EXPERTENBRIEF No. 21 - SGGG
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Expertenbrief <strong>No</strong>. <strong>21</strong><br />
Kommission Qualitätssicherung<br />
Präsident Prof. Dr. Daniel Surbek<br />
Der Einsatz von Netzen bei Prolapsoperationen<br />
(Revidierte Version vom 20.August 2012)<br />
Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie und Beckenbodenpathologie AUG<br />
Autoren: G. Schär, A. Kuhn, A. Weil<br />
Vorbemerkung<br />
Prolapsoperationen haben zum Ziel, Senkungsbeschwerden zu beheben und die Funktion der betroffenen Organe wie<br />
Vagina, Blase und Rektum zu verbessern. Der Eingriff sollte wenig invasiv sein, möglichst keine Komplikationen<br />
verursachen und eine niedrige Rezidivrate aufweisen. Seit über zehn Jahren werden Netze (Meshs) angewendet. Im<br />
März 2007 hat die AUG den Expertenbrief Nr. <strong>21</strong> zum Einsatz von Netzen beim Prolaps publiziert und mangels<br />
qualitativ hoch stehender Studien geraten, Netze zurückhaltend anzuwenden. Seit 2011 liegen randomisierte Studien<br />
vor. Im Juli 2011 hat die FDA (U.S Food and Drug Administration) eine viel und kontrovers diskutierte Warnung zum<br />
Einsatz von vaginalen Netzen publiziert. Über 1500 erfasste Komplikationen im Zeitraum von 3 Jahren führten zur<br />
Aussage, dass vaginal eingelegte Netze Patientinnen einem erhöhten Risiko aussetzen ohne dass ein Nutzen<br />
gegenüber den bisherigen nicht netzbasierten Prolapsoperationen nachgewiesen sei. Mit diesem Update will der<br />
Vorstand der AUG den Mitgliedern der gynécologie suisse seine Einschätzung der Situation mitteilen.<br />
Unveränderte Aussagen gegenüber dem Expertenbrief 2007<br />
Nach wie vor unbestritten ist der Einsatz von Netzen bei der Sakrokolpopexie, da nur dadurch eine Überbrückung vom<br />
prolabierten Vaginalbereich zum Fixationsort (Sakrum) möglich ist. Für die Sakrofixation existiert heute eine als<br />
ausreichend anzusehende Evidenz (1).<br />
Inkontinenzoperationen mit Netzschlingen gelten heute als der Goldstandard zur Behandlung der<br />
Belastungsinkontinenz. Sie zeichnen sich aus durch ein minimal invasives Vorgehen, hohe Erfolgsraten auch in<br />
Langzeitstudien sowie ein vertretbares Komplikationspotential.<br />
Was ist neu gegenüber dem Expertenbrief 2007?<br />
Folgendes Netzmaterial gilt heute als Standard: Makroporöses monofiles, Polypropylene mit einer Porengrösse > 75<br />
µm. Hybridnetze wurden zur Marktreife entwickelt und eingeführt. Sie enthalten neben Polypropylen resorbierbares<br />
Fadenmaterial, welches in der ersten Heilungsphase zusätzlich stabiliserend wirken soll. Bisher fehlt Level I Evidenz<br />
zum Einsatz dieser Hybridnetze. Porcine und resorbierbare synthetische Netze weisen eine höhere Rezidivrate bei<br />
nicht verbesserten Komplikationsraten auf (2). Konfektionierte, vorgefertigte Netzkits haben sich gegenüber<br />
zuschneidbaren Netzen durchgesetzt.<br />
Verschiedene randomisierte Studien haben folgendes gezeigt: Die Anwendung von Netzen führt zu besseren anatomischen<br />
Befunden (objektive Erfolgsrate) was aber subjektiv von den Frauen gegenüber den netzfreien Operationen<br />
nur als geringe oder keine Verbesserung wahrgenommen wird (3,4). Diese Aussage basiert allerdings auf<br />
Kurzzeitanalysen (12 bis 24 Monate). Die Komplikationsrate liegt bei den mittels Netz operierten Frauen höher.<br />
Typische Netz- bedingte Komplikationen sind: Netzerosion (Exposure), Schmerzen, Dyspareunie, Infektion. Die<br />
Reoperationsraten liegen bei den meisten Studien bei ca. 10% nach vaginalen Netzen (5). Dabei macht die Operation<br />
zur Behebung der Belastungsinkontinenz den grössten Anteil aus (7%). Danach folgen die Reoperationen wegen<br />
Erosion. Immer deutlicher wird die Tatsache, dass gerade bei den vaginal eingelegten Netzen die Erfahrung des<br />
Operateurs eine grosse Rolle spielt (6).<br />
Problem der Studienbeurteilung<br />
Die Studienresultate sind schwierig zu beurteilen. Die Definition des Rezidivprolaps wird uneinheitlich gehandhabt.<br />
Auch für Komplikationen fehlte ein einheitliches Klassifizierungssystem. Seit 2011 gibt es ein solches System (7).<br />
Publikationen über Komplikationen von Prolapsoperationen sollten dieses System verwenden.<br />
Aus den randomisierten Studien haben wir gelernt, dass die objektiven Parameter zur Beurteilung der Heilung (zB.<br />
POP-Q) nicht mit der subjektiven Patienten- Wahrnehmung übereinstimmen müssen. Subjektive Wahrnehmungen sind<br />
toleranter als die objektive Beurteilung. Bisher unklar ist ob eine bessere postoperative Anatomie einen besseren<br />
Langzeitverlauf sicherstellt. Würde dies zutreffen, so käme der anatomischen Beurteilung doch eine grössere<br />
Bedeutung zu, was wiederum die Anwendung von Netzen stützen würde.<br />
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Ein weiteres Problem sind die heterogenen Kollektive der meisten (auch randomisierten) Studien. Sie bestehen aus<br />
verschiedenen Deszensusformen und verschiedenen Netzanwendungen. Zukünftige Studien müssen dieses Thema<br />
klarer und vergleichbarer darstellen.<br />
Zulässige Aussagen aus den klinischen Studien<br />
Bei apikalem Deszensus hat die Sakrokolpopexie Vorteile gegenüber der vaginalen Sakrospinalen Fixation betreffend<br />
Rezidiv-, Reoperations- und Dyspareunierate (1). Der Vergleich zwischen Sakrokolpopexie und totalem Mesh (totales<br />
Prolift) zeigt ebenfalls eine bessere objektive und subjektive Heilung und geringere Reoperations- sowie<br />
Komplikationsraten für die Sakrokolpopexie (8).<br />
Im Vergleich zur Diaphragmaplastik weisen die vaginalen Netzkits bei Zystozele eine bessere objektive und subjektive<br />
Heilungsrate auf, jedoch zum Preis einer um 14% höheren Komplikationsrate (Blasenläsion 3%, Inguinalschmerzen 3%<br />
und Erosion 8%), während die Dyspareunierate keinen Unterschied aufwies (3). Withagen et al. verglichen ebenfalls<br />
Diaphragmaplastik mit Netzkit und fanden zwar bei der subjektiven Heilungsrate keine Unterschiede, jedoch signifikant<br />
häufigere Reoperationen wegen Rezidivdeszensus bei Frauen die mittels Diaphragmaplastik operiert wurden. Mit 17%<br />
war die Erosionsrate zudem in dieser Studie relativ hoch (4).<br />
Bei der Rektozele ist sich die Fachwelt einig, dass im primären Fall die Rektozelenkorrektur mit einer<br />
Kolpoperineoplastik und ohne Levatornähte hohe Heilungsraten um 90% zeigt (1) und die Anwendung von Netzen nicht<br />
angezeigt ist, weil die Komplikationsrate von 6 bis 12% Erosionen (9) im Vergleich dazu nicht vertretbar ist. Netze<br />
sollten hier erst im Rezidivfall zur Anwendung kommen.<br />
Konsequenzen für die Praxis<br />
Netzeinlagen bei Prolaps müssen auch weiterhin kritisch indiziert werden. Der Anwender muss einen hohen,<br />
Informationsstand aufweisen. Neben den Kenntnissen zu den Materialien muss er ein umfassendes Verständnis von<br />
Anatomie und Funktion haben um die Auswirkungen seines Handelns auf Kontinenz, Miktion, Defäkation, Kohabitation<br />
und Deszensusbeschwerden abschätzen zu können. Das Risiko-Nutzen-Verhältnis einer Mesh- Anwendung muss ihm<br />
bewusst sein. So ist heute klar, dass wir uns im Spannungsfeld zwischen Rezidivrisiko und Komplikationsrate bewegen.<br />
Der Operateur muss sorgfältig abwägen, ob eine Netzanwendung gegenüber der klassischen Operation klare Vorteile<br />
bringt und er muss in der Lage sein, der betroffenen Frau diese Zusammenhänge adäquat und verständlich<br />
aufzuzeigen. Patientinnen müssen vor vaginalen Netzeinlagen auf die Möglichkeit der Verschlechterung der<br />
Sexualfunktion aufmerksam gemacht werden.<br />
Praktische Aspekte<br />
Entscheidet sich ein Operateur für die Verwendung eines Netzes, sollte er folgende Kriterien berücksichtigen:<br />
� Nach Möglichkeit ausgeschöpfte konservative Vorbehandlung<br />
� Leidensdruck der Patientin sollte vorhanden sein<br />
� Berücksichtigung von operationstechnischen Details:<br />
� Gute vorausgehende Östrogenisierung<br />
� Spannungsfreie Einlage<br />
� Möglichst kleine Inzisionen<br />
� Keine Verbindung von Netz- und Hysterektomie- Inzision<br />
� Dicke Vaginalhautschicht über dem Mesh<br />
� Verwendung von makroporösen, monofilen Polypropylennetzen (Typ I)<br />
� Situationsgerechte präoperative Diagnostik<br />
� Umfassende Aufklärung der Patientin<br />
� Sorgfältige Nachkontrolle und Führung bis zur Beschwerdefreiheit<br />
Rezidivrisiko<br />
Richtig indiziert und technisch gut angewendet kann mit einer Netzanwendung das Rezidivrisiko verringert, die<br />
Funktionalität verbessert werden oder erhalten bleiben und die Komplikationsrate minimiert werden. Die richtige<br />
Indikation ist ein wichtiger Faktor. Studien haben gezeigt, dass es Faktoren gibt, welche ein Rezidiv begünstigen. Aus<br />
anatomischer Betrachtung ist dies die Kombination Zystozele mit apikalem Defekt (10). Weitere unter Experten<br />
anerkannte Risiken sind: Höhergradiger Prolaps (Grad III), der Rezidivdeszensus selbst, Adipositas, chronischobstruktive<br />
Lungenerkrankung sowie die hohe körperliche Belastung.<br />
Wir nehmen an, dass Netze auch in Zukunft ihren Platz haben werden. Die Warnung der FDA darf nicht dazu führen,<br />
dass die sorgfältige Erforschung und Anwendung der netzunterstützten Prolapsoperationen verlassen wird. Wir<br />
erachten es aber als wertvoll, dass die internationale Diskussion angeregt wurde und daraus wieder eine weitere<br />
Verbesserung der Prolapschirurgie bewirkt werden kann.<br />
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Wie weiter mit den Netzen?<br />
� Standardisierung der Publikationen zu subjektiven und objektiven Messtechniken von Anatomie, Funktion,<br />
Erfolg von netzunterstützten Prolapsoperationen. Die Lernkurve der involvierten Operateure muss deklariert<br />
sein.<br />
� Langzeitdaten nach Netz- Anwendung<br />
� Rezidivrisiken der nicht netzbasierten Prolapsoperationen mit hohem Evidenzgrad identifizieren, welche eine<br />
Netz- Implantation sinnvoll machen<br />
� Kontraindikationen von Netzanwendungen mit hohem Evidenzgrad identifizieren<br />
� Weitere Verbesserung des Implantationsmaterials<br />
Schlussbemerkung<br />
Von einer unkritischen Anwendung von Netzen muss weiterhin abgeraten werden. Die Netze bleiben aber eine Option<br />
zur operativen Korrektur des Prolaps, am besten belegt bei der Sakrokolpopexie, bei höherem Rezidivrisiko auch bei<br />
der Zystozele, nicht aber bei der primären Rektozele. Anwender müssen kontinuierlich dafür sorgen, die neuen Daten<br />
zu kennen. Gutes Training, genügend Erfahrung sowie die Kompetenz, Komplikationen beheben zu können sind die<br />
Voraussetzungen für eine gute Patientinnenbetreuung. Die verständliche, sorgfältige Aufklärung der Patientin,<br />
sorgfältige Nachkontrollen und die fachgerechte Dokumentation sind unabdingbar. Dies gilt nicht nur für netzunterstütze<br />
Operationen sondern für alle Prolapsoperationen, da natürlich auch die netzfreien Operationen Komplikationen,<br />
Funktionsstörungen und Rezidive aufweisen.<br />
Referenzen:<br />
1. Maher C, Feiner B, Baessler K, Adams EJ, Hagen S, Glazener CM. Surgical management of pelvic organ prolapse in women.<br />
Cochrane Database Syst Rev. 2010(4):CD004014.<br />
2. Menefee SA, Dyer KY, Lukacz ES, Simsiman AJ, Luber KM, Nguyen JN. Colporrhaphy compared with mesh or graft-reinforced<br />
vaginal paravaginal repair for anterior vaginal wall prolapse: a randomized controlled trial. Obstet Gynecol. 2011;118:1337-44.<br />
3. Altman D, Vayrynen T, Engh ME, Axelsen S, Falconer C. Anterior colporrhaphy versus transvaginal mesh for pelvic-organ<br />
prolapse. N Engl J Med. 12;364:1826-36.<br />
4. Withagen MI, Milani AL, den Boon J, Vervest HA, Vierhout ME. Trocar-guided mesh compared with conventional vaginal repair in<br />
recurrent prolapse: a randomized controlled trial. Obstet Gynecol. 2011;117:242-50.<br />
5. de Landsheere L, Ismail S, Lucot JP, Deken V, Foidart JM, Cosson M. Surgical intervention after transvaginal Prolift mesh repair:<br />
retrospective single-center study including 524 patients with 3 years' median follow-up. Am J Obstet Gynecol;206(1):83 e1-7.<br />
6. Withagen MI, Vierhout ME, Hendriks JC, Kluivers KB, Milani AL. Risk factors for exposure, pain, and dyspareunia after tensionfree<br />
vaginal mesh procedure. Obstet Gynecol 2011;118(3):629-36.<br />
7. Haylen BT, Freeman RM, Swift SE, Cosson M, Davila GW, Deprest J, et al. An International Urogynecological Association<br />
(IUGA) / International Continence Society (ICS) joint terminology and classification of the complications related directly to the<br />
insertion of prostheses (meshes, implants, tapes) & grafts in female pelvic floor surgery. Int Urogynecol J. 2010;22(1):3-15.<br />
8. Maher CF, Feiner B, DeCuyper EM, Nichlos CJ, Hickey KV, O'Rourke P. Laparoscopic sacral colpopexy versus total vaginal<br />
mesh for vaginal vault prolapse: a randomized trial. Am J Obstet Gynecol. 2011;204(4):360-7.<br />
9. Bako A, Dhar R. Review of synthetic mesh-related complications in pelvic floor reconstructive surgery. Int Urogynecol J Pelvic<br />
Floor Dysfunct. 2009;20(1):103-11.<br />
10. Larson KA, Luo J, Guire KE, Chen L, Ashton-Miller JA, DeLancey JO. 3D analysis of cystoceles using magnetic resonance<br />
imaging assessing midline, paravaginal, and apical defects. Int Urogynecol J. 2011;23(3):285-93.<br />
Datum: 20.August 2012<br />
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