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Geist &Gehirn

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920<br />

&<br />

<strong>Geist</strong><br />

<strong>Gehirn</strong><br />

M. Spitzer<br />

U<br />

nser Gedächtnis istkomplizierter<br />

alsunsereArt und Weise, wiewir<br />

darüber sprechen. Wir tun nicht<br />

selten so, als sei das Gedächtnis eine Art<br />

Schuhkarton, in den man Inhalte hinein<br />

legt und sie später wieder herausholt:<br />

„Hast Dudas behalten?“ –„Nein, mir ist<br />

dasentfallen.“Solche Redewendungenbeziehen<br />

sich auf ein statisches Gedächtnis,<br />

eben nach Art eines Behälters. Man sagt<br />

auch manchmal, man habe ein löchriges<br />

Gedächtnis und meint damit, dass manche<br />

Inhalte durchdie Löcher ausdem Gedächtnis<br />

herausfallen und dann nicht mehr drin<br />

sind. Andere reden von einem Gedächtnis<br />

wieein Schweizer Käseund meinendamit<br />

Löcher im Gedächtnisapparat selbst, in<br />

den Inhalten, die mit dem Käse gleichgesetzt<br />

werden. Nichts davon ist richtig. Unser<br />

Gedächtnis ist weder ein Behälter, in<br />

den man Inhalte hineintun und wieder herausholen<br />

kann, noch ist es eine Substanz,<br />

die so istwie sieist und allenfalls im Alter<br />

von einer Art Mottenfraß befallen werden<br />

kann. Wenn Sieschon gerneeine Naturmetapher<br />

für das Gedächtnis haben möchten,<br />

dann sei es mit einemAmeisenhaufen verglichen.<br />

Auch erhat Struktur und auch in<br />

ihm steckt die Vergangenheit in Form seiner<br />

Gebrauchsgeschichte. Aber wenn man<br />

genau hinsieht, dann ist der Ameisenhaufen<br />

inbeständiger Veränderung: Nicht nur<br />

wuselnauf und in ihm tausende vonAmeisen,<br />

sie bauen ihn vielmehr auch dauernd<br />

an und um. Je nach denAnforderungender<br />

Umgebung. –Ja, Ihr Gedächtnis ist viel<br />

eher wie ein Ameisenhaufen als<br />

„Wenn Sie schon gerne eine Naturmetapher<br />

für das Gedächtnis haben möchten,<br />

dann sei es mit einem Ameisenhaufen<br />

verglichen.“<br />

wieein Schuhkarton! Und dasVergessen ist<br />

nicht einfach dasVerlierenvon Inhalten aus<br />

einemlöchrigenBehälteroderdas Verlieren<br />

durch Löcher im Speichermedium. Viel-<br />

Nervenheilkunde 2007; 26: 920–922<br />

Nervenheilkunde10/2007<br />

Aktives Vergessen<br />

mehr ist das Vergessen –wie das Behalten<br />

auch –ein aktiverVorgang. „Na, dann wäre<br />

ich gern 'n bisschen passiver“ –wer jetztso<br />

denkt, lesebitte weiter.<br />

Ihr <strong>Gehirn</strong> enthält viel mehr Informationen<br />

als Ihre Bibliothek oder Ihr Computer.<br />

Und deswegen gibt es dort auch<br />

prinzipiell die gleichen Probleme wie bei<br />

Ihnen: Je mehr drin steckt, desto länger<br />

muss Ihr <strong>Gehirn</strong> danach suchen. Deshalb<br />

wäre esgünstig, wenn das <strong>Gehirn</strong> eine<br />

Möglichkeit hätte, Dinge, die nicht behalten<br />

werden sollen, aktiv zu vergessen:<br />

Was nicht drin ist, stört nicht bei der Sucherei.<br />

Dassunser <strong>Gehirn</strong>tatsächlichübereinen<br />

solchen aktiven Mechanismus des Vergessens<br />

verfügt, wurde kürzlich in einer sehr<br />

eleganten Studie nachgewiesen (1). Versuchspersonen<br />

mussten zunächst eine ganz<br />

normale Gedächtnisaufgabe bewältigen,<br />

wie sie seit über hundert Jahren in der Ge-<br />

%erinnert<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

A B A<br />

trainiert nicht nicht<br />

trainiert trainiert<br />

Gruppe<br />

Abb. 1 Behaltensleistungfür dietrainierten Wörter aus<br />

der Gruppe A, in der jeweils dieHälfteder Wörter einerFamilie<br />

trainiert wurden (links), für die Wörter aus der Kontrollgruppe<br />

Bder Wortfamilien, vondenen keinesder sechs<br />

Wörter trainiert wurde (Mitte) und für die nicht trainierte<br />

andere Hälfte aus der Wortfamilien aus der Gruppe A<br />

(rechts). Der Unterschiedder linken undmittleren Säuleist<br />

signifikant, aber trivial: Übenbringt einenBehaltenseffekt.<br />

Der Unterschied zwischen der mittleren und der rechten<br />

Säule ist ebenfalls signifikant, aber keineswegs trivial: Es<br />

handeltsichinbeiden Fällen um Wortpaare, dienicht trainiert<br />

wurden.<br />

dächtnisforschung verwendetwird,nämlich<br />

sich unverbundene Wortpaare merken:<br />

„Haus-Wolke“; „Stuhl-Maus“, etc. Die Besonderheit<br />

des Experiments bestand darin,<br />

dass zunächst jeweils sechs Mal dasgleiche<br />

Wort mit jeweils einem anderen verbunden<br />

wurde. Beispielsweiselernten die Versuchspersonen<br />

die Haus-Wort-Familie „Haus-<br />

Wolke; Haus-Taste; Haus-Element; Haus-<br />

Reh; Haus-Strich;Haus-Plastik“,indemsie<br />

jedesWortpaarzunächst einmal gezeigt bekamen.<br />

Man musste also jeweils ein Wort<br />

mit einerganzen Familie vonsechsweiteren<br />

„Nichts Besonderes also, was das Behalten<br />

nach dem Merktraining anbelangt.<br />

Interessant war jedoch das Vergessen<br />

ohne Training.“<br />

Wörternverbindenlernen. Danach wurde<br />

zur Einübung der Hälfte der Wortpaare<br />

aus dieser Familie eine Erinnerungsaufgabe<br />

durchgeführt: Man zeigte dazu beispielsweise„Haus-T...“<br />

unddie Versuchspersonen<br />

mussten auf das richtige, zuvor<br />

gelernteWortkommen (indiesem Fall also<br />

„Taste“ erinnern). Diese Erinnerungsaufgabe<br />

wurde mit nur drei der sechs<br />

Wortpaare durchgeführt, also beispielsweise<br />

mit „Haus-W...“, „Haus-T...“ und<br />

„Haus-E...“. Das ganze geschah pro<br />

Wortpaar dreimal im Magnetresonanztomografen,<br />

sodass die Aktivität des <strong>Gehirn</strong>sdabei<br />

gemessen werdenkonnte. Die<br />

anderen drei Paare (also in diesem Fall<br />

„Haus-Reh; Haus-Strich; Haus-Plastik“)<br />

wurden nicht mehr erwähnt und damit<br />

auch nicht eingeübt. Zudem wurden (als<br />

Kontrolle) andere Wortfamilien, z.B.die<br />

Stuhl-Familie „Stuhl-Maus; Stuhl-Mond;<br />

Stuhl-Auto; Stuhl-Zahl; Stuhl-Licht;<br />

Stuhl-Blech“, jeweils einmal dargeboten<br />

und kamen (wie die zweite Hälfte der<br />

Haus-Wortfamilie) im Scannernichtvor.<br />

Insgesamt wurden 240 Wortpaare gezeigt,<br />

dasheißt, 40 „Wortfamilien“,von denenjeweils<br />

20 (Wortpaareder Gruppe B) als<br />

Kontrolle dienten und 20 (Wortpaare der<br />

GruppeAjeweils zurHälfte)weiterbearbeitet<br />

wurden. Das ganze Experiment erfolgte


mit 20 gesundenVersuchspersonenimAlter<br />

von 18bis 32 Jahren (12 davon weiblich).<br />

Warum ein so eigenartiges Experiment?<br />

–Der Witz bestand darin, dass manganzam<br />

Schluss, etwa 15 Minuten nach der Sitzung<br />

im Scanner, nocheinmalalle Wortpaareabfragte,<br />

also unter anderem die Behaltensleistungfür<br />

die geübten und die nicht geübten<br />

Wörter ausder Haus-Wortfamilie sowie<br />

die allesamt nicht geübten Wörter aus der<br />

Stuhl-Wortfamilie überprüfte. Hierbeizeigte<br />

sich wieerwartet, dass die geübten Wortpaarebesser<br />

behalten worden waren als die<br />

nicht geübten. Nichts Besonderes also, was<br />

das Behalten nach dem Merktraining anbelangt.<br />

Interessant warjedochdas Vergessen<br />

ohne Training: Es zeigte sich nämlich, dass<br />

die Behaltensleistung für die nicht trainierten<br />

Wörter aus der Haus-Wortfamilie, (in<br />

derdie andere Hälfte trainiertwordenwar),<br />

schlechter warals die Behaltensleistung für<br />

die Wörter aus der Stuhl-Wortfamilie, von<br />

der keines der Wörter trainiert worden war<br />

(Abb. 1). „Haus-Reh“ oder „Haus-Plastik“<br />

war also eher vergessen worden als „Stuhl-<br />

Mond“ oder„Stuhl-Blech“.<br />

In Abbildung 2ist dargestellt, wie sich<br />

diese Befunde mit einem einfachen Netzwerkmodell<br />

des Gedächtnisses in Einklang<br />

bringen und verstehenlassen.<br />

Weil mit allennicht-trainierten Wortpaaren<br />

während des gesamten Experiments<br />

nichts mehr geschehen war, lässt sich dieses<br />

Ergebnis nur mit einem automatisch ablaufenden<br />

aktiven Vergessensprozess erklären<br />

(3). Der sorgt beimTraining der dreiWortpaareaus<br />

der Haus-Wortfamilie dafür, dass<br />

die anderen, zuvor gelernten Verknüpfungen<br />

dieser Familie wieder rückgängig gemacht<br />

werden, also die zuvor geknüpften<br />

Verbindungen aktiv wieder vergessen werden,<br />

weil sieganzoffensichtlichinweiteren<br />

Erfahrungen keinen Bestand hatten. Als<br />

Mechanismen hierfür kommen Hemmprozesse<br />

in Betracht. Man kann sich Prozesse<br />

„Unser <strong>Gehirn</strong> räumt also auf, sortiert<br />

nach dem Lernen, was zu behalten ist<br />

und wirft aktiv weg, was nicht mehr gebraucht<br />

wird.“<br />

wie die long term depression (LTD) vorstellen.<br />

Hierbei werden synaptischeVerbindungen<br />

systematisch in ihrer Stärke<br />

Reh<br />

Strich<br />

Reh<br />

Strich<br />

Wolke<br />

Wolke<br />

Haus<br />

Taste<br />

Haus<br />

Taste<br />

Plastik<br />

Plastik<br />

Element<br />

Element<br />

Abb. 2 Zunächst werden neue assoziative Verbindungen hergestellt, die sich als Netze darstellen lassen („Haus-Netz“<br />

oben links und „Stuhl-Netz“ oben rechts). Dann werden im Haus-Netz einige der Verbindungen besonders trainiert. Dies<br />

führt nicht nur zu deren Verbesserung,sondernzugleich auch zur Abschwächung der anderen Verbindungen im Haus-Netz.<br />

Im Stuhl-Netz dagegengeschieht nichts,weder Verstärkungnoch Abschwächung.Werden nundie neuenInhalteabgefragt,<br />

zeigt sich daher nicht nur eine (triviale) Verbesserung der gelerntenAssoziationen,sondernauch eine Verschlechterung der<br />

nicht gelernten Assoziationen, die zuvor gelernt wordenwarenund diezum Umfeld der gelernten Assoziationen gehören.<br />

reduziert, wenn Signale nicht gleichzeitig<br />

amNeuron einlaufen. Auch der Prozess<br />

der lateralen Hemmung ist denkbar,<br />

bei dem in der näheren, aber nicht inder<br />

unmittelbaren Umgebung einer kortikalen<br />

Säule gelegene weiter benachbarte<br />

kortikale Säulen aktiv über hemmende<br />

Interneuronen gehemmt werden.<br />

Schließlich kommen auch Prozesse der<br />

Normierung in Betracht, die dafür sorgen,<br />

dass die Gesamtaktivität eines Systems<br />

trotz lernbedingter Aktivitätszunahme<br />

nicht zunimmt (5). Es dürfte<br />

einerseits schwierig sein, diese Prozesse<br />

zu differenzieren,andererseitsmusshervorgehoben<br />

werden, dass dieses Modell<br />

eine große Plausibilität hat und mit bekannten<br />

Mechanismen kortikaler Infor-<br />

&<br />

<strong>Geist</strong><br />

<strong>Gehirn</strong><br />

Maus<br />

Maus<br />

Licht<br />

Licht<br />

Auto<br />

Auto<br />

Stuhl<br />

Stuhl<br />

Blech<br />

Mond<br />

Blech<br />

Mond<br />

Zahl<br />

Zahl<br />

921<br />

mationsverarbeitung unschwer in Verbindung<br />

zu bringen ist. Letztlich geht es<br />

darum, dass der Kortex Karten von statistischen<br />

Regularitäten raum-zeitlicher<br />

Input-Muster produziert (2, 4), und dass<br />

hierzu sowohl Aktivierungs- als auch<br />

Hemmprozesse nötig sind.<br />

Die Ergebnisse aus dem MR-Scanner<br />

stützten diese Interpretation, denn während<br />

des Trainings waren der Hippocampus<br />

und gedächtnisrelevanteBereiche der<br />

Großhirnrinde umso aktiver, je besser das<br />

aktive Vergessen geklappt hatte. Unser<br />

<strong>Gehirn</strong> räumt also auf, sortiert nach dem<br />

Lernen, was zubehalten ist und wirft aktiv<br />

weg, was nicht mehr gebraucht wird.<br />

Und deswegen findet esmeistens, was es<br />

sucht.<br />

Nervenheilkunde10/2007


922<br />

&<br />

<strong>Geist</strong><br />

<strong>Gehirn</strong><br />

ErinnernundVergessen sindüberaus aktive<br />

Vorgänge,deren Mechanismen im <strong>Gehirn</strong> wir<br />

langsam zu verstehen beginnen. DasWenige,<br />

waswir schon wissen,lässt uns erstaunenüber<br />

die enorme Kreativität unseres <strong>Geist</strong>es,dessen<br />

Aufgabe es nicht ist, alles „aufBand“ oder„auf<br />

Platte“ zu speichern, sondern uns dasÜberlebenzusichern.<br />

Durch denProzess derEvolution<br />

wurde unser Gedächtnis nicht im Hinblick<br />

auf Wiedergabetreue optimiert, sondern im<br />

Hinblick auf Geschwindigkeit des Abrufsund<br />

Nervenheilkunde10/2007<br />

innere Konsistenz derInhaltemit dem Rest unseres<br />

allgemeinenWeltwissensund unserer individuellen<br />

Erfahrungen. Es liegt an uns,diese<br />

Erkenntnissezuberücksichtigenund vielleicht<br />

sogarkreativzunutzen.<br />

Literatur<br />

1. Kuhl BA, Dudukovic NM, Kahn I,Wagner AD.<br />

Decreased demands on cognitive control reveal<br />

the neural processing benefits offorgetting. Nature<br />

Neuroscience 2007; 10: 908–914.<br />

2. Spitzer M. <strong>Geist</strong> im Netz. Heidelberg: Spektrum<br />

AkademischerVerlag 2000.<br />

3. Spitzer M. Falsche Erinnerungen. Nervenheilkunde<br />

2004; 23: 300–304.<br />

4. Spitzer M. Normierung im <strong>Gehirn</strong>. Nervenheilkunde<br />

2007; 26: 200–202.<br />

5. Spitzer M. Unbewusste Logik. Nervenheilkunde<br />

2007; 26: 79–82.<br />

Korrespondenzadresse:<br />

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer<br />

Universitätsklinikum, Abteilung für PsychiatrieIII<br />

Leimgrubenweg 12-14, 89075 Ulm

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