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1 Europa provinzialisieren. Post-koloniale Neu-Ordnungen der Welt ...

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<strong>Europa</strong> <strong>provinzialisieren</strong>. <strong>Post</strong>-<strong>koloniale</strong> <strong>Neu</strong>-<strong>Ordnungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>.<br />

Von Patricia Purtschert<br />

Unbearbeitetes VORTRAGSMANUSKRIPT<br />

Drei Teile:<br />

1. Freiheit und Sklaverei: ein Paradox <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

2. <strong>Post</strong><strong>koloniale</strong> Einsätze: Dekonstruktion und Rekonstruktion<br />

3. Die post<strong>koloniale</strong> Schweiz<br />

Der Begriff <strong>der</strong> «post<strong>koloniale</strong>n Theorie» ist erst dabei, im deutsch- und<br />

französischsprachigen Raum anzukommen. Er stammt aus dem angelsächsischen Raum,<br />

wo er unterschiedliche Denkansätze vereint, <strong>der</strong>en Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie<br />

die <strong>koloniale</strong>n <strong>Ordnungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> in ihren aktuellen Formen zu bestimmen suchen. Das<br />

«post-» bezeichnet dabei nicht eine Gegenwart nach dem Kolonialismus, in welcher <strong>der</strong><br />

Kolonialismus gleichsam überwunden ist. Vielmehr deutet das es auf beides hin: auf das<br />

Ende des formalen <strong>koloniale</strong>n Zeitalters und auf die Fortsetzung <strong>koloniale</strong>r Verhältnisse<br />

unter post<strong>koloniale</strong>n Bedingungen. In diesem Zusammenhang wird auch <strong>der</strong> Begriff einer<br />

„neo-<strong>koloniale</strong>n“ <strong>Welt</strong>ordnung verwendet. Damit will man z. B. <strong>der</strong> Tatsache Ausdruck<br />

verleihen, dass trotz <strong>der</strong> politischen Unabhängigkeit <strong>der</strong> meisten (nicht allen: Martinique,<br />

Guadeloupe, Grönland, Falklandinseln, Puerto Rico etc.) Kolonien im ökonomischen und<br />

auch politischen Bereich noch quasi-<strong>koloniale</strong> Abhängigkeiten bestehen. (siehe z.B.<br />

politische Interventionen ehemaliger Koloniallän<strong>der</strong> in Ex-Kolonien, Koppelung <strong>der</strong><br />

westafrikanischen Währung CEFA an den Euro bzw. französischen Francs etc.)<br />

Die post<strong>koloniale</strong> Theorie bezieht sich aber nicht nur auf ehemalige Kolonien. Eine<br />

zentrale These besteht darin, die Kolonialisierung als etwas zu verstehen, das sich nicht<br />

ausserhalb <strong>der</strong> westlichen Metropolen ereignet hat. Vielmehr waren die europäischen und<br />

nordamerikanischen Kolonialmächte vom Kolonialismus ebenso, wenn auch auf an<strong>der</strong>e<br />

Weise, vom Kolonialismus betroffen wie die ehemaligen Kolonien. Der Kolonialismus<br />

ist aber darüber hinaus nicht nur für Län<strong>der</strong> wie Nigeria, Brasilien, Pakistan o<strong>der</strong><br />

Indonesien ein Thema und auch nicht nur für diejenigen europäischen Län<strong>der</strong>, die<br />

offizielle Kolonialmächte waren: England o<strong>der</strong> Frankreich, Holland o<strong>der</strong> Portugal. Die<br />

1


post<strong>koloniale</strong> Theorie geht noch einen Schritt weiter, und das ist nun bedeutsam für die<br />

Schweiz: demnach betrifft die <strong>koloniale</strong> Konstellation nicht nur diejenigen Län<strong>der</strong>, die<br />

formell und offiziell entwe<strong>der</strong> Kolonialmächte o<strong>der</strong> Kolonien waren. Es geht vielmehr<br />

darum zu verstehen, wie <strong>der</strong> Kolonialismus auf unterschiedliche Weise die ganze <strong>Welt</strong><br />

affiziert und sie in einem gewissen Sinne erst als «<strong>Welt</strong>», als einen zusammenhängenden<br />

ökonomischen, politischen und geographischen Raum, hervorgebracht hat.<br />

(Kolonialismus unterschiedliche Konnotationen: mit Osterhammel kann z.B. zwischen<br />

„Beherrschungskolonien“ (British India), „Stützpunktkolonien“ (Hong Kong) und<br />

„Siedlungskolonien“ (USA, Australien) unterschieden werden. Umfasst weit mehr als nur<br />

formale Kolonien v.a. nach <strong>der</strong> Berliner Konferenz von 1885.)<br />

Die <strong>koloniale</strong> Erfahrung betrifft demnach alle Bereiche <strong>der</strong> Erde, wenn auch auf ganz<br />

unterschiedliche Weise. Damit wird deutlich, dass Globalisierung, Migration und<br />

multikulturelle Gesellschaften, bedeutsame aktuelle Schlagworte, nicht nur Produkte <strong>der</strong><br />

vergangenen zwanzig o<strong>der</strong> dreissig Jahre darstellen. Die post<strong>koloniale</strong> Theorie insistiert<br />

vielmehr darauf, dass <strong>der</strong> ökonomische, aber auch <strong>der</strong> intellektuelle und kulturelle<br />

Austausch seit den grossen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten europäischer Staaten,<br />

also seit Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts, für alle Gesellschaften von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung<br />

war.<br />

1. Freiheit und Sklaverei: ein Paradox <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

Die post<strong>koloniale</strong> Theorie zeigt, dass die Entwicklungen, die gemeinhin <strong>Europa</strong><br />

zugeschrieben werden, also die Aufklärung und die Entstehung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften<br />

mit ihren politischen, wissenschaftlichen und technischen Fortschritten, gar nicht denkbar<br />

wären ohne den Einbezug globaler Dimensionen. Stuart Hall schreibt, das <strong>Post</strong><strong>koloniale</strong><br />

beschreibe „die ‚Kolonialisierung’ als Teil eines im wesentlichen transnationalen und<br />

transkulturellen ‚globalen’ Prozesses neu – und bewirkt ein von Dezentrierung, Diaspora-<br />

Erfahrung o<strong>der</strong> ‚Globalität’ geprägtes Umschreiben <strong>der</strong> früheren imperialen grossen<br />

Erzählungen mit <strong>der</strong> Nation als Zentrum.“ (Hall, Stuart: Wann gab es das<br />

‚<strong>Post</strong><strong>koloniale</strong>’? Denken an <strong>der</strong> Grenze, 227) An<strong>der</strong>s also als in den Geschichtsbüchern,<br />

die wahrscheinlich die meisten von ihnen in <strong>der</strong> Schule verwendet haben, besteht die<br />

Geschichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht nur aus den hehren Kämpfen <strong>der</strong> grossen europäischen<br />

2


Nationen, welche die ökonomische Industrialisierung, die politische <strong>Neu</strong>organisation im<br />

demokratischen Nationalstaat, technische und wissenschaftliche Fortschritte, sowie eine<br />

dezidiert europäische Kultur scheinbar aus sich heraus entwickelt haben. <strong>Post</strong><strong>koloniale</strong><br />

Ansätze zeigen etwa, dass die Entwicklung des europäischen Staats- und<br />

Wirtschaftssystems unweigerlich verknüpft ist mit dem Dreieckshandel zwischen Afrika,<br />

<strong>Europa</strong> und Amerika, <strong>der</strong> ganz wesentlich auf Sklaverei und Sklavenhandel basiert.<br />

(BILD Dreieckshandel). Und dabei stossen wir auf einen <strong>der</strong> ganz grossen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

<strong>der</strong> europäischen Mo<strong>der</strong>ne: dass nämlich dasjenige Zeitalter, dass den Feudalismus<br />

abgeschafft und die menschliche Gleichheit und Freiheit zum Kern seines<br />

Selbstverständnis erklärt hat, dass die europäische bürgerliche Mo<strong>der</strong>ne ganz wesentlich<br />

auf <strong>der</strong> Sklaverei, also <strong>der</strong> striktesten Form menschlicher Unfreiheit und Ausbeutung,<br />

basiert hat. (Betrifft auch den Umgang mit europäischen Frauen, Juden, Fahrenden,<br />

Nicht-Besitzenden).<br />

Diese radikale Ungleichheit, welche das Verhältnis zu den Sklaven, den Kolonialisierten,<br />

den Frauen kennzeichnet, stellte ein zentrales Problem <strong>der</strong> europäischen Aufklärung dar:<br />

sie musste gleichzeitig den menschlichen ‚Universalismus’ vertreten, die These also, dass<br />

alle Menschen qua Geburt gleich und frei seien UND begründen, warum, um es ironisch<br />

auszudrücken „die einen eben doch gleicher sind als die an<strong>der</strong>en“ o<strong>der</strong> wie es Françoise<br />

Vergès beschreibt: „quelle est cette égalité universelle qui ne s’appliquerait qu’à certains<br />

individus? quelle en serait la justification sinon que l’égalité n’est pas un principe<br />

universel mais toujours soumis à l’exception?“ (<strong>Post</strong>face, in: Césaire, Aimé: Nègre je<br />

suis, nègre je resterai. Entretiens avec Françoise Vergès, 115)<br />

Für die post<strong>koloniale</strong> Theorie ist dieses Paradox <strong>der</strong> Aufklärung ein zentraler<br />

Einsatzpunkt. Ihr geht es, mit an<strong>der</strong>en Worten, darum, die Effekte einer Politik und eines<br />

Selbstverständnisses zu verstehen, das einerseits eine radikale Idee <strong>der</strong> Gleichheit<br />

proklamiert (siehe die aktuelle Form <strong>der</strong> Menschenrechte) und an<strong>der</strong>erseits die denkbar<br />

extremsten Formen <strong>der</strong> Ungleichheit institutionalisiert. Für die post<strong>koloniale</strong><br />

DenkerInnen geht es darum zu erklären, wie diese beiden Tendenzen <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Mo<strong>der</strong>ne, nämlich Gleichheit und Freiheit für alle Menschen einzufor<strong>der</strong>n UND eine<br />

Gesellschaft zu begründen, die auf systematischer Ungleichheit beruht, zusammen<br />

hängen. Der Humanismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und sein an<strong>der</strong>es Gesicht, ein radikaler<br />

3


Antihumanismus, scheinen demnach zusammen zu gehören. (Nähe zu Horkheimer und<br />

Adorno, radikale Kritik an <strong>der</strong> Auflärung, gegen Fortschrittoptimismus. Herrschaft <strong>der</strong><br />

Vernunft und Barbarei gehören zusammen, radikaler Ausdruck in <strong>der</strong> Shoa. Thema<br />

Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus wichtig in <strong>der</strong><br />

aktuellen Diskussion, wie schon von Hannah Arendt aufgezeigt)<br />

Den Kolonialisums ebenso wie den Nationalsozialismus zu verstehen bedeutet demnach,<br />

nicht etwas über das Gegenteil <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu erfahren son<strong>der</strong>n etwas über die Mo<strong>der</strong>ne<br />

selbst, etwas, das entgegen ihres demokratischen und liberalen Verständnisses in ihr<br />

angelegt ist. In Bezug auf den Kolonialismus bedeutet es unter an<strong>der</strong>em, den Mythos des<br />

paternalistischen, gerechten Kolonialherren zu zerstören (was z.B. Frankreich noch<br />

immer zu verhin<strong>der</strong>n, vgl. das im Februar 2005 verabschiedete Gesetz, wonach im<br />

Unterricht die «positive Rolle <strong>der</strong> französischen Präsenz in Übersee» aufgezeigt werden<br />

soll). Die post<strong>koloniale</strong> Theorie zeigt im Gegensatz dazu, wie auch die Kolonialmächte<br />

von <strong>der</strong> Herrschaft affiziert worden sind, die sei ausgeübt haben. Auf diese Weise legt<br />

Aimé Césaire in seinem 1955 erschienen Discours sur le colonialisme dar, wie <strong>der</strong><br />

Kolonialismus nicht nur den Kolonialisierten verän<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n auch den Kolonisatoren:<br />

„Ils prouvent que la colonisation, je le répète, déshumanis l’homme même le plus<br />

civilisé; que l’action coloniale, l’entreprise coloniale, la conquête coloniale, fondée sur le<br />

mépris de l’homme indigène et justifiée par ce mépris, tend inévitablement à modifier<br />

celui qui l’entreprend; que le colonisateur, qui, pour se donner bonne conscience,<br />

s’habitue à voir dans l’autre la bête, s’entraîne à le traiter en bête, tend objectivement à se<br />

transformer lui-même en bête.“ (Césaire, Aimé: Discours sur le colonialisme, 21)<br />

Die enthumanisierende Wirkung <strong>der</strong> <strong>koloniale</strong>n Herrschaft betrifft also nicht nur die<br />

Kolonialisierten, son<strong>der</strong>n schlägt auch auf die Kolonialherren zurück.<br />

Ein an<strong>der</strong>er Aspekt dieser Dekonstruktion des ‚guten Kolonialherren’ kommt zum<br />

Vorschein, wenn <strong>der</strong> unterschiedliche Umgang mit <strong>der</strong> Geschlechtergerechtigkeit in den<br />

Kolonien einerseits und in den westlichen Gesellschaften an<strong>der</strong>erseits in den Blick<br />

genommen wird. Obwohl <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Chancengleichheit von Frauen und Männern<br />

in westlichen Gesellschaften nur sehr partiell eingelöst werden konnte, grenzt sich diese<br />

von den sogenannt „patriarchalen“ Praktiken nicht-europäischer Kulturen statt.<br />

Chakrovarty Gayatri Spivak zeigt am Beispiel <strong>der</strong> Sati-Praxis in Indien, wie die<br />

4


itischen Kolonialherren das von ihnen durchgesetzte Verbot <strong>der</strong> Witwenverbrennung<br />

als Legitimation ihrer <strong>koloniale</strong>n Herrschaft verwendet haben. Neben zahlreichen<br />

Missverständnissen und Fehldeutungen, die den Umgang <strong>der</strong> britischen Kolonialmacht<br />

mit dieser Praxis charakterisieren, ging es, so Spivak, nicht darum, die<br />

Handlungsfähigkeit indischer Witwen zu stärken, son<strong>der</strong>n vielmehr darum, ihren<br />

Opferstatus zu konsolidieren und zu einem britischen Einsatz im <strong>koloniale</strong>n Machtspiel<br />

zu machen. Spivak prägt hierfür die Formel “White men are saving brown women<br />

from brown men” (Spivak, Gayatri Ch.: Can the Subaltern speak, 296.) Die Befreiung<br />

kolonialisierter Frauen von ihren angeblich gewalttätigen Männern wird auf diese Weise<br />

zu einer Legitimationsstrategie <strong>koloniale</strong>r Macht, sie bis heute ihre Gültigkeit behält.<br />

Diese Logik kommt nicht zuletzt in <strong>der</strong> US-amerikanischen Intervention in Afghanistan<br />

ins Spiel, notabene von einer Regierung ausgeführt, die nicht gerade für ihre<br />

Tatkräftigkeit im Bereich <strong>der</strong> Chancengleichheit bekannt ist, welche aber die Befreiung<br />

<strong>der</strong> afghanischen Frauen zum Vorwand nahm, um ihre militärische Intervention in<br />

Afghanistan zu rechtfertigen.<br />

An dieser Stelle möchte ich zurück zur Frage kommen, wie die grossen Denker <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne mit dem Paradox umgegangen sind, dass eine Gesellschaft entsteht, die formal<br />

auf Gleichheit basiert und da facto auf grundsätzlich asymmetrischen Strukturen gründet.<br />

Ganz wichtige Antworten darauf wurden durch die mo<strong>der</strong>nen Wissenschaften geliefert,<br />

die in dieser Zeit entstanden sind. Dabei wurde die Natur zur Grundlage für menschliche<br />

Unterschiede erklärt: sowohl <strong>der</strong> Unterschied zwischen Frau und Mann, als auch<br />

<strong>der</strong>jenige zwischen angeblich verschiedenen Rassen wurde auf natürliche Gründe<br />

zurückgeführt und durch diese legitimiert. (Unterschied Ständegesellschaft, die auf<br />

göttlicher Ordnung basiert. Natur tritt in gewisser Weise an die Stelle <strong>der</strong> göttlichen<br />

Ordnung.) Leitfaden <strong>der</strong> anthropologischen Forschung war folgende These: alle<br />

Menschen sind zwar grundsätzlich gleich, aber einige sind von Natur aus so beschaffen,<br />

dass ihre intellektuelle Fähigkeit o<strong>der</strong> ihr moralisches Vermögen nicht o<strong>der</strong> noch nicht<br />

gänzlich entwickelt ist. (Evolutionstheorie, Stufenentwicklung <strong>der</strong> Menschen, a-<br />

synchrone Entwicklung zwischen <strong>Europa</strong> und an<strong>der</strong>en Gebieten <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>.) Damit konnte<br />

<strong>der</strong> Kolonialismus zu einer Praxis umgedeutet werden, welche nicht an<strong>der</strong>e Menschen<br />

5


ausbeutet, son<strong>der</strong>n die Entwicklung <strong>der</strong> weniger entwickelten Rassen voranzutreiben<br />

hilft. Diese Argumentation findet sich beispielsweise bei G.W.F. Hegel. In seinen<br />

Vorlesungen zur Philosophie <strong>der</strong> Geschichte schreibt er:<br />

„Der einzige wesentliche Zusammenhang, den die Neger mit den Europäern gehabt<br />

haben und noch haben, ist <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sklaverei. In dieser sehen die Neger nichts ihnen<br />

Unangemessenes, und gerade die Englän<strong>der</strong>, welche das meiste zur Abschaffung des<br />

Sklavenhandels und <strong>der</strong> Sklaverei getan haben, werden von ihnen selbst als Feinde<br />

behandelt. [...] Die Sklaverei ist an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Menschen<br />

ist Freiheit, doch zu dieser muss er erst reif werden. Es ist also die allmähliche<br />

Abschaffung <strong>der</strong> Sklaverei etwas Angemesseneres und Richtigeres als ihre plötzliche<br />

Aufhebung.“ (Hegel, G.W.F.: Vorlesungen zur Philosophie <strong>der</strong> Geschichte, 128-29)<br />

Hegel muss sich, als Denker <strong>der</strong> Freiheit, gegen die Sklaverei aussprechen. Allerdings<br />

ermöglicht es ihm sein Entwicklungsmodell, das so zu tun, dass es mit dem <strong>koloniale</strong>n<br />

Unternehmen zusammenpasst. Die Englän<strong>der</strong> erscheinen dabei als die Befreier <strong>der</strong><br />

Afrikaner von <strong>der</strong> Sklaverei und die stufenweise Abschaffung <strong>der</strong> Sklaverei scheint das<br />

einzig richtige Mittel zu sein, um die AfrikanerInnen an den Übergang in die Freiheit zu<br />

gewöhnen.<br />

Das bedeutet, und das ist eine weitere provokante These <strong>der</strong> post<strong>koloniale</strong>n Theorie, dass<br />

die Entstehung mo<strong>der</strong>ner Wissensformen mit <strong>koloniale</strong>n Praktiken eng verknüpft ist. So<br />

verdichten sich im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t Evolutionstheorie, Medizin, Ethnologie, Biologie und<br />

nationalistische Ideologien in den mo<strong>der</strong>nen Rassentheorien, welche <strong>koloniale</strong>,<br />

antisemitische und rassistische Praktiken wissenschaftlich legitimieren. Die post<strong>koloniale</strong><br />

Theorie geht davon aus, dass solche Wissensordnungen trotz vieler Transformationen<br />

und Korrekturen bis in die Gegenwart hinein wirksam sind.<br />

Dies gilt auch für Museen als Stätten <strong>der</strong> Repräsentation und <strong>der</strong> Erinnerung und als Orte,<br />

die beides sind: einerseits ein typisches Produkt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissensordnung und<br />

an<strong>der</strong>erseits ein Ort, an dem diese Wissensordnung hergestellt, ausgestellt und öffentlich<br />

zugänglich gemacht wird. In einem Bericht des hiesigen Basler Museums von 1893 heisst<br />

es etwa: „Ethnographische Sammlungen dienen bekanntlich zur Aufklärung über die<br />

Kulturgeschichte <strong>der</strong> Menschheit. Sie enthalten Beweisstücke für die Stufe, auf <strong>der</strong> die<br />

6


culturarmen Völker noch jetzt stehen, o<strong>der</strong> für den Weg auf dem an<strong>der</strong>e fortgeschritten<br />

bis zur universellen Kultur.“<br />

Anklänge an Hegel. Sehr deutlich: Entwicklungsmodell, Gleichzeitigkeit des<br />

Ungleichzeitigen, pädagogischer Auftrag, Repräsentationsfunktion.<br />

2. <strong>Post</strong><strong>koloniale</strong> Einsätze: Dekonstruktion und Rekonstruktion<br />

Zurück aber, an dieser Stelle, zum transatlantischen Dreieckshandel. Daran lässt sich<br />

nämlich auch ein an<strong>der</strong>er Aspekt <strong>der</strong> post<strong>koloniale</strong>n Theorie aufzeigen. Der<br />

Dreieckshandel ist demnach nicht nur ökonomisch von Bedeutung. Er ermöglichte<br />

ebenfalls, wenn auch unter extrem ungleichen Bedingungen, den Austausch von Ideen,<br />

Praktiken und Kulturelementen zwischen den Kontinenten. Paul Gilroy spricht in diesem<br />

Zusammenhang vom „Black Atlantic“. Mit seiner Umdeutung des Atlantiks als Black,<br />

Schwarz, versucht Gilroy die bedeutsamen Beiträge Afrikas an <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne sichtbar zu machen, Beiträge, die in einer üblichen Darstellung <strong>der</strong> Entstehung<br />

mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften kaum je Erwähnung finden. Afrika, so Gilroys These, war nicht<br />

einfach ein europäisches Lager von Rohstoffen und Arbeitskräften. Durch eine solche<br />

Perspektive wird die europäische Macht verabsolutiert und <strong>der</strong> Beitrag nicht-europäischer<br />

Menschen und Kulturen an <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne unsichtbar gemacht.<br />

„The Black Atlantic developed from my uneven attempts to show these students that the<br />

experiences of black people were part of the abstract mo<strong>der</strong>nity they found so puzzling<br />

and to produce as evidence some of the things that black intellectuals had said –<br />

sometimes as defen<strong>der</strong>s of the West, sometimes as its sharpest critics – about their sense<br />

of embeddedness in the mo<strong>der</strong>n world.“ (Gilroy, Paul: The Black Atlantic, ix)<br />

Dieser Versuch Gilroys, die Entstehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an<strong>der</strong>s zu begründen, ihre an<strong>der</strong>e<br />

Geschichte zu schreiben, eine Geschichte, welche die vielfältigen Leistungen und<br />

Beiträge nicht-europäischer Menschen und Kulturen deutlich macht, ermöglicht es uns,<br />

zwischen zwei zentralen Aspekten <strong>der</strong> post<strong>koloniale</strong>n Theorie zu unterscheiden: sie ist<br />

einerseits dekonstruktiv und an<strong>der</strong>erseits rekonstruktiv. Das heisst, dass sie einerseits<br />

die westlichen Erklärungsmodelle kritisch befragt, also beispielsweise die These, dass die<br />

Mo<strong>der</strong>ne für die Durchsetzung menschlicher Gleichheit und Freiheit steht, o<strong>der</strong> dass es<br />

menschliche Rassen mit natürlichen Unterschieden gibt, und dass diese auf<br />

7


verschiedenen Stufen einer fortschreitenden Entwicklung anzusiedeln sind. Neben dieser<br />

kritischen Arbeit, geht es aber auch darum, die <strong>Welt</strong> an<strong>der</strong>s zu denken, sie an<strong>der</strong>s zu<br />

ordnen, sie an<strong>der</strong>s zu erklären, mit an<strong>der</strong>en Worten: <strong>der</strong> vorherrschenden westlichen<br />

Geschichtsschreibung an<strong>der</strong>e, alternative Erzählungen hinzuzufügen.<br />

post<strong>koloniale</strong> Theorien verfahren<br />

dekonstruktiv: sie dekonstruieren jene Geschichtsschreibungen, welche die<br />

Entstehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als alleinige Leistung <strong>Europa</strong>s und des Westens darstellen<br />

rekonstruktiv: sie erstellen alternative Narrative, welche die vielfältige<br />

Beteiligung nicht-europäischer Menschen aufzeigen, die transnationalen und<br />

transkulturellen Element <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne betonen sowie ihre intrinsische Verknüpfung mit<br />

<strong>koloniale</strong>n Herrschaftspraktiken thematisieren.<br />

Gilroys Black Atlantic ist ein solcher Versuch, die Geschichte <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne konsequent<br />

aus einer Perspektive zu schreiben, welche zum einen speziell die afrikanischen Beiträge<br />

betont und zum an<strong>der</strong>en auf die Übergänge und Passagen hinweist. Die Mo<strong>der</strong>ne ist dann<br />

nicht mehr an einen Kontinent, an eine geographische Fläche, an ganz bestimmte<br />

Nationen gebunden, son<strong>der</strong>n sie entsteht in den Zwischenräumen, im ständigen Hin- und<br />

Her zwischen den unterschiedlichen Kulturen und geographischen Zonen.<br />

Bild des Schiffes: Verbindung, Mobilität, Sklavenhandel, konstitutive Beziehung zu<br />

kulturell An<strong>der</strong>en (Gilroy, 16-17)<br />

Das Denken des Zwischen kann als Kennzeichen vieler post<strong>koloniale</strong>r Schriften<br />

beschrieben werden. Auch Homi Bhabha versucht dies mit seinem Begriff <strong>der</strong><br />

‚Hybridität’, o<strong>der</strong> die transkulturellen und transnationalen Ansätze, die nicht die<br />

voneinan<strong>der</strong> getrennten Nationen o<strong>der</strong> Kulturen, son<strong>der</strong>n vielmehr das ‚trans’ stark<br />

machen und damit zeigen, dass Nationen o<strong>der</strong> Kulturen nicht als isolierte Entität gedacht<br />

werden können. Es reicht demnach nicht aus zu behaupten, dass es zwischen Nationen<br />

und zwischen Kulturen Austausch gibt. Vielmehr wird die Perspektive regelrecht<br />

umgekehrt: erst <strong>der</strong> vielfältige Austausch macht es möglich, von so was wie Kulturen zu<br />

sprechen, die aber immer nur instabile, momentane Effekte dieses Austausches sind.<br />

Nochmals: die post<strong>koloniale</strong> Theorie ist beides, dekonstruktiv und rekonstruktiv, kritisch<br />

und innovativ. Ihre Herausfor<strong>der</strong>ung besteht zum einen darin, die Vormacht <strong>Europa</strong>s, und<br />

8


die radikalen und vielfältigen Formen von Ungleichheit, die dies zur Folge hatte, sichtbar<br />

zu machen und anzugreifen. Wichtig, diese kritische Dimension mitzudenken: Gefahr,<br />

Multikulturalisms als fröhliches Vermischen von Kulturen zu sehen: am Mittag Sushi<br />

und abends Döner Kebab, Ausblenden <strong>der</strong> globalen Herrschaftsstrukturen, <strong>der</strong><br />

historischen Machtungleichheit. Zum an<strong>der</strong>en geht es darum, diese Übermacht nicht<br />

selbst zu wie<strong>der</strong>holen, indem zentrale Position <strong>Europa</strong>s und des Westens reproduziert<br />

wird. Genau dies bezweckt Dipesh Chakrabarty mit seiner Auffor<strong>der</strong>ung, <strong>Europa</strong> zu<br />

<strong>provinzialisieren</strong>. Indem dargelegt, wird, wie sich <strong>Europa</strong> bzw. <strong>der</strong> Westen zum Zentrum<br />

<strong>der</strong> <strong>Welt</strong> gemacht hat, politisch, ökonomisch, wissenschaftlich, kann dieser zentrale<br />

Status in Frage gestellt werden. Das erschafft einen Raum, in dem an<strong>der</strong>e Erzählungen<br />

Platz finden. Ein Beispiel für einen solchen an<strong>der</strong>en Raum sind die Perspektiven, die im<br />

Zuge <strong>der</strong> Créolité Bewegung in <strong>der</strong> französischsprachigen Karibik entwickelt worden<br />

sind. Créolité wendet sich gegen die Vorstellung, in <strong>der</strong> Karibik finde eine Vermischung<br />

von ursprünglich reinen Kulturen statt, also von asiatischen, europäischen, afrikanischen<br />

und amerikanischen Elementen, die dabei verwässert und unauthentisch gemacht werden.<br />

Die Créolité beschreibt vielmehr ein Selbstverständnis, das die Vermischung zum<br />

Ausgangspunkt nimmt und sich das Immer-Schon-Vermischt-Sein zu eigen macht als<br />

eine Kulturform, eine Lebensweise, eine Art in <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> zu sein. Jean Bernabé, Patrick<br />

Chamoiseau und Raphaël Confiant schreiben darum in ihrer „Eloge de la Créoité“, dass<br />

die Créolité, die in <strong>der</strong> Karibik sich so augenfällig zeigt, einen Zustand beschreibt, <strong>der</strong><br />

auf die ganze <strong>Welt</strong> zutrifft.<br />

„La monde va en état de créolité. Les vieilles crispations nationales cèdent sous l’avancée<br />

de fédérations qui elles-mêmes ne vivront peut-être pas longtemps. Dessous la croûte<br />

universelle totalitaire, le Divers s’est maintenu en petis peuples, en petits langues, en<br />

petites cultures.“ (Bernabé, Jean / Chamoiseau, Patrick / Confiant, Raphaël: Eloge de la<br />

Créolité, 51).<br />

3. Die post<strong>koloniale</strong> Schweiz<br />

Nun, was hat das alles mit <strong>der</strong> Schweiz zu tun? In <strong>der</strong> Schweiz gilt grundsätzlich die<br />

Auffassung, dass <strong>der</strong> Kolonialismus nichts mit diesem Land und seiner Geschichte zu tun<br />

habe. Im Schulunterricht wird er, ebenso wie <strong>der</strong> transatlantische Handel, nur am Rande<br />

9


erwähnt. Im Rahmen <strong>der</strong> dritten <strong>Welt</strong>konferenz gegen Rassismus, die im September 2001<br />

in Durban stattfand, betonte <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Schweiz, Jean-Daniel Vigny, die<br />

Entschädigungsfor<strong>der</strong>ungen von afrikanischer Seite an die Län<strong>der</strong>, die vom<br />

transatlantischen Sklavenhandel profitiert haben, betreffe die Schweiz nicht, da „’wir mit<br />

Sklaverei, dem Sklavenhandel und dem Kolonialismus nichts zu tun haben.’“ (zit. nach<br />

David et al, 9). Vigny vertritt damit eine Haltung, die wohl die meisten Menschen in <strong>der</strong><br />

Schweiz teilen würden. Allerdings gibt es in jüngster Zeit einige Debatten, die darauf<br />

schliessen lässt, dass die Sache nicht so einfach ist.<br />

Zum einen zeigen aktuelle Forschungen, die nicht im engeren Sinne <strong>der</strong> post<strong>koloniale</strong>n<br />

Theorie zuzurechnen sind, dass auch die Schweiz, welche nie«offiziell» als<br />

Kolonialmacht aufgetreten ist, in den Kolonialismus und vor allem in den<br />

transatlantischen Sklavenhandel verwickelt war. Thomas Davids, Bouda Etemads und<br />

Janick Marina Schaufelbuehls «Schwarze Geschäfte», Hans Fässlers «Reise in Schwarz-<br />

Weiss» o<strong>der</strong> Niklaus Stettlers, Peter Haengers und Robert Labhardts «Baumwolle,<br />

Sklaven und Kredite» zeigen auf, wie vielfältig die sozialen, ökonomischen und<br />

politischen Verknüpfungen zwischen Schweizer Unternehmersfamilien, dem<br />

transatlantischen Handel und <strong>der</strong> europäischen Expansionspolitik waren.<br />

Verflechtung reicher Unternehmersfamilien mit Politik, Mission. Wissenschaft, auch<br />

Museum. Auch hier mo<strong>der</strong>nes Paradox zwischen aufklärerischem Ansinnen, Tätigkeiten<br />

als För<strong>der</strong> und Mäzen und ausbeuterischen Praktiken, bereits bekannt in Bezug auf das<br />

Verhältnis zwischen Fabrikbesitzern und Belegschaft. muss aber ausgeweitet werden<br />

durch transnationale Perspektive.<br />

Zum an<strong>der</strong>en scheint es an <strong>der</strong> Zeit zu sein, über die Schweiz als diskursiven<br />

post<strong>koloniale</strong>n Raum nachzudenken, über ihre Einbindung also in jene <strong>koloniale</strong>n und<br />

post<strong>koloniale</strong>n wissenschaftlichen, politischen und populären Diskurse, die keineswegs<br />

an den Nationalgrenzen Halt machen, also zum Teil transnational waren, aber auch<br />

spezifisch Schweizerische Ausprägung fanden. Ich denke, dass es eine wichtige Aufgabe<br />

für die zukünftige kulturwissenschaftliche Forschung sein wird zu untersuchen, welche<br />

<strong>koloniale</strong>n und post<strong>koloniale</strong>n Vorstellungen sich in <strong>der</strong> Schweiz herausgebildet haben,<br />

welches, mit an<strong>der</strong>en Worten ‚post<strong>koloniale</strong> Imaginäre’ sich in <strong>der</strong> Schweiz<br />

herausgebildet hat. Einsatzpunkte gäbe es viele: die an Universitäten entwickelten<br />

10


Rassentheorien, Missionsberichte, Geschichtsbücher, die Politik <strong>der</strong> Entwicklungshilfe<br />

o<strong>der</strong> auch Museen...<br />

Beispiele aus Kin<strong>der</strong>büchern.<br />

Schluss<br />

Abschliessend möchte ich nochmals betonen, dass diese Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />

eigenen post<strong>koloniale</strong>n Gegenwart in <strong>der</strong> Schweiz erst beginnt, und dass ich denke,<br />

Museen können einen wichtigen Raum für diese Auseinan<strong>der</strong>setzung darstellen. Die<br />

Geschichte musealer Ausstellungspraktiken dokumentiert auf eindrückliche Weise den<br />

wechselnden Umgang mit dem Blick auf das Fremde, An<strong>der</strong>e und Eigene. Wenn die<br />

Bedeutung dieser Geschichte erkannt wird, und wenn es gelingt, Museen auch als<br />

Archive (post-)<strong>koloniale</strong>r Repräsentationen zu entdecken, dann wird eine Reflexion auf<br />

Praktiken des Ausstellens und Darstellens möglich, welche wegweisend sein könnte für<br />

die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> post<strong>koloniale</strong>n Schweiz.<br />

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