Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation - WBGU
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3 Die <strong>Große</strong> <strong>Transformation</strong>: Ein heuristisches Konzept<br />
Kasten 3.2-2<br />
Treiber <strong>für</strong> die Beschleunigung der<br />
<strong>Transformation</strong> am Beispiel der deutschen<br />
Gründerzeit<br />
Die in Kapitel 3.2 skizzierten vier großen Arenen der <strong>Transformation</strong><br />
– Energiebasis, Zeitverständnis, Infrastrukturen<br />
sowie gesellschaftlicher Wandel – erlauben <strong>eine</strong> systematische<br />
Analyse großer <strong>Transformation</strong>en, wie es am Beispiel<br />
der Industriellen Revolution verdeutlicht wurde. In diesen<br />
Bereichen müssen grundlegende Veränderungsprozesse<br />
angestoßen werden, um <strong>eine</strong> angemessene Beschleunigung<br />
und Reichweite des <strong>Transformation</strong>sprozesses zu erreichen.<br />
Wichtige Treiber <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Beschleunigung der <strong>Transformation</strong><br />
lassen sich am Beispiel der Gründerzeit in Deutschland zum<br />
Ende des 19. Jahrhunderts identifizieren, deren Zusammenspiel<br />
das Land zur damals dynamischsten Volkswirtschaft der<br />
Welt machte.<br />
Der Schlüssel <strong>für</strong> diesen umfassenden <strong>Transformation</strong>sprozess<br />
lag maßgeblich in der Verzahnung von Inventions-,<br />
Innovations- und Diffusionsprozessen, um positive Rückkopplungen<br />
zu ermöglichen und die Dynamik des Wandlungsprozesses<br />
zu erhöhen. Drei miteinander verbundene<br />
Faktoren waren von zentraler Bedeutung und ergaben zusammen<br />
ein „goldenes Dreieck“ <strong>für</strong> Innovationsprozesse: erstens,<br />
der Ausbau wissenschaftlich-technischer Kapazität innerhalb<br />
der Hochschulen und Forschungsinstitute in Verbindung mit<br />
der Ausbildung von Fachkräften; zweitens, die Emergenz<br />
von Wirtschaftszweigen von (über)morgen, beispielsweise<br />
erste Anwendungen <strong>für</strong> den damals neuen Energieträger<br />
Strom oder ein sich rasch entwickelnder Verkehrssektor sowie<br />
deren unternehmerische Erschließung durch Unternehmen<br />
wie beispielsweise AEG und Borsig; drittens, hohe Nettoinvestitionsquoten,<br />
die <strong>eine</strong> schnelle Diffusion von Innovationen<br />
ermöglichten. So stieg die Nettoinvestitionsquote in<br />
Deutschland von rund 10 % im Jahr 1850 auf über 15 % auf<br />
dem Höhepunkt der Gründerzeit (Hoffmann, 1965) und lag<br />
damit mehr als dreimal so hoch wie heute (Kap. 4.5). Der<br />
Staat hatte hierbei <strong>eine</strong> zentrale Rolle (Abb. 3.2-3), indem<br />
er vor allem den Kapazitätsaufbau durch Gründung von For-<br />
Lehren <strong>für</strong> die <strong>Große</strong> <strong>Transformation</strong> zu Beginn<br />
des 21. Jahrhunderts<br />
Die Skizze der Übergänge und Zäsuren in und zwischen<br />
den vier Handlungsfeldern im Prozess der Verwandlung<br />
der Welt im 19. Jahrhundert stellt <strong>eine</strong> interessante<br />
Folie zur Beschreibung der Dynamiken der aktuellen<br />
<strong>Transformation</strong> dar. Erneut stehen die vier beschriebenen<br />
Handlungsfelder im Zentrum des Umbruchs. Nur<br />
Richtung und Qualität des Wandels unterscheiden sich<br />
grundlegend:<br />
1. Energiebasis: Im Zentrum der <strong>Transformation</strong> zur<br />
klimaverträglichen Gesellschaft steht der Aufbau<br />
<strong>eine</strong>r im Wesentlichen erneuerbaren Energieinfrastruktur<br />
und der Abschied vom „fossilen Zeitalter“<br />
(Kap. 4). Wie schon im Übergang zur Industriegesellschaft<br />
wird dieser Prozess <strong>eine</strong> insgesamt veränderte<br />
Wirtschaftsstruktur hervorbringen.<br />
Wirtschaftszweige<br />
von übermorgen<br />
Wissenschaftlichtechnische<br />
Kapazität<br />
Politik<br />
Hohe Netto-<br />
Investitionsquote<br />
Abbildung 3.2-3<br />
Elemente des transformativen Innovationsschubs der<br />
Gründerzeit in Deutschland.<br />
Quelle: <strong>WBGU</strong><br />
schungseinrichtungen unterstützte und andererseits günstige<br />
Rahmenbedingungen <strong>für</strong> Unternehmensgründer schuf, die<br />
<strong>eine</strong> rasche Erschließung von neuen Geschäftsfeldern ermöglichten<br />
(Kasten 3.2-1).<br />
Dabei entfaltete sich der <strong>Transformation</strong>sprozess nicht<br />
ausschließlich auf dem Gebiet neuer technischer Lösungen,<br />
sondern entlang der vier <strong>Transformation</strong>sarenen auch im<br />
gesellschaftlichen Bereich. Hier war insbesondere der Aufschwung<br />
des Bürgertums prägend, das den Veränderungsprozess<br />
vorantrieb und auch auf kulturellem Gebiet neue Akzente<br />
setzte. Für heutige <strong>Transformation</strong>sanforderungen zur<br />
Nachhaltigkeit bieten die Elemente des goldenen Dreiecks <strong>für</strong><br />
Innovationsprozesse weiterhin wichtige Orientierungspunkte<br />
staatlichen Handelns. Jedoch muss den geänderten Rahmenbedingungen<br />
Rechnung getragen werden und weitere Faktoren<br />
– insbesondere die internationale Dimension und die<br />
Legitimität der Entscheidungsfindung – müssen mit einbezogen<br />
werden. Kapitel 7 nimmt diese Elemente auf und erweitert<br />
das goldene Dreieck <strong>für</strong> Innovationsprozesse zur „Raute<br />
der <strong>Transformation</strong>“ (Abb. 7.1-3).<br />
2. Die Veränderung des „Zeitregimes“: Im Übergang<br />
zur klimaverträglichen Wirtschaft müssen <strong>eine</strong>rseits<br />
Prozesse ökonomischen, politischen und institutionellen<br />
Wandels enorm beschleunigt werden,<br />
um irreversible Schäden im Erdsystem und gefährlichen<br />
Klimawandel noch abwenden zu können<br />
(Kap. 1, 4, 5). Doch die Beschleunigung des Wandels<br />
in komplexen, hochgradig vernetzten, durch<br />
Gewaltenteilung und -kontrolle geprägten Gesellschaften,<br />
(checks and balances) in denen schwierige<br />
Interessengeflechte bestehen, ist k<strong>eine</strong> Trivialität.<br />
Gleiches gilt <strong>für</strong> das internationale Verhandlungssystem.<br />
Andererseits müssen Menschen, Unternehmen<br />
und politische Organisationen lernen, in sehr<br />
langfristiger Perspektive zu handeln, Verantwortung<br />
zu übernehmen und präventive statt reaktive<br />
Problembearbeitung zu betreiben, weil Entschei-