20120320-Schnitzgesicht- Mechthild Curtius - Alsfelder Kulturtage
20120320-Schnitzgesicht- Mechthild Curtius - Alsfelder Kulturtage
20120320-Schnitzgesicht- Mechthild Curtius - Alsfelder Kulturtage
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Eine <strong>Alsfelder</strong> Geschichte - Ins Netz gestellt anlässlich der 2. <strong>Alsfelder</strong> <strong>Kulturtage</strong> (16.-27.05.2012) 1<br />
<strong>Schnitzgesicht</strong><br />
Von <strong>Mechthild</strong> <strong>Curtius</strong><br />
Ver-dichtet für Bärbel und Axel<br />
Alsfeld ist an einem der historischen Handelswegen gelegen, Kurze Hesse genannt.<br />
Mobil sind die Menschen immer gewesen, auch als Pferd und Wagen das<br />
Geschwindeste waren. Seit Römers Zeiten ein Geflecht von Straßen, meist die<br />
Flusstäler lang. Viele fuhren im Lauf der Jahrhunderte durch, erst per Postkutsche und<br />
mit Planwagen, Graue Elefanten genannt, die Waren zur Leipziger und zur Frankfurter<br />
Messe hinfuhren, später Automobile, nun die fahrenden Fabriken zwischen Atlantik und<br />
Asien. Damals Salz, Leder, Holz, Flachs zu Tuch, Waid und andere Farben, Metalle<br />
eisenschwer und goldsilberkostbar. Darum entstanden in ihren Poststationen, Rast-<br />
Städten, wie Alsfeld, reiche Patrizierhäuser. Hin und her fahren und promenieren wir,<br />
rund um die große Kirche mit dem neuen Geläut, das berühmte Rathaus auf Ständern,<br />
feinste Fachwerk-Konstruktionen begeistert auch meinen Sohn, Architekt, Zimmermann<br />
und Denkmals-Experte. Oft komme ich wieder, Landschaften und ihre Bauwerke, für<br />
Filme und Erzählungen, führe sie anderen vor, die sich begeistern können wie ich.<br />
Alsfeld lockt seit vorvorigem Jahr zum Wiederkommen meinen MalerMann und mich. Er<br />
fotografiert, zeichnet, der arme Dichter hat nur Schwarz auf Weiß, muss mit Worten<br />
Formen suggerieren, FarbTon durch KlangTon. Magisch lockt: ein Palais, eine Holztür.<br />
Geblieben ist sie, senkrecht gespalten, kobaltblau verblasst, altersschön, links vom<br />
Türpfosten meldet die zerklüftete Holztafel, schwarz und rot auf grau, „Neurath-Haus,<br />
Renaissance-Haustür, 1688 geschnitzt“. Schreibhefthohe tischplattengroße Kassetten<br />
in verblichenem Türkis zwischen Beschlagwerk, so nennen die Kunsthistoriker eine Art<br />
holzgeschnitzter Bordüren, ähnlich den gewebten, die hessische Bäuerinnen sonntags<br />
beim Kirchgang auf ihren Trachtenröcken tragen, wie Spitzen, so fein. Schnitzereien<br />
umranden einen Baumstamm, Krone ist ein Männerkopf, grinst verschmitzt mit kleinem<br />
Mund unter Schnitz-Schnauz-bart, Augen in tiefen Höhlen, der scharfe Grat der Nase<br />
teilt fleischige - holzige - Wangen, alles umrahmen kurze Locken, wie dauer-gewellt.<br />
Hinein in den Tür-Fries bis unter das Kinn des Kerls ragt aus dem Blaugrüngrau in der<br />
Mitte des Portals eine rostige Türklinke, dünn, messerspitz, lanzenlang, rostrotes Eisen,<br />
ragt aus einem schmalen langen Gesicht, das Schlüsselloch ist der Mund, die Klinke<br />
Nase, gedreht. Eine Nase drehen. Zunge rausstrecken. Freundlich oder boshaft<br />
necken, so sind Neidköpfe zum Herren-Höhnen - sagen die Einen - und die anderen -<br />
zum Geister-Erschrecken.<br />
Betrachtend das Denkmal, machen die Augen eine Reise zwischen den<br />
Holzmaserungen und Splitterungen, Weichholzhügeln wie Kissen, Kraterlandschaft des<br />
Alters: 1688, 1788, 1888, 1988, dreihundert Jahre und dazu weitere zweiundzwanzig.
Eine <strong>Alsfelder</strong> Geschichte - Ins Netz gestellt anlässlich der 2. <strong>Alsfelder</strong> <strong>Kulturtage</strong> (16.-27.05.2012) 2<br />
März 2010. So wie der mittlere Neidkopf sieht der aus, der uns fragt, „suchen Se was“,<br />
er kommt nah heran, duftet aus Lodenkleidern, Revierförster wohl. Deutet auf das<br />
Steinportal, höfisch ist es unter drei Putten mit Birnenbacken, wie wir sie aus<br />
hessischen Kirchen, Adelshöfen, Patrizierhäusern durch unsere Filmreisen kennen, in<br />
Korbach sind die Türen auch türkisblau, dort aber fast vollplastisch und saftig<br />
lackglänzend die Birnenbackenengel.<br />
Und drunter im Beschlagwerk Löwenköpfe, schielende Augen unter Löwenmähnen<br />
haben sie alle. Der Herr in Lodentracht mit grünem Filzschlapphut deutet in das Portal,<br />
das er geöffnet hat, bittet, befiehlt uns hinein: Rostig wie die Eisennase am Türportal ist<br />
seine Stimme, Herr Schönemann heiße er, verbeugt sich höfisch mit Handkuss,<br />
anziehend ist sein Gesicht mit den feinen, dem hölzernen Neidkopf ähnlichen Falten.<br />
Viele Jahrhunderte haben das Holz zerklüftet, da werden aus geschnitzten<br />
Gesichtszügen Fratzen, Maske mit einem blanken, einem weinenden blinden Auge.<br />
Herr Schönemann wendet mich zu sich, als er sagt, so wie ich. Unter drei Augen,<br />
spottet er, und da sehe ich genau genug hin, erkenne unter dem tief ins die Stirn<br />
gezogenen, die Wangen beschattenden Schlapphut den leeren Blick, erst nicht, zu sehr<br />
herrscht der aufmerksam wache Blick des anderen. Leichte Narben, fast weiß gebleicht.<br />
Unter drei Augen, lacht er, gestehe ich, dass ich alles andere als ein Museumsmann<br />
war, nichts ist mir ferner gewesen als Kultur, Ruhe, Kunst. Was war? Wagen zu fragen?<br />
Fragend schauen.<br />
Im Morgengrauen raus, ins Auto hinein, gefährlichste Autobahn, täglich mehr und<br />
schwerere Lastwagen, die sind fahrende Firmen, je kleiner die Autos dazwischen und<br />
hinter mir, umso üppiger drängelnd und zwängend, gerade eine sehr langsamer,<br />
kippelnder Sattelschlepper zuckelt vor mir her, graublaue Plane, Kartoffeln kollern<br />
heraus, das Ganze kippt, als der Minicooper hinter mir an mich rempelt, andere drauf,<br />
schieben mein Gesicht durch die Scheibe, vor aller Airbag-Zeit wars, Gesichtshälfte erst<br />
nach zwölf Operationen so wie jetzt, für mein linkes Auge ist alles gleich, das sieht nix.<br />
Das rechts gerettet. So wie der Mann an meiner Tür aus Holz, unter drei Augen, von dir<br />
zu mir, <strong>Schnitzgesicht</strong>, davongekommen, mit einem blaugrauen Auge.<br />
Kontakt:<br />
Dr. phil. habil. <strong>Mechthild</strong> <strong>Curtius</strong>, Frankfurt am Main<br />
Internet: http://www.mecur.de<br />
E-Mail: me@drcurtius.de<br />
Werkauswahl:<br />
• Verdinglichung in Elias Canettis Roman Die Blendung, Bouvier 1972<br />
• Theorien der künstlerischen Produktivität, Suhrkamp 1975<br />
• Wasserschierling. Geschichten, Insel 1979<br />
• Jelängerjelieber. Roman, Benziger 1983<br />
• Autorengespräche. Verwandlung der Wirklichkeit. S. Fischer 1991<br />
• Im Rüschhaus und anderswo. Schöningh & Ardey 1995. Prosa aus Westfalen<br />
• Neiße und Pleiße. Roman, Aufbau 1999