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Familienorientierte Betreuung in der Neonatologie*

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Neonatologie<strong>Familienorientierte</strong> <strong>Betreuung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>Neonatologie *Beatrix SchmidtE<strong>in</strong>e Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung exsistiertbereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwangerschaft. Jedochist gerade direkt postnatal e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>shochsensible Phase für das Gel<strong>in</strong>gene<strong>in</strong>er sicheren B<strong>in</strong>dung zwischenMutter und K<strong>in</strong>d. Hier ist beson<strong>der</strong>s dieerste Lebensstunde zu nennen. Diesesehr empf<strong>in</strong>dliche Zeit kann im Fallevon Krankheit des Früh-/Neugeborenenunterbrochen, gestört und zerstörtwerden, nämlich dann, wenn das Babyvon se<strong>in</strong>en Eltern getrennt wird, um <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik aufgenommen zuwerden.Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dungE<strong>in</strong>e sichere Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung istdie fundamentale Ressource für die Entwicklungeigener Stärken und die Beziehungsgestaltungim eigenen Leben.Bei frühzeitigem Verlust <strong>der</strong> Mutterwerden Verlassenheitsängste, Wut,Trauer und Schmerz empfunden, spätereDepressionen können die Folgese<strong>in</strong>.So haben Suess, G. und Mitarbeiter Risiko-und Schutzfaktoren für spätereVerhaltensauffälligkeiten untersucht:Risikofaktoren stellten e<strong>in</strong> schwierigesTemperament, <strong>der</strong> Verlust von Vaterund Mutter, familiäre Konflikte, psychischkranke Eltern, Lebensstress, Armut,M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigkeit <strong>der</strong> Mutter undFrühgeburtlichkeit bzw. häufige Kl<strong>in</strong>ikaufenthaltedar.Als Schutzfaktoren konnten e<strong>in</strong>e hoheIntelligenz, e<strong>in</strong>e gute Eltern-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung,soziale Unterstützung, ausgeprägteInteressen und stabile Wertorientierungenidentifiziert werden.* Nach e<strong>in</strong>em Vortrag gehalten auf dem ersten EFCNINeonatologiekongress am 17.10.09 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>Bei mehr als drei bestehenden Risikofaktorenlag die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>esspäteren Verhaltensproblems bei75 %. Bei gleicher Risikokonstellationjedoch e<strong>in</strong>er liebevollen und verlässlichenBezugsperson <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen K<strong>in</strong>dheitwar das Risiko auf 25 % reduziert.Mit an<strong>der</strong>en Worten: nicht nur Geburtskl<strong>in</strong>iken,son<strong>der</strong>n auch Neonatologiensollten alles dafür tun, e<strong>in</strong> frühk<strong>in</strong>dlichesTrennungstrauma zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n,um e<strong>in</strong>e Störung <strong>der</strong> sensorischtaktilenund emotional fühlendenEbene <strong>der</strong> ihnen anvertrauten kle<strong>in</strong>enPatienten zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.Verlegung auf dieNeugeborenen-IntensivstationWird e<strong>in</strong> Früh- o<strong>der</strong> Neugeborenes aufdie Neugeborenen<strong>in</strong>tensivstation verlegt,so bedeutet dies Beschwerlichkeitvon Krankheit, Schmerz, Trennung vonden Eltern und die Gegenwart frem<strong>der</strong>Menschen. Die natürliche Stillbeziehungist, wenn überhaupt, nur noche<strong>in</strong>geschränkt möglich. Dem krankenNeugeborenen wird e<strong>in</strong> normaler Lebensbeg<strong>in</strong>nverwehrt und es f<strong>in</strong>det siche<strong>in</strong>e Diskrepanz zwischen <strong>der</strong> Erwartunge<strong>in</strong>er fürsorgenden Umgebungund <strong>der</strong> aktuellen Erfahrung des Neugeborenen.Deshalb ist frühe Gegenregulationerfor<strong>der</strong>lich, um spätere B<strong>in</strong>dungsstörungenfrühestmöglich zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.Eltern fühlen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Situationhäufig verunsichert. Sie empf<strong>in</strong>denInkompetenz und das Gefühl, lästig zuse<strong>in</strong>. In den meisten Kl<strong>in</strong>iken ist es fürdie Eltern unmöglich, ihr K<strong>in</strong>d selber zuversorgen und zu bemuttern, was häufigdazu führt, dass sie das Interesse amSäugl<strong>in</strong>g verlieren und die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitgrößer wird, dass sie ihr K<strong>in</strong>d ablehnen.Sie haben oft deutlich wenigerAufmerksamkeit gegenüber k<strong>in</strong>dlichenBedürfnissen, so dass sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe von Frühgeborenen mehrk<strong>in</strong>dliche Regulationsstörungen unde<strong>in</strong>e höhere mütterliche Depressionsratef<strong>in</strong>den lässt.<strong>Familienorientierte</strong> PflegeUm den genannten Problemen zu begegnen,ist <strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>der</strong> Begriff<strong>der</strong> „familienorientierten Pflege“e<strong>in</strong>geführt. So wächst die Erkenntnis,dass die körperliche und geistige Entwicklunge<strong>in</strong>es Frühgeborenen o<strong>der</strong>kranken Neugeborenen nicht nur von<strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Expertise abhängt,son<strong>der</strong>n zum an<strong>der</strong>en auch entscheidenddavon, wie es den Eltern gel<strong>in</strong>gt,Kontakt zu ihrem K<strong>in</strong>d aufzunehmen,und welche Handlungsmöglichkeitensie wahrnehmen. Ziel je<strong>der</strong> Geburtshilfe,aber auch je<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik solltese<strong>in</strong>, neben mediz<strong>in</strong>isch bestmöglicherVersorgung den Erhalt e<strong>in</strong>er „gesunden“Familie mit größtmöglichermenschlicher Zuwendung zu gewährleistenund zu för<strong>der</strong>n.E<strong>in</strong>er Elternumfrage aus Uppsala zuFolge möchten Eltern größtmöglich <strong>in</strong>die Pflege und die Versorgung vonihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>bezogen werden.Dazu gehören das Wechseln von Elektrodenund Überwachungsgeräten, dieDokumentation von Überwachungsparametern,das Anlegen des nasalenCPAP, das Geben von Medikamenten,Absaugen und Putzen des Inkubators.Die befragten Eltern möchten also dastun, was alle Eltern möchten: sich kümmernund sich sorgen.Damit än<strong>der</strong>t sich das Berufsbild desneonatologisch versierten Personalsvon <strong>der</strong> Fachpflege für das K<strong>in</strong>d h<strong>in</strong> zurFachanleiterIn für die Eltern.Eltern sollten als wichtigste Pflegepersonenakzeptiert werden, damit sie sichwährend e<strong>in</strong>es Krankenhausaufenthaltesnicht nutzlos fühlen, son<strong>der</strong> aktiv dieEntwicklung ihres K<strong>in</strong>des bee<strong>in</strong>flussenkönnen.Babyfreundliche K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ikDie K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik des Joseph<strong>in</strong>chen, Zentrumfür K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendmediz<strong>in</strong> imSt. Joseph-Krankenhaus <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Tempelhofhat als weltweit erste K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ikdas WHO/UNICEF-Zertifikat „Babyfreundlich“erworben. Dies bedeutet,dass wir uns ganz beson<strong>der</strong>s ume<strong>in</strong>e primäre und haltbare B<strong>in</strong>dung, ume<strong>in</strong>e entwicklungsför<strong>der</strong>nde Pflege undum das Stillen kümmern (BEST-Kriterien= B<strong>in</strong>dung, Entwicklung und Stillen).E<strong>in</strong>e frühe Trennung zwischen Frühgeborenen/Neugeborenenund ihren Elternwird möglichst vermieden, dieMütter direkt nach Entb<strong>in</strong>dung, gegebenenfallsauch im Bett, zu ihren verlegtenBabys gefahren.Sollte e<strong>in</strong>e Mutter selber <strong>in</strong>tensivpflichtigwerden, wird sie von ihrem Neuge-2 k<strong>in</strong><strong>der</strong>krankenschwester 29. Jg. (2010) Nr. 11774


Neonatologieborenen zum „Bonden“ besucht. Kollostrumwird auch auf <strong>der</strong> ITS zur Fütterungdes K<strong>in</strong>des gewonnen und von <strong>der</strong>Intensivstation zur Neonatologie gebracht.Bei allen Eltern wird e<strong>in</strong> früherund sehr langer Hautkontakt durch diePflegekräfte unterstützt.Es ist bekannt, das langes Känguruen zue<strong>in</strong>er besseren Mutter-K<strong>in</strong>d-Aktionführt, zu e<strong>in</strong>er längeren Stilldauer, e<strong>in</strong>erReduktion des mütterlichen Stressesund e<strong>in</strong>er besseren k<strong>in</strong>dlichen Fähigkeit,Bedürfnisse zu signalisieren.Die Pflegekräfte „fitten“ die Eltern <strong>in</strong><strong>der</strong> Pflege ihres K<strong>in</strong>des und s<strong>in</strong>d die bes -ten PraxisanleiterInnen für die Eltern.Genügend Laktationsberater<strong>in</strong>nen unde<strong>in</strong> gutes Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g aller MitarbeiterInnenführen zu e<strong>in</strong>er guten Stillbeziehung.Auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit nasalem CPAP werdenab 28 + 0 SSW angelegt. So ist häufige<strong>in</strong> volles Stillen ab <strong>der</strong> 32. SSW möglich,z. Zt. gehen 86 % unserer kle<strong>in</strong>enPatienten ausschließlich gestillt nachHause.Nach e<strong>in</strong>em Umbau wird es bei unsauch Room<strong>in</strong>g-<strong>in</strong>-Zimmer für Eltern mitsehr kranken Früh/Neugeborenen geben,um e<strong>in</strong>e primäre Trennung komplettzu vermeiden.In unserer babyfreundlichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ikwerden Eltern zunehmend <strong>in</strong> dieProzeduren bei ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>bezogenund s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel bei allenschmerzhaften Ereignissen anwesend.Alle Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiterwurden auf dem Weg für den Prozesszur „Babyfreundlichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik“achtzehn Stunden geschult, für neueMitarbeiterInnen f<strong>in</strong>den zweimal jährlich<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre verpflichtendeSchulungen statt. Lern<strong>in</strong>halte s<strong>in</strong>d diebestmögliche Unterstützung zum Bonden,sowie die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Stillbeziehung.Hauseigene Stillrichtl<strong>in</strong>ien wurdenschriftlich h<strong>in</strong>terlegt, noch immerf<strong>in</strong>den regelmäßige Teamsitzungen zurSelbstreflexion und kont<strong>in</strong>uierlichenVerbesserungen statt.Wir würden uns freuen, wenn sich vieleK<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>iken entscheiden könnten,den babyfreundlichen Weg e<strong>in</strong>zuschlagen,denn: e<strong>in</strong>e glückliche K<strong>in</strong>dheit istdie Grundlage für e<strong>in</strong> zufriedenes Leben!Dr. Beatrix Schmidt, MBAChefärzt<strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik Joseph<strong>in</strong>chenZentrum für K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendmediz<strong>in</strong>im St. Joseph-KrankenhausBäumerplan 2412101 Berl<strong>in</strong>-Tempelhofk<strong>in</strong><strong>der</strong>krankenschwester 29. Jg. (2010) Nr. 11774 3

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