt mit.In der folgenden Zusammenfassung des Seminars werdenzunächst mögliche Ursachen bzw. Entstehungsfaktoren füreine (früh-) kindliche <strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> Essstörung dargestellt.Anschließend werden verschiedene Erscheinungsformenerklärt <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>züge der Therapie eingegangen.<strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> <strong>Essstörungen</strong> entstehen gerade bei Kindern, die an einer Herz- oderLungenerkrankung leiden, häufig. Die Nahrungsaufnahme ist aufgr<strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>erkrankungfür die Kinder oftmals sehr anstrengend. Da aber das Essen lebensnotwendig ist bzw. bei zugeringer Nahrungsaufnahme die Erkrankung womöglich schneller fortschreitet, geratenEltern unter Druck. Gleichzeitig besteht schon bei wenige Wochen alten Säuglingen das(unbewusste) Bedürfnis nach selbstständiger Regulation des Essens. Dadurch könnenTeufelskreise entstehen, welche sich aufschaukeln <strong>und</strong> schließlich in einer <strong>Fütter</strong>- oderEssstörung enden.Eine andere Form einer <strong>Fütter</strong>- bzw. Essstörung kann das hoch-selektive Essverhalten sein,welches häufig fälschlicherweise zunächst als Nahrungsmittelunverträglichkeit oder –allergieinterpretiert wird. Bei genauer Beobachtung findet man aber nicht selten eine <strong>Fütter</strong>-Interaktionsstörung bzw. eine Mischform aus organischen <strong>und</strong> interaktionellenBeziehungsfaktoren.Zudem können aus der Wechselwirkung von Erziehungsunsicherheiten bei den Eltern <strong>und</strong>dem kindlichen Temperament (eher zurückhaltendes, ängstliches Kind) <strong>Fütter</strong>- oderEssprobleme entstehen, welche sich aufschaukeln. So kann sich das Nahrungsspektrum<strong>im</strong>mer weiter einschränken, bis ein Kind nur noch fünf bis sieben verschiedeneNahrungsmittel zu sich n<strong>im</strong>mt. Diese Kinder nennt man „picky eater“.Zusammenfassend kann man sagen, dass das Zusammenspiel von kindlichen Faktoren (z.B.Frühgeburtlichkeit, organische Vorschädigung, Behinderung, Temperament) auf der einenAutor: Dipl.-Psych. A. Specker (03.12.13) 1


Seite <strong>und</strong> elterlichen psychosozialen Belastungen andererseits zur Entwicklung einer <strong>Fütter</strong>-/Essstörung führen können.<strong>Essstörungen</strong> können sich in einer Nahrungsverweigerung (Kopf wegdrehen, Essenausspucken bis hin zu erbrechen), ständig notwendiger Ablenkung oder auch einer nichtadäquaten Situation (z.B. füttern <strong>im</strong> Halbschlaf) be<strong>im</strong> Essen äußern. Dies kann in der Folgezu einer Gedeihstörung, Entwicklungsverzögerungen <strong>und</strong> psychischen Problemen führen.Unbehandelt persistieren <strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> <strong>Essstörungen</strong> zu etwa 60-80%. Objektive Kriterien fürdas Vorliegen einer <strong>Fütter</strong>-/Essstörung sind die Dauer (länger als 45 Minuten) <strong>und</strong> dieHäufigkeit (öfter als alle zwei St<strong>und</strong>en) der Mahlzeiten. Zudem spielt der subjektiveLeidensdruck der Betroffenen eine große Rolle.Der transaktionale Ansatz zur Entstehung von <strong>Fütter</strong>-/<strong>Essstörungen</strong> bezieht die sozialeUmwelt (Eltern, Familie, soziale <strong>und</strong> kulturelle Umgebung) sowie Risiko- <strong>und</strong> Schutzfaktorenmit ein. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass es keine spezifischen Risikofaktoren fürdie Entwicklung einer <strong>Fütter</strong>- oder Essstörung gibt. Vielmehr ist die Anzahl der Belastungenentscheidend. Gleichzeitig können Schutzfaktoren zur Kompensation dienen. DiesesWechselspiel nennt man „Passung“. Das folgende Schaubild verdeutlicht denEntstehungskreis.Kompensation Passung BelastungSCHUTZFAKTORENkulturelleUmweltsoz. UmweltFamilie,ElternKindRISIKOFAKTORENEntwicklungOb sich eine Störung entwickelt, hängt wesentlich von den Belastungen <strong>und</strong>Kompensationsmöglichkeiten der Kinder, der Eltern <strong>und</strong> der Umgebung ab!Autor: Dipl.-Psych. A. Specker (03.12.13) 2


der Durchschnitt. Dadurch reagieren sie gegenüber best<strong>im</strong>mten Geschmäckernüberempfindlich. Auch dies kann eine mögliche Ursache für selektives Essen sein. BeiKonfrontation mit dem unangenehmen Nahrungsmittel gr<strong>im</strong>assieren die Kinder, spucken dasEssen aus, würgen oder erbrechen. Mit der Zeit werden <strong>im</strong>mer mehr Nahrungsmittel, dieähnlich sind in Farbe, Geruch, Geschmack etc. abgelehnt, was man Generalisierung nennt.Bekanntes essen diese Kinder meist problemlos, aber sie weigern sich, Neuesauszuprobieren. Oft verhalten sich diese Kinder auch in anderen Kontexten (Kindergarten,Gr<strong>und</strong>schule) eher ängstlich bis hin zu sozialphobischen Zügen. Ebenso wie bei derrestriktiven Essstörung sind keine traumatischen Auslöser,Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder medizinischen Ursachen für das selektiveEssverhalten verantwortlich.Eine Nahrungsverweigerung nach aversiver Erfahrung (posttraumatische <strong>Fütter</strong>-/Essstörung, Choking Phobia, Emetophobie) kann jederzeit auftreten <strong>und</strong> zu einerandauernden Nahrungsverweigerung führen. Ursächlich sind aversive Erfahrungen <strong>im</strong>orofazialen oder Magen-Darm-Bereich, wie z.B. Beatmung, Sondenernährung,gastroösophagealer Reflux, Verschlucken mit massiver Angst oder ähnliches. Diese Kinderzeigen intensive Zeichen von Angst oder Panik, wenn sie mit Nahrung konfrontiert werden.Die Stress- <strong>und</strong> Angstsymptomatik n<strong>im</strong>mt zu, je näher die dargebotene Nahrung kommt.Zudem können <strong>Fütter</strong>-/<strong>Essstörungen</strong> bei medizinischen Begleiterkrankungen auftreten.Der Beginn ist dabei in jedem Alter möglich. Die Mahlzeiten beginnen oft problemlos, <strong>im</strong>Verlauf kommt es aber zu Stresssymptomen <strong>und</strong> zunehmender Verweigerung. Das Gedeihenist oft beeinträchtigt. Die <strong>Fütter</strong>-/Essstörung geht meist zurück, wenn die Gr<strong>und</strong>erkrankungbessert wird.Abschließend sollen die Gr<strong>und</strong>züge der Therapie von <strong>Fütter</strong>- <strong>und</strong> <strong>Essstörungen</strong> dargelegtwerden. Eine wichtige Rolle spielt das Hungergefühl des Kindes. Daher ist es wichtig, denKindern nicht ständig Essen anzubieten <strong>und</strong> auf gesüßte Getränke zu verzichten. Einweiterer Eckpfeiler ist die Selbstregulation des Kindes. Dies bedeutet, dass nur Nahrungangeboten wird, wenn das Kind von allein seinen M<strong>und</strong> öffnet. Auch auf Druck oderAblenkung sollte verzichtet werden. Positive Reaktionen bei Interesse am Essen sind ebensowichtig, wie der Verzicht auf jegliche Reaktion bei Essensverweigerung. Spielzeit <strong>und</strong>Essenszeit sollten konsequent getrennt werden. Dies erfordert ein gutes T<strong>im</strong>ing <strong>und</strong> vielÜbung sowie Unterstützung.Bei einer generalisierten Regulationsstörung wird zudem darauf geachtet, Reize zureduzieren <strong>und</strong> Erregungszeichen be<strong>im</strong> Kind sensibel wahrzunehmen. Häufig ist es insolchen Fällen auch angebracht, zunächst das Schlafproblem zu behandeln <strong>und</strong> sich erstdanach den <strong>Fütter</strong>schwierigkeiten anzunehmen.Bei einer eingeschränkten Eltern-Säugling-Reziprozität ist es zusätzlich notwendig, eineGefährdung des Kindeswohls auszuschließen. Dann wird an der elterlichen Feinfühligkeitgearbeitet, was am besten mit Videofeedback gelingt <strong>und</strong> durch viel Übung bzw.therapeutische Unterstützung („Lernen am Modell“, „interactional guidance“) gefestigtwerden kann.Autor: Dipl.-Psych. A. Specker (03.12.13) 4


Im Falle einer infantilen Anorexie ist es wichtig, dass die Kinder lange genug am Tischsitzen bleiben. Dies trägt zu einer größeren Motivation zu Essen bei (auch unabhängig vomHungergefühl). Hierfür ist es wichtig, die Situation attraktiv <strong>und</strong> kindgerecht zu gestalten.Zusätzlich kann eine kalorische Anreicherung der Nahrung hilfreich sein.Liegt eine selektive Essstörung vor, wird zunächst eine Hierarchisierung angstbesetzterNahrungsmittel vorgenommen. Dann wird nach einem festen Plan das am wenigstenangstauslösende Nahrungsmittel mehrfach angeboten (= Exposition). Ziel ist eineGewöhnung <strong>und</strong> Lernen am Modell der Familienmitglieder.Die posttraumatische <strong>Fütter</strong>störung ist sehr langwierig zu behandeln. Diese Kinder sindmeist sondenversorgt, da sie sonst nicht genügend Nahrung aufnehmen. Ziel der Therapieist zunächst eine Desensibilisierung <strong>und</strong> die Berührung von Nahrung. In einem weiterenSchritt sollen die Kinder Nahrung <strong>im</strong> M<strong>und</strong> akzeptieren lernen. Dann wird die Sondenmengetagsüber reduziert, um ein Hungergefühl entstehen zu lassen. Dies ist eine kritische Phase,da die Kinder meist abnehmen <strong>und</strong> dysphorisch werden. Den Eltern währenddessen Ruhe <strong>und</strong>Sicherheit zu vermitteln, ist essenziell wichtig. Die Kinder müssen lernen, dass dasunangenehme Hungergefühl durch Essen zu beseitigen ist. Ist die kritische Phaseüberstanden, so erfolgt meist eine deutliche Gewichtszunahme.Autor: Dipl.-Psych. A. Specker (03.12.13) 5

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