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Picknick mit Baren - Bryson, Bill.pdf

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<strong>Picknick</strong> <strong>mit</strong> Bären<br />

<strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> will es seinen gehfaulen amerikanischen Landsleuten zeigen.<br />

Gemeinsam <strong>mit</strong> seinem Freund Katz plant er, den längsten Fußweg der<br />

Welt, den »Appalachian Trail«, zu bezwingen.<br />

Durch vierzehn Bundesstaaten der USA soll die Reise gehen und den Wanderern<br />

die großartigsten Naturschönheiten des Landes bescheren Doch lauern<br />

allerhand Gefahren im Dickicht, und die beiden können sich auf so<br />

manche Überraschung gefaßt machen…<br />

Ein Reisebericht der etwas anderen Art – humorvoll, selbst- ironisch und<br />

<strong>mit</strong> einem scharfen Blick für die Marotten von Menschen und Bären!<br />

»Der Leser wird sich dabei ertappen, wie der die Seiten <strong>mit</strong> wachsender<br />

Begeisterung verschlingt, denn er befindet sich in der Hand eines Satirikers<br />

ersten Ranges!«<br />

The New York Times Book Review<br />

»<strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> ist ein Naturwunder!«<br />

Sunday Times<br />

Deutsche Erstveröffentlichung


Buch<br />

Anders als seine amerikanischen Landsleute, von denen <strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> süffisant<br />

feststellt, sie würden sich täglich nicht mehr als 300 Meter zu Fuß<br />

bewegen, hat er sich Großes vorgenommen: Gemeinsam <strong>mit</strong> seinem alten<br />

Schulfreund Stephen Katz, der aufgrund seiner Leibesfülle und ausgesprochenen<br />

Leidenschaft für Unmengen von Snickers allerdings nicht eben die<br />

besten Voraussetzungen <strong>mit</strong>bringt, plant er eine Bezwingung des »Appalachian<br />

Trail« – jenes legendären längsten Fußweges der Welt, der sich über<br />

3000 Kilometer durch 14 Staaten hindurch an der Ostküste Amerikas entlangwindet<br />

und dem Wanderer die spektakulärsten Naturschönheiten offenbart.<br />

Aber unberührte Wälder, verwunschene Seen und atemberaubende<br />

Schluchten sind nicht das Einzige, was dieser Trip den beiden Wagemutigen<br />

beschert: Von den Tücken einer mangelhaften Ausrüstung einmal abgesehen,<br />

lauern allerhand Gefahren im Dickicht, und da selbst die einschlägige<br />

Fachliteratur keine verläßlichen Tips für den Fall einer Bärenattacke zu<br />

geben vermag – außer, unter gar keinen Umständen Snickers bei sich zu<br />

führen – , nimmt das Bangen kein Ende. Und dann sind da auch noch die<br />

lieben Mitmenschen, die unvermeidlicherweise ihren Weg kreuzen und sie<br />

in so manch fatale Situation bringen…<br />

Autor<br />

<strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> wurde 1951 in Des Moines, Iowa, geboren. 1977 ging er nach<br />

Großbritannien und schrieb dort mehrere Jahre u. a. für die Times und den<br />

Independent. Mit »Reif für die Insel« (Goldmann Taschenbuch 44.279)<br />

gelang <strong>Bryson</strong>, der zuvor bereits Reiseberichte geschrieben hat, der ganz<br />

große Durchbruch. <strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> lebt heute <strong>mit</strong> seiner Familie in Hanover,<br />

New Hampshire.<br />

Außerdem von <strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> bei Goldmann lieferbar:<br />

Reif für die Insel. England für Anfänger und Fortgeschrittene (44.279) •<br />

Streifzüge durch das Abendland. Europa für Anfänger und Fortgeschrittene<br />

(45.073) • Streiflichter aus Amerika. Die USA für Anfänger und Fortgeschrittene<br />

(45.124) • Frühstück und Kängurus. Australische Abenteuer (geb.<br />

30.931)<br />

<strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong><br />

<strong>Picknick</strong> <strong>mit</strong> Bären<br />

Deutsch von Thomas Stegers


GOLDMANN<br />

Die Originalausgabe erschien 1998<br />

unter dem Titel »A Walk in the Woods«<br />

bei Broadway Books, New York<br />

Umwelthinweis:<br />

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.<br />

Deutsche Erstausgabe 9/99 Copyright © der Originalausgabe 1998<br />

by <strong>Bill</strong> <strong>Bryson</strong> Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999<br />

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random<br />

House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München<br />

Umschlagfoto: Tony Stone/Wolfe<br />

Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin<br />

Druck: Eisnerdruck, Berlin<br />

Verlagsnummer: 44.395<br />

Redaktion: Hennette Zeltner<br />

CN • Herstellung: Peter Papenbrok<br />

Made in Germany<br />

ISBN 3-442-44.395-4<br />

www.goldmann-verlag.de<br />

7 9 10 8<br />

scanned & corrected<br />

by<br />

Grebo


Für Katz.<br />

Wen sonst.


TEIL l<br />

1. Kapitel<br />

Kurz nachdem ich <strong>mit</strong> meiner Familie in eine Kleinstadt in New Hampshire<br />

gezogen war, entdeckte ich zufällig einen Wanderweg, der sich am Ortsausgang<br />

in einem Wald verlor.<br />

Ein Schild verkündete, daß es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen<br />

Weg handelte, sondern um den berühmten Appalachian Trail. Mit seinen<br />

über 3.300 Kilometern durch die majestätischen und verlockenden Appalachen,<br />

entlang der amerikanischen Ostküste, zählt der AT, wie er bei Kennern<br />

heißt, zu den Altvordern unter den Fernwanderwegen. Er führt von<br />

Georgia bis nach Maine, durch 14 verschiedene Bundesstaaten, über stattliche,<br />

reizvolle Berge, deren Namen – Blue Ridge, Smokies, Cumberlands,<br />

Catskills, Green Mountains, White Mountains – schon wie eine Einladung<br />

zum Spazierengehen klingen. Wer kann schon die Worte »Great Smoky<br />

Mountains« oder »Shenandoah Valley« aussprechen, ohne dabei nicht das<br />

Bedürfnis zu verspüren, »einen Laib Brot und ein Pfund Tee in einen alten<br />

Rucksack zu werfen, über den Gartenzaun zu springen und loszuziehen«,<br />

wie es der Naturforscher John Muir ausdrückte.<br />

Da war er also, der Weg, schlängelte sich – für mich ganz unerwartet –<br />

verführerisch durch das friedliche Nest in New England, in dem ich mich<br />

gerade niedergelassen hatte. Die Vorstellung, ich könnte von zu Hause<br />

aufbrechen und 2.800 Kilometer weit durch einen Wald bis nach Georgia<br />

wandern, oder in die andere Richtung, 700 Kilometer nach Norden, über die<br />

rauhen und gebirgigen White Mountains klettern, bis auf den sagenhaften<br />

burgähnlichen Gipfel des Mount Katahdin, die ganze Zeit über umgeben<br />

von Bäumen, durch eine Wildnis, die nur wenige Menschen je zu Gesicht<br />

bekommen haben – diese Vorstellung erschien mir so außergewöhnlich, daß<br />

sich eine leise Stimme in meinem Inneren meldete: »Hört sich toll an! Das<br />

machen wir!«<br />

Ich legte mir eine Reihe vernünftiger Gründe zurecht, die dafür sprachen.<br />

Es würde mich nach Jahren der Faulenzerei wieder auf die Beine bringen.<br />

Es wäre eine interessante und besinnliche Art, sich nach 20 Jahren im Ausland<br />

wieder <strong>mit</strong> der Größe und Schönheit meines Heimatlandes vertraut zu<br />

machen. Es würde mir von Nutzen sein – wenn ich auch noch nicht wußte<br />

wie –, einmal zu lernen, mich in der Wildnis zurechtzufinden und für mich<br />

selbst zu sorgen. Ich brauchte mir nicht mehr wie ein Schlappschwanz vorzukommen,<br />

wenn die Männer in Tarnhosen und <strong>mit</strong> Jägerhüten im Four


Aces Diner beisammen saßen und sich über ihre schaurigen Erlebnisse in<br />

der freien Natur unterhielten. Ich wollte ein bißchen von der Großspurigkeit<br />

abhaben, die sich einstellt, wenn man <strong>mit</strong> Granitaugen in die Ferne blickt<br />

und <strong>mit</strong> einem gedehnten, virilen Räuspern sagen kann: »Ja, ich kenne den<br />

Wald wie meine Westentasche.«<br />

Es gab noch einen anderen, unwiderstehlicheren Grund. Die Appalachen<br />

sind die Heimat des größten Laubwaldes der Erde - der ausgedehnte Restbestand<br />

des üppigsten und abwechslungsreichsten Waldgebietes, das je die<br />

gemäßigte Klimazone unseres Planeten zierte –, und dieser Wald ist gefährdet.<br />

Sollte sich die Erdatmosphäre im Laufe der nächsten 50 Jahre um vier<br />

Grad Celsius erwärmen, was durchaus wahrscheinlich ist, würde sich die<br />

gesamte Wildnis der Appalachen südlich von New England in eine Savanne<br />

verwandeln. Das Baumsterben hat bereits erschreckende Ausmaße angenommen.<br />

Ulmen und Kastanien sind dort längst verschwunden; der stattliche<br />

Schierling und der blütenreiche Hartriegel sind im Verschwinden begriffen;<br />

Rottanne, Frasertanne, Eberesche und Zuckerahorn sind als nächste<br />

dran. Wenn es jemals an der Zeit war, diese einzigartige Wildnis zu erleben,<br />

dann jetzt.<br />

Ich faßte also den Entschluß, es zu machen. Vorschnell teilte ich Freunden<br />

und Nachbarn meine Absicht <strong>mit</strong>, informierte selbstsicher meinen Verlag,<br />

sorgte für Verbreitung der Neuigkeit unter allen, die mich kannten. Sodann<br />

kaufte ich mir ein paar Bücher und redete <strong>mit</strong> Leuten, die den Trail ganz<br />

oder abschnittweise gegangen waren, und allmählich wurde mir klar, daß<br />

dieses Unternehmen alles, aber wirklich alles übertreffen würde, was ich<br />

jemals angepackt hatte.<br />

Fast jeder, <strong>mit</strong> dem ich mich darüber unterhielt, hatte eine Geschichte über<br />

irgendeinen arglosen Bekannten parat, der sich <strong>mit</strong> großen Hoffnungen und<br />

neuen Wanderschuhen auf den Weg gemacht hatte und zwei Tage später<br />

<strong>mit</strong> einem Rotluchs als Halskrause oder einem Hemdsärmel, aus dem nur<br />

noch ein bluttriefender Stumpf ragte, zurückgetorkelt kam und heiser flüsterte:<br />

»Bär!« bevor er in tiefe Bewußtlosigkeit versank.<br />

Die Wälder waren voller Gefahren – Klapperschlangen und Mokassinschlangen,<br />

Rotluchse, Bären, Kojoten, Wölfe und Wildschweine; gemütskranke<br />

Hinterwäldler, durch den großzügigen Konsum von Maisschnaps<br />

und sündigen Sexualpraktiken über Generationen aus der Bahn geworfen;<br />

tollwütige Stinktiere, Waschbären und sogar Eichhörnchen; unbarmherzige,<br />

rote Ameisen und wütende Kriebelmücken; gemeiner Giftsumach, kletternder<br />

Giftsumach, giftige Färbereiche und giftige Salamander; versprengte<br />

Elche, die von einem parasitären tödlichen Wurm befallen sind, der sich in<br />

ihrem Gehirn einnistet und sie dazu anstiftet, harmlose Wanderer über entlegene,<br />

sonnenbeschienene Wiesen zu jagen und sie in Gletscherseen zu


treiben.<br />

Unvorstellbare Dinge konnten einem da draußen widerfahren. Ich habe von<br />

einem Mann gehört, der nächtens zum Pinkeln aus seinem Zelt trat und von<br />

einer kurzsichtigen Eule am Kopf gestreift wurde – seinen Skalp sah er<br />

zuletzt von den Krallen des Vogels herab- baumeln, hübsch anzuschauen<br />

vor der Silhouette des Vollmonds; und von einer jungen Frau, die von einem<br />

Kitzeln am Bauch aufwachte, in ihren Schlafsack blickte und eine<br />

Mokassinschlange entdeckte, die es sich in der Wärme zwischen ihren Beinen<br />

gemütlich gemacht hatte. Ich habe vier verschiedene Versionen – stets<br />

<strong>mit</strong> einem unterdrückten Lachen vorgetragen – von ein und derselben Geschichte<br />

über das Zusammentreffen von Wanderern und Bären gehört, die<br />

sich für einen kurzen, aufreibenden Moment ein Zelt <strong>mit</strong>einander teilten;<br />

Geschichten von Leuten, die auf einem Gebirgskamm, von einem plötzlichen<br />

Sturm überrascht und von mannsdicken Blitzstrahlen getroffen, sich in<br />

Dampf auflösten (»es blieb nur noch ‘n Brandfleck von ihm übrig«); Geschichten<br />

von Zelten, die von stürzenden Bäumen zerschmettert, von strömendem<br />

Regen wie auf Kugellagern ganze Abhänge hinuntergerollt, gleitschirmartig<br />

in ferne Täler getragen oder von der Wasserwand einer Sturzflut<br />

weggespült wurden; von unzähligen Wanderern, deren letzter Gedanke im<br />

Angesicht der erzitternden Erde war: »Was um Himmels willen -?«<br />

Bereits die oberflächliche Lektüre von Abenteuerbüchern und ein Mindestmaß<br />

an Phantasie reichten aus, um sich Situationen auszumalen, in die ich<br />

unweigerlich geraten würde: umzingelt von Wölfen, die der Hunger treibt;<br />

in die Flucht geschlagen von bissigen Ameisen, taumelnd, mir die Kleider<br />

vom Leib reißend oder wie versteinert vom Anblick des zum Leben erwachten<br />

Unterholzes, das wie ein Unterwassertorpedo auf mich zukommt und<br />

sich als schrankgroßes Wildschwein <strong>mit</strong> kalten, glänzenden Augen entpuppt,<br />

das mich, begleitet von markigen Grunzlauten, <strong>mit</strong> unstillbarem<br />

Appetit auf rosiges, schwabbeliges, vom Stadtleben verweichlichtes Menschenfleisch<br />

lustvoll verzehrt.<br />

Dann wären da noch diverse Krankheiten zu nennen, für die der Mensch in<br />

der Wildnis anfällig ist – Giardiasis, östliche Pferdeenzephalitis, Rocky-<br />

Mountain-Fleckfieber, Lymekrankheit, Ehrlichiosis, Bilharziose, Bruzellose<br />

und die bazilläre Ruhr, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Die östliche<br />

Pferdeenzephalitis, durch einen Moskitostich hervorgerufen, greift Gehirn<br />

und Zentralnervensystem an. Man kann von Glück sagen, wenn man den<br />

Rest seines Lebens im Sessel sitzend verbringen darf, <strong>mit</strong> Lätzchen um den<br />

Hals – im allgemeinen ist die Krankheit tödlich. Ein Gegen<strong>mit</strong>tel ist nicht<br />

bekannt. Nicht weniger interessant ist die Lymekrankheit, die durch den Biß<br />

einer winzigen Rotwildzecke übertragen wird. Unentdeckt kann das Virus<br />

jahrelang im menschlichen Körper schlummern, bis es sich in einem wahren


Inferno Bahn bricht. Diese Krankheit ist etwas für Leute, die es wirklich<br />

wissen wollen. Zu den Symptomen zählen – ohne Garantie auf Vollständigkeit<br />

– Kopfschmerzen, Erschöpfungszustände, Fieberanfälle, Schüttelfrost,<br />

Kurzatmigkeit, Schwindelgefühl, stechende Gliederschmerzen, Herzrhythmusstörungen,<br />

Gesichtslähmung, Muskelzuckungen, schwere geistige<br />

Schäden, Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen und - was niemanden<br />

überraschen wird – chronische Depression.<br />

Hinzu kommt die kaum bekannte Familie der Organismen, die man als<br />

Hantaviren bezeichnet. Sie tummeln sich <strong>mit</strong> Vorliebe in den Mikroschwaden,<br />

die sich über Mäuse- und Rattenkot bilden, und werden in die menschlichen<br />

Luftwege eingesogen, wenn der Betreffende versehentlich eine der<br />

Atemöffnungen in die Nähe hält – indem er sich beispielsweise auf ein<br />

Schlafpodest bettet, unter dem kürzlich ein paar Mäuse herumgetollt sind.<br />

1993 kamen durch eine einzige Hantavirusepidemie im Südwesten der Vereinigten<br />

Staaten 32 Menschen ums Leben, und im Jahr darauf forderte die<br />

Krankheit ihr erstes Opfer auf dem AT. Ein Wanderer hatte sie sich in einer<br />

»nagetierbefallenen Schutzhütte« zugezogen, wobei gesagt werden muß,<br />

daß alle Schutzhütten auf dem Appalachian Trail von Nagetieren befallen<br />

sind. Von den bekannten Viren garantieren nur noch die Tollwut, das Ebolavirus<br />

und das HIV einen sicheren Tod. Auch für das Hantavirus gibt es<br />

kein Gegen<strong>mit</strong>tel.<br />

Zu guter Letzt gibt es immer noch die Möglichkeit, ermordet zu werden –<br />

wir leben schließlich in Amerika. Seit 1974 sind mindestens neun Wanderer<br />

auf dem AT ermordet worden, wobei die tatsächliche Zahl schwankt, je<br />

nachdem, welche Quelle man konsultiert und was man unter dem Wort<br />

Wanderer versteht. Während ich den AT entlang wanderte, starben jedenfalls<br />

zwei Frauen.<br />

Aus diversen praktischen Gründen, die im wesentlichen <strong>mit</strong> den langen,<br />

zermürbenden Wintern im nördlichen New England zu tun haben, stehen<br />

jedes Jahr nur entsprechend wenige Monate zum Wandern zur Verfügung.<br />

Beginnt man die Wanderung im Norden, am Mount Katahdin in Maine,<br />

muß man bis Ende Mai, Anfang Juni abwarten, da<strong>mit</strong> aller Schnee geschmolzen<br />

ist. Beginnt man dagegen in Georgia und arbeitet sich Richtung<br />

Norden vor, gilt es, die Wanderung zeitlich so zu legen, daß man vor Mitte<br />

Oktober, wenn der erste Schneefall einsetzt, am Ziel angelangt ist. Die<br />

meisten wandern <strong>mit</strong> Beginn des Frühjahrs von Süden nach Norden und<br />

halten idealerweise immer einen Vorsprung von einigen Tagen vor der<br />

schlimmsten Hitze und den lästigen und Krankheiten übertragenden Insekten<br />

ein. Ich beabsichtigte, Anfang März im Süden aufzubrechen und rechnete<br />

sechs Wochen für die erste Etappe.<br />

Die Frage nach der exakten Länge des Appalachian Trail bleibt ein interes-


santes Rätsel. Der U.S. National Park Service, der sich immer wieder durch<br />

diverse Ungereimtheiten hervortut, bringt es fertig, die Länge des Weges in<br />

einem einzigen Prospekt mal <strong>mit</strong> 3.468 Kilometer, mal <strong>mit</strong> 3.540 Kilometer<br />

anzugeben. Die Appalachian Trail Guides, der offizielle Wanderführer, ein<br />

Schuber <strong>mit</strong> elf Büchlein, von denen jedes einen bestimmten Bundesstaat<br />

oder einen Abschnitt behandelt, spricht nach Belieben von 3.450, 3.455,<br />

3.474 und einmal von »über 3459 Kilometern«. Die Appalachian Trail<br />

Conference legte 1993 die Länge des Wanderwegs auf genau 3.454,6 Kilometer<br />

fest, ging dann für ein paar Jahre zu der vagen Angabe »mehr als<br />

3.460 Kilometer« über und kehrte erst kürzlich selbstbewußt zu der präzisen<br />

Angabe von 3.467,4 Kilometern zurück. Ebenfalls 1993 gingen drei Leute<br />

die gesamte Strecke <strong>mit</strong> einem Meßrad ab und kamen auf eine Distanz von<br />

3.483,97 Kilometern. Ungefähr zur gleichen Zeit ergab eine sorgfältige<br />

Überprüfung, die auf Karten der U.S. Geological Survey basierte, eine Gesamtlänge<br />

von 3.408,98 Kilometern.<br />

Eins ist sicher: es ist ein langer Wanderweg, und er ist, egal, an welchem<br />

Ende man startet, weiß Gott nicht leicht. Die Gipfel entlang des Appalachian<br />

Trail sind nicht gewaltig, im Vergleich zu den Alpen etwa – der höchste,<br />

Clingmans Dome in Tennessee, erreicht gerade mal 2.042 Meter –, aber sie<br />

wollen dennoch erklommen werden, und es bleibt nicht bei einem Berg.<br />

Mehr als 350 Gipfel am AT sind über 1.500 Meter hoch, und in der Umgebung<br />

befinden sich noch einmal tausend weitere. Insgesamt veranschlagt<br />

man etwa fünf Monate und fünf Millionen Schritte, um von einem Ende des<br />

Trails zum anderen zu kommen.<br />

Natürlich muß man alles, was man unterwegs braucht, auf dem Rücken<br />

<strong>mit</strong>schleppen. Für andere mag das selbstverständlich sein, aber für mich war<br />

es ein kleiner Schock, als mir klar wurde, daß eine Wanderung entlang des<br />

AT nicht im entferntesten <strong>mit</strong> einem gemächlichen Spaziergang in den<br />

englischen Cotswolds oder im Lake District zu vergleichen ist, zu dem man<br />

<strong>mit</strong> einer Provianttasche aufbricht, die ein Lunchpaket und eine Wanderkarte<br />

enthält, und von dem man am Ende des Tages in eine gemütliche<br />

Herberge zurückkehrt, zu einem heißen Bad, einem herzhaften Abendessen<br />

und einem weichen Bett. Auf dem AT schläft man draußen und kocht sich<br />

sein Essen selbst. Kaum einem gelingt es, das Gewicht des Rucksacks auf<br />

weniger als 18 Kilogramm zu reduzieren, und wenn man so viel <strong>mit</strong> sich<br />

herumschleppt, spürt man jedes einzelne Gramm, das kann ich Ihnen versichern.<br />

3.000 Kilometer zu wandern ist eine Sache, 3.000 Kilometer <strong>mit</strong><br />

einem Kleiderschrank auf dem Rücken sind etwas ganz anderes.<br />

Eine erste Ahnung davon, was für ein waghalsiges Unternehmen das werden<br />

würde, bekam ich in unserem Dartmouth Co-Op, als ich dort hinging,<br />

um mir eine Ausrüstung zu kaufen. Mein Sohn hatte gerade angefangen,


nach der Schule in dem Laden zu jobben, ich hatte also strengste Anweisung,<br />

mich gut zu benehmen. Vor allem sollte ich nichts Blödes sagen oder<br />

tun, nichts anprobieren, wozu ich meinen Bauch hätte entblößen müssen,<br />

nicht sagen: »Wollen Sie mich verarschen?«, wenn mir der Preis eines Artikels<br />

genannt würde, betont unaufmerksam tun, wenn mir ein Verkäufer die<br />

richtige Pflege oder Nachbehandlung eines Produktes erläuterte, und unter<br />

gar keinen Umständen irgend etwas Unpassendes anziehen, zum Beispiel<br />

eine Skimütze für Damen aufsetzen, nur so aus Spaß.<br />

Ich sollte nach einem gewissen Dave Mengle fragen, weil er große Abschnitte<br />

des Weges selbst gegangen war und so etwas wie ein wandelndes<br />

Lexikon in Sachen Outdoor-Bekleidung sein sollte. Mengle entpuppte sich<br />

als ein freundlicher, rücksichtsvoller Mensch, der schätzungsweise vier<br />

Tage lang ununterbrochen und <strong>mit</strong> großem Interesse über jeden Aspekt<br />

einer Wanderausrüstung dozieren konnte.<br />

Ich war noch nie so beeindruckt und gleichzeitig so verwirrt worden. Wir<br />

gingen einen ganzen Vor<strong>mit</strong>tag lang sein Lager durch, und Dave konnte<br />

dabei Sätze loslassen wie etwa folgenden: »Der hier hat einen 70 Denier,<br />

verschleißresistenten Reißverschluß <strong>mit</strong> hoher Dichte und Doppelzwirnnaht.<br />

Andererseits, und in dem Punkt will ich ehrlich zu Ihnen sein« – wobei<br />

er sich zu mir hinüberbeugte, seine Stimme senkte und einen freimütigeren<br />

Ton anschlug, als wollte er mir eröffnen, besagter Reißverschluß sei<br />

einmal zusammen <strong>mit</strong> einem Matrosen auf einer öffentlichen Bedürfnisanstalt<br />

verhaftet worden –, »die Nähte sind bandisoliert statt diagonal versetzt,<br />

und das Vestibül ist ein bißchen eng.«<br />

Da ich beiläufig erwähnt hatte, daß ich in England ein bißchen gewandert<br />

sei, unterstellte er mir eine gewisse Kompetenz. Ich wollte ihn nicht beunruhigen<br />

oder enttäuschen, so daß ich, als er mich fragte, »Was halten Sie<br />

eigentlich von Kohlenstoffasern?« nur <strong>mit</strong> einem <strong>mit</strong>leidigen Lächeln den<br />

Kopf schüttelte, angesichts dieses heiklen Dauerthemas, und antwortete:<br />

»Wissen Sie, Dave, ich bin in dem Punkt immer noch zu keinem abschließenden<br />

Ergebnis gekommen. Was meinen Sie?«<br />

Gemeinsam diskutierten wir über Kompressionsriemen, erwogen ernsthaft<br />

die relativen Vorteile von Schneeschürzen, Klettverschlüssen, Lastentransferausgleich,<br />

Belüftungskanälen, Gewebeschlaufen und Kopfmulden für<br />

größere Bewegungsfreiheit. Das wurde bei jedem Artikel durchexerziert.<br />

Selbst bei einem Kochgeschirr aus Aluminium ließen sich Überlegungen<br />

hinsichtlich Gewicht, Kompaktheit, Thermodynamik und allgemeiner Nützlichkeit<br />

anstellen, die den Verstand stundenlang beschäftigen konnten. Zwischendurch<br />

bot sich immer wieder Gelegenheit, über das Wandern ganz<br />

allgemein zu plaudern, was sich jedoch auf die Risiken beschränkte, als da<br />

wären Steinschlag, Begegnungen <strong>mit</strong> Bären, Kocherexplosionen und


Schlangenbisse, die Dave <strong>mit</strong> einem verschleierten Blick hingebungsvoll<br />

beschrieb, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema widmete.<br />

Wie gesagt, er redete viel, besonders viel über Gewicht. Mir erschien es<br />

eine Idee zu pingelig, einen bestimmten Schlafsack einem anderen vorzuziehen,<br />

weil dieser ein paar Gramm leichter war, aber immer mehr Ausrüstungsgegenstände<br />

türmten sich um uns herum auf, und immer deutlicher<br />

wurde mir vorgeführt, wie aus vielen Gramm ganz allmählich ein Kilo wird.<br />

Ich hatte nicht da<strong>mit</strong> gerechnet, so viel zu kaufen – ich besaß bereits Wanderschuhe,<br />

ein Schweizer Offiziersmesser und eine Kartentasche aus Plastik,<br />

die man an einer Kordel um den Hals trug; ich dachte, ich sei eigentlich<br />

bestens ausgestattet – aber je länger ich <strong>mit</strong> Dave redete, desto klarer wurde<br />

mir, daß ich dabei war, mich für eine Expedition auszurüsten.<br />

Was mich dann wirklich schockierte, war zum einen, wie teuer alles war –<br />

jedesmal, wenn Dave ins Lager sprang oder loszog, um das Gewicht des<br />

Gewebes in der Maßeinheit Denier zu überprüfen, warf ich einen verstohlenen<br />

Blick auf die Preisschildchen und war ausnahmslos entsetzt – und zum<br />

anderen, daß jeder Ausrüstungsgegenstand unweigerlich den Erwerb eines<br />

weiteren erforderlich machte. Wenn man einen Schlafsack kaufte, brauchte<br />

man einen Packbeutel für den Schlafsack. Der Packbeutel kostete 29 Dollar.<br />

Für diese Nötigung hatte ich zunehmend weniger Verständnis.<br />

Als ich mich schließlich nach reiflicher Überlegung für einen Rucksack<br />

entschieden hatte – einen sehr hochwertigen Gregory, vom Allerfeinsten,<br />

nach dem Motto: es bringt nichts, hier zu knausern –, fragte Dave: »Was für<br />

Gurte wollen Sie dazu haben?«<br />

»Wie bitte?« erwiderte ich und merkte auf der Stelle, daß ich mich am Rand<br />

einer gefährlichen Krise befand, auch als Konsumverweigerung bekannt.<br />

Ab jetzt konnte ich nicht mehr unbekümmert von mir geben: »Packen Sie<br />

nur ruhig gleich sechs Stück davon ein, Dave. Und wenn ich schon mal<br />

dabei bin – von den anderen Dingern nehme ich acht Stück. Ach, was soll’s,<br />

warum nicht gleich zwölf? Man gönnt sich ja sonst nichts.« Der Haufen<br />

Klamotten, der mir eben noch verschwenderisch vorgekommen war und<br />

mich irgendwie ganz aufgeregt gemacht hatte - alles neu! alles meins! –,<br />

erschien mir plötzlich erdrückend und übertrieben.<br />

»Gurte«, erklärte Dave. »Um Ihren Schlafsack draufzuschnallen und Sachen<br />

festzubinden.«<br />

»Gehören die Gurte nicht dazu?« sagte ich leicht gereizt.<br />

»Nein.« Er ließ seinen Blick über eine Wand, vollbehängt <strong>mit</strong> Kleinkram,<br />

schweifen. »Jetzt brauchen Sie natürlich auch noch einen Regenschutz.«<br />

Ich sah ihn verständnislos an. »Einen Regenschutz? Wozu das denn?«<br />

»Gegen den Regen.«<br />

»Ist der Rucksack denn nicht wasserdicht?«


Er verzog das Gesicht, als müßte er einen höchst schwierigen Sachverhalt<br />

klären. »Na ja, nicht hundertprozentig…«<br />

Das fand ich höchst seltsam. »Wirklich? Ist dem Hersteller nie in den Sinn<br />

gekommen, daß die Kunden ihre Rucksäcke gelegentlich auch mal <strong>mit</strong> nach<br />

draußen nehmen wollen? Vielleicht sogar über Nacht draußen zelten wollen?<br />

Wieviel kostet der Rucksack eigentlich?«<br />

»250 Dollar.«<br />

»250 Dollar? Wollen Sie mich verarsch…«<br />

Ich unterbrach mich und schlug einen anderen Ton an. »Soll das heißen,<br />

man zahlt 250 Dollar für einen Rucksack, der keine Gurte hat und nicht<br />

wasserdicht ist?«<br />

Dave nickte.<br />

»Hat er wenigstens einen Boden?«<br />

Mengle grinste verlegen. Kritik an der unerschöpflichen, vielversprechenden<br />

Welt der Wanderausrüstung oder gar Überdruß gehörte nicht zu seinem<br />

Wesen. »Die Gurte gibt es in sechs verschiedenen Farben«, bot er mir zur<br />

Versöhnung an.<br />

Zum Schluß hatte ich so viel Ausrüstung beisammen, daß ich einen ganzen<br />

Treck Sherpas hätte beschäftigen können: Zelt für einen Drei-Jahreszeiten-<br />

Einsatz; Isoliermatte, die sich selbst aufbläst; Kombitöpfe und -pfannen;<br />

Klappbesteck; Plastikteller und -tasse; Wasserfilter <strong>mit</strong> einem komplizierten<br />

Pumpsystem; Packbeutel in allen Regenbogenfarben; Nahtdichter; Klebeflicken;<br />

Schlafsack; Spanngurte; Wasserflaschen; wasserdichter Poncho; wasserfeste<br />

Sturm-Zündhölzer; Regenschutz; ein niedlicher Schlüsselanhänger<br />

<strong>mit</strong> eingebautem Minikompaß und Thermometer; ein kleiner, zusammenklappbarer<br />

Kocher, der eindeutig Ärger zu machen versprach; Gaskartusche<br />

und Ersatzkartusche; eine Taschenlampe, die man sich wie eine Grubenlampe<br />

auf die Stirn setzt, so daß die Hände frei sind (die gefiel mir sehr<br />

gut); ein großes Messer, um Bären und andere Hinterwäldler abzumurksen;<br />

Thermo-Unterwäsche; lange Unterhosen und Unterhemden; vier große<br />

Tücher, auch als Stirnbänder zu benutzen; und jede Menge anderer Sachen,<br />

für die ich extra nochmal in den Laden zurückgehen mußte, um zu fragen,<br />

wozu sie eigentlich gut waren. Bei einem Designer-Zeltboden für 59,95<br />

Dollar -war bei mir Schluß, weil ich wußte, daß es im Supermarkt Zeltplanen<br />

für fünf Dollar gab. Ein Erste-Hilfe-Set, ein Nähset, ein Schlangenbiß-<br />

Set, eine Trillerpfeife für zwölf Dollar und einen kleinen orangefarbenen<br />

Spaten, um seine Hinterlassenschaft zu verbuddeln, ließ ich ebenfalls links<br />

liegen <strong>mit</strong> der Begründung, daß diese Dinge nicht nötig und zu teuer seien<br />

oder man sich da<strong>mit</strong> der Lächerlichkeit preisgeben würde. Besonders der<br />

kleine orangefarbene Spaten schien mir zuzurufen: »Grünschnabel!<br />

Schlappschwanz! Ist sich zu fein für die eigene Scheiße!«


Um gleich alles in einem Aufwasch zu erledigen, ging ich noch nach nebenan<br />

in den Buchladen von Dartmouth und kaufte Bücher – The Thru-<br />

Hiker’s Handbook, Walking the Appalachian Trail, diverse Bücher über<br />

wildlebende Tiere und wildwachsende Pflanzen, naturwissenschaftliche<br />

Werke, einen historischen Abriß über die geologische Entwicklung des<br />

Appalachian Trail von einem Autor <strong>mit</strong> dem köstlichen Namen V. Collins<br />

Chew, und die bereits erwähnte, vollständige Sammlung der offiziellen<br />

Appalachian Trail Guides, die elf Taschenbücher und 59 Karten umfaßt,<br />

letztere allesamt von unterschiedlicher Größe und Aufmachung und <strong>mit</strong><br />

verschiedenen Maßstäben. Diese Anthologie stellt den gesamten Weg vom<br />

Springer Mountain bis zum Mount Katahdin dar und ist zu dem stolzen<br />

Preis von 233,45 Dollar zu haben. Beim Hinausgehen fiel mir ein Buch auf,<br />

Bären: Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis. Ich schlug es wahllos auf,<br />

las den Satz: »Hier haben wir ein typisches Beispiel für den nicht selten<br />

auftretenden Fall, daß ein Schwarzbär einen Menschen erblickt und beschließt,<br />

ihn zu töten und zu fressen«, und warf es gleich <strong>mit</strong> in die Einkaufstüte.<br />

Ich brachte den Krempel nach Hause und trug ihn in mehreren Etappen<br />

runter in den Keller. Es war ungeheuer viel, und <strong>mit</strong> der ganzen Technik der<br />

Ausrüstung war ich absolut nicht vertraut; es war spannend und gleichzeitig<br />

beängstigend, hauptsächlich beängstigend. Ich setzte die Stirnlampe auf, nur<br />

so zum Spaß, zog das Zelt aus der Plastikhülle und baute es auf. Ich rollte<br />

die Isomatte aus, die sich selbst aufblies, schob sie ins Zelt und kroch dann<br />

selbst <strong>mit</strong> meinem neuen Schlafsack hinein. Dann schlüpfte ich in den<br />

Schlafsack und blieb eine ganze Weile so liegen. Dabei versuchte ich, mich<br />

in der teuren, arg begrenzten, noch seltsam neu riechenden, gänzlich ungewohnten<br />

Räumlichkeit, die schon bald mein Zuhause fern von zu Hause<br />

sein würde, zurechtzufinden. Ich versuchte mir vorzustellen, ich läge nicht<br />

in einem Keller, neben dem gemütlichen Heizungskessel <strong>mit</strong> seinem gezähmten<br />

Gebrumm, sondern draußen, auf einem hohen Gebirgspaß, lauschte<br />

dem Wind und dem Blätterrauschen, dem einsamen Heulen hundeähnhcher<br />

Geschöpfe, dem heiseren Flüstern, aus dem unüberhörbar der Dialekt<br />

aus den Bergen von Georgia herausklang: »He, Virgil, hier liegt einer. Hast<br />

du an das Seil gedacht?« Es wollte mir nicht gelingen.<br />

Seit ich im Alter von ungefähr neun Jahren aufgehört hatte, aus<br />

Decken und Spieltischen Hütten zu bauen, hatte ich mich nicht mehr in so<br />

einer Umgebung aufgehalten. Es war sogar ziemlich urig, und wenn man<br />

sich erstmal an den Geruch, von dem ich naiverweise annahm, er würde<br />

sich im Laufe der Zeit verflüchtigen, und an die kränklich blaßgrüne Färbung<br />

gewöhnt hatte, die das Material allen Dingen um einen herum wie der<br />

Schein eines leuchtenden Radarschirms verlieh, war es gar nicht so furcht-


ar. Vielleicht ein bißchen klaustrophobisch, komisch riechend, aber dennoch<br />

gemütlich und urig.<br />

Es würde schon nicht so schlimm werden, redete ich mir ein. Aber insgeheim<br />

wußte ich, daß ich mich gründlich irrte.


2. Kapitel<br />

Am 5. Juli 1983 schlugen drei erwachsene Aufseher und eine Gruppe Jugendlicher<br />

an einer bei Wanderern beliebten Stelle am Lake Canimma <strong>mit</strong>ten<br />

in einem würzig riechenden Kiefernwald westlich von Quebec, ungefähr<br />

130 Kilometer nördlich von Ottawa, in einem Park, der sich La Verendrye<br />

Provincial Reserve nennt, nach<strong>mit</strong>tags ihr Lager auf. Sie kochten sich ein<br />

Abendessen und verstauten anschließend ihre Lebens<strong>mit</strong>telvorräte, wie es<br />

sich gehört, in einen Beutel, trugen diesen etwa 100 Meter weit in den Wald<br />

hinein und hängten ihn zwischen zwei Bäumen auf, in einer Höhe, die für<br />

Bären nicht zu erreichen war.<br />

Um Mitternacht strich ein Schwarzbär am Rand des Lagers herum, entdeckte<br />

den Beutel und holte ihn herunter, indem er auf den Baum kletterte und<br />

einen Ast abknickte. Er plünderte den Vorrat und verschwand, kehrte aber<br />

eine Stunde später wieder zurück und betrat diesmal das Lager, angezogen<br />

von dem Geruch gebratenen Fleischs, der noch in den Kleidern und Haaren,<br />

den Schlafsäcken und Zelten der Leute hing. Es sollte eine lange Nacht für<br />

die Gruppe am Lake Canimma werden. Zwischen Mitternacht und halb vier<br />

stattete der Bär dem Lager dreimal einen Besuch ab.<br />

Stellen Sie sich, falls Sie Masochist sind, vor, Sie liegen mutterseelenallein<br />

im Dunkeln in einem kleinen Zelt, zwischen Ihnen und der kalten Nachtluft<br />

nur eine Nylonmembran von ein paar tausendstel Millimeter Dicke, und<br />

draußen rumort dieser zentnerschwere Koloß. Stellen Sie sich vor, Sie hören<br />

sein leises Grunzen und unerklärliches Schniefen, das Schmatzen und Nagen,<br />

das Tapsen der Ballen unter den Tatzen, den schweren Atem, das Geräusch,<br />

wenn er sich an Ihrer Zeltwand reibt, das Klappern von gestapeltem<br />

Kochgeschirr, wenn er dagegentritt. Stellen Sie sich vor, was für ein heißer<br />

Adrenalinschub durch Ihren Körper geht, wie es in Ihren Achselhöhlen<br />

kribbelt – dann der plötzliche, rauhe Stoß der Schnauze des Tieres gegen<br />

die Wand am Fußende Ihres Zeltes, das alarmierend wilde Flattern Ihrer<br />

dünnhäutigen Hülle, wenn das Tier Ihren Rucksack durchwühlt, den Sie unachtsamerweise<br />

am Eingang aufgebockt haben und in dessen Seitentasche<br />

sich, wie Ihnen siedendheiß einfällt, ein Snickers befindet. Bären sind geradezu<br />

versessen auf Snickers, haben Sie mal gehört.<br />

Und dann das dumpfe Gefühl – ach, du meine Güte –, daß Sie den Snickers-<br />

Riegel <strong>mit</strong> ms Zelt genommen haben, daß er hier irgendwo liegt, zu ihren<br />

Füßen oder unter Ihnen, oder – ach, du Scheiße, hier ist er ja! Der nächste<br />

Stoß der Schnauze, begleitet von einem Grunzen, gegen das Zelt, diesmal<br />

unweit Ihrer Schulter. Wieder das Flattern der Zeltwand. Dann Stille, eine<br />

lang anhaltende Stille, und – Moment, psssst!… jawohl! – die unsägliche<br />

Erleichterung, als Ihnen klar wird, daß der Bär hinüber auf die andere Seite


des Lagers geschlurft ist oder sich zurück in den Wald verzogen hat.<br />

Ich sage Ihnen, ich würde das nicht aushaken.<br />

Nun stellen Sie sich vor, wie erst dem kleinen zwölfjährigen David Anderson<br />

zumute gewesen sein mußte, als um halb vier morgens, bei dem dritten<br />

Übergriff, sein Zelt urplötzlich <strong>mit</strong> einem Tatzenhieb aufgeschlitzt wurde<br />

und der Bär, von dem starken, in der Luft liegenden Geruch nach Hamburgern<br />

zur Raserei getrieben, seine Zähne in ein hastig zurückzuckendes Bein<br />

schlug und den brüllenden, strampelnden Knaben durch das Lager schleppte,<br />

hinein in den Wald. In den wenigen Sekunden, die seine Kameraden<br />

brauchten, um sich aus ihren Sachen zu schälen. Und stellen Sie sich weiter<br />

vor, was es heißt, sich aus plötzlich voluminösen Schlafsäcken herauszuwühlen,<br />

nach den Taschenlampen zu kramen, sich einen provisorischen<br />

Knüppel zu schnappen, die Zeltverschlüsse hochzuziehen und hinter dem<br />

Tier herzujagen – in diesen wenigen Sekunden hauchte der arme kleine<br />

David Anderson sein Leben aus.<br />

Und nun stellen Sie sich vor, Sie läsen ein Sachbuch, in dem es nur so<br />

wimmelt von solchen Geschichten – wahren Geschichten, nüchtern erzählt<br />

–, kurz bevor Sie allein zu einer Wanderung durch die nordamerikanische<br />

Wildnis aufbrächen. Das Buch, von dem hier die Rede ist, heißt Bären:<br />

Jäger und Gejagte in Amerikas Wildnis, und der Verfasser ist der kanadische<br />

Wissenschaftler Stephen Herrero. Wenn das Buch nicht das letzte<br />

Wort in dieser Angelegenheit ist, dann möchte ich das letzte Wort lieber<br />

nicht erfahren. Während sich draußen in New Hampshire der Schnee auftürmte<br />

und meine Frau friedlich neben mir im Bett schlummerte, verbrachte<br />

ich ganze Nächte da<strong>mit</strong>, <strong>mit</strong> angstvoll aufgerissenen Augen klinisch exakte<br />

Berichte über Menschen zu lesen, die in ihren Schlafsäcken zu Brei zermalmt,<br />

die wimmernd von Bäumen heruntergeholt worden waren, an die die<br />

Bestie sich geräuschlos herangepirscht hatte – ich wußte nicht, daß so etwas<br />

vorkam –, als sie gerade unbedarft durchs Laub schlenderten oder ihre Füße<br />

in einem kalten Gebirgsbach baumeln ließen. Über Menschen, die den verhängnisvollen<br />

Fehler begangen hatten, sich wohlriechendes Gel ins Haar zu<br />

schmieren, ein saftiges Stück Fleisch zu essen, sich für später einen Snikkers-Riegel<br />

in die Brusttasche zu stecken, sich sexuell zu betätigen, zu menstruieren<br />

oder die Geruchsempfindlichkeit des hungrigen Bäreninsonstwie<br />

unachtsamer Weise zu reizen. Oder deren Verhängnis, auch das gab es,<br />

schlicht darin bestand, außerordentlich großes Pech zu haben – um eine<br />

Kurve zu gehen und auf ein hungriges Bärenmännchen zu treffen, das den<br />

Weg versperrt, den Kopf erwartungsvoll hin und her wiegt, oder darin,<br />

nichts Böses ahnend in das Revier eines Bären zu tapern, der, bedingt durch<br />

Alter und Trägheit, zu alt war, um flinkere Beute zu jagen.<br />

Ich will gleich klarstellen, daß die Wahrscheinlichkeit eines schweren


Übergriffs durch einen Bären am Appalachian Trail äußerst gering ist. Zunächst<br />

einmal wütet der wirklich gefährliche amerikanische Bär, der Grizzly<br />

– Ursus horribilis, wie er anschaulich und korrekterweise bezeichnet wird –<br />

, nicht östlich des Mississippi, was immerhin von Vorteil ist, denn Grizzlys<br />

sind riesig, stark und geraten schnell in Wut. Als Meriwether Lewis und<br />

William Clark zu Beginn des letzten Jahrhunderts zu ihrer Expedition in die<br />

Wildnis aufbrachen, stellten sie fest, daß nichts die eingeborenen Indianer<br />

mehr zermürbte als ein Grizzlybär. Und das ist nicht weiter erstaunlich,<br />

denn man kann einen Grizzly <strong>mit</strong> Pfeilen durchlöchern, ihn buchstäblich<br />

da<strong>mit</strong> spicken, so daß er aussieht wie ein Stachelschwein – er wird immer<br />

noch nicht aufgeben. Selbst Lewis und Clark zeigten sich erstaunt und verunsichert<br />

über die Fähigkeit des Grizzlys, ganze Geschützsalven zu verkraften,<br />

ohne auch nur leicht ms Wanken zu geraten.<br />

Herrero berichtet von einem Fall, der die Robustheit des Grizzlys sehr<br />

schön veranschaulicht. Die Geschichte handelt von einem erfahrenen Jäger<br />

in Alaska, Alexei Pitka, der sich durch den Schnee an ein großes Männchen<br />

herangeschlichen und es <strong>mit</strong> einem gezielten Schuß ms Herz aus einem<br />

großkalibrigen Gewehr niedergestreckt hatte. Pitka hätte vorher noch einmal<br />

in den Verhaltensregeln nachlesen sollen. »Erst überprüfen, ob der Bär<br />

auch wirklich tot ist. Dann Waffe ablegen.« Er näherte sich behutsam und<br />

beobachtete ein, zwei Minuten lang, ob der Bär sich nicht rührte. Als er<br />

keine Regung feststellen konnte, lehnte er sein Gewehr gegen einen Baum<br />

(schwerer Fehler!) und trat vor, um seine Beute zu beanspruchen. Gerade<br />

wollte er das Fell berühren, da sprang der Bär auf, legte ihm seine breiten<br />

Tatzen um den Kopf, als wollte er ihm einen Kuß geben, und riß ihm <strong>mit</strong><br />

einem Ruck das Gesicht weg.<br />

Pitka überlebte wie durch ein Wunder. »Ich weiß auch nicht, wieso ich das<br />

Scheißgewehr an den Baum gestellt habe«, sagte er später. (Eigentlich war<br />

nur »Mnnnpfffnnnndgnnn« zu verstehen, da Pitka weder über Lippen, Zähne,<br />

Nase, Zunge noch über ein anderes Stimmorgan mehr verfügte.)<br />

Sollte ich betätschelt und angeknabbert werden – was mir immer wahrscheinlicher<br />

erschien, je mehr ich las –, dann von einem Schwarzbären,<br />

Ursus americanus. Es gibt ungefähr eine halbe Million Schwarzbären in<br />

Amerika, vielleicht sogar eine dreiviertel Million. Sie sind sehr verbreitet in<br />

den Bergen entlang des Appalachian Trail, ja sie benutzen den Weg sogar<br />

gern, weil er so bequem ist, und ihre Zahl ist im Steigen begriffen. Die Zahl<br />

der Grizzlybären dagegen beläuft sich, bezogen auf ganz Nordamerika, auf<br />

höchstens 35.000; davon entfallen gerade einmal 1.000 auf das Herzland der<br />

Vereinigten Staaten, hauptsächlich auf den Yellowstone National Park und<br />

Umgebung. Schwarzbären sind in der Regel kleiner (das ist allerdings relativ<br />

zu sehen, denn ein Schwarzbärmännchen kann immer noch 300 Kilo auf


die Waage bringen), und sie sind eindeutig zurückhaltender.<br />

Schwarzbären greifen selten von sich aus an, aber manchmal eben doch.<br />

Alle Bären sind behende, schlau und unglaublich stark, und sie haben immer<br />

Hunger. Sie können einen Menschen töten und fressen, wenn sie wollen,<br />

und sie tun es auch – wenn sie wollen. Es kommt nicht oft vor, aber –<br />

und das ist der springende Punkt: einmal reicht. Herrero gibt sich alle Mühe,<br />

darauf hinzuweisen, daß Schwarzbärattacken zahlenmäßig selten sind. Für<br />

den Zeitraum von 1900 bis 1980 konstatierte er lediglich 23 Tötungen von<br />

Menschen durch einen Schwarzbären (das sind halb so viele Tötungen wie<br />

durch Grizzlybären), und die meisten ereigneten sich im Westen oder in<br />

Kanada. In New Hampshire hat jedenfalls seit 1784 kein unprovozierter<br />

tödlicher Übergriff eines Bären auf einen Menschen mehr stattgefunden,<br />

und in Vermont sogar noch nie.<br />

Ich hätte mich von diesen quasi Versprechungen ja gerne trösten lassen,<br />

aber mir fehlte es an der nötigen Glaubenskraft. Der Aussage, daß zwischen<br />

1960 und 1980 500 Menschen von Schwarzbären angegriffen und verletzt<br />

wurden – 25 Übergriffe pro Jahr, bei einer Population von mindestens einer<br />

halben Million Bären –, fügt Herrero hinzu, die meisten Verletzungen seien<br />

nicht schwer gewesen. »Die typischen, von einem Bären zugefügten Verletzungen«,<br />

schreibt er kühl, »sind nur geringfügiger Natur und beschränken<br />

sich für gewöhnlich auf ein paar Kratzer oder leichte Bißwunden.« Was,<br />

bitteschön, ist eine leichte Bißwunde? Geht es hier um spielerische Ringkämpfe<br />

und Nasenstüber? Wohl kaum. Und sind 500 nach- gewiesene Übergriffe<br />

tatsächlich eine so bescheidene Zahl, wenn man bedenkt, daß nur<br />

wenige Menschen die Wälder Nordamerikas je betreten? Und wie blöd muß<br />

man sein, da<strong>mit</strong> einen die Information, in Vermont und New Hampshire sei<br />

seit 200 Jahren kein Mensch mehr von einem Bären getötet worden, beruhigen<br />

kann? Die Angriffe blieben ja nicht aus, weil die Bären ein Abkommen<br />

<strong>mit</strong> den Menschen ausgehandelt hatten. Es spricht nichts dagegen, daß sie<br />

nicht schon morgen ein kleines Massaker anrichten.<br />

Stellen wir uns also vor, ein Bär in der Wildnis hätte es auf uns abgesehen.<br />

Wie soll man sich verhalten?<br />

Interessanterweise sind die empfohlenen Tricks bei Grizzly –<br />

beziehungsweise Schwarzbärattacken genau gegensätzlich. Bei dem Überfall<br />

eines Grizzlybären sollte man den nächsten hohen Baum aufsuchen, da<br />

Grizzlys keine guten Kletterer sind. Wenn kein Baum in Reichweite ist,<br />

sollte man langsam rückwärts gehen und dabei den Blickkontakt vermeiden.<br />

Alle Bücher raten einem, auf keinen Fall zu rennen, wenn der Grizzly auf<br />

einen zukommt. Solche Ratschläge können nur von Schreibtischtätern<br />

kommen. Lassen Sie sich gesagt sein: Wenn Sie sich in einem offenen Gelände<br />

befinden und keine Waffe dabei haben, dann nehmen Sie besser die


Beine in die Hand. Was bleibt Ihnen schon anderes übrig? So haben Sie in<br />

den letzten sieben Sekunden Ihres Lebens wenigstens etwas zu tun. Sollte<br />

der Grizzly Sie jedoch einholen, was <strong>mit</strong> an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />

der Fall sein wird, lassen Sie sich auf den Boden fallen und<br />

stellen Sie sich tot. An einem schlaffen Körper knabbert der Grizzly nur ein<br />

bißchen herum, im allgemeinen verliert er nach wenigen Minuten die Lust<br />

und schlurft davon. Bei Schwarzbären dagegen ist der Trick, sich tot zu<br />

stellen, vergeblich, denn sie knabbern weiter an einem herum, bis auch der<br />

beste plastische Chirurg später nichts mehr ausrichten kann. Auf einen<br />

Baum zu klettern wäre ebenfalls ziemlich töricht, denn Schwarzbären sind<br />

geschickte Kletterer, und man würde den Kampf gegen den Bären lediglich<br />

auf den Baum verlagern, wie Herrero trocken feststellt.<br />

Am besten, schlägt Herrero vor, sollte man einen Höllenlärm veranstalten,<br />

um einen aggressiven schwarzen Bären zu vertreiben, auf Töpfe und Pfannen<br />

schlagen, <strong>mit</strong> Stöcken und Steinen werfen und »auf den Bär zulaufen«.<br />

(Bitte. Wenn Sie als erster gehen, Herr Professor!) Andererseits, fügt er<br />

vernünftigerweise hinzu, könnten diese Tricks »den Bären erst recht provozieren«,<br />

Vielen Dank auch. An anderer Stelle empfiehlt Herrero, als Wanderer<br />

solle man daran denken, gelegentlich Krach zu machen, zum Beispiel<br />

ein Lied zu singen, um einen Bären vor seiner Anwesenheit zu warnen, da<br />

ein überraschter Bär höchstwahrscheinlich wütender sein wird. Doch dann<br />

mahnt er ein paar Seiten weiter, daß »es gefährlich sein könnte, Krach zu<br />

machen«, da er einen hungrigen Bären anlocken könnte, der einen sonst<br />

übersehen hätte.<br />

Tatsache ist: Keiner kann einem sagen, was man machen soll. Bei Bären<br />

weiß man vorher nie, wie sie reagieren, und was bei dem einen klappt, ist<br />

bei dem anderen vielleicht verhängnisvoll. Im Jahre 1973 hatten sich zwei<br />

Teenager, Mark Seeley und Michael Whitten, zu einer Wanderung durch<br />

den Yellowstone National Park aufgemacht und gerieten unterwegs unabsichtlich<br />

zwischen eine Schwarzbärmutter und ihre Jungen. Nichts bringt<br />

eine Bärenmutter mehr in Rage als Menschen, die sich in der Nähe ihrer<br />

Brut aufhalten. Wütend drehte sie sich um und eröffnete die Jagd – trotz des<br />

etwas tapsigen Gangs können Bären bis zu 60 Stundenkilometer schnell<br />

laufen – und die beiden Jungen erkletterten den nächsten Baum. Der Bär<br />

sprang Whitten hinterher, faßte <strong>mit</strong> dem Maul seinen rechten Fuß und zog<br />

ihn langsam und geduldig von seinem Hochsitz herunter. (Spüren Sie da<br />

auch, wie sich Ihre Fingernägel in der Rinde verkrallen, oder geht das nur<br />

mir so?) Auf der Erde fing der Bär an, den Jungen übel zuzurichten. Seeley<br />

versuchte, das Tier von seinem Freund wegzulocken und brüllte es an, worauf<br />

es losließ und auch ihn von seinem Baum herunterholte. Beide Jungen<br />

stellten sich daraufhin tot – nach den Verhaltensmaßregeln genau das Ver-


kehrte –, und der Bär verschwand.<br />

Ich möchte nicht behaupten, daß ich wie besessen von dem Thema war,<br />

aber es beschäftigte meine Gedanken während der Monate, in denen ich<br />

darauf wartete, daß endlich der Frühling käme. Mein besonderer Schrecken<br />

– die lebhafte Phantasie, die mich Nacht für Nacht die Baumschatten an der<br />

Schlafzimmerdecke anstarren ließ – war die Vorstellung, ich läge in einem<br />

kleinen Zelt, allein in der pechschwarzen Wildnis, hörte draußen einen Bär,<br />

der auf Futtersuche wäre, und hätte keine Ahnung, was er nun vorhatte. Vor<br />

allem ein Amateurfoto in Herreros Buch faszinierte mich. Es war spät<br />

nachts von einem Camper auf einem Lagerplatz irgendwo im Westen der<br />

USA <strong>mit</strong> Blitzlicht aufgenommen worden. Der Fotograf hatte vier<br />

Schwarzbären erwischt, die sich darüber den Kopf zerbrachen, wie sie an<br />

einen Vorratsbeutel kommen sollten, der von einem Ast herunterhing. Die<br />

Bären wirkten zwar überrascht – von dem Blitzlicht vermutlich –, aber sie<br />

waren nicht im geringsten erschrocken. Es war weniger die Größe oder das<br />

Verhalten der Bären, was mich beunruhigte – sie sehen komischerweise<br />

völlig harmlos aus, wie vier junge Männer, deren Frisbeescheibe im Baum<br />

gelandet war – als ihre Zahl. Bis dahin hatte ich mir nicht klargemacht, daß<br />

Bären auch in Rudeln herumstrolchen konnten. Was um Himmels willen<br />

sollte ich machen, wenn plötzlich vier von diesen Ungeheuern in mein Lager<br />

kämen? Na, was schon? Ich würde natürlich sterben. Buchstäblich tausend<br />

Tode sterben, mir in die Hose machen vor Angst, mir den Schließmuskel<br />

aus dem Hintern pusten, so wie die Luftschlangen, die man auf Kindergeburtstagen<br />

bekommt – ich glaube, es würde das Tier nicht im geringsten<br />

beeindrucken – und in meinem Schlafsack jämmerlich verbluten.<br />

Herreros Buch erschien 1985. Seit damals haben, nach einem Artikel in der<br />

New York Times, die Übergriffe durch Bären in Nordamerika um 25 Prozent<br />

zugenommen. In dem Artikel hieß es außerdem, Bären gingen im Frühjahr<br />

nach einer schlechten Beerenernte wesentlich häufiger auf Menschen los als<br />

sonst. Die Beerenernte im Vorjahr war katastrophal ausgefallen. Das gefiel<br />

mir alles nicht.<br />

Dann gab es noch die ganzen Probleme und speziellen Gefahren, die durch<br />

die Einsamkeit bedingt sind. Ich habe immer noch meinen Blinddarm und<br />

jede Menge anderer, lebenswichtiger Organe, die in der Wildnis aufplatzen<br />

oder auslaufen könnten. Was sollte ich in so einem Fall machen? Was,<br />

wenn ich von einem Felsvorsprung stürzen und mir das Rückgrat brechen<br />

würde? Wenn ich mich bei Nebel oder in einem Schneesturm verirren würde,<br />

von einer giftigen Schlange gebissen, bei der Durchquerung eines Flusses<br />

auf einem bemoosten Stein den Halt verlieren oder mir nach einem<br />

Sturz eine Gehirnerschütterung zuziehen würde? Man kann auch in einer<br />

fünf Zentimeter tiefen Wasserlache ertrinken oder an einem verstauchten


Fußgelenk sterben. Nein ,nein, das gefiel mir alles ganz und gar nicht.<br />

Meine Weihnachtsgrüße an Freunde und Bekannte versah ich <strong>mit</strong> der Einladung,<br />

doch <strong>mit</strong> mir zu wandern, und wenn es nur ein Teil des Weges wäre.<br />

Natürlich reagierte keiner darauf. Dann bekam ich eines Tages im Februar,<br />

der Termin meiner Abreise rückte immer näher, einen Anruf. Er war von<br />

einem alten Schulfreund, Stephen Katz. Katz und ich waren zusammen in<br />

Iowa aufgewachsen, aber ich hatte so ziemlich jeden Kontakt zu ihm verloren.<br />

Diejenigen unter Ihnen – mehr als fünf werden es wohl nicht sein – die<br />

Neither Here nor There gelesen haben, kennen Katz bereits aus den Geschichten<br />

über meine jugendlichen Abenteuer als meinen Reisegefährten in<br />

Europa. In den 25 Jahren, die seitdem vergangen sind, bin ich ihm drei-,<br />

viermal bei Besuchen zu Hause begegnet, aber sonst hatten wir nie mehr<br />

etwas <strong>mit</strong>einander zu tun. Wir waren Freunde geblieben, im theoretischen<br />

Sinn, aber unsere Lebenswege hätten verschiedener nicht sein können.<br />

»Ich habe erst gezögert«, sagte er langsam. Er suchte nach Worten. »Die<br />

Sache <strong>mit</strong> dem Appalachian Trail – könnte ich da vielleicht <strong>mit</strong>kommen?«<br />

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. »Willst du wirklich <strong>mit</strong>kommen?«<br />

»Also, wenn du was dagegen hättest das würde ich verstehen.«<br />

»Was dagegen?« sagte ich. »Nein. Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich bin<br />

heilfroh.«<br />

»Wirklich?« Das schien ihn aufzuheitern.<br />

»Klar.« Ich konnte es nicht fassen. Ich brauchte nicht allein zu gehen. Ich<br />

stimmte innerlich einen Freudengesang an. Ich brauch’ nicht mehr allein zu<br />

gehen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie überglücklich ich bin.«<br />

»Das ist ja schön«, sagte er, mehr als erleichtert, und fügte dann in bekennendem<br />

Tonfall hinzu: »Ich dachte, vielleicht willst du mich nicht dabeihaben.«<br />

»Wieso denn nicht?«<br />

»Weil ich dir immer noch 600 Pfund schulde, von unserer Reise damals<br />

durch Europa.«<br />

»He, meine Güte, das kann nicht sein… schuldest du mir wirklich 600<br />

Pfund?«<br />

»Ich habe mir fest vorgenommen, sie dir zurückzuzahlen.«<br />

»He!« sagte ich. »He.« Ich konnte mich an diese 600 Pfund gar nicht mehr<br />

erinnern. Ich hatte noch nie jemandem in meinem Leben Schulden in dieser<br />

Höhe erlassen, und es dauerte eine Weile, bis ich die Worte herausbrachte:<br />

»Kein Problem. Komm einfach <strong>mit</strong> wandern. Weißt du auch, worauf du<br />

dich einläßt?«<br />

»Klar.«<br />

»Und wie ist deine körperliche Verfassung?«<br />

»Ziemlich gut. Ich gehe nur noch zu Fuß.«


»Wirklich?« Das ist sehr ungewöhnlich für amerikanische Verhältnisse.<br />

»Na ja, mein Wagen wurde beschlagnahmt. Deswegen.«<br />

»Ach so.«<br />

Wir redeten noch über dies und das, seine Mutter, meine Mutter, Des Moines.<br />

Ich erzählte ihm alles, was ich über den Trail wußte, was nicht viel war,<br />

und über das Leben in der Wildnis, das uns erwartete. Wir verblieben so,<br />

daß er nächsten Mittwoch nach New Hampshire fliegen sollte, wir uns zwei<br />

Tage Zeit für Vorbereitungen nehmen und uns dann auf den Weg machen<br />

würden. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich ein rundum gutes Gefühl,<br />

was unser Unternehmen betraf. Katz klang außerdem recht optimistisch für<br />

jemanden, der das Ganze eigentlich nicht <strong>mit</strong>zumachen brauchte.<br />

Zuletzt fragte ich ihn: »Und? Wie stehst du zu Bären?«<br />

»Bis jetzt haben sie mich jedenfalls noch nicht gekriegt.«<br />

Das ist die richtige Einstellung, dachte ich. Mensch, Katz, altes Haus. Du<br />

kommst mir wie gerufen.<br />

Mir wäre jeder recht gewesen, der diesen Elan hatte und den festen Willen,<br />

<strong>mit</strong> mir loszuziehen. Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, daß ich<br />

vergessen hatte ihn zu fragen, warum er eigentlich <strong>mit</strong>wollte. Katz war der<br />

einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich mir vorstellen konnte, daß er sich<br />

vor jemandem verstecken mußte, vor Leuten, die Julio hießen oder Mister<br />

Big. Egal. Ich brauchte jedenfalls nicht allein zu gehen.<br />

Ich ging zu meiner Frau, die in der Küche am Spülbecken stand, und überbrachte<br />

ihr die gute Nachricht. Ihre Begeisterung fiel reservierter als erwartet<br />

aus.<br />

»Du willst also wochenlang <strong>mit</strong> einem Menschen, den du seit 25 Jahren<br />

nicht mehr gesehen hast, durch die Wildnis wandern. Hast du dir das auch<br />

gründlich überlegt?« (Als hätte ich mir je etwas gründlich überlegt.) »Ich<br />

dachte, ihr beiden wärt euch in Europa gehörig auf die Nerven gegangen.«<br />

»Nein.« Das stimmte nicht ganz. »Wir sind uns bloß am Anfang auf die<br />

Nerven gegangen. Zum Schluß hatten wir nur noch Verachtung füreinander<br />

übrig. Aber das ist lange her.«<br />

Sie warf mir einen zutiefst zweifelnden Blick zu. »Ihr beide habt nichts<br />

gemein. Ihr seid völlig verschieden.«<br />

»Wir sind überhaupt nicht verschieden. Wir sind beide 44 Jahre alt. Wir<br />

werden uns über unsere Hämorrhoiden unterhalten, unsere Schmerzen im<br />

unteren Rückenbereich und darüber, daß wir ständig vergessen, wo wir<br />

irgend etwas hingelegt haben. Und dann frage ich ihn am nächsten Abend,<br />

sag mal, habe ich dir schon von meinen Rückenproblemen erzählt?, und er<br />

sagt, nein, ich glaube nicht, und wir kauen das Thema wieder von vorne<br />

durch. Es wird bestimmt toll.«<br />

»Es wird grauenvoll.“


»Ja, ich weiß«, sagte ich.<br />

Eine Woche später fand ich mich an unserem kleinen Flughafen ein und<br />

beobachtete, wie die Konservenbüchse <strong>mit</strong> Katz an Bord aufsetzte und auf<br />

der Rollbahn knapp 20 Meter vor dem Terminal zum Stehen kam. Das<br />

Brummen der Propeller wurde für einen Moment noch einmal lauter, verstummte<br />

dann stotternd, die Tür öffnete sich und die Gangway wurde heruntergeklappt.<br />

Ich versuchte mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wann ich<br />

Katz das letzte Mal gesehen hatte. Nach unserer Europareise im Sommer<br />

war er nach Des Meines zurückgekehrt und dort zu Iowas Drogenguru aufgestiegen.<br />

Jahrelang -war sein Leben ein einziges, rauschendes Fest gewesen,<br />

bis keiner mehr zum Mitfeiern übriggeblieben war, so daß er nur noch<br />

<strong>mit</strong> sich allein feierte, in seiner Wohnung, in T-Shirt und Boxer-Shorts, <strong>mit</strong><br />

einem Vorrat an Marihuana, vor einem Fernseher <strong>mit</strong> Zimmerantenne. Jetzt<br />

erinnerte ich mich auch, daß ich ihn zuletzt vor fünf Jahren in Dennys Restaurant<br />

gesehen hatte, wohin ich meine Mutter zum Frühstück eingeladen<br />

hatte. Er saß ein paar Tische weiter, zusammen <strong>mit</strong> einem verhärmten Kerl,<br />

der aussah, als hieße er Virgil Starkweather oder so ähnlich, er stocherte in<br />

seinen Pfannkuchen herum und trank gelegentlich einen verbotenen Schluck<br />

aus einer Flasche, die in einem Papierbeutel steckte. Es war acht Uhr morgens,<br />

und Katz sah sehr zufrieden aus. Er war immer zufrieden, wenn er<br />

betrunken war, und er war fast immer betrunken.<br />

Wie ich später erfuhr, fand ihn die Polizei zwei Wochen später in einem<br />

Auto, das sich auf einem Stoppelfeld außerhalb der Kleinstadt Mingo überschlagen<br />

hatte. Er hing noch im Sicherheitsgurt, <strong>mit</strong> dem Kopf nach unten,<br />

das Steuerrad fest umklammert, und sagte zu dem Polizisten: »Irgendwelche<br />

Probleme, Officer?« Im Handschuhfach wurde eine geringe Menge Kokain<br />

gefunden, und Katz wurde vorsorglich für 18 Monate in Sicherheitsverwahrung<br />

genommen. Während dieser Zeit fing er an, regelmäßig zu<br />

den Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen.<br />

Zu unser aller Überraschung, nicht zuletzt seiner eigenen, hatte er seitdem<br />

keinen Tropfen Alkohol oder andere Drogen mehr angerührt.<br />

Nach seiner Entlassung bekam er einen kleinen Job, ging halbtags wieder<br />

aufs College und zog <strong>mit</strong> einer Friseuse namens Patty zusammen. Die letzten<br />

drei Jahre hatte er ein unbescholtenes Leben geführt und, wie ich gleich<br />

feststellen konnte, als er geduckt durch die Tür trat, sich einen Bauch zugelegt.<br />

Katz war erstaunlich breit geworden im Vergleich zum letzten Mal. Er<br />

war immer schon ein wenig pummelig, aber jetzt mußte man gleich an Orson<br />

Welles nach einer durchzechten Nacht denken, wenn man ihn sah. Er<br />

humpelte leicht und atmete schwerer, als nach einem Weg von 20 Metern<br />

zu erwarten wäre.


»Mann, hab’ ich einen Hunger«, sagte er, ohne ein Wort der Begrüßung,<br />

und übergab mir sein Handgepäck. Ich hätte mir beinahe den Arm ausgerenkt.<br />

»Was hast du denn da drin?« keuchte ich.<br />

»Nur ein paar Kassetten und anderen Kram für unterwegs. Gibt es hier<br />

irgendwo ein Dunkin Donuts in der Nähe? Ich habe seit Boston nichts mehr<br />

gegessen.«<br />

»Boston? Da kommst du doch gerade erst her.«<br />

»Ja. Ich muß jede Stunde was essen, sonst kriege ich meine – wie soll ich<br />

sagen? – Anwandlungen.«<br />

»Was denn für Anwandlungen?« Es war nicht gerade das Wieder- sehen,<br />

das ich mir ausgemalt hatte. Ich stellte mir vor, wie er den Appalachian<br />

Trail entlanghüpfte, wie ein Spielzeug zum Aufziehen, das auf den Rücken<br />

gefallen war.<br />

»Die kriege ich regelmäßig, seit ich vor zehn Jahren mal verseuchtes Anilin<br />

eingenommen habe. Mit ein paar Doughnuts ist die Sache normalerweise<br />

erledigt.«<br />

»In drei Tagen sind wir <strong>mit</strong>teninder Wildnis, Stephen. Da gibt es keine<br />

Doughnuts.«<br />

Er strahlte stolz übers ganze Gesicht. »Ich habe vorgesorgt.« Er zeigte auf<br />

seine Tasche an der Gepäckausgabe, einen grünen Army-Seesack, und deutete<br />

mir an, ich solle ihn hochheben. Er wog mindestens 30 Kilo. Er sah<br />

meinen verwunderten Gesichtsausdruck. »Snickers«, erklärte er. »Ein ganzer<br />

Sack voll Snickers.«<br />

Wir machten einen Umweg über Dunkin Donuts, bevor wir nach Hause<br />

fuhren. Meine Frau und ich setzten uns <strong>mit</strong> ihm an den Küchentisch und<br />

sahen zu, wie er fünf Boston-Cream-Doughnuts verputzte, die er <strong>mit</strong> zwei<br />

Bechern Milch hinunterspülte. Dann sagte er, er wolle sich ein bißchen<br />

ausruhen. Er brauchte mehrere Minuten, um die Treppe nach oben zu bewältigen.<br />

Meine Frau sah mich <strong>mit</strong> einem Ausdruck heiterer Verständnislosigkeit an.<br />

»Bitte, sag jetzt nichts«, bat ich sie.<br />

Nachdem er seinen Mittagsschlaf gehalten hatte, suchten wir Dave Mengle<br />

in dem Outdoor-Laden auf, kauften eine Ausstattung für Katz – Rucksack,<br />

Zelt, Schlafsack und den ganzen anderen Kram, – anschließend gingen wir<br />

zu Kmart und besorgten einen Zeltboden, Thermounterwäsche und noch ein<br />

paar Kleinigkeiten. Danach mußte er sich wieder hinlegen.<br />

Am Tag darauf gingen wir in einen Supermarkt, um Proviant für die erste<br />

Woche unserer Wanderung einzukaufen. Ich hatte keine Ahnung vom Kochen,<br />

aber Katz versorgte sich seit Jahren selbst und hatte ein festes Reper-


toire an Gerichten (hauptsächlich Erdnußbutter, Thunfisch und brauner<br />

Zucker, alles in einem Topf vermengt), die seiner Meinung nach auch ganz<br />

gut zur Zeltlageratmosphäre paßten, aber er packte noch eine Menge anderer<br />

Sachen in seinen Einkaufswagen – vier große Salamiwürste, fünf Pfund<br />

Reis, diverse Kekspackungen, Haferflocken, Rosinen, M&Ms, Büchsenfleisch,<br />

noch mehr Snickers, Sonnenblumenkerne, Grahamplätzchen, Instant-Kartoffelpüree,<br />

mehrere Streifen gedörrtes Rindfleisch, ein paar Käsestücke,<br />

Dosenschinken und die gesamte Auswahl unverderblicher Kuchen<br />

und Doughnuts, die der Hersteller Little Debbie im Angebot hat.<br />

»Ich glaube nicht, daß wir das alles tragen können«, gab ich ängstlich zu<br />

bedenken, als er auch noch eine kommetgroße Mortadella in den Einkaufswagen<br />

legte.<br />

Katz begutachtete den Wageninhalt mißmutig. »Du hast recht«, pflichtete er<br />

mir bei. »Fangen wir nochmal von vorne an.«<br />

Er ließ den Wagen einfach stehen und ging los, um sich einen neuen zu<br />

holen. Wir drehten nochmal eine Runde und versuchten, diesmal eine intelligentere<br />

Auswahl zu treffen, hatten aber zum Schluß immer noch viel zu<br />

viel.<br />

Wir brachten alles nach Hause, teilten es auf und machten uns ans Packen –<br />

Katz in dem Gästezimmer, wo auch sein übriger Kram lag, und ich in meinem<br />

Hauptquartier im Keller. Ich packte zwei Stunden lang, aber ich schaffte<br />

es nicht, alles reinzukriegen. Ich legte Bücher, Notizblöcke und die ganze<br />

Ersatzkleidung beiseite und probierte alle möglichen Kombinationen aus,<br />

aber jedesmal, – wenn ich fertig war, entdeckte ich ein großes und -wichtiges<br />

Teil, das übriggeblieben war. Schließlich ging ich nach oben, um zu<br />

sehen, wie Katz zurechtkam. Katz lag auf dem Bett und hatte seinen Walkman<br />

auf. Sein Zeug lag überall verstreut im Zimmer herum. Der neue Rucksack<br />

stand schlaff und vernachlässigt da. Ein leises rhythmisches Zischen<br />

tönte aus dem Kopfhörer.<br />

»Willst du nicht packen?« sagte ich.<br />

»Jaah.«<br />

Ich wartete eine Minute lang. Ich dachte, er würde sich vom Bett erheben,<br />

aber er rührte sich nicht. »Entschuldige bitte, Stephen, aber ich habe den<br />

Eindruck, daß du dich hingelegt hast.«<br />

»Jaah.«<br />

»Kannst du mich eigentlich verstehen?«<br />

»Jaah. Es dauert nur noch eine Minute.«<br />

Ich seufzte und ging wieder runter in den Keller.<br />

Beim Abendessen sprach Katz nur wenig und verschwand danach gleich<br />

wieder in seinem Zimmer. Wir hörten nichts weiter von ihm im Laufe des<br />

Abends, erst vor Mitternacht, als wir schon im Bett lagen, drang Lärm


durch die Wand zu uns herüber – ein Poltern und Murmeln, Geräusche, als<br />

würden Möbel im Zimmer verrückt, und kurze heftige Wutausbrüche, gefolgt<br />

von lang anhaltenden Phasen der Stille. Ich hielt die Hand meiner Frau<br />

fest und wußte nicht, was ich sagen sollte. Am nächsten Morgen klopfte ich<br />

bei Katz an und steckte schließlich, da er nicht antwortete, den Kopf durch<br />

die Tür. Er schlief noch, angezogen, auf einem Haufen zerwühlter Bettwäsche.<br />

Die Matratze war ein Stück vom Bettkasten gerutscht, als hätte er sich<br />

<strong>mit</strong> irgendwelchen nächtlichen Eindringlingen herumgeschlagen. Sein<br />

Rucksack war voll, aber nicht zugebunden, und seine persönlichen Sachen<br />

lagen immer noch weiträumig im ganzen Zimmer verstreut. Ich sagte ihm,<br />

wir müßten in einer Stunde losfahren, wenn wir unseren Flug nicht verpassen<br />

wollten.<br />

»Jaah«, sagte er.<br />

20 Minuten später kam er die Treppe herunter, schwerfällig und unter leisem<br />

Gefluche. Man hörte, ohne hinzusehen, daß er seitlich und übervorsichtig<br />

ging, als wären die Stufen vereist. Den Rucksack hatte er aufgesetzt.<br />

Hinten und an beiden Seiten, überall waren irgendwelche Sachen festgebunden<br />

– ein Paar versiffte Turnschuhe, ein zweites Paar, offenbar normale<br />

Alltagsschuhe, dazu Töpfe und Pfannen, eine Laura-Ashley-Einkaufstasche,<br />

die er im Kleiderschrank meiner Frau gefunden und sich angeeignet hatte<br />

und die jetzt <strong>mit</strong> wer weiß was gefüllt war. »Besser habe ich es nicht hingekriegt«,<br />

sagte er. »Ich mußte ein paar Sachen hier lassen.«<br />

Ich nickte. Ich mußte auch ein paar Sachen zu Hause lassen. An erster Stelle<br />

waren die Haferflocken zu nennen, die ich sowieso nicht mag, und die etwas<br />

ekligeren Kuchen von Little Debbie, will sagen, alle Kuchen von Little<br />

Debbie.<br />

Meine Frau brachte uns bei dichtem Schneetreiben zum Flughafen nach<br />

Manchester, und wir verharrten in dem eigentümlichen Schweigen, das<br />

einer langen Trennung vorausgeht. Katz saß auf dem Rücksitz und aß<br />

Doughnuts. Am Flughafen überreichte mir meine Frau ein Geschenk der<br />

Kinder, einen Spazierstock <strong>mit</strong> Knauf, dem sie eine rote Schleife umgebunden<br />

hatten. Ich hätte in Tränen ausbrechen können – am liebsten wäre ich<br />

gleich wieder in den Wagen gestiegen und zurückgefahren. Katz mühte sich<br />

derweil noch stirnrunzelnd <strong>mit</strong> den vielen Gurten ab. Meine Frau kniff mich<br />

in den Arm, lächelte verlegen und ging.<br />

Ich schaute ihr hinterher, dann betrat ich <strong>mit</strong> Katz den Terminal. Der Mann<br />

am Abfertigungsschalter warf einen Blick auf unsere Tickets nach Atlanta<br />

und sagte in einem – wie ich fand -ziemlich alarmierenden Ton für einen<br />

Menschen, der im Winter <strong>mit</strong> kurzärmeligem Hemd herumlief: »Haben Sie<br />

vor, den Appalachian Trail entlangzuwandern?«<br />

»Und ob!« sagte Katz <strong>mit</strong> stolzgeschwellter Brust.


»Die haben gerade eine Menge Ärger <strong>mit</strong> den Wölfen, da unten in Georgia.«<br />

»Tatsächlich?« Katz spitzte die Ohren.<br />

»Ja, ja. Sind kürzlich ein paar Leute angefallen worden. Ziemlich übel zugerichtet,<br />

wie ich gehört habe.« Er ließ sich noch etwas Zeit <strong>mit</strong> den Tickets<br />

und den Gepäckanhängern.<br />

»Hoffentlich haben Sie genug lange Unterhosen eingepackt.«<br />

Katz verzog schmerzlich das Gesicht. »Gegen die Wölfe?«<br />

»Nein, gegen das Wetter. Es soll die nächsten vier, fünf Tage eine Rekordkälte<br />

geben. Weit unter null Grad heute abend in Atlanta.«<br />

»Na wunderbar«, sagte Katz und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Er<br />

sah den Mann herausfordernd an. »Sonst noch Neuigkeiten für uns? Anruf<br />

vom Krankenhaus, wir hätten Krebs, oder so?«<br />

Der Mann strahlte und knallte die Tickets auf den Schalter. »Nein, das<br />

war’s. Trotzdem gute Reise. Ach, noch etwas«, er wandte sich direkt an<br />

Katz, senkte dabei die Stimme, »hüten Sie sich vor den Wölfen, denn ganz<br />

im Vertrauen, Sie sehen aus wie ein richtiger Leckerbissen.« Er zwinkerte<br />

scherzhaft.<br />

»Meine Güte«, sagte Katz <strong>mit</strong> kaum hörbarer Stimme und wirkte plötzlich<br />

sehr, sehr trübsinnig.<br />

Wir fuhren <strong>mit</strong> dem Aufzug zu unserem Flugsteig. »Und dann geben sie<br />

einem auf diesem Flug nicht mal was Anständiges zu essen«, stellte er abschließend<br />

<strong>mit</strong> ungewöhnlicher Bitterkeit fest.


3. Kapitel<br />

Alles nahm seinen Anfang <strong>mit</strong> einem Mann namens Benton MacKaye,<br />

einem sanftmütigen, freundlichen, unendlich wohlmeinenden Visionär, der<br />

im Sommer 1921 seinem Freund Charles Harris Whitaker, Herausgeber<br />

einer führenden Architektur-Zeitschrift, den ehrgeizigen Plan für einen<br />

Fernwanderweg unterbreitete. Die Behauptung MacKayes Leben sei zu<br />

diesem Zeitpunkt nicht zufriedenstellend verlaufen, wäre eine harmlose Untertreibung.<br />

In dem Jahrzehnt davor war er von diversen Posten in Harvard<br />

und dem National Forest Service entlassen und, mangels einer besseren<br />

Stelle, auf die man ihn hätte abschieben können, <strong>mit</strong> dem unklar umrissenen<br />

Auftrag, Ideen zur Steigerung der Effizienz und der Moral zu entwickeln, in<br />

ein Büro des amerikanischen Ministeriums für Arbeit gesteckt worden.<br />

Pflichtbewußt, wie er war, arbeitete er ehrgeizige und unrealistische Entwürfe<br />

aus, die <strong>mit</strong> Erheiterung zur Kenntnis genommen wurden und anschließend<br />

gleich im Papierkorb landeten. Im April 1921 stürzte sich seine<br />

Frau, die berühmte Pazifistin und Suffragette Jessie Hardy Stubbs, von einer<br />

Brücke in New York in den East River und ertrank.<br />

Soweit die Vorgeschichte. Gerade einmal zehn Wochen nach dem tragischen<br />

Ereignis eröffnete MacKaye seinem Freund Whitaker die Idee für<br />

einen Wanderweg durch die Appalachen, und im Oktober wurde der Vorschlag<br />

in einem dafür eigentlich ungeeigneten Forum, der Zeitschrift von<br />

Whitaker, dem Journal of the American Institute of Architects, veröffentlicht.<br />

Der Appalachian Trail war nur ein Aspekt von MacKayes weitreichender<br />

Vision. Er sah den AT als eine Art roten Faden, um »Arbeitslager«<br />

auf den Berggipfeln <strong>mit</strong>einander zu verbinden. In diese sogenannten Workcamps<br />

sollten die blassen, erschöpften Arbeiter aus den Städten zu Tausenden<br />

strömen und sich im Geiste der Selbstlosigkeit in gesundheitsfördernder<br />

Schufterei ergehen und sich an der freien Natur ergötzen. Herbergen, Rasthäuser<br />

und Studienzentren sollten errichtet werden, schließlich sogar ganze<br />

Walddörfer, die dauerhaft bewohnt sein sollten, Kooperativen »in Selbstverwaltung«,<br />

deren Bewohner sich <strong>mit</strong> »nichtindustrieller Tätigkeit«, basierend<br />

auf Handwerk, Forst- und Landwirtschaft, ihren Lebensunterhalt verdienen<br />

sollten. Das Ganze sollte nach MacKayes überschwenglicher Beschreibung<br />

ein »Rückzug vom Profitdenken« sein – eine Vorstellung, in der<br />

andere »die Geißel des Bolschewismus« erkannten, um <strong>mit</strong> den Worten<br />

eines Biographen zu sprechen.<br />

Zu dem Zeitpunkt, als MacKaye seine Idee entwickelte, existierten bereits<br />

mehrere Wandervereine im Osten der Vereinigten Staaten – der Green<br />

Mountain Club, der Dartmouth Outing Club und der altehrwürdige Appalachian<br />

Mountain Club, um nur einige zu nennen. Diese eher elitären Organi-


sationen besaßen und unterhielten Hunderte Kilometer Forst- und Wanderwege,<br />

hauptsächlich in New England. 1925 kamen Vertreter der führenden<br />

Vereine in Washington zusammen und gründeten die Appalachian Trail<br />

Conference, zu dem Zweck, einen fast 2.000 Kilometer langen Pfad anzulegen,<br />

der die beiden höchsten Gipfel im Osten, den 2037 Meter hohen Mount<br />

Mitchell in North Carolina und den 120 Meter niedrigeren Mount Washington<br />

in New Hampshire , <strong>mit</strong>einander verbinden sollte. Tatsächlich geschah<br />

in den nächsten fünf Jahren erst einmal gar nichts, hauptsächlich deswegen,<br />

weil MacKaye da<strong>mit</strong> beschäftigt war, seine Pläne weiter auszuarbeiten und<br />

zu verfeinern, bis er selbst und seine Vision den Kontakt zur Realität verloren<br />

hatten.<br />

Erst als 1930 der junge Seerechtler und begeisterte Wanderer Myron Avery<br />

aus Washington die Weiterentwicklung des Projekts in die Hand nahm,<br />

konnte die Arbeit richtig beginnen und machte plötzlich rasche Fortschritte.<br />

Avery muß offenbar kein sonderlich liebenswerter Mensch gewesen sein. Er<br />

hinterließ zwischen Maine und Georgia zwei Spuren, wie sich ein Zeitgenosse<br />

ausdrückte. »Die eine war eine Spur der Verwüstung, verletzter Gefühle<br />

und gekränkter Eitelkeiten. Die andere war der Appalachian Trail.«<br />

Avery besaß keine Geduld im Umgang <strong>mit</strong> MacKaye und seinen »quasi<br />

mystischen Sprüchen«; jedenfalls kamen die beiden nicht <strong>mit</strong>einander klar.<br />

1935 hatten sie einen erbitterten Streit über die Erschließung des Shenandoah<br />

National Parks – Avery war bereit, den Bau einer landschaftlich schönen<br />

Schnellstraße durch die Berge zuzulassen, MacKaye empfand das als Verrat<br />

grundlegender Prinzipien –, danach wechselten die beiden kein Wort mehr<br />

<strong>mit</strong>einander.<br />

Es ist MacKaye, dem das Verdienst angerechnet wird, den Trail initiiert zu<br />

haben, aber eigentlich liegt das nur daran, daß er das biblische Alter von 96<br />

Jahren erreichte und schlohweißes Haar auf seinem Kopf hatte. Außerdem<br />

konnte man sich immer auf ihn verlassen, wenn aus Anlaß irgendwelcher<br />

Feierlichkeiten ein paar Worte gesagt werden mußten. Avery dagegen starb<br />

1952, ein Vierteljahrhundert vor MacKaye, als der Weg noch kaum bekannt<br />

war. Aber eigentlich war er Averys Werk. Er hatte Karten erstellt, er hatte<br />

die Vereine bedrängt, Gruppen freiwilliger Helfer zur Verfügung zu stellen,<br />

und er hatte persönlich den Bau von Hunderten Kilometern der Wanderstrecke<br />

überwacht. Er sorgte für eine Verlängerung der ursprünglich geplanten<br />

Strecke von 2.000 auf weit über 3.000 Kilometer und war vor Beendigung<br />

des Baus jeden Kilometer selbst abgewandert. In nicht einmal sieben<br />

Jahren gelang es ihm, <strong>mit</strong> Hilfe ehrenamtlicher Arbeit einen 3.000 Kilometer<br />

langen Wanderweg durch die bergige Wildnis anzulegen. Ganze Armeen<br />

haben weniger zustande gebracht.<br />

Mit der Rodung eines vier Kilometer langen Waldstreifens in einem entle-


genen Teil von Maine am 14. August 1937 wurde der Appalachian Trail<br />

fertiggestellt. Erstaunlicherweise erregte der Bau des längsten Fußweges der<br />

Welt keine große Aufmerksamkeit. Avery war kein Mensch, der die Öffentlichkeit<br />

liebte, und MacKaye hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits zurückgezogen.<br />

Keine Zeitung meldete das Ende der Bauarbeiten, und es gab keine<br />

offizielle Einweihungsfeier aus diesem Anlaß.<br />

Der Weg besitzt keine historischen Wurzeln, er folgt keinem Indianerpfad<br />

oder einer Postroute aus der Kolonialzeit. Er bietet auch nicht die schönsten<br />

Ausblicke, die höchsten Gipfel oder die auffälligsten landschaftlichen<br />

Wahrzeichen. Schließlich bringt er den Wanderer nicht einmal in die Nähe<br />

von Mount Mitchell, schließt dafür aber Mount Washington <strong>mit</strong> ein und<br />

führt sogar noch 560 Kilometer weiter bis zum Mount Katahdin in Maine.<br />

(Es war vor allem Avery, der darauf bestand. Er war in Maine aufgewachsen<br />

und hatte dort seine prägenden »Wanderjahre« verbracht.) Im<br />

wesentlichen verläuft der Trail dort, wo sich am leichtesten Zugang schaffen<br />

ließ, hauptsächlich in den Höhenlagen, über einsame Pässe und durch<br />

verlassene Schluchten, die kein Mensch je vorher benutzt oder sich für sie<br />

begeistert hatte, die häufig nicht mal einen Namen besaßen. Er verfehlt das<br />

geographische südliche Ende der Bergkette der Appalachen um 240, das<br />

nördliche um fast 1.125 Kilometer. Die Workcamps und Blockhütten, die<br />

Schulen und Studienzentren wurden nie gebaut.<br />

Dennoch ist sehr viel von dem ursprünglichen Reiz, der von MacKayes<br />

Vision ausging, erhalten geblieben. Die gesamte Wegstrecke von 3.380<br />

Kilometer, einschließlich der Seitenpfade, Fußgängerbrücken, Hinweisschilder,<br />

Markierungen und Schutzhütten, werden von ehrenamtlichen Helfern<br />

gewartet – es heißt sogar, der AT sei die größte ehrenamtliche Einrichtung<br />

der Welt. Und bislang hat er sich glücklicherweise jeder Kommerzialisierung<br />

widersetzt. Die Appalachian Trail Conference stellte erst 1968 ihren<br />

ersten bezahlten Mitarbeiter ein, aber sie hat sich ihren freundlichen, umgänglichen,<br />

engagierten Charakter bewahrt. Der AT ist nicht mehr der längste<br />

Wanderweg. Der Pacific Crest und der Continental Divide, die beide im<br />

Westen der Vereinigten Staaten liegen, sind etwas länger, aber der AT wird<br />

immer der erste und schönste dieser Art bleiben. Er hat viele Freunde gefunden,<br />

und er hat sie verdient.<br />

Seit dem Tag der Fertigstellung mußte die Wegstrecke immer wieder hier<br />

und da umgeleitet werden. Als erstes wurde ein Abschnitt von 189 Kilometern<br />

in Virginia verlegt, um dem Bau des Skyline Drive durch den Shenandoah<br />

National Park zu ermöglichen. 1985 machte die intensive bauliche<br />

Erschließung des Gebietes um den Mount Oglethorpe in Georgia es erforderlich,<br />

32 Kilometer des südlichen Wegabschnittes zu kappen und den<br />

Ausgangspunkt an den Springer Mountain, <strong>mit</strong>ten in die geschützte Wildnis


des Chattahochee National Forest zu verlegen. Zehn Jahre später wies der<br />

Maine Appalachian Trail Club einen Abschnitt von 423 Kilometer neu aus<br />

– die Hälfte der gesamten Wegstrecke durch diesen Bundesstaat – und führte<br />

den Pfad abseits von Forststraßen, wieder durch freies Gelände. Noch<br />

heute ändert sich die Wegführung Jahr für Jahr.<br />

Die vielleicht größte Schwierigkeit für den Wanderer besteht darin, überhaupt<br />

auf den Appalachian Trail zu kommen, besonders die Endpunkte sind<br />

schwer zu erreichen. Springer Mountain, der Einstieg im Süden, ist elf Kilometer<br />

vom nächsten Highway entfernt und befindet sich im Amicalola<br />

Falls State Park, der wiederum am Ende der Welt liegt. In Atlanta, dem<br />

nächsten Anschluß an die Außenwelt, können Sie sich entscheiden zwischen<br />

täglich einem Zug oder zwei Bussen nach Gainesville, von wo aus es<br />

immer noch 64 Kilometer bis zu dem Ort sind, der die besagten elf Kilometer<br />

vom eigentlichen Trail entfernt hegt. Und an den Katahdin Mountain in<br />

Maine zu gelangen ist sogar noch umständlicher.<br />

Zum Glück gibt es Leute, die einen gegen Bezahlung in Atlanta abholen<br />

und nach Amicalola bringen. So geschah es, daß Katz und ich uns in die<br />

Obhut eines großen, freundlichen Herrn <strong>mit</strong> Baseballmütze und dem Namen<br />

Wes Wissen begaben, der sich bereit erklärt hatte, uns für 60 Dollar vom<br />

Flughafen in Atlanta zur Amicalola Falls Lodge, unserem Ausgangspunkt<br />

am Springer Mountain, zu bringen.<br />

Jedes Jahr machen sich zwischen Anfang März und Ende April 2.000 Wanderer<br />

am Springer Mountain auf den Weg, die meisten in der festen Absicht,<br />

die gesamte Strecke bis zum Katahdin Mountain zu laufen. Nicht einmal<br />

zehn Prozent schaffen es. 50 Prozent kommen nicht über Virginia hinaus,<br />

das entspricht knapp einem Drittel des Weges. 25 Prozent kommen bis<br />

North Carolina, in den Nachbarstaat. Bis zu 20 Prozent geben innerhalb der<br />

ersten sieben Tage auf. Wisson kennt sich <strong>mit</strong> alldem aus.<br />

»Letztes Jahr habe ich einen Mann am Startpunkt des Trail rausgelassen«,<br />

erzählte er uns, während wir durch die dichten Kiefernwälder Richtung<br />

Norden kutschierten, auf die zerklüftete Hügellandschaft von Georgia zu.<br />

»Drei Tage später ruft er mich von einer öffentlichen Telefonzelle in Woody<br />

Gap aus an, dem ersten öffentlichen Telefon auf der Strecke. Meint, er<br />

will nach Hause, der Weg sei nicht das, was er erwartet hätte. Ich bringe ihn<br />

also zurück zum Flughafen, und zwei Tage danach steht er wieder in Atlanta.<br />

Meint, seine Frau hätte ihn zurückgeschickt, weil er so viel Geld für die<br />

Ausrüstung bezahlt hätte, und so leicht würde er ihr nicht davonkommen.<br />

Ich setze ihn also am Einstieg zum Weg ab. Drei Tage später wieder ein<br />

Anruf aus Woody Gap. Er will zum Flughafen gebracht werden. Ich frage<br />

ihn: >Und was ist <strong>mit</strong> Ihrer Frau?< Und er: >Diesmal fahre ich nicht nach<br />

Hause.


»Wie weit ist es bis Woody Gap?« frage ich.<br />

»33 Kilometer vom Springer Mountain. Nicht gerade sehr weit, oder? Immerhin<br />

ist er den ganzen Weg von Ohio hierhergekommen.«<br />

»Warum hat er dann so schnell aufgegeben?«<br />

»Er sagte, es sei nicht das, was er erwartet hätte. Das sagen alle. Gerade<br />

letzte Woche wieder. Ich hatte drei Frauen aus Kalifornien im Wagen –<br />

<strong>mit</strong>telalt, wirklich nette Mädchen, ein bißchen viel gekichert haben sie, aber<br />

ansonsten, wirklich nett – und als ich sie absetzte, waren sie in richtiger<br />

Wanderlaune. Vier Stunden später riefen sie an und sagten, sie wollten nach<br />

Hause. Sie müssen sich vorstellen, die waren von Kalifornien hergekommen,<br />

hatten ein Heidengeld für das Flugticket und die Ausrüstung bezahlt –<br />

die hatten das beste Zeug, was ich je gesehen habe, alles neu, <strong>mit</strong> allen<br />

Schikanen – und waren gerade mal ein, zwei Kilometer gelaufen, und schon<br />

geben sie auf. Sie sagten, es wäre nicht das, was sie erwartet hätten.«<br />

»Was haben sie denn erwartet?«<br />

»Was weiß ich? Vielleicht Rolltreppen. Aber außer Bergen und Felsen und<br />

Wald und dem Weg gibt’s da nichts. Das weiß doch selbst der Dümmste.<br />

Aber Sie wären erstaunt, wieviel Leute aufgeben. Andererseits – neulich<br />

hatte ich hier einen Jungen, es ist vielleicht sechs Wochen her, der hätte<br />

besser aufgegeben. Er hatte gerade den Trail absolviert, war den ganzen<br />

Weg von Maine bis hierher allein gelaufen. Er hatte acht Monate dazu gebraucht,<br />

länger als die meisten, und ich glaube, in den letzten Wochen war<br />

er keiner Menschenseele mehr begegnet. Am Ende war er ein einziges<br />

Wrack, zitterte am ganzen Leib. Ich hatte seine Frau dabei. Sie war <strong>mit</strong>gekommen,<br />

um ihn abzuholen, und er sank bloß in ihre Arme und fing an zu<br />

heulen. Er bekam kein Wort heraus. Und so ging’s die ganze Fahrt zum<br />

Flughafen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so erleichtert war, es<br />

hinter sich gebracht zu haben. Es hat Sie niemand gezwungen, den Appalachian<br />

Trail zu gehen, Sir, habe ich mir nur gedacht. Aber ich habe natürlich<br />

meinen Mund gehalten.«<br />

»Können Sie, wenn Sie die Leute absetzen, erkennen, ob sie es schaffen<br />

werden oder nicht?«<br />

»Im allgemeinen, ja.«<br />

»Glauben Sie, daß wir es schaffen werden?« sagte Katz.<br />

Er musterte uns nacheinander. »Ach, Sie werden es schon schaffen«, antwortete<br />

er, aber in seinem Gesicht stand etwas anderes zu lesen.<br />

Die Amicalola Falls Lodge, die man über eine lange Serpentinenstraße<br />

durch den Wald erreicht, liegt in luftiger Höhe an einem Berghang. Der<br />

Mann am Flughafenschalter in Manchester hatte auf jeden Fall den richtigen<br />

Wetterbericht gehört. Es herrschte eine grimmige Kälte, als wir aus dem<br />

Auto stiegen. Aus allen Richtungen fegte ein heimtückischer, eisiger Wind


und schob einem Ärmel und Hosenbeine hoch.<br />

»Meine Fresse!« rief Katz höchst erstaunt, als hätte soeben jemand einen<br />

Eimer <strong>mit</strong> Eiswürfeln über ihn ausgeschüttet, und rannte in die Hütte. Ich<br />

zahlte und folgte ihm.<br />

Die Hütte war modern eingerichtet und gut geheizt. Sie hatte einen offenen<br />

Empfangsraum, der von einem gemauerten Kamin beherrscht wurde, und<br />

nichtssagende, bequeme Zimmer, wie man sie in jedem Holiday Inn vorfindet.<br />

Wir sagten uns gute Nacht und verabredeten uns für morgen früh, sieben<br />

Uhr. Ich zog mir eine Cola aus dem Automaten im Flur, stellte mich<br />

unter die heiße Dusche, machte verschwenderischen Gebrauch von den<br />

Handtüchern, und bettete mich zwischen gestärkte Laken – wie lange würde<br />

ich auf diesen Luxus wohl verzichten müssen –, sah mir von glücklichen,<br />

unbekümmerten Moderatoren vorgebrachte, entmutigende Berichte auf dem<br />

Wetterkanal an und schlief kaum.<br />

Ich war vor Tagesanbruch auf und setzte mich ans Fenster, als die blasse<br />

Dämmerung widerwillig die Landschaft freigab – ein kahles, scheinbar<br />

grenzenloses Gelände aus mächtigen, geschwungenen Hügeln, <strong>mit</strong> Reihen<br />

nackter Bäume, alles von einer hauchdünnen Schicht Pulverschnee bedeckt.<br />

Es sah nicht gerade abschreckend aus – wir befanden uns hier nicht im<br />

Himalajagebirge –, aber auch nicht so einladend, daß man unbedingt rausgehen<br />

wollte.<br />

Als ich zum Frühstück runterging, kam die Sonne heraus und erfüllte die<br />

Welt hoffnungsfroh <strong>mit</strong> ihrem Licht, und ich trat nach draußen, um die Luft<br />

zu schnuppern. Die Kälte war fürchterlich, wie ein Schlag ins Gesicht, und<br />

es wehte noch immer ein scharfer Wind. Kleine trockene Flocken wirbelten<br />

wie Styroporkügelchen durch die Luft. Ein großes Thermometer am Hütteneingang<br />

zeigte -12 Grad Celsius an.<br />

»Die schlimmste Kälte, die wir je um diese Zeit in Georgia hatten«, sagte<br />

eine Hotelangestellte <strong>mit</strong> einem breiten, zufriedenen Lächeln zu mir, als sie<br />

eilig vom Parkplatz heraufkam. Dann blieb sie stehen und fragte: »Wollen<br />

Sie wandern?«<br />

»Ja.«<br />

»Ich möchte nicht <strong>mit</strong> Ihnen tauschen. Trotzdem viel Glück. Brrrrr!« sagte<br />

sie und schlüpfte hinein.<br />

Zu meiner Überraschung verspürte ich plötzlich einen heftigen Bewegungsdrang.<br />

Ich wollte endlich loswandern. Immerhin hatte ich seit Monaten auf<br />

diesen Tag gewartet, wenn auch meist <strong>mit</strong> gemischten Gefühlen. Ich wollte<br />

sehen, wie es da draußen zuging. Abertausende Menschen in ganz Amerika<br />

würden sich heute zur Arbeit quälen, im Stau stecken und Abgase einatmen.<br />

Ich dagegen durfte im Wald Spazierengehen. Ich wollte los, endlich los.<br />

Ich suchte Katz und fand ihn im Speiseraum, er wirkte sogar recht munter.


Das kam, weil er eine Bekanntschaft geschlossen hatte – eine Kellnerin <strong>mit</strong><br />

dem hübschen Namen Rayette, die sich auf höchst kokette Weise um seine<br />

Bedürfnisse kümmerte. Rayette war über einen Meter achtzig groß und<br />

hatte ein Gesicht, vor dem sich jedes Kind gegruselt hätte, aber sie war<br />

gutmütig und schenkte großzügig Kaffee aus. Sie hätte Katz ihre Bereitschaft<br />

zur Hingabe nicht deutlicher zeigen können, wenn sie die Röcke<br />

gerafft und sich auf seine »Frühstücksplatte für den Wolfshunger« gelegt<br />

hätte. Katz hatte einen regelrechten Hormonschub.<br />

»Oh, ich mag Männer, die gerne saftige Pfannkuchen essen«, flötete sie.<br />

»Und der hier ist besonders saftig, meine Liebe«, erwiderte Katz <strong>mit</strong> vor<br />

Sirup und frühmorgendlicher Glückseligkeit glänzendem Gesicht. Nicht<br />

gerade Hepburn und Tracy, die beiden, aber es war trotzdem irgendwie<br />

rührend.<br />

Rayette ging und kümmerte sich um einen anderen Gast, und Katz schaute<br />

ihr <strong>mit</strong> geradezu väterlichem Stolz hinterher. »Sie ist ziemlich häßlich,<br />

findest du nicht?« sagte er <strong>mit</strong> einem frohen, widersinnigen Strahlen.<br />

Ich bemühte mich um Takt. »Verglichen <strong>mit</strong> anderen Frauen schon.«<br />

Katz nickte nachdenklich und richtete dann einen plötzlich ehrfürchtigen<br />

Blick auf mich. »Weißt du, worauf es mir in letzter Zeit bei einer Frau immer<br />

mehr ankommt? Daß das Herz am rechten Fleck ist und daß sie noch<br />

alle Gliedmaßen hat.«<br />

»Kann ich nachvollziehen.«<br />

»Und das ist bei mir schon die oberste Kategorie. Bei den Gliedmaßen bin<br />

ich zu Kompromissen bereit. Glaubst du, daß sie zu haben ist?«<br />

»Ich vermute, da sind noch andere vor dir dran.«<br />

Er nickte ernüchtert. »Es ist besser, wir essen auf und machen, daß wir<br />

rauskommen.«<br />

Das hörte ich gern. Ich trank meinen Kaffee aus, und wir gingen unsere<br />

Sachen holen. Als wir uns zehn Minuten später in voller Montur und abmarschbereit<br />

wiedertrafen, sah Katz elend aus. »Sollen wir nicht doch noch<br />

einen Tag hierbleiben?« sagte er.<br />

»Was? Machst du Witze?« Ich war sprachlos. »Warum?«<br />

»Weil es warm ist da drinnen, und hier draußen ist es kalt.«<br />

»Wir müssen los.«<br />

Er sah hinüber zum Wald. »Wir werden uns zu Tode frieren.«<br />

Ich sah ebenfalls hinüber. »Ja, wahrscheinlich. Wir müssen trotzdem los.«<br />

Ich setzte meinen Rucksack auf und taumelte unter dem Gewicht nach hinten<br />

– es dauerte Tage, bis ich dieses Manöver auch nur annähernd aufrecht<br />

stehend schaffte –, zog den Hüftgurt stramm und trottete los. Am Waldrand<br />

sah ich mich um, ob Katz auch hinter mir herkam. Vor mir erstreckte sich<br />

eine öde Welt aus winterkahlen Bäumen. Ich betrat <strong>mit</strong> gebührender Würde


den Pfad, ein Abschnitt des ursprünglichen Appalachian Trail aus der Zeit,<br />

als hier die Route zwischen Mount Oglethorpe und Springer Mountain<br />

vorbeiführte.<br />

Wir schrieben den 9. März 1996. Wir waren unterwegs.<br />

Es ging zunächst hinunter in ein bewaldetes Tal <strong>mit</strong> einem plätschernden,<br />

von brüchigem Eis gesäumten Bachlauf, dem der Weg auf einer Strecke von<br />

etwa 700 Metern folgte, bevor er uns bergauf in dichtes Waldgebiet brachte.<br />

Es war, das wurde schnell deutlich, der Fuß unseres ersten großen Berges,<br />

Frosty Mountain, und er stellte uns umgehend auf eine harte Probe. Die<br />

Sonne schien, der Himmel war stahlblau, aber alles in Bodennähe war<br />

braun – braune Bäume, braune Erde, steifgefrorene, braune Blätter – und<br />

die Kälte war unnachgiebig. Ich trottete ungefähr 30 Meter weiter bergauf,<br />

dann blieb ich stehen, meine Augen quollen hervor, meine Atmung ging<br />

schwer, mein Herz raste besorgniserregend. Katz war bereits weit zurückgefallen<br />

und keuchte schlimm. Ich drängte vorwärts.<br />

Es war eine Tortur. Das sind die ersten Tage einer Wanderung immer. Ich<br />

war einfach nicht in Form, es war hoffnungslos. Der Rucksack war zu<br />

schwer, viel zu schwer. Ich hatte mich noch nie einer solchen Anstrengung<br />

ausgesetzt, auf die ich zudem schlecht vorbereitet war. Jeder Schritt war<br />

eine Qual.<br />

Das Schwierigste war, <strong>mit</strong> der immer wieder aufs neue entmutigenden Erkenntnis<br />

fertig zu werden, daß der Berg sozusagen nicht aufhört. Beim<br />

Aufstieg sieht man im Gegensatz zum Abstieg, wenn man den Berg im<br />

Rücken hat, nie genau, was noch vor einem liegt. Zwischen den Vorhängen<br />

aus Bäumen zu beiden Seiten, den ständig zurückweichenden Umrissen des<br />

steilen Hangs vor einem und dem eigenen müden Stapfen verliert sich allmählich<br />

das Gefühl dafür, wie weit man schon gelaufen ist. Jedesmal, wenn<br />

man sich zum vermeintlichen Bergkamm geschleppt hat, stellt man fest, daß<br />

der Berg dahinter nicht etwa aufhört, sondern noch weiter ansteigt, in einem<br />

Winkel, der einem vorher verborgen geblieben war, und daß hinter diesem<br />

Hang der nächste Hang liegt, und dahinter noch einer und noch einer, und<br />

dahinter immer noch welche, bis es einem absolut unmöglich erscheint, daß<br />

der Berg sich so endlos lang hinziehen kann. Schließlich erreicht man ein<br />

Niveau, von dem aus man die Wipfel der am höchsten gelegenen Bäume<br />

erkennen kann, dahinter strahlend blauen Himmel, und das schwankende<br />

Gemüt des Wanderers richtet sich auf – endlich da! –, doch dann, welch<br />

gnadenlose Enttäuschung. Der Gipfel entzieht sich kontinuierlich immer um<br />

genau die Distanz, die man gerade zurückgelegt hat, so daß man jedesmal,<br />

wenn sich das Dach aus Bäumen vor einem weit genug öffnet, um einen<br />

Blick freizugeben, <strong>mit</strong> Bestürzung erkennt, daß die am höchsten gelegenen<br />

Bäume so fern, so unerreichbar sind wie zuvor. Trotzdem stapft man weiter.


Was bleibt einem anderes übrig?<br />

Wenn man dann, nach unendlich langer Zeit, in die wirklich höheren Gefilde<br />

kommt, wo die kühle Luft nach Harz duftet, die Vegetation knorrig und<br />

zäh und windgebeutelt ist, und man bis zur kahlen Bergspitze vorgedrungen<br />

ist, kann einem nichts mehr etwas anhaben. Man legt sich flach auf den<br />

Bauch, streckt alle viere von sich, wird von dem Gewicht des Rucksacks auf<br />

das abschüssige, gneisige Gestein gepreßt, verharrt einige Minuten in dieser<br />

Position und sinniert auf sonderbar distanzierte, außerkörperliche Weise<br />

darüber, daß man Flechten noch nie aus solcher Nähe betrachtet hat, überhaupt<br />

noch nie etwas Natürliches so nahe gesehen hat, seit man vier Jahre<br />

alt war und seine erste Lupe geschenkt bekommen hatte. Schließlich rollt<br />

man <strong>mit</strong> einem matten Schnaufer auf die Seite, schnallt den Rucksack ab,<br />

rappelt sich hoch und erkennt – auch dies wie benommen, als wäre man<br />

nicht ganz anwesend –, daß die Aussicht spektakulär ist: bewaldete Berge,<br />

so weit das Auge reicht, unberührt von Menschenhand, in alle Richtungen.<br />

Es könnte himmlisch sein. Es ist herrlich, keine Frage, aber es kommt einem<br />

der Gedanke, vor dem es kein Entrinnen gibt, daß man sich nämlich<br />

diesen Ausblick zu Fuß erobern mußte und daß das nur ein Bruchteil dessen<br />

ist, was man noch durchwandern muß, um bis ans Ziel zu gelangen.<br />

Man vergleicht die Karte <strong>mit</strong> der umliegenden Landschaft und stellt fest,<br />

daß der Pfad steil in ein Tal hinabgeht – eigentlich eine Schlucht, den<br />

Schluchten nicht unähnlich, in die der Kojote in den Roadrunner-<br />

Zeichentrickfilmen immer abtaucht, Schluchten, deren Tiefpunkte sich im<br />

Nichts verlieren – und einen an den Fuß eines Berges bringt, der noch steiler<br />

und gewaltiger ist als der, auf dem man steht, und daß man seit dem<br />

Frühstück 2,73 Kilometer zurückgelegt haben wird, wenn dieser unsäglich<br />

beschwerliche Gipfel erklommen ist, während der Plan, den man sich zu<br />

Hause am Küchentisch so schön zurechtgelegt und nach höchstens drei<br />

Sekunden des Nachdenkens aufgeschrieben hatte, bis zum Mittagessen<br />

14,32 Kilometer, bis zum Abendessen glatte 27 Kilometer und für morgen<br />

noch größere Entfernungen vorsieht.<br />

Aber vielleicht regnet es ja auch, einen kalten, peitschenden, erbarmungslosen<br />

Regen, <strong>mit</strong> Blitz und Donner, der sich bereits auf den benachbarten<br />

Bergen austobt. Vielleicht kommt ein Zug Pfadfinder in einem<br />

niederschmetternden Tempo vorbei. Vielleicht friert man und hat Hunger<br />

und stinkt so erbärmlich, daß man sich selbst nicht mehr riechen kann. Vielleicht<br />

will man sich einfach nur hinlegen und es den Flechten gleichtun,<br />

nicht unbedingt tot sein, aber ruhen, lange ausruhen, ganz lange ausruhen.<br />

Aber das lag alles noch vor mir. Heute brauchte ich auf einer gut markierten<br />

Strecke von 11,2 Kilometern nur vier <strong>mit</strong>telmäßig hohe Berge bei klarem,<br />

trockenen Wetter zu überqueren. Das war doch wohl nicht zuviel verlangt.


Im Gegenteil. Es war zu viel verlangt. Es war die Hölle.<br />

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich Katz aus den Augen verlor, aber es<br />

war schon nach wenigen Stunden. Zuerst hatte ich immer noch gewartet, bis<br />

er aufgeholt hatte. Er fluchte bei jedem Auftreten, blieb nach drei, vier<br />

schlurfenden Schritten stehen, wischte sich die Stirn und sah verdrießlich<br />

auf die nächsten paar Meter, die un<strong>mit</strong>telbar vor ihm lagen. Es war schwer<br />

auszuhalten, in jeder Beziehung. Schließlich wartete ich nur noch ab, bis er<br />

ins Blickfeld rückte, um sicherzugehen, daß er auch nachkam, nicht irgendwo<br />

zitternd am Wegesrand lag oder seinen Rucksack angewidert weggeworfen<br />

und sich auf die Suche nach Wes Wisson gemacht hatte. Ich wartete<br />

und wartete, bis endlich seine Gestalt zwischen den Bäumen auftauchte.<br />

Er japste, bewegte sich <strong>mit</strong> unendlicher Langsamkeit fort und schimpfte laut<br />

<strong>mit</strong> sich selbst. Auf halbem Weg zu unserem dritten Berg, dem l .036 Meter<br />

hohen Black Mountain, blieb ich nochmals stehen, wartete wieder sehr<br />

lange und überlegte, ob ich zurückgehen sollte, aber dann ließ ich es bleiben<br />

und kämpfte mich weiter vorwärts.<br />

11,2 Kilometer hört sich wenig an, aber das ist es keineswegs, glauben Sie<br />

mir. Die Entfernung <strong>mit</strong> Rucksack zu gehen ist selbst für trainierte Menschen<br />

nicht ganz einfach. Kennen Sie das: Sie sind im Zoo oder in irgendeinem<br />

Vergnügungspark, <strong>mit</strong> einem kleinen Kind, das keinen Fuß mehr vor<br />

den anderen setzen will?<br />

Man nimmt es <strong>mit</strong> Schwung auf die Schultern und eine Zeitlang, ein paar<br />

Minuten vielleicht, macht es sogar Spaß, den kleinen Kerl da oben sitzen zu<br />

haben, zu spielen, man würde ihn fallenlassen, oder einen niedrigen Durchgang<br />

<strong>mit</strong> ihm anzusteuern, wo er sich unweigerlich den Kopf stoßen würde,<br />

um im allerletzten Moment auszuweichen. Doch dann wird es allmählich<br />

ungemütlich. Man spürt ein Stechen im Nacken, eine Verspannung zwischen<br />

den Schulterblättern, und der zuerst noch leichte Schmerz sickert<br />

tiefer, breitet sich aus, bis es richtig unangenehm wird, und Sie verkünden<br />

dem kleinen Jimmy, daß Sie ihn mal absetzen müssen, Jimmy ist bockig<br />

und will keinen Schritt weitergehen, und Ihre Frau sieht Sie <strong>mit</strong> einem geringschätzigen<br />

Blick an. »Hätte ich doch bloß einen Footballspieler geheiratet«,<br />

scheint sie zu sagen, denn Sie sind keine 400 Meter weit gegangen.<br />

»Kannst du das nicht verstehen? Es tut weh. Sehr sogar.« – »Ja ja, ist gut.<br />

Ich verstehe schon.«<br />

Und nun stellen Sie sich zwei kleine Jimmies in einem Sack auf Ihrem Rükken<br />

vor, oder noch besser, etwas Träges und Schweres, etwas, das nicht<br />

hochgehoben werden will, das einem, sobald man es berührt, unmißverständlich<br />

zu verstehen gibt, daß es lieber auf dem Boden hocken bleiben<br />

will, sagen wir, ein Zementsack oder eine Kiste <strong>mit</strong> medizinischer Fachliteratur,<br />

jedenfalls eine 20 Kilo schwere Last. Stellen Sie sich vor, wie der


Sack an Ihnen zerrt, ähnlich der Zugkraft eines abwärts fahrenden Aufzugs.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie gingen <strong>mit</strong> diesem Gewicht auf dem Rücken stundenlang,<br />

tagelang zu Fuß, und Sie gingen nicht auf einer asphaltierten Straße<br />

<strong>mit</strong> Bänken und Imbißbuden, die in rücksichtsvoll angemessenen Abständen<br />

aufgestellt sind, sondern auf einem rauhen Weg, gespickt <strong>mit</strong><br />

scharfkantigen Steinen und starren Wurzeln und schwindelerregenden Anstiegen,<br />

die allesamt Ihren zarten, zittrigen Schenkeln ungeheure Strapazen<br />

abverlangen. Beugen Sie nun den Kopf nach hinten, bis sich Ihr Nacken<br />

verspannt, und visieren Sie einen Punkt in drei Kilometern Entfernung an.<br />

Das ist Ihr erster Aufstieg. Bis zum Gipfel sind es steile 1.427 Meter, und<br />

von dem Kaliber kommen noch einige Gipfel. Jetzt erzählen Sie mir nicht,<br />

11,2 Kilometer seien nicht viel. Und noch etwas. Sie müssen ja nicht. Ich<br />

meine, wir sind hier nicht bei der Armee. Sie können sofort umkehren.<br />

Nach Hause gehen. Zu Ihrer Familie. Im eigenen Bett schlafen.<br />

Oder aber – Sie können es sich aussuchen, Sie bedauernswerter, armer kleiner<br />

Kerl – Sie laufen 3.500 Kilometer durch die Wildnis und über Berge bis<br />

nach Maine. Und so trottete ich weiter, Stunde um Stunde, unter viel Weh<br />

und Ach, imposante Berge rauf und runter, an endlosen Reihen hoch aufragender<br />

Bäume vorbei, die unbeweglich, wie Gäste auf einer Cocktailparty,<br />

dastanden, und die ganze Zeit dachte ich: Langsam müßte ich die elf Kilometer<br />

geschafft haben. Aber nie hörte der Wanderpfad auf.<br />

Um halb vier erklomm ich einige in Stein gehauene Stufen und befand mich<br />

auf einem breiten Aussichtsfelsen: der Gipfel des Springer Mountain. Ich<br />

warf meinen Rucksack ab und plumpste gegen einen Baum, überrascht von<br />

dem Ausmaß meiner Erschöpfung. Die Aussicht war bezaubernd – die geschwungenen<br />

Hügel der Cohutta Mountains, von einem bläulichen Dunstschleier<br />

umfangen, wie Zigarettenrauch, der sich am fernen Horizont verliert.<br />

Die Sonne stand bereits niedrig am Himmel. Ich ruhte mich ein paar<br />

Minuten aus, stand dann auf und sah mich um. An einem Stein war eine<br />

Bronzeplatte befestigt, die den Ausgangspunkt des Appalachian Trail anzeigte,<br />

und unweit davon war auf einem Pfahl ein Holzkasten montiert, in<br />

dem ein an einem Bindfaden befestigter Kugelschreiber lag, dazu ein Notizblock,<br />

dessen Seiten sich von der Feuchtigkeit wellten. Der Notizblock war<br />

das Gipfelbuch, das Trail Register – eigentlich hatte ich ein ledergebundenes,<br />

irgendwie prächtiges Buch erwartet –, und es war vollgekritzelt <strong>mit</strong><br />

hoffnungsfrohen Einträgen, fast alleinjugendlicher Handschrift. Seit dem<br />

ersten Januar gab es etwa 25 Einträge, allein acht am heutigen Tag. Die<br />

meisten waren in Eile hingeworfen und klangen munter – »2. März. Da sind<br />

wir! Ganz schön kalt hier! Man sieht sich auf dem Katahdin. Jamie und<br />

Spud.« Ungefähr ein Drittel war länger und besinnlicher, versehen <strong>mit</strong> Botschaften<br />

wie dieser: »Da bin ich endlich auf dem Springer. Ich weiß nicht,


was mir die kommenden Wochen noch bescheren werden, aber mein Glaube<br />

an Gott ist stark, und ich weiß die Liebe und Hilfe meiner Familie hinter<br />

mir. Mom und Pookie, diese Wanderung mach ich für euch«, und so weiter.<br />

Ich wartete eine Dreiviertelstunde lang auf Katz, dann machte ich mich auf<br />

die Suche nach ihm. Das Licht schwand bereits, und in die Luft mischte<br />

sich abendliche Kühle. Ich lief und lief den Hang hinunter, durch die endlosen<br />

Waldungen, betrat wieder Boden, den ich für immer hinter mich gebracht<br />

zu haben glaubte, Ich rief mehrmals seinen Namen und lauschte,<br />

nichts. Ich ging weiter, über gestürzte Bäume, über die ich bereits Stunden<br />

zuvor geklettert war, Abhänge hinunter, an die ich mich kaum mehr erinnerte.<br />

Den Weg hätte meine Oma auch noch geschafft, dachte ich immer<br />

bei mir. Schließlich kam ich an eine Biegung, und da war er, torkelte mir<br />

entgegen, <strong>mit</strong> zerzaustem Haar, nur einem Handschuh, und kurz vor einem<br />

hysterischen Anfall, wie ich ihn noch nie bei einem erwachsenen Menschen<br />

erlebt hatte.<br />

Es war nicht einfach, ihm die Geschichte als zusammenhängendes Ganzes<br />

zu entlocken, weil er so zornig war, aber aus dem, was er erzählte, konnte<br />

ich entnehmen, daß er in einem Anfall viele Sachen aus seinem Rucksack<br />

einen Abhang hinuntergeworfen hatte. Alles, was außen am Sack gebaumelt<br />

hatte, war weg.<br />

»Was hast du denn über Bord geworfen?« fragte ich ihn, ohne meine Besorgnis<br />

allzu deutlich durchklingen zu lassen.<br />

»Das schwere Zeug. Was sonst. Die Salami, den Reis, den braunen Zucker,<br />

das Büchsenfleisch, was weiß ich nicht alles. Eine ganze Menge. Scheißkram.«<br />

Katz versteifte sich richtig vor lauter Mißmut. Er führte sich auf, als<br />

hätte der Appalachian Trail ihn schmählich verraten. Ich vermute, er entsprach<br />

nicht dem, was er erwartet hatte.<br />

Ich entdeckte seinen zweiten Handschuh etwa 30 Meter hinter ihm auf dem<br />

Boden und ging hin, um ihn aufzuheben.<br />

»Na dann los«, sagte ich, »es ist sowieso nicht mehr weit.«<br />

»Wie weit?«<br />

»Ungefähr anderthalb Kilometer.«<br />

»Scheiße«, sagte er verbittert.<br />

»Gib mir deinen Rucksack.« Ich schnallte ihn mir auf den Rücken. Er war<br />

nicht gerade leer, aber er war entschieden leichter als vorher. Weiß der<br />

Himmel, was er alles rausgeworfen hatte.<br />

Wir stapften in der sich ausbreitenden Dämmerung den Berg hinauf bis zum<br />

Gipfel. Ein paar hundert Meter unterhalb des Gipfels befanden sich auf<br />

einer großen freien Rasenfläche, vor einem finsteren Wald ein Zeltplatz und<br />

eine Schutzhütte aus Holz. Es waren viele Leute da, mehr als ich zu Saisonbeginn<br />

erwartet hatte. Die Schutzhütte, eher ein Unterstand aus drei Seiten-


wänden und einem Schrägdach, war schon überfüllt, und auf dem Platz<br />

standen verstreut etwa zwölf Zelte. Überall hörte man das Zischen der kleinen<br />

Campingkocher, Rauchfäden stiegen auf, es roch nach Essen, und dazwischen<br />

bewegten sich junge, gelenkige Menschen.<br />

Ich suchte uns eine Stelle am Rand der Lichtung, etwas abseits, fast unter<br />

den Bäumen.<br />

»Ich weiß nicht, wie man ein Zelt aufschlägt«, sagte Katz in gereiztem Tonfall.<br />

»Dann schlage ich es für dich auf.« Du weiches, schwabbliges Riesenbaby<br />

Plötzlich war ich nur noch müde.<br />

Katz saß auf einem Baumstamm und sah zu, wie ich sein Zelt aufstellte. Als<br />

ich fertig war, schob er seine Iso-Matte und den Schlafsack hinein und<br />

kroch dann selbst hinterher. Ich machte mich an mein eigenes Zelt und<br />

baute mir umständlich mein kleines Nest. Nach getaner Arbeit richtete ich<br />

mich auf und stellte fest, daß sich im Nachbarzelt nichts mehr rührte.<br />

»Bist du schon im Bett?« fragte ich entgeistert.<br />

»Mhm«, brummte er bestätigend.<br />

»Und das war’s? Ziehst dich einfach so zurück? Ohne Abendessen?«<br />

»Mhm.«<br />

Ich blieb minutenlang stehen, sprachlos, verwirrt, zu müde, um mich beleidigt<br />

zu fühlen, sogar zu müde, um meinen eigenen Hunger zu spüren. Ich<br />

krabbelte in mein Zelt, holte eine Wasserflasche und ein Buch aus dem<br />

Rucksack, legte mir zur nächtlichen Verteidigung und Beleuchtung Messer<br />

und Taschenlampe bereit und streckte mich schließlich in meinem Schlafsack<br />

aus dankbarer denn je, in der Waagerechten zu sein. Ich war nach wenigen<br />

Sekunden weggetreten. Ich glaube, ich habe noch nie so gut geschlafen.<br />

Als ich aufwachte, war es taghell. Die Innenseite meines Zeltes war <strong>mit</strong><br />

einem merkwürdigen, flockigen Reif beschichtet, der, wie mir nach einiger<br />

Überlegung klar wurde, der Niederschlag meines nächtlichen Schnarchens<br />

sein mußte, kondensiert, gefroren und ans Zeltdach geklebt, wie in einem<br />

Tage- oder besser Nachtbuch der Atmungserinnerungen. Meine Wasserflasche<br />

war ebenfalls gefroren. Das schien mir etwas für echte Machos zu<br />

sein, und ich untersuchte sie interessiert, wie ein seltenes Stück Erz. Es war<br />

erstaunlich gemütlich in meinem Schlafsack, und ich hatte es wahrlich nicht<br />

eilig, die Torheit zu begehen, gleich wieder Berge hochzukraxeln, deswegen<br />

blieb ich liegen, wie unter dem strengsten Befehl, mich nicht zu rühren.<br />

Nach einer Weile nahm ich wahr, daß Katz bereits draußen rumorte, leise<br />

stöhnend, wie vor Schmerz, und irgend etwas machte, was sich unwahrscheinlich<br />

geschäftig anhörte.


Nach ein, zwei Minuten kam er an und hockte sich neben mein Zelt, seine<br />

Gestalt fiel als dunkler Schatten auf die Zeltwand. Ohne mich zu fragen, ob<br />

ich wach sei oder nicht, erkundigte er sich <strong>mit</strong> leiser Stimme: »Sag mal,<br />

habe ich mich gestern abend wie ein Schwein benommen?«<br />

»Das könnte man so sagen.«<br />

Er war einen Moment lang still. »Ich koche Kaffee.« Ich glaube, das war<br />

seine Form der Entschuldigung.<br />

»Das ist nett.«<br />

»Ziemlich kalt hier draußen.«<br />

»Hier drin auch.«<br />

»Meine Wasserflasche ist gefroren.«<br />

»Meine auch.«<br />

Ich schlüpfte aus meinem Nylonbauch heraus und kroch <strong>mit</strong> knackenden<br />

Gelenken aus dem Zelt. Es war ein komisches Gefühl und sehr neuartig, <strong>mit</strong><br />

langen Unterhosen draußen im Freien zu stehen. Katz beugte sich über den<br />

Kocher und hatte einen Topf Wasser aufgesetzt.<br />

Anscheinend waren wir die ersten Camper, die wach waren. Es war kalt,<br />

aber doch eine Idee wärmer als gestern, und die niedrige Sonne, die zwischen<br />

den Bäumen hervorschimmerte, stimmte verhalten optimistisch.<br />

»Wie geht es dir?« sagte er.<br />

Ich beugte probeweise die Knie. »Eigentlich gar nicht so schlecht.«<br />

»Mir auch.«<br />

Er goß Wasser in den Filter. »Ich bin auch ganz lieb heute«, versprach er.<br />

»Gut.« Ich sah ihm über die Schulter. »Gibt es einen Grund«, fragte ich,<br />

»warum du den Kaffee durch Klopapier filterst?«<br />

»Ich…. ach…. ich habe die Filtertüten weggeworfen.«<br />

Mir entwich ein mißglücktes Lachen. »Die können doch höchstens ein paar<br />

Gramm gewogen haben.«<br />

»Ich weiß, aber man konnte so schön da<strong>mit</strong> werfen. Sie flatterten durch die<br />

Luft.« Er goß ein bißchen Wasser nach.<br />

»Mit Klopapier funktioniert es auch ganz gut.«<br />

Wir sahen zu, wie das Wasser durchtröpfelte und waren irgendwie stolz.<br />

Unser erstes Selbstgekochtes in der Wildnis. Er reichte mir einen Becher<br />

Kaffee. Es schwammen reichlich Pulver und kleine, rosa Papierschnipsel<br />

drin herum, dafür war er siedend heiß, das war die Hauptsache.<br />

Er sah mich entschuldigend an. »Den braunen Zucker habe ich auch weggeworfen,<br />

wir müssen unsere Haferflocken also ohne Zucker essen.«<br />

Ach so. »Wir müssen unsere Haferflocken sogar ohne Haferflocken essen.<br />

Die habe ich nämlich in New Hampshire gelassen.«<br />

»Wirklich?« sagte er und fügte hinzu, als wäre es nur fürs Protokoll: »Dabei<br />

esse ich Haferflocken so gerne.«


»Wie war’s <strong>mit</strong> etwas Käse zum Kaffee?«<br />

Er schüttelte den Kopf. »Weggeworfen.«<br />

»Erdnüsse?«<br />

»Weggeworfen.«<br />

»Büchsenfleisch?«<br />

»Das habe ich erst recht weggeworfen.«<br />

Die Sache nahm allmählich bedrohliche Ausmaße an. »Und die Mortadella?«<br />

»Ach die? Die habe ich in Amicalola gegessen«, sagte er, als wäre das bereits<br />

Wochen her, und ergänzte dann in einem Tonfall, als mache er da<strong>mit</strong><br />

ein edelmütiges Zugeständnis: »Mir reichen eine Tasse Kaffee und ein paar<br />

Little Debbies.«<br />

Ich verzog leicht das Gesicht. »Die Little Debbies habe ich auch zu Hause<br />

gelassen.«<br />

Seine Augen weiteten sich. »Das kann nicht dein Ernst sein.«<br />

Ich nickte reumütig.<br />

»Alle?«<br />

Ich nickte noch mal.<br />

Er stöhnte schwer. Das war ein harter Schlag, eine ernste Herausforderung<br />

seines versprochenen Gleichmuts – wenn nicht« mehr. Wir beschlossen eine<br />

Inventur vorzunehmen. Wir räumten eine kleine Fläche auf dem Zeltboden<br />

frei und warfen unsere Verpflegung zusammen. Sie war erschreckend dürftig<br />

– Nudeln, eine Packung Reis, Rosinen, Kaffee, Salz, diverse Schokoriegel<br />

und Klopapier. Das war alles.<br />

Wir frühstückten ein Snickers, tranken unseren Kaffee aus, bauten unser<br />

Lager ab, hievten unsere Rucksäcke auf den Rücken – nicht ohne dabei zur<br />

Seite zu stolpern – und machten uns wieder auf den Weg.<br />

»Ich fasse es nicht – da läßt der Kerl die Little Debbies zu Hause!« sagte<br />

Katz und war bereits nach wenigen Metern wieder zurückgefallen.


4. Kapitel<br />

Der Wald ist nicht wie andere natürliche Räume. Zunächst einmal ist er<br />

kubisch, das heißt, die Bäume umgeben uns, überragen uns, bedrängen uns<br />

von allen Seiten. Der Wald versperrt uns die Sicht, er läßt uns orientierungslos,<br />

und er verwirrt uns. Er macht uns klein und verlegen und verletzlich,<br />

wie ein Kind, das sich in einer Menschenmenge, zwischen lauter fremden<br />

Beinen, verirrt hat. In der Wüste, in der Steppe wissen wir, daß wir uns in<br />

einem großen, offenen Raum befinden. Im Wald spüren wir diesen Raum<br />

nur. Der Wald ist ein riesiges, konturloses Nirgendwo. Und der Wald lebt.<br />

Der Wald ist gespenstisch. Abgesehen davon, daß wilde Tiere in ihm hausen<br />

können und bewaffnete, genetisch gesehen unvollkommene Zweibeiner,<br />

die Zeke oder Festus heißen, ist ihm etwas Finsteres eigen, etwas Unbeschreibliches,<br />

das uns <strong>mit</strong> jedem Schritt eine Atmosphäre der Bedrohung<br />

spüren läßt und uns überdeutlich zu verstehen gibt, daß wir uns nicht in<br />

unserem Element befinden und besser die Ohren spitzen. Obwohl wir uns<br />

einreden, daß es absurd ist, werden wir das Gefühl nicht los, beobachtet zu<br />

werden. Wir sagen uns: Ruhig bleiben, es ist schließlich nur ein Wald, meine<br />

Güte, aber in Wirklichkeit sind wir fickriger als ein Bankräuber <strong>mit</strong> gezogener<br />

Pistole. Bei jedem plötzlichen Geräusch – dem krachenden Lärm<br />

eines herabfallenden Astes, dem Vorbeihuschen eines aufgescheuchten<br />

Rehs – geraten wir ins Rotieren und schicken ein Stoßgebet zum Himmel,<br />

welcher Mechanismus im Körper auch immer für die Adrenalinproduktion<br />

verantwortlich ist, in diesem Moment funktioniert er wie geschmiert, noch<br />

nie war er so versessen darauf, einen heißen Schub dieses Saftes auszustoßen.<br />

Selbst im Schlaf sind wir angespannt wie ein Flitzbogen.<br />

In Amerika hat der Wald die Menschen 300 Jahre lang eingeschüchtert. Der<br />

unsägliche Tugendbold und Langweiler Henry David Thoreau fand alle<br />

Natur prächtig, solange eine Stadt in der Nähe war, wo er Kuchen und Gerstensaft<br />

kaufen konnte, aber als er 1846 bei einem Ausflug auf den Katahdin<br />

einmal echte Wildnis erlebte, war es bis ins Mark erschüttert. Das war<br />

nicht die zahme Welt der verwunschenen Obstgärten im kleinen Vorort von<br />

Concord, Massachusetts, sondern es war das abschreckende, bedrückende,<br />

urzeitliche Land, »grimmig und wild… pri<strong>mit</strong>iv und trüb«, nur für »Menschen<br />

gemacht, die Steinen und wilden Tieren verwandter sind als unsereinem«.<br />

Diese Erfahrung hat ihn, um <strong>mit</strong> den Worten eines Biographen zu<br />

sprechen, »an den Rand des Wahnsinns« gebracht.<br />

Aber selbst hartgesottenere, dem Leben in der Wildnis angepaßtere Männer<br />

als Thoreau ließen sich von der eigentümlichen, fast greifbaren Bedrohung<br />

einschüchtern. Daniel Boone, der sich nicht nur Faustkämpfe <strong>mit</strong> Bären<br />

lieferte, sondern auch <strong>mit</strong> deren Weibchen anbändelte, beschreibt einige


Gegenden in den südlichen Appalachen als »so wild und grauenhaft, daß<br />

man nicht ohne Erschauern davon berichten kann«. Und wenn schon Daniel<br />

Boone Muffensausen kriegt, sollte man sich besser vorsehen.<br />

Als die ersten Europäer in die Neue Welt kamen, gab es in dem Gebiet, das<br />

später als die »Lower 48« bezeichnet wurde, also dem nordamerikanischen<br />

Kontinent <strong>mit</strong> Ausnahme von Alaska, knapp 385 Millionen Hektar bewaldete<br />

Fläche. Der Chattahoochee Forest, durch den Katz und ich gerade<br />

trotteten, gehörte zu einem riesigen geschlossenen Baumbestand, der vom<br />

südlichen Alabama bis nach Kanada reichte, und noch weiter, von der At-<br />

lantikküste bis zum fernen Grasland entlang des Missouri River.<br />

Der größte Teil dieses Waldgebietes ist heute verschwunden, aber was geblieben<br />

ist, ist eindrucksvoll genug. Der Chattahoochee gehört zu einem 1,6<br />

Millionen Hektar – 16.000 Quadratkilometer – großen Staatsforst, der sich<br />

bis zu den Great Smoky Mountains und über vier Bundesstaaten erstreckt.<br />

Auf einer Karte der Vereinigten Staaten stellt er nur einen unbedeutenden<br />

grünen Fleck dar, erst zu Fuß erschließen sich seine kolossalen Ausmaße. In<br />

vier Tagen würden Katz und ich den nächsten Highway überqueren und erst<br />

in einer Woche wieder in eine Stadt kommen.<br />

Und so wanderten wir los. Wir wanderten Berge hinauf, durch verlassene<br />

Senken, entlang einsamer Gebirgskämme, <strong>mit</strong> Aussicht auf noch mehr Gebirgskämme,<br />

über grasgrüne, kahle Bergkuppen, steinige, sich windende,<br />

nervenaufreibende Abstiege hinunter und Kilometer um Kilometer durch<br />

dunklen, tiefen, einsamen Wald, auf dem knapp einen halben Meter breiten<br />

Wanderpfad, der durch weiße, rechteckige Markierungen angezeigt wurde –<br />

ein Balken, fünf Zentimeter hoch, 15 Zentimeter lang –, die in regelmäßigen<br />

Abständen in die graue Borke der Bäume geschnitzt waren. Wir wanderten<br />

und wanderten.<br />

Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern der entwickelten Welt ist<br />

Amerika immer noch zu einem erstaunlichen Teil ein Land der Wälder. Ein<br />

Drittel der Landfläche des nordamerikanischen Kontinents, Alaska ausgenommen,<br />

ist <strong>mit</strong> Bäumen bewachsen, 295 Millionen Hektar insgesamt.<br />

Allein Maine hat über vier Millionen Hektar unbewohntes Land. Das sind<br />

mehr als 40.000 Quadratkilometer, ein Gebiet, das um einiges größer ist als<br />

Belgien, ohne einen einzigen Bewohner. Nur zwei Prozent der Vereinigten<br />

Staaten werden als baulich erschlossen eingestuft.<br />

Etwa 97 Millionen Hektar der amerikanischen Wälder gehören dem Staat.<br />

Der größte Anteil davon, 77 Millionen Hektar, verteilt auf 155 Parzellen,<br />

wird vom U.S. National Forest Service unterhalten und steht je nachdem<br />

unter Verwaltung der National Forests, der National Grasslands oder der<br />

National Recreation Areas. Das hört sich an, als sei es unberührtes Land,<br />

ganz im Sinne der Ökologie, aber in Wahrheit sind weite Teile des Wald-


gebietes des Forest Service zur Mischnutzung ausgewiesen, was großzügig<br />

interpretiert wird und alle möglichen Aktivitäten erlaubt: Bergbau; Öl- und<br />

Gasgewinnung; Wintersport (137 Orte); Bau von Eigentumsanlagen;<br />

Schneemobil- und Geländewagenrennen und natürlich jede Menge Holzwirtschaft<br />

– lauter Dinge, die <strong>mit</strong> der Ruhe des Waldes eigentlich unvereinbar<br />

sind.<br />

Der Forest Service ist wirklich eine höchst erstaunliche Institution. Viele<br />

Menschen sehen das Wort Forest im Namen und vermuten, dahinter verberge<br />

sich die Sorge um Bäume. Tatsächlich verhält es sich anders, obwohl die<br />

Pflege des Waldes der ursprüngliche Gedanke war. Vor 100 Jahren, als die<br />

Abholzung amerikanischer Wälder alarmierende Ausmaße annahm, wurde<br />

der Service als eine Art »Waldbank« eingerichtet, als dauerhaftes Depot für<br />

amerikanisches Nutzholz. Der Auftrag lautete: Nutzung und Schonung<br />

dieser Ressourcen für das Land. An Nationalparks war dabei nicht gedacht.<br />

Privatfirmen sollten die Genehmigung bekommen, Erze abzubauen und<br />

Holzwirtschaft zu betreiben, wurden aber angehalten, dies nur in begrenztem<br />

Umfang und auf intelligente und nachhaltige Weise zu tun.<br />

Wo<strong>mit</strong> sich der Forest Service hauptsächlich beschäftigt, ist der Straßenbau.<br />

Das ist kein Witz! Durch die amerikanischen Staatsforste führen Straßen in<br />

einer Gesamtlänge von 608.315 Kilometern. Die Zahl sagt vielleicht nicht<br />

viel aus, aber man kann es auch so sehen: Das Netz ist achtmal so groß wie<br />

das gesamte amerikanische System der Interstate Highways. Es ist das größte<br />

Straßennetz der Welt, das in der Hand eines einzelnen Betreibers hegt.<br />

Der Forest Service beschäftigt im Vergleich zu allen anderen staatlichen<br />

Institutionen auf der Erde die zweitgrößte Anzahl an Straßenbauingenieuren.<br />

Die Aussage, daß diese Leute gerne Straßen bauen, hieße, das Maß<br />

ihrer Hingabe auf charmante Weise untertreiben. Zeigt man ihnen einen<br />

idyllischen Wald, ganz egal wo, werden sie ihn ausgiebig und nachdenklich<br />

in Augenschein nehmen und zum Schluß sagen: »Hier könnte man gut eine<br />

Straße bauen.« Es ist erklärtes Ziel des U.S. Forest Service, bis Mitte des<br />

nächsten Jahrhunderts weitere 933.400 Straßenkilometer durch Waldgebiet<br />

anzulegen.<br />

Der Grund warum der Forest Service diese Straßen baut, abgesehen von der<br />

tiefen Befriedigung, die es den Männern bereitet, <strong>mit</strong> großen Maschinen<br />

möglichst viel Krach im Wald zu machen, liegt darin, daß der privaten<br />

Holzindustrie Zugang zu vorher unerreichbaren Baumbeständen verschafft<br />

werden soll. Von den 60 Millionen Hektar verwertbaren Waldgebiets des<br />

Forest Service sind zwei Drittel für die zukünftige Nutzung reserviert. Das<br />

übrige Drittel – 19 Millionen Hektar, eine Fläche, doppelt so groß wie Ohio<br />

– ist zur Rodung bestimmt. Das ermöglicht den Kahlschlag ganzer, geschlossener<br />

Waldgebiete. Das schließt, um nur ein besonders erschrecken-


des Beispiel zu nennen, auch 84 Hektar eines Bestands von tausendjährigen<br />

Redwoods im Umpqua National Forest in Oregon ein.<br />

1987 gab der Forest Service bekannt, er werde der privaten Holzindustrie ab<br />

sofort erlauben, jährlich Hunderte Hektar Baumbestand aus der uralten<br />

grünen Lunge des Pisgah National Forest, gleich neben dem Great Smoky<br />

Mountams National Park, abzuholzen. Dies sollte zu 80 Prozent nach Methoden<br />

der »wissenschaftlichen Forstwirtschaft« geschehen, wie man es<br />

delikaterweise nannte. Gemeint ist da<strong>mit</strong> Kahlschlag, was nicht nur eine<br />

Beleidigung fürs Auge, sondern ein brutaler Eingriff in die Landwirtschaft<br />

darstellt und große Überschwemmungen auslösen kann, die den Boden<br />

zerfurchen, ihm Nährstoffe entziehen und das ökologische Gleichgewicht<br />

weiter stromabwärts zerstören, manchmal auf eine Länge vom mehreren<br />

Kilometern. Das hat <strong>mit</strong> Wissenschaft nichts mehr zu tun. Das ist Waldfrevel.<br />

Trotzdem schleift der Forest Service weiter. Ende der 80er Jahre – es ist so<br />

abwegig, daß man es kaum aussprechen mag -war er der einzige ernstzunehmende<br />

Vertreter der amerikanischen Holzindustrie, der schneller <strong>mit</strong><br />

dem Abholzen war als <strong>mit</strong> der Wiederaufforstung. Und das <strong>mit</strong> einer grandiosen<br />

Ineffizienz. 80 Prozent seiner Leasingunternehmen machten Verluste,<br />

häufig riesige Summen. In einem typischen Fall verkaufte der Forest<br />

Service hundertjährige Murrays-Kiefern im Targhee National Forest in<br />

Idaho für zwei Dollar pro Stamm, nachdem er umgerechnet vier Dollar pro<br />

Stamm für Landvermessungen, Vertragsakquisition und – wie könnte es<br />

anders sein – Straßenbau ausgegeben hatte. Zwischen 1989 und 1997 verlor<br />

der Forest Service durchschnittlich 242 Millionen Dollar pro Jahr – nach<br />

den Berechnungen der Wilderness Society alles in allem fast zwei Milliarden<br />

Dollar. Das ist dermaßen niederschmetternd, daß ich es lieber dabei<br />

bewenden lassen und mich wieder unseren beiden, durch die verlorene Welt<br />

des Chattahoochee stapfenden, einsamen Helden widmen möchte.<br />

Der Wald, den wir durchquerten, war eigentlich noch ein strammer Jüngling.<br />

1890 kam ein Eisenbahn-Magnat namens Henry C. Bagley aus Cincinnati<br />

in diesen Teil von Georgia, sah die verschiedenen stattlichen, nordamerikanischen<br />

Fichten und Pappeln und war so tief berührt von ihrer Erhabenheit<br />

und Vielfalt, daß er den Entschluß faßte, sie alle zu fällen. Sie waren ihr<br />

Geld wert. Außerdem würden sie die Schornsteine seiner Lokomotiven zum<br />

Rauchen bringen, wenn er das Holz in seine Fabriken im Norden des Landes<br />

schaffte. Diese Radikalkur verwandelte fast alle Berge im nördlichen<br />

Georgia im Laufe der folgenden 30 Jahreinsonnenbeschienene Haine aus<br />

Baumstümpfen. Bis 1920 hatten die Waldarbeiter 36 Millionen Festmeter<br />

Holz geschlagen. Erst 1930, <strong>mit</strong> Gründung des Chattahoochee Forest, wurde<br />

der Natur wieder zu ihrem Recht verhelfen.


In einem forstwirtschaftlich nicht genutzten Wald herrscht eine seltsame<br />

Atmosphäre der erstarrten Gewalt. Es schien so, als hätte jede Lichtung,<br />

jede Senke soeben eine grandiose Umwälzung erfahren. Alle 40 bis 50<br />

Meter lagen umgestürzte Bäume quer über dem Weg, die meisten hatten<br />

riesige Krater um die ausgerissenen Wurzeln herum hinterlassen; auf den<br />

Abhängen lagen noch mehr Bäume, die langsam verrotteten, und jeder dritte<br />

oder vierte Baum, so kam es mir vor, lehnte sich steil an seinen Nachbarn.<br />

Es war, als könnten sie es nicht erwarten umzustürzen, als bestünde ihr<br />

einziger Zweck im Universum darin, groß genug zu werden, um <strong>mit</strong> einem<br />

richtig satten Krachen umzufallen, so daß die Späne nur so flogen. Immer<br />

wieder kam ich an Bäumen vorbei, die sich so bedenklich <strong>mit</strong> ihrem ganzen<br />

Gewicht über den Weg beugten, daß ich zuerst zögerte, dann drunterherhuschte,<br />

jedesmal befürchtend, den falschen Moment erwischt zu<br />

haben und erschlagen zu werden, und mir dann Katz vorstellte, der wenige<br />

Minuten später vorbeikommen, sich meine verdrehten Beine ansehen und<br />

sagen würde: »Scheiße, <strong>Bryson</strong>, was machst du denn da unten?« Aber es<br />

fielen keine Bäume um. Der Wald blieb ruhig, unnatürlich still, und so war<br />

es fast überall. Außer dem gelegentlichen Glucksen eines Wasserlaufs und<br />

dem leisen Rascheln der vom Wind über den Boden gepusteten Blätter gab<br />

es fast kein Geräusch.<br />

Der Wald war deswegen so still, weil der Frühling noch nicht eingesetzt<br />

hatte. Normalerweise wären wir jetzt <strong>mit</strong>ten durch die reizvolle Pracht spaziert,<br />

die der Frühling in den Bergen im Süden <strong>mit</strong> sich bringt: eine strahlende,<br />

fruchtbare, wie neugeborene Welt, erfüllt vom Schwirren der Insekten<br />

und dem Gezwitscher aufgeregter Vögel, eine Welt, gewürzt von frischer,<br />

bekömmlicher Luft und dem samtigen, die Lungen erweiternden<br />

Geruch von Chlorophyll, den man einatmet, wenn man durch niedriges,<br />

blattreiches Gehölz streift. Vor allem aber gäbe es Wildpflanzen in Hülle<br />

und Fülle, die sich tapfer durch die fruchtbare Streu auf dem Waldboden<br />

hindurch dem Licht entgegenstreckten, jeden Sonnenhang und jede Uferböschungineinen<br />

Teppich verwandelten – Wachslilie, kriechende Heide, Doppelsporn,<br />

Zeichenwurz, Alraune, Veilchen, Kornblume, Butterblume und<br />

Blutkraut, Zwerglilie, Akelei, Sauerklee und andere unzählige, wundervolle<br />

Pflanzen. Es gibt 1.500 verschiedene Wildpflanzen in den südlichen Appalachen,<br />

40 seltene Arten allein im Norden von Georgia. Ihr Anblick erwärmt<br />

noch das kälteste Herz. In diesem grimmigen März jedoch war davon<br />

nichts zu sehen. Wir stapften durch eine kalte, stille Welt kahler Bäume,<br />

unter einem bleigrauen Himmel, über steinharten Boden.<br />

Nach einigen Tagen stellte sich ein gewisser Rhythmus ein. Wir standen<br />

jeden Morgen beim ersten Tageslicht auf, bibbernd, wärmten uns, kochten<br />

Kaffee, bauten unsere Zelte ab, aßen ein paar Handvoll Rosinen und bega-


en uns auf den Weg durch den stillen Wald. Wir wanderten von halb acht<br />

bis etwa vier Uhr. Wir gingen selten zusammen, unser Schrittempo paßte<br />

einfach nicht zueinander, aber alle paar Stunden ließ ich mich auf einem<br />

Baumstamm nieder – nicht ohne vorher die Umgebung nach Bären und<br />

Wildschweinen abgesucht zu haben – und wartete ab, bis Katz aufgeholt<br />

hatte, um sicher zu sein, daß auch alles in Ordnung war. Manchmal überholten<br />

mich Wanderer und sagten mir, an welcher Stelle Katz gerade war und<br />

welche Fortschritte er machte, er war fast immer langsamer, aber gut aufgelegt.<br />

Der Trail war für ihn sehr viel beschwerlicher als für mich, aber zu<br />

seinen Gunsten muß ich sagen, daß er sich <strong>mit</strong> Meckern zurückhielt. Ich<br />

vergaß keine Sekunde lang, daß er ja nicht hätte <strong>mit</strong>kommen müssen.<br />

Ich hatte gedacht, wir würden den Massen zuvorkommen, aber in der Region<br />

waren doch schon ziemlich viele Wanderer unterwegs – drei Studenten<br />

von der Rutgers University in New Jersey, ein erstaunlich sportliches älteres<br />

Ehepaar <strong>mit</strong> kleinen Tagesrucksäcken, das zur Hochzeit ihrer Tochter im<br />

fernen Virginia wollte, ein etwas unbedarftes Kerlchen namens Jonathan<br />

aus Florida – <strong>mit</strong> uns zusammen etwa ein Dutzend, die alle Richtung Norden<br />

zogen. Da jeder ein anderes Schrittempo hat und zu unterschiedlichen<br />

Zeiten Pausen einlegt, trifft man unweigerlich irgendwann auf einzelne oder<br />

auf alle Mitwanderer, besonders auf Berggipfeln <strong>mit</strong> Panoramablick, an<br />

Bächen <strong>mit</strong> sauberem Wasser und natürlich an den Schutzhütten, die in<br />

Abständen auf Lichtungen neben dem Trail stehen, angeblich, aber nicht<br />

unbedingt immer jeweils eine Tagesetappe voneinander entfernt. Auf diese<br />

Weise lernt man seine Mitwanderer kennen, wenigstens oberflächlich, noch<br />

besser natürlich, wenn man sie jeden Abend in den Schutzhütten wiedersieht.<br />

Man wird Teil eines bunt zusammengewürfelten Haufens, einer lokkeren,<br />

verständnisvollen Gemeinschaft von Leuten aller Altersgruppen und<br />

sozialen Schichten, die jedoch alle gleichermaßen Wind und Wetter, den<br />

Widrigkeiten des Wanderlebens und der Landschaft ausgesetzt sind, angetrieben<br />

von dem gleichen Impuls, bis nach Maine zu gehen.<br />

Selbst bei Hochbetrieb verschafft einem der Wald noch großartige Momente<br />

der Einsamkeit, und wenn ich stundenlang keine Menschenseele sah,<br />

spürte ich das erhebende Gefühl absoluten Alleinseins. Häufig wartete ich<br />

auf Katz, und es kam kein anderer Wanderer vorbei. Dann ließ ich meinen<br />

Rucksack stehen und ging zurück, um ihn zu suchen, nach ihm zu sehen,<br />

was ihn immer beruhigte. Manchmal winkte er mir schon von weitem <strong>mit</strong><br />

meinem Wanderstab, den ich an einem Baum abgestellt hatte, weil ich mir<br />

die Schuhe zugebunden oder die Tragegurte strammgezogen und ihn dann<br />

vergessen hatte. Wir sorgten füreinander. Das war wirklich schön. Ich kann<br />

es nicht anders sagen.<br />

Gegen vier Uhr suchten wir uns regelmäßig eine Stelle zum Zelten. Einer


ging los, um Wasser zu holen und es zu filtern, während der andere in einem<br />

Topf eine Pampe aus dampfenden Nudeln zubereitete. Manchmal redeten<br />

wir dabei, aber meistens verbrachten wir die Zeit in kameradschaftlichem<br />

Schweigen. Gegen sechs trieben uns die Dunkelheit, die Kälte und die<br />

Müdigkeit in unsere Zelte. Katz schlief jedesmal umgehend ein, soweit ich<br />

das beurteilen kann. Ich las immer noch ungefähr eine Stunde lang und<br />

hatte dafür die völlig untaugliche, kleine Stirnlampe aufgesetzt, deren Strahlen<br />

konzentrische Kreise auf die Buchseite warfen, wie eine Fahrradlampe.<br />

Weil ich das Buch schräg halten mußte, um das Licht einzufangen, wurde<br />

mir irgendwann an Schultern und Armen, die nicht im Schlafsack steckten,<br />

kalt, und sie wurden schwer. Ich blieb noch wach liegen und lauschte in der<br />

Finsternis den seltsam klaren, artikulierten Geräuschen des Waldes bei<br />

Nacht, dem Fegen und Seufzen des Windes, dem müden Stöhnen der sich<br />

wiegenden Äste, dem endlosen Gewese und Gemurmel, wie in einem Genesungsheim<br />

nach dem Lichtlöschen, bis ich selbst auch in einen tiefen Schlaf<br />

fiel. Morgens wachten wir bibbernd vor Kälte auf, wiederholten unsere<br />

kleinen Rituale, packten die Rucksäcke, setzten sie auf und wagten uns<br />

wieder in den großen undurchdringlichen Wald.<br />

Am vierten Abend lernten wir jemanden kennen. Wir waren gerade auf<br />

einer hübschen Lichtung neben dem Trail angekommen, hatten die Zelte<br />

aufgeschlagen, mampften unsere Nudeln, genossen das exquisite Vergnügen,<br />

nichts zu tun und nur herumzusitzen, als eine pummelige Frau <strong>mit</strong><br />

Brille und roter Jacke und dem unvermeidlichen überdimensionalen Rucksack<br />

des Weges kam. Sie musterte uns <strong>mit</strong> dem verkniffenen Blick eines<br />

Menschen, der entweder ständig konfus oder stark kurzsichtig ist. Wir grüßten<br />

einander und tauschten die üblichen Gemeinplätze über das Wetter und<br />

den ungefähren Standort aus. Dann kniff sie wieder die Augen zusammen,<br />

sah, daß die Dämmerung hereinbrach und verkündete, daß sie ihr Lager<br />

neben unserem aufschlagen werde.<br />

Sie hieß Mary Ellen und kam aus Florida. Sie war, wie Katz sie später immer<br />

wieder in ehrfurchtsvollem Ton titulierte, »ein harter Brocken«. Sie<br />

redete ununterbrochen, außer wenn sie ihre Ohrtrompete reinigte, was häufig<br />

genug geschah. Zu diesem Zweck hielt sie sich die Nase zu und stieß<br />

kräftig Luft aus, was <strong>mit</strong> einem kräftigen und höchst alarmierenden<br />

Schnauben verbunden war, bei dem jeder Hund vom Sofa gesprungen und<br />

sich unter dem Tisch im Nebenzimmer verkrochen hätte. Ich weiß längst,<br />

daß Gott in seinem Plan für mich vorgesehen hat, ich solle jeweils etwas<br />

Zeit <strong>mit</strong> den dümmsten Menschen der Welt verbringen, und Mary Ellen war<br />

der Beweis dafür, daß ich diesem Schicksal auch in den Wäldern der Appalachen<br />

nicht entkommen konnte. Es war von der ersten Sekunde an klar, daß


sie ein ganz besonders seltenes Exemplar dieser Gattung war.<br />

»Na, was gibt’s denn bei euch zu essen?« sagte sie, pflanzte sich auf einen<br />

freien Baumstamm und reckte den Hals, um einen Blickinden Topf werfen<br />

zu können. »Nudeln? Schwerer Fehler. Nudeln geben so gut wie keine Energie.<br />

Tendenz gegen Null.« Sie schnaubte wieder, um den Innendruck in<br />

den Ohren loszuwerden. »Ist das ein Zelt von Starship?«<br />

Ich sah hinüber zu meinem Zelt. »Ich weiß es nicht.«<br />

»Schwerer Fehler. Die haben dich bestimmt übers Ohr gehauen in dem<br />

Ausrüstungsladen. Wieviel hast du dafür bezahlt?«<br />

»Ich weiß es nicht.«<br />

»Auf jeden Fall zuviel. Du hättest dir ein Zelt besorgen sollen, das für drei<br />

Jahreszeiten geeignet ist.«<br />

»Das Zelt ist für drei Jahreszeiten geeignet.«<br />

»Entschuldige bitte, wenn ich das sage, aber es ist ausgesprochen dämlich,<br />

im März <strong>mit</strong> einem Zelt hierherzukommen, das nicht für drei Jahreszeiten<br />

geeignet ist.« Sie schnaubte wieder.<br />

»Das Zelt ist für drei Jahreszeiten geeignet.«<br />

»Du kannst von Glück sagen, daß du noch nicht erfroren bist. Geh zurück in<br />

den Laden und schlag den Kerl zusammen, der dir das angedreht hat, denn<br />

das war, sag ich mal, absolut unnötig, dir so’n Ding zu verkaufen.«<br />

»Glaub mir, das Zelt ist für drei Jahreszeiten gedacht.«<br />

Sie schnaubte und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das da ist ein Zelt für<br />

drei Jahreszeiten.« Sie zeigte auf das Zelt von Katz.<br />

»Das ist haargenau das gleiche Zelt.«<br />

Sie sah es sich nochmals an. »Ist ja auch egal. Wie viele Kilometer seid ihr<br />

heute gelaufen?«<br />

»Ungefähr 16.« Eigentlich waren es nur dreizehneinhalb, aber dazu gehörten<br />

einige knifflige Steilabbrüche, unter anderem eine höllische Wand,<br />

Preaching Rock, die höchste Erhebung nach Springer Mountain, für die wir<br />

uns <strong>mit</strong> einem Bonus in Form von erlassenen Kilometern belohnt hatten,<br />

aus moralischen Gründen.<br />

»16 Kilometer? Mehr nicht? Ihr müßt ja wirklich in ganz schön schlechter<br />

Verfassung sein. Ich bin 22 Komma acht Kilometer gelaufen.«<br />

»Und wieviel hat dein Mundwerk zurückgelegt?« sagte Katz und schaute<br />

von seinem Teller Nudeln auf.<br />

Sie fixierte ihn böse aus zusammengekniffenen Augen. »Genauso viel wie<br />

ich natürlich.« Sie sah mich verstohlen an, als wollte sie sagen: Tut dein<br />

Freund nur so doof, oder was soll das? Sie schnaubte wieder. »Ich bin im<br />

Gooch Gab losgegangen.«<br />

»Wir auch. Das sind nur dreizehneinhalb Kilometer.«<br />

Sie schüttelte heftig den Kopf, als wollte sie eine besonders hartnäckige


Fliege loswerden. »22 Komma acht.«<br />

»Nein, im Ernst, es sind nur dreizehneinhalb.«<br />

»Entschuldigt bitte, aber ich bin schließlich den ganzen Weg zu Fuß gelatscht.<br />

Ich muß es ja wohl wissen.« Dann wechselte sie plötzlich das Thema.<br />

»Meine Güte, sind das Timberland-Schuhe? Megaschwerer Fehler.<br />

Wieviel hast du für die bezahlt?«<br />

In dem Stil ging es weiter. Schließlich war ich es leid und stand auf, um<br />

unsere Teller zu spülen und den Vorratsbeutel aufzuhängen. Als ich wiederkam,<br />

bereitete sie ihr Essen zu, redete dabei aber ununterbrochen auf<br />

Katz ein.<br />

»Weißt du was?« sagte sie. »Entschuldige, wenn ich kein Blatt vor den<br />

Mund nehme, aber du bist zu dick.«<br />

Katz sah sie völlig verdattert an. »Wie bitte?«<br />

»Du bist zu dick. Du hättest abnehmen sollen, bevor du losgingst. Ein bißchen<br />

Sport machen sollen, sonst kriegst du noch so eine, ähem, ich meine,<br />

so eine Herzsache.«<br />

»Was für eine Herzsache?«<br />

»Ja. Ich meine, wenn das Herz aufhört zu schlagen und man tot ist.«<br />

»Meinst du einen Herzinfarkt?«<br />

»Ja, genau.«<br />

Dazu muß gesagt werden, daß Mary Ellen auch nicht gerade unter mangelnder<br />

Körperfülle litt und sich just in diesem Moment ungeschickterweise<br />

bückte, um etwas aus dem Rucksack zu holen und dabei ein breitwandiges<br />

Hinterteil präsentierte, auf das man ohne weiteres einen Kinofilm hätte<br />

projizieren können. Das stellte Katz auf eine harte Geduldsprobe. Er sagte<br />

nichts, sondern stand auf, um zu pinkeln und zischte mir im Vorbeigehen<br />

aus dem Mundwinkel ein passendes dreisilbiges Schimpfwort zu, das wie<br />

das Signal eines Güterzugs bei Nacht klang.<br />

Am nächsten Tag standen wir wie immer durchgefroren und wie gerädert<br />

auf und machten uns an die Verrichtung unserer kleinen Pflichten, diesmal<br />

<strong>mit</strong> der zusätzlichen Qual, daß jede Bewegung beobachtet und bewertet<br />

wurde. Während wir unsere Rosinen aßen und unseren Kaffee <strong>mit</strong> Toilettenpapierschnipseln<br />

tranken, verschlang Mary Ellen ein mehrgängiges<br />

Frühstück bestehend aus Müsli, Honigpops, einem speziellen Energiemix<br />

für Wanderer, und einer Handvoll kleiner, rechteckiger Schokoladenstückchen,<br />

die sie neben sich auf dem Baumstamm aufreihte.<br />

Wir sahen ihr wie zwei Waisenkinder auf der Flucht dabei zu, wie sie sich<br />

die Backen vollstopfte und uns über unsere Mängel in puncto Proviant,<br />

Ausrüstung und allgemeiner Virilität aufklärte.<br />

Danach ging es wieder ab in den Wald, diesmal zu dritt. Mary Ellen ging<br />

manchmal neben mir her, manchmal neben Katz, aber immer <strong>mit</strong> einem von


uns beiden. Es war augenscheinlich, daß sie trotz ihres ganzen aufgeblasenen<br />

Getues absolut unerfahren und wanderuntauglich war – zum Beispiel<br />

hatte sie nicht den leisesten Schimmer, wie man eine Karte las – und sich<br />

allein in der Wildnis nicht wohl fühlte. Irgendwie tat sie mir sogar ein bißchen<br />

leid, und außerdem fand ich sie allmählich auf komische Weise unterhaltsam.<br />

Sie hatte eine ungewöhnlich redundante Art, sich auszudrücken.<br />

Sie sagte zum Beispiel Sätze wie diesen: »Da drüben ist ein Wasserfluß«,<br />

oder »Wir haben jetzt zehn Uhr morgens.« Einmal, es ging um den Winter<br />

in Florida, informierte sie mich völlig ernstgemeint: »Normalerweise haben<br />

wir im Winter ein- bis zweimal Frost, aber dieses Jahr schon zweimal.«<br />

Katz litt unter ihrer Gesellschaft und stöhnte, weil sie ihn andauernd bedrängte,<br />

einen Schritt schneller zu gehen.<br />

Endlich einmal war das Wetter freundlich – eher herbstlich als frühlingshaft,<br />

aber dafür erfreulich mild. Um zehn lag die Temperatur bei angenehmen<br />

20 Grad. Zum ersten Mal seit Amicalola zog ich meine Jacke aus, und<br />

sofort bemerkte ich <strong>mit</strong> schwachem Erstaunen, daß ich keinen Platz hatte,<br />

um sie zu verstauen. Schließlich band ich sie <strong>mit</strong> einem Gurt am Rucksack<br />

fest und stapfte weiter.<br />

Es ging 6,5 Kilometer bergauf, über den Blood Mountam, <strong>mit</strong> 1.359 Meter<br />

die höchste und schwierigste Erhebung auf dem Wegabschnitt in Georgia,<br />

danach folgte ein steiler Abstieg über drei Kilometer bis Neels Gap, der für<br />

Aufregung sorgte. Aufregung deswegen, weil sich in Neels Gap ein Laden<br />

befand, genauer gesagt, befand sich der Laden in einem Lokal, das sich<br />

Walasi-Yi Inn nannte und in dem man Sandwiches und Eiscreme kaufen<br />

konnte. Um halb eins etwa vernahmen wir ein neues Geräusch, Autoverkehr,<br />

und wenige Minuten später tauchten wir aus dem Wald auf, und vor<br />

uns lag der U.S. Highway 19 beziehungsweise 129, eigentlich nur eine<br />

kleine Straße über einen hohen Paß <strong>mit</strong>ten im bewaldeten Nirgendwo, obwohl<br />

sie zwei Nummern hat. Direkt gegenüber lag das Walasi-Yi Inn, ein<br />

beeindruckendes Gebäude aus Stein, das das Civilian Conservation Corps,<br />

eine Art Armee der Arbeitslosen, während der Zeit der Depression errichtet<br />

hatte und das heute eine Mischung aus Expeditionsausstatter, Lebens<strong>mit</strong>telgeschäft,<br />

Buchhandlung und Jugendherberge ist. Wir liefen über die Straße,<br />

rannten regelrecht hinüber und gingen hinein.<br />

Es mag unglaubwürdig klingen, wenn ich sage, daß eine geteerte Straße,<br />

rauschender Autoverkehr und ein richtiges Haus nach fünf Tagen in der<br />

Waldeinsamkeit für Aufregung sorgen können und ungewohnt erscheinen,<br />

aber es war tatsächlich so. Allein durch eine Tür zu gehen, in einem Raum<br />

zu sein, umgeben von vier Wänden und einer Decke, war ein neues Gefühl.<br />

Und das Walasi-Yi Inn war wunderbar – ich weiß gar nicht, wo ich an-<br />

fangen soll. Es gab einen einzigen, kleinen Kühlschrank, der vollgestopft


war <strong>mit</strong> frischen Sandwiches, Mineralwasser, Obstsaft und verderblicher<br />

Ware wie Käse und anderem. Katz und ich glotzten minutenlang dumpf und<br />

wie gebannt auf die Regale. Langsam fing ich an zu begreifen, daß die<br />

wichtigste Erfahrung, die man auf dem Appalachian Trail macht, die der<br />

Entbehrung ist, daß der ganze Sinn und Zweck der Unternehmung darin besteht,<br />

sich so weit von den Annehmlichkeiten des Alltags zu entfernen, daß<br />

die gewöhnlichsten Dinge, Schmelzkäse, eine schöne <strong>mit</strong> Kondenswasserperlen<br />

besetzte Dose Limonade, den Menschen <strong>mit</strong> Staunen und Dankbarkeit<br />

erfüllen. Es ist ein berauschendes Erlebnis, Cola zu trinken, als wäre es<br />

das erste Mal, und beim Anblick von Toastbrot an den Rand eines Orgasmus<br />

zu geraten. Ich finde, das macht die ganzen Strapazen vorher erst rich-<br />

tig lohnenswert.<br />

Katz und ich kauften je zwei Eiersalat-Sandwiches, Kartoffelchips, Schokoriegel<br />

und Limonade und setzten uns hinters Haus an einen <strong>Picknick</strong>tisch,<br />

wo wir unsere Köstlichkeiten unter Ausrufen des Entzückens gierig schmatzend<br />

verspeisten, dann kehrten wir wieder zum Kühlschrank zurück, um<br />

noch ein bißchen mehr zu staunen. Das Walasi-Yi, stellte sich heraus, bietet<br />

echten Wanderern noch einigen Service – Waschmaschinen, Duschen,<br />

Handtuchverleih –, und wir machten kräftig Gebrauch von diesen Einrichtungen.<br />

Die Dusche war schon ziemlich betagt und nur ein dünnes Rinnsal,<br />

aber das Wasser war heiß, und ich muß sagen, ich habe noch nie eine Körperreinigung<br />

so sehr genossen wie diese. Mit tiefer Befriedigung beobachtete<br />

ich, wie der Schmutz von fünf Tagen meine Beine hinunterrann und im<br />

Abfluß versickerte, und ich stellte selbstverliebt fest, daß mein Körper<br />

merklich schlankere Konturen angenommen hatte. Wir wuschen zwei Maschinenladungen<br />

Wäsche, spülten unsere Becher, Teller, Töpfe und Pfannen,<br />

kauften verschiedene Postkarten, riefen zu Hause an und füllten unseren<br />

Proviant <strong>mit</strong> frischen und haltbaren Lebens<strong>mit</strong>teln aus dem Laden auf.<br />

Das Walasi-Yi wurde von einem Engländer namens Justin und seiner amerikanischen<br />

Frau Peggy geführt, <strong>mit</strong> denen wir im Laufe des Nach<strong>mit</strong>tags,<br />

während wir ständig rein- und rausgingen, ins Gespräch kamen. Peggy<br />

erzählte uns, sie hätten seit dem ersten Januar bereits tausend Wanderer zu<br />

Besuch gehabt, dabei stehe die eigentliche Wandersaison erst noch bevor.<br />

Die beiden waren ein freundliches Paar, und ich hatte den Eindruck, daß besonders<br />

Peggy ihre Zeit hauptsächlich da<strong>mit</strong> verbrachte, genervte Wanderer<br />

davon abzuhalten aufzugeben. Erst tags zuvor hatte ein junger Mann aus<br />

Surrey sie gebeten, ihm ein Taxi zu bestellen, das ihn nach Atlanta bringen<br />

sollte. Peggy hatte ihn fast dazu überredet durchzuhalten, es wenigstens<br />

noch eine Woche lang zu versuchen, aber zum Schluß war er zusammengebrochen,<br />

hatte still geweint und sie angefleht, ihn doch nach Hause gehen zu<br />

lassen.


Ich selbst verspürte dagegen zum ersten Mal den aufrichtigen Wunsch weiterzugehen.<br />

Die Sonne schien. Ich hatte mich frisch gemacht und eine Stärkung<br />

zu mir genommen, und wir hatten noch reichlich Proviant in unseren<br />

Rucksäcken. Ich hatte <strong>mit</strong> meiner Frau telefoniert, zu Hause war alles in<br />

Ordnung. Vor allem aber fühlte ich mich fit. Ich war mir sicher, daß ich<br />

einige Pfunde verloren hatte. Ich war bereit loszumarschieren. Katz strahlte<br />

ebenfalls vor Sauberkeit und sah auch schon etwas schmächtiger aus. Wir<br />

packten unsere Einkäufe auf der Terrasse zusammen, und im selben Moment<br />

fiel uns beiden zu unserer großen Freude und Erleichterung auf, daß<br />

Mary Ellen nicht mehr zu unserem Gefolge gehörte. Ich steckte noch mal<br />

den Kopf durch die Tür und fragte unsere Gastgeber, ob sie sie gesehen hätten.<br />

»Ach die? Ich glaube, die ist vor einer Stunde gegangen«, sagte Peggy.<br />

Die Sache wurde immer besser.<br />

Es war nach vier Uhr, als wir endlich loszogen. Justin hatte uns gesagt,<br />

ungefähr eine Stunde Fußmarsch von hier gäbe es eine Wiese, die sich ideal<br />

zum Zelten eignete. Jetzt, im warmen Sonnenlicht des späten Nach<strong>mit</strong>tags,<br />

sah der Trail einladend aus, die Bäume warfen lange Schatten, und man<br />

hatte einen weiten Blick über ein Flußtal hinweg auf wuchtige, anthrazitfarbene<br />

Berge. Die Wiese eignete sich tatsächlich ideal, um Station zu machen,<br />

Wir schlugen unsere Zelte auf und aßen die Sandwiches und Kartoffelchips<br />

und tranken die Säfte, die wir fürs Abendessen eingekauft hatten.<br />

Dann holte ich stolz, als hätte ich ihn selbst gebacken, mehrere Päckchen<br />

Napfkuchen von Hostess hervor. Meine kleine Überraschung.<br />

Katz’ Gesicht hellte sich auf, wie bei dem Geburtstagskind auf einem Gemälde<br />

von Norman Rockwell.<br />

»Oh, Mann!«<br />

»Little Debbies hatten sie leider nicht«, sagte ich entschuldigend.<br />

»He«, sagte er. »He.« Zu mehr war er nicht fähig. Katz liebte Kuchen.<br />

Wir teilten uns drei Napfkuchen und legten den letzten auf einen Baumstamm,<br />

wo wir ihn für später aufhoben und solange bewundern konnten.<br />

Wir fläzten uns ins Gras, <strong>mit</strong> dem Rücken an den Baumstamm gelehnt,<br />

verdauten, rauchten, fühlten uns ausgeruht und zufrieden, unterhielten uns<br />

mal ausnahmsweise - kurzum, es war so, wie ich es mir zu Hauseinmeinen<br />

optimistischen Vorstellungen ausgemalt hatte –, als Katz plötzlich leise<br />

aufstöhnte. Ich folgte seinem Blick und sah Mary Ellen, die forschen Schrittes,<br />

aus der falschen Richtung, den Pfad entlang auf uns zukam.<br />

»Ich habe mich schon gefragt, wo ihr beide abgeblieben seid«, schimpfte<br />

sie. »Ich muß sagen, ihr seid ja echt langsam. Wir hätten längst sieben Kilometer<br />

weiter sein können. Ich sehe schon, ich muß jetzt besser auf euch<br />

beide aufpassen. Ist das ein Napfkuchen von Hostess da vorne?« Bevor ich


etwas sagen konnte und bevor sich Katz einen Stock geschnappt hatte, um<br />

ihr den Schädel einzuschlagen, sagte sie: »Ich darf doch, oder?« und verschlang<br />

ihn <strong>mit</strong> zwei Bissen. Es vergingen einige Tage, bis Katz wieder<br />

lächelte.


5. Kapitel<br />

»Welches Sternzeichen bist du?« sagte Mary Ellen.<br />

»Cunnilingus«, sagte Katz und sah zutiefst unglücklich aus.<br />

Sie schaute ihn an. »Das kenne ich nicht.« Sie runzelte die Stirn, als wollte<br />

sie sagen: Ich freß’ ‘nen Besen, sagte aber statt dessen: »Dabei dachte ich,<br />

ich würde alle kennen. Ich bin Waage.« Sie wandte sich an mich. »Und<br />

du?«<br />

»Weiß ich nicht.« Ich versuchte mir etwas auszudenken. »Nekrophilie.«<br />

»Das kenne ich auch nicht. Wollt ihr mich vielleicht verarschen?«<br />

»Erraten.«<br />

Das war zwei Tage später. Wir campierten auf einem kleinen Plateau, Indian<br />

Grave Gap, zwischen zwei dumpfen Gipfeln – an den einen erinnerte ich<br />

mich nur noch schwach, der andere stand uns erst noch bevor. Wir hatten in<br />

48 Stunden 35 Kilometer zurückgelegt, eine ansehnliche Strecke für unsere<br />

Verhältnisse, aber eine ausgeprägte Lustlosigkeit, ein Gefühl der Enttäuschung,<br />

eine gewisse Bergmüdigkeit hatte sich unserer bemächtigt. Wir<br />

verbrachten unsere Tage genauso, wie wir sie immer verbracht hatten und<br />

auch in Zukunft verbringen würden: immer der gleiche Wanderpfad, die<br />

gleichen Hügel und Berge, der gleiche endlose Wald. Die Bäume standen so<br />

dicht, daß man fast nie einen Ausblick genießen konnte, und wenn, dann<br />

wieder nur auf endlose Hügelketten und noch mehr Bäume. Ich war schwer<br />

enttäuscht, als ich merkte, daß ich schon wieder alles madig machte und ich<br />

mich nach Weißbrot sehnte. Mary Ellen und ihr unentwegtes, erschreckend<br />

geistloses Geplapper kamen erschwerend hinzu.<br />

»Wann hast du Geburtstag?« fragte sie mich.<br />

»Am 8. Dezember.«<br />

»Also Jungfrau.«<br />

»Nein, Schütze.«<br />

»Ist ja auch egal.« Dann plötzlich: »Meine Güte, ihr beide stinkt zum Himmel.«<br />

»Na ja, man schwitzt kein Rosenwasser beim Wandern.«<br />

»Ich schwitze überhaupt nicht. Nie. Ich träume auch nicht.«<br />

»Jeder Mensch träumt«, sagte Katz.<br />

»Ich aber nicht.«<br />

»Nur Menschen <strong>mit</strong> ungewöhnlich geringer Intelligenz träumen nicht. Das<br />

ist wissenschaftlich erwiesen.«<br />

Mary Ellen sah ihn einen Moment lang ausdruckslos an, dann sagte sie<br />

plötzlich, ohne sich direkt an einen von uns zu wenden: »Habt ihr das schon<br />

mal geträumt? Also, man sitzt in der Klasse und so, und dann guckt man an<br />

sich runter und so, und man hat nichts an?« Sie schüttelte sich. »Das kann


ich nicht ab.«<br />

»Ich dachte, du träumst nicht«, sagte Katz.<br />

Sie starrte ihn wieder lange an, als überlegte sie, wo sie ihm schon mal<br />

begegnet war. »Und Fallen«, fuhr sie gelassen fort. »Den Traum hasse ich<br />

auch. Wie wenn man in ein Loch fällt und so, und man fällt und fällt.« Sie<br />

schnaubte wieder geräuschvoll, um den Druck in den Ohren loszuwerden.<br />

Katz musterte sie beiläufig interessiert. »Ich kenne jemanden, der hat das<br />

auch mal gemacht«, sagte er, »dabei ist ihm ein Auge rausgesprungen.«<br />

Sie sah ihn fragend an.<br />

»Es kullerte über den Wohnzimmerboden, und sein Hund hat es gefressen.<br />

Stimmt’s, <strong>Bryson</strong>?«<br />

Ich nickte.<br />

»Das hast du dir nur ausgedacht.«<br />

»Nein. Es ist über den Boden gekullert, und bevor er sich’s versah, hatte der<br />

Hund es <strong>mit</strong> einem Happen verschlungen.«<br />

Ich bestätigte das <strong>mit</strong> einem neuerlichen Nicken.<br />

Sie dachte minutenlang darüber nach. »Was hat dein Freund wegen der<br />

Augenhöhle gemacht? Hat er sich ein Glasauge gekauft, oder was?«<br />

»Das hatte er eigentlich vor, aber seine Familie war ziemlich arm. Er hatte<br />

sich einen Tischtennisball besorgt, eine Pupille drauf gemalt und ihn als<br />

Auge benutzt.«<br />

»Ihh«, sagte Mary Ellen leise.<br />

»Deswegen würde ich an deiner Stelle nicht ständig so schnauben.«<br />

Sie ließ sich das Gesagte wieder durch den Kopf gehen. »Ja, vielleicht hast<br />

du recht«, sagte sie und schnaubte.<br />

In den wenigen Momenten, die wir für uns hatten, wenn sich Mary mal zum<br />

Pinkeln in die Büsche verzog, hatten Katz und ich heimlich beschlossen,<br />

morgen die 22,5 Kilometer nach Dicks Creek Gap zu laufen, wo ein Highway<br />

kreuzte, der in die Stadt Hiawassee führte, 17,7 Kilometer weiter nördlich.<br />

Wir würden bis zum Gap wandern, und wenn wir am Ende tot umfielen;<br />

von da aus würden wir nach Hiawassee trampen, um dort zu Abend zu<br />

essen und uns in einem Motel einzumieten. Plan Nummer zwei sah vor,<br />

Mary Ellen zu töten und sich an ihren Honigpops gütlich zu tun.<br />

So kam es, daß wir am nächsten Tag wie die Soldaten marschierten, richtig<br />

marschierten, meine ich, und Mary Ellen <strong>mit</strong> unseren weit ausholenden<br />

Schritten in blankes Erstaunen versetzten. In Hiawassee sollte es ein Motel<br />

geben – Bettlaken! Dusche! Farbfernsehen! – und angeblich eine Auswahl<br />

von Restaurants. Dieser kleine Ansporn reichte, um uns einen Schritt<br />

schneller gehen zu lassen. Katz erlahmte nach einer Stunde, und ich war<br />

nach<strong>mit</strong>tags todmüde, aber wir hielten entschlossen durch. Mary Ellen fiel<br />

immer weiter zurück, bis sie sogar hinter Katz zurückblieb. Ein wahres


Wunder.<br />

Um vier Uhr trat ich erschöpft und erhitzt und <strong>mit</strong> einem von sandigen<br />

Schweißbächen gezeichneten Gesicht aus dem Wald und stieg die breite<br />

Böschung zum U.S. Highway 76 hoch, einem Asphaltband <strong>mit</strong>ten durch<br />

den Wald, und stellte befriedigt fest, daß die Straße mehrspurig war und wie<br />

eine wichtige Hauptverkehrsader aussah. Ein paar hundert Meter weiter<br />

befand sich eine kleine Lichtung und eine Auffahrt – Ausdruck von Zivilisation!<br />

–, bevor die Straße eine verlockende Kurve beschrieb. Mehrere<br />

Autos fuhren vorbei, als ich mich dort hinstellte.<br />

Katz torkelte ein paar Minuten später zwischen den Bäumen hervor. Mit<br />

seinem irren Blick und den zerzausten Haaren sah er verwegen aus, und ich<br />

hetzte ihn trotz seines wortreichen Widerspruchs, er müsse sich auf der<br />

Stelle hinsetzen, über die Straße. Ich wollte unbedingt ein Auto anhalten,<br />

bevor Mary Ellen auftauchte und alles wieder vermasselte. Ich wußte nicht<br />

wie, ich wußte nur, daß sie es schaffen würde.<br />

»Hast du sie gesehen?« fragte ich Katz besorgt.<br />

»Ganz weit hinter mir. Sie saß auf einem Stein, hatte die Schuhe ausgezogen<br />

und rieb sich die Füße. Sie sah ziemlich erledigt aus.«<br />

»Gut.«<br />

Katz pflanzte sich auf seinen Rucksack, schmutzig und erschöpft wie er<br />

war, und ich stellte mich neben ihn an die Böschung, hielt den Daumen<br />

raus, versuchte, uns als ehrbare und anständige Menschen zu verkaufen und<br />

schickte jedem Auto und jedem Pick-up, die an uns vorbeifuhren, im stillen<br />

eine Schimpfkanonade hinterher. Ich war seit 25 Jahren nicht mehr getrampt,<br />

und es war eine etwas demütigende Erfahrung. Die Autos rasten<br />

vorbei, unglaublich schnell, wie wir fanden, die wir jetzt im Wald hausten,<br />

und die Fahrer würdigten uns nicht mal eines Blickes. Ganz wenige näherten<br />

sich etwas langsamer, immer saßen ältere Herrschaften in den Wagen –<br />

kleine, weiße, gerade über Fensterhöhe ragende Köpfchen –, die uns ohne<br />

Mitgefühl ausdruckslos anstarrten, wie eine Herde Kühe auf der Weide. Es<br />

kam mir unwahrscheinlich vor, daß irgend jemand für uns anhalten würde.<br />

Ich hätte auch nicht für uns angehalten.<br />

Nachdem uns eine Viertelstunde lang ein Auto nach dem anderen verschmäht<br />

hatte, verkündete Katz verzagt: »Hier nimmt uns nie einer <strong>mit</strong>.«<br />

Er hatte natürlich recht, aber es ärgerte mich, daß er immer so schnell aufgab.<br />

»Kannst du nicht mal etwas mehr Optimismus ausstrahlen?« bat ich<br />

ihn.<br />

»Na gut, bin ich eben optimistisch. Aber ich bin absolut davon überzeugt,<br />

daß uns hier kein Mensch <strong>mit</strong>nimmt. Sieh uns doch nur an.« Er schnüffelte<br />

angeekelt unter seinen Achselhöhlen, »Ich stinke wie faule Eier.«<br />

Es gibt ein Phänomen, das sich »Trail Magic« nennt, das bei allen Wande-


ern des Appalachian Trail bekannt ist und von dem <strong>mit</strong> Ehrfurcht gesprochen<br />

wird. Man könnte es auch das Wunder des Zufalls nennen, jedenfalls<br />

besagt es, daß häufig dann, wenn es besonders finster aussieht, irgend etwas<br />

passiert, das einen wieder Licht am Ende des Tunnels sehen läßt. Bei uns<br />

war es ein kleiner Pontiac Trans Am, der vorbeiflog und dann 100 Meter<br />

weiter <strong>mit</strong> quietschenden Reifen und in eine Staubwolke gehüllt am Straßenrand<br />

zum Stehen kam. Es war so weit weg von der Stelle, wo wir standen,<br />

daß wir kaum glauben konnten, das Auto hielte wegen uns, aber dann<br />

wurde der Rückwärtsgang eingelegt, und es kam auf uns zu, fuhr halb auf<br />

der Böschung, halb auf der Straße, sehr schnell und in Schlangenlinien. Ich<br />

stand wie festgenagelt. Am Tag davor hatten uns ein paar erfahrene Wanderer<br />

berichtet, daß sich die Leute im Süden manchmal einen Spaß daraus<br />

machten, auf Tramper, die vom Appalachian Trail kamen, zuzurasen, um im<br />

letzten Moment auszuweichen, oder ihre Rucksäcke zu überfahren, und ich<br />

hatte plötzlich den Verdacht, daß es sich hierbei um solche Leute handelte.<br />

Ich wollte gerade in Deckung springen, und selbst Katz machte schon Ansätze,<br />

sich zu erheben, als das Auto röhrend und wieder <strong>mit</strong> viel aufgewirbeltem<br />

Staub ein paar Meter vor uns stehenblieb und eine junge Frau den<br />

Kopf aus dem Fenster der Beifahrertür , steckte.<br />

»Wollta <strong>mit</strong>komm’?« rief sie.<br />

»Klar, und wie«, sagten wir und benahmen uns wie zwei brave Kinder.<br />

Wir rannten <strong>mit</strong> unseren Rucksäcken zu dem Wagen, schauten durch die<br />

Fenster und sahen ein sehr hübsches, sehr glückliches, sehr betrunkenes<br />

junges Pärchen. Die beiden waren höchstens 18 oder 19 Jahre alt. Die Frau<br />

goß aus einer zu drei Viertel leeren Flasche Wild-Turkey-Whiskey zwei<br />

Plastikbecher randvoll. »Hü« sagte sie. »Kommt rein.«<br />

Wir zögerten. Der Wagen war fast bis unter die Decke <strong>mit</strong> Zeug vollgepackt,<br />

Koffer, Kartons, Plastiktüten, stapelweise Kleider auf Bügeln. Es war<br />

ohnehin ein kleines Auto – und schon für die beiden ziemlich eng.<br />

»Mach mal ein bißchen Platz für die Herren, Darren«, befahl die junge<br />

Frau, und fügte dann erklärend hinzu: »Das ist Darren.«<br />

Darren stieg aus, begrüßte uns grinsend, machte den Kofferraum auf und<br />

stierte <strong>mit</strong> leerem Blick hinein, bis sich allmählich die Erkenntnis in seinem<br />

Gehirn breitgemacht hatte, daß er ebenfalls picke packe voll war. Darren<br />

war dermaßen betrunken, daß ich für einen Augenblick dachte, er würde im<br />

Stehen einschlafen, aber er kam wieder zu sich, fand ein Stück Schnur und<br />

band unsere beiden Rucksäcke geschickt aufs Dach. Dann schob er, die<br />

energischen Ratschläge und Proteste seiner Freundin überhörend, das Zeug<br />

auf dem Rücksitz ein bißchen zusammen, bis ein schmaler Hohlraum geschaffen<br />

war, in den Katz und ich uns quetschten, während wir unter Geächz<br />

und Gestöhn Entschuldigungen und Gefühle größter Dankbarkeit zum


Ausdruck brachten.<br />

Die junge Frau hieß Donna, und die beiden waren unterwegs zu irgendeinem<br />

Ort <strong>mit</strong> einem gräßlichen Namen – Turkey Balls Falls oder Coon Slick<br />

oder so ähnlich, ungefähr achtzig Kilometer von hier, aber sie würden uns<br />

in Hiawassee absetzen, wenn wir vorher nicht alle tot im Straßengraben<br />

landeten. Darren raste <strong>mit</strong> 200 Stundenkilometern, nur einen Finger am<br />

Steuer, wippte dabei <strong>mit</strong> dem Kopf zu irgendeinem Rhythmus, während<br />

Donna sich umdrehte, um sich <strong>mit</strong> uns zu unterhalten. Sie war umwerfend<br />

hübsch, hinreißend hübsch.<br />

»Ihr müßt schon entschuldigen. Wir beide feiern gerade.« Sie hob ihren<br />

Plastikbecher hoch, wie um uns zuzuprosten.<br />

»Was wird denn gefeiert?« fragte Katz.<br />

»Wir wolln morgen heiraten«, verkündete sie stolz.<br />

»Nicht möglich«, sagte Katz. »Meinen Glückwunsch.«<br />

»Ja, ja. Darren macht eine anständige Frau aus mir.« Sie wuschelte in seinem<br />

Haar, beugte sich dann spontan zur Seite und gab ihm einen Kuß auf<br />

die Wange, der immer ausdauernder wurde, dann eindringlicher, dann eindeutig<br />

lüstern und seinen krönenden Abschluß in einem ruckartigen Vorstoß<br />

ihrer Hand an eine gewagte Stelle fand – jedenfalls vermuteten wir das,<br />

denn Darren stieß <strong>mit</strong> dem Kopf an die Decke und machte einen kurzen,<br />

nervenaufreibenden Ausflug auf die Gegenfahrbahn. Donna drehte sich<br />

daraufhin <strong>mit</strong> einem verträumten, unverfroren anzüglichen Grinsen zu uns<br />

um, als wollte sie sagen: Wer will als nächster? Es sah so aus, überlegten<br />

wir uns später, als hätte Darren alle Hände voll zu tun gehabt in dem Moment,<br />

aber wahrscheinlich lohnte sich die Mühe.<br />

»Wollt ihr was trinken?« bot sie plötzlich an, griff die Flasche am Hals und<br />

suchte den Boden nach Bechern ab.<br />

»Nein, danke«, sagte Katz. Es war eine Versuchung für ihn.<br />

»Komm schon«, ermunterte sie ihn.<br />

Katz hielt abwehrend die Hand hoch. »Ich bin geheilt.«<br />

»Wirklich? Wie schön für dich. Trink einen drauf.«<br />

»Nein, danke. Ich möchte nicht.«<br />

»Was ist <strong>mit</strong> dir?« sagte sie zu mir.<br />

»Nein, nein. Danke.« Ich hätte meine eingequetschten Arme sowieso nicht<br />

frei bekommen, selbst wenn ich gewollt hätte. Sie baumelten vor mir wie<br />

zwei schlaffe Gliedmaßen von einem Tyrannosaurus.<br />

»Du bist aber nicht geheilt, oder?«<br />

»Irgendwie schon.« Ich hatte beschlossen, für die Dauer unserer Tour aus<br />

Solidarität dem Alkohol zu entsagen.<br />

Sie sah uns an. »Seid ihr Mormonen oder so?«<br />

»Nein, nur Wanderer.«


Sie nickte bedächtig, gab sich da<strong>mit</strong> zufrieden und trank einen Schluck.<br />

Dann brachte sie Darren wieder an die Decke.<br />

Sie setzten uns vor Mull’s Motel in Hiawassee ab, einem altertümlichen,<br />

nichtssagenden Haus, das offenkundig keiner Hotelkette angeschlossen war<br />

und das an einer Straßenecke unweit des Stadtzentrums lag. Wir dankten<br />

den beiden überschwenglich, machten ein bißchen Getue wegen dem Benzingeld,<br />

das wir ihnen geben wollten, das sie aber hartnäckig ablehnten, und<br />

sahen ihnen hinterher, als Darren, wie von einem Raketenwerfer abgefeuert,<br />

auf die befahrene Straße glitt. Ich bildete mir ein, daß er sich gerade wieder<br />

den Kopf an der Decke stieß, als das Auto hinter einer kleinen Anhöhe<br />

verschwand.<br />

Dann standen wir <strong>mit</strong> unseren Rucksäcken allein da, auf dem leeren Parkplatz<br />

des Motels, in einer staubigen, verlorenen, sonderbaren Stadt im Norden<br />

von Georgia. Das Wort, das jedem Wanderer in den Sinn kommt, wenn<br />

er an Georgia denkt, heißt Deliverance (Beim Sterben ist jeder der Erste),<br />

der Titel des Romans von James Dickey, der später in Hollywood verfilmt<br />

wurde. Es geht darin, wie Sie sich vielleicht erinnern, um vier Männer in<br />

den besten Jahren aus Atlanta, die übers Wochenende eine Kanufahrt auf<br />

dem fiktiven Cahulawassee River machen (dessen Vorbild, der Fluß Chattooga,<br />

verläuft in der Nähe) und völlig aus der Bahn geworfen werden.<br />

»Hier hat jeder, den ich kennengelernt habe, in seiner Familie mindestens<br />

einen Verwandten im Gefängnis sitzen«, sagt eine der Figuren ahnungsvoll<br />

während der Hinfahrt. »Einige wegen Schwarzbrennerei, andere, weil sie<br />

das Zeug verhökern, aber die meisten sind wegen Mordes drin. Ein Menschenleben<br />

ist hier nicht viel wert.« Das erweist sich dann natürlich als<br />

zutreffend: Das muntere Quartett aus der Metropole wird nacheinander in<br />

den Arsch gefickt, von verrückten Hinterwäldlern gejagt und dann umgebracht.<br />

Am Anfang des Romans gibt es eine Stelle, da halten die vier unterwegs an<br />

und fragen »in einer verschlafenen, von einer seltenen Krankheit befallenen,<br />

häßlichen Stadt« nach dem Weg. Diese Stadt hätte gut und gern Hiawassee<br />

sein können. Das Buch spielt jedenfalls in diesem Teil des Bundesstaates,<br />

und der Film wurde auch in dieser Gegend gedreht. Der berühmte Banjo<br />

spielende Albino, der in dem Film »Dueling Banjos« anstimmt, wohnt angeblich<br />

in Clayton, das nicht weit weg liegt.<br />

Dickeys Buch hat bei seinem Erscheinen erwartungsgemäß heftige Kritik<br />

im Staat Georgia ausgelöst – ein Journalist meinte, es sei »die niederträchtigste<br />

Charakterisierung der Bergbewohner des Südens in der gesamten<br />

modernen Literatur«, was noch« eine Untertreibung ist –, aber es läßt sich<br />

nun einmal nicht leugnen, daß die Menschen seit 150 Jahren von den Bewohnern<br />

des nördlichen Georgia geradezu entsetzt sind. Ein Chronist des


19.Jahrhunderts beschreibt die Leute als »groß gewachsene, hagere, leichenähnliche<br />

Kreaturen, melancholisch und träge wie gekochter Kabeljau«.<br />

Andere machen großzügigen Gebrauch von Wörtern wie »verdorben«,<br />

»grob«, »unzivilisiert« und »zurückgeblieben«, um das abgeschiedene,<br />

ungebildete Völkchen in den tiefen, finsteren Wäldern und hoffnungslosen<br />

Städtchen Georgias zu beschreiben. Dickey, der selbst aus Georgia stammte<br />

und die« Gegend gut kannte, schwor Stein und Bein, daß es sich um eine<br />

zutreffende Beschreibung handelte.<br />

Vielleicht lag es an dem nachhaltigen Eindruck, den das Buch hinterlassen<br />

hatte, vielleicht einfach an der Tageszeit, vielleicht auch daran, daß es ungewohnt<br />

war, wieder in einer Stadt zu sein, jedenfalls hatte Hiawassee etwas<br />

spürbar Merkwürdiges und Beunruhigendes an sich. Es war ein Ort, in<br />

dem es einen nicht sonderlich erstaunt hätte, an einer Tankstelle das Benzin<br />

von einem Zyklopen gezapft zu bekommen. Wir betraten den Empfangsraum<br />

des Motels, der mich eher an ein kleines schmuddeliges Wohnzimmer<br />

und nicht an ein Büro erinnerte, und fanden eine alte Frau vor, <strong>mit</strong> wuscheligem,<br />

weißen Haar und einem hellen Baumwollkleid, die auf einem Sofa<br />

neben der Tür saß. Sie schien sich über unseren Besuch zu freuen.<br />

»Hi«, sagte ich. »Wir hätten gern ein Zimmer.«<br />

Die Frau grinste und nickte.<br />

»Eigentlich zwei Zimmer, wenn’s geht.«<br />

Die Frau grinste und nickte wieder. Ich wartete darauf, daß sie aufstand,<br />

aber sie rührte sich nicht.<br />

»Für heute«, sagte ich aufmunternd. »Sie vermieten doch Zimmer, oder<br />

nicht?« Ihr Grinsen erweiterte sich zu einem Strahlen, und sie nahm meine<br />

Hand und hielt sie fest, ihre Finger fühlten sich knochig und kalt an. Sie sah<br />

mir erwartungsvoll und eindringlich in die Augen, als hoffe sie, daß ich<br />

gleich ein Stöckchen werfen würde, das sie holen sollte.<br />

»Sag ihr, wir kämen aus der Wirklichkeit«, flüsterte mir Katz ins Ohr.<br />

Im selben Moment öffnete sich <strong>mit</strong> Schwung eine Tür, und eine grauhaarige<br />

Frau, die ihre Hände an einer Schürze abtrocknete, kam herein.<br />

»Es hat keinen Zweck, <strong>mit</strong> ihr zu reden«, sagte sie in freundlichem Tonfall.<br />

»Sie versteht nichts, und sie spricht nicht. Laß die Hand von dem Mann los,<br />

Mutter.« Die alte Frau strahlte sie an. »Du sollst die Hand von dem Mann<br />

loslassen!«<br />

Meine Hand wurde freigegeben, und wir mieteten zwei Zimmer. Wir zogen<br />

<strong>mit</strong> den Schlüsseln los und vereinbarten, uns in einer halben Stunde wieder<br />

zu treffen. Mein Zimmer war schlicht und schäbig, jede nur denkbare Oberfläche,<br />

einschließlich Toilettenbrille und Türschwelle, verzierten Brandlöcher,<br />

und Wände und Decke waren übersät <strong>mit</strong> Flecken, was den Gedanken<br />

nahelegte, daß hier ein Streit stattgefunden hatte, bei dem es offenbar um


Leben und Tod gegangen war und Unmengen heißen Kaffees eine Rolle<br />

gespielt haben mußten. Für mich jedenfalls war es das Paradies. Ich rief<br />

Katz an, aus purer Lust, mal wieder ein Telefon zu benutzen, und ich erfuhr,<br />

daß sein Zimmer noch schlimmer aussah. Wir waren hochzufrieden.<br />

Wir duschten, zogen die letzten frischen Klamotten an, die wir hatten und<br />

begaben uns erwartungsvoll in ein beliebtes, nahegelegenes Bistro, das sich<br />

Georgia Mountain Restaurant nannte. Auf dem Parkplatz standen lauter<br />

Pick-up-Trucks, und drinnen saßen lauter Fleischklöpse <strong>mit</strong> Baseballmützen<br />

auf dem Kopf. Wenn ich in die Menge gerufen hätte: »Telefon für dich,<br />

Bubba!« es wäre bestimmt jeder zweite aufgesprungen. Das Georgia Mountain<br />

verfügte nicht gerade über eine Küche, für die sich eine Anreise gelohnt<br />

hätte, nicht mal innerhalb der Stadtgrenzen von Hiawassee, aber dafür war<br />

das Essen einigermaßen billig. Für 5,50 Dollar bekam man »Fleisch plus<br />

drei« – die Zahl bezog sich auf die Beilagen –, einen Gang ans Salatbüffet<br />

und Nachtisch. Ich bestellte gebratenes Hühnchen, Erbsen, Röstkartoffeln<br />

und »Ruterbeggars« (gelbe Kohlrüben, die korrekterweise »Rutabagas«<br />

geschrieben werden wie auf der Speisekarte zu lesen war). Die hatte ich<br />

noch nie probiert und werde sie wohl auch so schnell nicht wieder probieren.<br />

Wir aßen schmatzend und <strong>mit</strong>« Lust und bestellten viel Eistee zum<br />

Runterspülen.<br />

Der Nachtisch war natürlich der Höhepunkt. Jeder Wanderer auf dem Trail<br />

träumt unterwegs von irgendeinem Gericht, meist etwas Süßem, Klebrigem.<br />

Die Phantasie, die mich am Laufen hielt, rankte sich um ein überdimensionales<br />

Stück Kuchen. Es hatte mich tagelang beschäftigt, und als die Kellnerin<br />

jetzt kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, bat ich sie <strong>mit</strong> einem fle<br />

henden Blick, wobei ich meine Hand auf ihren Unterarm legte, mir das<br />

größte Stück Kuchen zu bringen, das sie mir abschneiden konnte, ohne<br />

ihren Job zu riskieren. Sie brachte mir ein riesiges, pappiges, kanariengelbes<br />

Stück Zitronenkuchen. Es war ein wahres Monument der Lebens<strong>mit</strong>telindustrie,<br />

so knallgelb, daß man vom Anblick allein Kopfschmerzen bekam, so<br />

süß, daß es einem die Augäpfel in die Stirnhöhlen trieb – kurzum, es bot<br />

alles, was man von einem Kuchen dieser Sorte erwartete, solange man Geschmack<br />

und Qualität als Bewertungskriterien vernachlässigte. Ich wollte<br />

gerade herzhaft reinbeißen, als Katz sein langes Schweigen brach und <strong>mit</strong><br />

großer Nervosität in der Stimme sagte: »Weißt du, was ich die ganz Zeit<br />

mache? Ich gucke alle paar Minuten zur Tür, um zu sehen, ob Mary Ellen<br />

hereinkommt.«<br />

Ich hörte auf zu essen, die Gabel <strong>mit</strong> der fettglänzenden Masse auf halbem<br />

Weg zum Mund, und stellte <strong>mit</strong> beiläufigem Staunen, fest, daß sein Nachtischteller<br />

bereits leer war. »Du willst mir doch nicht weismachen, daß sie<br />

dir fehlt, Stephen?« sagte ich und schob die Gabel dahin, wo sie hingehörte.


»Nein«, sagte er sauer. Er fand meine Frage überhaupt nicht komisch. Er<br />

rang nach Worten, um seinen komplizierten Gefühlen Ausdruck zu geben.<br />

»Ich finde, wir haben sie irgendwie sitzengelassen«, platzte er schließlich<br />

heraus.<br />

Ich ließ mir den Vorwurf durch den Kopf gehen. »Eigentlich haben wir sie<br />

nicht irgendwie sitzengelassen. Wir haben sie sitzengelassen. Ganz einfach.«<br />

Ich war absolut nicht seiner Meinung. »Na und?«<br />

»Ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl – nur irgendwie –, weil wir sie<br />

allein, auf sich gestellt, im Wald zurückgelassen haben.« Dann verschränkte<br />

er die Arme, als wollte er da<strong>mit</strong> sagen: So, jetzt ist es raus.<br />

Ich legte die Gabel beiseite und überlegte. »Sie ist doch auch allein losgegangen«,<br />

sagte ich. »Wir sind nicht für sie verantwortlich. Wir haben keinen<br />

Vertrag abgeschlossen, nach dem wir uns um sie zu kümmern hätten.«<br />

Noch während ich das sagte, wurde mir <strong>mit</strong> schrecklicher, zunehmender<br />

Deutlichkeit klar, daß er recht hatte. Wir hatten Mary Ellen abgehängt und<br />

sie den Bären, Wölfen und geil lechzenden Bergbewohnern überlassen. Ich<br />

war dermaßen <strong>mit</strong> meiner eigenen wilden Gier nach Essen und einem richtigen<br />

Bett beschäftigt gewesen, daß mir nicht in den Sinn gekommen war,<br />

was unser plötzliches Verschwinden für sie bedeuten würde – eine Nacht<br />

allein zwischen rauschenden Bäumen, umgeben von Finsternis, die Ohren<br />

gezwungenermaßen gespitzt, auf das vielsagende Knacken eines Astes oder<br />

Zweiges unter einem schweren Fuß oder einer Tatze lauschend. So etwas<br />

gönnte ich keinem Menschen. Mein Blick fiel auf meinen Kuchen, und ich<br />

merkte, daß mir der Appetit vergangen war. »Vielleicht hat sie jemand anderen<br />

gefunden, <strong>mit</strong> dem sie ihr Lager teilen kann«, erwiderte ich lahm und<br />

schob den Teller von mir weg.<br />

»Bist du heute unterwegs irgend jemandem begegnet?«<br />

Er hatte recht. Wir hatten fast keine Menschenseele gesehen.<br />

»Wahrscheinlich ist sie jetzt immer noch unterwegs«, sagte Katz <strong>mit</strong> einer<br />

Spur plötzlicher Aufregung. »Und fragt sich, wo wir beide bloß abgeblieben<br />

sind. Scheißt sich vor Angst in ihren Breitwandarsch.«<br />

»Hör auf«, bat ich ihn mißgelaunt und schob den Teller <strong>mit</strong> dem Kuchen<br />

zerstreut noch ein Stück weiter von mir.<br />

Er nickte, ein nachdrückliches, eifriges, selbstgerechtes Nicken und sah<br />

mich <strong>mit</strong> einer seltsam strahlenden Miene an, die besagte: Und wenn sie<br />

stirbt, dann geht das auf deine Kappe. Er hatte recht. Ich war der Rädelsführer<br />

in dieser Sache gewesen. Es war meine Schuld.<br />

Dann beugte er sich weiter vor und sagte in einem völlig veränderten Tonfall:<br />

»Wenn du den Kuchen nicht mehr ißt – darf ich ihn dann haben?«<br />

Am nächsten Morgen frühstückten wir gegenüber bei Hardees und ließen


uns danach von einem Taxi an den Trail fahren. Von Mary Ellen war nicht<br />

mehr die Rede, wir redeten überhaupt nicht viel. Wenn wir einen Tag lang<br />

die Annehmlichkeiten einer Stadt genossen hatten, waren wir bei der Rückkehr<br />

zum Appalachian Trail immer mundfaul.<br />

Es erwartete uns gleich ein steiler Anstieg, und wir gingen langsam, fast<br />

behutsam. Der erste Tag nach einer längeren Unterbrechung war immer<br />

schrecklich für mich. Für Katz dagegen war jeder Tag schrecklich. Mochte<br />

ein Stadtbesuch noch so erholsame Wirkung zeitigen, unterwegs verflüchtigte<br />

sie sich erstaunlich schnell. Nach zwei Minuten war es, als wären wir<br />

nie weg gewesen – eigentlich sogar noch schlimmer, weil man an einem<br />

normalen Wandertag nicht <strong>mit</strong> einem schweren, fettreichen Hardees-<br />

Frühstück im Bauch einen steilen Berg hinaufkraxeln würde, das einem<br />

jederzeit aus dem Gesicht zu fallen drohte.<br />

Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als uns ein Wanderer entgegenkam,<br />

ein ziemlich sportlicher Mann <strong>mit</strong>tleren Alters. Wir erkundigten<br />

uns, ob er einer Frau namens Mary Ellen begegnet sei, rote Jacke, etwas<br />

lautes Stimmorgan.<br />

Er zog ein Gesicht, als könnte er sich an eine solche Person erinnern, und<br />

sagte: »Ist das die Frau – ich will nicht unhöflich erscheinen – aber macht<br />

die immer so?« und er hielt sich die Nase zu und schnaubte ein paarmal<br />

hintereinander geräuschvoll.<br />

Heftiges Kopfnicken unsererseits.<br />

»Ja. Ich habe gestern abend <strong>mit</strong> ihr und noch zwei anderen Männern in der<br />

Plumorchard-Gap-Schutzhütte übernachtet.« Er sah uns mißtrauisch von der<br />

Seite an. »Ist das eine Freundin von euch?«<br />

»Nein, nein«, erwiderten wir, verleugneten sie nach Kräften, was jeder<br />

vernünftige Mensch getan hätte. »Sie hatte sich uns für ein paar Tage angeschlossen.«<br />

Er nickte verständnisvoll, dann grinste er. »Sie ist ein harter Brocken, was?«<br />

Wir grinsten ebenfalls. »War es so schlimm?« sagte ich.<br />

Er zog ein Gesicht, das höllische Qualen ausdrückte, dann schaute er plötzlich<br />

so, als würde er sich einen Reim auf etwas machen. »Ach, dann seid ihr<br />

die beiden, über die sie gesprochen hat.«<br />

»Hat sie wirklich über uns gesprochen?« sagte Katz. »Was hat sie denn<br />

gesagt?«<br />

»Ach, nichts weiter«, antwortete er und verkniff sich ein Lachen, das einem<br />

die nächste Frage abnötigte. »Was hat sie gesagt?«<br />

»Nichts. Es war nichts.« Er lachte immer noch.<br />

»Was denn nun?«<br />

Er war unschlüssig. »Na gut. Sie hat gesagt, ihr beide wärt zwei fettleibige<br />

Nieten, die keine Ahnung vom Wandern hätten, und daß sie keine Lust


mehr hätte, euch an die Hand zu nehmen.«<br />

»Das hat sie gesagt?« fragte Katz empört nach.<br />

»Ich glaube, sie hat euch sogar Schlappschwänze genannt.«<br />

»Schlappschwänze?« wiederholte Katz. »Jetzt hätte ich erst recht Lust, sie<br />

umzubringen.«<br />

»Es dürfte kein Problem sein, dafür Helfer zu finden«, sagte der Mann geistesabwesend,<br />

betrachtete kritisch den Himmel und fügte noch hinzu: »Es<br />

soll Schnee geben.«<br />

Ich stöhnte kurz auf. Das hatte uns gerade noch gefehlt. »Wirklich? Viel?«<br />

Er nickte. »15 bis 20 Zentimeter. Aber nur in den oberen Kammlagen.« Er<br />

zog gleichmütig die Augenbrauen hoch, wie zur Bestätigung meiner genervten<br />

Reaktion. Schnee war nicht nur abschreckend, Schnee war gefährlich.<br />

Er hing einen Augenblick der trüben Aussicht nach, dann sagte er: »Dann<br />

wollen wir mal wieder. Immer in Bewegung bleiben.« Ich nickte verständnisvoll.<br />

Dazu waren wir ja in den Bergen, um weiterzugehen, immer in<br />

Bewegung zu bleiben. Ich sah ihm nach und wandte mich Katz zu, der<br />

kopfschüttelnd dastand.<br />

»Stell dir vor, so was sagt die über uns, nach allem, was wir für sie getan<br />

haben«, meinte er. Dann merkte er, daß ich ihn wütend anstarrte, und er<br />

preßte sich ein mühsames »Was ist?« heraus, und dann noch gepreßter:<br />

»Was ist?«<br />

»Wehe, du vermiest mir noch einmal ein Stück Kuchen. Dann kannst du<br />

was erleben.«<br />

Er zuckte <strong>mit</strong> den Schultern. »Na gut, in Ordnung. Meine Güte«, sagte er<br />

und trottete weiter.<br />

Ein paar Tage später erfuhren wir, daß Mary Ellen aus dem Rennen war. Sie<br />

hatte sich bei dem Versuch, 56 Kilometer in zwei Tagen zurückzulegen,<br />

Blasen gelaufen. Schwerer Fehler.


6. Kapitel<br />

Geht man zu Fuß durch die Welt, nimmt man Entfernungen vollkommen<br />

anders wahr. Ein Kilometer ist ein Spaziergang, zwei Kilometer sind ein<br />

weiter Weg, zehn Kilometer ein ordentlicher Marsch, und 50 Kilometer<br />

hegen fast jenseits der Vorstellungskraft. Die Welt wird, das merkt man<br />

schnell, zu einem Riesenreich, das nur Sie und die kleine Schar Ihrer Mitwanderer<br />

kennen. Globales Denken heißt Ihr kleines Geheimnis.<br />

Außerdem ist das Leben einfach und geregelt. Zeit hat nicht die geringste<br />

Bedeutung mehr. Wenn es dunkel wird, legt man sich schlafen, wenn es hell<br />

wird, steht man auf, und alles, was dazwischen liegt, ist das, was dazwischen<br />

liegt. Mehr nicht. Es ist herrlich. Wirklich, glauben Sie mir. Man hat<br />

keine Termine, keine Bindungen, keine Verpflichtungen und keine Aufgaben,<br />

man hat auch keine besonderen Ambitionen, man hat nur die kleinsten,<br />

schlichtesten Wünsche, die sich leicht erfüllen lassen. Man existiert in einem<br />

Zustand der gelassenen Langeweile, der keine Aufgeregtheit etwas<br />

anhaben kann, »endlos fern von den Stätten des Streits«, wie es einer der<br />

früheren Forscher und Pflanzenkundler, William Bartram, ausdrückte. Das<br />

einzige, was einem abverlangt wird, ist die Bereitschaft weiterzutrotten.<br />

Eile ist völlig fehl am Platz, weil man nirgendwo hin muß. Egal, wie weit<br />

oder lange man wandert, man ist immer am gleichen Ort, im Wald. Da war<br />

man gestern, und da wird man morgen wieder sein. Der Wald ist grenzenlos<br />

in seiner Einzigartigkeit. Hinter jeder Wegbiegung eröffnet sich ein Ausblick,<br />

der sich von allen vorherigen nicht unterscheidet, und ein Blick in die<br />

Baumkronen bietet immer das gleiche Gewirr. Es könnte passieren, daß<br />

man sinnlos im Kreis geht, man würde es nicht merken. Aber eigentlich<br />

wäre das auch egal.<br />

Es gibt Momente, da ist man sich fast sicher, diesen einen Hügel vor drei<br />

Tagen schon mal hinaufgekraxelt zu sein, jenen Bach gestern schon mal<br />

überquert zu haben, und über diesen gestürzten Baum heute mindestens<br />

schon zweimal gestiegen zu sein, aber meistens kommt man gar nicht zum<br />

Denken. Es hat keinen Sinn. Statt dessen befindet man sich in einem Zustand,<br />

den man als Zen der Bewegung bezeichnen könnte. Der Verstand ist<br />

wie ein Fesselballon <strong>mit</strong> Seilen angebunden und begleitet den restlichen<br />

Körper nur, ist aber kein Teil von ihm. Das stundenlange, kilometerweite<br />

Gehen wird zu einer automatischen Angelegenheit, es geschieht fast ohne<br />

daß man es bemerkt, wie das Atmen. Am Ende des Tages denkt man nicht:<br />

»Mensch, heute habe ich 25 Kilometer geschafft«, genauso wenig wie man<br />

denkt: »Heute habe ich achttausendmal ein- und ausgeatmet.« Man macht<br />

es einfach. Punkt.<br />

Und so marschierten wir also, Stunde um Stunde, über Hügel und Berge,


wie auf einer Achterbahn, messerscharfe Kämme entlang und über grasbewachsene<br />

Kuppen, durch unermeßlich tiefe Wälder – Eiche, Esche, Kastanie<br />

und Fichte. Der Himmel wurde düsterer und die Luft kühler, aber erst<br />

am dritten Tag setzte der Schneefall ein. Es fing morgens an, <strong>mit</strong> einzelnen<br />

hauchzarten« Flocken, kaum wahrnehmbar. Dann kam Wind auf, und noch<br />

mehr Wind, bis er <strong>mit</strong> einer das Weltende ankündigenden Macht wehte, die<br />

selbst die Bäume in Angst und Schrecken versetzte. Mit dem Wind kam der<br />

Schnee, riesige Mengen. Um die Mittagszeit mußten wir gegen einen kalten,<br />

scharfen, wütenden Sturm ankämpfen, und kurz danach gelangten wir<br />

an ein schmales Gesims, über das der Weg eine Felswand entlang führte,<br />

Big Butt Mountain.<br />

Selbst bei idealen Wetterbedingungen erfordert der Pfad um den Big Butt<br />

viel Vorsicht und Geschick. Er sieht aus wie eine Fensterbank an einem<br />

Hochhaus, ist knapp 40 Zentimeter breit, an manchen Stellen bröckelig, zur<br />

einen Seite tut sich ein jäher Abgrund von etwa 25 Meter auf, zur anderen<br />

ragt eine bedrohlich steile Granitwand auf. Ein paarmal trat ich fußgroße<br />

Steinbrocken los und sah <strong>mit</strong> lähmendem Entsetzen, wie sie in die tiefsten<br />

Tiefen hinunterkrachten, ihren ewigen Ruhestätten entgegen. Der Pfad war<br />

<strong>mit</strong> Steinen gepflastert, durchwirkt von mäandernden Baumwurzeln, gegen<br />

die man fortwährend stieß oder über die man stolperte, und die, verdeckt<br />

unter einer Schicht Pulverschnee, von einer spiegelblanken Eisschicht überzogen<br />

waren. In häufigen, ermüdenden Abständen wurde der Weg von<br />

tiefen Bächen <strong>mit</strong> steinigem Grund gekreuzt, die zugefroren und vom Eis<br />

wie geriffelt waren und die man nur auf allen vieren überqueren konnte.<br />

Während der ganzen Zeit, in der wir diese irrsinnig schmale, gefährliche<br />

Kante entlanggingen, waren wir vom Schneegestöber wie geblendet und<br />

wurden von Windböen, die zwischen den schwankenden Bäumen pfiffen<br />

und uns an den Rucksäcken packten, beinahe umgestoßen. Das war kein<br />

Schneesturm, das war ein Schneegewitter. Wir kamen nur <strong>mit</strong> äußerster<br />

Behutsamkeit vorwärts, setzten den führenden Fuß erst ganz auf, bevor wir<br />

den hinteren hoben. Dennoch stieß Katz zweimal aus tiefster Seele comichafte<br />

Schreckenslaute von sich – Neihhhn! und Buahhh! –, als er nämlich<br />

den Halt verlor und ich mich umdrehte und sah, daß er <strong>mit</strong> angstgeweiteten<br />

Augen einen Baum umklammert hielt und <strong>mit</strong> strampelnden Füßen halb in<br />

der Luft hing.<br />

Es war nervenaufreibend. Wir brauchten zwei Stunden für 100 Meter. Als<br />

wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, in Bearpen Gap,<br />

lag der Schnee über zehn Zentimeter hoch, und es schneite immer noch. Die<br />

ganze Welt war weiß und voller münzengroßer Flocken, die schräg zur Erde<br />

fielen, bevor sie vom Wind aufgewirbelt und in alle Richtungen verweht<br />

wurden. Die Sichtweite betrug knapp fünf Meter, häufig nicht einmal das.


Der Pfad kreuzte eine Forststraße und führte dann direkt den Albert Mountain<br />

hinauf, einem steinigen Gipfel, 1.600 Meter über dem Meeresspiegel.<br />

Unten wehte ein heftiger und wütender Wind, der <strong>mit</strong> ohrenbetäubendem<br />

Sausen auf den Berg traf, so daß wir uns anbrüllen mußten, um uns zu verständigen.<br />

Wir kletterten ein Stück weit hinauf und zogen uns schleunigst<br />

wieder zurück. Mit einem schweren Rucksack hat man bestenfalls keinen<br />

richtigen Schwerpunkt, aber wir wurden hier beinahe im wahrsten Sinne des<br />

Wortes vom Winde verweht. Verwirrt standen wir am Fuß des Gipfels und<br />

sahen uns an. Es war wirklich eine prekäre Lage. Wir saßen fest zwischen<br />

einem Berg, den wir nicht erklimmen konnten, und einem Sims, über das<br />

wir auf keinen Fall zurückgehen wollten. Die einzige Möglichkeit, die uns<br />

< blieb, war, unsere Zelte aufzuschlagen – wenn das bei dem Wind überhaupt<br />

möglich war –, hineinzukriechen und das Beste zu hoffen. Ich will<br />

nicht übertreiben, aber es sind schon Menschen unter weniger dramatischen<br />

Umständen umgekommen.<br />

Ich setzte meinen Rucksack ab und suchte die Wanderkarte. Die Karten für<br />

den Appalachian Trail sind dermaßen unbrauchbar, daß ich längst aufgegeben<br />

hatte, sie zu Rate zu ziehen. Es gibt Unterschiede, aber die meisten sind<br />

unergründlicherweise im Maßstab l: 100.000 gezeichnet, wodurch 1.000<br />

Meter im Gelände auf der Karte zu einem einzigen Zentimeter schrumpfen.<br />

Stellen Sie sich einen Quadratkilometer Landschaft vor, und dazu alles, was<br />

sich auf dem Gebiet befindet – Forstwege, Bäche, ein oder zwei Gipfel,<br />

vielleicht ein Feuerwachturm, eine Kuppe, ein« grasbewachsene kahle Erhebung,<br />

der Appalachian Trail, und möglicherweise noch ein oder zwei<br />

Nebenwanderwege –, und nun versuchen Sie mal, diese ganze Information<br />

auf einer Fläche von der Größe eines Fingernagels unterzubringen. So sind<br />

die Karten für den AT.<br />

Eigentlich ist es sogar noch schlimmer, denn die AT-Karten sind aus mir<br />

völlig unverständlichen Gründen viel unvollständiger in den Details, als<br />

nach dem ohnehin dürftigen Maßstab nötig wäre. Von den zwölf oder noch<br />

mehr Gipfeln, die man auf zehn bis 15 Kilometern des Weges überquert,<br />

benennt die Karte vielleicht gerade mal drei. Täler, Seen, Schluchten, Bäche<br />

und andere wichtige, möglicherweise lebenswichtige topographische Merk-<br />

male bleiben notorisch unbezeichnet. Die Straßen und Wege des Forest<br />

Service sind oft nicht eingezeichnet, und wenn doch, dann sind sie uneinheitlich<br />

dargestellt. Selbst Nebenwege werden häufig ausgelassen. Es gibt<br />

keine Koordinaten und so<strong>mit</strong> keine Möglichkeit, im Notfall Retter an eine<br />

bestimmte Stelle zu dirigieren, und es finden sich keine Hinweise auf Städte,<br />

die un<strong>mit</strong>telbar jenseits des Kartenrandes liegen. Mit einem Wort, die<br />

AT-Karten sind absolut untauglich.<br />

Unter normalen Umständen wäre das nur ärgerlich. Jetzt aber, in einem


Schneesturm, grenzte es an Fahrlässigkeit. Ich zerrte die Karte aus meinem<br />

Rucksack und mußte schwer gegen den Wind ankämpfen, um einen Blick<br />

auf sie werfen zu können. Der Weg war als rote Linie eingezeichnet. In<br />

ihrer Nähe befand sich eine dicke schwarze Linie, die nach meiner Einschätzung<br />

der Forstweg des Forest Service sein mußte, neben dem wir standen,<br />

aber das ließ sich nicht <strong>mit</strong> letzter Sicherheit sagen. Nach der Karte zu<br />

urteilen, fing der Forstweg, wenn es denn einer war, <strong>mit</strong>ten im Wald an und<br />

endete nach ungefähr zehn Kilometern ebenfalls <strong>mit</strong>ten im Wald, was nun<br />

wirklich eindeutig unsinnig war, ja unmöglich. Eine Straße kann schlecht<br />

<strong>mit</strong>ten im Nichts anfangen, die Straßenbaumaschinen fallen ja nicht vom<br />

Himmel. Und selbst wenn man eine Straße baute, die ins Nichts führte –<br />

wieso? Irgend etwas war faul an dieser Karte.<br />

»Hat mich elf Dollar gekostet«, sagte ich zu Katz und wedelte ihm dabei<br />

wütend <strong>mit</strong> der Karte vor der Nase herum, faltete sie dann wieder einigermaßen<br />

flach zusammen und steckte sie in die Tasche.<br />

»Was sollen wir machen?« fragte er.<br />

Ich seufzte unsicher, zog dann wieder die Karte hervor und studierte sie<br />

noch mal. Ich schaute von der Karte hoch auf den Forstweg und wieder<br />

zurück. »Es sieht so aus, als würde der Forstweg um den Berg herumführen<br />

und auf der anderen Seite wieder auf den Wanderweg stoßen. Wenn das<br />

stimmt – und wenn Wir ihn finden, dann könnten wir zu der Schutzhütte<br />

gehen, die sich an der Stelle befindet. Und wenn wir nicht auf den Weg<br />

stoßen – ich weiß nicht – ich finde, dann sollten wir den Forst-Weg lieber<br />

bergab gehen und uns auf niedrigerer Höhe einen windgeschützten Platz<br />

zum Zelten suchen.« Ich zuckte hilflos <strong>mit</strong> den Achseln. »Ich weiß auch<br />

nicht. Was meinst du?«<br />

Katz sah in den Himmel, beobachtete die tanzenden Schneeflocken. »Also<br />

wenn du mich fragst«, sagte er nachdenklich, »ich» würde mich jetzt gern<br />

lange und ausgiebig in einem Whirlpool rekeln. Danach hätte ich gern ein<br />

saftiges Steak, dazu eine Folienkartoffel <strong>mit</strong> viel Sahnesoße, becherweise<br />

Sahnesoße, und dann eine heiße Nacht <strong>mit</strong> den Cheerleadern der Dallas<br />

Cowboys auf einem Tigerfell vor einem knisternden Kaminfeuer, so einem<br />

riesigen Kamin aus Stein, wie sie immer in den Skihotels stehen. Weißt du,<br />

welche ich meine?« Er sah mich fragend an. Ich nickte. »Also, das würde<br />

ich jetzt machen. Aber wenn du meinst, das, was du vorschlägst, würde<br />

mehr Spaß machen, bin ich gerne bereit, darauf einzugehen.« Er zupfte sich<br />

eine Schneeflocke von der Augenbraue. »Außerdem wäre es schade, wenn<br />

wir diesen ganzen herrlichen Schnee verpassen würden.« Er stieß ein kurzes,<br />

bitteres Lachen aus und wandte sich wieder dem irren Schneetreiben<br />

zu. Ich setzte meinen Rucksack auf und folgte ihm.<br />

Wir stapften den Forstweg hoch, tiefer gebeugt, vom Wind gepeitscht. An


den Stellen, wo der Schnee liegenblieb, war er naß und schwer und türmte<br />

sich immer höher, so daß es bald unmöglich sein würde weiterzugehen und<br />

wir Schutz suchen mußten, ob wir wollten oder nicht. Es gab nichts, wo<br />

man ein Zelt hätte aufschlagen können, bemerkte ich <strong>mit</strong> Besorgnis, zu<br />

beiden Seiten nur steiler, bewaldeter Hang. Über eine lange Strecke, länger<br />

als er laut Karte sein sollte, verlief der Forstweg schnurgerade, selbst wenn<br />

er weiter vorn auf den Wanderweg abbog, gab es keine Gewißheit – nicht<br />

mal eine Wahrscheinlichkeit –, daß wir den Trail auch tatsächlich finden<br />

würden. Mitten im Wald und bei dem Schnee konnte man wenige Meter<br />

neben dem Trail stehen und ihn trotzdem nicht sehen. Es wäre der reine<br />

Wahnsinn gewesen, den Forstweg zu verlassen und den Wanderweg zu suchen.<br />

Andererseits war es wahrscheinlich genauso wahnsinnig, dem Forstweg<br />

bei Schneesturm bis in höchste Lagen zu folgen.<br />

Ganz allmählich, und schließlich deutlich erkennbar, fing der Weg an, um<br />

den Berg herum zu führen. Nachdem wir uns ungefähr eine Stunde lang<br />

schwerfällig durch immer tieferen Schnee vorgearbeitet hatten, kamen wir<br />

an eine flache Stelle, wo der Wanderweg – jedenfalls irgendein Wanderweg<br />

– auf der Rückseite des Albert Mountain auftauchte und weiter in ein ebenes<br />

Waldgebiet führte. Ich sah verdutzt und wütend auf meine Karte. Sie<br />

enthielt keinerlei Hinweis auf diese Stelle, aber dann entdeckte Katz eine -<br />

weiße Markierung 15 Meter weiter zwischen den Bäumen, und wir schrien<br />

vor Freude. Wir hatten den Appalachian Trail wiedergefunden. Nur ein paar<br />

hundert Meter weiter befand sich eine Schutzhütte. Der Wandergott war uns<br />

noch einmal gnädig gewesen.<br />

Der Schnee reichte uns schon bis zu den Knien, und wir waren müde. Wir<br />

staksten durch die weiße Pracht, so gut es ging, und Katz schrie noch einmal<br />

vor Freude auf, als wir an ein Hinweisschild kamen, das an einem Ast<br />

befestigt war und auf einen Weg zum Big Spring Shelter hinwies. Die<br />

Schutzhütte, eine einfache Holzkonstruktion, zu einer Seite offen, stand auf<br />

einer verschneiten Lichtung, einem traumhaften Winterwunderland, gut 100<br />

Meter neben dem Hauptwanderweg. Selbst aus der Entfernung konnten wir<br />

erkennen, daß die offene Seite dem Wind zugekehrt war und daß eine<br />

Schneewehe bis zum Rand des Schlafpodestes reichte. Wenn schon nicht<br />

mehr, dann bot die Hütte wenigstens eine Zuflucht.<br />

Wir überquerten die Lichtung, setzten unsere Rucksäcke auf dem Podest ab<br />

und sahen im selben Moment, daß noch zwei andere Menschen da waren –<br />

ein Mann und ein etwa 14 Jahre alter Junge. Jim und Heath, Vater und<br />

Sohn, kamen aus Chattanooga, und die beiden waren gutgelaunt, freundlich<br />

und ließen sich nicht im mindesten von dem Wetter abschrecken. Sie seien<br />

nur für eine Wochenendtour hergekommen, sagten sie uns (ich hatte gar<br />

nicht gemerkt, daß Wochenende war), und wußten, daß das Wetter schlimm


werden würde, deswegen waren sie entsprechend ausgerüstet. Jim hatte eine<br />

große Plastikfolie gekauft, <strong>mit</strong> der sonst Maler den Boden auslegen, und<br />

versuchte gerade, da<strong>mit</strong> die offene Vorderfront abzudichten. Katz eilte zur<br />

Hilfe, was ganz untypisch für ihn war. Die Plastikfolie reichte nicht, aber<br />

dann fanden wir heraus, daß sie, verknüpft <strong>mit</strong> einem unserer Zeltböden,<br />

doch die gesamte Front abdeckte. Der Wind brauste hart gegen die Folie,<br />

und gelegentlich riß sie sich teilweise los, dann flatterte und knatterte sie,<br />

klatschte zurück, was sich wie ein Pistolenschuß anhörte, bis einer von uns<br />

aufsprang und sie unter Mühen wieder festband. Die ganze Schutzhütte war<br />

sowieso unglaublich zugig, in den seitlichen Holzplanken und den Bodendielen<br />

waren Risse, durch die eisiger Wind pfiff und ab und zu eine<br />

Schneeböe; trotzdem war es natürlich viel gemütlicher als draußen.<br />

Wir schufen uns ein kleines Zuhause, breiteten unsere Isomatten und<br />

Schlafsäcke aus, zogen alle Ersatzkleider an, die wir dabeihatten und bereiteten<br />

unser Essen im Liegen zu. Sehr bald setzte die Dämmerung ein, die<br />

die Wildnis draußen noch undurchdringlicher erscheinen ließ. Jim und<br />

Heath hatten Schokoladenkuchen dabei, den sie <strong>mit</strong> uns teilten (ein himmlisches<br />

Vergnügen), danach richteten wir vier uns auf eine lange, kalte Nacht<br />

auf hartem Holzboden ein und lauschten dem geisterhaften Wind und seinem<br />

wütenden Zerren an den Ästen.<br />

Als ich aufwachte, herrschte reine Stille um mich herum, eine Stille, die<br />

einen zwingt, sich aufzurichten und sich erstmal zu orientieren. Die Plastikfolie<br />

vor mir war ungefähr ein Fußbreit hochgeschlagen, und ein schwaches<br />

Licht erfüllte den Raum dahinter. Der Schnee reichte fast bis zum Podest<br />

und lag am Fußende meines Schlafsacks ein paar Zentimeter hoch. Ich bewegte<br />

die Beine und schüttelte ihn da<strong>mit</strong> ab. Jim und Heath rumorten bereits.<br />

Katz schlief noch tief und fest, einen Arm quer über der Stirn, den<br />

Mund weit aufgerissen, wie ein großes Loch. Es war noch keine sechs Uhr.<br />

Ich beschloß aufzustehen und das Gelände zu erkunden, um zu sehen, ob<br />

wir nicht etwa in einer Falle saßen. Am Rand des Podestes zögerte ich, dann<br />

sprang ich hinunter in die Schneeverwehung – sie reichte mir bis zur Taille,<br />

und meine Augen weiteten sich vor Schreck, als der Schnee ins Hosenbein<br />

geriet und auf die nackte Haut kam – und kämpfte mich vor bis zur Lichtung,<br />

wo der Schnee nicht ganz so tief war. Selbst an geschützten Stellen,<br />

unter einem Dach aus Nadelbäumen, lag der Schnee kniehoch, und es war<br />

mühsam, sich einen Weg zu bahnen. Der Anblick war trotzdem überwältigend.<br />

Jeder Baum trug einen dicken weißen Pelz, jeder Stumpf und Stein<br />

ein flottes Schneehütchen, und es herrschte jene phantastische Stille, die<br />

sich nur in einem großen verschneiten Wald einstellt. Hier und da plumpsten<br />

Schneeklumpen von den Zweigen, aber sonst gab es kein Geräusch und<br />

keine Bewegung. Ich folgte dem Seitenweg unter den schwer beladenen,


tiefhängenden Ästen bis zu der Kreuzung, an der er auf den Trail traf. Der<br />

AT lag unter einer dicken Schneedecke, rundlich und bläulich, ein langes,<br />

schummriges Gewölbe aus Rhododendren. Das sah nach einem höchst<br />

beschwerlichen Weg aus. Ich stapfte ein paar Meter vor, um zu testen, wie<br />

es sich ging. Es sah nicht nur so aus, es war tatsächlich ein höchst beschwerlicher<br />

Weg.<br />

Als ich wieder zur Hütte kam, war Katz aufgestanden, bewegte sich langsam,<br />

gab sich dem allmorgendlichen Stöhnen und Räkeln hin. Jim studierte<br />

seine Karten, die viel genauer waren als meine. Ich hockte mich neben ihn,<br />

und er machte Platz, da<strong>mit</strong> ich auch etwas sehen konnte. Bis Wallace Gap<br />

und zu einer asphaltierten Straße, der alten U.S. 64, waren es 9,8 Kilometer.<br />

Anderthalb Kilometer weiter die Straße entlang lag der Rambow Spring<br />

Campground, ein Campingplatz <strong>mit</strong> Duschen und einem Laden. Ich hatte<br />

keine Ahnung, wie schwierig es sein würde, zehn Kilometer durch den<br />

tiefen Schnee zu wandern, und ich konnte auch nicht darauf bauen, daß der<br />

Platz zu dieser Jahreszeit bereits geöffnet war. Dennoch war klar, daß diese<br />

Schneemassen in den kommenden paar Tagen nicht schmelzen würden, und<br />

irgendwann mußten wir ja sowieso gehen, warum dann nicht gleich jetzt,<br />

wo es noch hübsch und ruhig war. Wer weiß, was passieren würde, wenn<br />

ein neuer Schneesturm einsetzte und wir dann erst recht aufgeschmissen<br />

wären.<br />

Jim hatte beschlossen, daß er und Heath uns die ersten paar Stunden begleiten<br />

und dann auf einen Nebenwanderweg abbiegen würden, den Long<br />

Branch, der auf 2,7 Kilometern steil in eine Schlucht hinabführte und an<br />

einem Parkplatz endete, auf dem sie ihren Wagen abgestellt hatten. Jim war<br />

den Long Branch Trail bereits mehrere Male entlanggewandert und wußte,<br />

was auf ihn zukam. Trotzdem gefiel mir schon der Name nicht, und ich<br />

fragte Jim zögerlich, ob es wirklich gut sei, einen wenig benutzten Nebenweg<br />

zu gehen, unter wer weiß was für Bedingungen, wo niemand sie finden<br />

würde, wenn er und sein Sohn in Gefahr gerieten. Katz pflichtete mir zu<br />

meiner Erleichterung bei. »Auf dem AT sind wenigstens immer noch andere<br />

Leute«, sagte er. »Auf den Nebenwegen weiß man nie, was einem passieren<br />

kann.« Jim überlegte kurz und sagte, sie würden zurückkommen, wenn<br />

es zu brenzlig werden würde.<br />

Katz und ich gönnten uns zwei Tassen Kaffee, um warm zu werden, und<br />

Jim und Heath gaben uns von ihren Haferflocken ab, was Katz in Hochlaune<br />

versetzte. Dann machten wir uns alle vier auf den Weg. Es war kalt, und<br />

das Gehen fiel schwer. Das Gewölbe aus tiefhängenden Rhododendronbüschen,<br />

das sich über lange Wegstrecken hinzog, war zwar ausnehmend<br />

hübsch anzusehen, aber wenn der Rucksack die Zweige streifte, entluden<br />

sich Schneemassen auf unsere Köpfe und rutschten in den Nacken hinunter.


Die drei Erwachsenen gingen abwechselnd voran, denn die erste Person<br />

bekam immer das meiste ab und mußte zudem noch die Spur im Schnee<br />

austreten, was ziemlich anstrengend war.<br />

Der Long Branch Trail führte steil zwischen Fichten bergab, für mein Empfinden<br />

zu steil, um ihn wieder hochzuklettern, wenn sich der Weg als unpassierbar<br />

erwies, und so sah er aus. Katz und ich bedrängten Jim und<br />

Heath, sich die Sache noch einmal zu überlegen, aber Jim meinte, der Weg<br />

ginge nur bergab und sei gut markiert und er sei sicher, daß nichts passieren<br />

werde. »Wißt ihr, was heute für ein Tag ist?« sagte Jim plötzlich und lieferte<br />

auch gleich die Antwort, als er unsere fragenden Mienen sah. »Der 21.<br />

März.«<br />

Unsere Mienen blieben unverändert.<br />

»Frühlingsanfang«, sagte er.<br />

Wir mußten über diese Ironie des Schicksals lachen, dann gaben wir uns die<br />

Hand, wünschten uns gegenseitig gutes Gelingen und trennten uns. Katz<br />

und ich stiefelten noch drei Stunden schweigsam durch den kalten, verschneiten<br />

Wald und wechselten uns beim »Schneepflügen« ab. Gegen ein<br />

Uhr kamen wir schließlich an die alte U.S. 64, eine abgeschiedene, stillgelegte<br />

zweispurige Straße quer durch die Berge. Sie war nicht geräumt worden,<br />

und man sah keine Reifenspuren. Es fing wieder an zu schneien, und<br />

die Flocken fielen ganz gleichmäßig, was sehr hübsch aussah. Wir folgten<br />

der Straße Richtung Campingplatz und waren gerade einige hundert Meter<br />

weit gegangen, als wir hinter uns das knirschende Geräusch eines schweren<br />

Kraftfahrzeuges vernahmen, das sich vorsichtig seinen Weg durch den<br />

Schnee bahnte. Wir drehten uns um und sahen ein großes jeepähnliches<br />

Gefährt auf uns zurollen. Das Fenster an der Fahrertür glitt herunter. Es<br />

waren Jim und Heath. Sie wollten uns nur Bescheid geben, daß sie es geschafft<br />

hatten, und sie wollten wissen, wie es uns ergangen sei. »Wir können<br />

euch zum Campingplatz <strong>mit</strong>nehmen, wenn ihr möchtet«, sagte Jim.<br />

Wir stiegen dankbar ein, verschmutzten das schöne Auto <strong>mit</strong> reichlich<br />

Schnee und fuhren zum Campingplatz. Jim sagte uns, daß sie auf der Hinfahrt<br />

an dem Platz vorbeigekommen seien und daß es so ausgesehen habe,<br />

als sei geöffnet, aber daß sie uns bis zur nächsten Stadt, Franklin, bringen<br />

würden, wenn er geschlossen wäre. Sie hatten schon den Wetterbericht<br />

gehört. Für die nächsten Tage war noch mehr Schnee angekündigt.<br />

Die beiden setzten uns am Campingplatz ab – er war tatsächlich geöffnet –<br />

und -winkten zum Abschied. Rainbow Springs war ein kleiner privater Platz<br />

<strong>mit</strong> mehreren Hütten zum Übernachten, einem Waschraum und einigen<br />

Nebengebäuden, die verstreut um einen größeren, ebenen, offenen Platz<br />

herum gruppiert waren, der wohl für Campingbusse und Wohnmobile gedacht<br />

war. In einem alten weißen Haus am Eingang war das Büro un-


tergebracht, das gleichzeitig Haushaltswarenladen und Lebens<strong>mit</strong>telgeschäft<br />

war. Wir traten ein und stellten fest, daß alle Wanderer, denen wir auf den<br />

letzten 30 Kilometern begegnet waren, sich bereits eingefunden hatten; die<br />

meisten hockten um einen großen Holzofen herum, wärmten sich, aßen<br />

Chili oder leckten Eis, hatten rote Backen und sahen proper aus. Drei oder<br />

vier von ihnen kannten wir schon. Die Betreiber des Campingplatzes waren<br />

Buddy und Jensine Crossman, die einen angenehmen und freundlichen<br />

Eindruck machten, und wenn es nur daran lag, daß die Geschäfte im Monat<br />

März selten so gut liefen wie in diesem Jahr. Ich erkundigte mich nach einer<br />

Hütte.<br />

Jensine drückte ihre Zigarette aus und lachte über meine naive Frage, was<br />

gleich einen kleinen Hustenanfall bei ihr auslöste. »Die Hütten sind seit<br />

zwei Tagen ausgebucht, mein Lieber. In der Schlafbaracke sind noch zwei<br />

Plätze frei. Alle, die danach kommen, müssen auf dem Boden schlafen.«<br />

Schlafbaracke ist kein Wort, das man in meinem Alter besonders gern hört,<br />

aber uns blieb keine andere Wahl. Wir trugen uns ins Gästebuch ein, bekamen<br />

zwei sehr kleine, brettharte Handtücher und stapften über den Platz<br />

unserem Quartier entgegen, gespannt, was man für elf Dollar erwarten durfte.<br />

Die Antwort lautete: am besten gar nichts.<br />

Das Barackenlager war so spartanisch und häßlich, daß einem gruselte. Der<br />

Raum wurde beherrscht von zwölf schmalen Schlafkojen aus Holz, jeweils<br />

drei übereinander. Auf jeder Koje lag eine dünne, nackte Matratze und ein<br />

schmuddeliges, <strong>mit</strong> Schaumstoffschnipseln gefülltes Kissen ohne Bezug. In<br />

einer Ecke stand ein leise vor sich hin zischender Kanonenofen, von einem<br />

Halbkreis ausgelatschter Wanderschuhe umstellt und <strong>mit</strong> nassen Wollsokken<br />

behängt, von denen üble Dämpfe aufstiegen. Ein kleiner Holztisch und<br />

zwei kaputte Sessel, aus denen die Polsterung hervorquoll, vervollständigten<br />

das Mobiliar. Überall lagen Sachen herum – Zelte, Kleider, Rucksäcke,<br />

Regenhauben - zum Trocknen aufgehängt, träge tropfend. Der Boden war<br />

aus nacktem Beton, die Wände aus nicht isolierten Spanplatten. Es war das<br />

Gegenteil von einladend, etwa so, als würde man in einer Garage campen.<br />

»Willkommen im Gulag«, sagte ein Mann <strong>mit</strong> einem ironischen Grinsen<br />

und britischem Akzent. Er hieß Peter Fleming, war Dozent in New Brunswick<br />

und für eine Woche zum Wandern in den Süden gekommen, aber<br />

dann, wie wir alle, vom Schnee überrascht worden. Er stellte uns die anderen<br />

vor – jeder grüßte <strong>mit</strong> einem freundlichen, aber abwesenden Nicken –<br />

und deutete auf die beiden freien Betten, eins ganz oben, fast unter der Dekke,<br />

das andere ganz unten, am anderen Ende des Raums.<br />

»Rot-Kreuz-Päckchen werden jeden letzten Freitag im Monat ausgegeben,<br />

und heute abend um 19 Uhr trifft sich das Ausbruchsko<strong>mit</strong>ee zur Lagebesprechung.<br />

Mehr braucht ihr vorerst nicht zu wissen.«


»Und bestellt bloß nicht das Philly-Sandwich, wenn ihr nicht die ganze<br />

Nacht kotzen wollt«, tönte eine schwache, aber aufrichtige Stimme von<br />

einer finsteren Koje in der Ecke.<br />

»Das ist Tex«, erklärte Fleming. Wir nickten.<br />

Katz suchte sich das oberste Bett aus und begab sich an die langwierige,<br />

herausfordernde Aufgabe, es zu erklimmen. Ich ging zu meiner eigenen<br />

Koje und untersuchte sie fasziniert und angewidert zugleich. Nach den<br />

Flecken auf der Matratze zu urteilen, hatte der letzte Benutzer nicht an Inkontinenz<br />

gelitten, sondern sich vielmehr ihrer erfreut. Offenbar hatte er das<br />

Kissen in seine Freuden <strong>mit</strong> einbezogen. Ich nahm es in die Hand und roch<br />

daran, was ich lieber hätte bleiben lassen sollen. Ich breitete meinen Schlafsack<br />

aus, hängte ein Paar Socken über den Ofen und noch ein paar andere<br />

Sachen zum Trocknen auf, setzte mich dann auf die Bettkante und verbrachte<br />

eine gemütliche halbe Stunde gemeinsam <strong>mit</strong> dem Rest der Stube da<strong>mit</strong>,<br />

Katz bei seinem verbissenen Kampf, in die Koje zu gelangen, zuzuschauen.<br />

Es wurde alles geboten, tiefes Grunzen, zappelnde Beine, Flüche und Aufforderungen<br />

an die Zuschauer, sie könnten ihn gefälligst mal am Arsch<br />

lecken. Ich konnte von meinem Platz aus allerdings nur seinen enormen<br />

Hintern und seine Gliedmaßen erkennen.<br />

Seine Haltung ließ an einen Schiffbrüchigen denken, der sich an einem in<br />

der rauhen See treibenden Wrackteil festhielt, oder an jemanden, der von<br />

einem Wetterballon, den er gerade hatte starten wollen, unerwarteterweise<br />

in die Luft hochgehoben worden war – auf alle Fälle an jemand, der sich in<br />

einer gefährlichen Situation ans Leben klammerte. Ich packte mein Kissen,<br />

ging zu ihm und fragte ihn, warum er nicht einfach mein Bett nahm.<br />

Sein Gesicht war erhitzt und zerfurcht, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er<br />

mich in diesem Moment erkannte. »Weil Wärme nach oben steigt, deswegen«,<br />

sagte er, »und wenn ich oben bin -falls es je dazu kommen sollte –,<br />

dann lasse ich mich schön rösten.« Ich nickte zustimmend – wenn Katz aus<br />

der Puste war oder sich in etwas verbissen hatte, war es sinnlos, vernünftig<br />

<strong>mit</strong> ihm zu diskutieren – und nutzte die Gelegenheit, heimlich unsere Kissen<br />

zu tauschen.<br />

Als das Bild des Jammers einfach nicht mehr zu ertragen war, schubsten wir<br />

Katz zu dritt hoch. Er plumpste schwer auf, wobei die Holzbretter beängstigend<br />

knackten, was den armen stillen Manninder Koje darunter in Panik<br />

versetzte. Dann verkündete Katz, er werde sich so lange nicht vom Fleck<br />

rühren, bis aller Schnee geschmolzen sei und der Frühling in den Bergen<br />

Einzug gehalten habe. Da<strong>mit</strong> kehrte er uns den Rücken zu und schlief ein.<br />

Ich stapfte durch den Schnee hinüber in den Waschraum, aus purer Lust, in<br />

eisiges Wasser zu patschen, begab mich dann zu dem Laden und lungerte<br />

<strong>mit</strong> einem halben Dutzend anderer Leute um den Ofen herum. Was sollte


man sonst machen? Ich verdrückte zwei Teller Chili, die Spezialität des<br />

Hauses, und lauschte der allgemeinen Unterhaltung. Sie wurde zwar hauptsächlich<br />

von Buddy und Jensine bestritten, die über die Gäste des Vortags<br />

meckerten, aber es tat gut, mal andere Stimmen als die von Katz zu hören.<br />

»Die hättet ihr mal sehen sollen«, sagte Jensine angewidert und zupfte sich<br />

einen Tabakkrümel von der Lippenspitze. »Kein Bitte, kein Danke. Nicht<br />

wie ihr, Leutchen. Ihr seid ja die reinste Frischzellenkur dagegen, könnt ihr<br />

mir glauben. Und die Schlafbaracke haben sie in einen regelrechten<br />

Schweinestall verwandelt. Stimmt’s, Buddy?« Sie gab das Kommando an<br />

Buddy weiter.<br />

»Hat mich eine Stunde Saubermachen heute morgen gekostet«, sagte er<br />

verbittert. Die Bemerkung verblüffte mich, denn die Schlafbaracke sah aus,<br />

als hätte sie in den letzten 100 Jahren keinen Besen gesehen. »Auf dem<br />

Boden waren überall Pfützen, und einer, ich weiß nicht wer, hat ein verdrecktes<br />

altes Baumwollhemd dagelassen, das einfach ekelhaft war. Und<br />

obendrein haben sie alles Brennholz verbraucht. Gestern habe ich das Holz<br />

von drei Tagen Holzhacken reingeschafft, und die haben alle Scheite verbrannt.«<br />

»Wir waren heilfroh, als sie abgehauen sind«, sagte Jensine. »Heilfroh. Die<br />

waren nicht wie ihr, Leutchen. Ihr seid ja die reinste Frischzellenkur dagegen,<br />

könnt ihr mir glauben.« Dann zog sie von dannen, -weil das Telefon<br />

klingelte. Ich saß neben einem der drei Studenten von der Rutgers Umversity,<br />

denen wir seit dem zweiten Tag immer wieder über den Weg gelaufen<br />

waren. Sie hatten jetzt eine Hütte für sich, aber die Nacht davor hatten sie in<br />

der Schlafbaracke verbracht. Er beugte sich zu mir herüber und raunte mir<br />

im Flüsterton zu: »Das gleiche hat sie gestern über die Leute gesagt, die<br />

vorgestern hier waren. Und morgen sagt sie das gleiche über uns. Gestern<br />

abend waren wir 15 in der Schlafbaracke.«<br />

»15?« wiederholte ich entgeistert. Mit zwölf war es ja schon kaum noch<br />

erträglich. »Wo haben denn die überzähligen drei gepennt?«<br />

»Auf dem Boden. Und mußten trotzdem die elf Dollar abdrücken. Wie<br />

schmeckt dir das Chili?«<br />

Ich sah auf meinen Teller, als hätte ich mir noch keine Gedanken darüber<br />

gemacht, und es stimmte, ich hatte mir tatsächlich noch keine Gedanken<br />

über das Essen gemacht. »Eigentlich grauenvoll.«<br />

Er nickte. »Warte ab, wenn du es erstmal zwei Tage hintereinander gegessen<br />

hast.«<br />

Auf dem Weg zurück zur Schlafbaracke schneite es immer noch, allerdings<br />

nicht mehr so heftig. Katz war wach und schwer beschäftigt, rauchte eine<br />

geschnorrte Zigarette und bat die Leute, ihm verschiedene Sachen – Schere,<br />

Halstuch, Streichhölzer – heraufzureichen, wenn er sie brauchte, und sie


ihm wieder abzunehmen, wenn er fertig war. Drei Leute standen am Fenster<br />

und sahen hinaus in den Schnee. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich<br />

ums Wetter. Schwer zu sagen, wann wir hier herauskämen. Es<br />

war unmöglich, sich nicht wie ein Gefangener zu fühlen.<br />

Wir verbrachten eine miserable Nacht auf unseren Kojen, beim schwachen<br />

Licht der flackernden Glut im Ofen, den der schüchterne Mensch eifrig<br />

fütterte – er konnte oder wollte wegen der sich hin und her wälzenden Körpermasse<br />

von Katz, der die Bretter direkt über seinem Kopf durchbog, nicht<br />

schlafen. Man war eingelullt von einer Gemeinschaftssymphonie aus nächtlichen<br />

Geräuschen, Seufzern, müdem Ausatmen, schepperndem Schnarchen,<br />

dem ununterbrochenen Todesröcheln des Mannes, der das Philly-<br />

Sandwich <strong>mit</strong> Bratenaufschnitt und Käse gegessen hatte, und dem eintönigen<br />

Zischen des Ofens. Es war wie der Soundtrack zu einem alten Film.<br />

Wir wachten steif und unausgeschlafen bei einem trüben Tagesanbruch auf.<br />

Es schneite, und uns blieb nur die entmutigende Aussicht auf einen sehr<br />

langen Tag, an dem man nichts anderes machen konnte, als sich im Laden<br />

die Zeit zu vertreiben oder auf seiner Koje zu liegen und alte Ausgaben von<br />

Reader’s Digest zu lesen, die ein kleines Regal neben der Tür füllten. Dann<br />

hieß es plötzlich, daß ein beflissener junger Mann namens Zack aus einer<br />

der Hütten sich irgendwie nach Franklin durchgeschlagen und einen Minibus<br />

gemietet hatte und anbot, uns für fünf Dollar pro Nase in die Stadt zu<br />

bringen. Es setzte eine regelrechte Massenflucht ein. Zum Leidwesen von<br />

Buddy und Jensine zahlten fast alle Gäste und brachen auf. 14 Leute<br />

quetschten sich in den Minibus und begaben sich auf die lange Fahrt nach<br />

Franklin, das tief unten in einem schneefreien Tal lag.<br />

So kamen wir zu einem Kurzurlaub in Franklin, einem kleinen, trostlosen<br />

Ort, darauf bedacht, möglichst reizlos zu erscheinen, einem Ort, an dem<br />

man aus Mangel an anderer Zerstreuung die Männer im Sägewerk beim<br />

Verladen von Holzstämmen <strong>mit</strong> dem Gabelstapler beobachtet. Es gab<br />

nichts, aber auch gar nichts, keinen Laden, in dem man ein Buch hätte kaufen<br />

können, geschweige denn eine Zeitschrift, die nicht von Rennbooten,<br />

aufgemotzten Autos oder Waffen und Munition handelte. In dem Städtchen<br />

wimmelte es von Wanderern, die, genau wie wir, aus den Bergen vertrieben<br />

worden waren und nichts anderes zu tun hatten, als lustlos im Diner oder im<br />

Waschsalon herumzuhängen und zwei- bis dreimal am Tag ans andere Ende<br />

der Main Street zu pilgern und einen verzweifelten Blick auf die fernen,<br />

schneebedeckten und offenkundig unpassierbaren Berge zu werfen. Die<br />

Aussichten standen nicht gut. Das Gerücht machte die Runde, in den Smokies<br />

gäbe es zwei Meter hohe Schneeverwehungen. Es würde Tage dauern,<br />

bis der Weg wieder frei wäre.<br />

Ich verfiel dadurch in eine Art unruhige Niedergeschlagenheit, die sich


noch verschlimmerte, als ich merkte, daß Katz bei der Aussicht, sich mehrere<br />

Tage ohne einen bestimmten Zweck, frei von Strapazen, in der Stadt<br />

herumtreiben und verschiedene Möglichkeiten der Zerstreuung ausprobieren<br />

zu können, im siebten Himmel schwebte. Zu meinem Verdruß hatte er<br />

sich bereits eine Fernsehzeitung besorgt, um seinen Fernsehkonsum in den<br />

nächsten Tagen effektiver zu planen.<br />

Ich wollte nur noch zurück auf den Trail, Kilometer fressen. Deswegen<br />

waren wir hergekommen. Außerdem langweilte ich mich schrecklich. Es<br />

war eine Langeweile jenseits von Gut und Böse. Ich vertrieb mir <strong>mit</strong>tlerweile<br />

schon die Zeit <strong>mit</strong> der Lektüre der Platzdeckchen in den Restaurants,<br />

danach drehte ich sie um und schaute nach, ob die Rückseite auch bedruckt<br />

war. In dem Sägewerk unterhielt ich mich <strong>mit</strong> den Arbeitern über den Zaun<br />

hinweg. Am späten Nach<strong>mit</strong>tag des dritten Tages war ich im Burger King<br />

und betrachtete in tiefer Versunkenheit die Fotos des Geschäftsführers und<br />

seiner Mannschaft – wobei mir der merkwürdige Umstand ins Auge fiel,<br />

daß Leute, die in der Pommes- und Hamburger-Industrie arbeiten, immer so<br />

aussehen, als hätten ihre Mütter was <strong>mit</strong> Goofy gehabt –, trat dann einen<br />

Schritt zur Seite und las die Auszeichnungen für die »Mitarbeiter des Monats«.<br />

In dem Moment wurde mir klar, daß ich unbedingt von hier abhauen<br />

mußte.<br />

20 Minuten später gab ich Katz bekannt, daß wir am nächsten Morgen wieder<br />

auf dem Weg sein würden. Er war natürlich entsetzt. »Am Freitag läuft<br />

Akte X«, stotterte er. »Ich habe gerade Cream-Soda gekauft.«<br />

»Die Enttäuschung muß schrecklich sein«, erwiderte ich <strong>mit</strong> einem trockenen,<br />

herzlosen Lächeln.<br />

»Und der Schnee? Da kommen wir nie durch.«<br />

Ich zuckte die Achseln, was optimistisch wirken sollte, aber vermutlich eher<br />

Ausdruck von Gleichgültigkeit war. »Vielleicht doch.«<br />

»Und wenn nicht? Was ist, wenn wieder ein Schneesturm aufzieht? Wir<br />

können von Glück sagen, daß wir beim letzten Sturm <strong>mit</strong> dem Leben davongekommen<br />

sind, wenn du mich fragst.« Er sah mich <strong>mit</strong> einem verzweifelten<br />

Blick an. »Ich habe 18 Dosen Cream-Soda auf meinem Zimmer«,<br />

stieß er hervor und bereute es umgehend.<br />

Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch. »18? Willst du dich hier häuslich<br />

niederlassen?«<br />

»Es war ein Sonderangebot«, murmelte er entschuldigend und zog sich in<br />

seinen Schmollwinkel zurück.<br />

»Es tut mir leid, wenn ich dir deine Festtagslaune verderbe, Stephen, aber<br />

wir sind doch nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um fernzusehen<br />

und Cream-Soda zu trinken.«<br />

»Ich bin auch nicht hergekommen, um mir unterwegs den Tod zu holen«,


sagte er, stritt aber nicht weiter <strong>mit</strong> mir herum.<br />

Wir gingen los, und wir hatten Glück. Der Schnee war tief, aber passierbar.<br />

Ein einsamer Wanderer, noch ungeduldiger als wir, war schon vor uns<br />

durchgestapft und hatte den Schnee auf dem Trail ein bißchen plattgetreten,<br />

was eine große Hilfe war. Auf den steilen Abstiegen war es glatt – Katz fiel<br />

andauernd auf den Rücken, rutschte aus, fluchte wild –, und in höheren<br />

Lagen mußten wir gelegentlich um ausgedehnte Schneefelder herumgehen,<br />

aber es gab keine einzige Stelle, die unpassierbar war.<br />

Das Wetter besserte sich ebenfalls. Die Sonne kam heraus, die Luft wurde<br />

milder, die Gebirgsbäche hörten sich durch den Zulauf des plätschernden<br />

und glucksenden Schmelzwassers wieder munterer an. Ich vernahm sogar<br />

zaghaftes Vogelgezwitscher. Oberhalb von 1.300 Meter war der Schnee<br />

liegengeblieben, und die Luft war eisig, aber weiter unten zog sich der<br />

Schnee portionsweise <strong>mit</strong> jedem Tag weiter zurück, bis am dritten Tag nur<br />

noch vereinzelte Flecken an den schattigen Stellen der Hänge zu sehen<br />

waren. Es war alles überhaupt nicht schlimm, nur wollte Katz das nicht<br />

zugeben. Das war mir egal. Ich wollte nur gehen. Ich war sehr, sehr glücklich.


7. Kapitel<br />

Zwei Tage lang wechselte Katz kaum ein Wort <strong>mit</strong> mir. Am zweiten Abend<br />

hörte ich ein ungewohntes Geräusch aus seinem Zelt – das Zischen einer<br />

Getränkedose, die geöffnet wird – und er sagte streitlustig: »Weißt du, was<br />

das ist, <strong>Bryson</strong>? Cream-Soda. Und soll ich dir noch etwas verraten? Ich<br />

trinke sie gerade, und du kriegst nichts davon ab. Sie schmeckt köstlich.« Es<br />

folgte ein absichtlich verstärktes Schlürfen. »Hmmmmmm. Einfach köstlich.«<br />

Noch ein Schluck. »Soll ich dir sagen, warum ich sie trinke? Es ist<br />

neun Uhr, und Akte X hat gerade angefangen, meine absolute Lieblingssendung.«<br />

Man hörte ein lang anhaltendes Gluckern, dann wurde der Reißverschluß<br />

des Zeltes aufgezogen, eine Dose landete <strong>mit</strong> einem Scheppern auf<br />

dem Boden. Dann wurde der Reißverschluß wieder zugezogen. »Mensch,<br />

das tat gut. Und jetzt kannst du mich mal, gute Nacht.«<br />

Da<strong>mit</strong> war die Sache erledigt. Am nächsten Morgen war er wieder gut aufgelegt.<br />

Katz konnte sich nie so recht für das Wandern erwärmen, obwohl er sich<br />

wirklich alle Mühe gab. Ich glaube, nur ganz gelegentlich bekam er eine<br />

Ahnung davon, daß es beim Wandern draußen im Wald etwas gab – etwas<br />

schwer Faßbares und Elementares – was einem tiefe Zufriedenheit verschaffte.<br />

Manchmal freute er sich über einen Ausblick oder betrachtete<br />

erstaunt irgendein Wunder der Natur, aber in der Hauptsache war Wandern<br />

für ihn ein höchst anstrengendes, schmutziges, sinnloses Sich-Dahinschleppen<br />

von einem Ort der Bequemlichkeit zum nächsten, weit entfernt<br />

liegenden Ort. Ich dagegen ging ganz und gar in der simplen Tätigkeit des<br />

Vorwärtsstrebens auf, unbekümmert und zufrieden <strong>mit</strong> mir und der Welt.<br />

Meine entsprechende Abwesenheit faszinierte und amüsierte ihn zugleich,<br />

aber meistens war er einfach genervt.<br />

Am späten Vor<strong>mit</strong>tag des vierten Tages nach unserem Aufbruch in Franklin,<br />

hockte ich mich auf einen gewaltigen, grünen Felsen und wartete auf<br />

Katz, nachdem mir aufgefallen war, daß ich ihn eine ganze Weile nicht<br />

gesehen hatte. Als er endlich kam, wirkte er noch aufgelöster als sonst. In<br />

seinem Haar hingen kleine Zweige, sein Baumwollhemd wies einen neuen<br />

Riß auf, und auf seiner Stirn war ein getrocknetes Rinnsal Blut zu sehen. Er<br />

stellte seinen Rucksack ab und ließ sich erschöpft neben mir nieder, holte<br />

seine Wasserflasche und tat einen langen Zug, wischte sich über die Stirn,<br />

suchte seine Hand nach Blutspuren ab und sagte schließlich wie ganz nebenbei:<br />

»Wie bist du eigentlich um den Baum da unten herumgegangen?«<br />

»Welchen Baum?«<br />

»Den umgestürzten Baum da unten. Der quer über dem Felsgesims liegt.«<br />

Ich überlegte eine Minute lang. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«


»Daran kannst du dich nicht erinnern? Er blockiert den Weg, verdammt<br />

noch mal!«<br />

Ich überlegte wieder, strengte mich noch mehr an und schüttelte <strong>mit</strong> dem<br />

Ausdruck leisen Bedauerns den Kopf. Man sah förmlich, wie kalte Wut in<br />

ihm aufstieg.<br />

»Da unten. Nur ein paar hundert Meter von hier.« Er unterbrach sich, wartete<br />

auf ein Zeichen des Wiedererkennens meinerseits und konnte nicht fassen,<br />

daß es ausblieb. »Auf der einen Seite ein steiler Felsabhang, auf der<br />

anderen Seite undurchdringliches Gestrüpp, und in der Mitte ein gestürzter<br />

Baum. Das muß dir doch aufgefallen sein.«<br />

»Wo genau soll das gewesen sein?« fragte ich, als wollte ich auf Zeit spielen.<br />

Katz konnte seine maßlose Verärgerung kaum verbergen. »Da unten, verdammt<br />

noch mal. Auf der einen Seite der Abhang, auf der anderen Seite<br />

Sträucher, und in der Mitte eine riesige umgestürzte Eiche, die gerade mal<br />

so viel Platz zum Durchschlüpfen bot.« Er hielt eine Hand etwa 40 Zentimeter<br />

über den Boden. »Ich weiß nicht, welches Mittel du geschmissen<br />

hast, aber ich will auch was davon haben. Der Baum war zu hoch, um drüberzuklettern,<br />

und zu niedrig, um drunter durchzukriechen, und es gab keinen<br />

Weg drumherum. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um an ihm<br />

vorbeizukommen, und ich habe mir dabei lauter Schrammen geholt. Wie<br />

kommt es, daß du dich nicht an den Baum erinnerst?«<br />

»Vielleicht fällt es mir später wieder ein«, sagte ich hoffnungsvoll. Katz<br />

schüttelte traurig den Kopf. Ich habe nie herausgefunden, warum ihn meine<br />

gelegentliche geistige Abwesenheit eigentlich so aufregte. Dachte er, ich<br />

spielte extra den Begriffsstutzigen, um ihn zu ärgern, oder ich schlüge der<br />

Mühsal ein Schnippchen, indem ich sie unvernünftigerweise ignorierte? Auf<br />

jeden Fall nahm ich mir insgeheim vor, eine Zeitlang aufmerksam und ganz<br />

bei Bewußtsein zu sein, um Katz nicht aufzuregen. Zwei Stunden später<br />

erlebten wir einen jener Momente der Freude, die sich nur selten auf dem<br />

Trail einstellen. Wir überquerten gerade die hohe Wölbung eines Berges,<br />

namens High Top, als sich an einem Aussichtsfelsen aus Granit der Wald<br />

vor uns teilte und uns einen grandiosen Panoramablick bot – ganz plötzlich<br />

tat sich eine neue Welt hoher, kräftiger, vergleichsweise schroffer Berge<br />

auf, gehüllt in einen Dunstschleier und an den Rändern von trüben Wolken<br />

gestreift, verlockend und furchterregend zugleich.<br />

Wir waren in den Smokies angekommen.<br />

Tief unter uns, eingezwängt in einem schmalen Tal, lag der Fontana Lake,<br />

ein langer, fjordähnlicher, lindgrüner See. Am westlichen Ende, wo der<br />

Little Tennessee River in den See mündet, steht ein gigantischer 146 Meter<br />

hoher Staudamm, der in den 30er Jahren von der Tennessee Valley Authori-


ty errichtet wurde. Es ist der größte Staudamm in Nordamerika östlich des<br />

Mississippi und gilt unter Betonfetischisten als absolute Sehenswürdigkeit.<br />

Wir eilten darauf zu, den Weg hinunter, weil wir vermuteten, daß es dort ein<br />

Besucherzentrum gab, also auch eine Cafeteria und andere begrüßenswerte<br />

Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme <strong>mit</strong> der zivilisierten Welt. Wenn schon<br />

nichts anderes, spekulierten wir aufgeregt, dann gab es dort wenigstens<br />

Automaten und Toiletten, wo man sich waschen, frisches Wasser holen und<br />

in einen Spiegel blicken konnte.<br />

Es gab tatsächlich ein Besucherzentrum, aber es war geschlossen. Ein vergilbter<br />

Zettel an der Glastür besagte, daß es erst in vier Wochen wieder<br />

öffnete. Die Automaten waren leer, die Stecker herausgezogen, und zu<br />

unserem Bedauern waren sogar die Toiletten verschlossen. Katz entdeckte<br />

einen Wasserhahn an der Außenwand, aber das Wasser war abgestellt. Wir<br />

warfen uns gegenseitig einen langen, stoischen Leidensblick zu, seufzten<br />

kurz und marschierten weiter. Der Trail verläuft direkt oben auf dem Damm<br />

über dem See. Die Berge vor uns, so schien es, erhoben sich nicht aus dem<br />

See, vielmehr richteten sie sich wie erschreckte Bestien dahinter auf. Es war<br />

auf den ersten Blick zu erkennen, daß sich uns hier eine ganz neue Pracht<br />

und da<strong>mit</strong> auch neue Herausforderungen boten. Das gegenüberliegende<br />

Ufer markierte die südliche Grenze des Great Mountains National Park. Vor<br />

uns lag ein über 200.000 Hektar großes, dichtbewachsenes, bergiges Waldgebiet,<br />

eine Sieben-Tage-Tour, 114 extrem rauhe Kilometer, bevor wir<br />

wieder von Cheeseburgern, Cola, Toiletten und fließend Wasser träumen<br />

durften. Es wäre schön gewesen, wenigstens <strong>mit</strong> sauberen Händen und<br />

sauberem Gesicht loszugehen. Ich hatte es Katz noch nicht <strong>mit</strong>geteilt, aber<br />

wir würden in den nächsten Tagen 16 Gipfel überschreiten, die über 1.800<br />

Meter hoch waren, einschließlich Clingmans Dome, der <strong>mit</strong> 2.024 Meter<br />

höchsten Erhebung am Appalachian Trail (übrigens nur 12,5 Meter niedriger<br />

als der nahegelegene Mount Mitchell, der höchste Berg im Osten der<br />

Vereinigten Staaten). Ich war gespannt und aufgeregt – selbst Katz packte<br />

milde Begeisterung –, denn dazu gab es allen Grund.<br />

Zunächst einmal hatten wir soeben einen neuen Bundesstaat betreten, Tennessee,<br />

unseren dritten, was einem immer das Gefühl gibt, eine Leistung<br />

vollbracht zu haben. Auf seiner gesamten Länge durch die Smokies verläuft<br />

der AT entlang der Grenze zwischen North Carolma und Tennessee. An so<br />

etwas hatte ich meinen Spaß, ich meine die Vorstellung, <strong>mit</strong> dem linken<br />

Bein in einem Bundesstaat und <strong>mit</strong> dem rechten in einem anderen zu stehen,<br />

oder mich für eine Ruhepause zwischen einem Baumstamm in Tennessee<br />

und einem Felsen in North Carolina entscheiden zu können, oder über die<br />

Grenze zu pinkeln, oder was es sonst noch an Möglichkeiten gab. Ich war<br />

gespannt darauf, was wir in diesen prächtigen, finsteren, sagenumwobenen


Bergen alles Neues erleben und sehen würden – Riesensalamander und<br />

gewaltige Tulpenbäume und den berüchtigten Ölbaumpilz, der nachts ein<br />

grünliches phosphoreszierendes Licht abstrahlt, Foxfire genannt. Vielleicht<br />

würden wir sogar einen Bär sehen (natürlich vom Wind abgekehrt, aus<br />

sicherer Entfernung, und mich sollte er links liegenlassen, ausschließlich<br />

Interesse an Katz zeigen, wenn es schon einen von uns beiden treffen sollte).<br />

Aber vor allem gab es die Hoffnung, ja die Überzeugung, daß der Frühling<br />

nicht mehr weit war, daß wir uns ihm <strong>mit</strong> jedem Tag näherten und daß<br />

er hier in den Smokies endlich ausbrechen würde.<br />

Die Smokies sind ein echtes Paradies. Wir betraten ein Gebiet, das die Botaniker<br />

gern als den »schönsten Mischwald der Welt« bezeichnen. Die<br />

Smokies beherbergen eine erstaunliche Pflanzenvielfalt – über 1.500 Arten<br />

von Wildpflanzen, 1.000 verschiedene Sträucher, 530 Moose und Flechten,<br />

2.000 Pilze. Hier ist die Heimat von 130 Baumarten (in ganz Europa gibt es<br />

zum Beispiel nur 85).<br />

Dieser verschwenderische Überfluß ist dem fruchtbaren, lehmigen Boden<br />

der geschützten Täler zu verdanken, die man »coves« nennt, dem feuchtwarmen<br />

Klima, das diesen bläulichen Dunst erzeugt, von dem die Smokies<br />

ihren Namen haben, und vor allem dem glücklichen Umstand, daß die Appalachen<br />

von Norden nach Süden verlaufen. Als sich während der letzten<br />

Eiszeit Gletscher und Eisdecken von der Arktis her ausbreiteten, wich die<br />

Flora der nördlichen Halbkugel nach Süden aus. In Europa stießen dabei<br />

unzählige Arten an die unüberwindliche Grenze der Alpen und anderer<br />

kleinerer Gebirge und starben aus. Im Osten Nordamerikas gab es kein<br />

solches Hindernis, und so bahnten sich Bäume und andere Pflanzen ihren<br />

Weg über Flüsse und an Gebirgsflanken entlang, bis sie das artverwandte<br />

Refugium der Smokies erreichten, wo sie seitdem geblieben sind. (Als sich<br />

das Eis wieder zurückzog, setzte auch ein langer Prozeß der allmählichen<br />

Rückkehr der im Norden einheimischen Bäume in ihre angestammten Gebiete<br />

ein. Manche von ihnen, Zeder und Rhododendron zum Beispiel, kehren<br />

erst jetzt heim – was uns nur zeigt, daß die Eisdecke, geologisch gesehen,<br />

erst gestern abgetaut ist.)<br />

Pflanzenvielfalt bringt natürlich auch eine reiche Tierwelt <strong>mit</strong> sich. In den<br />

Smokies leben 67 verschiedene Säugetiere, 200 Vogelarten sowie 80 Reptilien-<br />

und Amphibienspezies – mehr als in anderen vergleichbar großen<br />

Gebieteninden gemäßigten Klimazonen der Erde. Die Smokies sind vor<br />

allem berühmt wegen ihrer Bären – Schätzungen gehen von 400 bis 600<br />

Tieren aus –, aber diese stellen auch seit Jahren ein Problem dar, denn viele<br />

haben die Scheu vor Menschen verloren. Über eine Million Menschen<br />

kommen jedes Jahr in die Smokies, viele nur um zu picknicken. Bären haben<br />

gelernt, Menschen <strong>mit</strong> Nahrung in Verbindung zu bringen. Für sie sind


Menschen übergewichtige Geschöpfe <strong>mit</strong> Baseballmützen, die jede Menge<br />

Nahrung auf <strong>Picknick</strong>tischen um sich ausbreiten und dann ein bißchen kreischen<br />

und lostapern, um schnell die Videokamera zu holen und zu filmen,<br />

wie der hebe Teddybär daherschlurft, auf ihren Tisch klettert und ihren<br />

Kartoffelsalat und ihren Schokoladenkuchen verschlingt. Weil der Bär<br />

nichts dagegen hat, gefilmt zu werden und ihm das Publikum ziemlich<br />

gleichgültig ist, nähert sich meist irgendeiner aus der Runde der <strong>Picknick</strong>er<br />

dem Tier und versucht, es zu streicheln oder <strong>mit</strong> einem Plätzchen zu füttern.<br />

In einem verbrieften Fall schmierte eine junge Frau Honig auf die Finger<br />

ihres Kindes, da<strong>mit</strong> der Bär sie vor der Kamera ableckte. Der Bär verstand<br />

die Regieanweisung nicht und schnappte sich gleich die ganze Hand des<br />

Kleinen.<br />

Wenn so etwas geschieht – ungefähr ein Dutzend Menschen werden pro<br />

Jahr verletzt, meist an Rastplätzen und meist durch eigenes Fehlverhalten –<br />

oder wenn ein Bär aufdringlich oder aggressiv wird, erlegen die Parkranger<br />

ihn <strong>mit</strong> einem Narkosepfeil, schnüren ihn zusammen und verfrachten ihn<br />

weit ins Hinterland, fernab von Straßen und Rastplätzen und setzen ihn dort<br />

wieder aus. Mittlerweile haben sich die Bären längst an die Menschen und<br />

ihre Nahrung gewöhnt. Bei wem werden sie folglich wohl im Hinterland<br />

nach Nahrung suchen? Bei Leuten wie Katz und mir natürlich. Die »Annalen«<br />

des Appalachian Trail sind voll von Geschichten von Wanderern, die<br />

im Hinterland der Smokies von Bären angegriffen wurden. Ich hielt mich<br />

daher jetzt, als wir in die dicht bewaldeten, steilen Shuckstack Mountains<br />

eintauchten, immer un<strong>mit</strong>telbarinder Nähe von Katz auf, und trug meinen<br />

Wanderstab wie einen Prügel. Katz fand das natürlich albern.<br />

Das Urgeschöpf der Smokies, wenn man so will, ist jedoch der im Verborgenen<br />

lebende und wenig beachtete Salamander. Es gibt 24 verschiedene<br />

Arten in den Smokies, mehr als sonstwo auf der ganzen Welt. Salamander<br />

sind höchst interessante Kreaturen, und das lassen Sie sich bitte von niemandem<br />

ausreden. Zunächst einmal sind sie die ältesten Landwirbeltiere.<br />

Als Lebewesen zum ersten Mal aus dem Wasser krochen, sahen sie so aus<br />

wie Salamander, und sie haben sich seither nicht viel verändert. Manche<br />

Salamanderarten in den Smokies haben noch nicht einmal Lungen entwikkelt,<br />

sie atmen durch die Haut. Die meisten Salamander sind sehr klein, drei<br />

bis fünf Zentimeter lang, nur der Riesensalamander, der seltene und erstaunlich<br />

häßliche Schlammteufel, kann über 60 Zentimeter groß werden. Ich<br />

wollte unbedingt einen Schlammteufel sehen.<br />

Noch artenreicher und noch weniger gewürdigt als der Salamander ist die<br />

Flußmuschel. 300 Flußmuschelarten, ein Drittel aller Arten weltweit, leben<br />

in den Smokies. Die Süßwassermuscheln der Smokies haben phantastische<br />

Namen, zum Beispiel Purple wartyback, Shiny pigtoe oder Monkeyface


pearly-mussel. Leider erschöpft sich da<strong>mit</strong> das Interesse an den Tieren, und<br />

weil die Flußmuscheln so wenig beachtet werden, auch von naturwissenschaftlicher<br />

Seite, verschwinden sie in einem erschreckenden Ausmaß. Fast<br />

die Hälfte aller Flußmuschelarten der Smokies ist akut gefährdet, zwölf<br />

Arten sollen bereits ausgestorben sein.<br />

Eigentlich ist das höchst befremdlich für einen Nationalpark. Muscheln<br />

werfen sich schließlich nicht freiwillig unter die Räder der vorbeifahrenden<br />

Autos. Dennoch sind die Smokies dabei, die meisten ihrer Muschelarten zu<br />

verlieren. Tiere und Pflanzen auszurotten, hat beim National Park Service<br />

gewissermaßen Tradition. Der Bryce Canyon National Park ist vielleicht<br />

das interessanteste, auf jeden Fall aber das treffendste Beispiel dafür. Der<br />

Park wurde 1923 gegründet und hat unter der Verwaltung des Park Service<br />

in nicht einmal einem halben Jahrhundert sieben Säugetierarten verloren –<br />

den weißschwänzigen Eselhasen, den Präriehund, die Gabelantilope, das<br />

Flughörnchen, den Bieber, den Rotfuchs und das gefleckte Stinktier. Eine<br />

beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, daß diese Tiere zig Millionen<br />

Jahre im Bryce Canyon überlebt haben, bevor der Park Service sich ihrer<br />

annahm. Insgesamt sind in diesem Jahrhundert 42 Säugetierarten aus den<br />

amerikanischen Nationalparks verschwunden.<br />

1957 beschloß der Park Service, den Abrams Creek in den Smokies, einen<br />

Nebenfluß des Little Tennessee River, nicht allzu weit entfernt von der<br />

Gegend, in der Katz und ich uns gerade aufhielten, als Lebensraum für die<br />

Regenbogenforelle zu »reklamieren«, obwohl die Regenbogenforelle im<br />

Abrams Creek nie heimisch gewesen war. Zu diesem Zwecke schütteten<br />

Biologen mehrere Fässer von dem Gift Rotenon auf einer Länge von 25<br />

Kilometern in den Fluß. Nach wenigen Stunden trieben Tausende toter<br />

Fische auf der Wasseroberfläche. Zu den 31 Fischarten des Abrams Creek,<br />

die dabei vernichtet wurden, gehörte auch der Blaurücken, den die Wissenschaftler<br />

noch nie zuvor gesehen hatten. Die Biologen des Park Service<br />

brachten das unglaubliche Kunststück fertig, ein und dieselbe Fischart<br />

gleichzeitig zu entdecken und zu vernichten. (1980 wurde in einem Bach in<br />

der Nähe noch eine Kolonie von Blaurücken entdeckt.)<br />

Das ist alles 40 Jahre her, und heute, in unseren aufgeklärten Zeiten, wäre<br />

so eine Dummheit undenkbar. Heutzutage befleißigt sich der National Park<br />

Service eines etwas zwangloseren Stils in der Zerstörung der Natur: Vernachlässigung.<br />

Er stellt so gut wie kein Geld für Forschung irgendwelcher<br />

Art zur Verfügung – weniger als drei Prozent der gesamten Finanz<strong>mit</strong>tel –,<br />

und deswegen weiß niemand zu sagen, wie viele Muscheln bereits ausgestorben<br />

sind, geschweige denn aus welchem Grund. Wo man auch hinschaut<br />

in den Wäldern an der Ostküste, überall sterben die Bäume. In den Smokies<br />

sind 90 Prozent der Fräser-Tannen – ein sehr edles Gewächs und eine Be-


sonderheit der südlichen Appalachen – erkrankt oder bereits tot. Dafür gibt<br />

es zwei Gründe: den sauren Regen und die Verwüstung durch einen Baumschädling,<br />

der sich Fichtengallenlaus schimpft. Fragt man einen Angestellten<br />

des Park Service, was dagegen unternommen wird, bekommt man zur<br />

Antwort: »Wir beobachten die Situation genau«, was so viel heißt wie, »wir<br />

gucken den Bäumen beim Sterben zu.«<br />

Das gleiche Bild bietet sich bei den sogenannten »balds«, grasbewachsenen<br />

Kuppeln – baumlose, wiesenähnliche Berggipfel, bis zu 100 Hektar groß<br />

und ebenfalls einmalig in den südlichen Appalachen. Man weiß nicht, seit<br />

wann diese Kuppeln existieren, wie sie entstanden sind oder warum es sie<br />

auf manchen Berggipfeln gibt und auf anderen nicht. Einige Experten meinen,<br />

es handle sich um ein Naturphänomen, Überreste von Feuersbrünsten,<br />

ausgelöst durch Blitzschlag, andere meinen, sie seien das Werk von Menschen,<br />

Brandrodungen, um Platz für Sommerweiden zu schaffen. Auf jeden<br />

Fall sind sie absolut typisch für die Smokies. Nach Stunden einsamen Wanderns<br />

durch kühlen, finsteren Wald endlich eine freie, offene, sonnenbeschienene<br />

Kuppe unter strahlend blauem Himmel und <strong>mit</strong> Panoramablick zu<br />

betreten, ist ein Erlebnis, das man so schnell nicht vergißt. Diese Kuppen<br />

sind jedoch mehr als ein bloßes Kuriosum. Nach Angaben des Buchautors<br />

Hiram Rogers nehmen die Graskuppen gerade einmal 0,015 Prozent der<br />

Gesamtfläche der Smokies ein, beherbergen jedoch 29 Prozent der Flora.<br />

Für eine unbestimmte Zeit wurden sie zuerst von Indianern, später dann von<br />

eingewanderten Europäern im Sommer als Weideland für Vieh genutzt;<br />

heute, da die Viehzucht verdrängt ist und der Park Service nichts unternimmt,<br />

erobern sich Straucharten wie Weißdorn und Brombeere die Berggipfel<br />

zurück. Wenn nichts unternommen wird, ist es gut möglich, daß es in<br />

20 Jahren keine Graskuppen mehr in den Smokies gibt. Seit Gründung des<br />

Parks in den 30er Jahren sind 90 Pflanzenarten auf den Bergkuppen ausgestorben,<br />

und für die nächsten paar Jahre wird das Verschwinden von 25<br />

weiteren Arten erwartet. Es gibt keinen Plan, diese Pflanzen vor dem sicheren<br />

Tod zu retten.<br />

Man soll aus alldem nicht den Schluß ziehen, ich sei kein Freund des Park<br />

Service und seiner Mitarbeiter. Das Gegenteil ist der Fall – ich bewundere<br />

diese Leute. Ich habe nicht einen Ranger kennengelernt, der nicht freundlich,<br />

engagiert und im allgemeinen gut informiert war. (Ich muß hinzufügen,<br />

ich habe selten einen getroffen, die meisten hat man nämlich entlassen,<br />

aber diejenigen, <strong>mit</strong> denen ich zu tun hatte, waren nett und hilfsbereit.) Das<br />

Problem sind nicht die Leute an der Basis. Das Problem ist der Park Service<br />

selbst. Immer wieder wird zur Verteidigung das Argument vorgeschoben,<br />

den Nationalparks würden die Mittel gestrichen, was zweifellos zutrifft. Der<br />

Jahresetat des Park Service liegt heute um 200 Millionen Dollar unter der


Summe, die dem Park Service noch vor zehn Jahren zur Verfügung stand.<br />

Infolgedessen wurden trotz gestiegener Besucherzahlen – von 79 Millionen<br />

im Jahre 1960 auf heute 270 Millionen – Campingplätze und Informationszentren<br />

geschlossen, die Zahl der Aufseher verringert und wichtige Waldpflegearbeiten<br />

auf ein lächerliches Mindestmaß heruntergeschraubt. 1997<br />

betrugen die Kosten für den Arbeitsrückstand in den Nationalparks sechs<br />

Milliarden Dollar. Ein Skandal. Gleichzeitig gönnte sich der National Park<br />

Service 1991 – als die Bäume reihenweise starben, die Gebäude zunehmend<br />

verfielen, die Besucher von den Campingplätzen, die man nicht mehr halten<br />

konnte, vertrieben wurden, und als es zu Massenentlassungen unter den<br />

Angestellten kam – aus Anlaß seines 75jährigen Bestehens eine Geburtstagsparty<br />

in Vail, Colorado, die eine halbe Million Dollar gekostet hat. Das<br />

ist zwar nicht ganz so gedankenlos wie die willentliche Entsorgung von<br />

Hunderten Liter Gift in einem Wildbach, aber es zeugt auch nicht gerade<br />

von der richtigen Einstellung.<br />

Trotzdem sollten wir die Dinge im Verhältnis sehen. Die Smokies haben<br />

ihre natürliche Pracht und Schönheit nicht unter der Führung des Park Service<br />

erreicht und brauchen ihn eigentlich gar nicht. Sieht man sich das<br />

höchst seltsame und sprunghafte Verhalten des Park Service in seiner Geschichte<br />

an (hier noch ein Beispiel: In den 60er Jahren wurde die Walt Disney<br />

Corporation beauftragt, im Sequoia National Park in Kalifornien einen<br />

Vergnügungspark zu errichten), scheint es mir gar keine so schlechte Idee,<br />

ihm die Mittel zu kürzen. Ich bin mir fast sicher, daß die 200 Millionen<br />

Dollar, sollten sie dem Jahresetat wieder hinzugefügt werden, nur in den<br />

Bau von noch mehr Parkplätzen und Stromanschlüssen für Wohnmobile<br />

und nicht in die Rettung von Bäumen und schon gar nicht in die Rekultivierung<br />

der herrlichen, grasbewachsenen Bergkuppen fließen würden. In Wirklichkeit<br />

gehört es zur Politik des Park Service, die Kuppen einfach zum<br />

Verschwinden zu bringen. Nachdem man <strong>mit</strong> seinen jahrelangen Eingriffen<br />

in die Natur alle gegen sich aufgebracht hat, scheint man jetzt beschlossen<br />

zu haben, sich überhaupt nicht mehr einzumischen – selbst dann nicht,<br />

wenn es nachweisbar nützlich wäre. Ich kann Ihnen sagen, der Park Service<br />

ist mir ein Rätsel.<br />

Die Abenddämmerung setzte gerade ein, als wir die Birch-Spring-Gap-<br />

Schutzhütte erreichten, die neben einem Bach an einem Hang stand, ungefähr<br />

100 Meter unterhalb des Trails. In dem silbrigen Zwielicht sah sie<br />

herrlich aus. Im Vergleich zu den zweckmäßigen Furnierholzkonstruktionen,<br />

die man sonst entlang des Appalachian Trails findet, sind die Schutzhütten<br />

der Smokies solide Steinbauten in einem malerischen, rustikalen Stil,<br />

so daß die Birch-Spring-Gap-Shelter von fern wie ein richtiges, gemütliches


Cottage aussah. Aus der Nähe betrachtet, war sie alles andere als bezaubernd.<br />

Drinnen war es dunkel, die Wände schienen undicht, der Boden war<br />

aus Lehm und sah aus wie Schokoladenpudding, das Schlafpodest war eng<br />

und dreckig, und überall lag naß gewordener Abfall herum. An der Innenseite<br />

lief Wasser herab und tropfte in kleine Pfützen auf das Podest. Draußen<br />

gab es keinen <strong>Picknick</strong>tisch und auch kein Klo, wie sonst bei fast allen<br />

Hütten. Selbst gemessen an den asketischen Standards des Appalachian<br />

Trail, war das hier ziemlich hart. Immerhin hatten wir die Hütte für uns<br />

allein.<br />

Wie bei den meisten AT-Schutzhütten war die Vorderseite offen – ich habe<br />

nie verstanden, welcher Gedanke dahintersteckt, welches architektonische<br />

oder wartungstechnische Prinzip es erfordert, daß eine ganze Seite und<br />

da<strong>mit</strong> alle Gäste den Elementen ausgesetzt sind – , aber hier war noch ein<br />

Maschendrahtzaun davor angebracht. Auf einem Schild stand geschrieben:<br />

»Achtung. Nachtaktive Bären. Tür immer geschlossen halten.« Mich interessierte,<br />

wie aktiv sie wirklich waren, und während Katz schon mal Wasser<br />

für die Nudeln aufsetzte, warf ich einen Blick ins Hüttenbuch. Jede Hütte<br />

verfügt über ein Hüttenbuch, eine Art Gästebuch oder Register, in das die<br />

Besucher tagebuchartige Einträge über das Wetter, die Wegbedingungen,<br />

das eigene Gefühlsleben, soweit vorhanden, oder über ungewöhnliche Vorkommnisse<br />

machen können. In diesem war nur über gelegentliche »bärenähnliche«<br />

Geräusche des Nachts zu lesen, aber was die Chronisten am meisten<br />

beschäftigte, war die ungewöhnliche Lebhaftigkeit der anderen Hüttenbewohner<br />

– der Mäuse und Ratten.<br />

Von dem Moment an, als wir unsere müden Häupter niederbetteten, war das<br />

wuselige Getrippel der kleinen Nagetiere zu hören. Sie waren absolut zutraulich<br />

und liefen dreist über unsere Schlafsäcke und sogar über unsere<br />

Köpfe. Wild fluchend warf Katz seine Wasserflasche und was ihm sonst<br />

gerade in die Finger kam nach ihnen. Einmal machte ich meine Stirnlampe<br />

an und sah eine kleine Buschschwanzratte auf meinem Schlafsack sitzen, in<br />

Brusthöhe; sie hockte auf den Hinterläufen und glotzte mich <strong>mit</strong> stechendem<br />

Blick an. Spontan trat ich von innen gegen den Schlafsack und versetzte<br />

das arme Tierchen in Angst und Schrecken.<br />

»Ich habe eine erwischt!« rief Katz.<br />

»Ich auch«, sagte ich stolz.<br />

Katz rutschte auf Händen und Knien über den Boden, als wolle er selbst<br />

Mäuschen spielen, ließ den Strahl der Taschenlampe durch die Dunkelheit<br />

huschen und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um einen Schuh zu werfen oder<br />

<strong>mit</strong> seiner Wasserflasche auf den Boden zu schlagen. Dann kroch er wieder<br />

in seinen Schlafsack, blieb eine Zeitlang ruhig, fluchte plötzlich lauthals,<br />

warf alles von sich und wiederholte die Prozedur. Ich vergrub mich in mei-


nen Schlafsack und band die Zugschnur über meinem Kopf fest zu. So verging<br />

die Nacht, <strong>mit</strong> wiederholten Gewaltausbrüchen von Katz, gefolgt von<br />

den Phasen der Ruhe, dann wieder Getrippel, dann ein erneuter Katzscher<br />

Gewaltausbruch. Ich schlief erstaunlich gut, trotz alldem.<br />

Ich hatte erwartet, daß Katz übelgelaunt aufwachen würde, aber er war viel<br />

vergnügter als am Abend zuvor.<br />

»Ich muß sagen, es geht nichts über einen anständigen Schlaf, und ich muß<br />

sagen, ich habe anständig geschlafen«, verkündete er beim ersten Räkeln<br />

und lachte bestätigend. Seine Selbstzufriedenheit rührte daher, daß er sieben<br />

Mäuse gekillt hatte, wie sich zeigte, und in höchstem Maße stolz darauf<br />

war, wie ein Gladiator <strong>mit</strong> geschwellter Brust. Mir fiel auf, daß noch etwas<br />

Pelziges und ein Klumpen rosa Fleischiges am Boden seiner Wasserflasche<br />

klebte, als er sie zum Trinken ansetzte. Gelegentlich hat es mich beunruhigt<br />

– ich vermute, es beunruhigt alle Wanderer von Zeit zu Zeit – , wie weit<br />

man sich unterwegs vom üblichen zivilisierten Verhalten entfernen kann.<br />

Dies war so ein Augenblick.<br />

Draußen war Nebel aufgezogen und füllte den Raum zwischen den Bäumen.<br />

Kein aufmunternder Anblick am Morgen. Ein Sprühregen hing in der<br />

Luft, als wir uns auf den Weg machten, und nach kurzer Zeit war er in einen<br />

gleichmäßigen, gnadenlosen Bindfadenregen übergegangen.<br />

Regen kann einem den letzten Nerv rauben. Es macht absolut keinen Spaß,<br />

in einem Regencape zu wandern. Das Knistern von steifem Nylongewebe<br />

und das unentwegte, seltsam verstärkt klingende Pladdern von Regentropfen<br />

auf synthetischem Material haben etwas zutiefst Entmutigendes. Und<br />

was das Schlimmste ist: Man bleibt trotzdem nicht trocken. Die wasserdichte<br />

Kleidung hält zwar den Regen ab, aber man schwitzt so stark, daß man<br />

von innen her bald ganz durchgeweicht ist. Am Nach<strong>mit</strong>tag war der Pfad<br />

ein einziger Wasserlauf. Meine Wanderschuhe hatten längst aufgegeben.<br />

Ich war klatschnaß, und es gluckste bei jedem Schritt. In manchen Teilen<br />

der Smokies regnet es bis zu 300 Zentimeter pro Jahr, das ist weit mehr als<br />

die normale Zimmerhöhe. Eine ganze Menge Regen, könnte man sagen,<br />

und wir bekamen jetzt den größten Teil davon ab.<br />

Wir gingen 15 Kilometer weit bis zum Spence Field Shelter, eigentlich<br />

keine großartige Entfernung, selbst für unsere Verhältnisse, aber wir waren<br />

bis auf die Haut durchnäßt und durchgefroren, als wir ankamen, und zur<br />

nächsten Schutzhütte war es sowieso zu weit. Der Park Service – man<br />

kommt einfach nicht um ihn herum – hat eine Unmenge kleinlicher, starrer,<br />

ärgerlicher Vorschriften für die Wanderer des Appalachian Trail erlassen,<br />

darunter die, daß man stets zügig weitergehen soll, niemals vom Weg abweichen<br />

darf und die Nacht in einer Schutzhütte campieren muß. Praktisch<br />

bedeutet es, daß man nicht nur jeden Tag eine vorgeschriebene Distanz


ewältigen, sondern auch jede Nacht eingepfercht zwischen lauter Fremden<br />

verbringen müßte. Wir schälten uns aus den nassen Klamotten und kramten<br />

in den Rucksäcken nach trockenen, aber sogar die Sachen von ganz unten<br />

fühlten sich klamm an. In eine der Hüttenwände war ein in Stein gefaßter<br />

Kamin eingebaut, und ein aufmerksamer Mensch hatte daneben ein paar<br />

Äste und Scheite gelegt. Katz versuchte ein Feuer anzuzünden, aber alles<br />

war so feucht, daß nichts brannte, nicht einmal die Streichhölzer wollten<br />

zünden. Katz stöhnte entnervt und gab auf. Ich beschloß, Kaffee zu kochen,<br />

um uns aufzuwärmen, aber der Kocher erwies sich ebenfalls als zu launisch.<br />

Während ich noch <strong>mit</strong> dem Kocher herumspielte, hörte ich von draußen das<br />

quietschende Knistern von Nylongewebe, und zwei junge Frauen betraten<br />

verdreckt und durchnäßt die Hütte. Die beiden kamen aus Boston und waren<br />

über einen Nebenwanderweg von Cades Cove aus auf den AT gestoßen. Ein<br />

paar Minuten später kamen vier Studenten der Wake Forest University<br />

dazu, die gerade Semesterferien hatten, dann ein einzelner Wanderer, unser<br />

alter Bekannter Jonathan, und schließlich noch zwei bärtige Männer <strong>mit</strong>tleren<br />

Alters. Nach vier Tagen, in denen wir kaum jemand gesehen hatten,<br />

waren wir plötzlich umringt von Menschen.<br />

Jedermann war freundlich und rücksichtsvoll, aber man kam nicht um die<br />

Erkenntnis herum, daß die Hütte hoffnungslos überbelegt war. Ich dachte<br />

daran – und nicht zum ersten Mal –, wie herrlich es wäre, wie absolut<br />

traumhaft, wenn MacKayes ursprüngliche Vision Wirklichkeit geworden<br />

wäre: wenn die Schutzhütten richtige Herbergen wären, <strong>mit</strong> heißen Duschen,<br />

Einzelbetten, <strong>mit</strong> Trennvorhängen für die Intimsphäre, <strong>mit</strong> Leselampe<br />

bitteschön, und <strong>mit</strong> einem Hüttenwirt, beziehungsweise Koch, der<br />

immer ein Feuer in Gang hielt und der uns jetzt jeden Augenblick auffordern<br />

würde, uns an einen langen Tisch zu setzen, um das Abendbrot aus<br />

Eintopf und Knödeln, Vollkornbrot und, sagen wir, einem Stückchen Pfirsichkuchen<br />

einzunehmen. Draußen gäbe es eine Terrasse <strong>mit</strong> Schaukelstühlen,<br />

auf der könnte man sitzen und gemütlich sein Pfeifchen rauchen und<br />

dabei der Sonne beim Untergehen hinter den fernen Bergen zuschauen. Was<br />

für ein Segen wäre das. Ich saß auf dem Rand des Schlafpodestes, versunken<br />

in meine Träumerei und ganz in Anspruch genommen von der Tätigkeit,<br />

eine kleine Wassermenge zum Kochen zu bringen – eigentlich war ich<br />

ganz zufrieden –, als einer der älteren Männer herüberschlurfte und sich<br />

vorstellte. Ich hatte sofort das beklemmende Gefühl, daß wir uns gleich<br />

über unsere Ausrüstung unterhalten würden. Ich sah es förmlich kommen.<br />

Nichts ist mir so verhaßt, wie Gespräche über Wanderausrüstung.<br />

»Darf ich fragen, warum du dir einen Gregory-Rucksack gekauft hast?«<br />

wollte Bob wissen.<br />

»Ich habe gedacht, es ist bequemer als das ganze Zeug in den Armen zu


tragen.«<br />

Er nickte bedächtig, als erachtete er diese Erklärung einer Erwägung für<br />

würdig, dann sagte er: »Ich habe einen Kelly«<br />

Am liebsten hätte ich geantwortet: Mach dich bitte <strong>mit</strong> dem Gedanken vertraut,<br />

Bob, daß mir das total am Arsch vorbeigeht. Aber es gehört nun mal<br />

dazu, daß man sich über Ausrüstung unterhält, so wie man <strong>mit</strong> den Bekannten<br />

seiner Eltern auch ein paar Worte wechselt, wenn man sie beim Einkaufen<br />

trifft. »Ach ja?« sagte ich. »Und, bist du zufrieden da<strong>mit</strong>?«<br />

»Ja, sehr«, lautete die zutiefst ernst gemeinte Antwort.<br />

»Ich will dir auch erklären warum.« Er holte den Rucksack her, um mir die<br />

Besonderheiten zu demonstrieren – die Klettverschlußtaschen, die Kartenhülle,<br />

die wundersame Eigenschaft, Dinge aufnehmen zu können. Besonders<br />

stolz führte er mir einen herausklappbaren Packbeutel im Innern des<br />

Rucksacks vor, zum Bersten voll <strong>mit</strong> Plastikfläschchen, Vitamintabletten<br />

und Medikamenten, und der vorn ein Sichtfenster hatte. »Da kann man<br />

sofort erkennen, was drin ist, ohne den Reißverschluß zu öffnen«, erklärte<br />

er und sah mich <strong>mit</strong> einem Blick an, der maßloses Erstaunen meinerseits<br />

einklagte.<br />

In dem Moment kam Katz dazu. Er knabberte an einer Möhre – keiner<br />

verstand es so geschickt, Essen zu schnorren wie er – und wollte mich etwas<br />

fragen, aber als er Bobs Beutel <strong>mit</strong> dem Sichtfenster erspähte, sagte er:<br />

»Guck mal, eine Tasche <strong>mit</strong> Sichtfenster. Ist das für Leute, die zu doof sind,<br />

das Ding aufzukriegen?«<br />

»Eigentlich finde ich die Idee ganz praktisch«, sagte Bob in gemäßigt abwehrendem<br />

Ton. »So kann man den Inhalt sehen, ohne daß man den Reißverschluß<br />

aufmachen muß.«<br />

Katz sah ihn baß erstaunt an. »Wieso? Bist du so beschäftigt beim Wandern,<br />

daß du nicht mal die drei Sekunden aufbringen kannst, um deinen Reißverschluß<br />

zu öffnen und in die Tasche zu gucken?« Er wandte sich mir zu.<br />

»Die Studenten haben sich bereit erklärt, ihre Pop Tarts gegen unsere Snikkers<br />

zu tauschen. Was hältst du davon?«<br />

»Eigentlich finde ich das ganz praktisch«, sagte Bob <strong>mit</strong> leiser Stimme, wie<br />

zu sich selbst, räumte seinen Rucksack beiseite und ließ uns fortan in Ruhe.<br />

Ich muß gestehen: Gespräche über Ausrüstungen endeten bei mir immer so,<br />

daß der andere beleidigt und <strong>mit</strong> einem eng an die Brust gedrückten, eben<br />

noch angepriesenen Ausrüstungsgegenstand von dannen zog. Ob Sie’s<br />

glauben oder nicht, das war nie meine Absicht.<br />

Von da an war uns kein Glück mehr in den Smokies beschieden. Wir wanderten<br />

vier Tage lang, und es regnete Bindfäden, ein unaufhörliches Pladdern.<br />

Der Weg war überall morastig und glitschig, in jeder Kuhle, in jeder<br />

Mulde stand das Wasser. Matsch wurde quasi zu einem Bestandteil unseres


Alltags. Wir stapften hindurch, stolperten und fielen hinein, knieten darin,<br />

setzten unsere Rucksäcke im Matsch ab, hinterließen einen Matschstreifen<br />

auf allem, was wir berührten. Und dazu immer das monotone Wisch Wisch<br />

Wisch des Nylonanoraks, zum Wahnsinnigwerden. Am liebsten hätte man<br />

sich das Ding vom Leib gerissen und es in Stücke zerfetzt. Ich sah weder<br />

einen Bären noch einen Salamander, kein Foxfire, kein nichts, kein gar<br />

nichts – nur die Regentropfen und ihre Bahnen auf meinen Brillengläsern.<br />

Jeden Abend übernachteten wir in irgendeinem undichten Kuhstall und<br />

kochten und lebten zusammen <strong>mit</strong> Fremden – Massen von Leuten, allesamt<br />

durchgefroren und durchnäßt, bunt durcheinandergewürfelt, ausgezehrt und<br />

halb verrückt von dem ununterbrochenen Regen und der Freudlosigkeit des<br />

Wanderns unter diesen Bedingungen. Es war schrecklich. Und je schlimmer<br />

das Wetter, desto voller die Schutzhütten. Die Colleges an der Ostküste<br />

hatten Semesterferien, und ganze Armeen von Leuten waren auf die Idee<br />

gekommen, in den Smokies wandern zu gehen. Die Schutzhütten in den<br />

Smokies sind eigentlich für Fernwanderer gedacht, nicht für Ausflügler auf<br />

einem Kurztrip, und gelegentlich führte das zu Streit. Was ziemlich untypisch<br />

für den AT war. Es war einfach furchtbar.<br />

Am dritten Tag hatten Katz und ich nichts Trockenes mehr zum Anziehen,<br />

und wir froren ständig. Wir patschten durch den Regen den Hang zum<br />

Clingmans Dome hinauf – nach allem, was ich gelesen hatte, ein Höhepunkt<br />

der ganzen Wanderstrecke, bei klarem Wetter <strong>mit</strong> einem Ausblick, der einem<br />

angeblich Flügel wachsen läßt – und sahen nichts, rein gar nichts,<br />

außer den Wipfeln von sterbenden Bäumen, die aus dem wabernden Nebelmeer<br />

aufragten.<br />

Wir waren durchgeweicht und dreckig, brauchten dringend saubere, trockene<br />

Wäsche, <strong>mit</strong> anderen Worten einen Waschsalon, ein anständiges Essen<br />

und Ripleys »Believe It or Not Museum«. Es wurde Zeit, nach Gatlinburg<br />

aufzubrechen.


8. Kapitel<br />

Aber zuerst mußten wir da hinkommen.<br />

Vom Clingmans Dome zur U.S. 441, der ersten asphaltierten Straße seit<br />

dem Fontana-Damm vor vier Tagen, waren es 13 Kilometer. Gatlinburg lag<br />

24 Kilometer weiter nördlich, eine lange, serpentinenartig verlaufende,<br />

abschüssige Wegstrecke. Das war zu weit zum Wandern, aber es war wenig<br />

wahrscheinlich, daß man in einem Nationalpark als Tramper <strong>mit</strong>genommen<br />

würde. Auf einem nahegelegenen Parkplatz entdeckte ich drei Jugendliche,<br />

die gerade ihr Gepäck in einem großen schicken Auto <strong>mit</strong> Kennzeichen<br />

New Hampshire verstauten. Ich stellte mich ihnen als Landsmann des Granite<br />

State vor und fragte sie, ob sie die Güte hätten, zwei müde alte Herrschaften<br />

nach Gatlinburg <strong>mit</strong>zunehmen. Bevor sie Einwände erheben konnten,<br />

was deutlich erkennbar ihre Absicht war, dankten wir ihnen überschwenglich<br />

und kletterten in ihren Wagen. So ergatterten wir uns eine stilvolle,<br />

aber dafür in ziemlich trüber Stimmung verlaufende Fahrt nach Gatlinburg.<br />

Gatlinburg ist ein Schocker fürs Gemüt, egal aus welchem Blickwinkel man<br />

die Stadt betrachtet, um so mehr, wenn man nach einem naßkalten Ausflug<br />

in die trübe Einsamkeit der Wälder in den Ort hinabsteigt. Er liegt am<br />

Haupteingang des Great Smoky Mountains National Park und hat sich darauf<br />

spezialisiert, das zur Verfügung zu stellen, was der Park nicht bieten<br />

kann – im wesentlichen sind das Imbißbuden, Motels, Geschenkeboutiquen<br />

und Gehsteige, auf denen sich hin und her schlendern läßt –, alles entlang<br />

der einzigen und unsäglich häßlichen Main Street. Die seit Jahren anhaltende<br />

wirtschaftliche Blüte dieser Stadt gründet auf der allgemeinen Überzeugung,<br />

daß Amerikaner, wenn sie ihr Auto beladen und riesige Entfernungen<br />

zu grandiosen Schauplätzen der Natur zurückgelegt haben, am Ziel angekommen,<br />

unbedingt Minigolf spielen und fetttriefendes Essen zu sich nehmen<br />

wollen. Der Great Smoky Mountains National Park ist der beliebteste<br />

Nationalpark Amerikas, nur Gatlinburg – und das ist das Unfaßbare – ist<br />

noch beliebter.<br />

Gatlinburg ist also abstoßend. Wir hatten nichts dagegen. Nach einer Woche<br />

Wandern suchten wir das Abstoßende, wir lechzten geradezu danach. Wir<br />

stiegen in einem Motel ab, wo man uns <strong>mit</strong> einem spürbaren Mangel an<br />

Herzlichkeit empfing, wurden zweimal beim Überqueren der Main Street<br />

angehupt (für das Kreuzen von Straßen verliert man beim Wandern das Gespür)<br />

und betraten schließlich ein Etablissement, das sich Jersey Joe’s Restaurant<br />

nannte. Dort bestellten wir bei einer blasierten, kaugummiblähenden<br />

Kellnerin, die sich von unserem natürlichen Lachen nicht erweichen<br />

ließ, Cheeseburger und Cola. Wir hatten unser schlichtes, enttäuschendes


Mahl zur Hälfte verzehrt, als die Kellnerin im Vorbeigehen die Rechnung<br />

auf unseren Tisch pfefferte. Sie belief sich auf 22,74 Dollar.<br />

»Das muß ein Versehen sein«, sagte ich stotternd.<br />

Die Kellnerin blieb stehen, schlurfte langsam zurück an unseren Tisch und<br />

sah mich lange und <strong>mit</strong> nicht zu überbietender Geringschätzung an.<br />

»Irgendwelche Probleme?«<br />

»20 Dollar sind ein bißchen happig für zwei Burger, finden Sie nicht?«<br />

quäkte ich <strong>mit</strong> einer Bertie-Wooster-Stimme, die ich an mir noch nicht<br />

kannte.<br />

Sie behielt ihren hochnäsigen Blick bei, nahm die Rechnung auf und las sie<br />

uns zu Gefallen laut vor, wobei sie jeden Posten <strong>mit</strong> einem Schmatzen begleitete.<br />

»Zwei Burger. Zwei Cola. Staatliche Umsatzsteuer. Örtliche Umsatzsteuer.<br />

Getränkesteuer. Vorgeschriebenes Trinkgeld. Gesamtsumme: 22<br />

Dollar und 74 Cents.« Sie ließ die Rechnung auf den Tisch segeln und<br />

schnitt eine Grimasse.<br />

»Willkommen in Gatlinburg, meine Herren.«<br />

Herzlich willkommen. Das konnte man wohl sagen.<br />

Und dann machten wir uns auf den Weg und sahen uns die Stadt an. Ich war<br />

besonders scharf auf Gatlinburg, weil ich mal in einem köstlichen Buch <strong>mit</strong><br />

dem Titel Straßen der Erinnerung: Reisen durch ein vergessenes Amerika,<br />

etwas über diese Stadt gelesen hatte. Der Autor beschreibt die Szenerie auf<br />

der Main Street folgendermaßen: »Scharen übergewichtiger Touristen in<br />

schriller Kleidung, <strong>mit</strong> vor den Bäuchen baumelnden Kameras, schoben<br />

sich gemächlich die Straße entlang, verzehrten Eis, Zuckerwatte oder Maiskolben,<br />

und manchmal auch alles auf einmal.« Daran hatte sich auch bis zu<br />

unserem Besuch nichts geändert. Die gleichen Gruppen birnenförmiger<br />

Menschenleiber <strong>mit</strong> Reeboks an den Füßen wandelten zwischen dem<br />

Dampf und dem Qualm der Buden und hielten ihre absurden Fressalien und<br />

eimergroßen Getränkebehältnisse fest umklammert. Es war immer noch der<br />

gleiche geschmacklose, gräßliche Ort. Dennoch hätte ich ihn jetzt nach der<br />

neun Jahre alten Beschreibung kaum wiedererkannt. Fast jedes Gebäude, an<br />

das ich mich daraus erinnern konnte, war abgerissen und durch ein neues<br />

ersetzt worden -hauptsächlich kleine Einkaufspassagen und Höfe <strong>mit</strong> Geschäften,<br />

die eine ganz neue Welt der Gastronomie- und Einkaufsmöglichkeiten<br />

eröffneten.<br />

Aus Straßen der Erinnerung habe ich eine exemplarische Liste der Touristenattraktionen<br />

von Gatlinburg zusammengestellt, wie sie sich 1987 darboten:<br />

Elvis Presley Hall of Fame, National Bible Museum, Stars Over Gatlinburg-Wachsfigurenkabinett,<br />

Ripleys Believe It or Not Museum, American<br />

Historical Wax Museum, Gatlinburg Space Needle. Bonnie Lou and<br />

Buster Country Music Show, Carbo’s Police Museum, Guiness Book of


Records Exhibition Center, Irlene Mandrell Hall of Stars Museum and<br />

Shopping Mall, zwei Geisterhäuser und noch drei andere Attraktionen,<br />

Hillbilly Village, Paradise Island und World of Illusions. Von diesen 15<br />

Sehenswürdigkeiten waren neun Jahre später anscheinend nur noch drei<br />

übriggeblieben. Natürlich waren statt dessen andere hinzugekommen –<br />

Mysterious Mansion, Hillbilly Golf, Motion Master Ride – die in neun<br />

Jahren wohl ebenfalls wieder verschwunden sein werden, denn so läuft das<br />

nun mal in Amerika.<br />

Ich weiß, daß die Welt ständig in Bewegung ist, aber das Tempo der Veränderungen<br />

in den Vereinigten Staaten ist schwindelerregend. 1951, in meinem<br />

Geburtsjahr, gab es in Gatlinburg nur ein Einzelhandelsgeschäft, den<br />

Gemischtwarenladen Ogle’s. In der wirtschaftlichen Blütezeit der Nachkriegsjahre<br />

fuhren immer mehr Menschen <strong>mit</strong> dem Auto in die Smokies,<br />

und es eröffneten reihenweise Motels, Restaurants, Tankstellen und Souvenirläden.<br />

1987 hatte Gatlinburg 60 Motels und 200 Souvenirläden, heute<br />

sind es 100 Motels und 400 Souvenirläden. Und das Erstaunliche daran ist,<br />

daß daran absolut nichts erstaunlich ist.<br />

Das muß man sich einmal klarmachen: Die Hälfte aller Bürohäuser und<br />

Einkaufszentren in Amerika wurde nach 1980 gebaut. Wohlgemerkt, die<br />

Hälfte. 80 Prozent der Wohnhäuser stammen aus der Zeit nach 1945. Von<br />

der Gesamtzahl aller Motelzimmer in Amerika sind 230.000 in den letzten<br />

15 Jahren entstanden. Nur ein paar Kilometer hinter Gatlinburg liegt das<br />

Städtchen Pigeon Forge, das 20 Jahre zuvor noch ein verschlafenes Nest<br />

war – was sage ich, erst noch ein verschlafenes Nest werden wollte – und<br />

nur Berühmtheit erlangte, weil es die Heimatstadt von Dolly Parton ist.<br />

Dann errichtete die ehrenwerte Ms. Parton einen Vergnügungspark, Dollywood,<br />

und nun verfügt Pigeon Forge über 200 Einzelhandelsgeschäfte, die<br />

sich entlang eines fünf Kilometer langen Highways hinziehen. Pigeon Forge<br />

ist größer und noch häßlicher als Gatlinburg, hat aber bessere Parkmöglichkeiten<br />

und deswegen mehr Gäste.<br />

Und nun vergleichen Sie das alles mal <strong>mit</strong> dem Appalachian Trail. Zu dem<br />

Zeitpunkt, als wir unsere Wanderung unternahmen, war der AT 59 Jahre alt,<br />

ein stattliches Alter für amerikanische Verhältnisse. Der Oregon Trail und<br />

der Santa Fe Trail sind nicht so alt geworden. Route 66 ist nicht so alt geworden.<br />

Und der ehemalige Lincoln Highways, eine Straße, die beide Küsten<br />

<strong>mit</strong>einander verband und Leben und bleibenden Wohlstand in viele<br />

Kleinstädte brachte, und die so berühmt und beliebt war, daß sie »America’s<br />

Main Street« genannt wurde, ist auch nicht so alt geworden. In Amerika<br />

wird nichts alt. Wenn ein Produkt sich nicht dauernd selbst neu erfindet,<br />

wird es abgeschafft, verdrängt, ohne Skrupel aufgegeben für etwas Größeres,<br />

Neueres und leider meist auch Häßlicheres. Und dann gibt es da den


guten alten AT, der nach sechs Jahrzehnten immer noch still und bescheiden<br />

seine Aufgabe erfüllt, getreu seinen Grundprinzipien, sympathischerweise<br />

ohne sich darum zu kümmern, daß die Welt sich ein ganzes Stück weiterentwickelt<br />

hat. Eigentlich ein Wunder.<br />

Katz brauchte neue Schnürbänder, wir gingen daher in einen Laden für<br />

Wanderausrüstung, und während er sich in der Schuhabteilung umtat,<br />

schlenderte ich ein bißchen herum. An einer Wand war eine Karte aufgehängt,<br />

die den gesamten Verlauf des Appalachian Trail durch alle 14 Bundesstaaten<br />

zeigte. Die östliche Meeresküste war seitenverkehrt dargestellt,<br />

so daß man den Eindruck bekam, der Trail habe eine genaue Nordsüd-<br />

Ausrichtung, was es den Kartographen ermöglichte, den Wanderweg in<br />

einem ordentlichen Rechteck unterzubringen, 15 Zentimeter breit, 1,2 Meter<br />

lang. Ich sah mir die Karte <strong>mit</strong> gierigem, geradezu besitzergreifendem Interesse<br />

an – es war das erste Mal, seit ich von New Hampshire aufgebrochen<br />

war, daß ich den Weg in seiner Gesamtlänge sah –, dann trat ich <strong>mit</strong><br />

weit aufgerissenen Augen und heruntergefallener Kinnlade näher heran.<br />

Von der 120 Zentimeter langen Wanderkarte, die mir von den Knien bis ungefähr<br />

zum Scheitel reichte, hatten wir gerade mal die untersten fünf Zentimeter<br />

absolviert.<br />

Ich ging los und suchte Katz, packte ihn am Arm, als ich ihn aufgestöbert<br />

hatte, und zog ihn hinter mir her zu der Pinnwand. »Was ist los?« sagte er.<br />

Ich wies auf die Karte. »Na und?« Katz mochte keine Rätsel.<br />

»Guck dir mal die Karte an, und dann guck dir an, wieviel wir gegangen<br />

sind.«<br />

Er sah hin, er sah noch mal hin. Ich beobachtete ihn, während sein Gesicht<br />

ausdruckslos wurde. »Meine Fresse«, stöhnte er schließlich. Er wandte sich<br />

mir zu, Erstaunen stand ihm jetzt ins Gesicht geschrieben. »Wir haben ja<br />

noch überhaupt nichts geschafft.«<br />

Wir gingen erstmal einen Kaffee trinken und blieben eine Zeitlang in fassungslosem<br />

Schweigen verharrend am Tisch sitzen. Was hatten wir nicht<br />

alles getan und erlebt – die ganzen Mühen und Strapazen, die Schmerzen,<br />

die Feuchtigkeit, die Berge, der grauenhafte pappige Nudelfraß, die<br />

Schneestürme, die langweiligen Abende <strong>mit</strong> Mary Ellen, die vielen, vielen<br />

nicht enden wollenden, zäh errungenen Kilometer – und alles summierte<br />

sich gerade mal zu fünf Zentimetern. Meine Haare waren in der Zeit mehr<br />

gewachsen.<br />

Eins stand fest: Wir würden niemals bis Maine wandern.<br />

In gewisser Weise war das befreiend. Wenn wir nicht den ganzen Weg<br />

wandern konnten, dann brauchten wir ihn auch nicht ganz zu wandern – ein<br />

Gedanke, der an Anziehungskraft gewann, je mehr wir uns <strong>mit</strong> ihm vertraut


machten. Die Schinderei, die uns noch bevorgestanden hätte – das ermüdende,<br />

wahnsinnige, eigentlich sinnlose Unterfangen, jeden Zentimeter des<br />

steinigen Wegs zwischen Georgia und Maine abzugehen –, war von uns genommen.<br />

Ab jetzt konnten wir die Sache locker angehen.<br />

Am nächsten Morgen breiteten wir unsere Karten auf dem Bett in meinem<br />

Motelzimmer aus und wogen die verschiedenen Möglichkeiten ab, die uns<br />

plötzlich offenstanden. Wir kamen zu dem Schluß, nicht in Newfound Gap<br />

wieder loszuwandern, wo wir den Trail verlassen hatten, sondern ein Stück<br />

weiter, an einer Stelle, die sich Spivey Gap nannte, in der Nähe von Ernestville.<br />

Das brachte uns auf die andere Seite der Smokies – weg von den<br />

überfüllten Schutzhütten und den starren Vorschriften – zurück in eine<br />

Welt, in der wir uns ungezwungener bewegen konnten. Ich holte mir die<br />

Gelben Seiten und schlug unter Taxiunternehmen nach. Es gab drei in Gatlinburg.<br />

Ich rief gleich das erste an.<br />

»Wieviel kostet eine Fahrt für zwei Personen nach Ernestville?« erkundigte<br />

ich mich.<br />

»Weiß nich«, lautete die Antwort.<br />

Das brachte mich etwas aus dem Konzept. »Fragen wir mal so: Wieviel<br />

glauben Sie, daß es kostet?«<br />

»Weiß nich.«<br />

»Es ist nicht so weit von hier.«<br />

Es folgte ein beharrliches Schweigen, dann sagte die Stimme: »Jawoll.«<br />

»Haben Sie noch nie jemanden dahingebracht?«<br />

»Nö.«<br />

»Nach meiner Karte zu urteilen sind es etwas über 30 Kilometer. Glauben<br />

Sie, daß das ungefähr hinkommt?«<br />

Wieder Schweigen. »Könnte sein.«<br />

»Und wieviel kosten bei Ihnen 30 Kilometer?«<br />

»Weiß nich.«<br />

Ich sah wütend den Hörer an. »Entschuldigen Sie, aber ich muß es einfach<br />

loswerden: Sie sind wirklich dümmer, als die Polizei erlaubt.«<br />

Ich legte auf.<br />

»Vielleicht sollte ich mich da nicht einmischen«, setzte Katz nachdenklich<br />

an, »aber ich könnte mir vorstellen, daß das nicht gerade der sicherste Weg<br />

zu prompter und freundlicher Bedienung ist.«<br />

Ich rief das nächste Taxiunternehmen an und fragte, wieviel eine Fahrt nach<br />

Ernestville kosten würde.<br />

»Weiß nich«, sagte die Stimme.<br />

Nein, nicht schon wieder, dachte ich.<br />

»Was wollen Sie denn da?« verlangte der Mann zu wissen.<br />

»Wie bitte?«


»Was Sie in Ernestville wollen? Da ist doch nichts los.«<br />

»Eigentlich wollen wir nach Spivey Gap. Es ist nämlich so - wir wandern<br />

den Appalachian Trail entlang.«<br />

»Nach Spivey Gap sind es noch mal acht Kilometer.«<br />

»Ja, ich weiß, ich wollte nur ungefähr wissen…«<br />

»Das hätten Sie gleich sagen sollen, weil, nach Spivey Gap sind es noch<br />

mal acht Kilometer.«<br />

»Na gut. Wieviel würde es denn nach Spivey Gap kosten?«<br />

»Weiß nich.«<br />

»Entschuldigen Sie, aber kann es sein, daß sich Taxifahrer in Gatlinburg<br />

besonders blöd anstellen müssen, um ihre Lizenz zu kriegen?«<br />

»Was?«<br />

Ich legte wieder auf und sah Katz an. »Was ist los <strong>mit</strong> dieser Stadt? Mein<br />

Nasenpopel ist intelligenter als dieser lahme Haufen.«<br />

Ich rief das dritte und letzte Taxiunternehmen an und fragte, wie teuer eine<br />

Fahrt nach Ernestville sei.<br />

»Wieviel können Sie denn zahlen?« blaffte mich eine lebhafte Stimme an.<br />

Endlich mal jemand, <strong>mit</strong> dem man Tacheles reden konnte. Ich mußte grinsen<br />

und sagte. »Ich weiß nicht. Einen Dollar 50?«<br />

Ein verächtliches Schnauben war zu hören. »Also ein bißchen teurer wird es<br />

schon.« Es folgten eine Pause und das Knarren eines Stuhls, in den sich<br />

jemand zurücklehnte. »Es kommt natürlich drauf an, was auf dem Taxameter<br />

steht, aber ich schätze mal, es sind so um die 20 Dollar. Wozu wollen<br />

Sie eigentlich nach Ernestville?«<br />

Ich erklärte ihm das <strong>mit</strong> Spivey Gap und dem Appalachian Trail.<br />

»Appalachian Trail? Sie sind wohl übergeschnappt. Wann wollen Sie los?«<br />

»Ich weiß nicht. Wie war’s jetzt gleich?«<br />

»Wo sind Sie gerade?«<br />

Ich nannte ihm den Namen des Motels.<br />

»Ich bin in zehn Minuten da. 15 Minuten höchstens. Wenn ich in 20 Minuten<br />

nicht da bin, dann machen Sie sich ohne mich auf den Weg, und wir<br />

treffen uns dann in Ernestville.« Er legte auf. Wir hatten nicht nur einen<br />

Fahrer gefunden, wir hatten einen Komiker entdeckt.<br />

Während wir auf einer Bank draußen vor dem Motel warteten, zog ich mir<br />

eine Ausgabe des Nashville Tennessean aus einem Automaten, nur so, weil<br />

ich wissen wollte, was so in der Welt vor sich ging. In dem Leitartikel der<br />

Zeitung wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Regierung des Bundesstaates<br />

– in einem jener Akte der Aufklärung, durch die sich die südlichen<br />

Staaten häufig zu profilieren versuchen – dabei sei, ein Gesetz zu verabschieden,<br />

das Lehrern in Zukunft verbieten sollte, die Evolutionstheorie an<br />

den Schulen zu unterrichten. Statt dessen sollten sie dazu verpflichtet wer-


den, den Kindern beizubringen, Gott habe die Erde erschaffen, in sieben<br />

Tagen, irgendwann früher, sagen wir, vor der Jahrhundertwende. Der Artikel<br />

rief den Zeitungslesern ins Gedächtnis, daß dieses Thema in Tennessee<br />

schon mal auf der Tagesordnung gestanden hatte. Die kleine Stadt Dayton,<br />

zufällig ganz in der Nähe von dem Ort, in dem Katz und ich uns gerade<br />

befanden, war 1925 Schauplatz eines Gerichtsprozesses gewesen, in dem<br />

der Bundesstaat den Lehrer John Thomas Scopes angeklagt hatte, voreilig<br />

die darwinistische Irrlehre unter die Leute gebracht zu haben. Wie fast jeder<br />

Amerikaner weiß, gelang es dem Verteidiger Clarence Darrow, den Ankläger<br />

in Person von William Jennings Bryan in aller Öffentlichkeit zu demütigen,<br />

aber den meisten ist nicht bekannt, daß Darrow am Ende den Prozeß<br />

verlor. Scopes wurde verurteilt, und erst 1967 wurde das entsprechende<br />

Gesetz in Tennessee abgeschafft. Jetzt sollte es zum zweiten Mal erlassen<br />

werden – wo<strong>mit</strong> Tennessee endgültig den Beweis dafür lieferte, daß die<br />

Gefahr für seine Landeskinder nicht darin bestand, daß sie von Affen abstammten,<br />

sondern darin, von solchen regiert zu werden.<br />

Urplötzlich, ich vermag auch nicht zu sagen warum, verspürte ich das dringende<br />

Bedürfnis, mich schleunigst aus dem tiefen Süden in Richtung Norden<br />

abzusetzen. Ich wandte mich Katz zu.<br />

»Warum fahren wir nicht nach Virginia?«<br />

»Wie bitte?«<br />

Vor ein paar Tagen hatte uns jemand in einer der Schutzhütten erzählt, wie<br />

wunderschön, wie absolut wanderfreundlich die Berge des Virginia Blue<br />

Ridge seien. Wenn man erst mal oben sei, hatte er uns versichert, verliefen<br />

die Wege praktisch alle ohne Steigung, und man habe prächtige Ausblicke<br />

auf das breite Tal des Shenandoah River. Man könne ohne weiteres 40 Kilometer<br />

am Tag schaffen. Von den finsteren, feuchtkalten Schutzhütten der<br />

Smokies aus betrachtet, klang das paradiesisch, und der Gedanke hatte sich<br />

bei mir festgesetzt. Ich erklärte Katz, was ich meinte.<br />

Er rutschte aufgeregt nach vorn. »Heißt das, wir lassen die ganze Strecke<br />

von hier nach Virginia aus? Überspringen sie einfach?« Er wollte offenbar<br />

nur nachfragen, ob er mich auch richtig verstanden hatte.<br />

Ich nickte.<br />

»Ja, verdammt noch mal.«<br />

Als der Taxifahrer eine Minute später vorfuhr, ausstieg und uns musterte,<br />

erklärte ich ihm zögerlich und etwas ratlos – weil ich mir die ganze Sache<br />

selbst nicht gründlich überlegt hatte –, daß wir nicht mehr nach Ernestville<br />

fahren wollten, sondern nach Virginia.<br />

»Virginia?« sagte er, als hätten wir ihn gefragt, wo man sich hier die Syphilis<br />

holen könne. Der Mann war klein, aber gebaut wie ein Gewichtheber,<br />

und er war mindestens 70 Jahre alt und hellwach im Kopf, klüger als Katz


und ich zusammen. Er hatte den Gedanken hinter meinen Überlegungen<br />

begriffen, bevor ich irgend etwas erklärt hatte.<br />

»Dann müssen Sie nach Knoxville, mieten sich da ein Auto und fahren bis<br />

Roanoke. Das ist am besten.«<br />

Ich nickte. »Und wie kommt man nach Knoxville?«<br />

»Wie war’s <strong>mit</strong> einem Taxi?« blaffte er mich wieder an, als hätte er einen<br />

Schwachsinnigen vor sich. Ich glaube, er war etwas schwerhörig oder er<br />

brüllte einfach nur gerne Leute an. »Kostet ungefähr 50 Dollar«, sagte er<br />

abwägend.<br />

Katz und ich sahen uns an. »Gut. In Ordnung«, sagte ich, und wir stiegen<br />

ein.<br />

Also auf nach Roanoke und zu den sanften, grünen Hügeln von Virginia.


9. Kapitel<br />

Earl V. Shaffer, ein junger Mann, der gerade seinen Abschied von der Armee<br />

genommen hatte, war der erste Mensch, der den Appalachian Trail an<br />

einem Stück vom Anfang bis zum Ende abgewandert ist. Er war 123 Tage<br />

unterwegs, von April bis August 1948, ohne Zelt und häufig nur <strong>mit</strong> Straßenkarten<br />

zur Orientierung, und legte durchschnittlich 27 Kilometer am Tag<br />

zurück. Zufälligerweise erschien während dieser Zeit in den Appalachian<br />

Trail News, der Zeitschrift der Appalachian Trail Conference, ein langer<br />

Artikel von Myron Avery und dem Herausgeber Jean Stephenson, in dem<br />

ausführlich dargestellt wurde, warum die Wanderung an einem Stück wahrscheinlich<br />

nicht zu bewerkstelligen sei.<br />

Der Pfad, den Shaffer vorfand, war <strong>mit</strong> dem ordentlich gepflegten Wanderweg<br />

von heute nicht zu vergleichen. Obwohl die Fertigstellung des Wegs<br />

erst elf Jahre zurücklag, war er 1948 bereits wieder in Vergessenheit geraten.<br />

Shaffer mußte feststellen, daß weite Abschnitte überwuchert oder durch<br />

Rodungen im großen Stil vernichtet worden waren. Es gab nur wenige<br />

Schutzhütten und oftmals keine Markierungen. Viel Zeit ging ihm da<strong>mit</strong><br />

verloren, daß er den Pfad über <strong>mit</strong> Gestrüpp bewachsene Berghänge erst <strong>mit</strong><br />

einem Buschmesser freischlagen mußte oder daß er weite Umwege lief,<br />

wenn er an einer Gabelung erstmal in die falsche Richtung gegangen war.<br />

Gelegentlich stieß er auf eine Straße, und es zeigte sich, daß er kilometerweit<br />

vom Weg abgekommen war. Die Bewohner der Orte, durch die er<br />

kam, wußten oft nichts von der Existenz des Trails und wenn doch, waren<br />

sie jedesmal erstaunt darüber, daß er tatsächlich von Georgia bis Maine<br />

führte. Häufig begegneten ihm die Menschen <strong>mit</strong> Mißtrauen.<br />

Andererseits gab es zu der Zeit auch noch in den entlegensten Nestern fast<br />

immer ein Geschäft oder ein Cafe, und in der Regel konnte Shaffer, wenn er<br />

den Trail verließ, da<strong>mit</strong> rechnen, irgendwann auf einen Linienbus zu treffen,<br />

den er anhalten konnte und der ihn in die nächste Stadt bringen würde.<br />

Obwohl er in den vier Monaten keinem Wanderer begegnete, gab es doch<br />

genug anderes Leben entlang des Wegs. Er kam oft an kleinen Farmen oder<br />

Waldhütten vorbei oder stieß auf Viehzüchter, die ihre Herden auf den<br />

grasbewachsenen Bergkuppen hüteten. Diese Lebensformen sind längst<br />

untergegangen. Heute ist der Appalachian Trail eine geplante Wildnis, auf<br />

Befehl, wenn man so will, denn die meisten Gehöfte, an denen Shaffer<br />

vorbeikam, wurden später zwangsenteignet und unauffällig in Waldland<br />

zurückverwandelt. Und noch ein paar Unterschiede zu damals: 1948 gab es<br />

doppelt so viele Singvögel in den Vereinigten Staaten wie heute, und außer<br />

den Kastanien waren die Bäume gesund. Hartriegel, Ulme, Schierling, Balsamtanne<br />

und Rotfichte gediehen alle noch. Vor allem aber hatte unser


Freund Shaffer die ganzen 3.200 Kilometer Wanderweg ganz für sich allem.<br />

Als Shaffer Anfang August seine Wanderung beendete, auf den Tag genau<br />

vier Monate nach dem Start, und diese einmalige Leistung dem Büro der<br />

Appalachian Trail Conference zur Kenntnis brachte, gab es dort zunächst<br />

niemanden, der ihm Glauben schenkte. Er mußte erst offiziellen Vertretern<br />

seine Fotos und Wander-Tagebücher zeigen und eine, wie er sich in seinem<br />

später erschienenen Reisebericht Walking with Spring ausdrückte, »freundliche<br />

aber eingehende Prüfung« über sich ergehen lassen, bevor man ihm<br />

seine Geschichte schließlich abnahm.<br />

Als sich die Nachricht von Shaffers Wanderung verbreitete, erregte sie<br />

ungeheuer viel Aufsehen. Zeitungsjournalisten reisten für Interviews an,<br />

National Geographie veröffentlichte einen langen Artikel über ihn, und der<br />

Appalachian Trail erlebte ein bescheidenes Revival. Wandern ist allerdings<br />

schon immer ein seltener, geradezu exotischer Zeitvertreib in Amerika gewesen,<br />

und nach wenigen Jahren war der AT außer bei einigen Unnachgiebigen<br />

und Exzentrikern schon wieder weitgehend vergessen. Anfang der<br />

60er Jahre tauchte der Plan auf, den Blue Ridge Parkway, eine malerische<br />

Straße südlich der Smokies, zu verlängern und dafür den entsprechenden<br />

Abschnitt des AT einfach zu überbauen. Der Plan scheiterte – aus Kostengründen,<br />

nicht etwa, weil es einen Aufschrei der Empörung gegeben hätte –,<br />

aber dafür wurde der AT an anderer Stelle beschnitten oder verkam zu einem<br />

matschigen Trampelpfad durch Gewerbegebiet. 1958 wurden, wie<br />

bereits erwähnt, von der Südhälfte, dem Abschnitt zwischen Mount<br />

Oglethorpe und Springer Mountain, 32 Kilometer gekappt. Mitte der 60er<br />

Jahre sah es für jeden sensiblen Beobachter so aus, als würde der AT nur als<br />

ein Sammelsurium unzusammenhängender, hier und da verstreut liegender,<br />

einzelner Wegstrecken überleben – in den Smokies und dem Shenandoah<br />

National Park, quer durch Vermont bis nach Maine –, einsame, übriggebliebene<br />

Abschnitte in dem obligatorischen State Park, aber ansonsten begraben<br />

unter Shopping Mails und Erschließungsprojekten. Weite Strecken des<br />

Trails führten über Privatgrundstücke, und neue Besitzer widerriefen oft das<br />

einstmals inoffiziell erteilte Wegerecht und erzwangen da<strong>mit</strong> eine meist<br />

voreilige und verworrene neue Wegführung entlang befahrener Highways<br />

oder anderer öffentlicher Straßen – was kaum das Erlebnis der Wildnis bot,<br />

das Benton MacKaye im Auge gehabt hatte. Wieder einmal war der AT<br />

bedroht.<br />

Dann wollte es der Zufall, daß Amerika einen Innenminister bekam, der<br />

selbst begeisterter Wanderer war, Stewart Udall. In seiner Amtszeit wurde<br />

1968 der National Trails System Act verabschiedet, ein ehrgeiziges und<br />

weitreichendes Gesetzesvorhaben, das größtenteils nie verwirklicht worden<br />

ist. Es sah neue Wanderwege in einer Gesamtlänge von 40.000 Kilometer


kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten vor, von denen die meisten<br />

allerdings nie gebaut wurden. Das Gesetz brachte aber immerhin den Pacific<br />

Crest Trail hervor und sicherte die Zukunft des AT, indem er ihn zum de<br />

facto National Park erklärte. Außerdem gewährte es Finanz<strong>mit</strong>tel, 170 Millionen<br />

Dollar seit 1978, für den Erwerb von Land, um wenigstens eine Art<br />

Wildnis-Pufferzone links und rechts des Wegesrands zu gewährleisten.<br />

Heute verläuft fast der gesamte Weg durch geschützte Wildnis, nur 33 Kilometer,<br />

knapp ein Prozent der Strecke, führen über öffentliche Straßen,<br />

meistens über Brücken, da, wo der Weg Ortschaften durchquert.<br />

In den 50 Jahren nach Shaffers Wanderung haben etwa 4.000 Menschen<br />

diesen Kraftakt unternommen. Unter den Wanderern, die den Trail von<br />

Anfang bis Ende gehen, gibt es zwei Typen, einmal diejenigen, die ihn in<br />

einer einzigen Saison hinter sich bringen, die sogenannten »Weitwanderer«,<br />

und diejenigen, die den Weg portionsweise gehen, die »Etappenwanderer«.<br />

Der Rekord für die längste Etappenwanderung liegt bei 46 Jahren. Die Appalachian<br />

Trail Conference erkennt Geschwindigkeitsrekorde nicht an, <strong>mit</strong><br />

der Begründung, dies widerspräche der Grundidee. Das hält die Leute jedoch<br />

nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. In den 80er Jahren ging ein<br />

gewisser Ward Leonard <strong>mit</strong> voll bepacktem Rucksack und ohne Helfermannschaften<br />

den Weg in 60 Tagen ab – eine unglaubliche Leistung, wenn<br />

man bedenkt, daß man für die gleiche Entfernung <strong>mit</strong> dem Auto etwa fünf<br />

Tage braucht. Im Mai 1991 traten der »Extremläufer« David Horton und der<br />

»Extremwanderer« Scott Grierson gegeneinander an und gingen im Abstand<br />

von zwei Tagen los. Horton hatte auf der gesamten Strecke ein Netz von<br />

Helfermannschaften gespannt, die an Straßenkreuzungen und anderen strategischen<br />

Punkten auf ihn warteten, so daß er beim Wandern nur eine Flasche<br />

Wasser <strong>mit</strong>zuführen brauchte. Jeden Abend wurde er <strong>mit</strong> einem Auto<br />

in ein Motel gefahren oder privat untergebracht. Er legte pro Tag durchschnittlich<br />

61,6 Kilometer zurück, das sind zehn bis elf Stunden Dauerlauf.<br />

Grierson dagegen ging ausschließlich zu Fuß, am Tag bis zu 18 Stunden.<br />

Am 39. Tag wurde er von Horton in New Hampshire überholt, der sein Ziel<br />

in 52 Tagen und neun Stunden erreichte. Grierson kam zwei Tage später an.<br />

Alle möglichen Leute haben die Wanderung an einem Stück geschafft. Ein<br />

Mann war bereits über Achtzig, ein anderer ging an Krücken, und ein Blinder<br />

namens <strong>Bill</strong> Irwin ist den Weg zusammen <strong>mit</strong> seinem Blindenhund<br />

gewandert und unterwegs schätzungsweise 6.OOOmal hingefallen. Die<br />

berühmteste Person unter den Weitwanderern oder zumindest diejenige,<br />

über die am meisten geschrieben wurde, ist Emma »Grandma« Gatewood,<br />

die den Trail <strong>mit</strong> über sechzig Jahren bereits zweimal erfolgreich absolviert<br />

hat, obwohl sie eine sehr exzentrische Person ist, schlecht ausgerüstet war<br />

und sich sozusagen selbst im Weg stand – sie verirrte sich dauernd. Mein


Lieblingskandidat ist jedoch Woodrow Murphy aus Pepperell, Massachusetts,<br />

der 1995 die Wanderung an einem Stück unternahm. Er hätte auch so<br />

meine Sympathie gehabt, schon weil er Woodrow heißt, aber ich bewunderte<br />

ihn um so mehr, als ich las, daß er 160 Kilo wog und sich auf den Weg<br />

machte, um Gewicht zu verlieren. In der ersten Woche schaffte er ein Tagespensum<br />

von acht Kilometern, aber er hielt durch, und im August, als er<br />

wieder zu Hause ankam, hatte er seine Tagesleistung auf 19 Kilometer gesteigert.<br />

Er hatte 24 Kilo abgenommen – nicht gerade viel bei dem Gesamtgewicht<br />

-und wollte im Jahr darauf die Wanderung wiederholen.<br />

Erstaunlich viele Weitwanderer kommen in Katahdin an, machen auf der<br />

Stelle kehrt und gehen den ganzen Weg nach Georgia noch mal zurück. Sie<br />

können einfach nicht aufhören <strong>mit</strong> dem Wandern, was einen dann doch<br />

stutzig macht. Es ist sogar so, daß man gar nicht mehr aus dem Staunen<br />

herauskommt, wenn man mehr über diese Weitwanderer liest. Nehmen wir<br />

zum Beispiel <strong>Bill</strong> Irwin, den Blinden. Nach seinem Abenteuer meinte er:<br />

»Das Wandern an sich hat mir keinen Spaß gemacht. Ich fühlte mich eher<br />

dazu gezwungen. Ich mußte es tun. Ich hatte keine andere Wahl.« Oder<br />

David Horton, der Extremläufer, der 1991 den Geschwindigkeitsrekord<br />

aufstellte: Nach eigener Darstellung war er am Ende »ein geistiges und<br />

körperliches Wrack«, und während der Durchquerung von Maine hat er die<br />

meiste Zeit über furchtbar geweint. Da fragt man sich doch: Warum tun sich<br />

die Leute das an? Selbst Earl Shaffer fristete später sein Leben als Einsied-<br />

ler in den abgelegenen Wäldern von Pennsylvania. Ich will da<strong>mit</strong> nicht<br />

sagen, daß der Appalachian Trail einen verrückt macht, nur, daß man für<br />

diese Wanderung irgendwie veranlagt sein muß.<br />

Welche Schamgefühle mich plagten, als ich meinen Ehrgeiz aufgab, die<br />

ganze Strecke zu gehen – wenn doch eine Oma in Turnschuhen, ein wandelnder<br />

Wasserball namens Woodrow und über 3.990 andere es bis Katahdin<br />

geschafft hatten? Keine. Ich würde ja immer noch den Appalachian<br />

Trail entlangwandern, nur nicht mehr jeden Meter. Kaum zu glauben, aber<br />

Katz und ich hatten bereits eine halbe Million Schritte getan. Es schien<br />

nicht unbedingt notwendig, auch noch die restlichen viereinhalb Millionen<br />

zu tun, um einen Eindruck von der Sache zu kriegen.<br />

Wir ließen uns also von dem witzigen Taxifahrer nach Knoxville bringen,<br />

mieteten uns am Flughafen einen Wagen und befanden uns schon am frühen<br />

Nach<strong>mit</strong>tag auf dem Weg Richtung Norden, auf einer Ausfallstraße, die uns<br />

durch eine Welt führte, die wir beinahe vergessen hatten: befahrene Straßen,<br />

Ampelanlagen, riesige Kreuzungen, überdimensionale Verkehrsschilder,<br />

landverschlingende Einkaufszentren, Tankstellen, <strong>Bill</strong>igkaufhäuser, Auspuffwerkstätten,<br />

Parkplätze und was sonst noch alles dazu gehört. Selbst<br />

nach einem Tag in Gatlinburg war der Kulturschock überwältigend. Ich


habe irgendwo gelesen, daß einmal zwei Indianer aus dem brasilianischen<br />

Regenwald, die keine Kenntnisse von der Welt jenseits des Dschungels<br />

besaßen und auch keine Erwartungen da<strong>mit</strong> verknüpften, nach Sao Paulo<br />

oder Rio gebracht wurden, und als sie sahen, woraus diese Welt bestand –<br />

aus Häusern, Straßen, Flugzeugen am Himmel – und wie grundlegend sie<br />

sich von ihrem eigenen einfachen Leben unterschied, machten sie sich beide<br />

ausgiebig in die Hose. Ich kann gut nachvollziehen, wie sich die beiden<br />

vorgekommen sind.<br />

Es ist so ein extremer Kontrast. Draußen auf dem Trail ist der Wald dein<br />

Universum, ganz und gar. Man erlebt nichts anderes, sieht nichts anderes,<br />

Tag für Tag. Schließlich kann man sich gar nichts anderes mehr vorstellen.<br />

Man weiß natürlich, daß es irgendwo jenseits des Horizonts große Städte,<br />

rauchende Fabrikschlote und verstopfte Highways gibt, aber diesseits, da,<br />

wo der Wald die Landschaft bedeckt, so weit das Auge reicht, herrscht die<br />

Natur. Auch die kleinen Städte, Franklin oder Hiawassee, selbst Gatlinburg,<br />

sind nur Wegstationen, die verstreut im großen Kosmos des Waldes hegen.<br />

Aber man braucht nur den Trail zu verlassen und irgendwo hinzufahren, so<br />

wie wir jetzt, und es wird einem klar, wie herrlich man getäuscht worden<br />

ist. Hier waren die Berge lediglich Kulisse – bekannt, vertraut, in der Nähe,<br />

aber nicht auffälliger oder folgenschwerer als die Wolken, die über die<br />

Gipfel dahinjagten. Hier tobte das Leben, rückte einem förmlich auf den<br />

Leib: Tankstellen, Wal-Marts, Kmarts, Dunkin Donuts, Blockbuster Videotheken,<br />

ein unaufhörlicher Aufmarsch kommerzieller Abscheulichkeiten.<br />

Sogar Katz war angewidert. »Meine Güte, ist das häßlich«, sagte er erstaunt,<br />

als hätte er so etwas noch nie gesehen. Ich schaute an ihm vorbei auf<br />

eine gigantische Shopping Mall <strong>mit</strong> einem gigantischen Parkplatz davor,<br />

und pflichtete ihm bei. Es war schrecklich. Und dann machten wir uns gemeinsam<br />

ausgiebig in die Hose.


10. Kapitel<br />

Es gibt ein Gemälde von Asher Brown Durand, das den Titel »Verwandte<br />

Geister« trägt und häufig als Beispiel herangezogen wird, wenn es um amerikanische<br />

Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts geht. Das Bild stammt<br />

von 1849, und es zeigt zwei Männer, die auf einem Felsvorsprung in den<br />

Catskills vor einer grandiosen Kulisse stehen, die eine jener stilisierten,<br />

untergegangenen Welten zeigt, die man offenbar nur <strong>mit</strong> einer Expedition<br />

erreichen kann, aber dazu sind die beiden Männer gänzlich unpassend gekleidet,<br />

eher wie fürs Büro, <strong>mit</strong> langen Mänteln und dicken Halstüchern.<br />

Unter ihnen, in einer düsteren Schlucht, rauscht zwischen einem Gewirr von<br />

Felsbrocken ein Wildbach dahin. Jenseits, am Horizont, durch einen Baldachin<br />

aus Blättern, fällt der Blick auf eine lange Kette bedrohlich wirkender,<br />

aber herrlicher, blauer Berge. Von links und rechts schieben sich unregelmäßige<br />

Baumreihen ms Bild, die in einer alles verschlingenden Dunkelheit<br />

verschwimmen.<br />

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gern ich mich in dieses Bild hineinbegeben<br />

würde. Die Landschaft hat etwas dermaßen Ungezähmtes an sich, der<br />

Horizont etwas so Undurchdringliches, daß es auf mich wie eine tollkühne<br />

Verlockung wirkt. Natürlich würde man da draußen umkommen – von<br />

einem Puma zerfetzt, von einem Tomahawk getroffen werden oder einfach<br />

nur beim Gehen in einen jämmerlichen Tod stürzen. Das sieht man auf den<br />

ersten Blick. Und dennoch. Man sucht bereits den Vordergrund nach einem<br />

geeigneten Weg über die steilen Felsen hinunter zu dem Wildbach ab und<br />

fragt sich, ob der Engpaß dahinter wohl zu einem Nachbartal führt oder<br />

nicht. Lebt wohl, Freunde. Das Schicksal ruft. Wartet nicht <strong>mit</strong> dem Abendessen<br />

auf mich.<br />

Es gibt heute nichts Vergleichbares mehr. Vielleicht hat es solche Ausblicke<br />

nie gegeben. Wer weiß, welche Freiheiten sich diese romantischen Pinselquäler<br />

herausgenommen haben. Wer erklimmt schon an einem heißen Julinach<strong>mit</strong>tag<br />

<strong>mit</strong> Staffelei, Klappstuhl und Farbenkasten im Gepäck einen<br />

Aussichtsfelsen <strong>mit</strong>ten in gefährlicher Wildnis, wenn er nicht von dem<br />

Wunsch beseelt wäre, etwas Erhabenes und Großartiges auf die Leinwand<br />

zu bannen?<br />

Selbst wenn die Appalachen vor dem Industriezeitalter nur halb so wildromantisch<br />

waren wie auf dem Bild von Durand und denen anderer Maler,<br />

müssen sie doch etwas Spektakuläres an sich gehabt haben. Man kann sich<br />

heute kaum vorstellen, wie wenig bekannt das Hinterland der Ostküste einst<br />

war und welchen Reichtum es bot. Als Thomas Jefferson die beiden Forscher<br />

Meriwether Lewis und William Clark in die Wildnis schickte, rechnete<br />

er fest da<strong>mit</strong>, daß sie auf zottelige Mammuts und Mastodons stoßen


würden. Hätte man damals schon von Dinosauriern gewußt, hätte er die<br />

beiden sicher gebeten, ihm einen Triceratops <strong>mit</strong>zubringen.<br />

Die ersten Menschen, die von Osten her bis tief in die Wälder vordrangen –<br />

abgesehen von den Indianern, die bereits 20.000 Jahre zuvor so weit gekommen<br />

waren –, suchten keine prähistorischen Lebewesen, keine Passage<br />

nach Westen, auch keine neuen Siedlungsmöglichkeiten. Sie suchten Pflanzen.<br />

Amerikas botanische Vielfalt begeisterte die Europäer außerordentlich,<br />

und die Ausbeutung des Waldes brachte Ruhm und Geld. In den Wäldern<br />

des östlichen Amerikas gab es eine reichhaltige Flora, die in der Alten Welt<br />

unbekannt war, und sowohl Wissenschaftler als auch Hobbybotaniker waren<br />

gleichermaßen erpicht darauf, sich ein Stück des Kuchens zu sichern.<br />

Man stelle sich vor, ein Raumschiff würde morgen auf der Venus einen<br />

Dschungel entdecken. Was gäbe nicht zum Beispiel <strong>Bill</strong> Gates dafür, sich<br />

irgendein exotisches Gewächs von der Venus in sein Gewächshaus stellen<br />

zu können. Die Pflanze <strong>mit</strong> entsprechendem Flair im 18. Jahrhundert war<br />

der Rhododendron – ebenso angesagt waren Kamelie, Hortensie, Traubenkirsche,<br />

Sonnenhut, Azalee, Aster, Straußfarn, Trompetenbaum, Gewürzstrauch,<br />

Fliegenfalle, die virginische Kletterpflanze und die Wolfsmilch.<br />

Diese Pflanzenarten und noch Hunderte mehr wurden in den Wäldern Amerikas<br />

gesammelt und übers Meer nach England, Frankreich und Rußland<br />

verschickt, wo ihre neuen Besitzer sie ungeduldig erwarteten.<br />

Alles nahm seinen Anfang <strong>mit</strong> John Bartram (eigentlich fing es <strong>mit</strong> Tabak<br />

an, aber im wissenschaftlichen Sinn war Bartram der erste), einem Quäker<br />

aus Pennsylvania, geboren 1699, der nach der Lektüre eines Buches über<br />

Botanik sein Interesse für das Thema entdeckte und Pflanzensamen und -<br />

ableger an einen Glaubensbruder in London schickte. Aufgefordert, nach<br />

weiteren Pflanzen zu suchen, begab er sich auf zunehmend gefährlichere<br />

Reisen in die Wildnis und legte manchmal Tausende von Kilometern durch<br />

zerklüftetes gebirgiges Gelände zurück. Obwohl er Autodidakt war, nie<br />

Latein gelernt hatte und nur oberflächliche Kenntnisse der Linneschen<br />

Klassifikation besaß, war Bartram ein begabter Pflanzensammler, <strong>mit</strong> einem<br />

sicheren Instinkt dafür, unbekannte Arten aufzuspüren und sie überhaupt als<br />

solche zu erkennen. Von den 800 während der Kolonialzeit in Amerika<br />

entdeckten Pflanzen geht ein Viertel auf sein Konto, sein Sohn William<br />

entdeckte noch viel mehr.<br />

Ende des Jahrhunderts wimmelte es in den Wäldern des Ostens förmlich<br />

von Botanikern – Peter Kalm, Lars Yungstroem, Constantine Samuel Rafinesque-Schmaltz,<br />

John Fräser, Andre Michaux, Thomas Nuttall, John Lynn<br />

und zahllose andere. So viele Menschen waren dort, konkurrierten in ihrer<br />

Jagd nach seltenen Pflanzen, daß sich heute kaum <strong>mit</strong> Bestimmtheit sagen<br />

läßt, welcher Fund von wem stammt. Je nachdem, welche Quelle man kon-


sultiert, entdeckte allein Fräser entweder 44 oder 215 Arten, möglicherweise<br />

liegt die korrekte Zahl auch irgendwo dazwischen. Verbürgt ist jedoch<br />

seine Entdeckung der wohlriechenden Balsamtanne, auch Fräser-Tanne<br />

genannt, die charakteristisch für die hohen Regionen von North Carolina<br />

und Tennessee ist. Aber sie trägt seinen Namen nur deswegen, weil er den<br />

Gipfel des Clingmans Dome kurz vor seinem schärfsten Rivalen Michaux<br />

erklommen hatte.<br />

Diese Männer bereisten in einem beachtlichen Zeitraum oft riesige Gebiete.<br />

Eine der letzten Expeditionen von Bartram dauerte über fünf Jahre und<br />

führte ihn so tief in unerforschtes Waldgebiet, daß er lange als verschollen<br />

galt. Als er wieder auftauchte, mußte er feststellen, daß sich Amerika seit<br />

einem Jahr im Krieg <strong>mit</strong> England befand und er folglich seine Gönner verloren<br />

hatte. Michaux führten seine Reisen von Florida bis zur Hudson Bay,<br />

und der Abenteurer Nuttall stieß bis zur fernen Küste des Lake Superior<br />

vor, wobei er aus Geldmangel weite Strecken zu Fuß zurücklegte.<br />

Die Forscher sammelten Unmengen von Pflanzenarten, und ihre Reisen<br />

glichen eher Raubzügen. Lyon zog allein an einem Berghang 3.600 Setzlinge<br />

der Magnolia macrophylla aus der Erde, dazu Tausende anderer Pflanzen,<br />

einschließlich eines hübschen roten Gewächses, das ihn in einen Fieberwahn<br />

versetzte und seinen Körper »umgehend in eine einzige Wundblase«<br />

verwandelte – er hatte den Giftsumach entdeckt. 1765 entdeckte John<br />

Bartram eine besonders hübsche Kamelie, Franklinia alta-maha, schon<br />

damals eine seltene Pflanze, die im Laufe von nur 25 Jahren ausgerottet<br />

wurde. Sie konnte nur als Züchtung überleben, was wir allein Bartram zu<br />

verdanken haben. Rafinesque-Schmaltz ist sieben Jahre lang durch die Appalachen<br />

gewandert und hat dabei nicht allzu viel entdeckt, er brachte jedoch<br />

50.000 Samen und Ableger <strong>mit</strong> nach Hause.<br />

Wie die Forscher das geschafft haben, ist ein Rätsel. Jede Pflanze mußte<br />

katalogisiert und bestimmt werden, die Samen eingesammelt oder ein Ableger<br />

geschnitten werden, letzterer mußte in ein Behältnis aus steifem Papier<br />

oder Segeltuch eingetopft, gegossen und gepflegt und dann noch durch eine<br />

weglose Wildnis in die Zivilisation transportiert werden. Die Entbehrungen<br />

und Gefahren waren allgegenwärtig und kräftezehrend. Es wimmelte von<br />

Bären, Schlangen und Panthern. Michaux’ Sohn wurde auf einer Expedition<br />

einmal übel zugerichtet, als ein Bär ihn aus einem Baum vertrieb.<br />

(Schwarzbären scheinen früher wilder gewesen zu sein, denn in fast allen<br />

Expeditionsberichten finden sich Hinweise auf plötzliche, willkürliche<br />

Attacken. Es ist durchaus denkbar, daß die Bären im Osten der Vereinigten<br />

Staaten insgesamt zurückhaltender geworden sind, weil sie gelernt haben,<br />

Menschen <strong>mit</strong> Gewehren in Verbindung zu bringen.) Auch Indianer waren<br />

den Forschern im allgemeinen feindlich gesinnt – ebenso häufig allerdings


amüsierten sie sich über die weißen, europäischen Gentlemen, die lauter<br />

Pflanzen, die um sie herum doch in Hülle und Fülle wuchsen, behutsam<br />

einsammelten und <strong>mit</strong>nahmen – und dann gab es noch all die Krankheiten,<br />

die man sich in den Wäldern holen konnte: Malaria, Gelbfieber und andere.<br />

»Nicht einer meiner Freunde ist bereit, die Strapazen auf sich zu nehmen<br />

und mich auf meinen Wanderungen zu begleiten«, beklagt sich John Bartram<br />

bitterlich in einem Brief an seinen englischen Gönner. Das überrascht<br />

kaum.<br />

Offenbar haben sich die Reisen trotzdem gelohnt. Ein einziger besonders<br />

wertvoller Samen brachte bis zu fünf Guineen ein. In einem Jahr erzielte<br />

John Lyon bei einer Reise nach Abzug aller Kosten einen Gewinn von 900<br />

Pfund – damals ein beträchtliches Vermögen. Im Jahr darauf begab er sich<br />

wieder auf Reisen und verdiente ungefähr noch mal die gleiche Summe.<br />

Fräser unternahm eine sehr lange Reise im Auftrag der russischen Zarin Katharina<br />

der Großen und mußte, als er aus der Wildnis heimkehrte, feststellen,<br />

daß es einen neuen Zar gab, der sich nicht für Pflanzen interessierte, ihn<br />

für verrückt hielt und seinen Vertrag nicht anerkannte. Fräser schaffte danach<br />

alles nach Chelsea, wo er eine kleine Gärtnerei besaß, und verdiente<br />

sich fortan seinen Lebensunterhalt <strong>mit</strong> dem Verkauf von Azaleen, Rhododendren<br />

und Magnolien an die englische Oberschicht.<br />

Andere wiederum gingen aus reiner Entdeckerfreude auf Reisen, allen voran<br />

Thomas Nuttall, ein junger, kluger, aber ungebildeter Handwerker und<br />

Drucker aus Liverpool, der 1808 nach Amerika kam und seine bislang ungeahnte<br />

Leidenschaft für Pflanzen entdeckte. Er unternahm zwei große<br />

Expeditionen, die er aus eigener Tasche finanzierte, machte zahlreiche,<br />

bedeutende Entdeckungen und spendete viele Pflanzen, <strong>mit</strong> denen er ohne<br />

weiteres sehr viel Geld hätte verdienen können, großzügigerweise dem<br />

Botanischen Garten in Liverpool. In nur neun Jahren entwickelte er sich von<br />

einem Laien ohne jegliche Kenntnisse zur führenden Autorität auf dem<br />

Gebiet der Pflanzen Amerikas. 1817 produzierte er – was ganz wörtlich zu<br />

verstehen ist, denn er verfaßte nicht nur den Text, sondern setzte auch die<br />

Druckstöcke zum großen Teil selbst – sein Buch Genera of North America,<br />

das über viele Jahrzehnte hinweg als das wichtigste Nachschlagewerk für<br />

amerikanische Botanik galt. Vier Jahre später wurde er zum Direktor des<br />

Botanischen Gartens der Harvard University ernannt, ein Amt, das er <strong>mit</strong><br />

Würde zwölf Jahre lang bekleidete; er fand trotzdem Zeit, sich auch noch zu<br />

einem führenden Experten der Vogelkunde zu machen, und legte 1832<br />

einen viel beachteten Text über die Vogelwelt Amerikas vor. Er war nach<br />

einhelliger Aussage ein sehr freundlicher Mensch, der den Respekt all jener<br />

gewann, die seine Bekanntschaft machten. Schönere Geschichten kann das<br />

Leben eigentlich nicht schreiben.


Bereits zu Nuttals Zeiten unterlag der Wald dramatischen Veränderungen.<br />

Pumas, Wapitis und Timberwölfe waren bereits ausgerottet, Biber und Bären<br />

standen kurz davor. Die meisten großen nordamerikanischen Kiefern<br />

der ersten Generation - Mastbaumkiefer, Strobe und Weymouthskiefer, von<br />

denen einige bis zu 70 Meter groß wurden, was ungefähr der Höhe eines<br />

zwanzigstöckigen Hauses entspricht – waren bereits gefällt worden, um<br />

daraus Schiffsmasten herzustellen oder um Weideland zu erhalten, der Rest<br />

war bis Ende des Jahrhunderts verschwunden. Es herrschte ein Geist der<br />

Rücksichtslosigkeit, die der Vorstellung entsprang, die Wälder Amerikas<br />

seien im Grunde unerschöpflich. Es war gang und gäbe, zweihundertjährige<br />

Pecanobäume einfach umzuhauen, weil sich so die Nüsse in den Ästen der<br />

Wipfel bequemer ernten ließen. Mit jedem Jahr veränderte sich der Charakter<br />

des Waldes sichtbar. Bis vor kurzem - leider nur bis vor kurzem – gab es<br />

allerdings einen Baum im Überfluß, was den Eindruck von paradiesischen<br />

Zuständen in den Wäldern Amerikas aufrecht erhielt: die Kastanie.<br />

Es gibt keinen anderen vergleichbaren Baum. Die amerikanische Kastanie<br />

streckt sich bis zu 30 Meter aus dem Waldboden empor, und ihre aufragenden<br />

Äste breiten sich zu einem unglaublich üppigen Baldachin aus, bis zu<br />

4.000 Quadratmeter pro Baum, Millionen Quadratmeter Blattfläche insgesamt.<br />

Obwohl nur halb so groß wie die höchsten Kiefern in den Wäldern der<br />

Ostküste, besitzt die Kastanie einiges mehr an Masse und Gewicht, und sie<br />

ist symmetrischer geformt. In Bodennähe erreicht ein ausgewachsener<br />

Baum bis zu drei Meter Durchmesser und über sechs Meter Umfang. Ich<br />

habe einmal ein Foto gesehen, das Anfang des Jahrhunderts aufgenommen<br />

wurde. Es zeigt eine Gesellschaft, die in einem Kastanienwald ein <strong>Picknick</strong><br />

veranstaltet, unweit von der Stelle, an der Katz und ich uns gerade befanden,<br />

in einem Gebiet, das zum Jefferson National Forest gehört. Es ist eine<br />

heitere Gruppe von Wochenendausflüglern, alle tragen schwere Kleidung,<br />

die Damen <strong>mit</strong> aufgespannten Sonnenschirmen, die Herren <strong>mit</strong> Melone und<br />

buschigen Schnauzbärten. Man sitzt im Halbkreis auf einer Decke auf einer<br />

Lichtung, vor einem Hintergrund aus steil einfallenden Sonnenstrahlen,<br />

zwischen Bäumen von sagenhafter Erhabenheit. Die Menschen nehmen sich<br />

so winzig aus, ihre Größe steht in einem so grotesken Mißverhältnis zu den<br />

sie umgebenden Bäumen, daß man sich im ersten Moment fragt, ob das Bild<br />

nicht manipuliert worden ist, so wie die Postkarten aus der Zeit, auf denen<br />

scheunentorgroße Wassermelonen oder Maiskolben zu sehen sind, die einen<br />

ganzen Wagen für sich beanspruchen, darunter die witzige Unterschrift:<br />

»Typische Farmszene in Iowa.« Aber so hat es tatsächlich einmal ausgesehen<br />

– auf Zehntausenden von Quadratkilometern Hügellandschaft von<br />

North und South Carolina bis New England. Alles verschwunden.<br />

1904 fiel einem Pfleger im Zoo der Bronx in New York auf, daß die schö-


nen Kastanienbäume auf dem Gelände über und über <strong>mit</strong> kleinen, orangefarbenen,<br />

krebsartigen Geschwüren eines unbekannten Typs bedeckt waren.<br />

Innerhalb weniger Tage erkrankten die Bäume und starben. Als Wissenschaftler<br />

den Erreger identifiziert hatten, einen asiatischen Pilz <strong>mit</strong> der Bezeichnung<br />

Endothia parasitica – wahrscheinlich <strong>mit</strong> einer Schiffsladung<br />

infizierter Bäume oder Holzbretter aus dem Orient eingeschleppt –, waren<br />

die Kastanienbäume bereits alle abgestorben und der Pilz in die Weite der<br />

Appalachen verschleppt, wo jeder vierte Baum eine Kastanie war.<br />

Trotz seiner Masse ist ein Baum ein höchst empfindliches Gebilde. Das<br />

gesamte Innenleben spielt sich in drei hauchdünnen Gewebeschichten direkt<br />

unter der Borke ab – Phloem, Xylem und Kambium –, die zusammen einen<br />

feuchten Mantel um das tote Kernholz bilden. Wie groß ein Baum auch<br />

immer wird, im Grunde besteht er nur aus einigen Kilogramm lebender<br />

Zellen, die sich weiträumig zwischen Wurzeln und Blättern verteilen. Diese<br />

drei aktiven Zellenschichten sind zuständig für die gesamte komplizierte<br />

Wissenschaft und Technik, die nötig sind, um einen Baum am Leben zu<br />

erhalten, und die Effizienz, <strong>mit</strong> der dies geschieht, zählt zu den größten<br />

Naturwundern. Ohne viel Getöse und Aufhebens zieht jeder Baum im Wald<br />

riesige Wassermengen aus dem Boden hoch – bei großen Bäumen sind das<br />

an heißen Tagen 1.000 Liter und mehr –, von den Wurzeln bis in die Blätter,<br />

von wo aus es zurück in die Atmosphäre gelangt. Stellen Sie sich den<br />

Lärm vor, den die Maschinen der Feuerwehr veranstalten würden, wenn sie<br />

die gleiche Menge Wasser dort hinaufbefördern müßten.<br />

Der Wassertransport ist nur eine der vielen Aufgaben von Phloem, Xylem<br />

und Kambium. Sie stellen außerdem Lignin und Zellstoff her, regulieren<br />

den Vorrat und die Produktion von Gerbsäure, Saft, Gummi, Ölen und Harzen,<br />

verteilen Mineralien und Nährstoffe, verwandeln Stärke in Zucker, der<br />

für zukünftiges Wachstum gebraucht wird (Stichwort Ahornsirup), und erledigen<br />

lauter andere wichtige Dinge. Alles vollzieht sich in einer sehr zarten<br />

Schicht, weswegen ein Baum höchst anfällig für eindringende Organismen<br />

ist. Um dem entgegenzuwirken, verfügen Bäume über ein ausgeklügeltes<br />

Abwehrsystem. Der Grund, warum ein Gummibaum beim Anschneiden<br />

zum Beispiel Latex absondert, liegt darin, daß da<strong>mit</strong> Insekten und anderen<br />

Organismen <strong>mit</strong>geteilt werden soll: »Vorsicht! Ungenießbar. Verschwindet!«<br />

Bäume können auch gefräßige Raupen abschmettern, indem sie ihre<br />

Blätter <strong>mit</strong> Gerbsäure überschwemmen, wodurch die Blätter weniger<br />

schmackhaft werden und die Raupe genötigt wird, sich woanders nach Futter<br />

umzusehen. Wenn der Befall besonders schlimm ist, können manche<br />

Bäume diesen Umstand sogar als Information weitergeben. Einige Eichenarten<br />

setzen eine chemische Substanz frei, durch die anderen Eichen in der<br />

Umgebung <strong>mit</strong>geteilt wird, daß in Kürze ein Angriff erfolgen wird. Als


Reaktion darauf erhöhen die so gewarnten Eichenbäume die Produktion von<br />

Gerbsäure, um sich gegen den Überfall zu wappnen.<br />

Solche Mittel sind es, die die Natur am Leben erhalten. Probleme ergeben<br />

sich dann, wenn der Baum einem Angreifer gegenübersteht, für den ihn die<br />

Evolution nicht ausgerüstet hat, und selten war ein Baum einem Eindringling<br />

schutzloser ausgeliefert als seinerzeit die amerikanische Kastanie der<br />

Endothia parasitica. Dieser Parasit dringt mühelos in den Baum ein, verspeist<br />

die Kambiumzellen und stellt sich bereits auf einen Angriff auf den<br />

nächsten Baum ein, bevor ersterer – chemisch gesehen – auch nur eine<br />

Ahnung davon bekommt, was ihn befallen hat. Er breitet sich <strong>mit</strong>tels Sporen<br />

aus, die millionenfach in jedem Geschwür produziert werden. Ein einziger<br />

Specht kann allein <strong>mit</strong> einem Flug zwischen zwei Bäumen Milliarden<br />

Sporen transportieren. Auf dem Höhepunkt des Kastanienbaumsterbens in<br />

Amerika wurden <strong>mit</strong> jeder Windböe Milliarden von Sporen freigesetzt und<br />

als tödliche Wolke auf die Nachbarberge geweht. Die Sterberate lag bei 100<br />

Prozent. Nach gut 35 Jahren gehörte die amerikanische Kastanie der Vergangenheit<br />

an. Allein die Appalachen verloren im Zeitraum einer Generation<br />

vier Milliarden Bäume, die ein Viertel der Gesamtfläche einnahmen.<br />

Das ist natürlich eine große Tragödie. Aber was für ein Glück, wenn man<br />

bedenkt, daß solche Krankheiten wenigstens artenspezifisch sind. Viel<br />

schlimmer wäre es, wenn es statt Kastanienbaumsterben oder Ulmensterben<br />

oder dem schwarzen Brenner bei Hartriegel eine allgemeine Plage für Bäume<br />

gäbe, die wahllos alle treffen und unaufhaltsam ganze Wälder vernichten<br />

würde. Es gibt diese Plage aber bereits. Sie heißt saurer Regen.<br />

Genug der Wissenschaft, ich denke, das reicht für ein Kapitel. Aber bitte<br />

behalten Sie den Gedanken im Hinterkopf, denn eines kann ich Ihnen versichern:<br />

Es gab nicht einen Tag in den Wäldern der Appalachen, an dem ich<br />

nicht Dankbarkeit empfand für das, was von ihnen noch vorhanden war.<br />

Der Wald, durch den Katz und ich jetzt stapften, war nicht zu vergleichen<br />

<strong>mit</strong> den Wäldern, die die Generation unserer Väter noch gekannt hatte, aber<br />

immerhin waren wir von Bäumen umgeben. Und es war ein herrliches Gefühl,<br />

wieder in unserer vertrauten Umgebung zu sein. Eigentlich war es in<br />

jeder Hinsicht der gleiche Wald, den wir in North Carolina verlassen hatten<br />

- die gleichen gefährlich schiefen Bäume, der gleiche schmale braune Pfad,<br />

die gleiche ausgedehnte Stille, nur unterbrochen von unserem leisen Ächzen<br />

und angestrengten Schnaufen, als wir Berge erklommen, die sich als mindestens<br />

so steil erwiesen wie die, die wir hinter uns gelassen hatten, wenn<br />

auch nicht ganz so hoch. Aber obwohl wir uns jetzt ein paar hundert Kilometer<br />

weiter nördlich befanden, war hier der Frühling merkwürdigerweise<br />

schon weiter fortgeschritten. Die Bäume, vorwiegend Eichen, standen in<br />

voller Blüte, hier und da sah man Büschel von Wildpflanzen aus der Schicht


der Blätter des Vorjahres herausragen -Blutkraut, Wachslilien und Doppelsporn.<br />

Das Sonnenlicht sickerte durch die Zweige über uns und warf<br />

scheinwerferartig Lichtflecken auf den Weg, und in der Luft lag eine gewisse<br />

berauschende, charakteristisch frühlingshafte Leichtigkeit. Zuerst zogen<br />

wir unsere Jacken aus, dann folgten die Pullover. Die Welt war wieder ein<br />

freundlicher Ort.<br />

Am schönsten waren die Ausblicke rechts und links, herrlich und betörend.<br />

Der Blue Ridge sieht in seinem 650 Kilometer langen Verlauf durch Virginia<br />

im Grunde wie eine Rückenflosse aus.<br />

Er ist zwei bis drei Kilometer breit, hier und da <strong>mit</strong> tiefen, V-förmigen<br />

Durchlässen, den sogenannten Gaps versehen, ansonsten hält er sich<br />

gleichmäßig auf einer Höhe von knapp 1000 Metern. Im Westen erstreckte<br />

sich das breite, grüne Valley of Virginia, das bis zu den Allegheny Montains<br />

reicht, im Osten träger und ländlicher die Piedmontebene. Wenn wir<br />

uns hier auf einen Berggipfel schleppten und einen Aussichtsfelsen betraten,<br />

sahen wir keine haubenförmigen grünen Berge, die bis zum Horizont reichten,<br />

sondern blickten jedesmal aus luftiger Höhe hinab auf eine bewohnte<br />

Welt: sonnenbeschienene Farmen, kleine Dörfer, einzelne Waldstücke,<br />

Serpentinenstraßen, alles sehr idyllisch aus der Ferne. Selbst ein Interstate<br />

Highway <strong>mit</strong> seinen kleeblattförmigen Kreuzen und Querstraßen sah<br />

freundlich und besinnlich aus, wie die Illustrationen in den Kinderbüchern,<br />

die ich als kleiner Junge hatte und auf denen ein Amerika zu sehen war, das<br />

geschäftig und immer in Bewegung war, aber wiederum nicht allzu hektisch,<br />

um nicht seinen Reiz zu verlieren.<br />

Wir wanderten eine Woche lang und begegneten kaum Menschen. An einem<br />

Nach<strong>mit</strong>tag lernte ich einen Mann kennen, der den Trail seit 25 Jahren<br />

abschnittsweise <strong>mit</strong> Auto und Fahrrad absolvierte. Jeden Morgen brachte er<br />

das Fahrrad <strong>mit</strong> dem Auto zehn, 15 Kilometer weit ans Ziel der anstehenden<br />

Tagesetappe, begab sich <strong>mit</strong> dem Wagen an den Ausgangspunkt, das Ziel<br />

des Vortages, wanderte die Strecke zwischen beiden ab und fuhr <strong>mit</strong> dem<br />

Fahrrad wieder zurück zum Parkplatz. Das machte er jedes Jahr im April<br />

zwei Wochen lang und hatte sich ausgerechnet, daß er noch ungefähr 20<br />

weitere Jahre brauchen würde. An einem anderen Tag folgte ich einem<br />

älteren Mann, der bestimmt weit über Siebzig war. Er trug einen kleinen,<br />

altmodischen Tagesrucksack aus sandfarbenem Segeltuch und war <strong>mit</strong><br />

einem unglaublichen Tempo unterwegs. Zwei- bis dreimal in der Stunde sah<br />

ich ihn 40, 50 Meter vor mir zwischen den Bäumen auftauchen und wieder<br />

verschwinden. Obwohl er sehr viel schneller ging als ich und anscheinend<br />

nie eine Pause einlegte, war er stets da. Immer wenn man 40 bis 50 Meter<br />

weit blicken konnte, sah man ihn bzw. nur seinen Rücken, der gleich wieder<br />

wegtauchte. Als würde man einem Geist folgen. Ich versuchte ihn einzuho-


len, aber es gelang mir nicht. Er sah mich kein einziges Mal an, aber ich bin<br />

mir sicher, daß er mich bemerkt hatte. Man entwickelt ein Gespür für die<br />

Anwesenheit von anderen Menschen im Wald, und wenn man merkt, daß<br />

Leute in der Nähe sind, wartet man meist, bis sie einen eingeholt haben, nur<br />

um guten Tag zu sagen, ein paar Worte zu wechseln oder zu fragen, ob<br />

jemand den Wetterbericht gehört hat. Der Mann vor mir blieb nie stehen<br />

oder wartete, veränderte nie sein Schrittempo, schaute sich nie um. Am<br />

späten Nach<strong>mit</strong>tag verschwand er aus meinem Blickfeld, und ich sah ihn nie<br />

wieder.<br />

Am Abend erzählte ich Katz von meinem Erlebnis.<br />

»Meine Güte«, murmelte er, »jetzt fängst du schon an zu halluzinieren.«<br />

Am nächsten Tag sah Katz den Mann. Diesmal blieb der Fremde hinter ihm,<br />

immer in der Nähe, ohne zu überholen. Es war höchst seltsam. Danach<br />

sahen wir ihn beide nicht wieder. Wir sahen überhaupt niemanden mehr.<br />

Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend die Schutzhütten ganz für uns<br />

allein hatten, was ein echter Luxus war. Man muß schon ziemlich tief gesunken<br />

sein, wenn man sich für ein überdachtes Holzpodest begeistern<br />

kann, das man für eine Nacht sein eigen nennen darf – aber so war es, wir<br />

waren begeistert. Die meisten Schutzhütten auf diesem Abschnitt des Trails<br />

sind neu und blitzsauber. Manche waren <strong>mit</strong> einem Besen ausgestattet, eine<br />

gemütliche, häusliche Note. Die Besen wurden sogar benutzt - wir benutzten<br />

sie jedenfalls und pfiffen ein Liedchen dabei –, ein Beweis dafür, daß<br />

der AT-Wanderer dankbar für alles ist, was ihm Bequemlichkeit verschafft,<br />

und verantwortungsbewußt da<strong>mit</strong> umgeht. Jede Hütte hat ein Plumpsklo in<br />

der Nähe, außerdem eine gute Wasserquelle und einen <strong>Picknick</strong>tisch, so daß<br />

wir unsere Mahlzeiten in mehr oder weniger normaler Körperhaltung zubereiten<br />

konnten und dabei nicht auf einem feuchten Baumstamm hocken<br />

mußten. Das alles ist echter Luxus für die Wanderer auf dem Appalachian<br />

Trail. Am Abend des vierten Tages, als ich mich<br />

<strong>mit</strong> der trüben Aussicht konfrontiert sah, bald mein einziges Buch ausgelesen<br />

zu haben, und da<strong>mit</strong>, daß mir für die Nächte danach nichts anderes<br />

übrigbleiben würde, als im Halbdunkel zu liegen und Katz’ Geschnarche zu<br />

lauschen, entdeckte ich plötzlich ein Buch von Graham Green, das ein früherer<br />

Gast liegengelassen hatte. Ich war hocherfreut und unendlich dankbar.<br />

Wenn es etwas gibt, das man auf dem AT lernt, dann ist es die Freude über<br />

kleine Dinge – etwas, das uns allen im Leben ganz gut tun würde.<br />

Ich war selig. Wir marschierten 25 Kilometer am Tag, nicht annähernd die<br />

40 Kilometer, die man angeblich schaffen konnte, wie man uns gesagt hatte,<br />

aber eine ganz ansehnliche Strecke für unsere Verhältnisse. Ich fühlte mich<br />

beschwingt, körperlich fit, und zum ersten Mal seit Jahren sah mein Bauch<br />

nicht mehr wie eine Wampe aus. Ich war immer noch müde und steif am


Ende eines langen Wandertages – das blieb auch weiterhin so –, aber ich<br />

hatte einen Punkt erreicht, an dem die Schmerzen und die Blasen ein so<br />

zentrales Merkmal meiner Existenz waren, daß ich sie nicht mehr bemerkte.<br />

Wenn man die bequeme, klinische Welt der Städte verläßt und in die Berge<br />

zieht, durchläuft man jedesmal Phasen der Transformation – ein sanfter<br />

Abstieg in die Verwahrlosung – und immer kommt es einem so vor, als sei<br />

es das erste Mal. Am Ende des ersten Tages fühlt man sich etwas schmutzig,<br />

trägt es aber <strong>mit</strong> Fassung; am zweiten Tag verstärkt sich das Gefühl bis<br />

zum Ekel; am dritten Tag kümmert es einen nicht mehr; am vierten hat man<br />

vergessen, daß es mal anders war. Auch das Hungergefühl folgt einem bestimmten<br />

Muster. Am ersten Tag quält einen der Hunger auf die abendlichen<br />

Nudeln; am zweiten Abend quält einen der Hunger, aber nicht schon<br />

wieder auf Nudeln; am dritten Tag kann man keine Nudeln mehr sehen,<br />

aber man weiß, daß man was essen muß; am vierten Tag hat man überhaupt<br />

keinen Appetit, aber man ißt trotzdem etwas, weil man das abends eben so<br />

tut. Ich weiß auch nicht warum, aber das Ganze ist irgendwie angenehm.<br />

Und dann geschieht etwas, das einem deutlich macht, wie gerne, wie<br />

wahnsinnig gern man wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren möchte.<br />

An unserem sechsten Tag, nach einem langen Marsch durch einen ungewöhnlich<br />

dichten Wald, kamen wir gegen Abend an eine kleine grasbewachsene<br />

Lichtung auf einer Steilklippe <strong>mit</strong> einer sensationellen, ungehinderten<br />

Aussicht nach Norden und nach Westen. Die Sonne ging hinter dem<br />

fernen, blaugrauen Kamm der Allegheny Mountains unter, und das Licht in<br />

der Landschaft davor – weites, regelmäßig angeordnetes Ackerland, <strong>mit</strong><br />

Baumgruppen und Farmhäusern – hatte gerade den Moment erreicht, in<br />

dem alle Farbe aus ihm weicht. Aber es war der Anblick einer Stadt, die<br />

ungefähr zehn, elf Kilometer Richtung Norden lag, der unsre Herzen höher<br />

schlagen ließ; eine richtige Stadt, die erste seit einer Woche. Von unserem<br />

Standort aus erkannten wir gerade noch die großen, hell erleuchteten bunten<br />

Schilder von Restaurants und Motels an einer Straße. Ich glaube, ich habe<br />

nie etwas annähernd so Schönes, annähernd so Verlockendes gesehen. Ich<br />

hätte schwören können, daß man den Duft von gebratenen Steaks roch, den<br />

uns die Abendbrise heraufwehte. Wir standen unendlich lange da und<br />

schauten auf die Stadt, als hätte man immer nur über sie gelesen, aber nie<br />

da<strong>mit</strong> gerechnet, sie einmal tatsächlich zu sehen.<br />

»Waynesboro«, sagte ich schließlich zu Katz.<br />

Er nickte feierlich. »Wie weit?«<br />

Ich holte meine Karte hervor und sah nach. »Ungefähr 13 Kilometer.«<br />

Er nickte wieder feierlich. »Gut«, sagte er. Das war, wie mir klar wurde, die<br />

längste Unterhaltung, die wir seit zwei, drei Tagen geführt hatten, und mehr<br />

brauchte auch nicht gesagt werden. Wir waren seit einer Woche unterwegs


und würden morgen runter in die Stadt gehen. Das mußte nicht ausgesprochen<br />

werden. Wir würden 13 Kilometer wandern, uns ein Zimmer mieten,<br />

duschen, nach Hause telefonieren, unsere Wäsche waschen, zu Abend essen,<br />

Lebens<strong>mit</strong>tel einkaufen, fernsehen, in einem Bett schlafen, frühstücken<br />

und dann auf den Trail zurückkehren. Das verstand sich von selbst. Alles,<br />

was wir machten, verstand sich von selbst. Eigentlich herrlich.<br />

Wir schlugen unsere Zelte auf und kochten <strong>mit</strong> unserem letzten Wasser<br />

Nudeln, setzten uns dann nebeneinander auf einen Baumstamm und aßen<br />

schweigend, Waynesboro im Blick. Der Vollmond ging an einem blassen<br />

Abendhimmel auf und schien in einem hellen weißen Licht, das einen an<br />

die Cremeschicht von Oreo-Plätzchen erinnerte. (Irgendwann erinnert einen<br />

unterwegs alles nur noch ans Essen.) Nach langem Schweigen wandte ich<br />

mich abrupt an Katz und fragte ihn in einem Tonfall, der eher hoffnungsvoll<br />

als anklagend klingen sollte: »Kannst du überhaupt irgendwas anderes kochen<br />

als Nudeln?« Ich stellte gerade in Gedanken den Einkaufszettel für<br />

morgen zusammen.<br />

Er mußte eine Zeitlang überlegen. »Arme Ritter«, sagte er schließlich und<br />

verfiel wieder in Schweigen, drehte dann seinen Kopf zu mir und fragte:<br />

»Und du?«<br />

»Nein«, gestand ich. »Nichts.«<br />

Katz dachte darüber nach, welche Folgen das möglicherweise hatte, sah<br />

einen Moment lang so aus, als ob er etwas dazu sagen wollte, schüttelte<br />

dann aber nur gleichmütig den Kopf und widmete sich wieder dem Essen.


11. Kapitel<br />

Ein Gedanke am Rande: Alle 20 Minuten waren Katz und ich auf dem Appalachian<br />

Trail eine längere Strecke zu Fuß gegangen als der durchschnittliche<br />

Amerikaner pro Woche. 93 Prozent aller Wege außerhalb der eigenen<br />

vier Wände, wie weit und für welchen Zweck auch immer, werden in Amerika<br />

heute <strong>mit</strong> dem Auto zurückgelegt. Insgesamt geht jeder Amerikaner im<br />

Schnitt 2,25 Kilometer pro Woche zu Fuß – da<strong>mit</strong> sind alle möglichen Gänge<br />

gemeint: vom Auto zum Büro, vom Büro zum Auto, und auch die Wege<br />

in Supermärkten und Einkaufszentren – das macht 320 Meter pro Tag. Das<br />

ist einfach grotesk.<br />

Als meine Familie und ich in die Vereinigten Staaten umzogen, wollten wir<br />

unbedingt in einer typischen Kleinstadt wohnen, in irgendeinem gemütlichen<br />

Nest, wo Jimmy Stewart Bürgermeister war, die Hardy Boys einem<br />

den Einkauf nach Hause brachten und Deanna Durbin immer und ewig ein<br />

Liedchen pfeifend am offenen Fenster stand. Solche idyllischen kleinen<br />

Städte sind gar nicht so leicht zu finden, aber Hanover, wo wir uns niederließen,<br />

kommt dem schon sehr nahe. Es handelt sich um ein nettes Collegestädtchen,<br />

typisch für New England, angenehm, ruhig und überschaubar,<br />

<strong>mit</strong> vielen alten Bäumen und spitzen Kirchtürmen. Es hat einen großen<br />

Stadtpark, eine altmodische Main Street, einen hübschen Campus <strong>mit</strong> einer<br />

gediegenen und ehrwürdigen Ausstrahlung, und von Laubbäumen gesäumte<br />

Straßen. Für jeden Einwohner sind die Post, die Stadtbücherei und die Geschäfte<br />

bequem zu Fuß zu erreichen.<br />

Die Sache ist nur die: Kaum einer geht irgendwohin zu Fuß. Ich kenne<br />

einen Mann, der die 500 Meter zu seinem Arbeitsplatz <strong>mit</strong> dem Auto fährt.<br />

Und eine Frau, die in ihren Wagen steigt, 400 Meter bis zur Sporthalle fährt,<br />

um dort auf einem Laufband zu trainieren, und sich bitter darüber beklagt,<br />

daß sie keinen Parkplatz findet. Als ich sie einmal fragte, warum sie nicht<br />

zu Fuß zur Sporthalle gehen und statt dessen fünf Minuten weniger auf dem<br />

Laufband trainieren würde, sah sie mich entgeistert an, als wollte ich sie<br />

provozieren. »Weil ich mein Trainingsprogramm auf dem Laufband absolvieren<br />

muß«, erklärte sie mir. »Es speichert die zurückgelegte Distanz und<br />

das Schrittempo, und ich kann den Schwierigkeitsgrad einstellen.« Ich hatte<br />

nicht bedacht, daß die Natur in dieser Hinsicht absolut unzulänglich ist.<br />

In Hanover jedenfalls könnte sie noch zu Fuß gehen, wenn sie wollte. In<br />

vielen anderen amerikanischen Städten ist es heute dagegen schon unmöglich,<br />

sich als Fußgänger fortzubewegen, selbst wenn man wollte. Das wurde<br />

mir am nächsten Tag in Waynesboro wieder überdeutlich bewußt, nachdem<br />

wir uns ein Zimmer gemietet und uns ein extravagantes spätes Frühstück<br />

gegönnt hatten. Ich ließ Katz in einem Waschsalon zurück – aus einem mir


schleierhaften Grund machte er gern große Wäsche, las dabei die zerrissenen<br />

Zeitschriften und genoß das Erlebnis der wundervollen Verwandlung<br />

unserer vor Schmutz starrenden Kleider in flauschige und duftende, aus<br />

großen Maschinen hervorquellende Wäschestücke – und machte mich auf<br />

den Weg, um Insektenspray für uns zu kaufen.<br />

Waynesboro besaß früher einmal eines der üblichen, einigermaßen hübschen<br />

Geschäftsviertel aus insgesamt vielleicht fünf bis sechs Häuserblocks,<br />

aber wie so häufig heutzutage waren auch hier die meisten Einzelhandelsunternehmen<br />

in ein Einkaufszentrum an den Stadtrand umgezogen, und was<br />

einmal eine pulsierende Innenstadt gewesen war, wird heute von ein paar<br />

Banken, Versicherungen, <strong>Bill</strong>iganbietern und Secondhandläden beherrscht.<br />

In vielen Läden brannte kein Licht, oder sie standen leer; ich konnte nirgendwo<br />

ein Geschäft finden, das Insektenspray verkaufte. Ein Mann vor der<br />

Post schlug vor, ich sollte es mal bei Kmart versuchen.<br />

»Wo steht Ihr Wagen?« fragte er als erstes, bevor er mir den Weg erklären<br />

wollte.<br />

»Ich habe keinen Wagen.«<br />

Das machte ihn erstmal stutzig. »Wirklich? Es ist aber über einen Kilometer<br />

weit.«<br />

»Das macht nichts.«<br />

Er schüttelte leise zweifelnd den Kopf, als wollte er jede Verantwortung für<br />

das, was er mir gleich sagen würde, ablehnen. »Sie gehen hier die Broad<br />

Street entlang, biegen bei Burger King rechts ab, und dann immer geradeaus.<br />

Aber, wenn ich jetzt so darüber nachdenke – es sind bestimmt zwei<br />

Kilometer, vielleicht sogar zweieinhalb. Wollen Sie auch zu Fuß zurückgehen?«<br />

»Ja.«<br />

Wieder Kopfschütteln. »Es ist ein weiter Weg.«<br />

»Ich habe Notproviant dabei.«<br />

Wenn er die Ironie verstanden hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Na<br />

dann, viel Glück«, sagte er.<br />

»Vielen Dank.«<br />

»Gleich um die Ecke ist ein Taxiunternehmen«, bot er mir noch als letzte<br />

Hilfe an.<br />

»Eigentlich würde ich lieber gehen«, erklärte ich.<br />

Er nickte unsicher. »Dann viel Glück«, wiederholte er.<br />

Und so marschierte ich los. Es war ein warmer Nach<strong>mit</strong>tag, und ich fühlte<br />

mich wunderbar leicht. Sie können sich nicht vorstellen, wie herrlich es ist,<br />

endlich mal ohne Rucksack zu gehen, federnd und unbeschwert. Mit einem<br />

Rucksack auf dem Rücken geht man geneigt, geduckt, wie nach vorn gedrückt,<br />

die Augen auf den Boden gerichtet. Man stapft, mehr ist nicht drin.


Ohne Rucksack fühlt man sich wie befreit. Man geht aufrecht, man sieht<br />

sich um, man hüpft, man schlendert, man geht spazieren.<br />

Wenigstens vier Straßen weit – denn dann kommt man bei Burger King an<br />

eine wahnsinnige Kreuzung und muß feststellen, daß die neue sechsspurige<br />

Straße bis zum Kaufhaus Kmart lang und schnurgerade und stark befahren<br />

ist und daß sie gänzlich ohne Einrichtungen für Fußgänger auskommt, ohne<br />

Bürgersteige, ohne Zebrastreifen, ohne Verkehrsinseln, ohne Ampelanlagen<br />

an belebten Kreuzungen. Ich lief durch das Gelände von Tankstellen, über<br />

Auffahrten von Motels, überquerte Parkplätze, kletterte über Betonsperren,<br />

kreuzte Rasenflächen und zwängte mich durch vernachlässigte Geißblatt-<br />

und Ligusterhecken sowie Grenzstreifen von Privatgrundstücken. Wenn ich<br />

an eine Brücke kam, die über einen Bach führte oder über einen Abflußkanal<br />

– und eins kann ich Ihnen flüstern: Stadtplaner sind verliebt in<br />

Abflußkanäle –, blieb mir nichts anderes übrig, als auf der Straße zu gehen,<br />

mich dicht an der dreckigen Leitplanke zu halten und die weniger aufmerksamen<br />

Autofahrer zum Ausscheren zu zwingen. Vier Autofahrer hupten,<br />

weil ich die Frechheit besaß, mich ohne Blechkiste durch die Stadt fortzubewegen.<br />

Eine Brücke war so gefährlich, daß ich zögernd davor stehenblieb.<br />

Der Bach, den sie überspannte, war eigentlich nur ein verschilftes<br />

Rinnsal, schmal genug, um rüberzuspringen, was ich dann auch tat. Dabei<br />

rutschte ich aus und purzelte die Böschung hinunter. Ich fand mich in einem<br />

von oben nicht erkennbaren Streifen aus grauem, klebrigem Schlick wieder,<br />

schlug zweimal auf, kroch die andere Seite hinauf, fiel wieder hin und<br />

tauchte zum Schluß übersät <strong>mit</strong> Schlammstreifen und -flecken und <strong>mit</strong><br />

apartem Kleiderschmuck in Form von Kletten wieder hervor. Als ich endlich<br />

zum Kmart Plaza kam, stellte ich fest, daß ich mich auf der falschen<br />

Straßenseite befand und in einem Spurt sechs Spuren feindlichen Verkehrs<br />

überwinden mußte. Auf der anderen Seite überquerte ich den Parkplatz und<br />

betrat die klimatisierten, <strong>mit</strong> Dudelmusik berieselten Hallen von Kmart. Ich<br />

war so dreckig, als käme ich direkt vom Appalachian Trail, und zitterte am<br />

ganzen Leib.<br />

Kmart hatte kein Insektenspray vorrätig.<br />

Ich machte kehrt und begab mich auf den Rückweg in die Stadt, aber diesmal<br />

ging ich <strong>mit</strong> einer irren Wut im Bauch querfeldein, über Wiesen und<br />

durch Gewerbegebiete. Ich riß mir die Jeans an einem Stacheldrahtzaun auf<br />

und machte mich noch schmutziger, als ich ohnehin schon war. Ich sah<br />

Katz, der auf der Wiese des Motels in einem Gartenstuhl in der Sonne saß,<br />

geduscht, in frisch gewaschener Kleidung und <strong>mit</strong> einer so behaglichen<br />

Miene, wie sie nur ein Wanderer haben kann, der zur Abwechslung in der<br />

Stadt ist und sich einen schönen Tag macht. Eigentlich war er dabei, seine<br />

Schuhe einzuwachsen, aber in Wahrheit saß er nur da, ließ die Welt an sich


vorbeiziehen und erfreute sich an der Sonne. Er grüßte mich herzlich. In der<br />

Stadt war Katz immer wie ausgewechselt.<br />

»Meine Güte, wie siehst du denn aus!« rief er, als freute er sich über meine<br />

dreckigen Klamotten. »Wo warst du? Du bist ja eklig dreckig.« Er sah mich<br />

bewundernd von oben bis unten an und sagte dann <strong>mit</strong> ernster Stimme:<br />

»Hast du’s schon weder <strong>mit</strong> einem Stachelschwein getrieben, <strong>Bryson</strong>?«<br />

»Ha ha, sehr witzig.«<br />

»Diese Tiere sind nicht sauber, mußt du wissen, mögen sie einem nach vier<br />

Wochen Wandern auch noch so attraktiv erscheinen. Außerdem sind wir<br />

nicht mehr in Tennessee. Wahrscheinlich machst du dich hier sogar strafbar<br />

– jedenfalls ohne Bescheinigung vom Tierarzt.« Er klopfte auf den Stuhl<br />

neben sich und strahlte übers ganze Gesicht, zufrieden über seine Spöttelei.<br />

»Komm her. Setz dich und erzähl mir alles. Wie heißt sie denn? Domina?«<br />

Er beugte sich vertraulich zu mir herüber. »Hat sie viel gequiekt dabei?«<br />

Ich ließ mich nieder. »Du bist ja nur eifersüchtig.«<br />

»Bin ich nicht, wenn du es genau wissen willst. Ich habe nämlich heute<br />

auch jemanden kennengelernt. Im Waschsalon. Sie heißt Beulah.«<br />

»Beulah? Soll das ein Witz sein?«<br />

»Wäre schön, wenn es so wäre, aber es ist leider kein Witz.«<br />

»Wer heißt denn heutzutage noch Beulah?«<br />

»Sie zum Beispiel. Und nett ist sie auch noch. Nicht die Allerklügste, aber<br />

ziemlich nett, <strong>mit</strong> kleinen süßen Grübchen.« Er piekste sich <strong>mit</strong> zwei Fingern<br />

in die Wangen, um anzudeuten, wo die Grübchen waren. »Und sie hat<br />

einen sagenhaften Körper.«<br />

»Ach ja?«<br />

Er nickte. »Natürlich«, ergänzte er bedächtig, »ist er unter 100 Kilo wabbelnden<br />

Fetts verborgen. Aber zum Glück macht mir Körperfülle bei einer<br />

Frau nichts aus, solange man nicht gerade eine Mauer einschlagen muß,<br />

da<strong>mit</strong> sie durch die Zimmertür paßt.« Er putzte sorgfältig seinen Schuh.<br />

»Und wie hast du sie kennengelernt?«<br />

»Also eigentlich«, hob er an und rutschte nervös an den Rand der Sitzfläche,<br />

als handele es sich um eine Geschichte, die es sich lohne weiterzuerzählen,<br />

»hat sie mich gefragt, ob ich mir mal ihr Höschen ansehen könnte.«<br />

Ich nickte. »Klar.«<br />

»Das Höschen hatte sich in der Trommel verfangen«, erklärte er.<br />

»Und sie hat es die ganze Zeit angehabt? Du hast gesagt, sie wäre nicht die<br />

Allerklügste.«<br />

»Nein. Sie wollte es waschen, aber der Gummizug hatte sich festgehakt,<br />

und sie bat mich, ihr dabei zu helfen, es herauszuholen. Übergröße«, fügte<br />

er nachdenklich hinzu, verfiel bei dem Gedanken daran kurz in Träumerei<br />

und fuhr dann fort: »Ich konnte es rausholen, aber es war total zerfetzt, und


ich sagte, nur so zum Spaß: >Hoffentlich haben Sie noch ein zweites Paar,<br />

Miss, die hier sind nämlich total zerfetzt.Das wüßten Sie wohl gern, was?


Was ist passiert?«<br />

»Ich stand vor der Feuerwehr, wie verabredet. Da kommt ein roter Pick-up<br />

angerast, bremst <strong>mit</strong> quietschenden Reifen neben mir, und der Fahrer, der<br />

ziemlich sauer ist, sagt, er sei Beulahs Mann und er hätte ein Wörtchen <strong>mit</strong><br />

mir zu reden.«<br />

»Und was hast du gemacht?«<br />

»Ich bin abgehauen. Was denkst du denn?«<br />

»Und, hat er dich nicht eingeholt?«<br />

»Mit 250 Kilo am Leib? Der war kein sportlicher Typ. Eher so ein Rambo,<br />

von dem Schlag: >Ich hau dir gleich in die Eier, Alter.< Er ist eine halbe<br />

Stunde in der Gegend rumgefahren und hat mich gesucht. Ich bin durch<br />

Hinterhöfe und Gärten gerannt, habe mich in Wäscheleinen verheddert und<br />

bin in allen möglichen Scheiß reingetreten. Zum Schluß hat noch ein anderer<br />

Kerl Jagd auf mich gemacht, weil er mich für einen Penner gehalten hat.<br />

Was soll ich bloß machen, <strong>Bryson</strong>?«<br />

»Als erstes darfst du keine dicken Frauen in Waschsalons mehr anbaggern.«<br />

»Ja,ja,ja.«<br />

»Ich gehe raus, gucke, ob die Luft rein ist, und gebe dir dann durchs Fenster<br />

ein Zeichen.«<br />

»Gut. Und dann?«<br />

»Dann gehst du zügig zurück zum Hotel, hältst dir die Hände vor die Eier<br />

und hoffst, daß dich der Kerl nicht erwischt.«<br />

Er gab einen Moment lang Ruhe. »Das ist alles? Was Besseres fällt dir nicht<br />

ein?«<br />

»Fällt dir was Besseres ein?«<br />

»Nein, aber ich bin auch nicht vier Jahre aufs College gegangen.«<br />

»Ich bin nicht aufs College gegangen, um zu lernen, wie man in Waynesboro<br />

deinen Arsch rettet, Stephen. Mein Hauptfach war Politikwissenschaft.<br />

Wenn dein Problem <strong>mit</strong> dem Verhältniswahlrecht in der Schweiz zu tun<br />

hätte, könnte ich dir vielleicht weiterhelfen.«<br />

Er seufzte, lehnte sich <strong>mit</strong> verschränkten Armen zurück, rekapitulierte<br />

nüchtern seine Lage und überlegte, wie sie sich meistern ließe. »Du paßt<br />

auf, daß ich kein Wort mehr <strong>mit</strong> einer Frau wechsle, egal wie dick sie ist,<br />

wenigstens solange, bis wir die Südstaaten hinter uns haben. Die Kerle hier<br />

sind ja alle bewaffnet. Versprichst du mir das?«<br />

»Versprochen.«<br />

Er schwieg gereizt. Während ich mein Abendessen beendete, drehte er den<br />

Kopf hin und her, schaute aus allen Fenstern, als warte er darauf, daß sich<br />

jeden Moment ein wütendes schwammiges Gesicht an die Scheibe preßte.<br />

Als ich fertig war und bezahlt hatte, gingen wir zur Tür.<br />

»Vielleicht bin ich in fünf Minuten tot«, sagte er griesgrämig und packte


mich am Unterarm. »Paß auf. Tu mir einen Gefallen, für den Fall, daß ich<br />

erschossen werde. Ruf meinen Bruder an und sag ihm, in seinem Vorgarten<br />

sei eine Kaffeedose <strong>mit</strong> 10.000 Dollar vergraben.«<br />

»Hast du wirklich 10.000 Dollar im Garten von deinem Bruder vergraben?«<br />

»Natürlich nicht, aber der Kerl ist ein Arschloch, und es geschähe ihm<br />

recht. Los, komm.«<br />

Ich trat nach draußen. Die Straße war leer, es herrschte kein Verkehr. Ganz<br />

Waynesboro war zu Hause und saß vor dem Fernseher. Ich nickte Katz zu.<br />

Er steckte den Kopf durch die Tür, sah vorsichtig nach links und rechts und<br />

raste in einem für seine Verhältnisse wirklich beachtlichen Tempo die Straße<br />

entlang. Ich brauchte ein paar Minuten bis zu unserem Motel. Ich begegnete<br />

unterwegs niemandem. Im Motel klopfte ich an Katz’ Tür.<br />

Eine lächerlich tiefe, autoritäre Stimme antwortete. »Wer ist da?«<br />

Ich seufzte. »Bubba T. Flubba. Rück die Alte raus, Bürschchen.«<br />

»<strong>Bryson</strong>! Laß den Scheiß. Ich kann dich durch den Spion erkennen.«<br />

»Warum fragst du dann, wer da ist?«<br />

»Zur Übung.«<br />

Ich wartete eine Minute lang. »Willst du mich nicht reinlassen?«<br />

»Kann ich nicht. Ich habe eine Kommode vor die Tür gerückt.«<br />

»Wirklich?«<br />

»Geh in dein Zimmer. Ich rufe dich an.«<br />

Mein Zimmer war nebenan, und als ich hineinkam, klingelte das Telefon<br />

bereits. Katz wollte meinen Heimweg in allen Einzelheiten beschrieben<br />

haben und entwarf umständliche Pläne zu seiner Verteidigung, in denen<br />

unter anderem der schwere Keramikfuß einer Stehlampe eine Rolle spielte,<br />

zu guter Letzt wollte er durch das rückwärtige Fenster fliehen. Ich sollte in<br />

der Zwischenzeit Ablenkungsmanöver durchführen, im Idealfall den Truck<br />

des Mannes in Brand setzen und dann in die entgegengesetzte Richtung<br />

Reißaus nehmen. Zweimal rief er mich noch an, einmal kurz nach Mitternacht,<br />

um mir <strong>mit</strong>zuteilen, er habe draußen einen roten Pick-up vorbeifahren<br />

sehen. Am nächsten Morgen weigerte er sich, fürs Frühstück das Motel<br />

zu verlassen, also zog ich los zum nächsten Supermarkt, besorgte Lebens<strong>mit</strong>tel<br />

und kaufte für uns beide je einen Beutel <strong>mit</strong> Proviant von Hardees. Er<br />

kam erst aus dem Zimmer, als vor dem Motel das Taxi <strong>mit</strong> laufendem Motor<br />

wartete. Es waren sechseinhalb Kilometer bis zum Trail, und Katz sah<br />

die ganze Zeit über aus dem Heckfenster.<br />

Das Taxi setzte uns am Rockfish Gap ab, dem südlichen Tor zum Shenandoah<br />

National Park, dem letzten langen Wanderabschnitt, <strong>mit</strong> dem wir den<br />

ersten Teil unseres großen Abenteuers beschließen wollten. Wir hatten<br />

sechseinhalb Wochen für diesen ersten Ausflug angesetzt, und die waren


jetzt bald rum. Ich brauchte dringend Urlaub – den brauchten wir weiß Gott<br />

beide -und hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht nach meiner Familie.<br />

Trotzdem freute ich mich auf das, was ich mir als einen Höhepunkt unseres<br />

Unternehmens erwartete. Der Shenandoah National Park – 162 Kilometer<br />

von einem Ende bis zum anderen -ist berühmt für seine Schönheit, und ich<br />

wollte mich endlich einmal <strong>mit</strong> eigenen Augen davon überzeugen. Wir<br />

hatten immerhin einen weiten Weg zurückgelegt, um hierher zu kommen.<br />

In Rockfish Gap befand sich ein <strong>mit</strong> Rangers besetztes Mauthäuschen, an<br />

dem Autofahrer Eintrittsgeld entrichten müssen; Wanderer brauchen sich<br />

nur eine Wandererlaubnis für das Gebiet zu besorgen. Die Bescheinigung<br />

ist kostenlos – eine der edelsten Traditionen des Appalachian Trail ist, daß<br />

alles umsonst ist –, aber man muß ein langes Formular ausfüllen, seine<br />

persönlichen Daten angeben, die geplante Route durch den Park, und wo<br />

man gedenkt jeden Abend zu kampieren (was ein bißchen absurd ist, weil<br />

man das Gelände noch nicht gesehen hat und nicht weiß, wie viele Kilometer<br />

man am Tag schaffen wird). An das Formular war ein Blatt <strong>mit</strong> den<br />

üblichen Vorschriften und Warnungen geheftet, Androhungen von schweren<br />

Strafen und sofortigem Verweis im Falle von – ach, eigentlich allem<br />

möglichem. Ich füllte das Formular so gut es ging aus und reichte es der<br />

Rangerin hinter dem Fensterchen.<br />

»Sie wollen also den Trail entlangwandern«, stellte sie unvermutet scharfsinnig<br />

fest, nahm das Formular entgegen, ohne einen Blick darauf zu werfen,<br />

stempelte es routinemäßig ab und riß den Durchschlag ab, der als Erlaubnis<br />

dafür diente, den Grund und Boden zu betreten, der uns, theoretisch<br />

jedenfalls, sowieso gehörte.<br />

»Wir wollen es zumindest versuchen«, sagte ich.<br />

»Irgendwann muß ich auch mal in die Berge. Ich habe gehört, es soll wirklich<br />

sehr schön sein.«<br />

Für einen Moment war ich fassungslos. »Sie sind den Trail noch nie gegangen?«<br />

Aber Sie sind doch ein Ranger, wollte ich ergänzen.<br />

»Nein, leider nicht«, erwiderte sie wehmütig. »Ich habe mein ganzes Leben<br />

hier verbracht, aber dazu bin ich noch nicht gekommen. Eines Tages wird es<br />

soweit sein.«<br />

Katz zerrte mich, aus Angst vor Beulahs Mann, praktisch hinter sich her,<br />

aber ich war neugierig geworden.<br />

»Wie lange sind Sie schon Ranger?« fragte ich sie.<br />

»Im August sind es zwölf Jahre«, sagte sie stolz.<br />

»Sie sollten es mal <strong>mit</strong> dem Wandern probieren. Es ist wirklich schön.«<br />

»Und Sie wären die Speckfalten an Ihrem Hintern los«, murmelte Katz in<br />

sich hinein und ging vor in den Wald. Ich sah ihm <strong>mit</strong> einiger Verwunderung<br />

hinterher. Diese Erbarmungslosigkeit sah Katz überhaupt nicht ähn-


lich, und ich schrieb sie dem Schlafentzug, tiefer sexueller Frustration und<br />

der Übersättigung <strong>mit</strong> Hardees Wurstsnacks zu.<br />

Der Shenandoah National Park hat seine Probleme. Er leidet, noch viel<br />

stärker als der Park in den Smokies, unter chronischem Geldmangel, Zyniker<br />

würden sagen unter chronischem Mißmanagement <strong>mit</strong> den vorhandenen<br />

Mitteln. Einige kilometerlange Abschnitte des Trail sind gesperrt, andere<br />

vernachlässigt. Wenn die freiwilligen Helfer des Potomac Appalachian<br />

Trail Club nicht die Pflege von 80 Prozent der Wanderwege durch den Park<br />

übernommen hätten, wäre die Situation noch schlimmer. Mathews Arm<br />

Campground, eine der größten Freizeiteinrichtungen in dem Park, wurde<br />

1993 wegen Geldmangel geschlossen und seitdem nicht wieder eröffnet.<br />

Viele andere Einrichtungen bleiben mehrere Monate im Jahr geschlossen. In<br />

den 80er Jahren waren sogar die Schutzhütten – die hier nicht shelters,<br />

sondern huts heißen – für einige Zeit dicht. Ich verstehe nicht, wie so etwas<br />

gehen soll – ich meine, wie kann man ein Holzhaus dichtmachen, dessen<br />

viereinhalb Meter breite Vorderseite offen ist? Und noch weniger verstehe<br />

ich den Grund, da ein Verbot für die Wanderer, sich nach einem stundenlangen<br />

Marsch auf einem Holzpodest schlafen zu legen, die Finanzen der<br />

Parkverwaltung wohl kaum entlasten wird. Aber Wanderern das Leben<br />

schwer zu machen hat Tradition in den Parks im Osten der Vereinigten<br />

Staaten. Ein paar Monate zuvor waren wegen einer Pattsituation im Haushaltsausschuß<br />

zwischen Präsident Clinton und dem Kongreß neben einigen<br />

untergeordneten staatlichen Behörden auch alle Nationalparks geschlossen<br />

worden. Aber für einen Wachdienst, der an jedem Zugang zum AT postiert<br />

wurde, um Wanderer <strong>mit</strong> Rucksack abzuwehren, kratzte die Shenandoah-<br />

Park-Verwaltung trotz chronischer Finanzkrise doch noch das nötige Geld<br />

zusammen. Folglich mußten ein paar Dutzend harmloser Leute umständliche,<br />

sinnlose Umwege über die Straße in Kauf nehmen, bevor sie ihre Wanderung<br />

fortsetzen konnten. Diese übertriebene Vorsichtsmaßnahme hat die<br />

Parkverwaltung mindestens 20.000 Dollar gekostet, also etwa 1.000 Dollar<br />

pro abgewimmeltem gefährlichen Wanderer.<br />

Außer <strong>mit</strong> diesen selbstverschuldeten Defiziten muß sich die Parkverwaltung<br />

von Shenandoah <strong>mit</strong> einer Reihe von Problemen herumschlagen, die<br />

von Faktoren herrühren, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Der Park ist<br />

über 160 Kilometer lang, aber an keiner Stelle breiter als zwei, drei Kilometer.<br />

Die Folge ist, daß die Millionen Besucher, die Jahr für Jahr herkommen,<br />

sich in einem außerordentlich schmalen Korridor entlang des Gebirgsgrats<br />

drängeln müssen. Campingplätze, Besucherzentren, Parkplätze, <strong>Picknick</strong>zonen,<br />

der AT und der Skyline Drive – die Aussichtsstraße, die am Grat<br />

entlang verläuft –, alles liegt dicht nebeneinander, auf Tuchfühlung sozusagen.<br />

Eine der beliebtesten Wanderrouten im Park, die zum Old Rag Moun-


tain hinauf, ist dermaßen gefragt, daß an Sommerwochenenden die Leute<br />

dort Schlange stehen.<br />

Dazu kommt das beunruhigende Phänomen der Luftverschmutzung. Noch<br />

vor 30 Jahren konnte man an besonders klaren Tagen das 120 Kilometer<br />

entfernte Washington-Monument erkennen. Heute kann es passieren, daß<br />

die Sichtweite an Sommertagen, an denen Smog herrscht, gerade einmal<br />

3.000 bis 4.000 Meter beträgt, und sie hegt nie mehr über 50 Kilometer. Der<br />

saure Regen in den Flüssen hat der Forelle den Garaus gemacht. Seit 1983<br />

gibt es Schwammspinner, die hektargroße Bestände von Eichen und Walnußbäumen<br />

vernichtet haben. Der große Kiefernmarkkäfer hat an Nadelbäumen<br />

ein ähnliches Werk verrichtet, und der Robinienkäfer und die Miniermotte<br />

haben an Tausenden Robinien schwere, entstellende, aber gnädigerweise<br />

keine tödlichen Schäden angerichtet. Innerhalb von nur sieben<br />

Jahren haben dagegen die Fichtengallenläuse an 90 Prozent des Schierlingsbestands<br />

im Park schweren Schaden angerichtet. Und wenn Sie das<br />

hier lesen, werden auch die restlichen zehn Prozent dahin sein. Eine unheilbare<br />

Pilzerkrankung, Anthraknose oder schwarzer Brenner genannt, ist<br />

dabei, die herrlichen Hartriegelsträucher auszurotten, nicht nur in Shenandoah,<br />

sondern überall in Amerika. Über kurz oder lang wird es den Hartriegel<br />

nicht mehr geben, ebenso wie die nordamerikanische Kastanie und die<br />

nordamerikanische Ulme. Kurzum, man kann sich kaum ein von Umweltproblemen<br />

stärker geplagtes Gebiet als den Shenandoah National Park<br />

vorstellen.<br />

Trotzdem ist der Shenandoah National Park immer noch wunderschön. Er<br />

ist wahrscheinlich der schönste Nationalpark, den ich je gesehen habe, und<br />

dafür, daß so viele unglaubliche und widersprüchliche Anforderungen an<br />

ihn gestellt werden, ist er außerordentlich gut gepflegt. Er war von allen<br />

Parks, durch die der Appalachian Trail führt, mein Lieblingspark.<br />

Wir wanderten durch dichte Wälder, über wunderbar bequemes Terrain, bei<br />

einem sanften Anstieg von 150 Meter auf einer Strecke von 6,5 Kilometern.<br />

In den Smokies kann es einem passieren, daß man 150 Meter auf, na ja, 150<br />

Meter ansteigt. Das hier entsprach meinen Wünschen schon eher. Das Wetter<br />

war freundlich, und man spürte das Nahen des Frühlings. Überall pulsierte<br />

das Leben – Insekten summten, Eichhörnchen huschten über Äste,<br />

Vögel zwitscherten und hüpften in den Bäumen, Spinnweben glitzerten<br />

silbern im Sonnenlicht. Zweimal scheuchte ich Waldhühner auf, und jedesmal<br />

erschrak ich – es ist wie eine Explosion unter den Füßen, als würden<br />

aufgerollte Socken abgefeuert, gefolgt von flatternden Federn und empörtem<br />

Geschnattere. Ich sah eine Eule, die mich von einem dicken Ast aus<br />

seelenruhig beobachtete, und unzählige Rehe, die kurz ihre Köpfe reckten,<br />

wenn man vorbeiging, einen anstarrten, aber ansonsten zutraulich waren


und weiterästen. Vor 60 Jahren gab es in dieser Gegend der Blue Ridge<br />

Mountains keine Rehe. Sie waren durch die Jagd ausgerottet worden. Bei<br />

der Gründung des Parks 1936 setzte man 13 Weißwedelhirsche aus, und da<br />

kein Mensch und nur wenige Raubtiere Jagd auf sie machten, vermehrten<br />

sie sich rasch. Heute gibt es 5.000 Hirsche in dem Park, und alle stammen<br />

von den ersten 13 Tieren ab, oder von anderen, die aus der Umgebung dazustießen.<br />

Der Park ist reich an wildlebenden Tieren, wenn man bedenkt, wie bescheiden<br />

die Ausmaße sind und daß eigentlich kein richtiges Hinterland zur Verfügung<br />

steht. Rotluchse, Bären, Rot- und Graufüchse, Biber, Stinktiere,<br />

Waschbären, Flughörnchen und unsere Freunde, die Salamander, gibt es in<br />

großer Zahl, auch wenn man die Tiere nicht häufig zu Gesicht bekommt, da<br />

die meisten nachtaktiv oder menschenscheu sind. Shenandoah hat angeblich<br />

die größte Dichte an Schwarzbären auf der ganzen Welt – ein Bär auf etwa<br />

zweieinhalb Quadratkilometer. Es sollen auch Berglöwen gesichtet worden<br />

sein, darüber liegen Berichte vor, unter anderem von Parkrangern, die es<br />

eigentlich besser wissen müßten – denn den Berglöwen gibt es in den Wäldern<br />

im Osten der Vereinigten Staaten nachweislich seit über 70 Jahren<br />

nicht mehr. Es gibt sie höchstens noch in einigen Restgebieten der Wälder<br />

im hohen Norden – aber dazu später (Sie müssen sich noch etwas gedulden,<br />

doch ich denke, es lohnt sich) –, aber nicht in einem so schmalen und eingeengten<br />

Gebiet wie dem Shenandoah National Park.<br />

Wir bekamen nichts Exotisches zu Gesicht, nicht im entferntesten, aber es<br />

war ganz hübsch, auch mal ganz normale Eichhörnchen und Rehe zu sehen,<br />

das Gefühl zu haben, daß der Wald belebt ist. Am späten Nach<strong>mit</strong>tag kam<br />

ich an eine Kurve, hinter der ich einen Truthahn <strong>mit</strong> seinen Küken entdeckte,<br />

die vor mir den Pfad kreuzten. Die Mutter war prächtig und unerschütterlich,<br />

ihre Küken stolperten unentwegt und kamen wieder auf die Beinchen<br />

und waren viel zu sehr <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigt, um mich zu bemerken.<br />

So sollte es in einem Wald zugehen. Meine Freude hätte nicht größer sein<br />

können.<br />

Wir wanderten bis fünf Uhr und campierten neben einem Bächlein auf einer<br />

kleinen, grasbewachsenen Lichtung zwischen Bäumen direkt neben dem<br />

Weg. Da es unser erster Tag nach der Pause war, hatten wir reichlich Vorrat,<br />

einschließlich verderblicher Ware wie Käse und Brot, die verspeist<br />

werden mußte, bevor sie schlecht oder in unseren Rucksäcken zu Krümeln<br />

zermalmt wurde. Wir schlemmten regelrecht, legten uns anschließend ins<br />

Gras, rauchten und plauderten, bis die vielen penetranten mückenartigen<br />

Tierchen – die unter AT-Wanderern allgemein nur die Unsichtbaren genannt<br />

werden, denn »man sieht sie nicht, man hört sie nur« – uns in die<br />

Zelte trieben. Es war bestes Wetter zum Schlafen, so kalt, daß man einen


Schlafsack brauchte, aber warm genug, um in Unterwäsche zu schlafen. Ich<br />

hoffte auf eine lange, ausgiebige Nachtruhe und erfreute mich auch derselben,<br />

bis zu irgendeiner finsteren Stunde ein Geräusch in un<strong>mit</strong>telbarer Nähe<br />

zu hören war. Ich riß die Augen auf. Normalerweise kann mich nichts wekken,<br />

weder Donner noch Katz’ Schnarchen oder sein geräuschvolles <strong>mit</strong>ternächtliches<br />

Wasserlassen. Etwas so Lautes und Besonderes, daß ich davon<br />

aufwachte, mußte etwas höchst Ungewöhnliches sein. Man hörte, wie im<br />

Unterholz gewühlt wurde, das Knacken von Zweigen, offenbar ein schweres<br />

tapsiges Wesen, das sich durchs Laub schob, und dann ein lautes, leicht<br />

nervöses Schnüffeln.<br />

Ein Bär!<br />

Ich richtete mich kerzengerade auf. Jedes Neuron in meinem Gehirn war<br />

sofort hellwach und entfaltete hektische Betriebsamkeit, wie Ameisen,<br />

wenn man unversehens auf ihren Bau tritt. Ich wollte instinktiv nach meinem<br />

Messer greifen, aber dann fiel mir ein, daß ich es in meinem Rucksack<br />

gelassen hatte – draußen vor dem Zelt. An nächtliche Verteidigung hatten<br />

wir nach so vielen aufeinanderfolgenden Nächten beschaulicher Ruhe keinen<br />

Gedanken mehr verschwendet. Wieder hörte ich ein Geräusch, diesmal<br />

ganz nahe.<br />

»Stephen? Bist du wach?« flüsterte ich.<br />

»Ja«, antwortete er <strong>mit</strong> müder, unaufgeregter Stimme.<br />

»Was war das gerade?«<br />

»Woher soll ich das wissen?«<br />

»Hörte sich nach einem großen Tier an.«<br />

»Im Wald hört sich alles nach großen Tieren an.«<br />

Das stimmte. Einmal war ein Stinktier durch unser Nachtlager spaziert, und<br />

es hatte sich angehört wie ein Dinosaurier. Wieder war ein lautes Rascheln<br />

zu vernehmen, und dann ein schlabberndes Geräusch vom Bach her. Es<br />

trank Wasser, das unbekannte Wesen.<br />

Ich rutschte auf Knien zum Zelteingang, öffnete vorsichtig den Reißverschluß<br />

und steckte den Kopf hinaus. Es war pechschwarze Nacht. So leise<br />

ich konnte, holte ich meinen Rucksack ins Zelt und suchte im Schein der<br />

Taschenlampe nach meinem Messer. Als ich es gefunden und die Klinge<br />

aufgeklappt hatte, war ich entsetzt. Das Messer war viel zu klein, einfach<br />

lächerlich. Es war ein solides Besteckmesser, bestens geeignet, um Butter<br />

auf einen Pfannkuchen zu streichen, aber völlig ungeeignet, um einen wütenden<br />

Pelz von mehreren Zentnern Lebendgewicht abzuwehren. Vorsichtig<br />

kroch ich aus dem Zelt und schaltete die Taschenlampe ein, die ein erbärmliches<br />

Licht warf. Das Wesen in vier bis fünf Meter Entfernung schaute zu<br />

mir auf. Ich konnte nichts erkennen, weder Umriß noch Größe, nur zwei<br />

leuchtende Augen. Es blieb still stehen und erwiderte meinen starren Blick.


»Stephen«, flüsterte ich, »hast du ein Messer eingepackt?«<br />

»Nein.«<br />

»Hast du irgendwas Scharfes dabei?«<br />

Er überlegte einen Moment. »Meine Nagelschere.«<br />

Ich war verzweifelt. »Nichts Gefährlicheres? Hier draußen ist nämlich wirklich<br />

irgendwas.«<br />

»Wahrscheinlich bloß ein Stinktier.«<br />

»Dann muß es aber ein Riesenstinktier sein. Die Augen sind einen Meter<br />

vom Boden entfernt.«<br />

»Dann eben ein Reh.«<br />

Ich warf dem Tier einen Zweig hin, aber es rührte sich nicht. Ein Reh wäre<br />

aufgeschreckt und davongelaufen. Das Wesen klimperte einmal <strong>mit</strong> den<br />

Augen und starrte mich weiter an.<br />

Ich machte Meldung an Katz.<br />

»Vielleicht ein Rehbock. Die sind nicht ganz so zahm. Schimpf doch mal<br />

<strong>mit</strong> ihm.«<br />

Ich schimpfte <strong>mit</strong> zittriger Stimme. »He! Du da! Hau ab!« Das Geschöpf<br />

klimperte wieder <strong>mit</strong> den Augen, seltsam ungerührt. »Schimpf du mal«,<br />

sagte ich zu Katz.<br />

»He, du blödes Vieh, geh weg. Los, geh!« i<strong>mit</strong>ierte Katz meine Stimme.<br />

»Hinweg, du scheußliche Kreatur!« Er war gnadenlos.<br />

»Blödmann«, sagte ich und trug mein Zelt neben seins. Ich wußte selbst<br />

nicht, was ich da<strong>mit</strong> bezweckte, aber es beruhigte mich ein klein wenig, ihm<br />

ein Stück näher zu sein.<br />

»Was machst du da?«<br />

»Ich verrücke mein Zelt.«<br />

»Großartige Idee. Das macht das arme Tierchen bestimmt ganz konfus.«<br />

Ich schaute angestrengt in die Finsternis, aber ich konnte auch auf die kurze<br />

Entfernung nichts erkennen außer zwei weit aufgerissenen Augen, wie in<br />

einem Comic. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich lieber draußen<br />

bleiben wollte, um gleich zu sterben, oder lieber drinnen, um aufs Sterben<br />

zu warten. Eigentlich wollte ich nur, daß das Tier abhaute. Ich hob einen<br />

kleinen Stein auf und warf ihn nach dem Tier. Ich glaube, ich habe es sogar<br />

getroffen, denn es setzte lautstark zu einem Sprung an – was mich zu Tode<br />

erschreckte und mir ein Wimmern entlockte – und gab dann ein Geräusch<br />

von sich, kein richtiges Knurren, aber fast. Vielleicht sollte ich es lieber<br />

nicht provozieren.<br />

»Was machst du da, <strong>Bryson</strong>? Laß das Tier in Ruhe, dann haut es von alleine<br />

ab.«<br />

»Wie kannst du bloß so ruhig sein?«<br />

»Was soll ich denn machen? Es reicht doch, wenn einer von uns beiden den


Hysterischen spielt.«<br />

»Entschuldige bitte, aber ich habe allen Grund, beunruhigt zu sein. Ich stehe<br />

hier <strong>mit</strong>ten im dunklen Wald, Auge in Auge <strong>mit</strong> einem Bär, am Ende der<br />

Welt, zusammen <strong>mit</strong> einem Kerl, der nichts anderes zur Verteidigung dabei<br />

hat als eine Nagelschere. Sag mir eins, Katz: Wenn das hier ein Bär ist, und<br />

er geht auf dich los, was willst du dann machen – ihm die Fußnägel schneiden?«<br />

»Ich laß’ die Dinge auf mich zukommen«, sagte Katz unerschütterlich.<br />

»Du willst das Ding hier auf dich zukommen lassen? Das Ding ist ein Bär,<br />

und es kommt nicht erst noch, es ist längst da, verfluchte Kacke. Es sieht<br />

uns an. Es riecht die Nudeln und die Snickers – ach, du schöne Scheiße!«<br />

»Was ist?«<br />

»Scheiße!«<br />

»Was ist?«<br />

»Es sind zwei. Ich kann ein zweites Augenpaar erkennen.« In dem Moment<br />

machte die Batterie der Taschenlampe schlapp. Das Licht flackerte, dann<br />

verlosch es ganz. Ich eilte in mein Zelt, stach mir dabei vor Aufregung in<br />

den Oberschenkel und begann eine hektische Suche nach Ersatzbatterien.<br />

Als Bär hätte ich mich genau jetzt, in diesem günstigen Moment auf meine<br />

Beute gestürzt.<br />

»Ich leg’ mich wieder schlafen«, verkündete Katz.<br />

»Was redest du da? Du kannst doch jetzt nicht einfach schlafen.«<br />

»Und ob ich das kann. Ich hab’s oft genug getan.« Ich hörte, wie er auf die<br />

Seite rollte und dann eine Folge von Schnief- und Schnüffelgeräuschen von<br />

sich gab, ähnlich denen der Kreatur draußen am Bach.<br />

»Stephen, du kannst jetzt nicht einschlafen«, verlangte ich von ihm. Aber er<br />

konnte es sehr wohl, und zwar erstaunlich schnell.<br />

Das Tier – die Tiere – schlabberten munter weiter. Ich konnte keine Ersatzbatterien<br />

finden, warf die Taschenlampe hin und setzte die Stirnlampe auf,<br />

probierte, ob sie auch funktionierte, und schaltete sie wieder aus, um die<br />

Batterie zu schonen. Danach blieb ich stundenlang auf meinen Knien hokken,<br />

den Zelteingang fest im Visier, lauschte angestrengt, hielt in der einen<br />

Hand meinen Wanderstab wie einen Baseballschläger umklammert, bereit,<br />

bei einem Angriff zurückzuschlagen, in der anderen, als Verteidigung von<br />

der Flanke her, das geöffnete Klappmesser. Die Bären, die Tiere, was auch<br />

immer, tranken noch etwa 20 Minuten lang und verließen dann leise die<br />

Lichtung in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Es war ein Augenblick<br />

der Freude, aber ich wußte aus meiner Lektüre einschlägiger Literatur,<br />

daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach zurückkommen würden. Ich lauschte<br />

und lauschte, aber Stille senkte sich über den Wald, und es blieb ruhig.<br />

Schließlich ließ ich meinen Wanderstab los und zog mir einen Pullover


über, dabei hielt ich zweimal inne, um noch die winzigsten Geräusche zu<br />

identifizieren, fürchtete den Lärm, der einen zweiten Besuch ankündigte,<br />

und kroch nach sehr langer Zeit wieder in meinen Schlafsack, weil mir kalt<br />

wurde. Ich blieb lange wach liegen, starrte in die völlige Finsternis und<br />

wußte, daß ich nie wieder unbeschwert in einem Wald würde schlafen können.<br />

Dann schlief ich unweigerlich allmählich doch ein.


12. Kapitel<br />

Ich hatte erwartet, daß Katz am nächsten Morgen unerträglich sein würde,<br />

aber er war erstaunlich gnädig <strong>mit</strong> mir. Er weckte mich <strong>mit</strong> Kaffee, und als<br />

ich aus meinem Zelt hervorkroch, wie gerädert und um den Schlaf gebracht,<br />

sagte er zu mir: »Ist irgendwas? Du siehst schlimm aus.«<br />

»Ich habe nicht genug geschlafen.«<br />

Er nickte. »Glaubst du wirklich, daß es ein Bär war?«<br />

»Was weiß ich.« Plötzlich fiel mir der Vorratsbeutel ein – auf den gehen<br />

Bären normalerweise zuerst los – und ich wandte den Kopf zur Seite, um<br />

nachzusehen, aber er hing immer noch sicher ein paar Meter über dem Boden<br />

an einem Ast, ungefähr 15 Meter von unseren Zelten entfernt. Ein zu<br />

allem entschlossener Bär hätte ihn da bestimmt heruntergeholt. Eigentlich<br />

hätte ihn jedes Kind herunterholen können. »Vielleicht doch nicht«, sagte<br />

ich enttäuscht.<br />

»Weißt du, was hier drin ist? Für alle Fälle«, sagte Katz und klopfte vielsagend<br />

auf seine Brusttasche. »Meine Nagelschere. Man weiß ja nie. Gefahren<br />

lauern überall. Eins kann ich dir flüstern, mein Freund, aus Schaden<br />

wird man klug. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht.« Dann lachte er<br />

schallend.<br />

Danach ging es wieder in den Wald. Der Appalachian Trail verläuft auf fast<br />

der gesamten Länge des Shenandoah National Park parallel zum Skyline<br />

Drive und kreuzt diesen sogar häufig, obwohl man das als Wanderer meistens<br />

kaum merkt. Es kann passieren, daß man durch die heiligen Säulenhallen<br />

des Waldes streift, und plötzlich gleitet ein paar Meter vor einem ein<br />

Auto zwischen den Bäumen hindurch – ein immer wieder irritierender Anblick.<br />

Anfang der 30er Jahre wurde der Potomac Appalachian Trail Club – Myron<br />

Averys Lieblingskind und zeitweilig von der Appalachian Trail Conference<br />

nicht zu unterscheiden – von anderen Wandervereinen scharf angegriffen,<br />

besonders von dem elitären Appalachian Mountain Club in Boston, er habe<br />

sich dem Bau der Skyline Drive durch den Park nicht widersetzt. Avery<br />

fühlte sich von dieser Rüge schwer getroffen und schrieb im Dezember<br />

1935 einen beleidigenden Brief an MacKaye, der dessen Beziehung zum<br />

Trail Club, die ohnehin nur noch recht oberflächlich war, offiziell ein Ende<br />

setzte. Die beiden Männer haben nie wieder ein Wort <strong>mit</strong>einander gesprochen,<br />

dennoch zollte MacKaye ihm bei seinem Tod im Dezember 1952 die<br />

gebührende Anerkennung und bemerkte, ohne Avery wäre der Trail wohl<br />

nie gebaut worden. Viele Menschen mögen den Skyline Drive nicht, aber<br />

Katz und ich konnten ihm durchaus etwas abgewinnen. Häufig verließen


wir den Trail und gingen für ein, zwei Stunden auf dem Highway weiter.<br />

Jetzt, in der Vorsaison, Anfang April, fuhren kaum Autos durch den Park,<br />

und wir nutzten den Skyline Drive einfach als breiten, bequemen, asphaltierten<br />

Nebenwanderweg. Es war ein ganz neues Gefühl, zur Abwechslung<br />

festen Boden unter den Füßen zu haben, und äußerst angenehm, nach wochenlangem<br />

Marschieren durch undurchdringlichen Wald draußen im Freien<br />

zu sein, in der Sonne. Autofahrer führen wirklich ein verwöhnteres,<br />

sorgenfreieres Leben als wir Wanderer. Es gab an der Straße viele eigens<br />

angelegte Aussichtspunkte, die einen herrlichen Ausblick boten – obwohl<br />

auch jetzt, bei klarem Frühlingswetter, alles, was weiter als neun bis zehn<br />

Kilometer weg war, unter einer staubigen Dunstdecke lag. Diese Plätze waren<br />

<strong>mit</strong> Informationstafeln, die nützliche Hinweise über Flora und Fauna<br />

des Parks enthielten, und sogar <strong>mit</strong> Mülleimern ausgestattet. So was hätten<br />

wir auf dem Trail auch ganz gut gebrauchen können, fanden wir. Wenn die<br />

Sonne zu heiß wurde oder die Füße schmerzten – Asphalt ist eigentlich eine<br />

Tortur für die Füße – oder wenn wir eine Abwechslung benötigten, kehrten<br />

wir wieder in den vertrauten, kühlen, heimeligen Wald zurück. Es war sehr<br />

angenehm, geradezu luxuriös, zwischen beiden Möglichkeiten wählen zu<br />

können.<br />

An einem der Rastplätze am Skyline Drive hing eine Informationstafel, die<br />

den Besucher auf einen Hang in der Nähe aufmerksam machte, der über und<br />

über <strong>mit</strong> Schierling bewachsen war, einer sehr dunklen, fast schwarzen<br />

Konifere, die typisch für die Blue Ridge Mountains ist. Dieser Schierling,<br />

überhaupt aller Schierling, der am Trau und im Wald zu beiden Seiten<br />

wächst, ist von einer Blattlaus befallen, die 1924 aus Asien eingeschleppt<br />

wurde, und stirbt ab. Der National Park Service, lautete die traurige Feststellung<br />

auf der Informationstafel, könne sich eine Behandlung der Bäume<br />

nicht leisten. Es gäbe zu viele, das Gebiet sei zu weitläufig, eine Schädlingsbekämpfung<br />

<strong>mit</strong> Flugzeugen erscheine daher nicht praktikabel. Ich<br />

habe dazu einen Vorschlag: Warum behandelt man nicht wenigstens ein<br />

paar Bäume? Wenigstens einen einzigen? Es wäre ein Anfang. Die gute<br />

Nachricht sei, laut Informationstafel, daß der National Park Service die<br />

Hoffnung hege, daß sich einige Bäume in Laufe der Zeit auf natürlichem<br />

Weg erholen werden. Was sagt man dazu?<br />

Vor 60 Jahren gab es fast überhaupt keine Bäume in den Blue Ridge Mountains.<br />

Das war alles Ackerland. Der Weg durch den Wald führte jetzt des<br />

öfteren an den Überresten alter Steinwälle entlang, und einmal kamen wir<br />

an einem kleinen abgelegenen Friedhof vorbei, eine Erinnerung daran, daß<br />

dies eine der wenigen Bergregionen in den gesamten Appalachen ist, wo<br />

tatsächlich einmal Menschen gelebt haben – ihr Pech, daß es leider die<br />

falschen Leute waren. In den 20er Jahren strömten Soziologen und andere


Wissenschaftler aus den Städten in die Berge und waren entsetzt über das,<br />

was sie dort vorfanden. Armut und Entbehrungen waren allgegenwärtig.<br />

Der Boden war äußerst karg. Viele Bauern bewirtschafteten Steilhänge, die<br />

fast senkrecht waren. Dreiviertel der Bergbewohner konnten nicht lesen.<br />

Die meisten waren kaum je zur Schule gegangen. 90 Prozent der Kinder<br />

waren unehelich. Hygiene war ein Fremdwort, nur zehn Prozent der Haushalte<br />

verfügten über einen pri<strong>mit</strong>iven Außenabort.<br />

Hinzu kam, daß die Blue Ridge Mountains von sensationeller Schönheit<br />

waren und für eine neue Klasse motorisierter Touristen bequem erreichbar.<br />

Die naheliegende Lösung war, die Menschen aus den Bergregionen in die<br />

Täler umzusiedeln, wo sie ruhig weiter arm bleiben durften, und oben eine<br />

malerische Straße zu bauen, auf der man sonntags spazierenfahren konnte,<br />

und das Ganze in einen Gipfelrummel zu verwandeln, <strong>mit</strong> kommerziell<br />

betriebenen Campingplätzen, <strong>mit</strong> Restaurants, Eisdielen, Minigolf und<br />

wo<strong>mit</strong> sonst noch leicht Geld zu verdienen war.<br />

Die Geschäftsleute hatten aber ebenfalls Pech, denn die Wirtschaftskrise<br />

setzte ein, und die kommerziellen Interessen traten in den Hintergrund. Statt<br />

dessen rückte unter der Präsidentschaft von Frankhn Roosevelt ein konfuser<br />

sozialistischer Gedanke in den Vordergrund, und der Staat kaufte das Land.<br />

Die verbliebenen Bewohner wurden evakuiert, und das Civilian Conservation<br />

Corps machte sich an den Bau hübscher Steinbrücken, <strong>Picknick</strong>areale,<br />

Besucherzentren und diverser anderer Einrichtungen. Alles zusammen wurde<br />

im Juli 1936 der Öffentlichkeit übergeben. Es ist im wesentlichen die<br />

handwerkliche Qualität, die den Ruhm des Shenandoah National Park begründet.<br />

Der Park ist ein Meisterwerk gemeinsamer menschlicher Anstrengung,<br />

eines der wenigen Beispiele für großangelegte Bauprojekte – der<br />

Hoover-Damm ist ein weiteres Beispiel, und Mount Rushmore, würde ich<br />

sagen, ein drittes –, die sich in die natürliche Landschaft einfügen, sie eigentlich<br />

erst richtig zur Geltung bringen. Ich glaube, das ist einer der Gründe,<br />

warum ich so gern den Skylme Drive entlangging, <strong>mit</strong> seinen breiten<br />

Grasstreifen und den Befestigungsmauern aus Stein, den kunstvoll angelegten<br />

Birkenhainen und den sanft geschwungenen Kurven, die zu atemberaubenden,<br />

klug in Szene gesetzten Panoramablicken führen. In dem Stil<br />

sollten alle Highways sein, und eine Zeitlang sah es auch tatsächlich danach<br />

aus. Es ist kein Zufall, daß die ersten Highways in Amerika Parkways hießen.<br />

Als solche waren sie konzipiert – Parkanlagen, durch die man hindurchfahren<br />

konnte.<br />

Von dieser handwerklichen Tradition ist auf dem Appalachian Trau im Park<br />

nichts zu spüren – vielleicht wäre das für einen Wanderweg, der sich der<br />

Wildnis verschrieben hat, auch zuviel verlangt –, aber man begegnet ihr<br />

angenehmerweise in den Schutzhütten, die etwas von dem charmanten


ustikalen Charakter der Hütten in den Smokies haben, aber luftiger, sauberer<br />

und praktischer sind und nicht diese gräßlichen Maschendrahtzäune an<br />

der Vorderseite haben.<br />

Katz fand es lächerlich, aber ich bestand darauf, daß wir nach unserer Nacht<br />

an dem Bach nur noch in Schutzhütten schliefen - ich bildete mir ein, eine<br />

Hütte ließe sich gegen marodierende Bären besser verteidigen –, und außerdem<br />

sind die Hütten im Shenandoah Park viel zu schön, um sie links liegen<br />

zu lassen. Jede Hütte hatte ihren eigenen Reiz, war an einem sorgfältig<br />

ausgewählten Standort errichtet worden, verfügte über eine Wasserquelle in<br />

der Nähe, <strong>Picknick</strong>tische und ein Außenklo. Zwei Abende hintereinander<br />

hatten wir jeweils eine Hütte für uns allein gehabt, und am dritten Abend<br />

sah es wieder danach aus. Gerade wollten wir uns zu dieser erstaunlichen<br />

Glückssträhne gratulieren, als eine Kakophonie von Stimmen aus dem Wald<br />

erscholl. Wir sahen um die Ecke und entdeckten eine Gruppe Pfadfinder,<br />

die auf die Lichtung zumarschierten. Sie begrüßten uns, wir grüßten zurück,<br />

dann setzten wir uns auf das Schlafpodest, ließen die Füße baumeln und<br />

beobachteten die Jungen dabei, wie sie die Lichtung <strong>mit</strong> ihren Zelten und<br />

ihrer Ausrüstung in Beschlag nahmen und freuten uns darüber, daß wir mal<br />

etwas anderes zu sehen bekamen als immer nur uns selbst. Es waren drei<br />

erwachsene Aufseher und 17 Pfadfinder, alle <strong>mit</strong> jeweils zwei linken Händen.<br />

Zelte wurden aufgebaut und brachen sofort wieder in sich zusammen<br />

oder neigten sich zur Seite. Einer der Erwachsenen ging Wasser holen und<br />

fiel dabei in den Bach. Selbst Katz gab zu, das sei ja besser als Fernsehen.<br />

Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch in New Hampshire fühlten wir uns<br />

wie die Herren des Trails.<br />

Ein paar Minuten später kam ein munterer Einzelwanderer an, John Connolly,<br />

Highschool-Lehrer im Norden des Bundesstaates New York. Er war seit<br />

vier Tagen unterwegs, anscheinend immer ein paar Kilometer hinter uns,<br />

und hatte jede Nacht allein im Freien kampiert, was ich jetzt als außerordentlich<br />

mutig empfand. Er hatte keine Bären gesehen – er ging den AT seit<br />

vier Jahren in Etappen und hatte nur ein einziges Mal einen Bären gesehen,<br />

tief in den Wäldern von Maine, nur kurz, nur von hinten und auf der Flucht.<br />

Nach John kamen noch zwei Männer unseren Alters, zwei sehr nette Kerle,<br />

zurückhaltend, aber lustig. Wir waren höchstens drei, vier Wanderern begegnet,<br />

seit wir in Waynesboro aufgebrochen waren, und jetzt auf einmal<br />

wurden wir förmlich überrannt.<br />

»Was für ein Tag ist heute?« fragte ich, und alle mußten innehalten und<br />

überlegen.<br />

»Freitag«, sagte jemand. »Ja, heute ist Freitag.« Das war die Erklärung –<br />

das Wochenende hatte begonnen.<br />

Wir setzten uns alle an den <strong>Picknick</strong>tisch, kochten und aßen. Es war richtig


gesellig. Die drei anderen waren schon viel gewandert und erzählten alles<br />

Wissenswerte über die Strecke, die noch vor uns lag, bis rauf nach Maine,<br />

das für uns immer noch in unerreichbarer Ferne lag. Dann wandte sich das<br />

Gespräch einem Thema zu, das sich bei Hikern anhaltender Beliebtheit<br />

erfreut - wie überlaufen der Trail doch sei. Connolly erzählte, daß er 1987,<br />

zur Hochsaison im Sommer, fast die Hälfte der Gesamtstrecke abgewandert<br />

und tagelang keinem Menschen begegnet sei, und Jini und Chuck pflichteten<br />

ihm bei.<br />

Diese Klage hört man immer wieder, und es trifft sicher zu, daß mehr Menschen<br />

das Wandern für sich entdeckt haben als je zuvor. Bis in die 70er<br />

Jahre hinein bewältigten keine 50 Personen die gesamte Strecke des AT an<br />

einem Stück, und bis 1984 war die Zahl auf gerade mal 100 gestiegen. 1990<br />

war sie auf über 200 geklettert, und heute nähert sie sich der 300er-Marke.<br />

Das sind enorme Steigerungen, aber es bleibt doch insgesamt eine kleine<br />

Zahl. Un<strong>mit</strong>telbar vor unserem Aufbruch war in meiner Lokalzeitung in<br />

New Hampshire ein Interview <strong>mit</strong> einem Mitarbeiter des Wartungspersonals<br />

für den AT erschienen, einem Trail-Pfleger, wie sie sich nennen. Der berichtete,<br />

die drei Lagerplätze in seinem Abschnitt seien vor 20 Jahren in den<br />

Monaten Juli und August wöchentlich von etwa einem Dutzend Besucher<br />

frequentiert worden, heute seien es bis zu 100 Personen in der Woche. Ich<br />

finde daran viel erstaunlicher, daß über so lange Zeit nur so wenig Leute<br />

gekommen sind. Wie dem auch sei, 100 Gäste pro Woche in der Hochsaison,<br />

verteilt auf drei Lagerplätze, erscheint mir nicht überwältigend viel.<br />

Vielleicht sehe ich das aus der falschen Perspektive, weil ich über Jahre<br />

immer nur auf dem für amerikanische Maßstäbe kleinen, überfüllten Inselchen<br />

England gewandert bin, aber was mich in dem Sommer unserer langen<br />

Tour regelmäßig erstaunt hat, war die Tatsache, wie leer der Pfad eigentlich<br />

war. Keiner weiß genau, wie viele Menschen den Appalachian Trail benutzen,<br />

aber die meisten Schätzungen gehen von einer Zahl zwischen drei und<br />

vier Millionen pro Jahr aus. Nehmen wir an, vier Millionen trifft zu, und<br />

nehmen wir weiter an, daß die meisten Wanderer in den sechs wärmsten<br />

Monaten unterwegs sind, dann kommen wir auf durchschnittlich 16.500<br />

Personen, die täglich unterwegs sind. Das macht 4,6 Personen auf einen<br />

Kilometer, also etwa einen Menschen alle 220 Meter. Tatsächlich erreichen<br />

nur wenige Abschnitte eine so hohe Dichte. Ein großer Teil der jährlich vier<br />

Millionen Wanderer konzentriert sich für einen Tag oder eine Woche auf<br />

bestimmte beliebte Abschnitte – den Presidential Range in New Hampshire,<br />

den Baxter State Park in Maine, Mount Greylock in Massachusetts, die<br />

Smokies und den Shenandoah National Park. Zu diesen vier Millionen gehören<br />

auch die sogenannten Reebok-Hiker, die zu Tausenden einfallen. Sie<br />

kommen <strong>mit</strong> dem Auto vorgefahren, gehen ein paar hundert Meter, setzen


sich wieder in ihr Auto und lassen sich nie wieder zu so etwas atemberaubend<br />

Gefährlichem hinreißen. Egal, was die Leute sagen, der Appalachian<br />

Trail ist nicht überlaufen, glauben Sie mir.<br />

Wenn die Leute darüber schimpfen, der Trail sei überfüllt, dann meinen sie<br />

in Wahrheit, die Hütten seien überfüllt, und da muß ich ihnen recht geben.<br />

Das Problem besteht jedoch nicht dann, daß es zu viele Wanderer gibt,<br />

gemessen an der Zahl der Hütten, sondern zu wenig Hütten, gemessen an<br />

der Zahl der Wanderer. Der Shenandoah National Park verfügt nur über<br />

acht Hütten – von denen jede nicht mehr als acht Personen aufnehmen kann,<br />

höchstens zehn –, und das auf 162 Kilometern Wanderweg. Das entspricht<br />

ungefähr dem Durchschnitt für den gesamten Appalachian Trail. Obwohl<br />

die Entfernungen zwischen den einzelnen Hütten sehr stark variieren können,<br />

befindet sich im Schnitt alle 16 Kilometer eine Schutzhütte, ein Blockhaus<br />

oder ein Unterstand. Das bedeutet, es existieren auf 3.540 Kilometer<br />

Wanderweg nur 2.500 angemessene Schlafgelegenheiten. Wenn man bedenkt,<br />

daß im Umkreis einer Tagesreise vom Appalachian Trail 100 Millionen<br />

Menschen leben, dann kann es kaum überraschen, daß 2.500 Schlafplätze<br />

manchmal nicht ausreichen. Es klingt widersinnig, aber trotzdem<br />

wächst der Druck, die Anzahl der Schutzhütten in manchen Abschnitten zu<br />

reduzieren, um das zu vermeiden, was als Überfrequentierung des Trails<br />

verstanden wird – meiner Meinung nach ist das völlig unverständlich.<br />

Wie immer, wenn sich das Gespräch um die Überfüllung des Trail drehte<br />

und den Umstand, daß man jetzt manchmal an einem einzigen Tag ein Dutzend<br />

Leute trifft, wo man früher, wenn man Glück hatte, nur zwei Menschen<br />

begegnet ist, hörte ich höflich zu und sagte dann: »Ihr solltet erstmal<br />

in England wandern.«<br />

Jim sagte daraufhin freundlich und geduldig zu mir: »Aber wir sind nun mal<br />

nicht in England, <strong>Bill</strong>.« Da konnte er recht haben.<br />

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich den Shenandoah National<br />

Park besonders mag und warum ich wahrscheinlich nicht aus dem gleichen<br />

Holz geschnitzt bin wie ein richtiger amerikanischer Hiker: Cheeseburger.<br />

Man kann sich im Shenandoah National Park regelmäßig <strong>mit</strong> Cheeseburgern,<br />

eisgekühlter Cola, Pommes, Eis und jeder Menge anderem Zeug versorgen.<br />

Obwohl die zügellose Kommerzialisierung, von der ich eben sprach,<br />

ausgeblieben ist – zum Glück natürlich –, hat sich dieser esprit de commerce<br />

in Shenandoah teilweise gehalten. Der Park ist geradezu übersät <strong>mit</strong><br />

öffentlichen Camping- und Rastplätzen, an denen sich Restaurants und<br />

Geschäfte befinden – und der AT führt Gott sei Dank an fast allen vorbei.<br />

Es steht ganz und gar im Widerspruch zur Idee des Appalachian Trail, unterwegs<br />

Pausen in Restaurants einzulegen, aber ich kenne keinen Wanderer,


der nicht ab und zu trotzdem gerne dort eingekehrt wäre.<br />

Katz, Connolly und ich machten gleich am Tag darauf unsere erste Erfahrung<br />

da<strong>mit</strong>, nachdem wir uns von Jim und Chuck und den Pfadfindern verabschiedet<br />

hatten, die alle Richtung Süden weiterzogen, und wir gegen<br />

Mittag einen gut besuchten »Rummelplatz« namens Big Meadows erreichten.<br />

Big Meadows verfügt über einen Campingplatz, eine Hütte, ein Restaurant<br />

und einen Souvenir- und Gemischtwarenladen. Unmengen von Menschen<br />

lümmelten sich auf einem großen, sonnigen Rasen. (Big Meadows bedeutet<br />

eigentlich große Wiese; tatsächlich rührt die Bezeichnung aber von einem<br />

Mann namens Meadows her, was mir außerordentlich gut gefiel.) Wir stellten<br />

unsere Rucksäcke auf dem Rasen ab und eilten in das volle Restaurant,<br />

wo wir uns gierig über die besonders fettigen Speisen hermachten, dann<br />

begaben wir uns wieder nach draußen, ließen uns auf dem Rasen nieder,<br />

rauchten, rülpsten und gaben uns dem stillen Akt der Verdauung hin. Während<br />

wir so dalagen, gegen die Rucksäcke gelehnt, näherte sich uns ein<br />

Tourist <strong>mit</strong> einem albernen Strohhütchen auf dem Kopf, die Eistüte fest<br />

umklammert, und musterte uns freundlich. »Sie sind wohl Wanderer, was?«<br />

sagte er.<br />

Wir bejahten.<br />

»Tragen Sie die Rucksäcke die ganze Zeit?«<br />

»Bis wir jemanden gefunden haben, der sie für uns trägt«, sagte Katz vergnügt.<br />

»Welche Entfernung haben Sie heute morgen schon zurückgelegt?«<br />

»Ungefähr 13 Kilometer.«<br />

»13 Kilometer! Meine Güte. Und wie weit wollen Sie heute nach<strong>mit</strong>tag<br />

noch kommen?«<br />

»Noch mal 13 Kilometer.«<br />

»Im Ernst? 26 Kilometer zu Fuß? Mit den Dingern auf dem Rücken? Mann,<br />

o Mann – ist ja irre.« Er rief quer über den Platz. »Komm mal her, Bernice!<br />

Das mußt du dir ansehen.« Er betrachtete uns wieder. »Was haben Sie denn<br />

alles da drin? Kleider und so Zeug, nehme ich an.«<br />

»Und Proviant«, sagte Connolly<br />

»So so, Sie haben Ihren eigenen Proviant dabei.«<br />

»Da kommt man nicht drumherum.«<br />

»Ist ja irre.«<br />

Bernice kam, und er erklärte ihr, daß wir doch tatsächlich die eigenen Beine<br />

benutzten, um uns durchs Gelände zu bewegen. »Ist das nicht toll? Proviant<br />

und alles, was sie sonst noch brauchen, ist in den Rucksäcken.«<br />

»Wirklich?« fragte Bernice voller Bewunderung. »Dann gehen Sie also die<br />

ganze Zeit zu Fuß?« Wir nickten. »Sind Sie zu Fuß hierhergekommen? Den


ganzen Weg?«<br />

»Wir gehen überall zu Fuß hin«, sagte Katz ernst.<br />

»Sie sind doch nicht den ganzen Weg zu Fuß hier raufgegangen!«<br />

»Doch«, sagte Katz, den dieser Moment <strong>mit</strong> größtem Stolz erfüllte.<br />

Ich begab mich auf die Suche nach einem öffentlichen Telefon, um zu Hause<br />

anzurufen, danach ging ich aufs Klo. Als ich ein paar Minuten später<br />

wiederkam, hatte Katz eine kleine Gruppe neugieriger Zuschauer um sich<br />

geschart und demonstrierte den Gebrauch verschiedener Gurte und Steckverschlüsse.<br />

Dann setzte er auf besonderen Wunsch den Rucksack auf und<br />

ließ sich fotografieren. Ich hatte ihn noch nie so zufrieden erlebt.<br />

Während Katz noch <strong>mit</strong> seiner Vorführung beschäftigt war, gingen Connolly<br />

und ich los, um den Laden auf dem Rastplatz in Augenschein zu nehmen.<br />

Mir fiel auf, wie gering die richtigen Wanderer hier geschätzt werden, was<br />

für eine untergeordnete Rolle sie in dem ganzen kommerziellen Betrieb der<br />

Nationalparks spielen. Nur drei Prozent der jährlich zwei Millionen Besucher<br />

des Shenandoah gehen mehr als ein paar Schritte in das Hinterland,<br />

wie es vollmundig genannt wird. 90 Prozent der Besucher reisen <strong>mit</strong> dem<br />

Auto oder dem Wohnmobil an, und auf diese Klientel war der Laden zugeschnitten.<br />

Für fast alle Lebens<strong>mit</strong>tel benötigte man einen Mikrowellenherd<br />

oder Backofen zur Zubereitung, vieles mußte kühl gelagert werden oder<br />

wurde nur in großen Mengen angeboten. (Welcher Wanderer, der allein<br />

unterwegs ist, will schon 24 Hamburgerbrötchen auf einmal?) Es gab nichts<br />

von dem typischen Wanderproviant – Rosinen, Nüsse oder kleine, leicht zu<br />

transportierende Packungen und Konserven –, was ich für einen Laden in<br />

einem Nationalpark ziemlich enttäuschend finde.<br />

Da die Auswahl beschränkt war und wir auf keinen Fall schon wieder Nudeln<br />

essen wollten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ (Connolly war,<br />

wie ich zu meiner Genugtuung feststellte, auch ein Nudelesser), kauften wir<br />

24 Hotdogs und die dazugehörigen Brötchen, eine Zwei-Liter-Flasche Cola<br />

und ein paar große Packungen Plätzchen. Danach holten wir Katz ab – der<br />

seinem Publikum <strong>mit</strong> Bedauern verkündete, er müsse jetzt los, die Berge<br />

warteten auf ihn – und stapften mutig zurück in den Wald.<br />

Abends machten wir Halt an einem beschaulichen, abgelegenen Platz, Rock<br />

Spring Hut, oberhalb eines steilen Abhangs, <strong>mit</strong> einem weiten Blick ins<br />

Shenandoah Valley. Die Schutzhütte hatte sogar eine Schaukel, einen Zweisitzer,<br />

der an Ketten von dem Vordach der Hütte hing und zum Gedenken<br />

an eine gewisse Theresa Affronti angebracht worden war, die eine besonders<br />

innige Beziehung zum Trail gehabt hatte, wie uns eine Plakette auf der<br />

Rückseite <strong>mit</strong>teilte. Frühere Besucher der Hütte hatten einen Vorrat an<br />

Konserven dagelassen, Bohnen, Mais, Büchsenfleisch, Karotten, die ordentlich<br />

auf einem Stützbalken aufgereiht waren. So etwas kommt durchaus


häufiger vor. Manchmal wandern AT-Begeisterte aus der Umgebung nur<br />

zur nächsten Hütte und bringen selbstgebackene Plätzchen, Sandwiches<br />

oder Brathühnchen <strong>mit</strong>. Eigentlich eine schöne Sitte.<br />

Wir kochten gerade unser Essen, als ein junger Mann ankam, der den Trail<br />

an einem Stück ging, von Norden nach Süden – der erste Weitwanderer, den<br />

wir in dieser Saison trafen. Er war an dem Tag 42 Kilometer gelaufen und<br />

war ganz aus dem Häuschen, als er erfuhr, daß Hotdogs auf dem Speiseplan<br />

standen. Katz, Connolly und ich hätten niemals sechs Stück heruntergekriegt,<br />

wir aßen pro Person nur vier, allerdings jede Menge Plätzchen zum<br />

Nachtisch, die übrigen hoben wir fürs Frühstück auf. Der junge Mann dagegen<br />

aß wie ein Scheunendrescher. Er vertilgte sechs Hotdogs, eine Dose<br />

Karotten, bediente sich großzügig bei den Oreo-Schokoladenplätzchen,<br />

zwölf Stück, eins nach dem anderen, und aß sie genüßlich und <strong>mit</strong> ausgiebigen<br />

Kaubewegungen auf. Er erzählte uns, er sei in Maine bei hohem Schnee<br />

losgegangen, sei unterwegs von Schneestürmen aufgehalten worden, liefe<br />

im Durchschnitt aber immer noch 40 Kilometer täglich. Er war nur knapp<br />

einssechzig groß, und sein Rucksack war ein Ungetüm. Kein Wunder, daß<br />

er so einen Mordshunger hatte. Er wollte versuchen, den Trail in drei Monaten<br />

zu schaffen, dazu nutzte er jede helle Stunde. Als wir am nächsten Morgen<br />

aufwachten, war die Dämmerung gerade erst angebrochen, aber unser<br />

Gast war bereits gegangen. An seiner Schlafstelle lag ein Zettel, auf dem er<br />

sich für das Essen bedankte und uns viel Glück wünschte. Wir wußten nicht<br />

einmal seinen Namen.<br />

Am späten Vor<strong>mit</strong>tag, als ich merkte, daß ich Connolly und Katz, die sich<br />

unterhielten und reichlich trödelten, ein gutes Stück hinter mir gelassen<br />

hatte, blieb ich in einer Schneise stehen und wartete auf sie. Die Schneise<br />

war breit und wirkte anmutig, wie aus grauer Vorzeit, eingebettet zwischen<br />

steilen Hügeln, die dem Ort einen verzauberten, geheimnisvollen Charakter<br />

verliehen. Es war alles da, was man von einer Waldszene erwarten konnte -<br />

hohe, stattliche Bäume, hier und da Balken aus schräg einfallendem Sonnenlicht,<br />

in dem die Staubkörnchen tanzten, ein mäandernder Bach, Teppiche<br />

aus prallem Farnkraut, und durch das stille Grün wehte beständig kühle<br />

Luft. Ich weiß noch, daß ich dachte, was für ein ungewöhnlich schöner<br />

Lagerplatz dies wäre.<br />

Ungefähr einen Monat später hatten zwei junge Frauen, Lollie Winans und<br />

Julianne Williams, offenbar den gleichen Gedanken. Sie schlugen ihre Zelte<br />

in dieser verschwiegenen Lichtung auf und wanderten die kurze Strecke<br />

durch den Wald zur Skyland Lodge – noch so ein Touristenzentrum –, um<br />

in dem Restaurant dort zu essen. Niemand weiß genau, was dann geschah,<br />

aber vermutlich hat sie jemand in Skyland beobachtet und ist ihnen zu ihrem<br />

Lager gefolgt. Drei Tage später fand man die beiden, an den Händen


gefesselt und <strong>mit</strong> durchgeschnittenen Kehlen. Es gab kein eindeutiges Motiv.<br />

Es gab auch nie einen Verdächtigen. Ihr Tod wird für immer ein Rätsel<br />

bleiben. Natürlich hatte ich damals keine Ahnung davon, und als Katz und<br />

Connolly aufgeholt hatten, teilte ich ihnen nur <strong>mit</strong>, was für eine schöne<br />

Stelle das sei. Sie sahen sie sich an und stimmten mir zu, dann gingen wir<br />

weiter.<br />

Wir aßen noch zusammen <strong>mit</strong> Connolly im Skyland zu Mittag, danach<br />

verließ er uns, um zurück nach Rockfish Gap zu trampen, wo er seinen<br />

Wagen abgestellt hatte. Katz und ich verabschiedeten uns und zogen weiter,<br />

dazu waren wir schließlich hergekommen. Der erste Teil unseres Abenteuers<br />

war fast vorbei, weshalb sich auf dem Endspurt Richtung Heimat eine<br />

gewisse Forschheit im Schritt einstellte. Wir wanderten noch drei Tage<br />

lang, aßen in Restaurants, wenn wir an welchen vorbeikamen, und kampierten<br />

in Schutzhütten, die wir jetzt wieder fast ganz für uns allein hatten. An<br />

unserem vorletzten Tag auf dem Trail, dem sechsten nach unserem Aufbruch<br />

in Rockfish Gap, waren wir die ganze Zeit unter einem trüben Himmel<br />

marschiert, als plötzlich ein kalter, stürmischer Wind aufkam. Die<br />

Bäume schwankten und bogen sich, Staub und Blätter wurden aufgewirbelt,<br />

und unsere Kleidung bauschte sich und flatterte uns am Leib. Ein Donnergrollen<br />

war zu hören, und dann fing es an zu regnen – ein kalter, elender,<br />

durchdringender Regen. Wir hüllten uns in Nyloncapes und stapften unerschütterlich<br />

weiter.<br />

Es wurde ein schrecklicher Tag, in jeder Hinsicht. Am frühen Nach<strong>mit</strong>tag<br />

stellte ich fest, daß ich den Regenschutz für meinen Rucksack verloren hatte<br />

(der sich aber übrigens als ein völlig nutzloses und unpraktisches Scheißding<br />

erwiesen hatte, für das ich 25 Dollar bezahlt hatte). In meinem Rucksack<br />

mußte jetzt fast alles entweder unangenehm feucht oder klatschnaß<br />

sein. Zum Glück hatte ich mir angewöhnt, meinen Schlafsack in zwei Müllbeutel<br />

einzuwickeln (die für 35 Cents), so daß wenigstens der trocken war.<br />

20 Minuten später, als ich unter einem Ast Zuflucht suchte, um auf Katz zu<br />

warten, kam dieser endlich und sagte sofort: »He, wo hast du denn deinen<br />

Spazierstock gelassen?« Ich hatte meinen schönen Stock verloren – plötzlich<br />

fiel mir ein, daß ich ihn an einen Baum gelehnt hatte, als ich stehengeblieben<br />

war, um mir die Schnürsenkel festzubinden. Ich war todtraurig.<br />

Der Stock hatte mich sechseinhalb Wochen lang durch die Berge begleitet,<br />

war ein Teil von mir geworden. Es war irgendwie eine Verbindung zu meinen<br />

Kindern, die mir sehr fehlten. Ich hätte in Tränen ausbrechen können.<br />

Ich sagte Katz, wo ich ihn wahrscheinlich liegengelassen hatte, an einer<br />

Stelle, die sich Elkwater Gap nannte und die ungefähr sechseinhalb Kilometer<br />

hinter uns lag.


»Ich gehe zurück und hole ihn dir«, sagte er ohne zu zögern und wollte<br />

schon seinen Rucksack absetzen. Ich hätte schon wieder heulen können; er<br />

meinte es ernst, aber ich wollte ihn nicht gehen lassen. Es war zu weit, und<br />

außerdem war Elkwater Gap ein ziemlich belebter Ort. Bestimmt hatte<br />

längst jemand den Stock als Souvenir <strong>mit</strong>genommen.<br />

Wir liefen weiter bis zur Graved Springs Hut. Es war erst halb drei, als wir<br />

dort ankamen. Wir hatten eigentlich vorgehabt, noch zehn Kilometer weiterzugehen,<br />

aber wir waren dermaßen durchnäßt, und der Regen war so<br />

unerbittlich, daß wir uns zum Bleiben entschlossen. Ich hatte keine trockene<br />

Kleidung mehr, deshalb zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus und verkroch<br />

mich in meinen Schlafsack. Es wurde der längste Nach<strong>mit</strong>tag, an den<br />

ich mich erinnern kann: Ich las gelangweilt in meinem Buch und starrte<br />

zwischendurch nach draußen in den strömenden Regen.<br />

Um das Maß voll zu machen, fiel gegen fünf Uhr eine Gruppe von sechs<br />

lärmenden Leuten ein, drei Männer und drei Frauen, allesamt <strong>mit</strong> absolut<br />

lächerlicher Wanderkleidung a la Ralph Lauren ausstaffiert – Safarijacken,<br />

breitkrempige Segeltuchhüte und Wanderschuhe aus Veloursleder. Es war<br />

Kleidung für einen Sonntagnach<strong>mit</strong>tagsspaziergang am Mackinac entlang,<br />

für eine Großwildjagd vom Jeep aus, aber definitiv nicht für eine Wandertour.<br />

Eine der Frauen, die ein paar Schritte hinter den anderen hinterherhinkte<br />

und durch den Matsch stapfte, als wäre er radioaktiv verseucht,<br />

schaute zu Katz und mir in die Schutzhütte und sagte in einem Ton unverhohlenen<br />

Mißfallens: »Oh, müssen wir uns den Platz auch noch teilen?«<br />

Sie waren dumm, unangenehm, unbedarft und auf erstaunliche Weise <strong>mit</strong><br />

sich selbst beschäftigt und nicht im geringsten vertraut <strong>mit</strong> den Umgangsformen<br />

unter Wanderern. Unter weniger nervenaufreibenden Umständen<br />

hätten sie sicher faszinierende Studienobjekte abgegeben, aber sie stapften<br />

einfach über Katz und mich hinweg, drängten uns unsanft in die dunkelste<br />

Ecke, bespritzten uns <strong>mit</strong> Wasser, als sie ihre Kleider ausschüttelten und<br />

stießen uns <strong>mit</strong> achtlos hingeworfenen oder abgestellten Sachen an den<br />

Kopf. Mit Verwunderung sahen wir, daß unsere Kleider, die wir auf eine<br />

Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt hatten, zur Seite und zusammengeschoben<br />

wurden, da<strong>mit</strong> die Klamotten der neuen Gäste Platz hatten. Ich saß<br />

mürrisch in meiner Ecke, unfähig, mich auf mein Buch zu konzentrieren, als<br />

zwei von den Männern sich neben mich hockten, in den Lichtkegel meiner<br />

Lampe, und folgende Unterhaltung führten:<br />

»So was habe ich noch nie gemacht.«<br />

»Was? In einer Schutzhütte übernachtet?«<br />

»Nein, durch ein Fernglas geguckt und meine Brille dabei aufgelassen.«<br />

»Ach so, und ich dachte, du meintest, in einer Hütte übernachten – ha! ha!<br />

ha!«


»Nein, ich meinte, durch ein Fernglas gucken und meine Brille dabei auflassen<br />

– ha! ha! ha!«<br />

Nachdem es ungefähr eine halbe Stunde in dem Stil weitergegangen war,<br />

kam Katz herübergekrochen, kniete sich neben mich und flüsterte: »Einer<br />

von den Kerlen hat gerade Sportsfreund zu mir gesagt. Ich muß hier raus.«<br />

»Was willst du machen?«<br />

»Mein Zelt in der Lichtung aufschlagen. Kommst du <strong>mit</strong>?«<br />

»In der Unterhose?« fragte ich ihn gequält.<br />

Katz nickte verständnisvoll und erhob sich. »Meine Damen und Herren«,<br />

verkündete er, »ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Entschuldigen Sie bitte,<br />

Sportsfreund – darf ich auch um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Wir gehen<br />

nach draußen und schlagen unsere Zelte im Regen auf, da<strong>mit</strong> Sie über den<br />

gesamten Platz in dieser Hütte verfügen können, aber mein Freund hier trägt<br />

nur seine Unterhose, und er macht sich Sorgen, er könne den Damen unter<br />

Ihnen zu nahe treten – und die Herren möglicherweise erregen«, fügte er<br />

<strong>mit</strong> einem süßlichen, anzüglichen Grinsen hinzu, »wenn Sie sich also bitte<br />

für einen Augenblick umdrehen würden, da<strong>mit</strong> er sich richtig ankleiden<br />

kann. Ich möchte mich bereits jetzt von Ihnen verabschieden und mich bei<br />

Ihnen dafür bedanken, daß Sie uns gestattet haben, ein paar Millimeterchen<br />

von Ihrem Platz eine Weile <strong>mit</strong> Ihnen zu teilen. Es war uns ein Vergnügen.«<br />

Dann sprang er hinaus in den Regen. Ich zog mich hastig an, Schweigen<br />

und trotzig abgewandte Blicke um mich herum, und hüpfte <strong>mit</strong> einem knappen,<br />

kaum zu vernehmenden »Auf Wiedersehen« auf den Lippen vom<br />

Schlafpodest hinunter. Wir schlugen unsere Zelte in ungefähr 30 Metern<br />

Entfernung auf – kein leichtes Unterfangen oder gar Vergnügen bei strömendem<br />

Regen, das können Sie mir glauben – und krochen hinein. Bevor<br />

wir fertig waren, hatten die Stimmen in der Schutzhütte wieder eingesetzt,<br />

gefolgt von triumphierendem Gelächter. Sie waren laut bis in die Nacht,<br />

dann betrunken grölend bis in die frühen Morgenstunden. Ich fragte mich,<br />

ob diese Leute überhaupt einen Hauch von Mitleid oder gar Gewissensbissen<br />

empfanden, vielleicht sogar ein Friedensangebot machen würden – <strong>mit</strong><br />

einem Plätzchen, zum Beispiel, oder einem Hotdog – aber nichts dergleichen.<br />

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, hatte der Regen aufgehört, aber<br />

es war immer noch öde und trübe draußen, und Regenwasser tropfte von<br />

den Bäumen. Wir kochten erst gar keinen Kaffee. Wir wollten einfach nur<br />

weg. Wir brachen unsere Zelte ab und packten unsere Siebensachen. Katz<br />

holte noch ein Hemd von der Wäscheleine und meldete, daß unsere sechs<br />

Freunde fest schliefen. Zwei leere Flaschen Bourbon, ergänzte er im Ton<br />

tiefster Verachtung.<br />

Wir setzten die Rucksäcke auf und begaben uns auf den Trau. Wir waren


ungefähr 400 Meter weit gelaufen, außer Sichtweite des Camps, als Katz<br />

mich anhielt.<br />

»Kannst du dich noch an die Frau erinnern, die gesagt hat, >Oh, müssen wir<br />

uns den Platz auch noch teilen


TEIL 2<br />

13. Kapitel<br />

Da<strong>mit</strong> ging der erste Teil unseres großen Abenteuers zu Ende. Wir marschierten<br />

die 29 Kilometer bis nach Front Royal, wo meine Frau uns in zwei<br />

Tagen abholen sollte, vorausgesetzt, sie fand den weiten Weg von New<br />

Hampshire <strong>mit</strong> dem Auto durch unbekanntes Terrain hierher.<br />

Ich mußte vier Wochen aussetzen und mich anderen Dingen widmen –<br />

hauptsächlich Leute dazu überreden, mein neues Buch zu kaufen, obwohl es<br />

nichts <strong>mit</strong> streßfreiem Abnehmen, Tänzen <strong>mit</strong> irgendwelchen Wölfen, Erfolg<br />

im Zeitalter der Angst oder dem Prozeß gegen O.J. Simpson zu tun<br />

hatte. (Trotzdem verkaufte es sich über sechzigmal.) Katz wollte zurück<br />

nach Des Moines, wo er für den Sommer einen Job auf dem Bau in Aussicht<br />

hatte, aber er versprach, im August wiederzukommen, um den berühmten<br />

und gefährlichen Abschnitt des Trails in Maine, der sich Hundred<br />

Mile Wilderness nennt, <strong>mit</strong> mir zu gehen.<br />

Ganz am Anfang unserer Wanderung hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen,<br />

den gesamten Trail zu gehen, sich allein auf den Weg zu machen, bis<br />

ich dann im Juni wieder dazustoßen würde, aber als ich ihn jetzt danach<br />

fragte, lachte er nur und sagte, ich sollte gefälligst auf dem Teppich bleiben.<br />

»Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich erstaunt, daß wir überhaupt so weit<br />

gekommen sind«, sagte er, und ich stimmte ihm zu. Wir waren 800 Kilometer<br />

weit gelaufen, hatten eineinviertel Millionen Schritte getan, seit wir in<br />

Amicalola aufgebrochen waren. Wir hatten allen Grund, stolz zu sein. Wir<br />

waren jetzt richtige Wanderer. Wir hatten in den Wäldern geschissen, und<br />

wir hatten <strong>mit</strong> Bären gefrühstückt. Wir waren Männer der Berge und würden<br />

es immer bleiben.<br />

29 Kilometer an einem Stück zu laufen war eine Heldentat für unsere Verhältnisse,<br />

aber wir waren dreckig, hatten den Trail satt und freuten uns auf<br />

eine Stadt, und deshalb trotteten wir weiter. Gegen sieben Uhr kamen wir<br />

todmüde in Front Royal an und stiegen gleich im erstbesten Motel ab, an<br />

dem wir vorbeikamen. Es war unsäglich schäbig, aber billig. Die Matratze<br />

hing durch, das Bild auf dem Fernsehschirm wackelte, als würde es gnadenlos<br />

von irgendeinem elektronischen Bauteil traktiert, und meine Zimmertür<br />

schloß nicht richtig. Sie tat nur so, aber wenn man sie j von außen antippte,<br />

sprang sie auf. Es beunruhigte mich zuerst, ) aber dann machte ich mir klar,<br />

daß wohl kaum ein Einbrecher scharf auf irgendeine meiner Habseligkeiten<br />

sein würde, also zog ich die Tür einfach zu und ging <strong>mit</strong> Katz Abend essen.<br />

Wir fanden ein Steakhouse, ein Stück die Straße hinunter, und lagen an-


schließend zufrieden in unseren Betten vor dem Fernseher.<br />

Am nächsten Morgen trabte ich früh zum nächsten Kmart und kaufte zwei<br />

komplette Herrenausstattungen – Strümpfe, Unterwäsche, Jeans, Turnschuhe,<br />

Taschentücher und die beiden schrillsten Hemden, die ich auftreiben<br />

konnte, eines <strong>mit</strong> Booten und Ankern drauf, das andere <strong>mit</strong> den berühmtesten<br />

Sehenswürdigkeiten Europas. Ich kehrte zum Motel zurück, überreichte<br />

eines der Pakete <strong>mit</strong> Klamotten Katz, der total begeistert war, ging auf mein<br />

Zimmer und zog mir die neuen Sachen an. Zehn Minuten später trafen wir<br />

uns auf dem Parkplatz wieder, frisch rasiert, schick angezogen, und machten<br />

uns gegenseitig Komplimente. Wir hatten einen ganzen freien Tag vor<br />

uns und gingen erst mal frühstücken. Danach bummelten wir zufrieden<br />

durch die bescheidenen Einkaufsstraßen, stöberten aus Langeweile in Secondhandläden,<br />

stießen auf ein Geschäft für Campingausrüstung, wo ich<br />

einen Ersatz für meinen Wanderstab erstand, der genauso aussah wie der,<br />

den ich verloren hatte. Anschließend aßen wir zu Mittag und beschlossen,<br />

am Nach<strong>mit</strong>tag spazierenzugehen. Deswegen waren wir ja hier.<br />

Wir stießen auf eine Bahnlinie, die dem Verlauf des Shenandoah River<br />

folgte. Es gibt nichts Schöneres, nichts, was ich stärker <strong>mit</strong> Sommer verbinde,<br />

als in einem neuen Hemd Bahngleise entlangzuschlendern. Wir gingen<br />

ohne Eile, ohne bestimmten Zweck, wie Bergmenschen auf Urlaub, plauderten<br />

unentwegt über Gott und die Welt, traten gelegentlich zur Seite, um<br />

einen Güterzug vorbeirattern zu lassen, und freuten uns ungemein an der<br />

kräftigen Sonne, den verlockend schimmernden, unendlichen Gleisen und<br />

dem schlichten Vergnügen, sich auf Beinen fortzubewegen, die nicht müde<br />

waren. So spazierten wir fast bis Sonnenuntergang. Schöner hätten wir den<br />

letzten Tag nicht verbringen können.<br />

Am nächsten Morgen gingen wir wieder frühstücken, und dann folgten drei<br />

Stunden elender Warterei neben der Einfahrt des Motel-Parkplatzes: den<br />

Verkehr beobachten, Ausschau halten nach einem bestimmten Auto voller<br />

strahlender, aufgeregter, lang ersehnter Gesichter. Wochenlang hatte ich<br />

versucht, diesen verborgenen Ort des Schmerzes, wo die Gedanken an meine<br />

Familie hausten, nicht zu betreten, aber jetzt, wo sie bald da sein würde –<br />

jetzt, wo ich meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte –, war die Vorfreude<br />

unerträglich.<br />

Sie können sich die Wiedersehensfreude vorstellen, als meine Familie endlich<br />

kam, die überschwenglichen Umarmungen, das vielstimmige Geschnatter,<br />

das Durcheinander unwichtiger, aber wunderbar detaillierter Informationen<br />

über die Schwierigkeit, die richtige Interstate-Ausfahrt und das Motel<br />

zu finden, das Lob für Dads trainierten Körper, das Mißfallen über sein<br />

neues Hemd. Plötzlich fiel mir Katz wieder ein, verschämt stand er abseits<br />

und grinste. Ich versuchte, ihn in die Begrüßung <strong>mit</strong> einzubeziehen, in das


Wuscheln in den Haaren und was sonst so zu dem ganzen, überirdisch<br />

glücklichen Theater, endlich wieder vereint zu sein, dazugehört.<br />

Wir brachten Katz zum National Airport in Washington, von wo aus er für<br />

den späten Nach<strong>mit</strong>tag einen Flug nach Des Moines gebucht hatte. In der<br />

Wartehalle merkte ich, daß wir bereits wieder in zwei verschiedenen Welten<br />

waren – er war abgelenkt von der Suche nach dem richtigen Flugsteig, ich<br />

war abgelenkt von dem Gedanken an meine Familie, die auf mich wartete.<br />

Mich beschäftigte, daß wir im Parkverbot standen, daß gleich die Rushhour<br />

in Washington einsetzen würde – und so trennten wir beide uns etwas verlegen,<br />

abwesend, <strong>mit</strong> hastig hingeworfenen: Wünschen für einen angenehmen<br />

Heimflug und dem Versprechen, uns im August zur Vollendung unserer<br />

großen Wanderung wiederzutreffen. Als er weg war, fühlte ich mich<br />

elend, aber dann ging ich zurück zum Auto, sah meine Familie und dachte<br />

wochenlang nicht mehr an Katz.<br />

Erst Ende Mai, Anfang Juni kehrte ich zum Appalachian Trail zurück. Ich<br />

machte eine Tageswanderung in dem Wald hinter unserem Haus, <strong>mit</strong> kleinem<br />

Gepäck, einer Wasserflasche, zwei Sandwiches und – pro forma –<br />

einer Karte, sonst nichts. Es war Sommer, der Wald ein neuer, ganz anderer<br />

Ort, voller Leben, voller Grün, Vogelgezwitscher, Schwärmen von Moskitos<br />

und Kriebelmücken. Ich ging acht Kilometer weit durch hügeliges Gelände<br />

bis nach Etna, eine Kleinstadt, wo ich mich neben einen alten Friedhof<br />

setzte und meine Sandwiches verzehrte, dann alles wieder zusammenpackte<br />

und zurückging. Ich war vor Mittag wieder zu Hause. Das war nicht<br />

das Richtige für mich.<br />

Am nächsten Tag fuhr ich zum Mount Moosilauke, 80 Kilometer von zu<br />

Hause entfernt, am südlichen Rand der White Mountains. Moosilauke ist<br />

ein herrlicher Berg von beeindruckender Erhabenheit. Er liegt da wie ein<br />

Löwe, <strong>mit</strong>ten in der Pampa, so daß er wenig Beachtung erfährt. Er gehört<br />

zum Dartmouth College, Hanover, dessen berühmter Outing Club sich seit<br />

Anfang des Jahrhunderts gewissenhaft und auf löblich unspektakuläre Weise<br />

um das Gebiet kümmert. Dartmouth hat am Moosilauke den Abfahrtsskilauf<br />

in Amerika eingeführt, und 1933 wurde dort die erste Nationalmeisterschaft<br />

ausgetragen. Für so etwas ist der Berg jedoch zu abgelegen, und die<br />

Fans des neuen Sports zogen rasch weiter zu anderen Bergen New Englands,<br />

die in der Nähe von Hauptverkehrsstraßen liegen, und Moosilauke<br />

versank wieder in grandioser Einsamkeit. Heute würde man nie darauf kommen,<br />

daß er einst berühmt gewesen ist.<br />

Ich stellte meinen Wagen auf einem kleinen Schotterplatz ab, es war das<br />

einzige Auto an diesem Tag dort, und machte mich auf den Weg in den<br />

Wald. Diesmal hatte ich Wasser, Sandwiches, eine Karte und Insektenspray


<strong>mit</strong>genommen. Mount Moosilauke ist 1.463 Meter hoch und sehr steil.<br />

Befreit von jeglicher Last auf dem Rücken konnte ich ohne Pause glatt<br />

durchmarschieren -eine neue und erfreuliche Erfahrung. Der Ausblick vom<br />

Gipfel war phantastisch, ein Panoramablick, aber ohne anständigen Rucksack<br />

und ohne Katz war das alles nicht das Wahre. Um vier Uhr war ich<br />

wieder zu Hause. Irgend etwas stimmte einfach nicht. Man wandert nicht<br />

den Appalachian Trail entlang, und geht dann nach Hause und mäht den<br />

Rasen.<br />

Ich war so lange <strong>mit</strong> der Vorbereitung und der Durchführung des ersten<br />

Teils der Wanderung beschäftigt gewesen, daß ich nicht aufhören konnte,<br />

mir auszurechnen, wo ich zu diesem Zeitpunkt <strong>mit</strong>tlerweile gewesen wäre.<br />

In Wirklichkeit stand ich jetzt allein da, ohne meinen Wandergefährten,<br />

weit entfernt von der Stelle, wo wir den Trail verlassen hatten, und hinkte<br />

dem rührend optimistischen Zeitplan, den ich vor nunmehr fast einem Jahr<br />

aufgestellt hatte, hoffnungslos hinterher. Danach wäre ich jetzt irgendwo in<br />

New Jersey gewesen, munter Kilometer fressend, bis zu 50 am Tag.<br />

Ich mußte den Plan meinen Verhältnissen anpassen, soviel stand fest. Aber<br />

ich konnte noch so komplizierte Zahlenspielereien anstellen, selbst wenn<br />

ich das riesige Teilstück, das Katz und ich ausgelassen hatten, indem wir<br />

einfach von Gatlinburg nach Roanoke vorgesprungen waren, unberücksichtigt<br />

ließ: Es war völlig klar, daß ich die ganze Strecke niemals in einer Saison<br />

schaffen würde. Angenommen, ich würde in Front Royal, wo wir den<br />

Trail verlassen hatten, meine Wanderung nach Norden wieder aufnehmen,<br />

dann könnte ich froh sein, wenn ich im Winter Vermont erreichte, 800 Kilometer<br />

vom Mount Katahdin, dem Endpunkt des Trails, entfernt.<br />

Diesmal wäre auch der kindlich unschuldige Reiz des Neuen nicht mehr<br />

dabei, jener erwartungsfrohe, gespannte Schauder, der sich einstellt, wenn<br />

man <strong>mit</strong> einer nagelneuen Ausrüstung loszieht. Diesmal wußte ich genau,<br />

was mich erwartete – viele, viele Kilometer einer schwierigen Strecke,<br />

steile, felsige Berge, harte Böden in den Schutzhütten, heiße Tage ohne die<br />

Möglichkeit, sich zu waschen, unbefriedigende, auf einem launischen Kocher<br />

zubereitete Mahlzeiten. Hinzu kamen die durch warme Witterung bedingten<br />

Gefahren: schlimme Gewitter <strong>mit</strong> heftigen Blitzen, bißfreudige<br />

Klapperschlangen, fieberauslösende Zecken, hungrige Bären und schließlich,<br />

nicht zu vergessen, herumstreunende Mörder, die unversehens und<br />

grundlos zustechen, wie die Berichte über den Tod der beiden im Shenandoah<br />

National Park umgebrachten Frauen zeigten.<br />

Es war mehr als entmutigend. Das Beste, was ich tun konnte, war – das<br />

Beste daraus zu machen. Jedenfalls mußte ich es versuchen. Jeder zu Hause,<br />

der mich kannte (zugegeben sind das nicht so viele, aber immerhin genügend,<br />

als daß ich ständig in Hauseingänge hätte huschen müssen, wenn mir


jemand auf der Hauptstraße begegnet wäre), wußte, daß ich mir vorgenommen<br />

hatte, den AT zu machen – was ja schlecht stimmen konnte, wenn ich<br />

dabei erwischt wurde, wie ich mich in der Stadt herumdrückte. (»Heute<br />

habe ich <strong>Bryson</strong> gesehen, wie er gerade <strong>mit</strong> einer Zeitung vorm Gesicht in<br />

Eastmans Pharmacy gehüpft ist. Ich dachte, der wollte den AT abgehen. Es<br />

stimmt, du hast recht. Er ist ein komischer Kauz.«)<br />

Ich mußte zurück auf den Trail. Ich meine, so richtig weit weg von zu Hause,<br />

irgendwo ins nördliche Virginia, jedenfalls weit genug, um <strong>mit</strong> Anstand<br />

behaupten zu können, ich sei den AT, wenn schon nicht ganz, dann wenigstens<br />

fast ganz entlanggewandert. Die Schwierigkeit war bloß die, daß man<br />

auf der gesamten Strecke ohne fremde Hilfe weder auf den Weg rauf- noch<br />

von ihm runterkommt. Ich konnte nach Washington fliegen, nach Newark<br />

oder Scranton oder jeden beliebigen anderen Ort in der Nähe des Trails,<br />

aber jedesmal wäre ich noch kilometerweit vom eigentlichen Wanderweg<br />

entfernt gewesen. Ich wollte auch nicht die Geduld meiner lieben Frau strapazieren<br />

und sie bitten,sich zwei Tage freizunehmen, um mich nach Virginia<br />

oder Pennsylvania zu bringen, also beschloß ich, selbst zu fahren. Ich<br />

würde, so stellte ich mir vor, den Wagen an einer günstigen Stelle parken, in<br />

die Berge wandern, dann zurück zum Wagen, ein Stück weiterfahren und<br />

das Ganze wiederholen. Ich rechnete schon da<strong>mit</strong>, daß das im Grunde ziemlich<br />

unbefriedigend werden würde, eigentlich war es sogar schwachsinnig –<br />

und ich sollte in beiden Punkten recht behalten –, aber mir fiel keine bessere<br />

Alternative ein.<br />

Und so stand ich in der ersten Juniwoche wieder an den Ufern des Shenandoah,<br />

in Harpers Ferry, West Virginia, blinzelte in den grauen Himmel und<br />

versuchte mir krampfhaft einzureden, daß ich mir nichts anderes gewünscht<br />

hatte.<br />

Harpers Ferry ist aus verschiedenen Gründen ein interessanter Ort. Zunächst<br />

einmal ist er sehr hübsch. Das liegt daran, daß es sich hier um einen National<br />

Historical Park handelt und es deswegen keine Pizza Huts, McDonalds,<br />

Burger Kings, nicht einmal Einwohner im eigentlichen Sinn gibt, jedenfalls<br />

nicht in dem tiefer gelegenen, älteren Stadtteil. Statt dessen findet man<br />

lauter restaurierte oder im historischen Stil wiederaufgebaute Häuser <strong>mit</strong><br />

Plaketten und Hinweistafeln, so daß es eigentlich kaum städtisches Leben<br />

gibt, eigentlich gar kein Leben. Trotzdem hat diese geputzte Niedlichkeit<br />

etwas Betörendes. Es wäre sogar ein ganz netter Ort zum Leben, wenn man<br />

den Einwohnern nur trauen könnte, nicht dem Drang nachzugeben, unbedingt<br />

Pizza Huts und Taco Beils in ihren Mauern haben zu wollen (ich persönlich<br />

glaube, man könnte ihnen trauen – aber höchstens anderthalb Jahre<br />

lang). Es ist ein Ort, der nur so tut als ob, eine Art Fälschung, hübsch ver-


steckt gelegen zwischen steilen Bergen, dort, wo Shenandoah und Potomac<br />

River zusammenfließen.<br />

Es ist deswegen ein National Historical Park, weil der Ort tatsächlich eine<br />

geschichtliche Bedeutung hat. In Harpers Ferry beschloß der Abolitionist<br />

John Brown, die amerikanischen Sklaven zu befreien und einen eigenen<br />

neuen Staat im Nordwesten Virginias zu gründen – ein ziemlich kühnes<br />

Unterfangen, wenn man bedenkt, daß er über eine Armee von gerade mal 21<br />

Mann verfügte. Zu diesem Zweck schlich er sich im Schutz der Dunkelheit<br />

<strong>mit</strong> seinen Getreuen am 16. Oktober 1859 in die Stadt. Sie nahmen die<br />

Waffenkammer der Union ein, wobei sie auf keinen nennenswerten Widerstand<br />

trafen, denn das Lager wurde nur von einem einzigen Nachtwächter<br />

beschützt, aber sie töteten bei der Aktion dennoch einen unschuldigen Passanten<br />

– Ironie des Schicksals, daß es sich dabei ausgerechnet um einen<br />

befreiten schwarzen Sklaven handelte. Als sich die Nachricht verbreitete,<br />

ein Waffendepot der Union <strong>mit</strong> 100.000 Gewehren und Unmengen Munition<br />

sei in die Hände einer kleinen Bande Verrückter gefallen, schickte der<br />

Präsident James Buchanan den Lieutenant Colonel Robert E. Lee, zu dem<br />

Zeitpunkt natürlich noch ein treuer Soldat der Union, in den Ort, da<strong>mit</strong><br />

dieser sich der Sache annähme. Lee und seine Männer brauchten keine drei<br />

Minuten, um den glücklosen Aufstand niederzuschlagen. Brown wurde<br />

gefangengenommen, und man machte ihm umgehend den Prozeß. Einen<br />

Monat später wurde er zum Tod durch den Strang verurteilt.<br />

Unter den zur Aufsicht über die Exekution abkommandierten Soldaten<br />

befand sich auch Thomas J. Jackson – der bald als Stonewall Jackson Berühmtheit<br />

erlangen sollte – und unter den begeisterten Zuschauern der spätere<br />

Lincoln-Mörder John Wilkes Booth. Insofern war der Überfall auf die<br />

Waffenkammer in Harpers Ferry eine Art Vorspiel der folgenden Ereignisse.<br />

Nach Browns kleinem Abenteuerfeldzug brach nämlich die Hölle los.<br />

Einige Abolitionisten aus dem Norden, Ralph Waldo Emerson zum Beispiel,<br />

stilisierten Brown zu einem Märtyrer, und die Loyalisten des Südens<br />

gingen im ‘wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden bei dem Gedanken,<br />

daß sich hier möglicherweise eine Bewegung entwickelte. Bevor man<br />

sich’s versah, befand sich die junge Nation im Krieg.<br />

Harpers Ferry stand während des gesamten überaus blutigen Konflikts, der<br />

nun folgte, im Mittelpunkt des Interesses. Gettysburg lag knapp 50 Kilometer<br />

weiter nördlich, Manassas in gleicher Entfernung Richtung Süden. Antietam<br />

– eigentlich ein Fluß, aber auch der Name der Schlacht von<br />

Sharpsburg, Maryland, 1862, in der an einem einzigen Tag doppelt so viele<br />

Männer starben wie im Krieg von 1812, dem Mexikanischen Krieg und dem<br />

Spanisch-Amerikanischen Krieg zusammengenommen – war nur 16 Kilometer<br />

entfernt. Harpers Ferry selbst wurde während des Krieges achtmal


eingenommen. Den Rekord in dieser Beziehung hält allerdings Winchester<br />

in Virginia, ein paar Kilometer weiter südlich, das insgesamt 75mal erobert<br />

und zurückerobert wurde.<br />

Heutzutage begnügt man sich in Harpers Ferry da<strong>mit</strong>, Touristen unterzubringen<br />

und nach Überschwemmungen aufzuräumen. Bei zwei so lebhaften<br />

Flüssen und einem natürlichen Trichter aus Steilufern davor und dahinter ist<br />

es kein Wunder, daß der Ort ständig überflutet wird. Gerade ein halbes Jahr<br />

vor meinem Besuch hatte es eine schlimme Flut in der Stadt gegeben, und<br />

die Angestellten des Nationalparks waren noch da<strong>mit</strong> beschäftigt aufzuräumen,<br />

zu streichen und Möbel, Geräte und Ausstellungsstücke von den oberen<br />

Lagerräumen nach unten ins Erdgeschoß zu tragen. (Drei Monate nach<br />

meinem Besuch mußten sie alles wieder hochschleppen.) An einem Haus<br />

kamen gerade zwei Ranger aus der Tür, gingen ein Stück den Pfad lang und<br />

nickten mir beim Vorbeigehen <strong>mit</strong> einem Lächeln zu. Beide hatten Seitenwaffen<br />

umgeschnallt, wie mir auffiel. Weiß der Himmel, wohin das<br />

führen soll, wenn auch noch Parkranger Dienstwaffen tragen!<br />

Ich bummelte durch die Stadt, aber an fast jedem Haus hing ein Schild:<br />

»Wegen Aufräumungsarbeiten geschlossen.« Danach ging ich zu der Stelle,<br />

an der die beiden Flüsse zusammentreffen, dort gab es eine Informationstafel<br />

zum Appalachian Trail. Der Mord an den beiden Frauen im Shenandoah<br />

National Park war zwar erst zehn Tage her, aber an der Tafel hing bereits<br />

ein kleines Plakat <strong>mit</strong> der Bitte um Aufklärung, dazu Farbfotos von den beiden.<br />

Es war deutlich zu erkennen, daß die Frauen die Bilder selbst unterwegs<br />

aufgenommen hatten, sie waren beide in Wanderausrüstung, wirkten<br />

glücklich und gesund, strahlten geradezu. Es war schwer, den Anblick zu<br />

ertragen, wenn man ihr Schicksal kannte. Ich dachte <strong>mit</strong> einem leichten<br />

Schaudern daran, daß sie wahrscheinlich gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt,<br />

in Harpers Ferry eingetroffen wären, wenn man sie nicht umgebracht hätte,<br />

und ich mich <strong>mit</strong> ihnen unterhalten würde, statt hier zu stehen und mir ihre<br />

Fotos anzuschauen – oder, wenn das Schicksal zufällig eine andere Wendung<br />

genommen hätte, die beiden jetzt hier an meiner Stelle stehen und ein<br />

Bild von Katz und mir betrachten würden, wie wir glücklich und zufrieden<br />

in die Kamera strahlten.<br />

In einem der wenigen geöffneten Häuser traf ich auf einen freundlichen, gut<br />

informierten und zum Glück unbewaffneten Ranger namens David Fox, der<br />

staunte, daß sich überhaupt ein Besucher einfand, und sich darüber freute.<br />

Er sprang eilfertig von seinem Hocker auf, als ich eintrat, und war, wie man<br />

ihm deutlich ansah, bereit, mir jede Frage zu beantworten. Wir kamen auf<br />

Natur- und Landschaftsschutz zu sprechen, und er erwähnte, wie schwierig<br />

es für den Park Service sei, <strong>mit</strong> den bescheidenen Mitteln, die ihm zur Verfügung<br />

stünden, gute Arbeit zu leisten. Bei der Gründung des Parks sei


genug Geld vorhanden gewesen, um wenigstens die Hälfte des Schoolhouse<br />

Ridge Battlefield oberhalb der Stadt zu kaufen (eines der bedeutendsten,<br />

wenn auch kaum gewürdigten Schlachtfelder des Bürgerkriegs), und jetzt<br />

sei eine Planungsgesellschaft dabei, auf diesem, in seinen Augen geheiligten<br />

Boden Häuser und Geschäfte zu errichten. Die Gesellschaft habe bereits<br />

Leitungen auf Grundstücken des Nationalparks verlegt, in der zuversichtlichen,<br />

wie sich aber herausstellte, irrigen Annahme, der Park Service habe<br />

weder den Wunsch noch das Geld, sie davon abzuhalten. Fox riet mir, ich<br />

solle mir das unbedingt ansehen. Ich versprach es ihm.<br />

Zuerst aber mußte ich eine -wichtige Pilgerstätte aufsuchen. Harpers Ferry<br />

ist das Hauptquartier der Appalachian Trail Conference, Aufsichtsbehörde<br />

des prächtigen Wanderwegs, den ich mir für diesen Sommer vorgenommen<br />

hatte. Die ATC ist in einem bescheidenen weißen Haus an einem steilen<br />

Hang oberhalb der Altstadt untergebracht. Ich erklomm den Hang und<br />

betrat das Haus. Das Hauptquartier ist halb Büro, halb Laden; das Büro<br />

macht den löblichen Eindruck, als würde dort gearbeitet, und der Laden ist<br />

bestückt <strong>mit</strong> AT-Führern und Andenken. In einer Ecke des öffentlichen<br />

Teils stand ein Modell des gesamten Trails in großem Maßstab, das mich<br />

sicher von meinem ehrgeizigen Unternehmen abgebracht hätte, wenn ich es<br />

vor Beginn der Wanderung gesehen hätte. Es war ungefähr viereinhalb<br />

Meter lang und ver<strong>mit</strong>telte auf eindrucksvolle Weise und <strong>mit</strong> einem Blick,<br />

was eine 3.500 Kilometer lange Bergkette bedeutete: Schwerstarbeit. Die<br />

übrigen öffentlichen Räume waren <strong>mit</strong> AT-Souvenirs angefüllt – T-Shirts,<br />

Ansichtskarten, Tüchern, verschiedenen Broschüren und Schriften. Ich<br />

kaufte ein paar Bücher und Postkarten und wurde von einer freundlichen<br />

jungen Frau bedient, Laune Potteiger, deren Namensschildchen sie als »Information<br />

Specialist« auswies. Anscheinend hatte man <strong>mit</strong> ihr genau die<br />

Richtige für diesen Job gefunden, denn sie war eine wahre Fundgrube für<br />

Informationen.<br />

Sie erzählte mir, im Vorjahr seien 1.500 Wanderer <strong>mit</strong> der Absicht losgegangen,<br />

den ganzen Trail an einem Stück zu gehen, besagte Weitwanderer.<br />

1.200 hätten es bis Neels Gap geschafft (<strong>mit</strong> anderen Worten, 20 Prozent<br />

hatten nach einer Woche aufgegeben!); etwa ein Drittel sei bis Harpers<br />

Ferry gekommen, ungefähr bis zur Hälfte der Strecke; und 300 seien bis<br />

zum Mount Katahdin gekommen. Das war eine höhere Erfolgsquote als<br />

üblich. 60 Leute hätten den Weg von Norden nach Süden erfolgreich absolviert.<br />

In den letzten vier Wochen habe das diesjährige Kontingent der<br />

Weitwanderer den Ort passiert, aber es sei noch zu früh für eine Einschätzung,<br />

auf jeden Fall werde die endgültige Zahl wieder höher liegen. Sie<br />

steige sowieso fast jedes Jahr.<br />

Ich erkundigte mich nach den Gefahren, die einem auf dem Trail drohten,


und sie sagte mir, in den acht Jahren, die sie nun hier arbeite, habe es nur<br />

zwei nachgewiesene Fälle von Schlangenbiß gegeben, beide nicht tödlich;<br />

eine Person sei durch Blitzschlag umgekommen.<br />

Dann fragte ich sie nach dem Mord an den beiden Frauen.<br />

Sie setzte eine <strong>mit</strong>fühlende Miene auf. »Schrecklich. Das hat uns alle sehr<br />

aufgeregt, weil Vertrauen in seine Mitmenschen eine Grundvoraussetzung<br />

für jeden ist, der den AT entlanggeht. Ich bin selbst 1987 die ganze Strecke<br />

abgewandert. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie sehr man auf die<br />

Hilfsbereitschaft von Fremden angewiesen ist. Eigentlich ist der ganze Trail<br />

darauf ausgerichtet. Und wenn das Vertrauen erst mal dahin ist…« Dann<br />

wurde sie sich ihrer Position bewußt und nahm den offiziellen Standpunkt<br />

ein – die altbekannte Leier, man dürfe nicht vergessen, daß der Trail von<br />

den allgemeinen Übeln der Gesellschaft nicht ausgenommen sei, aber daß er<br />

trotzdem, statistisch gesehen, außerordentlich sicher sei, verglichen <strong>mit</strong><br />

vielen anderen Orten in Amerika. »Seit 1937 sind neun Morde geschehen,<br />

so viele wie in jeder normalen Kleinstadt.« Das war korrekt, aber auch ein<br />

bißchen irreführend. In den ersten 36 Jahren war nämlich auf dem AT kein<br />

einziger Mord passiert, aber neun Morde in den vergangenen 22 Jahren.<br />

Dennoch war ihr erstes Argument unbestreitbar. Die Wahrscheinlichkeit, in<br />

seinem eigenen Bett ermordet zu werden, ist höher, als die, auf dem AT<br />

gewaltsam ums Leben zu kommen. Wie drückte es doch ein amerikanischer<br />

Bekannter so schön aus: »Zieht man eine 3.000 Kilometer lange, gerade<br />

Linie durch die USA, egal in welchem Winkel, trifft man dabei insgesamt<br />

unweigerlich auf neun Mordopfer.«<br />

»Es gibt ein Buch über einen der Morde, falls Sie das interessiert«, sagte die<br />

Verkäuferin und faßte unter die Ladentheke. Sie kramte eine Weile in einem<br />

Karton und holte dann ein Taschenbuch <strong>mit</strong> dem Titel Eight Bullets hervor,<br />

das sie mir zur Ansicht reichte. Es ging um zwei Wanderer, die<br />

1988inPennsylvania erschossen worden waren. »Wir haben es nicht ausgestellt,<br />

weil es die Leute nur aufregt, besonders jetzt«, sagte sie entschuldigend.<br />

Ich kaufte das Buch, und als sie mir das Wechselgeld herausgab, teilte ich<br />

ihr meinen Gedanken von eben <strong>mit</strong>, daß nämlich die beiden Frauen aus<br />

Shenandoah jetzt hier durchgekommen wären, wenn sie überlebt hätten.<br />

»Ja«, sagte sie, »daran habe ich auch schon gedacht.«<br />

Es nieselte, als ich nach draußen trat. Ich ging hoch zum Schoolhouse Ridge,<br />

um mir das Schlachtfeld anzusehen. Es war ein weiter, parkähnlicher<br />

Hügel, durch den sich ein Lehrpfad schlängelte, in Abständen versehen <strong>mit</strong><br />

Informationstafeln über Sprengladungen, über letzte, verzweifelte Attacken<br />

und andere kriegerische Handlungen. Die Schlacht um Harpers Ferry war<br />

der schönste Moment im Leben von Stonewall Jackson (der zuletzt in die


Stadt gekommen war, um John Brown an den Galgen zu bringen), denn hier<br />

gelang es ihm <strong>mit</strong> einem geschickten Manöver und etwas Glück, 12.500<br />

Soldaten der Unionstruppen gefangenzunehmen, mehr amerikanische Soldaten,<br />

als je bei einer einzigen militärischen Operation in gegnerische Hände<br />

gerieten – abgesehen vom Frühling 1942, als amerikanische Einheiten in<br />

Bataan und Corregidor auf den Philippinen von japanischen Truppen besiegt<br />

wurden.<br />

Stonewall Jackson war eine wahrhaft schillernde Gestalt. Es lohnt sich, ihn<br />

einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Nur wenigen Menschen ist es<br />

bislang gelungen, <strong>mit</strong> nutzloseren Gehirnaktivitäten in kürzerer Zeit mehr<br />

Ruhm zu ernten als General Thomas J. Jackson. Seine Marotten waren<br />

legendär. Er war hoffnungslos hypochondrisch veranlagt und dabei sehr<br />

erfinderisch. Einer seiner liebenswerteren physiologischen Glaubenssätze<br />

besagte, daß ein Arm größer sei als der andere, folglich ging und ritt er<br />

immer <strong>mit</strong> einem erhobenen Arm, so daß das Blut in seinen Körper zurückfließen<br />

konnte. Er war ein Viel- und Langschläfer, und mehr als einmal<br />

schlief er <strong>mit</strong> vollem Mund bei Tisch ein. Bei der Battle of White Oak<br />

Swamp sahen sich seine Offiziere außerstande, ihn zu wecken, und hievten<br />

ihn, der nur halb bei Bewußtsein war, auf sein Pferd, wo er weiterschlummerte,<br />

während um ihn herum die Granaten explodierten. Er legte übertriebenen<br />

Eifer bei der Inventur von Beute an den Tag und verteidigte sie, koste<br />

es, was es wolle. Die Liste des Kriegsmaterials, das er während des Feldzugs<br />

in Shenandoah 1862 der Armee der Unionstruppen entriß, umfaßte<br />

»sechs Taschentücher, zweidreiviertel Dutzend Halstücher und eine Flasche<br />

rote Tinte«. Seine Vorgesetzten und Offizierskollegen trieb er zum Wahnsinn,<br />

weil er sich einerseits wiederholt Anweisungen widersetzte, andererseits,<br />

weil er die paranoide Angewohnheit besaß, seine Strategie, wenn er<br />

denn eine hatte, keinem Menschen zu verraten. Einem Offizier, der unter<br />

seinem Kommando stand, befahl er, sich aus der Stadt Gordonsville zurückzuziehen,<br />

obwohl dieser dort kurz vor einem entscheidenden Sieg stand,<br />

und auf kürzestem Weg nach Staunton zu marschieren. Als er in Staunton<br />

ankam, war eben der Befehl eingegangen, sich auf der Stelle nach Mount<br />

Crawford zu begeben. Dort wiederum wurde ihm <strong>mit</strong>geteilt, nach Gordonsville<br />

zurückzukehren.<br />

Jackson handelte sich bei den verwirrten, feindlichen Offizieren hauptsächlich<br />

wegen der Angewohnheit, seine Truppen ohne jede Logik und für niemanden<br />

nachvollziehbar im Shenandoah Valley hin und her zu schieben,<br />

den Ruf eines arglistigen Menschen ein. Sein unsterblicher Ruhm beruht<br />

fast einzig und allein auf der Tatsache, daß er einige wenige, beflügelnde<br />

Siege errang, als anderswo die Truppen der Südstaaten abgeschlachtet und<br />

in Marsch gesetzt wurden, und daß er den besten Spitznamen trägt, dessen


sich je ein Soldat erfreut hat. Er war zweifellos ein tapferer Mensch, aber es<br />

ist durchaus möglich, daß er den Spitznamen nicht wegen seines Wagemuts<br />

und seiner Verwegenheit erhielt, sondern wegen seiner Unbeweglichkeit,<br />

seiner Sturheit, wenn flexibles Handeln vonnöten gewesen wäre. General<br />

Barnard Bee, der ihm diesen Spitznamen bei der First Battle of Manassas<br />

verliehen hatte, wurde getötet, bevor der Tag zu Ende ging, so daß das Rätsel<br />

um den Namen für immer ungelöst bleiben wird.<br />

Den Sieg bei Harpers Ferry, der größte Triumph, den die Konföderierte<br />

Armee während des Bürgerkriegs verbuchen konnte, errang Jackson nur<br />

deswegen, weil er das erste und einzige Mal den Befehlen von Robert E.<br />

Lee folgte. Das besiegelte seinen Ruhm. Ein paar Monate später wurde er in<br />

der Battle of Chancellorsville versehentlich von seinen eigenen Truppen<br />

angeschossen und starb eine Woche später an den Folgen. Der Krieg war<br />

noch längst nicht vorbei. Und Jackson war gerade erst 31 Jahre alt.<br />

Jackson verbrachte die meiste Zeit während des Kriegs in der Umgebung<br />

der Blue Ridge Mountains, schlug dort sein Lager auf und marschierte<br />

durch denselben Wald und über dieselben Höhenzüge, die Katz und ich erst<br />

kürzlich durchstreift hatten. Mich interessierte daher die Stätte seines größten<br />

Triumphs, aber eigentlich wollte ich herausfinden, ob die Entwicklungsgesellschaft<br />

hier oben irgend etwas angestellt hatte, über das man sich<br />

empören konnte.<br />

Im Regen und bei dem dämmerigen Licht konnte ich keine Anzeichen von<br />

Neubauten erkennen, jedenfalls keine in der Nähe oder gar direkt auf dem<br />

»geheiligten Boden«. Ich folgte dem Weg über das wellige Gelände, las mir<br />

<strong>mit</strong> gebührender Aufmerksamkeit die Informationstafeln durch, versuchte<br />

den Umstand, daß Captain Poagues Bataillon genau hier gestanden und<br />

Colonel Grigsbys Truppen dort drüben Aufstellung genommen hatten, auf<br />

mich wirken zu lassen, was allerdings von weitaus bescheidenerem Erfolg<br />

gekrönt war, als zu hoffen gewesen wäre, da ich dabei allmählich bis auf die<br />

Haut durchnäßt wurde. Ich besaß nicht mehr die nötige Energie, um mir den<br />

Lärm, den Rauch und das Gemetzel vorzustellen. Außerdem hatte ich vom<br />

Thema Tod genug für heute. Also ging ich zurück zum Auto und fuhr los.


14. Kapitel<br />

Am nächsten Morgen fuhr ich nach Pennsylvania, knapp 50 Kilometer nach<br />

Norden. Der Appalachian Trail führt in einem 370 Kilometer langen, nordöstlich<br />

ausgerichteten Bogen, der aussieht wie das dicke Ende eines Kuchenstücks,<br />

durch den Bundesstaat Pennsylvania. Ich kenne keinen Wanderer,<br />

der ein gutes Wort für den Trailabschnitt in Pennsylvania übrig hätte. Es<br />

ist der Ort, »an dem Wanderschuhe sich zum Sterben begeben«, wie sich<br />

jemand 1987 einem Reporter des National Geographie gegenüber ausdrückte.<br />

Während der letzten Eiszeit herrschte hier, was Geologen ein periglaziales<br />

Klima nennen. Es bezeichnet eine Zone am Rand einer Eisdecke,<br />

die sich durch häufige Frost- und Tauwetter-Zyklen auszeichnet und den<br />

felsigen Boden aufbricht. Die Folge sind endlose Gebiete aus zerklüfteten,<br />

bizarr geformten Steinbrocken, die in wackligen Schichten übereinanderliegen.<br />

Fachleute nennen das ein Felsenmeer. Es erfordert ständige Aufmerksamkeit<br />

beim Gehen, wenn man sich nicht den Knöchel verstauchen<br />

oder auf die Schnauze fallen will – keine angenehme Erfahrung <strong>mit</strong> einem<br />

Schub von 20 Kilo auf dem Rücken. Viele Wanderer kehren <strong>mit</strong> Schrammen<br />

und Knochenbrüchen aus Pennsylvania zurück. Außerdem soll es dort<br />

die aggressivsten Klapperschlangen und die unzuverlässigsten Wasserquellen<br />

geben, vor allem im Hochsommer. Die wirklich herrlichen Bergkämme<br />

der Appalachen in Pennsylvania – Nittany, Jacks und Tussey – liegen weiter<br />

nördlich und westlich. Aus diversen praktischen und historischen Gründen<br />

kommt der AT nicht einmal in die Nähe dieser Berge. Er führt eigentlich<br />

über gar keine bedeutende Erhebung in Pennsylvania, hat keine besonders<br />

einprägsamen Ausblicke zu bieten, berührt keine Nationalparks oder Wälder<br />

und läßt die bemerkenswerte Geschichte des Bundesstaates völlig außer<br />

acht. Der AT ist hier im wesentlichen das Herzstück eines sehr langen,<br />

strapaziösen Weges, der den Süden <strong>mit</strong> New England verbindet. Kein Wunder,<br />

daß die meisten Leute ihn nicht sonderlich mögen.<br />

Und noch etwas: Die Karten für diesen Abschnitt sind die schlechtesten, die<br />

je für Wanderer erstellt wurden. Die sechs Blätter für Pennsylvania – die<br />

Bezeichnung Karten wäre zuviel der Ehre –, die von einer Institution herausgegeben<br />

werden, die sich Keystone Trail Association nennt, sind klein,<br />

einfarbig, schlecht gedruckt, erstaunlich ungenau, und die Legende ist unzureichend<br />

– <strong>mit</strong> einem Wort, sie sind nutzlos, lächerlich, ja gefährlich. Niemand<br />

sollte <strong>mit</strong> solchen Karten in die Wildnis geschickt werden.<br />

Dieser Umstand offenbarte sich mir in seiner ganzen Tragweite erst, als ich<br />

auf dem Parkplatz des Caledonia State Park stand und mir einen Kartenausschnitt<br />

ansah, der ein einziger Fleck aus lauter Spiralen -war, - wie ein mißratener<br />

Fingerabdruck. Es war zum Heulen. In die einzige Höhenlinie hinein


war eine Zahl in mikroskopischer Größe geschrieben. Die Zahl sollte entweder<br />

548 oder 348 heißen, es war unmöglich zu erkennen, aber das spielte<br />

sowieso keine Rolle, denn es war nirgendwo ein Maßstab angegeben,<br />

nichts, woraus der Höhenunterschied von einer Linie zur nächsten hervorging<br />

oder ob das Bündel von Linien einen steilen Aufstieg oder einen jähen<br />

Abhang anzeigte. Was den Park und die nähere Umgebung betrifft, war<br />

nichts, aber auch gar nichts eingetragen. Mein Standort hätte 20 Meter oder<br />

auch zwei Kilometer vom Appalachian Trail entfernt sein können, es war<br />

anhand der Karte einfach nicht zu erkennen.<br />

Dummerweise hatte ich mir die Karten nicht angeschaut, bevor ich von zu<br />

Hause aufgebrochen war. Ich hatte überstürzt meinen Rucksack gepackt und<br />

nur darauf geachtet, daß ich das richtige Karten-Set dabeihatte, und es in<br />

den Sack gestopft. Jetzt sah ich sie mir alle nacheinander an und war bestürzt,<br />

so als würde ich mir kompro<strong>mit</strong>tierende Fotos von einem geliebten<br />

Menschen anschauen. Ich hatte von Anfang an gewußt, daß ich nicht durch<br />

ganz Pennsylvania laufen wollte – dazu hatte ich weder die Zeit noch die<br />

geringste Lust –, aber ich hatte gedacht, wenigstens ein paar schöne Rundwanderwege<br />

zu finden, die mir etwas von der Besonderheit des Bundesstaates<br />

ver<strong>mit</strong>telten, ohne ständig denselben Weg zurückgehen zu müssen. Bei<br />

der Durchsicht des gesamten Karten-Sets wurde jedoch nicht nur deutlich,<br />

daß es keine Rundwanderwege gab, sondern daß es jedesmal reines Glück<br />

bedeuten würde, wenn ich überhaupt hier und da auf den Trail stieße.<br />

Seufzend steckte ich die Karten wieder ein, machte mich auf den Weg<br />

durch den Park und suchte nach den vertrauten, weißen Zeichen des AT. Es<br />

war ein hübscher Park, in einem waldreichen Tal gelegen und ziemlich leer<br />

an diesem herrlichen Morgen. Ich ging ungefähr eine Stunde lang, zwischen<br />

Bäumen hindurch, über Fußgängerbrücken aus Holz, aber den AT fand ich<br />

trotzdem nicht. Über einen einsamen Highway und durch dichtes Blättertreiben<br />

vom Michaux State Forest her gelangte ich zum Pine Grove Furnace<br />

State Park, einem großen Freizeitpark, den man um einen alten Schmelzofen<br />

aus dem 19. Jahrhundert herum angelegt hat, woher auch der Name<br />

stammt. Der Ofen ist heute eine malerische Ruine. Es gab Imbißstände,<br />

<strong>Picknick</strong>tische und einen See <strong>mit</strong> einem abgetrennten Bereich zum Baden,<br />

aber alles war geschlossen, und es war keine Menschenseele zu sehen. Am<br />

Rand des <strong>Picknick</strong>areals stand ein riesiger Müllcontainer <strong>mit</strong> einem robusten<br />

Metalldeckel, der ziemlich malträtiert und verbeult aussah, fast aus den<br />

Angeln gehoben, wahrscheinlich von einem Bären, der sich über die Abfälle<br />

hermachen wollte. Ich sah mir den Container ehrerbietig aus der Nähe an.<br />

Ich wußte nicht, daß Bären solche Kräfte entwickeln konnten.<br />

Endlich prangten mir auch die AT-Zeichen entgegen. Der Weg führte um<br />

den See herum und dann steil aufwärts durch einen Wald bis zum Gipfel


des Piney Mountain, der nicht auf der Karte eingezeichnet ist und <strong>mit</strong> knapp<br />

460 Metern eigentlich auch kein richtiger Berg ist. Trotzdem stellte er an<br />

einem warmen Sommertag wie heute eine Herausforderung dar. Außerhalb<br />

des Parks befindet sich eine Tafel, die die traditionelle, aber rein theoretische<br />

Mitte des Appalachian Trail markiert, <strong>mit</strong> 1.738,36 Kilometern Fußweg<br />

in beide Richtungen. Da niemand genau sagen kann, wie lang der AT<br />

tatsächlich ist, liegt die Mitte wahrscheinlich irgendwo 80 Kilometer weiter<br />

links oder rechts von dem angezeigten Punkt; auf jeden Fall verschiebt sie<br />

sich wegen der dauernden Änderung des Wegverlaufs jedes Jahr. Zwei<br />

Drittel der Weitwanderer bekommen den Punkt ohnehin nie zu sehen, weil<br />

sie bis dahin längst aufgegeben haben. Eigentlich muß es doch ein enttäuschender<br />

Moment sein, wenn man sich zehn, elf Wochen lang durch bergige<br />

Wildnis gequält hat und einem an dieser Stelle klar wird, daß man trotz aller<br />

Strapazen erst die Hälfte geschafft hat.<br />

Hier ungefähr fand auch einer der berüchtigteren Morde des Trail statt, der<br />

Mord, der im Zentrum des Buches Eight Bullets steht, das ich in der Hauptgeschäftsstelle<br />

des ATC gekauft hatte. Die Geschichte ist schnell erzählt. Im<br />

Mai 1988 erregten zwei junge Hiker, Rebecca Wight und Claudia Brenner,<br />

die zufällig auch lesbisch waren, die Aufmerksamkeit eines gestörten Mannes<br />

<strong>mit</strong> einem Gewehr, der aus der Ferne achtmal auf die beiden schoß, als<br />

sie auf einer laubübersäten Lichtung neben dem Trail <strong>mit</strong>einander schliefen.<br />

Wight wurde getötet. Claudia Brenner gelang es, schwer verwundet, den<br />

Hügel hinunterzulaufen, auf eine Straße, wo sie von Jugendlichen, die in<br />

einem Pick-up vorbeifuhren, gerettet wurde. Der Mörder wurde schnell<br />

gefaßt und verurteilt.<br />

Im Jahr darauf wurden in einer Schutzhütte ein paar Kilometer nördlich von<br />

hier ein junger Mann und eine Frau von einem herumstreunenden Mann<br />

ermordet, was Pennsylvania für eine Weile einen schlechten Ruf einbrachte,<br />

aber dann kam es sieben Jahre lang zu keinen weiteren Morden entlang des<br />

AT, bis zu dem gewaltsamen Tod der beiden jungen Frauen kürzlich im<br />

Shenandoah National Park. Ihr Tod erhöhte die offizielle Zahl der Mordfälle<br />

auf neun – eine recht hohe Zahl für einen Wanderweg, daran gibt es<br />

nichts zu deuteln –, obwohl es in Wahrheit vermutlich mehr waren. Zwischen<br />

1946 und 1950 verschwanden drei Personen während einer Wanderung<br />

durch ein relativ kleines Gebiet in Vermont, aber sie sind in der Zählung<br />

nicht berücksichtigt – ob das daran liegt, daß es so lange her ist oder<br />

weil nie abschließend geklärt wurde, ob sie ermordet wurden, kann ich nicht<br />

sagen. Ein Bekannter in New England erzählte mir außerdem von einem<br />

älteren Ehepaar, das in den 70er Jahren in Maine von einem Mann <strong>mit</strong> einer<br />

Axt umgebracht worden war, aber auch dieser Fall taucht in der Statistik<br />

nicht auf, denn offenbar befanden sich die beiden auf einem Nebenwander-


weg, als sie angegriffen wurden.<br />

Eight Bullets, Brenners Bericht über den Mord an ihrer Freundin, las ich in<br />

einer Nacht durch, mir waren also die Umstände im großen und ganzen<br />

bekannt, aber ich ließ das Buch absichtlich im Auto liegen, weil es mir<br />

irgendwie ein bißchen morbid vorkam, knapp zehn Jahre danach den genauen<br />

Ort des Geschehens zu suchen. Ich war durch die Lektüre nicht im<br />

geringsten in Angst versetzt worden, aber ich spürte dennoch ein leichtes<br />

Unbehagen, so ganz allein im stillen Wald, weit weg von zu Hause. Katz<br />

fehlte mir, sein Stöhnen und Schimpfen, seine durch nichts zu erschütternde<br />

Unerschrockenheit, und mir mißfiel der Gedanke, daß ich warten könnte,<br />

bis ich schwarz würde, wenn ich mich auf dem nächsten Stein niederlassen<br />

würde, da<strong>mit</strong> er aufholen konnte: Katz würde nicht kommen. Der Wald<br />

stand jetzt in seiner ganzen chlorophyllgeschwängerten Pracht, was ihn<br />

noch bedrückender und geheimnisvoller machte. Häufig konnte man keinen<br />

Meter weit durch das dichte Laubwerk zu beiden Seiten des Wegs sehen.<br />

Wenn mir jetzt zufällig ein Bär entgegengekommen wäre, hätte ich ziemlich<br />

dumm dagestanden. Und es wäre auch kein Katz nach einer Minute zur<br />

Stelle gewesen, um dem Tier die Fresse zu polieren und zu mir zu sagen:<br />

»Meine Güte, <strong>Bryson</strong>, kannst du nicht selbst auf dich aufpassen?« Es würde<br />

überhaupt niemand vorbeikommen, an dem man sich abreagieren konnte.<br />

Wahrscheinlich gab es im Umkreis von 80 Kilometern keinen einzigen<br />

Menschen außer mir. Ich stapfte weiter, von leichter Unruhe ergriffen und<br />

kam mir vor wie jemand, der zu weit aufs Meer hinausgeschwommen ist.<br />

Es waren 5,6 Kilometer bis zum Gipfel des Piney Mountain. Oben angekommen,<br />

stand ich unschlüssig herum. Ich konnte mich nicht entscheiden,<br />

ob ich noch ein Stück weitergehen oder umkehren und einen anderen Weg<br />

probieren sollte. Es lag eine gewisse Hilflosigkeit und entmutigende Sinnlosigkeit<br />

in allem, was ich tat. Ich wußte längst, daß ich nicht den gesamten<br />

AT schaffen würde, aber erst jetzt dämmerte es mir, wie läppisch und aussichtslos<br />

es war, sich die Strecke häppchenweise vorzunehmen. Es war im<br />

Grunde egal, ob ich fünf, zehn oder 15 Kilometer weit ging. Wenn ich 15<br />

Kilometer ging statt, sagen wir zehn - was hätte ich dabei gewonnen? Ganz<br />

sicher keinen Ausblick, keine Erfahrung, kein Erlebnis, das ich nicht bereits<br />

tausendfach gehabt hatte. Das ist das Problem beim AT – er ist ein weiter,<br />

unvorstellbar langer Weg, und es gab immer mehr, unendlich viel mehr<br />

Wegstrecke, als ich bewältigen konnte. Nicht, daß ich aufhören wollte. Im<br />

Gegenteil. Ich ging gern, ich war scharf aufs Gehen. Ich wollte nur wissen,<br />

was ich hier draußen eigentlich zu suchen hatte.<br />

Während ich unentschlossen herumstand, hörte ich plötzlich ein trockenes<br />

Knacken in den Zweigen, wie eine unbedachte Bewegung im Unterholz,<br />

ungefähr 15 Meter von mir entfernt im Wald – es mußte ein ziemlich großes


Tier sein, aber es war nicht zu sehen. Ich erstarrte, hörte auf zu atmen, zu<br />

denken, stellte mich auf Zehenspitzen und versuchte, zwischen den Blättern<br />

etwas zu erkennen. Wieder das Geräusch, diesmal näher. Was auch immer<br />

es verursachte, es kam direkt auf mich zu. Vor Angst leise wimmernd, lief<br />

ich ein paar hundert Meter; mein Tagesrucksack hüpfte auf und ab, Gläser<br />

klirrten, dann drehte ich mich um, mein Herzschlag setzte aus, und ich sah<br />

hinter mich. Ein Reh, ein großer Bock, schön und stolz, trat auf den Pfad,<br />

blickte mich einen Moment lang unverwandt an und trabte dann weiter. Es<br />

dauerte eine Zeitlang, bis ich wieder Luft bekam, dann wischte ich mir den<br />

Schweiß von der Stirn und fühlte mich vollkommen ernüchtert.<br />

Irgendwann hat jeder Wanderer auf dem AT seinen persönlichen Tiefpunkt<br />

erreicht, für gewöhnlich dann, wenn der Wunsch aufzugeben geradezu<br />

überwältigend ist. Die Ironie in meinem Fall lag darin, daß ich auf den Trail<br />

zurück wollte, aber nicht wußte wie. Ich hatte nicht nur Katz verloren, meinen<br />

lustigen Gefährten, sondern meine ganz eigene Beziehung zum Trail.<br />

Mir war jeder Antrieb abhanden gekommen, das Gefühl für den Sinn und<br />

Zweck des Ganzen. Ich mußte wieder auf eigenen Füßen stehen, was ganz<br />

wörtlich gemeint war. Zu allem Übel zitterte ich jetzt auch noch vor Furcht,<br />

als wäre ich noch nie allein im Wald gewesen. Die ganzen Erfahrungen, die<br />

ich in den Wochen vorher auf dem Trail gesammelt hatte, machten es mir<br />

schwerer und nicht leichter, auf mich allein gestellt zu sein. Das hatte ich<br />

nicht erwartet. Es erschien mir nicht gerecht. Es stimmte irgendwie nicht. In<br />

niedergeschlagener Stimmung kehrte ich zu meinem Wagen zurück.<br />

Ich verbrachte die Nacht in der Nähe von Harrisburg und fuhr am nächsten<br />

Morgen über Nebenstraßen in nördliche und östliche Richtung, quer durch<br />

den Bundesstaat. Ich hielt mich so dicht wie möglich an den Verlauf des<br />

Trail, blieb ab und zu stehen, um vor Ort ein Stück Weg zu gehen, entdeckte<br />

aber nichts, das irgendwie vielversprechend aussah, also fuhr ich die<br />

meiste Zeit.<br />

Allmählich klangen die Ortsnamen unterwegs immer mehr wie in einem<br />

Industriegebiet – Port Carbon, Minersville, Slatedale. Ich hatte die eigentümliche,<br />

fast vergessene Welt des Kohlereviers von Pennsylvania erreicht.<br />

In Minersville bog ich in eine Nebenstraße und durchquerte eine Landschaft<br />

aus überwachsenen Abraumhalden und verrosteten Maschinen und fuhr bis<br />

nach Centralia, in die seltsamste, traurigste Stadt, die ich je gesehen habe.<br />

Unter dem östlichen Teil Pennsylvanias liegen die reichsten Kohlenflöze<br />

der Welt. Bereits die ersten Europäer, die hier siedelten, erkannten, daß sich<br />

dort Kohle in unvorstellbaren Mengen befand. Es gab nur ein Problem: Es<br />

handelte sich fast ausschließlich um Anthrazitkohle, Steinkohle, eine Kohleart,<br />

die so ungemein hart ist – sie besteht zu 95 Prozent aus Kohlenstoff –,


daß man lange Zeit rätselte, wie man sie ans Tageslicht befördern könnte.<br />

Erst 1823 kam ein erfinderischer Schotte namens James Neilson auf die<br />

geniale Idee, <strong>mit</strong>tels eines Gebläses erhitzte statt kalte Luft in einen Eisenofen<br />

zu leiten. Das sogenannte Heißwindverfahren revolutionierte die Kohleindustrie<br />

auf der ganzen Welt (auch in Wales gab es viel Anthrazitkohle),<br />

aber besonders in den USA. Gegen Ende des Jahrhunderts produzierten die<br />

USA 270 Millionen Tonnen Kohle jährlich, annähernd so viel wie der Rest<br />

der Welt zusammengenommen, und der größte Teil davon kam aus der<br />

Kohleregion in Pennsylvania.<br />

Mittlerweile hatte man dort auch Öl entdeckt, aber es wurde nicht nur entdeckt,<br />

sondern man fand auch Mittel und Wege, es industriell zu nutzen.<br />

Petroleum, auch Steinöl genannt, war schon seit langem eine Kuriosität im<br />

westlichen Pennsylvania. Es drang in Sickergruben an Flußufern an die<br />

Erdoberfläche, wo es <strong>mit</strong> Decken aufgefangen und zu Medikamenten verarbeitet<br />

wurde, die für ihre Wirksamkeit bei der Heilung aller möglichen<br />

Krankheiten, von Lymphknotentuberkulose bis Durchfall, geschätzt waren.<br />

Es war der rätselhafte Colonel Edwin Drake (der in Wahrheit gar kein Colonel,<br />

sondern pensionierter Lokomotivführer war, ohne jegliche geologische<br />

Kenntnisse) und sein unerschütterlicher Glaube daran, daß man das Öl<br />

aus dem Boden über Brunnen fördern könne, der 1859 die Entwicklung<br />

vorantrieb. In Titusville bohrte er ein 21 Meter tiefes Loch in die Erde und<br />

besaß da<strong>mit</strong> die erste Springquelle der Welt. Schnell erkannte man, daß<br />

Petroleum nicht nur die Gedärme in Schach halten und die Krätze bannen<br />

konnte, sondern sich auch zu gewinnbringenden Produkten wie Paraffin und<br />

Kerosin verarbeiten ließ. Pennsylvania erlebte einen Aufschwung sondergleichen.<br />

In drei Monaten wuchs die Bevölkerung von Pithole City, so der<br />

liebevolle Spitzname, von Null auf 15.000, wie John McPhee in seinem<br />

Buch In Snspect Terrain schreibt. Noch einige andere Städte in der Region<br />

entstanden quasi über Nacht, zum Beispiel Oil City, Petroleum Center und<br />

Red Hot. John Wilkes Booth kam ebenfalls hierher und verlor sein erspartes<br />

Geld, dann zog er los und erschoß einen Präsidenten, aber andere blieben<br />

und machten ein Vermögen.<br />

Ein quirliges halbes Jahrhundert lang besaß Pennsylvania praktisch ein<br />

Monopol auf eines der wertvollsten Produkte der Welt – Öl, und spielte eine<br />

beherrschende Rolle in der Förderung eines anderen Produkts, nämlich<br />

Kohle. Aufgrund der Nachbarschaft dieser beiden gewaltigen Brennstoffvorkommen<br />

entwickelte sich Pennsylvania zu einem Zentrum brennstoffintensiver<br />

Industriezweige wie Stahl und Chemie. Sehr viele Leute wurden<br />

unermeßlich reich.<br />

Nur die Bergarbeiter nicht. Der Bergbau war schon immer und überall eine<br />

furchtbare Arbeit, aber nirgendwo war es so schlimm wie in Amerika in der


zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dank ungehinderter Einwanderung<br />

standen Bergarbeiter in unbegrenzter Menge zur Verfügung. Als die Waliser<br />

zu aufsässig wurden, holte man Iren. Als die Iren nicht mehr zufriedenstellend<br />

arbeiteten, holte man Italiener, Polen oder Ungarn. Die Arbeiter<br />

wurden nach Tonnen bezahlt, was sie dazu antrieb, die Kohle <strong>mit</strong> leichtsinniger<br />

Eile herauszuhauen, und was selbstverständlich auch bedeutete, daß<br />

jeder Aufwand, der getrieben wurde, um die Arbeit sicherer oder bequemer<br />

zu gestalten, nicht entlohnt . wurde. Stollen wurden wild in die Erde getrieben,<br />

wie Löcher in Schweizer Käse, was häufig ganze Talregionen zum<br />

Absinken brachte. 1846 brachen in Carbondale Stollen auf einer Fläche von<br />

20 Hektar ohne jede Vorwarnung <strong>mit</strong> einem Schlag zusammen, was Hunderte<br />

Menschenleben forderte. Explosionen und Brände waren an der Tagesordnung.<br />

Zwischen 1870 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließen<br />

in amerikanischen Bergwerken 50.000 Arbeiter ihr Leben.<br />

Die Ironie des Schicksals will es, daß Anthrazitkohle sehr schwer entflammbar<br />

ist, aber kaum zu löschen, wenn sie einmal brennt. Die Geschichten<br />

über unkontrollierte Grubenbrände im östlichen Pennsylvania sind Legion.<br />

Ein Feuer zum Beispiel brach 1850 in Lehigh aus und erlosch erst zur<br />

Zeit der Großen Depression, 80 Jahre nach seinem Ausbruch.<br />

Und hier komme ich <strong>mit</strong> meiner Geschichte nach Centralia. Ein Jahrhundert<br />

lang war Centralia ein solides, beschauliches Bergarbeiterstädtchen. Wie<br />

schwer das Leben für die ersten Grubenarbeiter auch gewesen sein mag, in<br />

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedenfalls war Centralia eine einigermaßen<br />

blühende, behagliche, betriebsame kleine Stadt <strong>mit</strong> knapp 2.000<br />

Einwohnern. Die Stadt besaß ein belebtes Geschäftsviertel, <strong>mit</strong> Banken,<br />

Post und der üblichen Auswahl an Läden und kleinen Kaufhäusern, eine<br />

High School, vier Kirchen, einen Old Fellows Club, ein Rathaus – <strong>mit</strong> anderen<br />

Worten, es war eine typische, gemütliche, einigermaßen anonyme amerikanische<br />

Kleinstadt.<br />

Leider hockte die Gemeinde aber auch auf über 30 Millionen Tonnen Anthrazitkohle.<br />

1962 entzündete sich durch den Brand einer Müllhalde am<br />

Stadtrand ein Kohlenflöz. Die Feuerwehr verspritzte zigtausend Liter Wasser,<br />

aber jedesmal, wenn es so aussah, als sei das Feuer erloschen, flackerte<br />

es wieder auf – wie der beliebte Scherzartikel, diese Geburtstagskerzen, die<br />

man ausbläst und die sich einen Augenblick später von selbst wieder entflammen.<br />

Danach begann das Feuer, sich durch die unterirdischen Flöze zu<br />

fressen. Über ein ausgedehntes Gebiet stieg gespenstischer Rauch vom<br />

Boden auf, wie Dampf von einem See in der Morgendämmerung. Der Asphalt<br />

auf dem Highway 61 wurde so heiß, daß man ihn nicht berühren konnte,<br />

dann bekam die Decke Risse und senkte sich ab, so daß die Straße unpassierbar<br />

wurde. Die Zone, aus der der Rauch aufstieg, zog unter dem


Highway durch und breitete sich in einem benachbarten Waldstück und<br />

weiter oben auf einem Hügel oberhalb der Stadt aus, wo die katholische<br />

Kirche St. Ignatius stand.<br />

Das U.S. Bureau of Mines schickte Experten in das Gebiet, die alle möglichen<br />

Vorschläge machten – einen tiefen Graben quer durch die Stadt auszuheben,<br />

den Verlauf des Feuers durch Sprengungen abzulenken, das Flöz <strong>mit</strong><br />

Druckwasser zu überfluten -aber schon die billigste Methode hätte mindestens<br />

20 Millionen Dollar gekostet, ohne Garantie, daß sie auch funktionierte,<br />

und ohnehin sah sich niemand befugt, eine solche Summe auszugeben.<br />

Und so schwelte das Feuer langsam vor sich hin.<br />

1979 stellte der Besitzer einer Tankstelle unweit des Stadtzentrums fest, daß<br />

die Temperatur in seinen unterirdischen Benzintanks bei fast 80 Grad Celsius<br />

lag. In den Boden versenkte Sensoren zeigten an, daß die Temperatur<br />

vier Meter unterhalb des Tanklagers 500 Grad Celsius betrug. Hausbesitzer<br />

klagten über heiße Kellerwände und -böden. Mittlerweile stieg in der gesamten<br />

Stadt Rauch aus der Erde auf, und die Menschen litten aufgrund des<br />

überhöhten Kohlendioxydgehalts in ihren eigenen vier Wänden zunehmend<br />

unter Brechreiz und Schwindelanfällen. 1981 spielte ein zwölfjähriger Junge<br />

im Garten seiner Großmutter, als vor ihm eine Rauchfahne erschien. Er<br />

starrte sie fasziniert an, als sich plötzlich unter ihm der Boden auftat. Er<br />

klammerte sich an eine Baumwurzel und schrie um Hilfe, bis jemand kam<br />

und ihn herauszog. Das Loch war 24 Meter tief. Innerhalb weniger Tage<br />

kam es im gesamten Stadtgebiet zu ähnlichen Bodenabsenkungen. Erst jetzt<br />

fingen die Menschen an, ernsthaft etwas gegen das Feuer zu unternehmen.<br />

Die Regierung initiierte ein 42-Millionen-Dollar-Programm zur Evakuierung<br />

der Stadt. Sobald die Bewohner weg waren, wurden ihre Häuser <strong>mit</strong><br />

Planierraupen plattgemacht, der Schutt samt und sonders weggeräumt, bis<br />

fast keine Gebäude mehr übrig waren. Centralia ist heute nicht einmal mehr<br />

eine Geisterstadt. Es ist ein großer, freier Platz, ein Netz leerer Straßen, hier<br />

und da noch <strong>mit</strong> Parkverbotsschildern und Hydranten versehen, was surreal<br />

anmutet. Etwa alle zehn Meter befindet sich eine sauber asphaltierte Einfahrt,<br />

die 15, 20 Meter ins Nichts führt. Verstreut stehen noch ein paar Häuser<br />

im Gelände – bescheidene, schmale Holzkonstruktionen, die von Stützpfeilern<br />

aus Stein zusammengehalten werden – und ein paar Gebäude im<br />

ehemaligen Geschäftsviertel.<br />

Ich stellte meinen Wagen vor einem Gebäude ab, an dem ein verblaßtes<br />

Schild <strong>mit</strong> der pompösen Aufschrift »Centralia Grubenbrand-Projektbüro,<br />

Sanierungsgesellschaft Columbia« hing. Der Eingang und die Fenster waren<br />

<strong>mit</strong> Brettern vernagelt, und das Haus selbst sah aus, als drohte es jeden<br />

Moment einzustürzen. Nebenan stand noch ein Haus, in einem besseren<br />

Zustand, Speed Stop Car Parts stand darauf, davor eine tiptop gepflegte


Grünanlage, <strong>mit</strong> Fahnenmast, an dem das Sternenbanner wehte. Das Geschäft<br />

war offenbar immer noch in Betrieb, aber innen brannte kein Licht,<br />

und es war niemand da. Es war überhaupt kein Mensch zu sehen – wie mir<br />

jetzt auffiel –, nicht ein einziges Geräusch zu hören, außer dem Klirren<br />

eines Eisenrings, der gegen den Fahnenmast schlug. Auf den freien<br />

Grundstücken befanden sich hier und da Metallröhren, die wie Ölfässer in<br />

die Erde hinabgelassen worden waren und leise Rauch absonderten.<br />

Oben auf einem sanft ansteigenden Hügel, der sich über die Breite mehrerer<br />

abgeräumter Grundstücke erstreckte, stand eine ziemlich große moderne<br />

Kirche in eine weiße Rauchglocke gehüllt, vermutlich St. Ignatius. Ich stieg<br />

hinauf. Die Kirche sah durchaus noch stabil und benutzbar aus, die Fenster<br />

waren nicht vernagelt, und ich sah auch kein Schild »Betreten verboten«.<br />

Der Eingang war verschlossen, und es gab keine Informationstafel <strong>mit</strong> den<br />

Anfangszeiten der Gottesdienste oder dergleichen, nicht mal der Name der<br />

Kirche und ihre Konfession standen angeschlagen. Drumherum qualmte der<br />

Boden, und auf der Rückseite quollen auf einer großen Fläche ganze Rauchschwaden<br />

aus der Erde. Ich durchschritt das Gelände und fand mich am<br />

Rand eines riesigen Kessels wieder, etwa halb so groß wie ein Fußballfeld,<br />

der dicken, wolkenartigen, hellweißen Rauch ausstieß, wie er beim<br />

Verbrennen von Autoreifen oder alten Decken entsteht. Ich konnte in der<br />

dicken Suppe unmöglich erkennen, wie tief das Loch war. Der Boden fühlte<br />

sich warm an und war <strong>mit</strong> einer feinen Ascheschicht bedeckt.<br />

Ich begab mich wieder zum Eingang der Kirche. Eine schwere, querstehende<br />

Straßensperre blockierte die Zufahrt zu der alten Straße, und ein neuer<br />

Highway führte über einen Nachbarhügel um die Stadt herum. Ich stieg<br />

über die Straßensperre und ging ein Stück den alten Highway 61 entlang.<br />

Unkraut wuchs in Büscheln hier und da aus der Asphaltdecke hervor, aber<br />

die Straße an sich sah noch immer befahrbar aus. Zu beiden Seiten qualmte<br />

das Land auf unübersichtlicher Fläche düster vor sich hin, wie nach einem<br />

Waldbrand. Ungefähr 50 Meter weiter war in der Mitte der Straße ein gezackter<br />

Riß zu sehen, der rasch zu einer breiten Spalte wurde, aus der noch<br />

mehr Qualm aufstieg. An manchen Stellen der Spalte war die Fahrbahn auf<br />

einer Seite 30 bis 40 Zentimeter tief abgesunken oder hatte sich zu einer<br />

rinnenartigen Vertiefung verformt. Ab und an schaute ich in die Spalte<br />

hinunter, konnte aber wegen des Rauchs, der sich als unangenehm beißend<br />

und schwefelhaltig erwies, als eine Windböe ihn mir ins Gesicht wehte,<br />

nicht sehen, wie tief sie reichte.<br />

Ich ging eine Weile an der Spalte entlang, untersuchte sie <strong>mit</strong> ernster Miene,<br />

wie ein Ingenieur vom Straßenbauamt, bevor mein Blick ziellos umherschweifte<br />

und mir dämmerte, daß ich mich <strong>mit</strong>ten, geradezu im Zentrum<br />

einer unentwegt qualmenden Landschaft befand, auf einer vermutlich


hauchdünnen Asphaltdecke, über einem brennenden Feuer, das seit 35 Jahren<br />

außer Kontrolle war. Sich ausgerechnet an diesen Ort in ganz Amerika<br />

zu begeben zeugt nicht gerade von besonderer Klugheit. Vielleicht war es<br />

nur meine buchstäblich erhitzte Phantasie, jedenfalls erschien mir der Boden<br />

plötzlich ausgesprochen schwammig und elastisch, als würde ich auf<br />

einer Matratze gehen. Ich machte rasch wieder kehrt und lief zu meinem<br />

Wagen zurück.<br />

Wenn ich so darüber nachdenke, erscheint es mir merkwürdig, daß jeder<br />

Verrückte, ich eingeschlossen, in einem so offenkundig gefährlichen und<br />

instabilen Ort wie Centralia <strong>mit</strong> dem Auto spazierenfahren und sich alles<br />

ansehen kann, aber es gab nichts, das einen davon abgehalten hätte herumzustreunen.<br />

Noch merkwürdiger fand ich allerdings, daß Centralia nicht<br />

vollständig evakuiert worden ist. Diejenigen, die nicht wegziehen mochten<br />

und <strong>mit</strong> der Gefahr leben wollten, daß ihr Haus eines Tages von der Erde<br />

verschluckt würde, durften bleiben, und einige hatten sich offenbar dafür<br />

entschieden. Ich fuhr <strong>mit</strong> dem Auto zu einem einsamen Haus <strong>mit</strong>ten im<br />

ehemaligen Stadtzentrum. Das in einem blassen Grün gestrichene Haus war<br />

gepflegt und gut erhalten. Gespenstisch. Auf einer Fensterbank standen eine<br />

Vase <strong>mit</strong> künstlichen Blumen und anderer Nippes. Vor der frisch gestrichenen<br />

Veranda befand sich ein Beet <strong>mit</strong> Ringelblumen, allerdings stand<br />

kein Auto in der Einfahrt, und niemand öffnete auf mein Klingeln die Haustür.<br />

Mehrere andere Gebäude stellten sich bei näherem Hinsehen als unbewohnt<br />

heraus. An zwei Häusern waren Fenster und Türen <strong>mit</strong> Brettern vernagelt,<br />

und es hingen Schilder dran, »Achtung! Betreten verboten!«. In fünf, sechs<br />

anderen Häusern, darunter drei kleine Reihenhäuser am Ende des Stadtparks,<br />

lebten offensichtlich noch Menschen, in einem Vorgarten lag sogar<br />

Kinderspielzeug (wer um Himmels willen möchte hier Kinder großziehen?).<br />

Aber nirgends reagierte jemand auf mein Klingeln. Entweder waren alle in<br />

der Arbeit oder lagen, wie ich vermutete, längst mausetot in der Küche. Bei<br />

einem Haus, an dem ich klingelte, bewegte sich eine Gardine, wie ich mir<br />

einbildete, aber ich war mir nicht sicher. Wer weiß, wie gestört die Leute<br />

sind, nachdem sie 30 Jahre auf einem Inferno gelebt und Unmengen von<br />

CO2 inhaliert haben, beziehungsweise wie genervt von Fremden, die fröhlich<br />

an ihre Tür klopften und ihre Stadt als Kuriosum betrachteten. Insgeheim<br />

war ich erleichtert, daß niemand auf mein Klingeln reagierte, denn mir<br />

wäre ums Verrecken keine Frage eingefallen, <strong>mit</strong> der ich ein Gespräch hätte<br />

beginnen können.<br />

Es war bereits nach Mittag, ich fuhr daher die restlichen acht Kilometer<br />

nach Mt. Carmel, der nächsten Stadt, <strong>mit</strong> dem Auto. Mt. Carmel war eine<br />

kleine Überraschung nach Centralia – ein lebendiges Städtchen, angenehm


altmodisch, <strong>mit</strong> Verkehr auf der Main Street, Bürgersteigen voller Einkäufern<br />

und anderen Bewohnern der Stadt, die ihren Geschäften nachgingen.<br />

Ich aß im Academy Luncheonette and Sporting Goods Store zu Mittag<br />

(vermutlich der einzige Ort in ganz Amerika, an dem man beim Verzehr<br />

seines Thunfisch-Sandwichs eine Auswahl von Suspensorien bewundern<br />

kann) und hatte vor, anschließend meine Suche nach dem AT fortzusetzen.<br />

Auf dem Weg zum Auto kam ich jedoch an der Stadtbücherei vorbei, ging<br />

spontan hinein und erkundigte mich, ob es irgendwelches Material über<br />

Centralia gäbe.<br />

Es gab reichlich Material – drei dicke Aktenordner, prallvoll <strong>mit</strong> Zeitungsausschnitten,<br />

die meisten aus der Zeit von 1979 bis 1981, als Centralia für<br />

kurze Zeit landesweites Interesse hervorrief, besonders nachdem der kleine<br />

Junge, ein gewisser Todd Dombowski, im Garten seiner Oma beinahe vom<br />

Erdboden verschluckt worden wäre.<br />

Darüber hinaus gab es noch ein schmales gebundenes Bändchen, eine Geschichte<br />

Centralias, das, aus heutiger Sicht nicht ohne Pikanterie, aus Anlaß<br />

der Hundertjahrfeier der Stadt kurz vor Ausbruch des Feuers in Auftrag<br />

gegeben worden war. Es war reich bebildert, lauter Fotos, die eine Stadt<br />

zeigten, in der lebhaftes Treiben auf den Straßen herrschte, nicht viel anders<br />

als das, was sich vor den Toren der Bücherei abspielte, <strong>mit</strong> dem Unterschied,<br />

daß alles etwas über 30 Jahre zurücklag. Ich hatte vergessen, wie<br />

entrückt die 60er Jahre bereits waren. Die Männer auf den Fotos trugen<br />

Hüte, die Frauen und Mädchen weite, ausgestellte Röcke. Sie wirkten alle<br />

unbekümmert, denn natürlich ahnte niemand, daß ihre hübsche, unbekannte<br />

kleine Stadt dem Untergang geweiht war. Es fiel mir schwer, die Lebendigkeit,<br />

die auf diesen Fotos zum Ausdruck kam, <strong>mit</strong> dem öden Ort, den ich<br />

gerade verlassen hatte, in Verbindung zu bringen.<br />

Als ich alles wieder in den Aktenordner einlegte, fiel ein Zeitungsausschnitt<br />

zu Boden, ein Artikel aus Newsweek. Ein kurzer Absatz am Ende des Textes<br />

war unterstrichen und am Rand <strong>mit</strong> drei Ausrufezeichen versehen. Ein Mitarbeiter<br />

der Brandbekämpfung wurde <strong>mit</strong> den Worten zitiert, wenn das<br />

Feuer gleichmäßig weiterschwele, reiche die Kohle unter Centralia noch für<br />

1.000 Jahre.<br />

Ein paar Kilometer von Centralia entfernt liegt ein weiterer, eindrucksvoller<br />

Ort der Verwüstung, von dem ich zufällig erfahren hatte und den ich unbedingt<br />

aufsuchen wollte – ein Berghang im Lehigh Valley, der durch die<br />

Hinterlassenschaften einer Zinkhütte so gründlich verschmutzt worden war,<br />

daß dort kein Grashalm mehr wuchs. John Connolly hatte mir von dem<br />

Berg erzählt und gesagt, er befände sich unweit von Palmerton, und so<br />

begab ich mich am nächsten Tag dorthin. Palmerton war eine ziemlich


große Stadt, schmutzig, <strong>mit</strong> viel Industrie, aber nicht ohne gewissen Reiz –<br />

ein paar städtische Bauten der Jahrhundertwende, die dem Ort etwas Würdevolles<br />

verliehen, ein behäbiger Platz im Zentrum, und ein Einkaufsviertel,<br />

das eindeutig krisengeschüttelt war, aber den Widrigkeiten mutig trotzte.<br />

Überall im Hintergrund dominierten große Fabrikanlagen, die wie Gefängnisse<br />

aussahen und anscheinend alle geschlossen waren. An einem Ende<br />

der Stadt fand ich, weswegen ich hergekommen war – eine steile, breite<br />

kahle Erhebung, ungefähr 450 Meter hoch und einige Kilometer lang, auf<br />

der keine Vegetation zu erkennen war. Neben der Straße war ein Parkplatz,<br />

ein paar hundert Meter davon entfernt eine Fabrik. Ich bog auf den Parkplatz<br />

ein, stieg aus und staunte – es war ein überwältigender Anblick.<br />

Im selben Moment trat ein dicker uniformierter Mann aus einem Wachhäuschen<br />

und watschelte <strong>mit</strong> mürrischer Miene diensteifrig auf mich zu.<br />

»Was haben Sie hier zu suchen?« schnauzte er mich an.<br />

»Wie bitte?« erwiderte ich betroffen, und dann: »Ich sehe mir den Berg an.«<br />

»Das dürfen Sie nicht.«<br />

»Man darf sich diesen Berg nicht ansehen?«<br />

»Jedenfalls nicht hier. Das ist Privatgelände.«<br />

»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt.«<br />

»Es ist trotzdem Privatgelände, wie auf dem Schild da zu lesen ist.« Er wies<br />

auf einen Pfosten, an dem überhaupt kein Schild hing, und war für einen<br />

Moment ganz verdattert. »Ist trotzdem Privatgelände«, fügte er hinzu.<br />

»Entschuldigung. Das habe ich nicht gewußt«, wiederholte ich, noch ohne<br />

wirklich begriffen zu haben, wie ernst der Mann seinen Job nahm. Ich bestaunte<br />

weiterhin den Berg. »Ist das nicht ein sagenhafter Anblick?« sagte<br />

ich.<br />

»Was?«<br />

»Der Berg. Nicht ein einziger Grashalm ist zu erkennen.«<br />

»Kann ich nichts zu sagen. Ich werde nicht dafür bezahlt, mir Berge anzuschauen.«<br />

»Sollten Sie ab und zu mal tun. Sie wären erstaunt, was Sie da zu sehen<br />

bekämen. Das da drüben ist dann wohl die Zinkfabrik, oder?« sagte ich und<br />

deutete <strong>mit</strong> einem Kopfnicken auf den Gebäudekomplex hinter seinem<br />

Rücken.<br />

Er musterte mich mißtrauisch. »Wieso wollen Sie das wissen?«<br />

Ich erwiderte seinen Blick. »Weil ich Zink brauche«, entgegnete ich.<br />

Er sah mich von der Seite an, als wollte er sagen: Klugscheißer, was? Statt<br />

dessen sagte er plötzlich entschlossen: »Ich notiere mir mal lieber Ihren<br />

Namen.« Umständlich zog er ein Notizbuch und einen Bleistiftstummel aus<br />

der Gesäßtasche.<br />

»Nur, weil ich Sie gefragt habe, ob das die Zinkfabrik ist?«


»Weil Sie Privatgelände betreten haben.«<br />

»Ich wußte nicht, daß es Privatgelände ist. Da steht ja nicht mal ein Hinweisschild.«<br />

Er hielt den Stummel schreibbereit. »Name?«<br />

»Machen Sie sich nicht lächerlich.«<br />

»Sie haben Privatgelände betreten, Sir. Wollen Sie mir jetzt bitte Ihren<br />

Namen sagen?«<br />

»Nein.«<br />

In dem Stil ging es etwa eine Minute lang hin und her, schließlich schüttelte<br />

er <strong>mit</strong> bedauerlicher Miene den Kopf und meinte: »Ganz wie Sie wollen.«<br />

Er holte ein Funkgerät, zog die Antenne raus und schaltete es ein. Zu spät<br />

war mir klargeworden, daß er während vieler, langer ereignisloser Wachschichten<br />

in seinem kleinen Glaskasten von so einem Moment geträumt<br />

haben mußte.<br />

»J. D.?« sagte er in das Funkgerät. »Luther hier. Hast du die Parkkralle<br />

dabei? Ich stehe hier <strong>mit</strong> einem Einbrecher auf Parzelle A.«<br />

»Was machen Sie da?« fragte ich.<br />

»Ich beschlagnahme Ihr Fahrzeug.«<br />

»Ich bitte Sie. Ich habe doch nur kurz angehalten. In Ordnung, ich fahre ja<br />

schon.«<br />

Ich stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los, aber der Mann versperrte mir<br />

den Weg. Ich beugte mich aus dem Fenster. »Würden Sie bitte beiseitetreten?«<br />

rief ich, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er stand <strong>mit</strong> dem Rücken<br />

zu mir, die Arme verschränkt, und schenkte mir keine Beachtung. Ich hupte<br />

leise, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich steckte wieder den<br />

Kopf durchs Fenster und sagte: »Also gut, ich sage Ihnen meinen Namen,<br />

wenn es unbedingt sein muß.«<br />

»Zu spät.«<br />

»Meine Güte«, murmelte ich, und dann, wieder durchs Fenster, sagte ich<br />

»Bitte«, danach nochmal, diesmal flehentlicher: »Ich bitte Sie, wirklich«,<br />

aber er hatte sich nun einmal entschieden und war durch nichts davon abzubringen.<br />

»Stand in der Stellenausschreibung: Arschloch gesucht, oder haben<br />

Sie dafür extra einen Lehrgang besucht?« Dann stieß ich noch ein schlimmes<br />

Schimpfwort aus, blieb sitzen und kochte innerlich.<br />

Eine halbe Minute später fuhr ein Wagen vor, und ein Mann <strong>mit</strong> Sonnenbrille<br />

stieg aus. Er trug die gleiche Uniform wie der Dicke, aber er war<br />

zehn, 15 Jahre älter und sehr viel schlanker. Er hatte das Gebaren eines<br />

Ausbildungsoffiziers.<br />

»Was gibt’s?« fragte er, von einem zum anderen blickend.<br />

»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen«, sagte ich im süßlichen Tonfall<br />

bedingungsloser Einsicht. »Ich suche den Appalachian Trail. Und dann sagt


mir dieser Herr hier, ich sei auf Privatgelände eingedrungen.«<br />

»Er hat sich den Berg angesehen, J. D.«, widersprach der Dicke hitzig, aber<br />

J. D. hob abwehrend die Hand und wandte sich dann mir zu.<br />

»Sind Sie Wanderer?«<br />

»Ja, Sir«, sagte ich und zeigte auf meinen Rucksack auf dem Rücksitz. »Ich<br />

wollte nur nach dem Weg fragen, und ehe ich mich’s versah« – ich stieß ein<br />

gespielt erschrockenes Lachen aus –, »kommt der Herr da an und sagt, ich<br />

befände mich auf Privatgelände, und er müsse meinen Wagen beschlagnahmen.«<br />

»J. D. der Mann hat sich den Berg angeschaut und Fragen gestellt.« J. D.<br />

hielt diesmal die andere Hand abwehrend hoch.<br />

»Wo wollen Sie denn wandern?«<br />

Ich sagte es ihm.<br />

Er nickte. »Gut. Dann fahren Sie ungefähr sechs Kilometer geradeaus auf<br />

dieser Straße weiter bis Little Gap und biegen da rechts nach Danielsville<br />

ab. Oben auf dem Hügel kreuzt der Trail die Straße. Das können Sie gar<br />

nicht verfehlen.«<br />

»Vielen Dank.«<br />

»Keine Ursache. Frohes Wandern noch!«<br />

Ich bedankte mich noch mal wortreich und brauste davon. Im Rückspiegel<br />

sah ich <strong>mit</strong> Genugtuung, daß er Luther zurechtwies, ruhig aber bestimmt –<br />

und da<strong>mit</strong> drohte, wie ich stark hoffte, ihm das Funkgerät abzunehmen.<br />

Die Straße führte steil bergauf bis zu einer einsamen Paßhöhe, wo sich ein<br />

<strong>mit</strong> Schotter befestigter Parkplatz befand. Ich stellte den Wagen ab, fand<br />

den AT und folgte ihm auf einem hohen, freiliegenden Grat, durch ein unvorstellbar<br />

verwüstetes Gelände. Kilometerweit nur kahle Landschaft, hier<br />

und da die dürren Stämme abgestorbener Bäume, einige konnten sich noch<br />

aufrechthalten, aber die meisten waren eingeknickt. Die Szenerie erinnerte<br />

unweigerlich an ein Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs nach schwerem<br />

Artilleriebeschuß. Der Boden war <strong>mit</strong> einem sandigen schwarzen Staub<br />

bedeckt, der aussah wie Eisenspäne.<br />

Das Gehen fiel ungewöhnlich leicht – der Grat war fast vollkommen flach –<br />

und das Fehlen jeglicher Vegetation erlaubte einen ungehinderten Ausblick.<br />

Die Bäume auf allen anderen Bergen der nahen Umgebung, einschließlich<br />

der Hügel direkt gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Tals, waren,<br />

soweit man erkennen konnte, in gesundem Zustand, außer an den Stellen,<br />

wo der Berg durch Steinbrüche oder Tagebau verunstaltet oder ausgehöhlt<br />

worden war. Ich ging etwas länger als eine Stunde, bis ich zu einem<br />

jähen, irrsinnig steilen Abstieg nach Lehigh Gap gelangte – 300 Meter in<br />

die Tiefe. Ich hatte eigentlich noch gar keine Lust, für heute Schluß zu machen,<br />

im Gegenteil, ich war gerade erst so richtig in Fahrt gekommen, aber


die Vorstellung, 300 Meter abzusteigen, nur um unten umzukehren und<br />

wieder hochzuklettern, hatte nicht den geringsten Reiz, und es gab auch<br />

keinen anderen Rückweg, der nicht stundenlanges Marschieren an einem<br />

verkehrsreichen Highway bedeutet hätte. Genau das ist eben das Problem,<br />

wenn man den AT in Tagesetappen abwandert: Er ist so angelegt, daß man<br />

weitergeht, immer weiter, nach vorn und nicht Stippvisiten absolviert, mal<br />

hier, mal da.<br />

Seufzend machte ich kehrt und ging denselben Weg zurück, den ich gekommen<br />

war, in einer der Landschaft angepaßten Laune. Es war fast vier<br />

Uhr, als ich den Parkplatz erreichte, zu spät, um noch einen anderen Abschnitt<br />

des Trails auszuprobieren. Der Tag war so gut wie gelaufen. Ich<br />

hatte 560 Kilometer zurückgelegt, um hierher nach Pennsylvania zu kommen,<br />

hatte vier quälend lange Tage in diesem Bundesstaat zugebracht und<br />

war unterm Strich 17 Kilometer des Appalachian Trail abgegangen. Nie<br />

wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich versuchen, <strong>mit</strong> dem Auto an<br />

den Appalachian Trail heranzufahren und ihn in Etappen zu wandern.


15. Kapitel<br />

Früher, vor Jahrmillionen, konnten es die Appalachen in ihrem Ausmaß und<br />

ihrer Erhabenheit durchaus <strong>mit</strong> dem Himalaja aufnehmen – wie Pfeilspitzen,<br />

schneebedeckt, die Wolkendecke durchstoßend, ragten sie atemberaubende<br />

6.000 Meter und höher auf. Mount Washington in New Hampshire<br />

bietet immer noch einen eindrucksvollen Anblick, die Gesteinsmasse, die<br />

sich heute aus den Wäldern New Englands erhebt, stellt jedoch bestenfalls<br />

das rumpfartige untere Drittel dessen dar, was vor zehn Millionen Jahren<br />

hier stand.<br />

Die Appalachen haben heute eine bescheidenere Gestalt, weil ihnen sehr<br />

viel Zeit zur Verfügung stand, um sich abzuschleifen, Sie sind unvorstellbar<br />

alt, älter als die Meere und Kontinente, jedenfalls in ihrer heutigen Ausprägung,<br />

und sie sind weitaus älter als die meisten anderen Bergketten, sogar<br />

älter als fast alle anderen landschaftlichen Merkmale der Erde. Die Appalachen<br />

standen schon zur Begrüßung bereit, als einfachste Pflanzenformen die<br />

Erde besiedelten und die ersten Tiere nach Luft schnappend aus dem Meer<br />

an Land krochen.<br />

Vor etwa einer Milliarde Jahren waren die Kontinente der Erde eine einzige<br />

Landmasse. Sie bildeten den Urkontinent Pangäa, umgeben vom Urozean,<br />

dem Panthalassischen Meer. Eine unerklärliche Erschütterung des Erdmantels<br />

führte dazu, daß die Landmasse zerbrach und die einzelnen asymmetrischen<br />

Blöcke auseinanderdrifteten. Von Zeit zu Zeit im Laufe von Jahrmillionen<br />

– bisher insgesamt dreimal – vollzogen die Kontinente eine Art Wiedervereinigung,<br />

trieben zurück an einen zentralen Ort und stießen dabei sehr<br />

langsam, aber doch <strong>mit</strong> zerstörerischer Wucht zusammen. Bei der dritten<br />

Kollision, die vor 470 Millionen Jahren passierte, wurden die Appalachen<br />

aus der Erdmasse herausgedrückt, wie ein Falten werfender Teppich, um<br />

einen immer wieder bemühten Vergleich zu benutzen. 470 Millionen Jahre<br />

sind eine Zeitspanne, die über den menschlichen Verstand hinausgeht, aber<br />

wenn man sich vorstellt, man flöge in der Zeit rückwärts, <strong>mit</strong> einer Geschwindigkeit<br />

von einem Jahr pro Sekunde, dann brauchte man 16 Jahre,<br />

um diese Zeitspanne zu überwinden. Das ist doch ziemlich lange, würde ich<br />

sagen.<br />

Die Kontinente haben sich nicht einfach wie bei einem Square Dance in<br />

Zeitlupe aufeinander zu und wieder voneinander weg bewegt, sondern sie<br />

drehten sich träge im Kreis, wechselten die Richtung, begaben sich auf<br />

weite Reisen in die Tropen, zu den beiden Polen, begegneten unterwegs<br />

kleineren Landmassen und nahmen diese gleich <strong>mit</strong>. Florida gehörte einst<br />

zu Afrika. Eine Ecke von Staten Island ist, geologisch gesehen, ein Teil<br />

Europas. Die Meeresküste von New England bis Kanada scheint ur-


sprünglich aus Marokko zu stammen. Teile von Grönland, Irland, Schottland<br />

und Skandinavien sind aus dem gleichen Gestein wie der Osten der<br />

USA – im Grunde versprengte Vorposten der Appalachen. Es gibt sogar<br />

Vermutungen, daß selbst so ferne Berge wie die Shackleton Range in der<br />

Antarktis ein Bruchstück aus der Familie der Appalachen ist.<br />

Die Appalachen bildeten sich in drei langen Phasen heraus -ein Vorgang,<br />

den man in der Geologie Orogenese nennt: die takonische, die akadische<br />

und die alleghenische Phase. Die ersten beiden zeichnen im wesentlichen<br />

für den nördlichen Abschnitt der Appalachen verantwortlich, die dritte für<br />

die Mitte und den südlichen Teil. Bei der Berührung oder gar dem Zusammenstoß<br />

der Kontinente rutschte manchmal eine Kontinentalplatte über die<br />

andere, schob den Meeresboden vor sich her und gestaltete so<strong>mit</strong> das Gelände<br />

landeinwärts auf einem Streifen von 200 bis 300 Kilometern vollkommen<br />

um. In anderen Fällen tauchte die eine Platte unter die andere und<br />

hob den Mantel auf, die Folge waren langanhaltende Perioden vulkanischer<br />

Aktivitäten und Erdbeben. Manchmal wurden bei den Kollisionen Gesteinsschichten<br />

durchstoßen, als würden Karten neu gemischt.<br />

Die Versuchung liegt nahe, sich diesen Vorgang als gigantischen Zusammenstoß<br />

zweier Autos vorzustellen, aber natürlich geschah das alles <strong>mit</strong><br />

unendlicher Langsamkeit. Der protoatlantische Ozean, der Urozean, der<br />

während einer der ersten Spaltungen der Landmasse den Raum zwischen<br />

den Kontinenten ausfüllte, sieht auf den Darstellungen der meisten Lehrbücher<br />

immer wie eine zufällige Pfütze aus – in Abbildung 9A noch vorhanden,<br />

in Abbildung 9B verschwunden, als wäre für einen Tag die Sonne<br />

herausgekommen und hätte das Wasser verdunsten lassen –, dennoch existierte<br />

er viel länger, 100 Millionen Jahre länger als der Atlantische Ozean,<br />

so wie wir ihn kennen. Das gleiche gilt für die Entstehung der Berge. Würde<br />

man sich in eine der Phasen der Gebirgsbildung der Appalachen zurückversetzen,<br />

würde man auch nicht merken, daß große geologische Veränderungen<br />

vor sich gingen, genauso wenig wie wir heute spüren, daß Indien<br />

sich in einen Teil Asiens bohrt – wie ein Lastwagen, der sich selbständig<br />

gemacht hat, in eine Schneeverwehung – und den Himalaja Jahr für Jahr um<br />

etwa einen Millimeter anhebt.<br />

Kaum waren die Berge aufgetürmt, fingen sie auch schon ebenso unvermeidlich<br />

an zu erodieren. Trotz ihrer scheinbaren Beständigkeit sind Berge<br />

höchst vergängliche landschaftliche Merkmale. In seinem Buch Physik in<br />

der Berghütte: Von Gipfeln, Gletschern und Gesteinen rechnet der Autor<br />

und Geologe James S. Trefil vor, daß ein durchschnittlicher Gebirgsbach<br />

jährlich 28 Kubikmeter Bergmasse abträgt, meist in Form von Sandgranulat<br />

und anderen Schwebepartikeln. Das entspricht ungefähr der Lademenge<br />

eines durchschnittlichen Muldenkippers – nicht allzu viel. Man stelle sich


vor, so ein Kipper führe einmal im Jahr am Fuß eines Berges vor, nähme<br />

eine einzige Ladung auf, führe davon und käme erst nach zwölf Monaten<br />

wieder. Bei dem Tempo erscheint es fast unmöglich, einen ganzen Berg auf<br />

diese Weise abzutragen – steht jedoch genügend Zeit zur Verfügung, geschieht<br />

genau das. Angenommen, der Berg ist 1.500 Meter hoch und hat<br />

eine Gesteinsmasse von 14 Milliarden Kubikmetern – das entspricht ungefähr<br />

der Größe des Mount Washington – dann könnte ein einziger Gebirgsbach<br />

ihn in 500 Millionen Jahren dem Erdboden gleichmachen.<br />

Natürlich gibt es in den meisten Gebirgen mehrere Bäche darüber hinaus<br />

sind Berge noch einer breiten Palette anderer Faktoren ausgesetzt, die zu<br />

einer Reduzierung ihrer Masse führen, angefangen bei den säurehaltigen<br />

Sekreten von Flechten – geringe Mengen, die aber sehr wirkungsvoll sind –<br />

bis hin zum Abrieb durch Eisschichten. Die meisten Berge verschwinden<br />

daher sehr viel schneller, ungefähr in zwei statt in 500 Millionen Jahren.<br />

Gegenwärtig schrumpfen die Appalachen durchschnittlich um 0,03 Millimeter<br />

pro Jahr. Sie haben diesen Zyklus mindestens schon zweimal durchlaufen,<br />

wahrscheinlich aber sogar mehr als zweimal – erst zu enormen Höhen<br />

erhoben, dann auf Null abgetragen und anschließend wieder erhoben,<br />

wobei die Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzten, jedesmal in<br />

einem äußerst komplizierten geologischen Verfahren recycelt wurden.<br />

Die Details dieser Entwicklung sind reine Theorie, versteht sich. Nur sehr<br />

wenig gilt als allgemein gesicherte Erkenntnis. Manche Wissenschaftler<br />

sind der Ansicht, die Appalachen hätten noch eine frühere, vierte Gebirgsbildungsphase<br />

durchlaufen, die Grenville Orogenese, und daß es davor noch<br />

mehr gegeben haben könnte. Ebenso kann sich Pangäa nicht nur dreimal<br />

aufgespalten und wieder vereinigt haben, sondern ein dutzend- oder vielleicht<br />

hundertmal. Darüber hinaus gibt es einige Ungereimtheiten in dieser<br />

Theorie, allen voran die Tatsache, daß kaum direkte Hinweise auf eine<br />

Kollision der Kontinentalplatten existieren, was seltsam, ja unerklärlich ist,<br />

wenn man davon ausgeht, daß sich mindestens drei Kontinente über einen<br />

Zeitraum von 150 Millionen Jahren <strong>mit</strong> enormen Kräften ihren jeweiligen<br />

Plattenrand abgeschliffen haben. Zu erwarten wäre eine Art Nahtstelle, eine<br />

Schicht von Schrammspuren, die sich an der östlichen Meeresküste der<br />

Vereinigten Staaten befinden müßte. Diese Schicht gibt es jedoch nicht.<br />

Ich bin kein Geologe. Man braucht mir nur ein ungewöhnliches Stück<br />

Grauwacke oder einen hübschen Brocken Gabbro zu präsentieren, und ich<br />

betrachte ihn andachtsvoll und höre mir höflich die dazugehörigen Erläuterungen<br />

an, aber eigentlich sagen sie mir überhaupt nichts. Wenn man mir<br />

erklärt, das sei früher einmal Schlick auf dem Meeresboden gewesen, der<br />

durch einen unglaublichen, fortlaufenden Prozeß tief ins Erdinnere gedrückt,<br />

dort Millionen Jahre geknetet, gebacken und anschließend an die


Oberfläche geschleudert worden sei, was die herrlichen Furchen, die leuchtenden,<br />

vitrophyrischen Kristalle und das schuppige, biotische Glimmern<br />

erkläre, kann ich nur antworten: »Meine Güte! Sagen Sie bloß!« Aber ich<br />

könnte nicht behaupten, daß ich dabei irgend etwas Spektakuläres empfinden<br />

würde.<br />

Nur gelegentlich ist mir ein Einblick in die Wunderwelt der Geologie vergönnt.<br />

Delaware Water Gap ist ein solcher Ort. Hier ragt der Kittatinny<br />

Mountain über dem ruhigen Delaware River auf, eine Wand aus Stein, 400<br />

Meter hoch, aus widerstandsfähigem Quarzit, der freigelegt wurde, als sich<br />

der gleichmäßige, gemächliche Wasserlauf auf seinem Weg zum Meer eine<br />

Passage durch weicheres Gestein suchte. Das Ergebnis ist ein Querschnitt<br />

durch einen Berg und ein Anblick, den man nicht alle Tage geboten bekommt,<br />

jedenfalls -wüßte ich nicht, wo man so etwas entlang des Appalachian<br />

Trail sonst noch bewundern könnte. Und dieser hier ist besonders<br />

eindrucksvoll, weil der freigelegte Quarzit in langen, wellenförmigen Streifen<br />

angeordnet ist, die in einem so schrägen Winkel zueinander liegen –<br />

etwa 45 Grad - daß selbst ein <strong>mit</strong> bescheidener Phantasie ausgestatteter<br />

Mensch begreift, daß sich hier etwas Grandioses zugetragen hat, geologisch<br />

gesehen.<br />

Es ist ein wunderschöner Anblick. Vor 100 Jahren wurde er <strong>mit</strong> dem Rhein<br />

verglichen und sogar <strong>mit</strong> den Alpen, was ich ein wenig übertrieben finde.<br />

Der Maler Georges Innes kam hierher und malte sein berühmtes Bild »Delaware<br />

Water Gap«. Es zeigt den Fluß, der sich träge durch wiesenartige<br />

Felder schlängelt, in denen vereinzelt Bäume und Farmhäuser stehen; fern<br />

im Hintergrund ragen herbstlich gefärbte Hügel auf, in die ein V eingekerbt<br />

ist, durch das der Delaware fließt. Es sieht aus wie eine Landschaft in Yorkshire<br />

oder Cumbria, die auf den amerikanischen Kontinent verpflanzt worden<br />

ist. Um die Mitte des letzten Jahrhunderts erhob sich ein stolzer Bau am<br />

Flußufer, das Hotel Kittatinny House <strong>mit</strong> 250 Zimmern, das so erfolgreich<br />

war, daß sehr schnell weitere Hotels folgten. Für die Dauer einer Generation<br />

nach dem Bürgerkrieg war der Delaware Water Gap der beliebteste Ferienort<br />

der feineren Gesellschaft im Sommer. Dann wechselte – wie immer in<br />

solchen Fällen – die Mode, und die White Mountains waren angesagt, danach<br />

die Niagara-Fälle, dann die Catskills und schließlich die Disney Parks.<br />

Heute kommt fast niemand mehr nach Water Gap, um ein paar Tage zu<br />

bleiben. Noch immer drängen sich Menschenmassen hier, aber sie kommen<br />

<strong>mit</strong> Autos, halten an einem Rastplatz an, werfen kurz einen anerkennenden<br />

Blick auf die Sehenswürdigkeit, steigen wieder ein und fahren weiter.<br />

Leider muß man sich heute schon sehr anstrengen, um eine Vorstellung von<br />

der stillen Schönheit zu ergattern, die Innes einst so angezogen hat. Water<br />

Gap ist nicht nur die einzige Attraktion im Osten Pennsylvanias, die man als


spektakulär bezeichnen könnte, Water Gap ist in der Region der Poconos<br />

auch die einzige Lücke in den Appalachen, die sich dem Verkehr bietet.<br />

Folglich ist dieser schmale Landsockel vollgestopft <strong>mit</strong> Bundes- und Landstraßen,<br />

einer Eisenbahnlinie und einem Interstate Highway <strong>mit</strong> einer langen,<br />

phantasielosen Betonbrücke, über die ein endloser Strom von Lastwagen<br />

und Autos zwischen Pennsylvania und New Jersey hin und her fließt.<br />

McPhee hat in dem Buch In Suspect Terrain ein passendes Bild dafür gefunden:<br />

»Hier laufen Röhren zusammen, die zu einem Patienten auf einer<br />

Intensivstation führen.«<br />

Trotz alledem – Kittatinny Mountain, wie er sich auf der Seite von New<br />

Jersey über den Fluß erhebt, ist ein unwiderstehlicher Anblick, und man<br />

kann – das heißt, ich konnte es nicht, und schon gar nicht an jenem Tag –<br />

den Wunsch, ihn zu besteigen und von dort oben herabzusehen, kaum unterdrücken.<br />

Ich stellte meinen Wagen an einem Informationszentrum am<br />

Fuß des Berges ab und begab mich auf meinen Marsch durch den einladenden<br />

grünen Wald. Es war ein Morgen wie aus dem Bilderbuch: taufrisch<br />

und kühl, doch die Sonne und die laue Luft versprachen bereits Hitze für die<br />

Mittagsstunden; aber ich war früh genug dran, um einen Tagesausflug zu<br />

schaffen. Ich mußte das Auto erst am nächsten Tag wieder zu Hause in New<br />

Hampshire abliefern, aber ich war fest entschlossen, wenigstens eine ordentliche<br />

Tageswanderung zu machen, um einiges von dem Debakel, zu<br />

dem diese Reise für mich geworden war, wieder wettzumachen. Zum Glück<br />

hatte ich eine gute Wahl getroffen. Ich ging in<strong>mit</strong>ten von Hunderten Hektar<br />

herrlichen Waldes, den sich der Worthington State Forest und die Delaware<br />

Water Gap National Recreation Area <strong>mit</strong>einander teilten. Der Weg war<br />

gepflegt und gerade so steil, daß man das Gefühl bekam, ein gesundheitsförderndes<br />

Training zu absolvieren und sich keiner zwanghaften Quälerei<br />

zu unterziehen.<br />

Es kam noch ein weiterer Pluspunkt hinzu: Ich hatte ausgezeichnete Karten.<br />

Ich befand mich nämlich inzwischen kartographisch in den guten Händen<br />

der New York - New Jersey Trail Conference, deren Karten sehr detailliert<br />

und vierfarbig sind. Grün steht für Wald, Blau für Wasser, rot sind die<br />

Wanderwege, und die Beschriftung ist schwarz. Die Bezeichnungen sind<br />

klar und deutlich, die Karten haben einen vernünftigen Maßstab, 1:36.000,<br />

und sie enthalten alle Verbindungsstraßen und Nebenwanderwege. Es<br />

scheint so, als wollten die Kartographen, daß man jederzeit weiß, wo man<br />

sich gerade befindet, und daß man seine Freude an diesem Wissen hat.<br />

Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein erhebendes Gefühl das ist, immer<br />

sagen zu können: »Ah, ja! Genau, das ist Dunnfield Creek.« Oder:<br />

»Das da unten muß Shawnee Island sein.« Wenn alle Karten des AT nur<br />

annähernd so gut wären, hätte ich deutlich mehr Freude an der Wanderung


gehabt – schätzungsweise 25 Prozent mehr. Es ging mir erst jetzt auf, daß<br />

meine Gleichgültigkeit gegenüber meiner Umgebung vorher schlicht und<br />

ergreifend daher rührte, daß ich nicht wußte, wo ich mich befand, gar nicht<br />

in der Lage war, es zu wissen. Jetzt konnte ich mich wenigstens orientieren,<br />

den Weg erahnen, in Kontakt treten <strong>mit</strong> einer sich verändernden und erfahrbaren<br />

Landschaft.<br />

Und so wanderte ich acht höchst angenehme Kilometer den Kittatinny hinauf<br />

zum Sunfish Pond, einem sehr hübschen, 16 Hektar großen See, umgeben<br />

von Wald. Unterwegs traf ich nur zwei andere Wanderer – beide waren<br />

Tagestouristen –, und wieder dachte ich mir, was für eine maßlose Übertreibung<br />

es ist zu sagen, der Appalachian Trail sei überlaufen. 30 Millionen<br />

Menschen leben im Umkreis von zwei Autostunden von Water Gap -New<br />

York liegt 110 Kilometer östlich, Philadelphia ein Stück weiter südlich –,<br />

und es war ein makelloser Sommertag. Der Wald in seiner majestätischen<br />

Schönheit gehörte trotzdem nur uns Dreien.<br />

Für den Trail-Wanderer Richtung Norden ist Sunfish Pond eine echte Neuheit,<br />

denn südlich von hier findet man keinen Bergsee in dieser Höhe. Tatsächlich<br />

ist er das erste glaziale Merkmal: Bis hierher reichte während der<br />

letzten Eiszeit die Eisdecke. Der weiteste Vorstoß in New Jersey liegt ungefähr<br />

16 Kilometer südlich von Water Gap, aber selbst hier, wo das Klima<br />

ein weiteres Vorrücken verhinderte, war die Eisdecke immer noch 600 Meter<br />

dick gewesen.<br />

Das muß man sich mal vorstellen – eine Wand aus Eis, über einen halben<br />

Kilometer hoch, und dahinter Zehntausende Quadratkilometer noch mehr<br />

Eis, lediglich durchbrochen von den Gipfeln der höchsten Berge. Wir vergessen<br />

meist, daß wir uns heute immer noch in einer Eiszeit befinden, bloß<br />

erleben wir sie hautnah nur während eines Teils des Jahres. Schnee, Eis und<br />

Kälte sind keine typischen Merkmale der Erde. Langfristig gesehen, ist die<br />

Antarktis eigentlich ein Dschungel. (Er hat nur gerade eine leichte Erkältung.)<br />

Auf dem Höhepunkt der Eiszeit, vor 20.000 Jahren, lag ein Drittel der<br />

Erde unter Eis, heute sind es immer noch zehn Prozent. In den letzten zwei<br />

Millionen Jahren hat es bestimmt ein Dutzend Eiszeiten gegeben, von denen<br />

jede etwa 100.000 Jahre dauerte. Die jüngste Intrusion, die Wisconsin-Eisdecke,<br />

erstreckte sich von den Polarregionen über weite Teile Europas und<br />

Nordamerikas, erreichte eine Dicke von bis zu 3.000 Meter und rückte <strong>mit</strong><br />

einer Geschwindigkeit von 120 Meter pro Jahr vor. Der Meeresspiegel sank<br />

um 140 Meter, da die Decke alle freien Wasserreservoirs der Erde in sich<br />

aufsaugte. Dann, vor 10.000 Jahren, fing die Decke an zu schmelzen und<br />

sich zurückzuziehen, nicht über Nacht, aber allmählich. Man hat bis heute<br />

keine Erklärung dafür. Sie hinterließ eine völlig umgestaltete Landschaft,<br />

schüttete Long Island, Cape Cod, Nantucket und den größten Teil von


Martha’s Vineyard auf, wo sich vorher nur Wasser befunden hatte, und hob<br />

neben vielen anderen auch die Becken der Great Lakes, der Hudson Bay<br />

und den kleinen Sunfish Pond aus. Jeder Quadratmeter der Landschaft nördlich<br />

von hier hat Narben, Kerben und andere Spuren der letzten Vereisung<br />

davongetragen – verstreute Felsbrocken, die sogenannten Findlinge, Moränen,<br />

Geschiebehügel, Bergseen, Kare. Ich betrat eine neue Welt.<br />

Über die vielen Eiszeiten der Erde weiß man nur sehr wenig - warum sie<br />

kamen, warum sie aufhörten, ob und wann sie wiederkommen. Eine interessante<br />

Theorie, wenn man an unsere gegenwärtige Sorge um die Erderwärmung<br />

denkt, besagt, daß die Eiszeiten nicht durch sinkende, sondern durch<br />

steigende Temperaturen entstanden sind. Warmes Wetter führe zu stärkerem<br />

Niederschlag, dieser wiederum zu einer dichteren Wolkendecke, was<br />

eine geringere Schneeschmelze in höheren Regionen zur Folge habe. Es<br />

braucht nicht allzu viel schlechtes Wetter, um eine Eiszeit auszulösen.<br />

Gwen Schultz bemerkt dazu in ihrem Buch Ice Age Lost: »Nicht die<br />

Schneemenge allein verursacht Eisdecken, sondern die Tatsache, daß der<br />

Schnee, und sei es noch so wenig, liegenbleibt.« Was den Niederschlag<br />

betrifft, führt sie weiter aus, sei die Antarktis »das trockenste Gebiet der<br />

Erde, trockener als jede Wüste«.<br />

Und noch ein weiterer interessanter Gedanke: Sollten sich heute wieder<br />

neue Gletscher bilden, dann könnten sie sich aus erheblich mehr Wasserreservoirs<br />

speisen als früher – Hudson Bay, die Great Lakes, die 100.000<br />

kleinen Seen in Kanada standen für die letzten Eisdecken noch nicht zur<br />

Verfügung – und würden viel schneller wachsen. Wie würden wir uns verhalten,<br />

sollten in naher Zukunft tatsächlich neue Gletscher vorrücken? Würden<br />

wir sie <strong>mit</strong> TNT oder gar Atomsprengköpfen beschießen? Das ist<br />

durchaus wahrscheinlich. Dabei sollten wir aber eines bedenken: 1964 wurde<br />

Alaska durch das schwerste, jemals in Nordamerika registrierte Erdbeben<br />

erschüttert, von 200.000 Megatonnen geballter Energie, was der zerstörerischen<br />

Kraft von 2.000 Atombomben entspricht. In Texas, 5.000 Kilometer<br />

entfernt, schwappte dabei das Wasser über die Ränder der Swimmingpools,<br />

in Anchorage sackte eine Straße sechs Meter tief ab. Das Erdbeben verwüstete<br />

60.000 Quadratkilometer Wildnis, der größte Teil davon vergletschert.<br />

Und welche Auswirkungen hatte das Erdbeben auf Alaskas Gletscher?<br />

Nicht die geringsten.<br />

Gleich hinter dem See befand sich ein Nebenwanderweg, der Garvey<br />

Springs Trail, der steil bergab, zu einer alten, asphaltierten Straße am Fluß<br />

entlangführte, direkt unterhalb von Tocks Island, und der mich in einem<br />

weiten Bogen zurück zu dem Informationszentrum bringen würde, wo ich<br />

mein Auto abgestellt hatte. Das waren sechseinhalb Kilometer, und es wur-


de langsam warm, aber die Straße war schattig und kaum befahren, drei Autos<br />

in einer Stunde, und so glich meine Wanderung einem gemütlichen<br />

Spaziergang, <strong>mit</strong> friedlichen Ausblicken über üppige Wiesen auf den Fluß.<br />

Nach amerikanischen Maßstäben ist der Delaware kein sonderlich beeindruckender<br />

Wasserlauf, aber ein Umstand ist charakteristisch für ihn. Es ist<br />

praktisch der letzte bedeutende Fluß in den Vereinigten Staaten, der nicht<br />

verbaut ist. Das mag manchen als ein unschätzbarer Gewinn erscheinen –<br />

ein Fluß, der so verläuft, wie die Natur ihn geschaffen hat. Eine Folge dieses<br />

unregulierten Verlaufs sind jedoch die regelmäßigen Überschwemmungen.<br />

1955 gab es eine Flut, die noch heute als »die große Flut« bezeichnet<br />

wird, wie Frank Dale in seinem ausgezeichneten Buch Delaware<br />

Diary feststellt. Im August – ironischerweise auf dem Höhepunkt einer der<br />

schlimmsten Dürreperioden seit Jahrzehnten – suchten nacheinander zwei<br />

Wirbelstürme den Bundesstaat North Carolina heim und brachten die Wetterverhältnisse<br />

an der gesamten Ostküste gehörig durcheinander. Der erste<br />

brachte in zwei Tagen 25 Zentimeter Niederschlag in die Region des Delaware<br />

River Valley Zwei Tage später gingen in weniger als 24 Stunden noch<br />

einmal 25 Zentimeter Regen in dem Tal nieder. In Camp Davis, einem<br />

Erholungsort, flüchteten 46 Menschen, meist Frauen und Kinder, vor den<br />

steigenden Wassermassen in das Hauptgebäude der Ferienanlage, zuerst ins<br />

Erdgeschoß, dann in den ersten Stock, und < schließlich auf den Dachboden.<br />

Doch es half nichts. Gegen Mitternacht rollte eine neun Meter hohe<br />

Flutwelle durch das Tal und riß das Gebäude <strong>mit</strong>. Erstaunlicherweise überlebten<br />

neun Menschen das Unglück.<br />

Brücken wurden weggefegt und Uferstädte überschwemmt, bevor der Tag<br />

zu Ende ging, war der Delaware River um 13 Meter gestiegen. Als der Pegelstand<br />

endlich fiel, waren 400 Menschen umgekommen und das gesamte<br />

Delaware Valley war verwüstet.<br />

Dann mischte sich das U.S. Army Corps of Engineers <strong>mit</strong> einem Plan in das<br />

schlammige Chaos, der den Bau eines Damms in Tocks Island vorsah, unweit<br />

der Stelle, an der ich mich gerade befand. Der Damm sollte nicht nur<br />

den Fluß zähmen, sondern es sollte auch ein neuer Nationalpark dabei entstehen,<br />

in dessen 3 Zentrum sich ein 65 Kilometer langer See für diverse<br />

Freizeitaktivitäten befinden sollte. 8.000 Anwohner wurden umgesiedelt.<br />

Das ganze Projekt war sehr unprofessionell vorbereitet. Einer der Vertriebenen<br />

war blind. Vielen Farmern wurde ihr Grund und Boden nur teilweise<br />

abgekauft, so daß manche zum Schluß <strong>mit</strong> Ackerland, aber ohne Haus –<br />

oder <strong>mit</strong> Haus, aber ohne Ackerland dastanden. Eine Frau, deren Familie<br />

dasselbe Stück Land seit dem 18. Jahrhundert bewirtschaftete, wehrte sich<br />

<strong>mit</strong> Händen und Füßen, als sie aus ihrem Haus getragen wurde – zur Freude<br />

der Zeitungsreporter und Fernsehteams.


Die Bauten des Army Corps of Engineers sind berüchtigt für ihre schlechte<br />

Qualität. Ein Damm über den Missouri River in Nebraska verschlammte so<br />

stark, daß ein widerlicher Schlick in die Kanalisation von Niobrara drang,<br />

was schließlich zur Zwangsevakuierung der Stadt führte. Einmal brach ein<br />

vom Corps of Engineers errichteter Damm in Idaho. Zum Glück geschah es<br />

in einem dünn besiedelten Gebiet, und es hatte eine Vorwarnung gegeben.<br />

Dennoch wurden viele Kleinstädte überschwemmt, und elf Menschen verloren<br />

ihr Leben. Aber das waren alles kleine Dämme. Mit dem Bau von Tocks<br />

Island wäre eines der größten Wasserreservoires der Welt entstanden, die<br />

Wassermassen des 65 Kilometer langen Sees hätten gegen das Bauwerk<br />

gedrückt. Flußabwärts befanden sich vier große Städte, Trenton, Camden,<br />

Wilmington, Philadelphia und Hunderte kleinerer Gemeinden. Eine Katastrophe<br />

am Delaware hätte alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt.<br />

Und jetzt schickte sich das rührige Army Corps of Engineers an, 950 Millionen<br />

Kubikmeter Wasser <strong>mit</strong> Moränenschutt zu stauen, der berüchtigt ist<br />

für seine Instabilität. Darüber hinaus gab es umweltpolitische Bedenken –<br />

zum Beispiel würde der Salzgehalt im Boden unter dem Damm gefährlich<br />

steigen und das ökologische Gleichgewicht flußabwärts zerstören, von den<br />

Austernbänken der Delaware Bay ganz zu schweigen.<br />

Nach jahrelangem zunehmenden Widerstand, der nicht allein aus dem Delaware<br />

Valley kam, sondern sich darüber hinaus ausweitete, wurde der Plan<br />

1992 endlich auf Eis gelegt, aber bis dahin waren bereits Farmhäuser und<br />

ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden. Ein stilles, einsames,<br />

wunderschönes Tal, das sich in 200 Jahren kaum verändert hatte, war für<br />

immer verloren. »Für den AT ergab sich aus dem (aufgegebenen) Projekt<br />

ein Vorteil«, heißt es dazu im Appalachian Trail Guide to New York and<br />

New Jersey, »das vom Staat gekaufte Land für das geplante Naherholungsgebiet<br />

ist heute ein geschützter Korridor.«<br />

Solche Sprüche konnte ich allmählich nicht mehr hören. Ich weiß, daß der<br />

Appalachian Trail einem die Wildnis näherbringen soll, und ich sehe ein,<br />

daß es zahlreiche Gebiete gibt, wo der Eingriff des Menschen eine Tragödie<br />

bedeuten würde, aber manchmal, so wie hier, reagiert die ATC geradezu<br />

pathologisch auf menschlichen Kontakt. Ich hätte nichts dagegen gehabt,<br />

zur Abwechslung mal durch ein Dörfchen zu wandern, vorbei an Farmen,<br />

statt durch einen totenstillen »geschützten Korridor«.<br />

Zweifellos hat das alles <strong>mit</strong> unserem historisch begründeten Drang, die<br />

Wildnis zu zähmen und auszubeuten, zu tun, aber Amerikas Einstellung zur<br />

Natur ist in vieler Hinsicht sehr sonderbar. Ich konnte nicht umhin, meine<br />

Erfahrungen auf dem AT <strong>mit</strong> einer anderen Wanderung zu vergleichen, die<br />

ich ein paar Jahre zuvor durch Luxemburg gemacht hatte, und zwar im Auftrag<br />

einer Zeitschrift und zusammen <strong>mit</strong> meinem Sohn. Luxemburg eignet


sich hervorragend zum Wandern, besser als man denkt. Es gibt viel Wald,<br />

aber auch Burgen, Bauernhäuser, Dörfer <strong>mit</strong> Kirchtürmen und romantische<br />

Flußtäler – Europa im Paket sozusagen. Die Wanderwege, die wir entlanggingen,<br />

führten hauptsächlich durch Wald, tauchten aber in Abständen wieder<br />

daraus hervor und verliefen über sonnenbeschienene Nebenstraßen, über<br />

Zauntritte durch Felder und Weiler. Irgendwann im Laufe des Tages kamen<br />

wir immer an einer Bäckerei oder einer Post vorbei, hörten die Türglocke<br />

eines Ladens bimmeln und konnten Gesprächen lauschen, von denen wir<br />

kein Wort verstanden. Jeden Abend kehrten wir in einer Pension ein und<br />

aßen in einem Restaurant, saßen zusammen <strong>mit</strong> anderen Leuten an einem<br />

Tisch. Wir lernten Luxemburg kennen, nicht nur seine Bäume. Es war herrlich,<br />

und zwar deswegen, weil die reizende kleine Besichtigung nahtlos und<br />

mühelos in die Wandertour überging und umgekehrt.<br />

In Amerika dagegen ist die Schönheit der Natur zu diversen Ausflugszielen<br />

verkommen, die man <strong>mit</strong> dem Auto aufsucht. Und was die Natur selbst<br />

betrifft, heißt es entweder/oder – entweder macht man sie sich gnadenlos<br />

Untertan, wie im Fall von Tocks-Damm und in tausend anderen Fällen, oder<br />

man vergöttert sie als etwas Heiliges, Entrücktes, Losgelöstes, wie den Appalachian<br />

Trail. Selten kommt ein Vertreter der einen oder anderen Seite auf<br />

die Idee, daß Mensch und Natur auch zusammengehen können, zu beiderseitigem<br />

Vorteil, daß eine elegantere Brücke über den Delaware River, um<br />

nur ein Beispiel zu nennen, die grandiose Umgebung erst richtig zur Geltung<br />

bringen kann, oder daß der AT interessanter und attraktiver sein könnte,<br />

wenn er nicht ausschließlich durch die Wildnis verliefe, sondern wenn er<br />

den Wanderer ab und zu auch mal an weidenden Kühen oder bestellten<br />

Feldern vorbeiführte.<br />

Ich hätte es viel schöner gefunden, wenn im AT-Führer zu lesen gewesen<br />

wäre: Dank den Bemühungen der Conference konnte im Delaware River<br />

Valley der Ackerbau wieder eingeführt und der Wanderweg neu verlegt<br />

werden, so daß er jetzt 25 Kilometer Uferweg umfaßt, denn ehrlich gesagt:<br />

Manchmal kann man auch von Bäumen genug haben.<br />

Trotzdem sollte man das Positive hervorheben. Wenn es nach dem Army<br />

Corps of Engineers gegangen wäre, müßte ich jetzt zu meinem Auto zurückschwimmen,<br />

und ich war dankbar, daß mir wenigstens das erspart<br />

blieb.<br />

Auf jeden Fall wurde es höchste Zeit für mich, mal wieder richtig zu wandern.


16. Kapitel<br />

1983 behauptete ein Mann steif und fest, ihm sei beim Wandern in den<br />

Berkshire Hills in Massachusetts, ein Stück abseits des Appalachian Trail,<br />

ein Berglöwe über den Weg gelaufen. Das klang beunruhigend und gleichzeitig<br />

unglaubwürdig, war doch seit 1903, als das letzte Exemplar dieser<br />

Gattung im Staat New York erschossen worden war, in den USA kein Berglöwe<br />

mehr gesichtet worden.<br />

Bald kamen aus allen Teilen New Englands ähnlich lautende Berichte. Ein<br />

Mann hatte auf einer Nebenstraße in Vermont zwei junge Tiere auf einer<br />

Böschung spielen sehen, vor zwei anderen Wanderern war ein Muttertier<br />

<strong>mit</strong> zwei Jungen über eine Wiese in New Hampshire spaziert. Jedes Jahr<br />

gab es ein halbes Dutzend oder noch mehr ähnlich lautende Berichte, und<br />

alle stammten von glaubwürdigen Zeugen. Im Winter 1994 ging ein Farmer<br />

in Vermont über seinen Hof, um Futter in eine Vogelkrippe zu streuen, als<br />

er in etwa 20 Meter Entfernung drei Berglöwen entdeckte. Er sah die Tiere<br />

minutenlang wie versteinert an – Berglöwen sind geschickte und gefährliche<br />

Raubtiere, und hier standen gleich drei, die ihn <strong>mit</strong> ruhigem Blick musterten<br />

–, dann raste er zum nächsten Telefon und meldete seine Beobachtung<br />

einem Biologen der staatlichen Tierschutzbehörde. Die Tiere waren bei<br />

der Ankunft des Mannes natürlich längst verschwunden, aber der Biologe<br />

fand frischen Kot, den er pflichtbewußt eintütete und an das U.S. Fish and<br />

Wildlife Laboratory schickte. Der Laborbefund bestätigte, daß es sich tatsächlich<br />

um die Hinterlassenschaft eines Felis concolor handelte, eines<br />

östlichen Berglöwen, der verschiedentlich und ehrerbietig auch als Panther,<br />

Silberlöwe, Puma und, vor allem in New England, als Wildkatze bezeichnet<br />

wird.<br />

Diese Meldungen fanden mein lebhaftes Interesse, denn ich wanderte gerade<br />

unweit der Stelle, an der so eine Kreatur zum ersten Mal gesehen worden<br />

war. Ich war <strong>mit</strong> neuem Eifer, neuer Entschlossenheit und einem neuen Plan<br />

wieder auf den Appalachian Trail zurückgekehrt. Ich hatte mir vorgenommen,<br />

durch New England zu wandern oder jedenfalls so viele Kilometer der<br />

Strecke zu absolvieren, wie ich schaffen konnte, bis Katz in sieben Wochen<br />

wieder dazustoßen und <strong>mit</strong> mir die Hundred Mile Wilderness in Maine<br />

abgehen würde. In New England führt der Trail fast 1.120 Kilometer weit<br />

über wunderschöne bergige Wanderwege; das ist knapp ein Drittel der Gesamtlänge<br />

des AT, und es reichte, um mich bis August zu beschäftigen. Zu<br />

diesem Zweck brachte mich meine hilfsbereite Frau <strong>mit</strong> dem Auto in den<br />

Südwesten von Massachusetts und setzte mich für meine dreitägige Tour<br />

durch die Berkshires an einer Stelle des Trails unweit von Stockbridge ab.<br />

Genau da also befand ich mich an einem heißen Junimorgen, stapfte schwit-


zend eine steile, aber an sich bescheidene Erhebung, Becket Mountain,<br />

hinauf. Während ein Schwarm abwehr<strong>mit</strong>telresistenter Mücken mich umschwirrte,<br />

faßte ich in meine Tasche, um zu überprüfen, ob mein Messer<br />

noch da war.<br />

Ich rechnete eigentlich nicht da<strong>mit</strong>, einem Berglöwen zu begegnen, aber<br />

erst am Tag zuvor hatte ich in einem Artikel im Boston Globe gelesen, daß<br />

sich Berglöwen im Westen – wo sie definitiv noch nicht ausgerottet sind –<br />

in letzter Zeit in den Wäldern von Kalifornien vermehrt an Wanderer und<br />

Jogger heranpirschten und sie töteten. Es traf sogar den unvermeidlichen<br />

armen Kerl, der <strong>mit</strong> Schürze und lustigem Hütchen an seinem Grill im Garten<br />

stand. Das kam mir wie ein böses Omen vor.<br />

Es ist durchaus möglich, daß Berglöwen in New England unentdeckt überlebt<br />

haben. Rotluchse, die zugegebenermaßen erheblich kleiner sind als<br />

Berglöwen, gibt es wieder in beträchtlicher Zahl, aber die Tiere halten sich<br />

versteckt und sind so scheu, daß man ihre Existenz kaum wahrnimmt. Viele<br />

Ranger kriegen während ihres gesamten Berufslebens kein einziges Exemplar<br />

zu Gesicht, und in den Wäldern im Osten Amerikas finden große Wildkatzen<br />

genügend Platz, um ungehindert herumstreunen zu können. Allein in<br />

Massachusetts gibt es 100.000 Hektar Wald, davon entfallen 40.000 auf die<br />

attraktiven Berkshires. Von meinem augenblicklichen Standort aus hätte<br />

ich, festen Willen und einen unerschöpflichen Nudelvorrat vorausgesetzt,<br />

bis nach Cape Chidley im nördlichen Quebec durchwandern können, 2.900<br />

Kilometer weit bis zur eiskalten Labrador Sea, und kaum je unter dem<br />

schützenden Dach der Bäume hervorzutreten brauchen. Dennoch ist es<br />

höchst unwahrscheinlich, daß von einer so großen Wildkatzenart genug<br />

Exemplare überlebt haben, um sich nicht nur in einem überschaubaren Gebiet,<br />

sondern in ganz New England unbemerkt über neun Jahrzehnte hinweg<br />

fortzupflanzen. Dennoch gab es den von einem Biologen untersuchten Kot.<br />

Und der stammte zweifelsohne von einem Berglöwen.<br />

Die plausibelste Erklärung für die Existenz der Löwen draußen im Wald<br />

war, daß es sich dabei um ausgesetzte Haustiere handelte, die unüberlegt<br />

gekauft worden waren und die man später wieder loswerden wollte. Ich<br />

hätte also noch Glück, wenn mich ein Tier <strong>mit</strong> Flohhalsband und Impfpaß<br />

anfallen würde. Ich stellte mir vor, ich läge auf dem Rücken, würde gerade<br />

genüßlich verspeist und könnte dabei auf der über mir baumelnden Hundemarke<br />

lesen: »Ich heiße Mr. Bojangles. Wer mich findet, ruft bitte Tanya<br />

und Vinny an, Telefon: 924-4667«<br />

Wie die meisten großen Tiere – und jede Menge kleinerer -wurde der Berglöwe<br />

im Osten ausgerottet, weil er als Plage galt. Bis 1940 gab es in vielen<br />

Bundesstaaten im Osten groß angekündigte »Kampagnen zur Schädlingsbekämpfung«,<br />

die häufig vom Amt für Naturschutz durchgeführt wurden. Das


Amt verteilte für jedes erlegte Raubtier, wozu fast alle Tierarten gehörten,<br />

zum Beispiel Habichte, Eulen, Eisvögel, Adler und praktisch jedes größere<br />

Säugetier, Siegerpunkte an die Jäger. West Virginia vergab sogar jährlich<br />

ein Universitätsstipendium an den Studenten, der die meisten Tiere erlegte;<br />

andere Bundesstaaten belohnten die Schützen großzügig <strong>mit</strong> Auszeichnungen<br />

und Bargeld. Mit vernünftigem Tierschutz hatte das wenig zu tun.<br />

Pennsylvania gab in einem Jahr 90.000 Dollar an Prämien für die Tötung<br />

von 130.000 Eulen und Adlern aus, um den Farmern geschätzte Verluste<br />

ihres Viehbestandes in der nicht gerade gigantischen Höhe von 1.875 Dollar<br />

zu ersparen – es kommt schließlich nicht alle Tage vor, daß eine Eule eine<br />

Kuh reißt.<br />

Noch bis 1890 zahlte der Staat New York Prämien für 107 erlegte Berglöwen,<br />

und innerhalb von zehn Jahren war das Tier praktisch ausgerottet. Der<br />

letzte wildlebende Berglöwe im Osten wurde 1920 in den Smokies erschossen.<br />

Der amerikanische Wolf und das Karibu oder nordamerikanische Rentier<br />

wurden ebenfalls in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts aus ihrem<br />

letzten Refugium in den Appalachen vertrieben, gefolgt vom Schwarzbären.<br />

Im Jahre 1900 war der Bestand an Bären in New Hampshire, der heute<br />

wieder auf über 3.000 angewachsen ist, auf gerade mal 50 gesunken.<br />

Es gibt immer noch jede Menge Leben draußen in den Wäldern, aber es<br />

sind vorwiegend kleine Tiere. Einer repräsentativen Schätzung des Ökologen<br />

V E. Shelford von der Umversity of Illinois zufolge leben in den Wäldern<br />

im Osten Amerikas auf einer Fläche von 25 Quadratkilometern durchschnittlich<br />

300.000 Säugetiere – 220.000 Mäuse und andere kleine Nager,<br />

63.500 Eichhörnchen, gestreifte und ungestreifte, 470 Hirsche und Rehe, 30<br />

Füchse und fünf Schwarzbären.<br />

Die großen Verlierer in dieser Region sind die Singvögel. Der schmerzlichste<br />

Verlust war sicher der des Carolina-Sittichs, eines herrlichen, harmlosen<br />

Vogels, der als wildlebendes Tier zahlenmäßig ursprünglich nur noch von<br />

der in unvorstellbaren Mengen vorhandenen Wandertaube übertroffen wurde.<br />

(Als die ersten Siedler nach Amerika kamen, gab es schätzungsweise<br />

neun Milliarden Wandertauben – mehr als doppelt so viel wie alle Vögel<br />

zusammengenommen, die heute in Amerika zu finden sind.) Beide Arten<br />

wurden durch exzessives Jagen ausgerottet – die Wandertaube aus purer<br />

Lust der Jäger, gleich Dutzende von Vögeln beim ziellosen Herumballern<br />

vom Himmel zu holen.<br />

Außerdem dienten die Tiere als Schweinefutter. Der Carolina-Sittich hatte<br />

keine Chance, weil er das Obst der Farmer fraß und auffallende Federn<br />

besaß, die als Hutschmuck bei den Damen Gefallen fanden. 1914 verendeten<br />

in einem Abstand von nur wenigen Wochen die letzten beiden Vertreter<br />

dieser Gattung in Gefangenschaft.


Ein ähnliches Schicksal ereilte die entzückende Bachman-Grasmücke. Der<br />

ohnehin seltene Vogel soll einen der lieblichsten Gesänge gehabt haben.<br />

Jahrelang war das Tier nicht aufzuspüren, dann entdeckten 1914 zufällig<br />

zwei Vogelfänger unabhängig voneinander innerhalb von zwei Tagen je ein<br />

Exemplar. Beide erschossen ihre Beute – saubere Arbeit, Jungs! –, und<br />

da<strong>mit</strong> war es um die Bachman-Grasmücke geschehen. Es ist anzunehmen,<br />

daß noch andere Vögel von der Bildfläche verschwanden, ohne daß es überhaupt<br />

jemand bemerkt hat. John James Audubon hat zum Beispiel drei<br />

Vogelarten gemalt – den kleinköpfigen Fliegenschnäpper, die Mönchsgrasmücke<br />

und die Blue-Mountain-Grasmücke –, die seitdem nicht wieder gesichtet<br />

wurden. Das gleiche gilt für die Townsend-Ammer, von der es nur<br />

ein ausgestopftes Exemplar im S<strong>mit</strong>hsonian Institute in Washington gibt.<br />

Zwischen 1940 und 1980 ging der Bestand der Zugsingvögel im Osten der<br />

Vereinigten Staaten um 50 Prozent zurück (was größtenteils auf den Verlust<br />

von Brutplätzen und anderen lebenswichtigen Winterquartieren in Lateinamerika<br />

zurückzuführen ist); er sinkt manchen Schätzungen zufolge pro<br />

Jahr um weitere drei Prozent. 70 Prozent aller Vogelarten haben seit den<br />

60er Jahren Bestandsverluste erlitten.<br />

Heutzutage herrscht ziemliches Schweigen im Wald.<br />

Am späten Nach<strong>mit</strong>tag trat ich aus dem dichten Wald auf eine Forststraße,<br />

die offenbar nicht mehr in Benutzung war. Mitten auf der Straße stand ein<br />

alter Mann <strong>mit</strong> Rucksack und einem merkwürdigen, verwirrten Ausdruck<br />

im Gesicht, als wäre er soeben aus einer Trance erwacht und wüßte nicht,<br />

wie er hierher geraten wäre. Ein ganzer Schwärm Mücken umkreiste ihn.<br />

»Können Sie mir sagen, wo der Trail weitergeht?« fragte er mich. Eine<br />

seltsame Frage, denn es war klar und deutlich zu erkennen, daß er einfach<br />

auf der anderen Seite weiterging. Direkt vor uns tat sich ein etwa ein Meter<br />

breiter Durchgang zwischen den Bäumen auf, und sollten noch Zweifel<br />

bestehen, leuchtete auf einer kräftigen Eiche die weiße Markierung des AT.<br />

Ich wedelte zum tausendsten Mal an diesem Tag <strong>mit</strong> der Hand vor meinem<br />

Gesicht herum, um die Mücken zu verscheuchen, und deutete <strong>mit</strong> einem<br />

Kopfnicken auf den Durchgang. »Ich würde sagen, da.«<br />

»Ach so, ja«, erwiderte er. »Natürlich.«<br />

Wir traten gemeinsam den Weg durch den Wald an und unterhielten uns<br />

darüber, wo wir heute morgen aufgebrochen waren, was unser Ziel war und<br />

so weiter. Er war ein Weitwanderer, der erste, den ich so weit im Norden<br />

traf, und wollte, wie ich, heute noch bis nach Dalton. Er trug die ganze Zeit<br />

über eine unschlüssige, erstaunte Miene zur Schau und musterte die Bäume<br />

auf eigentümliche Weise, betrachtete sie immer wieder von oben bis unten,<br />

als hätte er so etwas noch nie in seinem Leben gesehen.


»Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.<br />

»Die Leute sagen Chicken John zu mir.«<br />

»Chicken John!« Chicken John war eine Berühmtheit. Ich war ziemlich<br />

aufgeregt. Manche Leute auf dem Trail erlangen wegen irgendeiner besonderen<br />

Eigenart einen geradezu mythischen Status. Am Anfang unserer<br />

Wanderung hörten Katz und ich zum Beispiel dauernd von einem jungen<br />

Mann, der eine absolute Hightech-Ausrüstung besaß, wie man sie bislang<br />

noch nie gesehen hatte, unter anderem ein Zelt, das sich von allein aufstellte.<br />

Offenbar brauchte man nur einen Beutel zu öffnen, und es flog heraus,<br />

wie ein Schachtelteufelchen aus seinem Karton. Außerdem hatte er noch ein<br />

Satellitennavigationsgerät und verschiedenen anderen Hokuspokus. Das<br />

einzige Problem war, daß sein Kucksack am Ende über 40 Kilo wog. Er<br />

mußte aufgeben, bevor er Virginia erreicht hatte, deswegen haben wir ihn<br />

nie gesehen. Im Jahr zuvor hatte sich Woodrow Murphy, der dicke Wanderer,<br />

ähnlichen Ruhm erworben. Mary Ellen wäre diese Ehre sicher auch<br />

zuteil geworden, wenn sie nicht schon längst aufgegeben hätte. Dieses Jahr<br />

war also Chicken John dran – aber ich konnte mich beim besten Willen<br />

nicht mehr an den Grund dafür erinnern. Es war Monate her, daß ich in<br />

Georgia das erste Mal von ihm gehört hatte.<br />

»Woher kommt der Name Chicken John?« fragte ich ihn.<br />

»Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht«, sagte er, als hätte er sich die Frage<br />

auch schon oft gestellt.<br />

»Wann sind Sie losgegangen?«<br />

»Am 27 Januar.«<br />

»Am 27 Januar?« sagte ich leise erstaunt und rechnete rasch im Kopf nach.<br />

»Das sind ja fast fünf Monate.«<br />

»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen«, sagte er <strong>mit</strong> gespieltem Gram.<br />

Er war seit fast einem halben Jahr unterwegs und hatte gerade erst Dreiviertel<br />

der Strecke nach Katahdin zurückgelegt.<br />

»Wieviel -«, ich wußte nicht recht, wie ich mich ausdrücken sollte – »wie<br />

viele Kilometer laufen Sie am Tag, John?«<br />

»Ach, 22 bis 23, wenn alles klappt. Allerdings« – er sah mich scheel an –<br />

»verlaufe ich mich oft.«<br />

Genau. Das war’s. Chicken John verlief sich andauernd und kam an den<br />

unmöglichsten Stellen heraus. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man sich<br />

auf dem Appalachian Trau verirren kann. Er ist der am deutlichsten und<br />

besten markierte Wanderpfad, den man sich vorstellen kann. Gewöhnlich ist<br />

es der Teil des Waldes, wo keine Bäume stehen. Wer zwischen Bäumen und<br />

einer langen, offenen Schneise unterscheiden kann, der dürfte keine<br />

Schwierigkeiten haben, sich auf dem AT zurechtzufinden. Wo auch nur die<br />

geringsten Unsicherheiten auftreten könnten, wenn der AT etwa auf einen


Nebenwanderweg stößt oder eine Straße kreuzt, finden sich immer gut<br />

sichtbare Markierungen. Trotzdem verirren sich manche Leute: die berühmte<br />

Grandma Gatewood zum Beispiel, die unterwegs dauernd irgendwo anklopfte<br />

und sich erkundigte, wo sie sich denn gerade befände.<br />

Ich fragte Chicken John, wie weit der längste Umweg war, den er mal gelaufen<br />

ist.<br />

»60 Kilometer«, sagte er geradezu stolz. »Ich bin auf dem Blood Mountain<br />

in Georgia vom Trail abgekommen – ich weiß bis heute nicht, wie ich das<br />

geschafft habe – und bin drei Tage lang im Wald herumgeirrt, bis ich an<br />

einen Highway kam. Ich dachte schon, jetzt hätte ich mich endgültig ausgetrickst.<br />

Ich landete schließlich in Tallulah Falls, mein Foto kam sogar in die<br />

Zeitung. Die Polizei hat mich am nächsten Tag zurück an den Trail gebracht<br />

und mir die richtige Richtung gezeigt. Die waren wirklich nett.«<br />

»Stimmt es, daß Sie einmal drei Tage hintereinander in die falsche Richtung<br />

gelaufen sind?«<br />

Er nickte zufrieden lächelnd. »Zweieinhalb Tage, um genau zu sein. Zum<br />

Glück kam ich am dritten Tag in eine Stadt, und ich fragte jemanden: Entschuldigen<br />

Sie, junger Mann. Wo bin ich hier?< und er antwortete: >Na, wo<br />

schon? In Damascus, Virginia, Sir.< Ich dachte, hm, komisch, ich war doch<br />

gerade vor drei Tagen in einem Ort <strong>mit</strong> genau demselben Namen. Und dann<br />

habe ich die Feuerwache wiedererkannt.«<br />

»Wie kann man sich bloß -« Ich beschloß, die Frage anders zu formulieren.<br />

»Warum passiert Ihnen das so oft, John?«<br />

»Tja, wenn ich das wüßte, würde ich mich wohl nicht mehr verlaufen«,<br />

sagte er <strong>mit</strong> einem leisen Lachen. »Ich weiß nur, daß ich ab und zu weit<br />

vom Weg abkomme und irgendwo lande, wo ich gar nicht hinwollte. Andererseits<br />

macht es das Leben auch interessant. So habe ich viele nette Leute<br />

kennengelernt, und ich bin oft zum Essen eingeladen worden. Entschuldigen<br />

Sie«, unterbrach er abrupt, »gehen wir auch bestimmt in die richtige<br />

Richtung.«<br />

»Ganz bestimmt.«<br />

Er nickte. »Heute würde ich mich nämlich höchst ungern verlaufen, denn in<br />

Dalton gibt es ein Restaurant.« Das konnte ich gut verstehen. Wenn man<br />

sich schon verirren mußte, dann wenigstens nicht an einem Tag, an dem ein<br />

Restaurantbesuch auf dem Programm stand.<br />

Wir gingen die letzten zehn Kilometer gemeinsam, aber wir redeten nicht<br />

mehr viel <strong>mit</strong>einander. Ich wollte heute meine 30 Kilometer schaffen, die<br />

längste Etappe, die ich je auf meiner Wanderung laufen sollte, und obwohl<br />

die Strecke keine besonderen Schwierigkeiten aufwies und mein Rucksack<br />

recht leicht war, war ich am späten Nach<strong>mit</strong>tag rechtschaffen müde. John<br />

schien ganz zufrieden zu sein, jemanden zu haben, dem er nachlaufen konn-


te, und außerdem hatte er ja genug da<strong>mit</strong> zu tun, die Bäume zu betrachten.<br />

Es war bereits nach sechs Uhr, als wir in Dalton ankamen. John hatte die<br />

Adresse eines Mannes in der Depot Street, der Wanderer in seinem Garten<br />

kampieren ließ, die Dusche sollte man auch benutzen dürfen, und so trabte<br />

ich <strong>mit</strong> John zur nächsten Tankstelle, um nach dem Weg zu fragen. Als wir<br />

aus dem Verkaufsraum traten, ging John genau in die entgegengesetzte<br />

Richtung los.<br />

»Hier geht’s lang, John«, sagte ich.<br />

»Natürlich«, stimmte er mir zu. »Übrigens heiße ich Bernard. Ich weiß auch<br />

nicht, wo die Leute den Namen Chicken John herhaben.«<br />

Ich nickte und versprach ihm, am nächsten Tag auf ihn aufzupassen, aber<br />

ich habe ihn nie wieder gesehen.<br />

Ich verbrachte die Nacht in einem Motel und wanderte am nächsten Tag<br />

weiter nach Cheshire. Es waren nur 14 Kilometer über leichtes Gelände,<br />

aber die Kriebelmücke machte den Weg zu einer einzigen Strapaze. Ich<br />

habe noch nirgendwo eine wissenschaftliche Bezeichnung für diese winzigen,<br />

bösartigen geflügelten Wesen gefunden, ich weiß daher nur, daß sie<br />

massenhaft in der Luft schweben, daß sie einen auf Schritt und Tritt begleiten,<br />

in die Ohren eindringen, in den Mund und selbst in die Nasenlöcher.<br />

Menschlicher Schweiß versetzt sie in orgiastische Ekstase, und Insektenspray<br />

scheint ihre Erregung nur noch zu steigern. Sie sind besonders unbarmherzig,<br />

wenn man zwischendurch mal stehenbleibt, um etwas zu trinken<br />

– so unbarmherzig, daß man schließlich gar nicht mehr anhält und<br />

gleich im Gehen trinkt und danach einen ganzen Mundvoll von diesen Viechern<br />

ausspuckt. Es ist die Hölle auf Erden. Mit einiger Erleichterung verließ<br />

ich daher am frühen Nach<strong>mit</strong>tag ihre waldreichen Jagdgründe und trottete<br />

in das sonnige, träge Örtchen Cheshire.<br />

In Cheshire gab es freie Unterkunft für Wanderer in der Kirche auf der<br />

Main Street. Massachusetts tut überhaupt viel für seine Wanderer, jedenfalls<br />

bin ich häufig an Häusern vorbeigekommen, an denen draußen ein Schild<br />

<strong>mit</strong> der Aufforderung hing, sich doch bitte bei den Apfelbäumen im Garten<br />

zu bedienen, Wasser dürfe man sich auch holen. Ich hatte jedoch keine Lust<br />

auf eine Nacht in einem Etagenbett, noch weniger auf endlose Nach<strong>mit</strong>tagsstunden<br />

ohne eine Beschäftigung, deswegen ging ich weiter bis nach Adams,<br />

6,5 Kilometer über einen knallheißen Highway, aber wenigstens <strong>mit</strong><br />

der Aussicht auf ein Bett in einem Motel und eine Auswahl an Restaurants.<br />

In Adams gab es nur ein Motel, eine Absteige am Stadtrand. Ich nahm mir<br />

ein Zimmer und verbrachte den restlichen“ Nach<strong>mit</strong>tag da<strong>mit</strong>, in der Stadt<br />

herumzustreunen, guckte gelangweilt in die Schaufenster und stöberte in


den Bücherkisten eines Trödelladens. Es gab natürlich nichts Interessantes<br />

außer den üblichen Readers-Digest-Heften und dann ganz obskure Titel,<br />

wie man sie nur in solchen Läden findet: Das große Buch der häuslichen<br />

Kanalisation, oder Nick <strong>mit</strong> dem Kopf, wenn du mich verstehst – Das Leben<br />

<strong>mit</strong> einem Debilen. Danach ging ich ein Stück spazieren, aus der Stadt heraus,<br />

um einen Blick auf Mount Greylock zu werfen, mein Ziel für den nächsten<br />

Tag. Greylock ist die höchste Erhebung in Massachusetts und für Wanderer,<br />

die in Richtung Norden gehen, der erste Berg nach Virginia, der über<br />

900 Meter hoch ist. Es sind nur l .064 Meter bis zum Gipfel, aber da er von<br />

vielen niedrigeren Bergen umgeben ist, sieht er sehr viel gewaltiger aus,<br />

jedenfalls besitzt er etwas Majestätisches, das einen anzieht. Ich freute mich<br />

auf ihn.<br />

Ich brach am nächsten Morgen früh auf, bevor die Mittagshitze Gelegenheit<br />

hatte, sich richtig auszubreiten – ein glühendheißer Tag war vorhergesagt<br />

worden –, machte noch kurz Station in der Stadt, um mir mein Mittagessen<br />

zu kaufen, etwas zu trinken und ein Sandwich, und begab mich dann auf<br />

einen Schotterweg zum Gould Trail, einem Nebenwanderweg, der steil<br />

bergauf zum AT und weiter zum Greylock führte.<br />

Mount Greylock ist <strong>mit</strong> Sicherheit der literarischste Berg der Appalachen.<br />

Herman Melville, der auf der Farm Arrowhead an seiner Westseite lebte,<br />

hatte ihn vom Fenster seines Arbeitszimmers aus im Blick, während er an<br />

seinem Roman Moby Dick schrieb, und seine Umrisse erinnerten ihn an<br />

einen Wal, jedenfalls behaupten das Maggie Stier und Ron McAdow in<br />

ihrem ausgezeichneten Buch Into the Mountains, einer Geschichte der<br />

Berggipfel New Englands. Als Melville <strong>mit</strong> seinem Roman fertig war, stieg<br />

er zusammen <strong>mit</strong> Freunden auf den Gipfel und feierte bis in die Morgenstunden.<br />

Nathaniel Hawthorne und Edith Wharton lebten und arbeiteten<br />

ebenfalls in der Nähe. Eigentlich gibt es zwischen 1850 und 1920 keine in<br />

irgendeiner Art und Weise <strong>mit</strong> New England verbundene literarische Gestalt,<br />

die den Berg nicht wenigstens einmal bestiegen hat oder hinaufgeritten<br />

ist, um die Aussicht zu genießen.<br />

Ironischerweise erfreute sich Greylock auf dem Höhepunkt seines Ruhms<br />

keineswegs der grünen Erhabenheit von heute. Seine Hänge waren krätzig<br />

von den Narben der Abholzung, und die Ausläufer entstellt von Schiefer-<br />

und Marmorhalden. Überall stachen windschiefe Schuppen und Sägewerke<br />

ins Auge. Das alles ist heute verheilt und überwachsen, doch dann wurden<br />

in den 60er Jahren <strong>mit</strong> Unterstützung bundesstaatlicher Behörden in Boston<br />

Pläne für die Erschließung des Greylock als Skigebiet erstellt, <strong>mit</strong> einer<br />

Seilbahn, einem Netz von Sesselliften und einem Gebäudekomplex auf dem<br />

Gipfel, zu dem ein Hotel, Läden und Restaurants gehören sollten – allesamt<br />

in dem schnittigen Jetson-Stil der Zeit. Zum Glück wurde aus diesen Plänen


nichts. Heute erhebt sich der Greylock aus einem 4.700 Hektar großen Naturschutzgebiet.<br />

Er ist ein wirkliches Prachtstück.<br />

Der steile Aufstieg zum Gipfel war schweißtreibend und zog sich endlos<br />

lange hin, aber die Mühe lohnte sich. Das offene, sonnige Gipfelareal, auf<br />

dem ständig ein frischer Wind weht, krönt ein großes, hübsches Steinhaus,<br />

Bascom Lodge, das in den 30er Jahren von den unermüdlichen Kadern des<br />

Civilian Conservation Corps errichtet wurde. Heute beherbergt es ein Restaurant<br />

und Übernachtungsmöglichkeiten für Wanderer. Auf dem Gipfel<br />

befindet sich außerdem ein Leuchtturm, der dort liebenswert anachronistisch<br />

wirkt (Greylock ist 225 Kilometer von der Küste entfernt) und als<br />

Mahnmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus Massachusetts<br />

dient. Ursprünglich war der Turm für den Hafen von Boston gedacht,<br />

aber aus irgendeinem Grund steht er jetzt hier.<br />

Ich verzehrte mein <strong>mit</strong>gebrachtes Mittagessen, ging aufs Klo, wusch mich<br />

in der Lodge und eilte dann weiter, denn ich hatte noch 13 Kilometer zu<br />

laufen und war <strong>mit</strong> meiner Frau um vier Uhr in Williamstown verabredet.<br />

Auf den nächsten fünf Kilometern führte der Weg weitgehend über einen<br />

luftigen Grat, der den Greylock <strong>mit</strong> dem Mount Williams verbindet. Der<br />

Ausblick war spektakulär, über sanfte, grüne Hügel und hinauf bis zu den<br />

Adirondacks, zehn Kilometer weiter westlich, aber es war unglaublich heiß<br />

und selbst hier oben schwül und stickig. Hinzu kam der steile Abstieg, 914<br />

Meter auf fünf Kilometern, zum Glück durch dichten, kühlen, grünen Wald<br />

bis zu einer Nebenstraße, die weiter durch die offene schöne Landschaft<br />

führte.<br />

Außerhalb des Waldes war die Luft drückend. Es ging drei Kilometer über<br />

eine Straße ohne ein Fleckchen Schatten, und der Asphalt war so heiß, daß<br />

ich die Hitze durch meine Schuhsohlen hindurch spürte. Als ich schließlich<br />

in Williamstown ankam, zeigte das Thermometer an einer Bank 36 Grad<br />

Celsius an. Kein Wunder, daß ich so schwitzte. Ich überquerte die Straße<br />

und ging zu Burger King, wo wir uns verabredet hatten. Welch ein Genuß,<br />

aus der Affenhitze eines Sommertages in die kühle, keimfreie Frische eines<br />

klimatisierten Restaurants zu treten. Wenn es einen besseren Grund gibt,<br />

dankbar dafür zu sein, daß man im 20. Jahrhundert lebt, dann kenne ich ihn<br />

nicht.<br />

Ich holte mir ein großes Glas Cola, ließ mich an einem Tisch am Fenster<br />

nieder und fühlte mich durch und durch wohl. Ich hatte 27 Kilometer zurückgelegt,<br />

war bei sehr warmem Wetter über einen einigermaßen schwierigen<br />

Berg gestiegen. Ich war schmutzig, verschwitzt, verständlicherweise<br />

erledigt und stank so, daß sich die Leute nach mir umdrehten. Ich war wieder<br />

ein richtiger Wanderer.


1850 bestand New England zu 70 Prozent aus Ackerland und zu 30 Prozent<br />

aus Wald. Heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Wahrscheinlich gibt<br />

es in der entwickelten Welt keine Region, die in gerade mal einem Jahrhundert<br />

so dramatische Veränderungen erlebt hat, oder jedenfalls keine, die<br />

dem normalen Verlauf des Fortschritts zuwiderlaufen.<br />

Wenn man sich für den Beruf des Farmers entschieden hat, gibt es eigentlich<br />

kein ungeeigneteres Land als New England. Der Boden ist steinig, das<br />

Gelände steil und das Wetter so schlecht, daß die Leute regelrecht stolz<br />

darauf sind. Ein Jahr in Vermont besteht, einem alten Sprichwort zufolge,<br />

aus »neun Monaten Winter, gefolgt von drei Monaten <strong>mit</strong> schlechten Rodelbedingungen«.<br />

Bis Mitte des letzten Jahrhunderts überlebten die Farmer in New England<br />

nur wegen der Nähe zu den Küstenstädten Boston und Portland, und, so<br />

meine Vermutung, weil sie nichts anderes kannten. Dann geschahen zwei<br />

Dinge: erstens die Erfindung der McCormick-Mähmaschine, die sich ideal<br />

für die Bewirtschaftung der großen, kaum hügeligen Felder im Mittleren<br />

Westen eignete, aber auf den steinigen, schmalen Feldern New Englands<br />

völlig nutzlos war, und zweitens das Aufkommen der Eisenbahn, die den<br />

Farmern des Mittleren Westens die Möglichkeit gab, ihre Produkte praktisch<br />

ohne Zeitverlust in den Osten des Landes zu transportieren. Da konnten<br />

die New-England-Farmer nicht <strong>mit</strong>halten und wanderten vielfach in den<br />

Mittleren Westen ab. 1860 lebte fast die Hälfte aller in Vermont Gebürtigen<br />

woanders -200.000 von 450.000 Menschen.<br />

1840, während des Präsidentschaftswahlkampfs, hielt Daniel Webster auf<br />

dem Stratton Mountain in Vermont eine Rede vor 20.000 Menschen. 20<br />

Jahre später hätte er von Glück sagen können, wenn 50 Zuhörer gekommen<br />

wären. Stratton Mountain ist heute weitgehend von Wald bedeckt, nur wenn<br />

man genauer hinschaut, kann man hier und da noch Kellereingänge und die<br />

überwucherten Reste von Obstgärten erkennen, die sich in den schattigen<br />

»Untergeschossen« zwischen jüngeren, widerstandsfähigeren Birken, Ahorn-<br />

und Walnußbäumen behaupten. Überall in New England finden sich<br />

ehemalige, eingestürzte Einfriedungsmauern, häufig <strong>mit</strong>ten im dichtesten<br />

Wald, der aussieht, als stünde er schon seit Jahrhunderten da – ein Zeichen<br />

dafür, wie geschwind sich die Natur das Terrain zurückerobert.<br />

Ich erklomm Stratton Mountain an einem wolkenverhangenen, gnädigerweise<br />

kühlen Junitag. Es waren sechseinhalb Kilometer Fußweg zum Gipfel,<br />

der bei etwas über l .200 Meter liegt. In Vermont folgt der AT auf einer<br />

Länge von 160 Kilometern den Spuren des Long Trail, der sich über die<br />

höchsten und bedeutendsten Gipfel der Green Mountains bis hinauf nach<br />

Kanada zieht. Eigentlich ist der Long Trail sogar älter als der AT. Er wurde<br />

1921 eröffnet, in dem Jahr, als man den AT konzipierte, und einige Long-


Trail-Anhänger sollen noch heute auf den AT als einen ordinären und überehrgeizigen<br />

Parvenü herabschauen. Der Stratton Mountain wird jedenfalls<br />

stets als der geistige Geburtsort beider Pfade bezeichnet, denn hier hatten<br />

angeblich sowohl James E Taylor als auch Benton MacKaye ihre jeweiligen<br />

Eingebungen, die später zu dem Bau der beiden Fernwanderwege durch die<br />

Wildnis führten – Taylor 1909, MacKaye einige Zeit später.<br />

Nichts gegen Stratton Mountain, er ist ein herrlicher Berg <strong>mit</strong> prima Aussicht<br />

auf mehrere andere berühmte Gipfel – Equinox, Ascutney, Snow und<br />

Monadnock –, aber ich kann nicht behaupten, daß er mich dazu inspiriert<br />

hätte, mir eine Machete zu schnappen und einen Weg nach Georgia oder<br />

Quebec freizuschlagen. Vielleicht lag es an dem tristen, bedeckten Himmel<br />

und dem fahlen Licht, das allem einen öden, verwaschenen Anstrich gab.<br />

Acht, neun Leute standen verloren auf dem Gipfel herum, unter anderem<br />

ein etwas untersetzter junger Mann, der allein unterwegs war und eine<br />

Windjacke trug, die ziemlich teuer aussah. Er hielt ein kleines elektronisches<br />

Gerät in der Hand, <strong>mit</strong> dem er geheimnisvolle Messungen vornahm.<br />

Er sah, daß ich ihm zuschaute, und sagte in einem Ton, aus dem der dringliche<br />

Wunsch herauszuhören war, es möge endlich jemand sein Interesse<br />

bekunden: »Das ist ein Enviro Monitor.«<br />

»Ach ja?« erwiderte ich höflich.<br />

»Mit dem kann man acht Werte messen. Temperatur, UV-Index, Taupunkt,<br />

alles mögliche.« Er hielt die Anzeige etwas schräger, so daß ich sie auch<br />

ablesen konnte. »Das ist der Wert der Hitzebelastung.« Man sah irgendeine<br />

nichtssagende Zahl <strong>mit</strong> zwei Stellen hinterm Komma. »Sonneneinstrahlung<br />

kann es auch messen«, fuhr er fort, »Luftdruck, Windkälte, Regenmenge,<br />

Feuchtigkeit – Umgebungsfeuchtigkeit und aktive Feuchtigkeit –, sogar die<br />

Verbrennungszeit für den jeweiligen Hauttyp.«<br />

»Kann man da<strong>mit</strong> auch Plätzchen backen?« fragte ich.<br />

Er war beleidigt. »Es gibt Situationen, da kann einem so ein Ding das Leben<br />

retten, glauben Sie mir«, sagte er tapfer. Ich versuchte mir eine Situation<br />

vorzustellen, in der ich durch einen steigenden Taupunkt in Lebensgefahr<br />

geraten könnte – es gelang mir nicht. Ich wollte den Mann aber auch nicht<br />

vor den Kopf stoßen, also sagte ich: »Was ist das?« und zeigte auf eine<br />

blinkende Zahl in der linken oberen Ecke der Anzeige.<br />

»Ach das? Das weiß ich auch nicht. Aber das hier« – er hackte auf die Tasten<br />

–, »das ist die Sonneneinstrahlung.« Wieder eine nichtssagende Zahl,<br />

diesmal <strong>mit</strong> drei Stellen hinterm Komma. »Ziemlich niedrig heute«, stellte<br />

er fest und kippte den Schirm ein wenig, um den Wert noch mal abzulesen.<br />

»Ja, stimmt, sehr niedrig heute.« Irgendwie wußte ich das auch so. Ich<br />

konnte zwar keinen dieser Werte bis auf drei Stellen hinterm Komma angeben,<br />

aber ich hatte ein ganz gutes Gespür für die Wetterbedingungen,


einfach, weil ich mich im Freien befand. Interessanterweise hatte der Mann<br />

keinen Rucksack dabei, also auch keine Regenhaube, er trug Shorts und<br />

Turnschuhe. Sollte das Wetter umschlagen, und in New England konnte das<br />

in Sekunden geschehen, würde er wahrscheinlich umkommen, aber wenigstens<br />

hatte er dann ein Gerät dabei, das ihm seinen finalen Taupunkt anzeigte.<br />

Ich finde diesen ganzen technischen Krimskrams albern. Manche AT-<br />

Wanderer, hatte ich irgendwo gelesen, haben sogar Notebooks und Modems<br />

dabei, da<strong>mit</strong> sie jeden Tag Berichte an Familie und Freunde schicken können.<br />

Und zunehmend findet man Leute <strong>mit</strong> solchem elektronischen<br />

Schnickschnack wie dem Enviro Monitor oder <strong>mit</strong> Sensoren am Handgelenk,<br />

die den Puls messen. Das sieht aus, als kämen sie direkt von der<br />

Schlafklinik hierher auf den Trail.<br />

1996 erschien im Wall Street Journal ein köstlicher Artikel über die Plage<br />

der Satellitennavigation, der Handys und ähnlicher Geräte in der Wildnis.<br />

Diese Hightech-Ausrüstung, so scheint es, bringt Leute in die Berge, die<br />

vielleicht nicht dahingehören. Im Baxter State Park, berichtet das Journal,<br />

habe ein Wanderer eine Einheit der Nationalgarde angerufen und darum<br />

gebeten, <strong>mit</strong> einem Hubschrauber zum Mount Katahdin geflogen zu werden,<br />

er sei zu müde zum Wandern. Und auf dem Mount Washington hatten<br />

nach Angaben eines Mitarbeiters »zwei resolute Frauen« das Hauptquartier<br />

der Bergwacht angerufen und gesagt, sie würden die letzten l .500 Meter<br />

zum Gipfel nicht mehr schaffen, obwohl es noch vier Stunden bis zum Einbruch<br />

der Dunkelheit waren. Sie verlangten, eine Rettungsmannschaft solle<br />

sie zurück zu ihrem Wagen bringen. Die Bitte wurde abgewiesen. Ein paar<br />

Minuten später riefen sie wieder an und verlangten, daß man ihnen wenigstens<br />

Taschenlampen brachte. Auch diese Bitte wurde abgelehnt. Ein paar<br />

Tage später meldete sich ein anderer Hiker und verlangte einen Hubschrauber,<br />

er hinke schon einen Tag hinter seinem Zeitplan her und befürchte,<br />

einen wichtigen geschäftlichen Termin zu verpassen. In dem Artikel war<br />

auch von Leuten die Rede, die sich trotz Satellitennavigation verirrt hatten.<br />

Sie konnten haargenau ihre Position angeben, 36,2 Grad Nord, 17,48 Grad<br />

West oder so, hatten aber nicht den geringsten Schimmer, was das bedeutete,<br />

da sie weder Kompaß noch Karten dabei hatten und offenbar auch ihren<br />

Verstand zu Hause gelassen hatten. Meine Bekanntschaft auf dem Stratton<br />

hätte ganz gut in diesen Verein gepaßt. Ich fragte ihn, ob ein Abstieg bei<br />

einer Sonnenstrahlung von 18,574 ratsam sei.<br />

»Ja, ja«, antwortete er ganz ernsthaft. »Sonneneinstrahlungsmäßig besteht<br />

heute nur geringes Risiko.«<br />

»Da bin ich aber froh«, sagte ich, ebenfalls ganz ernsthaft und verabschiedete<br />

mich von ihm und dem Berg. Ich eroberte mir Vermont in mehreren


aufeinanderfolgenden, angenehmen Tagestouren, nicht <strong>mit</strong> irgendeinem<br />

elektronischen Gerät, sondern <strong>mit</strong> den Füßen und den köstlichen Lunchpaketen,<br />

die mir meine Frau jeden Abend vor dem Zubettgehen machte und<br />

im obersten Fach des Kühlschranks deponierte. Obwohl ich mir hoch und<br />

heilig geschworen hatte, nie wieder <strong>mit</strong> Hilfe des Autos meine Etappenwanderungen<br />

zu absolvieren, stellte sich heraus, daß das hier ganz angebracht<br />

war, ja, daß es mir sogar sehr entgegenkam. Ich konnte den ganzen<br />

Tag wandern und zum Abendessen wieder zu Hause sein. Ich konnte in<br />

meinem eigenen Bett schlafen und mich jeden Tag <strong>mit</strong> sauberer, trockener<br />

Kleidung und <strong>mit</strong> einem üppigen Lunchpaket auf den Weg machen. Es war<br />

eigentlich ideal.<br />

So kam es, daß ich drei -wunderbare Wochen lang zwischen den Bergen<br />

und meinem Haus hin und her pendelte. Ich stand jeden Morgen bei Sonnenaufgang<br />

auf, steckte mein Lunchpaket ein und fuhr über den Connecticut<br />

River nach Vermont. Ich stellte den Wagen ab und stieg einen hohen<br />

Berg hinauf oder stapfte über sanfte, grüne Hügel. Irgendwann, wenn mir<br />

danach war, meist gegen elf Uhr, setzte ich mich auf einen Stein oder<br />

Baumstumpf, holte mein Lunchpaket heraus und untersuchte erstmal den<br />

Inhalt. Und dann folgte je nachdem: »Hmm, Erdnußbutter! Meine Lieblingsplätzchen!«<br />

oder »Oh, lecker, heute wieder kalter Braten!« Ich biß<br />

gierig hinein, mummelte still vor mich hm und dachte an die vielen Berggipfel,<br />

die ich <strong>mit</strong> Katz erklommen hatte. Was hätten wir da nicht für so<br />

eine herzhafte Mahlzeit gegeben! Anschließend packte ich alles wieder<br />

ordentlich zusammen, verstaute es in meinem Rucksack und wanderte weiter,<br />

bis es Zeit wurde, Feierabend zu machen und nach Hause zu gehen. So<br />

vergingen die letzte Juni- und die ersten beiden Juliwochen.<br />

Ich erwanderte mir Stratton Mountain und Bromley Mountain, Prospect<br />

Rock und Spruce Peak, Baker Peak und Griffith Lake, White Rocks Mountain,<br />

Button Hill, Killington Peak, Gifford Woods State Park, Quimby<br />

Mountain, Thistle Hill und schlenderte zum Schluß gemütliche 17 Kilometer<br />

von West Hartford nach Norwich. Diese Wanderung führte vorbei an der<br />

Happy Hill Cabin, der ältesten und wahrscheinlich malerischsten Schutzhütte<br />

des AT – die kurz darauf von einigen Angestellten der Trail Conference,<br />

die für solche Sentimentalitäten nicht das geringste Verständnis haben,<br />

plattgemacht wurde. Norwich ist hauptsächlich deswegen erwähnenswert,<br />

weil die Stadt als Vorlage für die Bob Newhart Show diente (Bob Newhart<br />

betreibt in der Fernsehserie eine Kneipe, und die einheimischen Gäste sind<br />

alle auf liebenswerte Weise ein bißchen schlicht im Gemüt). Außerdem ist<br />

es die Heimatstadt von Alden Partridge, von dem nie ein Mensch gehört hat.<br />

Partridge wurde 1755 in Norwich geboren und war ein leidenschaftlicher<br />

Wanderer, vermutlich der erste Mensch auf der ganzen Welt, der aus purer


Freude auch weite Entfernungen zu Fuß zurücklegte. 1785 wurde er in dem<br />

für damalige Verhältnisse unerhört jugendlichen Alter von 30 Jahren Leiter<br />

von West Point. Dort wurde er allerdings in irgendeine Auseinandersetzung<br />

verwickelt und zog sich anschließend nach Norwich zurück, wo er ein Konkurrenzunternehmen<br />

gründete, die American Literary, Scientific and Military<br />

Academy Er prägte den Begriff physical education – Leibeserziehung,<br />

und er unternahm <strong>mit</strong> seinen entsetzten jungen Schülern Gewaltmärsche<br />

von 50, 60 Kilometern in den benachbarten Bergen. Zwischendurch begab<br />

er sich allein auf noch viel gewagtere Unternehmungen. Einmal ging er,<br />

was keine Ausnahme war, 180 Kilometer weit, von Norwich nach Williamstown,<br />

Massachusetts (ungefähr die Route, die ich gerade in gemütlichen<br />

Etappen absolviert hatte), stapfte den Mount Greylock hoch und spazierte<br />

den gleichen Weg wieder zurück nach Hause. Für die Wanderung hin und<br />

zurück brauchte er lediglich vier Tage – und das zu einer Zeit, das dürfen<br />

wir nicht vergessen, als es noch keine angelegten Wege und hilfreichen<br />

Markierungen gab. Auf diese Weise erklomm er praktisch jeden Gipfel in<br />

New England. Eigentlich hat er eine Gedenktafel in Norwich verdient, um<br />

die wenigen Wanderer, die noch Richtung Norden -weitergehen, moralisch<br />

aufzubauen, aber leider gibt es keine solche Tafel.<br />

Von Norwich sind es ungefähr anderthalb Kilometer zum Connecticut River.<br />

Eine angenehme, unauffällige Brücke aus den 30er Jahren führt zum<br />

Bundesstaat New Hampshire und der Stadt Hanover am gegenüberliegenden<br />

Ufer. Die Straße von Norwich nach Hanover war früher mal eine gewundene,<br />

zweispurige Allee – eine der typischen, verlockenden Verbindungsstraßen<br />

zwischen zwei, nur anderthalb Kilometer auseinanderliegenden<br />

alten Städtchen, wie man sie in New England erwartet. Dann kam<br />

irgendein Straßenbauer oder sonst jemand auf die grandiose Idee, die alte<br />

Landstraße zu einer breiten, mehrspurigen Schnellstraße auszubauen, da<strong>mit</strong><br />

sich die anderthalb Kilometer sagenhafte acht Sekunden schneller zurücklegen<br />

ließen und die Autofahrer keine Qualen mehr erlitten, weil sie warten<br />

mußten, wenn der Vordermann in eine Nebenstraße abbiegen wollte. Jetzt<br />

sollte es überall Ausfahrten geben, so groß, daß auch ein Schwertransporter<br />

<strong>mit</strong> Titanrakete um die Kurve käme, ohne die Bordsteinkante zu rammen<br />

oder den lebenswichtigen Verkehrsfluß zu stören.<br />

Die Straße wurde also zu einem breiten, schnurgeraden Highway ausgebaut,<br />

teilweise sechsspurig, <strong>mit</strong> Betonleitplanken in der Mitte und überdimensionalen<br />

Natriumdampflampen, die den Nachthimmel kilometerweit erleuchten.<br />

Der Bau hatte den Effekt, daß die Brücke zu einer Art Flaschenhals<br />

wurde, an der sich die Straße auf zwei Spuren verengte. Manchmal kamen<br />

zwei Autos gleichzeitig an der Brücke an, und einer mußte dem anderen die<br />

Vorfahrt lassen – man stelle sich das mal vor! Deshalb geht man jetzt, wäh-


end ich dies niederschreibe, gerade daran, diese überflüssig reizvolle, alte<br />

Brücke gegen eine andere, größere auszutauschen, die dem Betonzeitalter<br />

eher entspricht. Noch dazu wird die Straße verbreitert, die einen kleinen<br />

Hügel hinauf ins Stadtzentrum und zu dem hübschen, historischen Stadtpark<br />

von Hanover führt. Das bedeutet natürlich, daß die Bäume rechts und links<br />

der Straße gefällt und die meisten Vorgärten für den Bau von Stützmauern<br />

aus Beton drastisch verkürzt werden müssen. Selbst ein Angestellter des<br />

Straßenbauamtes müßte zugeben, daß das Ergebnis keineswegs vorzeigbar<br />

ist, nichts, was man gern vorn auf einen Fotokalender »Malerisches New<br />

England« drucken würde, aber es verkürzt eben die gefährliche Reise von<br />

Norwich nach Hanover noch mal um vier Sekunden, und nur darauf kommt<br />

es ja an.<br />

Das alles ist für mich nicht ohne Bedeutung, zum einen, weil ich in Hanover<br />

wohne, zum anderen, weil ich im 20. Jahrhundert lebe. Zum Glück verfüge<br />

ich über eine lebhafte Phantasie, so daß ich mir bei meinem Gang von Norwich<br />

nach Hanover keine mehrspurige, befahrene Schnellstraße vorstellte,<br />

sondern eine <strong>mit</strong> Bäumen, Hecken und Wildpflanzen bestandene, schattige<br />

Landstraße, geschmückt <strong>mit</strong> einer stattlichen Reihe wohlproportionierter<br />

Straßenlaternen, von denen jeweils kopfüber ein Angestellter des Straßenbauamtes<br />

baumelt. – Und sogleich fühlte ich mich viel besser.


17. Kapitel<br />

Von allen Gefahren, die einem draußen in der freien Natur zum Verhängnis<br />

werden können, ist keine so unheimlich und unvorhersehbar wie die Hypothermie.<br />

Es gibt fast keinen Fall von Kältetod, dem nicht in irgendeiner<br />

Hinsicht etwas Mysteriöses und Unwahrscheinliches anhaftet. David<br />

Quammen berichtet davon in seinem Buch Natural Acts.<br />

Im Spätsommer 1982 verbrachten vier Jugendliche und zwei Erwachsene<br />

ihren Urlaub im Banff National Park <strong>mit</strong> Kanufahren. Eines Abends kehrten<br />

sie nicht in ihr Zeltlager zurück. Am nächsten Morgen machte sich ein<br />

Suchtrupp auf den Weg und fand die Vermißten in ihren Schwimmwesten<br />

tot auf einem See treibend, <strong>mit</strong> dem Gesicht nach oben und unversehrt.<br />

Nichts an ihren Körpern deutete auf eine Notlage oder auf eine Panik hin.<br />

Einer der Männer trug sogar noch seine Mütze und seine Brille. Die Kanus,<br />

die unweit der Fundstelle auf dem Wasser schaukelten, waren unbeschädigt,<br />

und in der Nacht hatte ruhiges, mildes Wetter geherrscht. Aus einem unerklärlichen<br />

Grund hatten die sechs ihre Kanus verlassen und sich in voller<br />

Montur in das kalte Wasser des Sees gestürzt, wo sie umgekommen waren.<br />

»Als hätten sie sich friedlich schlafen gelegt«, wie sich ein Mitglied des<br />

Suchtrupps ausdrückte. In gewisser Weise traf das zu.<br />

Entgegen landläufiger Meinung sterben nur relativ wenige Hypothermieopfer<br />

in Extremsituationen, etwa, wenn sie sich in einem Schneesturm verirrt<br />

haben oder sich gegen beißende arktische Kälte wehren mußten. Zunächst<br />

einmal gehen nur relativ wenige Menschen bei so einem Wetter<br />

überhaupt vor die Tür, und wenn, dann sind sie im allgemeinen gut ausgerüstet.<br />

Die meisten Hypothermieopfer sterben auf viel banalere Weise, in<br />

gemäßigten Jahreszeiten und bei Temperaturen, die keineswegs nahe dem<br />

Nullpunkt liegen. In der Regel werden sie von einem unvorhergesehenen<br />

Ereignis oder gleich von mehreren, gleichzeitig eintretenden Veränderungen<br />

überrascht – plötzlicher Temperaturabfall, ein kalter Platzregen, die Erkenntnis,<br />

daß sie sich verirrt haben – für die sie psychisch und physisch<br />

mangelhaft ausgestattet sind. Fast immer komplizieren sie das Problem,<br />

indem sie eine Dummheit begehen – sie verlassen einen gut markierten<br />

Weg, um eine Abkürzung zu suchen, und geraten dabei nur noch tiefer in<br />

den Wald, wenn es angebrachter gewesen wäre, an einer Stelle zu bleiben;<br />

sie waten durch Flüsse, wodurch sie nur naß werden und ihr Körper noch<br />

stärker unterkühlt wird.<br />

Dieses traurige Schicksal ereilte auch Richard Salinas, der 1990 zusammen<br />

<strong>mit</strong> einem Freund im Pisgah National Forest in North Carolina wanderte.<br />

Von der plötzlich einsetzenden Dämmerung überrascht, machten sie sich<br />

auf den Rückweg zu ihrem Wagen, wurden unterwegs aber aus irgendeinem


Grund getrennt. Salinas war ein erfahrener Hiker, er brauchte nur den gut<br />

gekennzeichneten Wanderweg entlang zurück zum Parkplatz zu gehen. Er<br />

ist nie dort angekommen. Drei Tage später fand man zuerst seine Jacke und<br />

seinen Rucksack, kilometerweit vom Weg entfernt, tief im Wald. Seine<br />

Leiche wurde zwei Monate später entdeckt, aufgespießt von Ästen in dem<br />

kleinen Linville River. Vermutlich hatte er den Pfad auf der Suche nach<br />

einer Abkürzung verlassen, sich verirrt, war immer tiefer in den Wald hineingestürmt,<br />

in Panik geraten, weitergelaufen, bis schließlich die Hypothermie<br />

ihn seiner Sinne beraubte.<br />

Hypothermie ist eine Art schleichendes, heimtückisches Trauma. Es überkommt<br />

einen buchstäblich schrittweise: Die Körpertemperatur sinkt, und<br />

die natürlichen Reaktionen werden schwerfällig und unkoordiniert. In diesem<br />

Zustand hat Salinas seine Ausrüstung abgelegt und wenig später aus<br />

lauter Verzweiflung die unvernünftige Entscheidung getroffen, den durch<br />

Regenwasser angeschwollenen Fluß zu durchqueren. Unter normalen Umständen<br />

hätte er erkannt, daß ihn das nur noch weiter vom Ziel entfernte. In<br />

der Nacht, als er sich verirrte, war es trocken bei etwa fünf Grad Celsius.<br />

Wenn er seine Jacke anbehalten hätte und nicht ins Wasser gestiegen wäre,<br />

hätte er eine kalte, ungemütliche Nacht verbracht und später etwas zu erzählen<br />

gehabt. Statt dessen verlor er sein Leben.<br />

Ein Mensch, der unter Hypothermie leidet, durchläuft mehrere aufeinanderfolgende<br />

Phasen, beginnend – wie unschwer zu erraten ist – <strong>mit</strong> einem<br />

leichten und zunehmend heftiger werdenden Zittern des Körpers, der versucht,<br />

durch Muskelkontraktionen Wärme zu erzeugen; danach folgt äußerste<br />

Erschöpfung, Trägheit in den Bewegungen, ein gestörtes Gefühl für Zeit<br />

und Entfernungen und eine zunehmend hoffnungslose Verwirrtheit, die aus<br />

dem Unvermögen heraus, das Naheliegende zu erkennen, zu unüberlegten<br />

und unlogischen Entscheidungen führt. Das Opfer verliert allmählich immer<br />

mehr die Orientierung und erliegt gefährlichen Halluzinationen – einschließlich<br />

der grausamen Fehleinschätzung, daß es nicht friert, sondern geradezu<br />

verbrennt. Viele Opfer reißen sich deshalb die Kleider vom Leib,<br />

werfen die Handschuhe fort oder kriechen aus ihren Schlafsäcken. Die Annalen<br />

der Todesfälle bei Wanderungen sind voller Geschichten von halbnackten,<br />

in Schneeverwehungen direkt vor ihrem Zelt aufgefundenen Hikern.<br />

In dieser Phase hört der Schüttelfrost auf, denn der Körper hat längst<br />

aufgegeben, und Apathie setzt ein. Der Herzschlag verlangsamt sich, und<br />

die Gehirnwellen sehen aus wie eine Autospur durch die Prärie. Selbst wenn<br />

das Opfer in diesem Zustand noch gefunden würde, wäre der Wiederbelebungsschock<br />

für den Körper möglicherweise nicht mehr zu verkraften.<br />

Dies wurde in einem Bericht der Zeitschrift Outside im Januar 1997 auf<br />

anschauliche Weise verdeutlicht. 1980 sendeten 16 dänische Seeleute einen


Funknotruf aus, zogen sich Schwimmwesten über und sprangen in die<br />

Nordsee, während ihr Schiff vor ihren Augen im Meer versank. Anderthalb<br />

Stunden lang waren sie ein Spiel der Wellen, bevor ein Rettungsschiff endlich<br />

in der Lage war, sie aus den Fluten zu ziehen. Selbst im Sommer ist die<br />

Nordsee von einer so mörderischen Kälte, daß ein Mensch in ihr innerhalb<br />

einer halben Stunde den Tod findet. Daher war das Überleben aller 16 Seeleute<br />

wahrlich ein Grund zum Feiern. Die Männer wurden in Decken eingewickelt<br />

und in die Messe nach unten gebracht, wo man ihnen ein heißes<br />

Getränk verabreichte, woraufhin sie tot umfielen – alle 16.<br />

Genug der fesselnden Anekdoten, setzen wir uns einmal sozusagen persönlich<br />

<strong>mit</strong> dieser faszinierenden Krankheit auseinander.<br />

Ich war jetzt in New Hampshire, was mich sehr freute, da wir erst kürzlich<br />

hierhergezogen waren und ich natürlich ein besonderes Interesse daran<br />

hatte, Land und Leute kennenzulernen. Vermont und New Hampshire liegen<br />

so eng beieinander und sind sich so ähnlich, was Größe, Klima und<br />

Dialekt angeht, und darin, wo<strong>mit</strong> sich die Bewohner ihren Lebensunterhalt<br />

verdienen – hauptsächlich Wintersport und Tourismus –, daß sie häufig als<br />

Zwillinge apostrophiert werden. In Wahrheit sind sie grundverschieden. Mit<br />

Vermont verbindet man Volvos und Antiquitätenläden und Landgasthäuser<br />

<strong>mit</strong> putzigen Namen, Quail Hollow Lodge und Fiddlehead Farm Inn. Mit<br />

New Hampshire dagegen verbindet man Männer <strong>mit</strong> Jagdmützen und Pickups<br />

<strong>mit</strong> Aufklebern und markigen Sprüchen: »Freiheit oder Tod.« Auch die<br />

Landschaft unterscheidet sich grundlegend. Die Berge in Vermont gleichen<br />

eher sanften, lieblichen Hügelketten, und die Vielzahl der Farmen, die sich<br />

auf Milchwirtschaft spezialisiert haben, verleiht dem Bundesstaat etwas<br />

insgesamt Menschenfreundlicheres. New Hampshire dagegen ist ein einziger<br />

großer Wald. Von den insgesamt 24.097 Quadratkilometern des Staatsgebietes<br />

sind knapp 85 Prozent – eine Fläche, die größer ist als Wales –<br />

Wald, der Rest besteht entweder aus Seen oder liegt oberhalb der Baumgrenze.<br />

Abgesehen von einigen Städten und Wintersportgebieten hier und<br />

da ist New Hampshire im großen und ganzen die pure Wildnis – manchmal<br />

geradezu beängstigend wild. Die Berge hier sind höher, zerklüfteter,<br />

schwieriger zu erklimmen und gefährlicher als die in Vermont.<br />

Im Thru-Hiker’s Handbook, dem einzigen unverzichtbaren Führer für den<br />

Appalachian Trail, wie ich an dieser Stelle mal erwähnen sollte, bemerkt<br />

der große Dan »Wingfoot« Bruce hierzu, daß der Wanderer, der von Süden<br />

nach Norden geht, bei Überschreiten der Staatsgrenze von Vermont nach<br />

New Hampshire vier Fünftel der Wegstrecke, aber erst die Hälfte der Mühsal<br />

geschafft hat. Allein auf dem Abschnitt in New Hampshire, der 260<br />

Kilometer durch die White Mountains führt, befinden sich 35 Berggipfel,<br />

die über 900 Meter aufragen. New Hampshire ist also ein ganz schöner


Brocken.<br />

Ich hatte so viel über die ungestümen und gefährlichen White Mountains<br />

gelesen, daß mir bei dem Gedanken, mich allein in das Gebiet zu wagen,<br />

unwohl war – nicht, daß ich es <strong>mit</strong> der Angst zu tun bekommen hätte, aber<br />

wenn ich noch eine einzige Geschichte über die Flucht vor einem Bären<br />

gehört hätte, wäre ich soweit gewesen. Man kann sich daher meine heimliche<br />

Freude vorstellen, als mein Freund und Nachbar <strong>Bill</strong> Abdu mir anbot,<br />

mich auf einigen meiner Tagestouren zu begleiten. <strong>Bill</strong> ist ein sehr netter<br />

Zeitgenosse, liebenswert und kenntnisreich, ein erfahrener Wanderer <strong>mit</strong><br />

dem unschätzbaren Vorzug, obendrein noch ein geschickter orthopädischer<br />

Chirurg zu sein – genau das, was man in der gefährlichen Wildnis braucht.<br />

Ich rechnete zwar nicht da<strong>mit</strong>, daß seine Chirurgenhände von großem Nutzen<br />

sein würden, aber sollte ich stürzen und mir das Rückgrat brechen, dann<br />

erführe ich wenigstens noch die lateinische Bezeichnung dafür.<br />

Wir beschlossen, <strong>mit</strong> dem Mount Lafayette anzufangen, und begaben uns zu<br />

diesem Zweck an einem klaren Julimorgen in aller Frühe zu dem zwei Autostunden<br />

entfernt gelegenen Franconia Notch Park (»notch« bedeutet im<br />

Sprachgebrauch von New Hampshire Bergpaß). Das ist ein berühmtes,<br />

wunderschönes Fleckchen Erde zu Füßen imposanter Gipfel, <strong>mit</strong>ten im<br />

283.000 Hektar großen White Mountain National Forest gelegen. Der<br />

Mount Lafayette – das sind 1.599 Meter steil aufragender, unbarmherziger<br />

Granitfels. In einem Reisebericht von 1870, der in dem Buch Into the<br />

Mountains zitiert wird, heißt es: »Mt. Lafayette… ist ein wahrer Alptraum,<br />

<strong>mit</strong> Gipfeln und Spitzen, auf denen Blitz und Donner ihr Spiel treiben. Die<br />

Hänge sind braun und weisen Schrammen und tiefe Spalten auf.« Stimmt.<br />

Lafayette ist ein Monster. Nur der nahegelegene Mount Washington übertrifft<br />

ihn noch an Wuchtigkeit und Beliebtheit als Wanderziel in den White<br />

Mountains.<br />

Von der Talsohle gerechnet mußten wir 1.130 Meter erklimmen, 600 Meter<br />

auf den ersten drei Kilometern und drei kleinere Gipfel unterwegs – Mount<br />

Liberty, Little Haystack und Mount Lincoln –, aber es war ein herrlicher<br />

Morgen, die Sonne schien nicht zu heiß, und uns umgab die belebende,<br />

pfefferminzklare, saubere Luft, die es nur in den Bergen des Nordens gibt.<br />

Kurz: alles, was man für einen makellosen Tag braucht. Wir gingen ungefähr<br />

drei Stunden, redeten wegen des steilen Anstiegs nur wenig, freuten<br />

uns bloß darüber, draußen im Freien zu sein und gut voranzukommen.<br />

Jeder Wanderführer, jeder erfahrene Hiker, jede Informationstafel neben<br />

den Parkplätzen am Ausgangs- oder Zielort einer Wanderstrecke warnt<br />

davor, daß das Wetter in den White Mountains innerhalb von Sekunden<br />

umschlagen kann. Camper, die in kurzen Hosen und <strong>mit</strong> Turnschuhen in<br />

luftigen Höhen nur einen Spaziergang machen wollten und wenige Stunden


später in dichtem, eiskalten Nebel ihrem Tod entgegentaumeln – das sind<br />

Geschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt, aber sie sind leider auch<br />

wahr. Wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels von Little Haystack<br />

Mountain passierte uns das gleiche. Urplötzlich war die Sonne verschwunden,<br />

und wie aus dem Nichts rollte eine Dunstwolke zwischen den Bäumen<br />

heran. Da<strong>mit</strong> ging ein so rapider Temperatursturz einher, als hätten wir<br />

einen Kühlraum betreten. Innerhalb von Minuten war der Wald in Nebel<br />

gehüllt, feucht und kühl. Die Baumgrenze in den White Mountains liegt an<br />

manchen Stellen bereits bei 1.460 Meter, halb so hoch wie in den meisten<br />

anderen Regionen, weil die Witterung sehr viel strenger ist, und jetzt sah ich<br />

auch warum. Als wir aus dem Krummholz hervortraten, die Zone aus verkrüppelten<br />

Bäumen, die den letzten Ausläufer des Waldes vor der Baumgrenze<br />

markiert, und das kahle Dach des Little Haystack betraten, schlug<br />

uns <strong>mit</strong> einem Mal ein heftiger Wind entgegen – die Sorte Wind, die einem<br />

die Mütze vom Kopf reißt und sie ein paar hundert Meter weiterweht, bevor<br />

man überhaupt dazu kommt, eine Hand zu heben. Vorher war er durch den<br />

Berg über uns auf den geschützten Westhang abgelenkt worden, aber jetzt<br />

fegte er ungehindert über den bloßliegenden Gipfel. Wir stellten uns in den<br />

Windschatten einiger Felsen, um unsere Regencapes überzuziehen. Sie<br />

spendeten uns zusätzliche Wärme, denn ich war schon von der schweißtreibenden<br />

Anstrengung und der feuchten Luft ganz naß am Körper – ein ziemlich<br />

unangenehmer Zustand, wenn die Außentemperaturen sinken und der<br />

Wind jede Körperwärme wegbläst. Ich machte meinen Rucksack auf, wühlte<br />

in meinen Sachen herum und schaute dann <strong>mit</strong> jenem Gesichtsausdruck<br />

hoch, der <strong>mit</strong> einer bestürzenden Erkenntnis einhergeht: Ich hatte mein<br />

Regencape vergessen. Ich durchwühlte noch einmal meinen Rucksack, aber<br />

es war ja kaum etwas drin – eine Karte, ein dünner Pullover, eine Wasserflasche<br />

und ein Lunchpaket. Ich überlegte kurz und erinnerte mich <strong>mit</strong> einem<br />

innerlichen Stoßseufzer daran, daß ich das Regencape ein paar Tage<br />

vorher ausgepackt, im Keller zum Lüften aufgehängt und dann vergessen<br />

hatte, es wieder einzupacken.<br />

<strong>Bill</strong>, der das Band an der Kapuze seiner Windjacke strammzog, sah zu mir<br />

herüber. »Ist irgendwas?«<br />

Ich sagte es ihm. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Willst du umkehren?«<br />

»Nein, nein.« Das wollte ich wirklich nicht. Außerdem, so schlimm war es<br />

nun auch wieder nicht. Es regnete nicht, mir war nur ein bißchen kühl. Ich<br />

zog den Pullover an und fühlte mich gleich besser. Wir schauten beide auf<br />

die Karte: Wir hatten schon fast alle Gipfel erklommen, und zum Lafayette<br />

waren es nur zweieinhalb Kilometer entlang eines Grats, danach folgte ein<br />

steiler 360 Meter tiefer Abstieg zur Greenleaf Hut, einer Berghütte <strong>mit</strong> einer<br />

Cafeteria. Wenn ich mich aufwärmen mußte, dann schien es ratsamer wei-


terzugehen. Die Hütte würden wir viel schneller erreichen als den acht Kilometer<br />

entfernten Parkplatz, wo unser Auto stand.<br />

»Willst du auch bestimmt nicht umkehren?«<br />

»Nein.« Ich beharrte darauf. »Wir sind in einer halben Stunde da.«<br />

Wir machten uns wieder auf den Weg durch die graue Suppe und den peitschenden<br />

Wind, überquerten den l .554 Meter hohen Mount Lincoln und<br />

stiegen dann ein Stück zu einem sehr schmalen Grat ab. Die Sicht betrug<br />

jetzt keine fünf Meter, und es wehte ein messerscharfer Wind. Die Temperatur<br />

sinkt alle 300 Höhenmeter um etwa 1,8 Grad Celsius; in dieser Höhe<br />

wäre es also ohnehin kälter gewesen, aber jetzt war es richtig ungemütlich.<br />

Ich sah <strong>mit</strong> Entsetzen, daß sich Hunderte kleiner Wassertropfen auf meinem<br />

Pullover ansammelten, die allmählich durch das Gewebe drangen und sich<br />

<strong>mit</strong> der Feuchtigkeit des Hemdes darunter vereinigten. Ehe wir auch nur<br />

einen halben Kilometer zurückgelegt hatten, war der Pullover klitschnaß<br />

und hing schwer auf meinen Schultern und an den Armen.<br />

Zu allem Unglück trug ich auch noch Jeans. Jeder wird einem bestätigen,<br />

daß Blue Jeans das ungeeignetste Kleidungsstück für eine Wanderung sind.<br />

Ich hatte mich dennoch zu einem Fan von diesen Hosen entwickelt, weil sie<br />

strapazierfähig sind und einen ganz gut vor Dornen, Zeckenbissen, Insekten<br />

und Giftpflanzen schützen – ideal für den Wald also. Ich gebe allerdings<br />

unumwunden zu, daß sie bei Kälte und Feuchtigkeit nutzlos sind. Den<br />

Baumwollpullover hatte ich nur pro forma eingesteckt, so wie man auch ein<br />

Schlangenbiß-Set oder Schienen für Knochenbrüche einpackt. Meine Güte,<br />

es war Juli. Ich hatte nicht da<strong>mit</strong> gerechnet, daß man sonst noch Oberbekleidung<br />

benötigen würde, höchstens das Regencape, das ich ja nun leider<br />

nicht dabei hatte. Kurzum, ich war unpassend angezogen, was gefährlich<br />

werden konnte, und forderte mein Leiden und meinen Tod regelrecht heraus.<br />

Ich litt wirklich.<br />

Dabei hatte ich noch Glück. Der Wind fegte laut und gleichmäßig <strong>mit</strong> einer<br />

Geschwindigkeit von etwa 40 Stundenkilometern, aber die Böen kamen <strong>mit</strong><br />

mindestens doppelter Geschwindigkeit und zudem aus ständig wechselnden<br />

Richtungen. Wenn der Wind uns direkt ins Gesicht blies, ging es nur zwei<br />

Schritte vor und einen zurück. Wenn er von der Seite kam, versetzte er uns<br />

jedesmal einen kräftigen Schubs und drängte uns an den Rand des Grats.<br />

Bei dem Nebel ließ sich nicht feststellen, wie tief der Sturz auf beiden Seiten<br />

sein würde, aber die Hänge waren ziemlich steil, wir befanden uns<br />

schließlich auf über l .600 Metern und hoch in den Wolken. Wenn sich die<br />

Verhältnisse auch nur ein klein bißchen verschlechtert hätten – man vor<br />

lauter Nebel seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte, oder die Böen<br />

genug Kraft gehabt hätten, einen erwachsenen Menschen umzustoßen –,<br />

dann hätten wir da unten festgesessen, und ich wäre obendrein bis auf die


Knochen durchnäßt gewesen. Vor einer knappen Dreiviertelstunde hatten<br />

wir in der Sonne noch fröhlich ein Liedchen gepfiffen. Jetzt begriff ich, wie<br />

man in den White Mountains zu Tode kommen konnte, sogar <strong>mit</strong>ten im<br />

Sommer.<br />

Ich befand mich gewissermaßen in einer leichten Notlage. Ich bibberte wie<br />

verrückt und fühlte mich seltsam benommen. Der Grat schien kein Ende zu<br />

nehmen, und in der milchigen Brühe war es unmöglich abzuschätzen, wann<br />

sich der Lafayette vor uns erheben würde. Ich schaute auf meine Uhr – zwei<br />

Minuten vor elf, genau richtig für eine Mittagspause, sollten wir jemals bei<br />

dieser verdammten Hütte ankommen. Ich tröstete mich <strong>mit</strong> dem Gedanken,<br />

daß ich wenigstens meinen Humor nicht verloren hatte. Jedenfalls kam es<br />

mir so vor. Angeblich ist ein verwirrter Mensch viel zu unsicher, um zu<br />

erkennen, daß er verwirrt ist. Logische Schlußfolgerung: Wenn man weiß,<br />

daß man nicht verwirrt ist, ist man nicht verwirrt. Es sei denn, kam es mir<br />

plötzlich in den Sinn – und ich war ganz fasziniert von dem Gedanken –, es<br />

sei denn, der Versuch, sich einzureden, man sei nicht verwirrt, ist lediglich<br />

ein erstes furchtbares Symptom für geistige Verwirrung. Vielleicht sogar für<br />

fortgeschrittene geistige Verwirrung. Wer weiß das schon? Durchaus möglich,<br />

daß ich mich auf eine Frühphase hilfloser Verwirrung zubewegte, die<br />

seitens des Betroffenen durch die Befürchtung gekennzeichnet ist, er bewege<br />

sich auf eine Frühphase hilfloser Verwirrung zu. Das ist das Problem,<br />

wenn man seinen Verstand verliert: Wenn er erst mal weg ist, kriegt man<br />

ihn nicht wieder.<br />

Ich schaute auf meine Uhr und stellte <strong>mit</strong> Schrecken fest, daß es immer<br />

noch zwei Minuten vor elf war. Mein Zeitgefühl war weg! Ich war vielleicht<br />

nicht in der Lage, meinen Grips verläßlich zu beurteilen, aber jetzt<br />

hatte ich den Beweis am Handgelenk. Wie lange würde es noch dauern, bis<br />

ich halbnackt durch die Gegend tanzte und versuchte, angebliche Flammen<br />

zu ersticken, oder mich die fixe Idee überkäme, der eleganteste Ausweg aus<br />

diesem Schlamassel wäre ein Sprung <strong>mit</strong> einem unsichtbaren Zauberfallschirm<br />

in die Talsohle? Ich jammerte ein bißchen vor mich hin, ging aber<br />

weiter, wartete eine geschlagene Minute ab und sah dann wieder auf meine<br />

Uhr. Immer noch zwei Minuten vor elf! Ich war geliefert!<br />

<strong>Bill</strong>, der anscheinend gänzlich unbekümmert war und unempfindlich gegenüber<br />

der Kälte und der natürlich keine Ahnung davon hatte, daß wir auf<br />

dem Grat bei diesem für die Jahreszeit untypischen Wind alles andere als<br />

vorankamen, drehte sich ab und zu um und fragte, wie es mir ging.<br />

»Gut!« sagte ich jedesmal, denn ich hätte mich geschämt einzugestehen,<br />

daß ich auf dem besten Weg war, meinen Verstand zu verlieren, bevor ich<br />

<strong>mit</strong> einem wissenden Lächeln auf den Lippen und dem Abschiedsruf »Bis<br />

nachher im Jenseits, alter Freund!« über den Rand des Grats springen wür-


de. Vermutlich war ihm noch nie ein Patient auf einem Berggipfel abhanden<br />

gekommen, und ich wollte ihn nicht unnötig aufregen. Außerdem war ich<br />

mir nicht hundertprozentig sicher, daß ich die Kontrolle über mich verlor,<br />

ich fühlte mich nur ziemlich elend.<br />

Ich weiß nicht, wie lange wir bis zum Gipfel des Lafayette brauchten, jedenfalls<br />

kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Vor 100 Jahren stand ein Hotel<br />

an diesem öden, abschreckenden Ort, und die vom Wind traktierten Fundamente<br />

sind immer noch eine Art Wahrzeichen. Ich habe sie auf Fotos gesehen,<br />

aber ich kann mich kein bißchen an sie erinnern. Ich war voll und ganz<br />

auf den Abstieg über den Nebenwanderweg zur Greenleaf Hut konzentriert.<br />

Er führte über ein riesiges Geröllfeld und dann, ungefähr anderthalb Kilometer<br />

weiter, durch Wald. Kaum hatten wir den Gipfel hinter uns gelassen,<br />

legte sich der Wind, und nach 150 Metern hatte sich alles wieder beruhigt.<br />

Das war geradezu gespenstisch, und auch der Nebel hing nur noch hier und<br />

da in Fetzen. Plötzlich konnten wir die Welt unter uns erkennen, und auch,<br />

wie weit oben wir uns befanden, fast abgehoben, obwohl alle anderen Gipfel<br />

in der Umgebung von Wolken verhüllt waren. Zu meiner Überraschung<br />

und Genugtuung ging es mir gleich besser. Ich richtete mich <strong>mit</strong> einem<br />

neuen Gefühl der Stärke auf, und mir wurde klar, daß ich die ganze Zeit<br />

über <strong>mit</strong> einem regelrechten Buckel gegangen war. Es ging mir wirklich<br />

viel besser, ich fror nicht mehr, und mein Kopf war wieder klar.<br />

»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, sagte ich <strong>mit</strong> einem derben<br />

Bergwandererlachen zu <strong>Bill</strong> und drängte weiter zur Hütte.<br />

Greenleaf Hut ist eine von zehn malerischen und in diesem Fall besonders<br />

praktischen Steinhütten, die von dem altehrwürdigen Appalachian Mountain<br />

Club in den White Mountains betrieben werden. Der AMC, der vor über<br />

120 Jahren gegründet wurde, ist nicht nur der älteste Wanderverein in Amerika,<br />

sondern auch die älteste »Bürgerinitiative«, die sich überhaupt um die<br />

Belange des Umweltschutzes kümmert. Der Verein verlangt stolze 50 Dollar<br />

für Übernachtung und Halbpension und wird infolgedessen von den<br />

Weitwanderern nur als Appalachian Money Club bezeichnet. Zu seiner<br />

Verteidigung wäre zu sagen, daß der AMC ein Wegenetz von 2.250 Kilometern<br />

in den White Mountains unterhält, ein ausgezeichnetes Besucherzentrum<br />

in Pinkham Notch führt, lesenswerte Bücher herausgibt und jeden<br />

Wanderer in seinen Hütten aufnimmt, auch wenn er nur aufs Klo muß,<br />

Wasser holen oder sich einfach nur ausruhen will – ein Service, den wir<br />

jetzt dankbar in Anspruch nahmen.<br />

Wir bestellten uns einen heißen Kaffee und setzten uns da<strong>mit</strong> an einen der<br />

vielen langen Tische zu den anderen verschwitzten Hikern und verzehrten<br />

unser Lunchpaket. In der Hütte herrschte eine sehr angenehme Atmosphäre,<br />

die Einrichtung war einfach und rustikal, <strong>mit</strong> einer hohen Decke und viel


Platz zum Herumlaufen. Als wir fertig waren, setzte bei mir der Muskelkater<br />

ein. Deshalb stand ich auf, spazierte herum und sah mir einen der beiden<br />

Schlafräume an. Er war ziemlich groß, <strong>mit</strong> fest eingebauten Etagenbetten,<br />

vier Kojen übereinander. Er war sauber und hell und sehr karg, aber vermutlich<br />

sah es hier abends, <strong>mit</strong> lauter Wanderern und dem ganzen Gepäck, wie<br />

in einer Kaserne aus. Es machte auf mich keinen einladenden Eindruck.<br />

Benton MacKaye hatte <strong>mit</strong> diesen Hütten nichts zu tun gehabt, dennoch<br />

entsprachen sie voll und ganz seiner einstigen Vision – einfache Ausstattung,<br />

rustikal, auf das Leben in der Gemeinschaft zugeschnitten. Mir wurde<br />

<strong>mit</strong> einem dumpfen Schrecken klar: Wäre MacKayes Traum von einer ganzen<br />

Kette von Herbergen am Wegesrand Wirklichkeit geworden, dann hätten<br />

sie aller Wahrscheinlichkeit nach so wie dieses Haus ausgesehen. Aus<br />

dem ruhigen und gemütlichen Refugium <strong>mit</strong> einer ganzen Veranda voller<br />

Schaukelstühle, wie ich es mir in der Phantasie ausgemalt hatte, wäre wohl<br />

eher ein Kurzaufenthalt in einem Ausbildungslager geworden, obendrein<br />

ein kostspieliger, nach den Preisen des AMC zu urteilen.<br />

Ich rechnete im Kopf nach: Angenommen, der stolze Preis von 50 Dollar<br />

hätte überall gegolten, dann hätte es den typischen Weitwanderer zwischen<br />

6.000 und Z500 Dollar gekostet, wenn er unterwegs jeden Abend in einer<br />

Hütte eingekehrt wäre. Das hätte wohl nicht funktioniert. Vielleicht war es<br />

besser so, wie es war.<br />

Die Sonne schien nur schwach, als wir aus der Hütte nach draußen traten<br />

und uns über einen Nebenweg nach Franconia Notch an den Abstieg machten.<br />

Unterwegs nahm sie an Kraft zu, bis man schließlich wieder von einem<br />

herrlichen Julitag sprechen konnte, die Luft war mild, in den Bäumen tanzte<br />

das Sonnenlicht, und die Vögel zwitscherten. Als wir spät nach<strong>mit</strong>tags an<br />

unserem Auto ankamen, war ich fast wieder völlig trocken, und meine vorübergehende<br />

Panik auf dem Lafayette – der jetzt vor einem strahlend blauen<br />

Himmel im Sonnenlicht glänzte – war nur noch eine ferne Erinnerung.<br />

Beim Einsteigen schaute ich auf meine Uhr. Sie zeigte zwei Minuten vor<br />

elf. Ich schüttelte sie und sah <strong>mit</strong> Interesse, wie sich der Sekundenzeiger<br />

wieder in Bewegung setzte.


18. Kapitel<br />

Am Nach<strong>mit</strong>tag des 12. April 1934 hatte Salvatore Pagliuca, ein Meteorologe<br />

der Wetterstation auf dem Gipfel des Mount Washington, ein Erlebnis,<br />

das niemand vor ihm je gehabt hatte und seitdem auch nie wieder jemand<br />

gehabt hat.<br />

Auf dem Mount Washington ist es, milde ausgedrückt, gelegentlich etwas<br />

stürmisch, und an jenem 12. April wehte ein besonders heftiger Wind. In<br />

den vorangegangenen 24 Stunden war die Windgeschwindigkeit nicht unter<br />

170 Stundenkilometer gefallen, in den Böen lag sie zeitweilig sogar noch<br />

darüber. Als es Zeit wurde für Pagliuca, wie jeden Nach<strong>mit</strong>tag die Anzeigen<br />

an den Meßgeräten abzulesen, war der Wind so stark, daß er sich ein Seil<br />

um die Taille band und zwei Kollegen bat, das andere Ende festzuhalten.<br />

Die Männer hatten bereits Schwierigkeiten, die Tür zur Wetterstation aufzukriegen,<br />

und brauchten ihre ganze Kraft, da<strong>mit</strong> ihnen Pagliuca nicht als<br />

lebender Drachen davonflog. Wie es ihm gelang, an seine Instrumente heranzukommen<br />

und die Werte abzulesen, ist nicht überliefert, auch nicht<br />

seine Worte, als er schließlich wieder in die Station getorkelt kam, aber<br />

»Wahnsinn!« scheint mir sehr wahrscheinlich.<br />

Fest steht jedenfalls, daß Pagliuca eine Bodenwindgeschwindigkeit des<br />

Windes von 371 Stundenkilometer gemessen hatte. Ein solches Tempo war<br />

nie zuvor auf der ganzen Welt registriert worden.<br />

In seinem Buch The Worst Weather: A History of the Mount Washington<br />

Observatory bemerkt William Lowell Putnam dazu trocken: »Vielleicht gibt<br />

es gelegentlich irgendwo an einem gottverlassenen Ort auf dem Planeten<br />

Erde schlechteres Wetter, aber das muß erst noch korrekt gemessen werden.«<br />

Zu den Rekorden der Wetterstation auf dem Mount Washington<br />

kommen noch weitere hinzu: die meisten zerstörten Wettermeßinstrumente,<br />

der meiste Wind innerhalb von 24 Stunden (fast 5.000 Kilometer insgesamt),<br />

und die extremste Windkälte (eine Kombination aus einer Windgeschwindigkeit<br />

von 160 Stundenkilometern und einer Außentemperatur von -<br />

40 Grad Celsius; das wird selbst in der Antarktis nicht übertroffen).<br />

Der Mount Washington verdankt seine extremen Wetterverhältnisse nicht<br />

so sehr der Höhe oder dem Breitengrad, obwohl beide Faktoren eine Rolle<br />

spielen, sondern vielmehr seiner Lage an einer Stelle, wo zwei von ihrer<br />

Höhe bestimmte Wettersysteme aus Kanada und von den Großen Seen auf<br />

feuchte, relativ warme Luft vom Atlantik beziehungsweise aus dem Süden<br />

der Vereinigten Staaten treffen. In der Folge fallen im Jahresdurchschnitt<br />

625 Zentimeter Schnee. Während eines besonders denkwürdigen Sturms im<br />

Jahr 1969 fielen innerhalb von drei Tagen zweieinhalb Meter Schnee auf<br />

dem Gipfel. Der Wind ist ein zusätzliches, spezielles Merkmal: Im Winter


weht er an zwei von drei Tagen <strong>mit</strong> durchschnittlicher Hurrikanstärke (das<br />

sind 120 Stundenkilometer); auf das ganze Jahr gerechnet, bläst er an 40<br />

Prozent aller Tage <strong>mit</strong> dieser Geschwindigkeit. Wegen der Dauer und der<br />

Strenge des Winters beträgt die durchschnittliche Jahrestemperatur schlappe<br />

-2 Grad Celsius. Das sommerliche Mittel liegt bei etwa zehn Grad Celsius,<br />

gute fünf Grad niedriger als am Fuß des Berges. Es ist ein grausamer Berg,<br />

aber dennoch steigen die Menschen hinauf, manche sogar im Winter.<br />

In ihrem Buch Into the Mountains berichten Maggie Stier und Ron Mc<br />

Adow von zwei Studenten der University of New Hampshire, Derek Tinkham<br />

und Jeremy Haas, die sich vorgenommen hatten, im Januar 1994 den<br />

gesamten Presidential Range abzugehen – sieben Gipfel, einschließlich des<br />

Mount Washington, die alle nach amerikanischen Präsidenten benannt sind.<br />

Beide waren erfahrene Winterwanderer und verfügten über eine gute Ausrüstung,<br />

trotzdem hätten sie sich niemals vorstellen können, worauf sie sich<br />

da eingelassen hatten. In der zweiten Nacht stieg die Windgeschwindigkeit<br />

auf 145 Stundenkilometer, und die Temperatur sank auf -35 Grad Celsius.<br />

Ich habe -30 Grad Celsius erlebt, bei ruhigen Verhältnissen wohlgemerkt,<br />

und ich kann nur sagen, selbst wenn man gut eingepackt ist und noch Restwärme<br />

von der Hütte in sich hat, kann es sehr schnell sehr ungemütlich<br />

werden. Irgendwie überlebten die beiden die Nacht, aber am nächsten Tag<br />

verkündete Haas, er könne keinen Schritt mehr weitergehen. Tinkham half<br />

ihm in den Schlafsack und schleppte sich selbst zur drei Kilometer entfernten<br />

Wetterstation. Er schaffte es gerade noch, trug allerdings schwere Erfrierungen<br />

davon. Seinen Freund fand man am nächsten Tag, »halb aus dem<br />

Schlaf sack gekrochen und steif gefroren«.<br />

Viele andere sind schon bei weniger widrigen Verhältnissen am Mount<br />

Washington umgekommen. Eine der frühesten Katastrophen <strong>mit</strong> grausiger<br />

Berühmtheit war der Tod einer jungen Frau namens Lizzie Bourne, die<br />

1855, kurz nachdem am Mount Washington der Tourismus begonnen hatte,<br />

an einem sommerlichen Septembernach<strong>mit</strong>tag in Begleitung zweier Männer<br />

versuchte, den Berg zu erklimmen. Wie man sich denken kann, schlug das<br />

Wetter um, und die drei verirrten sich im Nebel und wurden getrennt. Die<br />

Männer schafften es noch bis zum Hotel am Gipfel, aber auch erst nach<br />

Einbruch der Dunkelheit. Lizzie Bourne wurde am nächsten Tag nur 50<br />

Meter vom Hoteleingang entfernt gefunden, tot.<br />

Insgesamt haben bisher 122 Menschen ihr Leben am Mount Washington<br />

verloren. Bis vor kurzem, als der Mount Denali in Alaska die traurige Führung<br />

übernahm, war er der »mörderischste« Berg Nordamerikas. Ich hatte<br />

daher, als der unerschrockene Dr. Abdu und ich ein paar Tage später zu<br />

unserem zweiten großen Aufstieg am Fuß des Berges vorfuhren, genug<br />

Reservekleidung dabei, um die Arktis zu durchqueren – Regencape, Woll-


pullover, Jacke, Handschuhe, eine Ersatzhose und lange Unterwäsche. Ich<br />

wollte mich nicht noch einmal halb zu Tode frieren.<br />

Am Mount Washington, <strong>mit</strong> ansehnlichen 1.916 Metern der höchste Berg<br />

nördlich der Smokies und östlich der Rockies, gibt es nur wenige klare Tage<br />

im Jahr, und heute war so ein Tag, weshalb die Menschen in Massen herbeiströmten.<br />

Ich zählte bereits über 70 Autos am Pinkham Notch Visitor<br />

Center, als wir dort morgens um zehn nach acht ankamen, und <strong>mit</strong> jeder<br />

Minute wurden es mehr. Mount Washington ist der beliebteste Gipfel in den<br />

White Mountains und der Tuckerman Ravine Trail, die Route, für die wir<br />

uns entschieden hatten, der beliebteste Wanderweg. Schätzungsweise<br />

60.000 Hiker wählen jährlich die Tuckerman-Route, allerdings lassen viele<br />

sich bis nach oben fahren und gehen dann zu Fuß hinunter, weshalb die<br />

Zahl vielleicht ein etwas schiefes Bild ergibt. Jedenfalls war es für einen<br />

schönen, warmen, vielversprechenden Tag <strong>mit</strong> strahlend blauern Himmel<br />

Ende Juli nicht überdurchschnittlich voll.<br />

Der Aufstieg war einfacher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich konnte mich<br />

immer noch nicht so recht an das Bergwandern ohne schweres Gepäck<br />

gewöhnen. Das macht enorm viel aus. Ich möchte nicht behaupten, daß wir<br />

hinaufrannten, aber wenn man bedenkt, daß wir auf knapp 5.000 Metern<br />

Anstieg einen Höhenunterschied von l .370 Metern zu bewältigen hatten,<br />

gingen wir ein ziemlich flottes Tempo. Wir brauchten zwei Stunden und<br />

vierzig Minuten (<strong>Bill</strong>s Wanderführer für die White Mountains veranschlagt<br />

eine Gehzeit von vier Stunden und 15 Minuten), worauf wir ziemlich stolz<br />

waren.<br />

Sicher gibt es anspruchsvollere und faszinierendere Gipfel entlang des Appalachian<br />

Trail zu erklimmen als den Mount Washington, aber bei keinem<br />

erlebt man solche Überraschungen. Man kämpft sich den letzten Abschnitt<br />

des steinigen Steilhangs dieser insgesamt doch recht ansehnlichen Erhebung<br />

hoch, guckt über den Rand und wird ausgerechnet von einem riesigen, asphaltierten<br />

Parkplatz, voller in der heißen Sonne schimmernder Autos, empfangen.<br />

Dahinter liegen verstreut einige Gebäude, zwischen denen sich<br />

Massen von Menschen in Shorts und Baseballkappen tummeln. Es herrscht<br />

eine Atmosphäre wie auf einem Jahrmarkt, den man groteskerweise auf<br />

einen Berggipfel verlegt hat. Man gewöhnt sich daran, auf den Gipfeln<br />

entlang des AT keinen Menschen anzutreffen, und wenn, dann sind es immer<br />

nur wenige, die sich außerdem alle genau wie man selbst abgerackert<br />

haben, um es bis nach oben zu schaffen. Im Vergleich dazu war dieser<br />

Menschenauflauf hier einfach überwältigend. Mount Washington läßt sich<br />

bequem <strong>mit</strong> dem Auto über eine Mautstraße erreichen, die in Serpentinen<br />

am Hang verläuft, oder <strong>mit</strong> einer Zahnradbahn von der anderen Seite, und<br />

Hunderte Menschen – Aberhunderte, wie mir schien – hatten von diesen


eiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Überall wimmelte es von Leuten.<br />

Sie sonnten sich, beugten sich über das Geländer der Aussichtsterrassen,<br />

schlenderten zwischen den Souvenirläden und den Fastfood-Restaurants hin<br />

und her. Ich kam mir vor wie ein Besucher von einem anderen Stern und<br />

fand es wunderbar. Es war natürlich der reinste Alptraum und eine Schändung<br />

des höchsten Berges im Nordosten der Vereinigten Staaten, aber ich<br />

war froh, daß sich das alles wenigstens nur an einem Ort abspielte. Das<br />

machte den Rest des Trails perfekt.<br />

Das Zentrum der Aktivität bildete ein scheußlicher Betonbau, das Sum<strong>mit</strong><br />

Information Center, <strong>mit</strong> großen Fenstern, breiten Aussichtsplattformen und<br />

einer ausgesprochen gut besuchten Cafeteria. Gleich hinter dem Eingang<br />

hing eine lange Liste all derer, die am Berg umgekommen waren, dazu<br />

jeweils die Ursache, angefangen <strong>mit</strong> einem gewissen Frederick Strickland<br />

aus Bridlington, Yorkshire, der sich im Oktober 1849 während eines Sturms<br />

verirrt hatte, gefolgt von einer imposanten Aufzählung aller Unglücksfälle,<br />

die <strong>mit</strong> dem Lawinentod zweier Hiker vor gerade einmal drei Monaten<br />

endete. 1996 waren bereits drei Menschen an den Hängen des Mount Washington<br />

ums Leben gekommen, und das Jahr war noch nicht vorbei – eine<br />

ernüchternde Bilanz. Es gab auf der Tafel noch reichlich Platz für weitere<br />

Todesfälle.<br />

Im Kellergeschoß befand sich ein kleines Museum, das über Klima, geologische<br />

Beschaffenheit und die einzigartige Pflanzenwelt des Mount Washington<br />

informierte; meine besondere Aufmerksamkeit erregte jedoch ein<br />

witziger Kurzfilm <strong>mit</strong> dem Titel »Frühstück der Champions«, den die Meteorologen<br />

wahrscheinlich zu ihrem eigenen Vergnügen gedreht hatten. Er<br />

war <strong>mit</strong> einer fixierten Kamera auf der Gipfelterrasse aufgenommen worden.<br />

Man sieht darin einen Herrn bei einer der berüchtigten Sturmböen am<br />

Tisch sitzen, so als befände er sich in einem Gartenlokal. Während der Gast<br />

versucht, <strong>mit</strong> den Armen den Tisch festzuhalten, nähert sich ein offensichtlich<br />

<strong>mit</strong> äußerster Anstrengung gegen den Wind ankämpfender Kellner. Es<br />

sieht aus, als würde er in 10.000 Meter Höhe auf der Tragfläche eines Flugzeugs<br />

wandeln. Er versucht, dem Gast Cornflakes in eine Schale zu schütten,<br />

aber alles fliegt waagrecht aus der Pappschachtel heraus. Dann fügt der<br />

Kellner Milch hinzu, aber die spritzt ebenfalls seitlich weg und landet auf<br />

dem Gast – ein besonders lustiger Moment. Dann fliegt die Schale davon,<br />

danach das Besteck, wenn ich mich recht entsinne, schließlich macht sich<br />

der Tisch selbständig, und da<strong>mit</strong> endet der Film. Er war so nett, daß ich ihn<br />

mir zweimal anschaute; dann begab ich mich auf die Suche nach <strong>Bill</strong>, da<strong>mit</strong><br />

er ihn sich auch ansah. Ich konnte ihn in dem Gewimmel nicht entdecken,<br />

also ging ich nach draußen auf die Plattform und schaute zu, wie die Zahnradbahn<br />

schnaufend den Berg hinauf kroch und auf ihrer Fahrt schwarzen


Qualm ausstieß. An der Gipfelstation machte sie Halt, und weitere Hundertschaften<br />

zufriedener Touristen stiegen aus.<br />

Die Geschichte des Tourismus auf dem Mount Washington reicht weit<br />

zurück. Schon im Jahre 1852 befand sich auf dem Gipfel ein Restaurant,<br />

und die Besitzer hatten pro Tag an die hundert zahlende Gäste. 1853 wurde<br />

ein kleines Hotel aus Stein auf dem Berg errichtet, es nannte sich Tip-Top-<br />

House, und es war sofort ein durchschlagender Erfolg. 1869 baute ein ortsansässiger<br />

Unternehmer namens Sylvester March eine Zahnradbahn, die<br />

erste der Welt. Alle hielten ihn für verrückt, und niemand glaubte, daß für<br />

so etwas ein Bedarf bestünde, selbst wenn sie funktionieren sollte, was man<br />

ohnehin bezweifelte. Die aus ihr hervorquellenden Massen unter mir waren<br />

der Beweis des Gegenteils.<br />

Fünf Jahre nach Eröffnung der Zahnradbahn wurde das alte Tip-Top-House<br />

vom größeren und vornehmeren Sum<strong>mit</strong> House Hotel abgelöst, das wiederum<br />

einem zwölf Meter hohen Bettenturm weichen mußte, auf dessen Dach<br />

sich ein mehrfarbiger Scheinwerfer befand, der in ganz New England und<br />

sogar vom Meer aus zu sehen war. Bis Ende des Jahrhunderts erschien als<br />

neue Sommerattraktion täglich eine Gipfelzeitung, und American Express<br />

eröffnete eine Filiale dort oben.<br />

Auch am Fuß des Berges herrschte Hochkonjunktur. Die moderne Tourismusindustrie<br />

– in der Form, daß Menschen in Massen an einen schönen Ort<br />

reisen und dort bei ihrer Ankunft Zerstreuungen aller Art vorfinden – ist im<br />

wesentlichen eine Erfindung, die in den White Mountains ihren Ursprung<br />

hat. In jedem Tal schössen gigantische Hotels <strong>mit</strong> bis zu 250 Zimmern wie<br />

Pilze aus dem Boden. Sie waren in dem hübschen, hiesigen Stil entworfen<br />

und sahen aus – wie auf die Größe eines Krankenhauses oder Sanatoriums<br />

aufgeblasene Berghütten – sehr kunstvolle und reich verzierte Häuser, die<br />

zu den größten und kompliziertesten Holzbauten zählen, die je errichtet<br />

wurden, <strong>mit</strong> Türmchen und Erkern und allem erdenklichen architektonischen<br />

Schmuck, den das viktorianische Zeitalter zu bieten hatte. Sie verfügten<br />

über Wintergärten und Salons, Speisesäle für 200 Personen und Veranden,<br />

die wie die Promenadendecks von Kreuzfahrtschiffen aussahen und auf<br />

denen die Hotelgäste in der gesunden Luft bei einem Gläschen sitzend die<br />

zerklüftete felsige Pracht der Natur bestaunen konnten.<br />

Die feineren Hotels waren noch besser dran. Das Profile House in Franconia<br />

Notch zum Beispiel besaß einen eigenen Bahnanschluß zur knapp 13 Kilometer<br />

entfernten Bethlehem Junction. Auf dem Hotelgelände standen 21<br />

Cottages, jedes <strong>mit</strong> zwölf Schlafzimmern. Das Maplewood betrieb ein eigenes<br />

Casino, und die Gäste im Crawford House konnten zwischen zwölf<br />

Zeitungen wählen, die extra täglich aus New York und Boston herangeschafft<br />

wurden. Bei allem, was neu und interessant war – Aufzügen, Gasbe-


leuchtung, Swimmingpools, Golfplätzen –, hatten die White-Mountain-<br />

Hotels immer die Nase vorn. 1890 lagen 200 Hotels in den White Mountains<br />

verstreut. Nie zuvor hatte es eine solche Dichte von erstklassigen Hotels<br />

an einem Ort gegeben, schon gar nicht in den Bergen. Heute sind diese<br />

Häuser praktisch alle verschwunden.<br />

1902 eröffnete das größte von ihnen in Bretton Woods in einem weiten<br />

parkähnhchen Areal vor der Kulisse des Presidential Range. In einem imposanten<br />

Stil errichtet, den der Architekt selbst bescheiden als »spanische<br />

Renaissance« bezeichnete, stellte das Mount Washington Hotel den Gipfel<br />

an Eleganz und Opulenz dar. Es stand in einem über 1.000 Hektar großen<br />

Landschaftsgarten und hatte 235 Zimmer, die <strong>mit</strong> allen Finessen ausgestattet<br />

waren, die man <strong>mit</strong> Geld kaufen konnte. Allein für die Stuckarbeiten<br />

ließ man 250 Meister aus Italien anreisen. Bei seiner Fertigstellung war<br />

das Hotel jedoch bereits ein Anachronismus.<br />

Der Trend ging woandershin. Die amerikanischen Urlauber hatten das Meer<br />

entdeckt. Die White-Mountain-Hotels waren ein bißchen zu langweilig, ein<br />

bißchen zu abgelegen und für bescheidene Ansprüche ein bißchen zu teuer.<br />

Und was noch schlimmer war, die Hotels zogen das falsche Publikum an –<br />

Neureiche aus Boston und New York. Den Todesstoß aber versetzte ihnen<br />

das Automobil. Die Hotels waren dafür gebaut worden, daß die Gäste mindestens<br />

zwei Wochen blieben, aber das Auto verlieh den Menschen dauerhafte<br />

Mobilität. In der 1924er Ausgabe von New England Highways and<br />

Byways from a Motor Car schwärmt der Autor von der unvergleichlichen<br />

Pracht der White Mountains – den tosenden Wasserfällen in Franconia, der<br />

Alabasterherrlichkeit des Mount Washington, dem intimen Charme der<br />

kleinen Städte Lincoln und Bethlehem – und legt den Besuchern dringend<br />

ans Herz, sich für die Berge einen ganzen Tag Zeit zu nehmen. In Amerika<br />

begann das Zeitalter des Automobils und der beschränkten Aufnahmefähigkeit.<br />

Ein Hotel nach dem anderen wurde geschlossen, die Häuser wurden baufällig<br />

oder – was häufiger geschah – brannten bis auf die Grundmauern ab<br />

(wobei nicht selten die Versicherungspolice das Einzige war, was den<br />

Brand überstand), und der Wald eroberte sich das Gelände zurück. Früher<br />

konnte man vom Gipfel aus an die 20 Hotels sehen, heute ist nur noch eins<br />

davon übriggeblieben, das Mount Washington, <strong>mit</strong> seinem feschen roten<br />

Dach noch immer beeindruckend und irgendwie feierlich, aber in seiner<br />

einsamen Pracht und Herrlichkeit auch unwiederbringlich verloren. Selbst<br />

dieses Haus ist mehrmals nur knapp einer Pleite entkommen. An anderen<br />

Stellen tief unten im Tal, da, wo sich früher das Fabyan, das Mount Pleasant,<br />

das Crawford House und viele andere Hotels stolz erhoben, sind heute<br />

nur noch Bäume, Highways und Motels zu erkennen.


Die Ära der großen Hotels in den White Mountains dauerte insgesamt nur<br />

50 Jahre. Was wieder einmal die Altehrwürdigkeit des Appalachian Trail<br />

beweist. Mit diesem Gedanken begab ich mich auf die Suche nach meinem<br />

Freund <strong>Bill</strong>, um unsere gemeinsame Wanderung fortzusetzen.


19. Kapitel<br />

»Ich habe eine phantastische Idee«, sagte Stephen Katz. Wir saßen bei mir<br />

zu Hause in Hanover. Es war zwei Wochen später, und am nächsten Morgen<br />

wollten wir nach Maine aufbrechen.<br />

»Und die wäre?« sagte ich und versuchte, nicht allzu genervt zu klingen,<br />

denn phantastische Ideen sind nicht gerade Katz’ Stärke.<br />

»Du weißt doch, wie schrecklich schwer diese Rucksäcke immer sind.«<br />

Ich nickte. Davon konnte ich ein Lied singen.<br />

»Ich habe mir da nämlich etwas überlegt. Das heißt, eigentlich überlege ich<br />

da schon sehr lange. Denn um die Wahrheit zu sagen, <strong>Bryson</strong>, vor diesem<br />

Rucksackgeschleppe habe ich« – er senkte die Stimme – »einen Scheißhorror.«<br />

Er nickte feierlich und wiederholte das Schlüsselwort. »Und da kam<br />

mir eine geniale Idee. Eine echte Alternative. Mach die Augen zu.«<br />

»Warum?«<br />

»Es soll eine Überraschung sein.«<br />

Ich mache nicht gern die Augen zu, wenn man mich <strong>mit</strong> etwas überraschen<br />

will. Das konnte ich noch nie ausstehen. Aber ich tat ihm den Gefallen.<br />

Ich hörte, wie er in seinem ausrangierten Armeesack kramte. »Wer trägt<br />

ständig schwere Lasten <strong>mit</strong> sich herum?« fuhr er fort. »Das war die Frage,<br />

die ich mir gestellt habe. Wer muß jeden Tag viel <strong>mit</strong> sich herumschleppen?<br />

He, noch nicht gucken. Und dann kam mir die Idee.« Er schwieg einen<br />

Moment lang, als würde er noch ein paar entscheidende Veränderungen<br />

vornehmen, da<strong>mit</strong> seine Präsentation auch einen perfekten Eindruck machte.<br />

»Gut. Jetzt kannst du gucken.«<br />

Ich nahm die Hände von den Augen. Katz strahlte vor Stolz und hatte sich<br />

eine Zeitungstasche des Des Moines Register umgehängt – einen von den<br />

gelben Säcken, die Zeitungsboten sich über die Schulter werfen, bevor sie<br />

sich aufs Rad schwingen und ihre Runde machen.<br />

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte ich leise.<br />

»Es war mir noch nie so ernst <strong>mit</strong> etwas, mein lieber Wanderfreund. Ich<br />

habe dir auch eine <strong>mit</strong>gebracht.« Er zog die für mich gedachte Tasche aus<br />

seinem Armeesack, sie war zusammengefaltet und noch originalverpackt in<br />

einer durchsichtigen Plastiktüte.<br />

»Du kannst doch nicht <strong>mit</strong> so einer Zeitungstasche durch die Wildnis von<br />

Maine marschieren, Stephen.«<br />

»Wieso nicht? Sie ist bequem, sie ist geräumig, sie ist wasserdicht – fast<br />

jedenfalls –, und sie wiegt nur ein paar Gramm. Das ist die ideale Wanderausrüstung.<br />

Sag mir eins: Wann hast du das letzte Mal einen Zeitungsboten<br />

<strong>mit</strong> einem Knochenbruch gesehen?« Er nickte einmal knapp und energisch<br />

<strong>mit</strong> dem Kopf in meine Richtung, als würde das jedes Gegenargument zu-


nichte machen.<br />

Ich bewegte meine Lippen, als Andeutung, daß ich etwas sagen wollte, aber<br />

Katz plapperte weiter, bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen<br />

konnte.<br />

»Und hier ist mein Plan«, fuhr er fort. »Wir beschränken unser Gepäck auf<br />

das Allernotwendigste – kein Kocher, keine Gaskartuschen, keine Nudeln,<br />

kein Kaffee, keine Zelte, keine Packbeutel. Wir wandern und kampieren<br />

wie richtige Gebirgsburschen. Hatte Daniel Boone vielleicht einen Kunstfaserschlafsack<br />

für drei Jahreszeiten? Nicht, daß ich wüßte. Wir nehmen nur<br />

Trockennahrung <strong>mit</strong>, Wasserflaschen und höchstens eine Garnitur Ersatzkleidung.<br />

Wir können unser Gepäck auf zwei bis drei Kilo reduzieren. Und<br />

alles« – er wedelte hocherfreut <strong>mit</strong> der Hand in dem leeren Beutel –<br />

»kommt hier rein.« Sein Gesichtsausdruck war ein stilles Flehen, ihn <strong>mit</strong><br />

Beifall zu überschütten.<br />

»Hast du je einen Gedanken daran verschwendet, wie lächerlich du <strong>mit</strong><br />

dieser Tasche aussiehst?«<br />

»Ja. Aber das ist mir egal.«<br />

»Hast du je in Erwägung gezogen, was für ein nie versiegender Quell der<br />

Heiterkeit du für alle Menschen zwischen hier und Katahdin darstellen<br />

wirst?«<br />

»Mir alles scheißegal.«<br />

»Also gut. Hast du je daran gedacht, was ein Ranger wohl dazu sagen wird,<br />

wenn er dich <strong>mit</strong> einer Zeitungstasche auf den langen Marsch durch die<br />

Hundred Mile Wilderness aufbrechen sieht? Weißt du, daß sie das Recht<br />

haben, jeden zurückzuweisen, den sie physisch und psychisch für ungeeignet<br />

halten?« Das war eine glatte Lüge, aber es zeichnete sich eine vielversprechende<br />

Falte auf Katz’ Stirn ab. »Und hast du dir auch mal überlegt,<br />

daß der Grund dafür, warum Zeitungsboten keine Knochenbrüche haben,<br />

vielleicht darin liegt, daß sie die Tasche nur ungefähr eine Stunde pro Tag<br />

tragen müssen? Daß es vielleicht nicht allzu bequem sein dürfte, sie zehn<br />

Stunden am Stück bergauf zu tragen? Daß sie unentwegt gegen deine Beine<br />

schlackert und daß der Gurt dir deine Schultern wundscheuert? Guck doch<br />

mal, er kratzt dir ja jetzt schon am Hals.«<br />

Er blickte verstohlen hinunter zu dem Gurt. Das einzig Positive an Katz’<br />

großartigen Ideen ist, daß man sie ihm sehr schnell wieder ausreden kann.<br />

Er zog den Gurt über seinen Kopf und legte die Tasche wieder hin. »Also<br />

gut«, räumte er ein, »scheiß auf die Taschen. Aber diesmal nehmen wir nur<br />

leichtes Gepäck <strong>mit</strong>.«<br />

Da<strong>mit</strong> war ich einverstanden. Mehr noch, es war sogar ein absolut vernünftiger<br />

Vorschlag. Wir packten mehr ein, als Katz sich gewünscht hatte – ich<br />

bestand darauf, daß wir Schlafsäcke, warme Kleidung und unsere Zelte


<strong>mit</strong>nahmen, auch wenn das eine größere Belastung für Katz darstellte, als<br />

ihm lieb war –, aber ich erklärte mich da<strong>mit</strong> einverstanden, den Kocher, die<br />

Gaskartuschen, Töpfe und Pfannen zu Hause zu lassen. Wir konnten uns<br />

von mir aus von Trockennahrung ernähren – hauptsächlich Snickers, Rosinen<br />

und einer unverderblichen Salami, die sich Slim Jim nannte. Wir würden<br />

in den 14 Tagen schon nicht verhungern. Außerdem konnte ich keinen<br />

Nudeleintopf mehr sehen. Alles in allem sparten wir da<strong>mit</strong> ungefähr zwei<br />

bis zweieinhalb Kilo pro Person ein, eigentlich lächerlich, aber Katz freute<br />

sich kindisch. Es kam nicht oft vor, daß er seinen Willen bekam, wenn auch<br />

nur teilweise.<br />

Und so brachte uns meine Frau am nächsten Tag <strong>mit</strong> dem Auto bis tief in<br />

den schier endlosen Wald im Norden von Maine, von wo aus Katz und ich<br />

zu unserer Hundred-Mile-Wilderness-Tour aufbrechen wollten. Maine ist<br />

trügerisch. Es ist der zwölftkleinste Bundesstaat, aber er hat mehr unbesiedeltes<br />

Waldgebiet – vier Millionen Hektar – als jeder andere Bundesstaat<br />

außer Alaska. Auf Fotos sieht es immer friedlich und verlockend aus, wie<br />

ein einziger großer Park, <strong>mit</strong> Hunderten kühlen, tiefen Seen und einer welligen,<br />

nebelverhangenen Gebirgslandschaft, so weit das Auge reicht. Nur<br />

der Katahdin bietet <strong>mit</strong> seinen nackten Felshängen unterhalb des Gipfels<br />

und seiner überraschend brachialen Erscheinung einen einschüchternderen<br />

Anblick. In Wahrheit ist aber alles ziemlich anstrengend.<br />

Die Waldhüter in Maine haben eine gewisse natürliche Begabung dafür, die<br />

steinigsten Anstiege und die gefährlichsten Hänge für den Trail auszusuchen,<br />

und von denen besitzt Maine eine atemberaubende Menge. Auf seinen<br />

455 Kilometern durch Maine verlangt der Appalachian Trail von dem Wanderer,<br />

der von Süden nach Norden geht, 30.000 Höhenmeter Kletterei, also<br />

dreimal den Everest rauf und runter. Mittendrin liegt die berühmte Hundred<br />

Mile Wilderness, die von dem kleinen Ort Monson bis zu einem Campingplatz<br />

in Abol Bridge reicht, ein Stück hinter dem Mount Katahdin. Es sind<br />

genau 160,44 Kilometer Waldwanderweg, ohne ein Haus, einen Laden, ein<br />

Telefon oder eine asphaltierte Straße – der abgelegenste Abschnitt des gesamten<br />

AT. Wenn einem hier etwas passiert, ist man auf sich allein gestellt<br />

und kann schon an einer infizierten Blutblase sterben.<br />

Die meisten brauchen eine Woche bis zehn Tage, um diese berüchtigte<br />

Wildnis zu durchqueren. Da wir zwei Wochen zur Verfügung hatten, ließen<br />

wir uns von meiner Frau in Caratunk absetzen, einem abgeschiedenen Ort<br />

am Kennebec River, 61 Kilometer vor Monson und dem offiziellen Ausgangspunkt<br />

der Strecke. So blieben uns drei Tage, um uns einzustimmen,<br />

und wir hatten Gelegenheit, uns in Monson noch einmal <strong>mit</strong> dem Nötigsten<br />

einzudecken, bevor wir uns endgültig in die Waldwildnis begaben. Ich war


ereits in der Woche, bevor Katz dazustieß, zur Erkundung weiter westlich,<br />

um den Rangeley und den Flagstaff Lake, ein bißchen gewandert, und ich<br />

hatte das Gefühl, als würde ich das Gelände einigermaßen kennen. Trotzdem<br />

war es der reinste Schock.<br />

Es war das erste Mal seit vier Monaten, daß ich wieder einen vollbepackten<br />

Rucksack aufsetzte. Ich konnte kaum fassen, wie schwer das Ding war,<br />

konnte kaum fassen, daß ich es je hatte fassen können. Der Druck war unausweichlich<br />

und entmutigend. Aber wenigstens war ich zwischendurch<br />

mal gewandert. Katz, das war sofort zu sehen, fing wieder bei Null an –<br />

eigentlich noch davor, genauer gesagt. Von Caratunk aus führte ein sanfter,<br />

acht Kilometer langer Anstieg zu einem großen See, dem Pleasant Pond.<br />

Das sollte eigentlich kein Problem sein, aber ich bemerkte gleich, daß Katz<br />

<strong>mit</strong> unglaublicher Anstrengung einen Fuß vor den anderen setzte und<br />

schwer atmete. Sein Gesicht zeigte einen entsetzten Ausdruck, als würde er<br />

sich fragen: Wo bin ich hier bloß gelandet?<br />

Wenn ich mich nach seinem Befinden erkundigte, konnte er immer nur in<br />

höchst erstauntem Tonfall »Mann, oh Mann!« von sich geben, und als er bei<br />

der ersten Pause nach einer Dreiviertelstunde den Rucksack auf den Boden<br />

plumpsen ließ, entfuhr ihm ein aus tiefster Seele kommendes »Schaaaaaaeiße!«<br />

– keuchend und schleppend, ein Geräusch, als würde sich jemand auf<br />

einem prallen Kissen niederlassen. Es war ein schwüler Nach<strong>mit</strong>tag, und<br />

Katz war schweißüberströmt. Er holte eine Wasserflasche hervor und trank<br />

sie zur Hälfte aus. Dann sah er mich <strong>mit</strong> einem leicht verzweifelten Blick<br />

an, setzte den Rucksack wieder auf und tat wortlos seine Pflicht.<br />

Pleasant Pond ist ein Ferienort. Man hörte das vergnügte Kreischen von<br />

Kindern, die keine hundert Meter entfernt im Wasser planschten und<br />

schwammen – obwohl wir von dem See selbst durch die Bäume hindurch<br />

nichts erkennen konnten. Ohne den Lärm hätten wir gar nicht gemerkt, daß<br />

es dort einen See gab, eine ernüchternde Erinnerung daran, wie beklemmend<br />

dicht ein Wald sein kann. Hinter dem See erhob sich der Middle<br />

Mountain, schlappe 760 Meter hoch, aber in einem steilen Winkel – bei<br />

heißem Wetter und einem klobigen Sack hinten drauf, der auf die schwachen<br />

Schultern drückt, ist das doppelt so anstrengend. Ich trabte lustlos<br />

weiter bis zum Gipfel. Katz fiel sehr schnell weit zurück und kam <strong>mit</strong> unendlicher<br />

Langsamkeit hinterhergeschlurft.<br />

Es war bereits nach sechs, als ich auf der anderen Seite am Fuß des Berges<br />

ankam und an einem Flüßchen namens Baker Stream, neben einem grasbewachsenen,<br />

kaum benutzten Forstweg, einen guten Lagerplatz für uns fand.<br />

Ich wartete ein paar Minuten auf Katz und schlug dann mein Zelt auf. Als er<br />

nach 20 Minuten immer noch nicht kam, machte ich mich auf die Suche<br />

nach ihm. Es dauerte fast eine Stunde, bis ich ihn schließlich fand; seine


Augen waren ganz glasig.<br />

Ich nahm ihm den Rucksack ab und stöhnte bei der nicht ganz unerwarteten<br />

Feststellung, daß er einigermaßen leicht war.<br />

»Was ist <strong>mit</strong> deinem Rucksack passiert?«<br />

»Hab’ ein paar Sachen weggeworfen«, erwiderte er mißmutig.<br />

»Was für Sachen?«<br />

»Klamotten und so.« Er war unsicher, ob er beschämt oder aggressiv reagieren<br />

sollte. Er entschied sich für letzteres. »Als erstes diesen blöden Pullover«<br />

Wir hatten uns beim Packen etwas über die Notwendigkeit von Wollsachen<br />

gestritten.<br />

»Aber es könnte kalt werden. Das Wetter ist wechselhaft in den Bergen.«<br />

»Ja, ja. Wir haben August, <strong>Bryson</strong>. Falls dir das noch nicht aufgefallen sein<br />

sollte.«<br />

Es hatte nicht viel Zweck, <strong>mit</strong> ihm zu diskutieren. Als wir das Lager erreichten<br />

und er sein Zelt aufschlug, warf ich einen Blick in seinen Rucksack.<br />

Er hatte fast seine ganze Ersatzkleidung weggeworfen und anscheinend<br />

auch einigen Proviant.<br />

»Wo sind die Erdnüsse geblieben?« fragte ich ihn. »Und deine , Salami?«<br />

»Wir brauchen den ganzen Scheiß nicht. Es sind doch nur drei Tage bis<br />

Monson.«<br />

»Der Proviant war hauptsächlich für die Hundred Mile Wilderness gedacht,<br />

Stephen. Wir wissen doch gar nicht, was es für Lebens<strong>mit</strong>tel in Monson<br />

gibt.«<br />

»Ach so.« Er sah mich erschrocken und reumütig an. »Ich fand, es war<br />

einfach zu viel für drei Tage.«<br />

Ich wühlte verzweifelt in seinem Rucksack, dann suchte ich den Boden ab.<br />

»Wo ist deine zweite Wasserflasche?«<br />

Er setzte eine dämliche Miene auf. »Die habe ich weggeworfen. «<br />

»Hast du wirklich deine Wasserflasche weggeworfen?« Das war der reinste<br />

Wahnsinn. Wenn man eins beim Wandern im August absolut braucht, dann<br />

literweise Trinkwasser.<br />

»Sie war zu schwer.«<br />

»Natürlich ist die schwer. Wasser ist immer schwer. Aber es ist nun mal<br />

lebensnotwendig, findest du nicht?«<br />

Er sah mich wieder hilflos an. »Ich mußte etwas Gewicht loswerden. Ich<br />

war verzweifelt.«<br />

»Nein. Saublöd.«<br />

»Ja, das auch«, pflichtete er mir bei.<br />

»Wenn du nur nicht immer solchen Scheiß machen würdest, Stephen.«<br />

»Ich weiß«, sagte er bußfertig.<br />

Während Katz weiter sein Zelt aufbaute, ging ich los, um für den nächsten


Morgen Wasser zu filtern. Baker Stream war eigentlich ein richtiger Fluß –<br />

breit, flach, klar – und sah im Licht des Sommerabends, <strong>mit</strong> den überhängenden<br />

Zweigen im Hintergrund und den letzten Sonnenstrahlen, die auf<br />

der Wasseroberfläche funkelten, sehr malerisch aus. Als ich so am Ufer<br />

kniete, spürte ich irgend etwas Merkwürdiges – ich weiß nicht was – zwischen<br />

den Bäumen links hinter mir, das mich veranlaßte aufzustehen und<br />

durch das Gestrüpp am Ufer zu schauen. Weiß der Himmel, was mich dazu<br />

trieb, mich umzusehen, denn bei dem melodischen Geplätscher des Flußwassers<br />

hätte ich gar nichts hören können – jedenfalls starrte mich aus dem<br />

dunklen Unterholz knapp fünf Meter von mir entfernt <strong>mit</strong> haßerfülltem<br />

Blick ein Elch an, voll ausgewachsen, ein Weibchen, wie ich vermutete, da<br />

es kein Geweih trug. Offenbar war es auf dem Weg zu seiner Wasserstelle<br />

gewesen, als es durch meine Anwesenheit aufgehalten worden war. Jetzt<br />

schien es unentschlossen, was es tun sollte.<br />

Mitten im Wald einem wilden Tier, das größer ist als man selbst, von Angesicht<br />

zu Angesicht gegenüberzustehen ist eine außergewöhnliche Erfahrung.<br />

Man weiß natürlich, daß diese Tiere dort leben, aber man erwartet in keinem<br />

Moment, tatsächlich einem zu begegnen, und schon gar nicht, eines aus<br />

so un<strong>mit</strong>telbarer Nähe zu sehen. Dieses hier war so nah, daß ich den<br />

Schwärm fliegenähnlicher Insekten erkennen konnte, die seinen Kopf umkreisten.<br />

Wir schauten uns minutenlang in die Augen, beide unsicher, wie<br />

wir uns verhalten sollten. Es lag etwas Abenteuerliches in dieser Begegnung,<br />

das war deutlich zu spüren, aber auch etwas Tiefgründiges und Elementares<br />

– eine Art gegenseitige Anerkennung, die ein dauerhafter Blickkontakt<br />

<strong>mit</strong> sich bringt. Das war das Aufregende daran – das Gefühl, daß in<br />

unserer behutsamen, gegenseitigen Respektbezeugung gewissermaßen eine<br />

Begrüßung zum Ausdruck kam. Ich war hingerissen.<br />

Kurz zuvor hatte ich irgendwo zu meinem Ärger gelesen, daß man in New<br />

England wieder angefangen hat, Jagd auf Elche zu machen. Es ist mir ein<br />

Rätsel, wie man auf so ein harmloses und zurückhaltendes Tier wie einen<br />

Elch schießen kann, aber Tausende von Menschen finden Vergnügen daran,<br />

offenbar sogar so viele, daß einige Bundesstaaten dazu übergegangen sind,<br />

die Jagdlizenzen zu verlosen. 1996 gingen für die 1.500 in Maine zu vergebenden<br />

Jagdscheine 82.000 Anträge ein, und über 12.000 Antragsteller aus<br />

anderen Bundesstaaten zahlten bereitwillig 20 Dollar Gebühr nur für die<br />

Erlaubnis, überhaupt an der Verlosung teilnehmen zu dürfen.<br />

Die Jäger wollen einem weismachen, Elche seien wilde und bösartige Tiere.<br />

Unsinn. Elche sind friedlich wie Kühe, die von einem Dreijährigen am<br />

Strick herumgeführt werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Elche sind<br />

die seltsamsten Geschöpfe, die je in der Wildnis gelebt haben, und sie sind<br />

auf liebenswerte Weise hilflos. Alles an einem Elch – die spindeldürren


Beinchen, der typische, unentwegt verwirrte Gesichtsausdruck, das komische,<br />

wie zwei Topfhandschuhe geformte Geweih – -wirkt wie ein einziger<br />

possierlicher Witz der Evolution. Das Tier ist erstaunlich unbeholfen: Es<br />

läuft, als wüßte ein Bein nicht, was das andere macht. Was den Elch jedoch<br />

besonders auszeichnet, ist der unübertreffliche Mangel an Intelligenz. Wenn<br />

man auf einem Highway fährt und unterwegs tritt ein Elch aus dem Wald<br />

und stellt sich in den Weg, starrt einen das Tier erstmal minutenlang an -<br />

Elche sind bekannt für ihre Kurzsichtigkeit –, dann, urplötzlich, versucht es<br />

wegzurennen, jedes Bein in eine andere Richtung. Es spielt keine Rolle, daß<br />

sich zu beiden Seiten des Highway Zigtausende Hektar Wald erstrecken.<br />

Dem Elch ist das egal. Ahnungslos läuft er zuerst Richtung New Brunswick,<br />

bevor ihn seine ungelenken Schritte auf halbem Weg zurück in den<br />

Wald treiben, wo er, kaum angekommen, sofort wieder stehenbleibt und<br />

seinen gewohnt verwirrten Gesichtsausdruck aufsetzt, als sagte er sich:<br />

Hallo, Wald. Wie bin ich bloß hierher gekommen? Elche sind dermaßen<br />

konfus im Kopf, daß sie, sobald das Geräusch eines sich nähernden Autos<br />

oder Lastwagens zu hören ist, sogar aus dem Wald heraus auf den Highway<br />

stürmen, in der Hoffnung, dort vor dem Verkehr sicher zu sein.<br />

Erstaunlicherweise gehört der Elch, trotz seines exorbitanten Mangels an<br />

Grips und des eigenartig getrübten Überlebensinstinkts, zu den Tieren in<br />

Nordamerika, die am längsten überlebt haben. Außer Elchen tummelten<br />

sich früher noch Mastodons, Säbelzahntiger, Wölfe, Karibus, Wildpferde<br />

und sogar Kamele im Osten der Vereinigten Staaten, aber alle gingen allmählich<br />

ihrer Ausrottung entgegen, während die Elche einfach weiter durch<br />

die Lande trabten. Das war nicht immer so. Schätzungen zufolge lebten um<br />

die Jahrhundertwende nur noch ein Dutzend Elche in New Hampshire und<br />

in Vermont vermutlich kein einziges Exemplar mehr. Heute gibt es in New<br />

Hampshire ungefähr 5.000 Elche, in Vermont etwa 1.000 und in Maine an<br />

die 30.000. Diese konstanten beziehungsweise steigenden Zahlen sind der<br />

Grund dafür, daß die Tiere wieder zur Jagd freigegeben worden sind. Hierbei<br />

gilt es jedoch zweierlei zu bedenken: Zunächst einmal sind die Zahlen<br />

reine Spekulation. Elche treten nicht zum Zählappell an. Manche Biologen<br />

sind der Ansicht, die Schätzungen könnten bis zu 20 Prozent zu hoch liegen,<br />

was bedeuten würde, daß die Jagd keine Auslese wäre, sondern eine pure<br />

Metzelei. Nicht weniger relevant ist das Argument, daß es zutiefst und unzweifelhaft<br />

unrecht ist, ein so einfältiges und anspruchsloses Tier wie den<br />

Elch zu töten. Dieses hier hätte ich <strong>mit</strong> einer Schleuder erlegen können, <strong>mit</strong><br />

einem Stein oder einem Stock -wahrscheinlich sogar <strong>mit</strong> einer zusammengefalteten<br />

Zeitung –, dabei wollte es doch nur einen Schluck Wasser trinken.<br />

Da kann man doch gleich Jagd auf Kühe machen.<br />

Vorsichtig, um das Tier nicht aufzuschrecken, schlich ich davon, um Katz


Bescheid zu sagen. Als wir wiederkehrten, war der Elch ans Wasser getreten<br />

und trank ungefähr sieben Meter flußaufwärts. »Meine Güte«, keuchte<br />

Katz. Er war begeistert, wie ich zufrieden feststellte. Der Elch schaute zu<br />

uns herüber, kam zu dem Schluß, daß wir ihm nichts Böses wollten, und<br />

trank weiter. Wir beobachteten das Weibchen noch ein paar Minuten lang,<br />

aber die Stechmücken fraßen uns dabei fast auf. Also rissen wir uns von<br />

dem Anblick los und kehrten <strong>mit</strong> einem erhabenen Gefühl zu unserem Zeltlager<br />

zurück. Es war wie eine Bestätigung – wir waren jetzt wirklich in der<br />

Wildnis angekommen -und eine erfreuliche und angemessene Belohnung<br />

für einen Tag der Schinderei.<br />

Wir nahmen unser Abendessen ein, Slim Jims, Rosinen und Snickers, und<br />

zogen uns anschließend vor den Dauerattacken der Mücken in unsere Zelte<br />

zurück. Während wir so dalagen, sagte Katz ziemlich fröhlich: »Anstrengender<br />

Tag heute. Ich bin geschafft.« Redseligkeit zur Schlafenszeit sah<br />

ihm gar nicht ähnlich.<br />

Ein zustimmendes Räuspern meinerseits.<br />

»Ich hatte vergessen, wie anstrengend es ist.«<br />

»Ja, ich auch.«<br />

»Aber die ersten Tage sind immer anstrengend, oder?«<br />

»Ja.«<br />

Er stieß zum Abschluß einen Seufzer aus und gähnte herzhaft. »Morgen<br />

wird es besser«, sagte er, immer noch gähnend. Wahrscheinlich sollte das<br />

heißen, daß er morgen keine Sachen wegwerfen würde. »Also dann, gute<br />

Nacht«, fügte er hinzu.<br />

Ich sah wie gebannt in die Richtung, aus der die Stimme kam. In all den<br />

Wochen unserer gemeinsamen Zeltlager war dies das erste Mal, daß er mir<br />

eine gute Nacht wünschte.<br />

»Gute Nacht«, sagte ich.<br />

Ich drehte mich auf die andere Seite. Er hatte natürlich recht. Die ersten<br />

Tage sind immer schlimm. Morgen würde es bestimmt besser. Minuten<br />

später waren wir beide eingeschlafen.<br />

Wir hatten uns beide geirrt. Der nächste Tag fing ganz gut an, <strong>mit</strong> einem<br />

Morgenrot, das heiße Temperaturen versprach. Es war das erste Mal während<br />

unserer Wanderung, daß wir bei warmem Wetter aufstanden, und wir<br />

freuten uns über diese Premiere. Wir packten unsere Zelte ein, frühstückten<br />

Rosinen und Snickers und brachen auf. Um neun Uhr stand die Sonne bereits<br />

hoch und knallte erbarmungslos auf uns nieder. Normalerweise ist es<br />

im Wald selbst an heißen Tagen einigermaßen kühl, aber heute war die Luft<br />

stickig und feucht, geradezu tropisch. Zwei Stunden nach unserem Aufbruch<br />

kamen wir an eine schätzungsweise knapp einen Hektar große Lagune<br />

voller Schilf, umgestürzter Baumstämme und den nackten Rümpfen


abgestorbener Bäume. Libellen tanzten auf der Wasseroberfläche. Am anderen<br />

Ufer erhob sich ein gigantischer Koloß, der Moxie Bald Mountain, und<br />

wartete auf uns. Aber zunächst stellten wir <strong>mit</strong> großer Beunruhigung fest,<br />

daß der Weg am Rand des Sees abrupt endete. Katz und ich sahen uns an –<br />

hier konnte etwas nicht stimmen. Zum ersten Mal seit damals in Georgia<br />

fragten wir uns ernsthaft, ob wir uns verirrt hatten. (Wer weiß, wie sich<br />

Chicken John in so einer Situation verhalten hätte.) Wir gingen den gleichen<br />

Weg ein gutes Stück zurück, überprüften irritiert unsere Karte und unseren<br />

Trail-Führer, suchten nach einer Alternativroute um den See herum, durch<br />

das dichte, die Haut aufschürfende Unterholz, und gelangten schließlich zu<br />

der Erkenntnis, daß man offenbar von uns erwartete, daß wir den See<br />

durchquerten. Katz entdeckte auf der gegenüberliegenden Seite, knapp 80<br />

Meter entfernt, die Fortsetzung des Wegs und das typische weiße Wanderzeichen<br />

des Appalachian Trail. Wir mußten also durch das Wasser waten.<br />

Katz ging voraus, barfuß und in Boxershorts, nahm einen langen Stock zur<br />

Hilfe und stakte da<strong>mit</strong> durch das Gewirr von halb unter, halb über Wasser<br />

liegenden Baumstämmen. Ich folgte ihm in gebührendem Abstand auf die<br />

gleiche Weise und achtete darauf, daß ich <strong>mit</strong> meinem Gewicht nicht einen<br />

Baumstamm belastete, auf dem er gerade ging. Die Stämme waren <strong>mit</strong> einer<br />

dicken Moosschicht bedeckt und schnellten hoch oder drehten sich, wenn<br />

man auf sie trat. Zweimal wäre Katz beinahe gestürzt. Nach ungefähr 25<br />

Metern verlor er gänzlich den Halt und fiel platschend, <strong>mit</strong> rudernden Armen<br />

und lautem Wehgeschrei in das trübe Wasser. Er tauchte vollständig<br />

unter, tauchte auf, ging wieder unter und kam heftig strampelnd und <strong>mit</strong> den<br />

Armen fuchtelnd hoch, so daß ich im ersten Moment dachte, er würde ertrinken.<br />

Das Gewicht seines Rucksacks zog ihn nach hinten und hinderte<br />

ihn daran, sich aufzurichten oder wenigstens den Kopf über Wasser zu halten.<br />

Ich wollte gerade meinen eigenen Rucksack absetzen und mich in die<br />

Fluten stürzen und ihm zur Hilfe eilen, als Katz einen Baumstamm zu fassen<br />

bekam und sich an ihm in eine aufrechte Haltung hochzog. Das Wasser<br />

reichte ihm bis zur Brust. Er klammerte sich an den Baumstamm, keuchte<br />

schwer vor Anstrengung, wieder zu Atem zu kommen und sich zu beruhigen.<br />

Er hatte offenbar einen gehörigen Schrecken bekommen.<br />

»Geht es wieder?« fragte ich ihn.<br />

»Alles prima«, erwiderte er. »Alles prima. Ich frage mich nur, warum sie<br />

hier keine Krokodile ausgesetzt haben, dann wäre es wenigstens ein richtiger<br />

Abenteuerurlaub.«<br />

Ich kämpfte mich weiter vorwärts, aber nach wenigen Schritten fiel ich auch<br />

ins Wasser. Es gab ein paar Momente, da sah ich die Welt, surreal und wie<br />

in Zeitlupe, aus der ungewöhnlichen Perspektive eines Tauchers, während<br />

sich meine Hand verzweifelt nach einem Baumstamm ausstreckte, ihn aber


knapp verfehlte – all das geschah in einer seltsamen Stille, wie in einer<br />

Blase –, bevor Katz mir <strong>mit</strong> schaufelnden Bewegungen zur Hilfe eilte, mich<br />

zurück in die Welt des Lichts und der Geräusche zog und auf die Beine<br />

stellte. Ich war erstaunt, wie kräftig er war.<br />

»Danke«, prustete ich.<br />

»Keine Ursache.«<br />

Wir wateten <strong>mit</strong> schweren Schritten ans andere Ufer, fielen abwechselnd<br />

hin und halfen uns gegenseitig wieder auf die Beine, krochen die matschige<br />

Böschung hoch, halb verrottete Pflanzen im Schlepptau und <strong>mit</strong> triefenden<br />

Rucksäcken. Wir setzten unsere Last ab und ließen uns völlig durchnäßt und<br />

erledigt auf dem Boden nieder und schauten hinaus auf die Lagune, als hätte<br />

diese uns soeben einen bitterbösen Streich gespielt. Ich wüßte nicht, wann<br />

ich mich je so früh am Tag so erschöpft gefühlt hatte. Plötzlich hörten wir<br />

Stimmen, und zwei junge Hiker, locker, flockig und ziemlich sportlich,<br />

traten aus dem Wald hervor. Sie begrüßten uns <strong>mit</strong> einem Kopfnicken und<br />

schauten abschätzend auf das Wasser.<br />

»Da müßt ihr wohl oder übel durch«, sagte Katz.<br />

Einer der beiden sah ihn erstaunt, aber nicht unfreundlich an. »Seid ihr das<br />

erste Mal in dieser Gegend?« fragte er.<br />

Wir nickten.<br />

»Ich will euch ja nicht den Mut nehmen, aber ihr habt gerade erst da<strong>mit</strong><br />

angefangen, naß zu werden.«<br />

Mit diesen Worten hoben die beiden ihre Rucksäcke über den Kopf,<br />

wünschten uns alles Gute und stiegen ins Wasser. Sie wateten geschickt in<br />

knapp 30 Sekunden hindurch – Katz und ich hatten dafür die gleiche Anzahl<br />

von Minuten gebraucht-, stiegen am anderen Ufer heraus, als hätten sie ein<br />

Fußbad genommen, setzten die trockenen Rucksäcke wieder auf, winkten<br />

kurz zu uns herüber und verschwanden.<br />

Katz holte einmal tief und bedächtig Luft – es war teils ein Seufzer, teils die<br />

Freude über die Fähigkeit, wieder atmen zu können. »Ich will nicht destruktiv<br />

sein, <strong>Bryson</strong>, wirklich nicht, das schwöre ich dir, aber ich weiß nicht, ob<br />

ich für so etwas der Richtige bin. Könntest du deinen Rucksack einfach so<br />

über den Kopf halten?«<br />

»Nein.«<br />

Mit dieser Vorahnung setzten wir uns die Rucksäcke wieder auf und stapften<br />

klatschnaß den Moxie Bald Mountain hinauf.<br />

Die Wanderung entlang des Appalachian Trail ist das Anstrengendste, was<br />

ich je unternommen habe, und der Abschnitt in Maine war bei weitem der<br />

anstrengendste Teil. Das lag zum einen an der Hitze. Maine, das zu den<br />

Bundesstaaten <strong>mit</strong> eher gemäßigtem Klima zählt, wurde gerade von einer


mörderischen Hitzewelle überrollt. In der sengenden Sonne strahlten die<br />

schattenlosen Granitflächen des Moxie Bald eine wahre Gluthitze ab, und<br />

selbst im Wald war die Luft drückend und feucht, als hauchten uns die<br />

Bäume und Blätter ihren heißen Atem entgegen. Wir schwitzten wie die<br />

Tiere und schütteten Unmengen von Wasser in uns hinein, hatten aber<br />

trotzdem permanent Durst. Manchmal war Wasser im Überfluß vorhanden,<br />

aber meistens gab es über weite Strecken keinen einzigen Tropfen, so daß<br />

wir nie sicher sein konnten, wieviel wir vernünftigerweise zu uns nehmen<br />

konnten, ohne später knapp dran zu sein. Selbst bei vollem Vorrat machte es<br />

sich jetzt bemerkbar, daß Katz eine Flasche weggeworfen hatte. Zu alldem<br />

kamen noch die erbarmungslosen Insekten, das beunruhigende Gefühl der<br />

Abgeschiedenheit und das schwierige Gelände hinzu.<br />

Katz reagierte darauf so, wie ich es vorher noch nicht bei ihm erlebt hatte.<br />

Er zeigte eine verbissene Entschlossenheit, als gäbe es nur eine Möglichkeit,<br />

<strong>mit</strong> diesem Problem fertig zu werden: Augen zu und durch.<br />

Am nächsten Morgen gelangten wir in aller Frühe an den ersten von mehreren<br />

Wasserläufen, die wir durchqueren mußten. Er hieß Bald Mountain<br />

Stream, aber in Wahrheit handelte es sich um einen richtigen Fluß – breit,<br />

bewegt und im Flußbett übersät <strong>mit</strong> großen Steinbrocken. Er hatte etwas<br />

sehr Einnehmendes an sich – die Oberfläche glitzerte in der Morgensonne<br />

wie Tausende von Pailletten, und das Wasser war unglaublich klar –, aber<br />

es herrschte eine starke Strömung, und vom Ufer aus konnte man nicht<br />

erkennen, wie tief er in der Mitte war. Es gab einige größere Flüsse in der<br />

Nähe, zu denen mein Appalachian Trail Guide to Maine naiv meinte, es sei<br />

»schwierig oder gefährlich, sie bei Hochwasser zu durchqueren«. Ich beschloß,<br />

diese Information lieber nicht an Katz weiterzugeben.<br />

Wir zogen Schuhe und Strümpfe aus, krempelten die Hosenbeine hoch und<br />

stiegen vorsichtig in das eisige Wasser. Die Steine auf dem Grund hatten<br />

alle möglichen Größen und Formen -flach, eiförmig, rund – und drückten<br />

hart gegen die Fußsohlen, sie waren <strong>mit</strong> einer glitschigen, grünlichen<br />

Schicht bedeckt, die unglaublich rutschig war. Ich hatte noch keine drei<br />

Schritte getan, als ich ausglitt und schmerzhaft auf dem Hintern landete. Ich<br />

rappelte mich halbwegs hoch, rutschte aber wieder aus und stürzte erneut,<br />

taumelte ein, zwei Meter seitwärts, kippte dann hilflos vornüber, konnte<br />

mich <strong>mit</strong> den Händen auffangen und hockte schließlich auf allen vieren wie<br />

ein Hund im Wasser. Beim Aufprall rutschte mir der Rucksack über den<br />

Kopf, und die Schuhe, die ich <strong>mit</strong> den Schnürsenkeln an das Rucksackgestell<br />

gebunden hatte, wurden in eine Art Umlaufbahn geschleudert. Sie<br />

flogen in einem großen eleganten Bogen seitlich am Rucksack vorbei, stießen<br />

gegen meinen Schädel, knallten aufs Wasser auf und schaukelten dann<br />

in der Strömung. Während ich dasaß und mir einredete, daß dies alles eines


schönen Tages nur noch Erinnerung sein würde, kamen zwei Burschen, die<br />

aussahen wie Klone der beiden jungen Männer vom Vortag, selbstsicheren<br />

Schrittes und Wasser spritzend vorbeigeschlendert, ihre Rucksäcke über<br />

ihre Köpfe haltend.<br />

»Hingefallen?« sagte der eine munter.<br />

»Nein. Ich wollte mir nur mal das Wasser von unten ansehen.« Schlaumeier.<br />

Ich ging zurück ans Ufer, zog meine durchweichten Schuhe an und stellte<br />

fest, daß es deutlich einfacher war, den Fluß <strong>mit</strong> festem Schuhwerk statt<br />

barfuß zu durchqueren. Ich konnte mich einigermaßen aufrecht halten, und<br />

die Steine schmerzten auch nicht mehr so wie vorhin an den nackten Füßen.<br />

Ich ging vorsichtig, überrascht von der starken Strömung in der Mitte –<br />

jedesmal, wenn ich ein Bein hob, wollte der Wasserdruck es weiter stromabwärts<br />

absetzen, so als gehörte es zu einem Klapptisch –, aber der Fluß<br />

war an keiner Stelle tiefer als einen knappen Meter, und ich gelangte ohne<br />

einen weiteren Sturz ans andere Ufer.<br />

Katz hatte in der Zwischenzeit eine andere Methode entdeckt, den Fluß zu<br />

durchqueren. Er benutzte die Brocken im Wasser als Trittsteine, fiel aber<br />

zum Schluß <strong>mit</strong>ten in einen tosenden Strudel an einer Stelle, die ziemlich<br />

tief aussah. Er stand da, die Stirn in Falten. Ich konnte mir beim besten<br />

Willen nicht erklären, wie er dahingeraten war – der Brocken ragte einsam<br />

aus der weiten Wasserfläche heraus, um ihn herum lauter gefährliche<br />

Stromschnellen. Katz wußte nicht ein noch aus. Er versuchte, sich langsam<br />

in das silbrig schimmernde Wasser hinabzulassen und die letzten zehn Meter<br />

zum Ufer zu waten, wurde aber auf der Stelle wie ein Spielzeugboot<br />

weggeschwemmt. Zum zweiten Mal innerhalb von 48 Stunden dachte ich,<br />

er würde ertrinken – er machte jedenfalls einen ziemlich hilflosen Eindruck<br />

–, aber die Strömung trieb ihn zu einer seichten Stelle <strong>mit</strong> glitzernden Kieselsteinen<br />

sechs Meter stromabwärts, wo er Wasser spuckend auf alle viere<br />

kam, ans Ufer kroch und gleich weiter in den Wald stiefelte, ohne einen<br />

Blick zurückzuwerfen, als handele es sich um die normalste Sache der Welt.<br />

Und so ging es im Eiltempo bis nach Monson, über einen beschwerlichen<br />

Pfad und durch noch mehr Flüsse. Unterwegs sammelten wir Narben und<br />

Schrammen auf unserer Haut, und die Insektenstiche verwandelten unseren<br />

Rücken in eine Reliefkarte. Am dritten Tag kamen wir wie benommen vor<br />

lauter Wald und verdreckt an eine sonnenbeschienene Straße, die erste seit<br />

Caratunk. Das letzte Stück bis zu dem verlassenen Flecken Monson war ein<br />

Sommerspaziergang. Unweit vom Zentrum des Städtchens befand sich ein<br />

altes, <strong>mit</strong> Schindeln verkleidetes Haus. Im Vorgarten stand eine bemalte<br />

Holzskulptur, ein bärtiger Hiker, der ein Schild trug: »Willkommen bei<br />

Shaw’s.«


Das Shaw’s ist das berühmteste Gästehaus am Appalachian Trail, zum einen,<br />

weil es die letzte zivilisierte Rast für jeden ist, der sich auf die Hundred-Mile-Wilderness-Tour<br />

begibt, und umgekehrt die erste, für alle, die sie<br />

gerade hinter sich gelassen haben, zum anderen aber auch, weil in dem<br />

Haus eine freundliche Atmosphäre herrscht und es preisgünstig ist. Für 28<br />

Dollar pro Person bekamen wir ein Zimmer, Abendessen und Frühstück und<br />

konnten dazu kostenlos Dusche, Waschmaschine und den Aufenthaltsraum<br />

benutzen. Das Haus wird von Keith und Pat Shaw geführt. Die Gründung<br />

ihrer Herberge vor 20 Jahren verdankten die beiden einem Zufall. Keith<br />

brachte eines Tages einen ausgehungerten Wanderer <strong>mit</strong> nach Hause, der<br />

später weitererzählte, wie nett man ihn hier aufgenommen hatte. Bereits<br />

wenige Wochen danach, berichtete Keith stolz, als wir uns ins Gästebuch<br />

eintrugen, hätten sie den zwanzigtausendsten Hiker begrüßen können.<br />

Es war noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen. Katz lieh sich fünf Dollar<br />

von mir – für Limonade, wie ich annahm – und verschwand auf sein<br />

Zimmer. Ich duschte, stopfte einen Haufen Wäsche in die Maschine und<br />

ging nach draußen auf den Rasen vor dem Haus, wo ein paar robuste Gartenstühle<br />

standen, auf die ich meinen müden Leib zu betten gedachte. Ich<br />

wollte mir eine Pfeife anzünden und mich der glückseligen Behaglichkeit<br />

eines sommerlichen Spätnach<strong>mit</strong>tags und der angenehmen Vorfreude auf<br />

ein wohlverdientes Abendessen hingeben. Aus einem Fenster in der Nähe<br />

hörte ich das Klappern von Pfannen, wenig später ein Brutzeln. Ich wußte<br />

nicht, was dort gebraten wurde, aber es roch lecker.<br />

Nach einer Minute trat Keith vor die Tür und setzte sich zu mir. Keith war<br />

ein alter Mann, weit über 60, er hatte fast keine Zähne mehr und einen Körper,<br />

der so aussah, als hätte er schon so manches aushaken müssen. Keith<br />

war ziemlich nett.<br />

»Du hast doch hoffentlich nicht den Hund gestreichelt, oder?« sagte er.<br />

»Nein.« Ich hatte das Tier vom Fenster aus gesehen, ein häßlicher, bösartiger<br />

Mischling, der auf der Rückseite des Hauses angebunden war und sich<br />

bei jedem Geräusch und jeder kleinsten Bewegung im Umkreis von 100<br />

Metern unangemessen in Rage kläffte.<br />

»Nicht, daß du auf die Idee kommst, ihn zu streicheln. Laß dir das gesagt<br />

sein: bloß nicht den Hund streicheln. Gerade letzte Woche hat einer ihn<br />

gestreichelt, obwohl ich ihn gewarnt hatte. Der Hund hat ihm in die Eier<br />

gebissen.«<br />

»Wirklich?«<br />

Er nickte. »Er wollte gar nicht wieder loslassen. Du hättest den Kerl jaulen<br />

hören sollen.«<br />

»Wirklich?«<br />

»Ich mußte dem Hund eins <strong>mit</strong> der Hake überbraten, da<strong>mit</strong> er losließ. Glaub


mir, das ist der gemeinste Scheißköter, den ich je gesehen habe.«<br />

»Und wie ist es dem armen Kerl ergangen?«<br />

»Na ja, gefreut hat er sich nicht gerade darüber, das kann ich dir sagen.« Er<br />

kratzte sich nachdenklich am Hals, als fiele ihm ein, daß er sich demnächst<br />

mal wieder rasieren müßte. »War auch noch ein Weitwanderer. Ist den<br />

ganzen Weg von Georgia bis hierher zu Fuß gegangen. Ziemlich weit, um<br />

sich seine Eier anknabbern zu lassen.« Mit diesen Worten stand er auf, um<br />

nach dem Abendessen zu sehen.<br />

Das Abendessen wurde an einem langen Eßtisch serviert, und es wurde<br />

großzügig aufgetragen, Platten <strong>mit</strong> Fleisch, Schüsseln <strong>mit</strong> Kartoffelpüree<br />

und Maiskolben, ein windschiefer Holzteller <strong>mit</strong> Brot und ein Napf <strong>mit</strong><br />

Butter. Katz kam etwas später dazu, frisch geduscht und rundum zufrieden.<br />

Er wirkte außergewöhnlich, fast übertrieben energiegeladen und kitzelte<br />

mich beim Vorübergehen spontan am Rücken, was überhaupt nicht seine<br />

Art war.<br />

»Geht’s gut?« fragte ich.<br />

»Mir ist es noch nie so gut gegangen, mein alter Wanderfreund, noch nie.«<br />

Es setzten sich noch zwei andere Gäste zu uns an den Tisch, ein niedliches,<br />

etwas verschüchtert wirkendes und irgendwie züchtiges Pärchen, beide<br />

sonnengebräunt und kräftig und ebenfalls frisch geduscht. Katz und ich<br />

begrüßten sie <strong>mit</strong> einem Lächeln und fingen an, unsere Teller vollzuladen,<br />

als wir merkten, daß die beiden ein Tischgebet murmelten. Es schien kein<br />

Ende zu nehmen. Wir fingen trotzdem an zu essen.<br />

Es schmeckte phantastisch. Keith agierte als Kellner und bestand darauf,<br />

daß wir reichlich aßen. »Wenn ihr es nicht eßt, kriegt es der Hund«, sagte<br />

er. Das Vieh ließ ich nur zu gern hungern.<br />

Die beiden jungen Leute waren Weitwanderer aus Indiana und am 28. März<br />

am Springer Mountain aufgebrochen – ein Datum, das jetzt, in der sommerlichen<br />

Hitze eines Augustabends, unendlich weit entfernt war und irgendwie<br />

nach Schnee roch – und waren 141 Tage am Stück gewandert. Sie hatten<br />

3.291,82 Kilometer zurückgelegt und noch 184,9 Kilometer vor sich.<br />

»Dann habt ihr es ja bald geschafft«, sagte ich, nur um ein Gespräch anzuknüpfen.<br />

»Ja«, antwortete die Frau. Sie sagte es betont langsam, fast in zwei Silben,<br />

als wäre ihr der Gedanke noch nie vorher gekommen. Ihre Art hatte etwas<br />

heiter Unbekümmertes an sich.<br />

»Habt ihr je daran gedacht aufzugeben?«<br />

Die Frau überlegte einen Moment lang. »Nein«, lautete die schlichte Antwort.<br />

»Wirklich nicht?« Ich fand das erstaunlich. »Habt ihr nie gedacht: meine<br />

Güte, es reicht. Ich kann einfach nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe


keine Lust mehr?«<br />

Sie überlegte wieder, wobei leichte Panik sie erfaßte. Das waren Fragen,<br />

über die sie sich offenbar bisher noch nie den Kopf zerbrochen hatte.<br />

Ihr Freund eilte ihr zur Hilfe. »Es gab am Anfang ein paar schwierige Phasen«,<br />

sagte er, »aber wir haben unser ganzes Vertrauen auf Gott gesetzt, und<br />

Sein Wille geschah.«<br />

»Lobet den Herrn«, flüsterte die Frau fast unhörbar.<br />

»Ach so«, sagte ich und nahm mir vor, unbedingt meine Zimmertür abzuschließen,<br />

wenn ich nachher ins Bett ging.<br />

»Und gesegnet sei Allah für das Kartoffelpüree«, sagte Katz vergnügt und<br />

lud sich zum dritten Mal auf.<br />

Nach dem Abendessen schlenderten Katz und ich ein Stück die Straße hinunter<br />

zu einem kleinen Lebens<strong>mit</strong>telladen, um Proviant für die Hundred-<br />

Mile-Wilderness-Tour zu kaufen, zu der wir morgen aufbrechen wollten.<br />

Katz benahm sich irgendwie komisch in dem Laden. Er wirkte einigermaßen<br />

munter, aber auch abwesend und unruhig. Wir mußten immerhin für<br />

zehn Tage in der Wildnis einkaufen, eine ziemlich ernste Angelegenheit,<br />

aber er war nicht gewillt, sich zu konzentrieren, und spazierte einfach weiter<br />

oder holte lauter unpassende Sachen aus den Regalen, wie Chilisoße und<br />

Büchsenöffner.<br />

»He, wie war’s <strong>mit</strong> einem Sechserpack Bier«, sagte er plötzlich in Partylaune.<br />

»Komm, Stephen, bleib doch mal bei der Sache«, sagte ich. Ich begutachtete<br />

gerade die Käsesorten.<br />

»Ich bin bei der Sache.«<br />

»Willst du lieber Cheddar oder Colby?«<br />

»Mir egal.« Er schlenderte zum Bierregal und kam <strong>mit</strong> einem Sechserpack<br />

Budweiser unterm Arm zurück.<br />

»Na, was hältst du von einem Sechserpack Budweiser. Ein Sechserpack<br />

Bud, Buddy?« Er stupste mich in die Seite, um mich auf seinen Wortwitz<br />

aufmerksam zu machen.<br />

Ich zuckte vor dem Stupser zurück, abgelenkt von anderen Dingen. »Hör<br />

auf, so rumzualbern, Stephen.« Ich war zu dem Regal <strong>mit</strong> Süßigkeiten und<br />

Plätzchen weitergegangen und überlegte, was wohl zehn Tage halten würde,<br />

ohne daß es unterwegs zu einer klebrigen Masse zerschmolz oder völlig<br />

zerbröselt würde. »Willst du Snickers, oder möchtest du mal was anderes<br />

ausprobieren?« fragte ich.<br />

»Ich will Budweiser.« Er grinste, doch als er merkte, daß ich nicht darauf<br />

eingehen würde, bekam seine Stimme plötzlich einen eindringlichen, flehentlicheren<br />

Tonfall. »Bitte, <strong>Bryson</strong>, kannst du mir« – er sah auf das Preis-


schild – »vier Dollar und 79 Cents leihen? Ich bin pleite.«<br />

»Was ist denn <strong>mit</strong> dir los, Stephen? Stell das Bier weg. Was ist überhaupt<br />

<strong>mit</strong> den fünf Dollar, die ich dir eben gegeben habe?«<br />

»Schon ausgegeben.«<br />

»Wofür?« Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Du hast<br />

wieder getrunken, stimmt’s?«<br />

»Nein«, sagte er entrüstet, als müßte er eine ungeheuerliche und verleumderische<br />

Unterstellung zurückweisen.<br />

Er war betrunken, jedenfalls fast. »Doch, das stimmt«, sagte ich völlig baff.<br />

Er seufzte und verdrehte leicht die Augen. »Vier halbe Michelob. Was ist<br />

das denn schon?«<br />

»Du hast wieder getrunken.« Ich war bestürzt. »Wann hast du wieder da<strong>mit</strong><br />

angefangen?«<br />

»In Des Moines. Nur ein bißchen. Ein paar Bierchen nach der Arbeit, mehr<br />

nicht. Kein Grund zur Aufregung.«<br />

»Du weißt doch, daß du nicht trinken darfst, Stephen.«<br />

Das wollte er nicht hören. Er sah aus wie ein vierzehnjähriger Junge, dem<br />

man gesagt hat, er soll sein Zimmer aufräumen. »Erspar dir deine Belehrungen,<br />

<strong>Bryson</strong>.«<br />

»Ich kaufe dir kein Bier«, sagte ich ruhig.<br />

Er grinste wieder, als sei ich die Tugend in Person. »Mach schon. Ich will<br />

doch nur ein Sechserpack.«<br />

»Nein!«<br />

Ich war wütend, stinksauer – seit Jahren war ich nicht mehr so wütend über<br />

etwas gewesen. Ich konnte nicht fassen, daß er wieder angefangen hatte zu<br />

trinken. Es kam mir vor wie ein gemeiner, törichter Verrat- an sich selbst,<br />

an mir, an unserer gemeinsamen Unternehmung.<br />

Katz sah mich immer noch <strong>mit</strong> einem schelen Grinsen an, aber es stimmte<br />

nicht mehr <strong>mit</strong> seinen Gefühlen überein. »Du willst mir also kein Bier ausgeben<br />

– nach allem, was ich für dich getan habe?«<br />

Das war ein ziemlicher Tiefschlag. »Nein.«<br />

»Dann leck mich doch am Arsch«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt<br />

und ging raus.


20. Kapitel<br />

Das trübte natürlich die Stimmung, wie man sich vorstellen kann. Wir sprachen<br />

nicht mehr darüber, aber es stand immer zwischen uns. Beim Frühstück<br />

wünschten wir uns gegenseitig guten Morgen, wie üblich, aber ansonsten<br />

wechselten wir kein Wort <strong>mit</strong>einander. Als wir uns kurz darauf neben<br />

dem Wagen von Keith einfanden, der versprochen hatte, uns zum Startpunkt<br />

des Trails zu bringen, standen wir verlegen schweigend da, wie zwei Kontrahenten<br />

in einem Rechtsstreit, die gleich vor ihren Richter geführt werden<br />

sollen.<br />

Am Waldrand, wo wir ausstiegen, war ein Schild aufgestellt, das besagte,<br />

hier sei der Anfang der Hundred Mile Wilderness, und es folgte eine ausführliche,<br />

sehr nüchtern formulierte Warnung, daß das, was vor einem läge,<br />

kein gewöhnlicher Abschnitt des Appalachian Trail sei und daß man nur<br />

weitermachen solle, wenn man Proviant für zehn Tage dabeihabe und sich<br />

fühle wie die Leute in einem Patagonia-Werbespot.<br />

Die Warnung verlieh dem Wald etwas Geheimnisvolles, Düsteres. Er war<br />

zweifellos anders als die Wälder weiter südlich -dunkler, schattiger, eher<br />

schwarz als grün. Hier standen auch andere Bäume – in den tieferen Lagen<br />

mehr Nadelbäume und sehr viel mehr Birken –, und verstreut im Unterholz<br />

lagen runde, schwarze Felsen, wie schlafende Tiere, die den stillen Schlupfwinkeln<br />

etwas Gespenstisches gaben. Als Walt Disney aus der Geschichte<br />

von Bambi einen Film machte, sollen die Bilder nach Vorlagen der Great<br />

North Woods in Maine entstanden sein, aber das hier war eindeutig kein<br />

Wald a la Disney, <strong>mit</strong> weiten Tälern und niedlichen Tieren. Dieser Wald<br />

erinnerte eher an den aus dem Film Der Zauberer von Oz, wo die Bäume<br />

häßliche Fratzen tragen und einem feindselig gesonnen sind und wo jeder<br />

Schritt Gefahr bedeutet. Das hier war ein Wald wie geschaffen für Bären,<br />

die hinter Bäumen lauern, Schlangen, die von Ästen herabbaumeln, Wölfen<br />

<strong>mit</strong> laserstrahlroten Augen, ein Wald voller seltsamer Geräusche, voller<br />

Schrecken – ein Ort, »an dem die Nacht haust«, wie Thoreau es so treffend<br />

ausgedrückt hat.<br />

Wie üblich war der Trail sehr gut markiert, nur an manchen Stellen war er<br />

fast überwuchert von Farnkräutern und Buschwerk, das von den Wegrändern<br />

auf die Mitte hin zuwuchs und den eigentlichen Pfad auf eine kaum<br />

erkennbare Linie am Waldboden reduzierte. Da nur 10 Prozent der Weitwanderer<br />

es bis hierher schaffen und dieser Abschnitt für eine Tagestour zu<br />

weit entfernt ist, wird der Trail in Maine kaum frequentiert, so erobern die<br />

Pflanzen ihn wieder zurück. Was diesen Abschnitt des Trails allerdings<br />

besonders von den anderen unterscheidet, ist das Gelände. Im Profil sieht<br />

die Topographie des AT auf dem 29 Kilometer langen Abschnitt zwischen


Monson und Barren Mountain recht anspruchslos aus, zieht sich in einer<br />

mehr oder weniger gleichbleibenden Höhe von 365 Metern hin, <strong>mit</strong> nur<br />

wenigen steilen An- und Abstiegen. In Wahrheit ist der Weg die Hölle.<br />

Bereits nach einer halben Stunde kamen wir an eine Felswand, die erste von<br />

vielen, ungefähr 120 Meter hoch. Der Weg führte an der Vorderseite über<br />

eine Art Rinne nach oben, die wie ein Aufzugschacht aussah. Der Hang<br />

ragte fast senkrecht auf. Ein Grad mehr, und man hätte von einer Kletterwand<br />

sprechen müssen. Langsam und mühselig bahnten wir uns den Weg<br />

über Streinbrocken und zwischen ihnen hindurch, wobei wir Hände und<br />

Füße benutzten. Zu den Strapazen kam noch die schier unerträgliche Hitze.<br />

Ich mußte alle zehn, zwölf Meter anhalten, verschnaufen und mir den beißenden<br />

Schweiß aus den Augen wischen. Mir war schrecklich heiß, ich war<br />

schweißgebadet, geradezu in Schweißtücher gewickelt. Ich trank während<br />

des Aufstiegs meine Wasserflasche dreiviertel leer und benetzte <strong>mit</strong> dem<br />

Rest mein Stirnband, das ich mir zur Kühlung meines Kopfes, in dem es<br />

wie rasend hämmerte, umgebunden hatte. Ich fühlte mich überhitzt, und mir<br />

war schwindlig. Das konnte gefährlich werden. Ich legte häufigere und<br />

längere Ruhepausen ein, um mich zu erfrischen, aber jedesmal, wenn ich<br />

mich wieder erhob, kam die nächste Hitzewelle über mich. Ich hatte noch<br />

nie so hart und mühsam ackern müssen, um ein Hindernis auf dem Appalachian<br />

Trail zu überwinden, und das war gerade mal das erste von vielen, die<br />

noch folgen sollten.<br />

Oben lag ein mehrere hundert Meter langer, kahler, sanft abfallender Granitfels<br />

vor uns. Es war, als würde man auf dem Rücken eines Wals Spazierengehen.<br />

Von jedem Gipfel aus bot sich ein sensationeller Ausblick – ein<br />

wogender grüner Wald, klare blaue Seen und einsame erhabene Berge,<br />

soweit das Auge reichte. Viele Seen waren riesig, und in den meisten hatte<br />

vermutlich noch nie ein Mensch gebadet. Ich hatte das wohlige Gefühl, in<br />

einen verborgenen Winkel der Erde einzudringen, aber bei dieser mörderischen<br />

Hitze konnte man sich diesem Gefühl unmöglich ganz hingeben.<br />

Danach folgte ein schwieriger und zermürbender Abstieg über eine Felsklippe<br />

auf der anderen Seite, dann ein kurzer Gang durch ein dunkles Tal,<br />

das uns zur nächsten Felswand brachte. So verging der Tag <strong>mit</strong> gewaltigen<br />

Kletterpartien und der Hoffnung auf Wasser hinter dem nächsten Berg.<br />

Hauptsächlich diese Hoffnung hielt uns aufrecht. Katz hatte sein Wasser<br />

sehr schnell aufgebraucht; ich bot ihm von meinem an, was er dankbar und<br />

<strong>mit</strong> einem Blick, der um Waffenstillstand bat, annahm. Aber es lag noch<br />

immer etwas Unausgesprochenes zwischen uns, das schale Gefühl, daß sich<br />

etwas verändert hatte und daß es nie wieder so sein würde wie vorher.<br />

Es war meine Schuld. Ich ging stur weiter, viel weiter als wir normalerweise<br />

gegangen wären und ohne mich <strong>mit</strong> ihm abzusprechen. Es war die heimli-


che Strafe dafür, daß er das Gleichgewicht zwischen uns zerstört hatte, und<br />

Katz ertrug sie schweigend und bußfertig. Wir legten 22,5 Kilometer zurück,<br />

eine ungewöhnlich weite Strecke unter diesen Umständen. Wir hätten<br />

auch noch weiter gehen können, aber um halb sechs kamen wir an einen<br />

breiten Fluß, Wilber Brook, wo wir Halt machten. Wir waren zu müde, um<br />

ihn zu durchqueren – das heißt, ich war zu müde –, und es wäre nicht klug<br />

gewesen, die Gefahr einzugehen, so kurz vor Sonnenuntergang noch einmal<br />

ganz naß zu werden. Wir schlugen unser Lager auf und verzehrten unseren<br />

Proviant ohne Freude und <strong>mit</strong> bemühter Höflichkeit. Selbst wenn keine<br />

Verstimmung zwischen uns geherrscht hätte, wäre kaum gesprochen worden,<br />

dazu waren wir viel zu müde. Es war ein langer Tag gewesen, der<br />

anstrengendste der ganzen Tour, und der Gedanke, daß wir noch 136 Kilometer<br />

vor uns hatten, bis wir den Laden am Zeltplatz von Aböl Bridge erreichen<br />

würden, und 160 Kilometer bis zu dem herausfordernden Massiv<br />

von Katahdin, schwebte wie ein Damoklesschwert über uns.<br />

Aber auch dort gab es keine Aussicht auf irgendwelche Annehmlichkeiten.<br />

Katahdin liegt im Baxter State Park, der sich <strong>mit</strong> trotzigem Stolz dem Ideal<br />

der Ursprünglichkeit und Entbehrung verschrieben hat. Es gibt keine Restaurants<br />

und keine Hütten, keine Souvenirläden und Imbißstände, nicht mal<br />

eine asphaltierte Straße oder einen öffentlichen Fernsprecher. Der Park<br />

selbst liegt in einer gottverlassenen Gegend, einen Zwei-Tages-Marsch von<br />

Millinocket, der nächsten Stadt, entfernt. Es konnte zehn bis elf Tage dauern,<br />

bis wir wieder eine richtige Mahlzeit zu uns nehmen und in einem<br />

richtigen Bett schlafen würden. Das war noch ganz schön lange hin.<br />

Am nächsten Morgen wateten wir schweigend durch den Fluß – <strong>mit</strong>tlerweile<br />

hatten wir Übung darin – und machten uns an den langen, sanften Aufstieg<br />

zum Dach der Barren-Chairback-Range, einer sich über 24 Kilometer<br />

hinziehenden zerklüfteten Gipfelkette, die wir überqueren mußten, um zu<br />

dem etwas sanfteren Abschnitt im Tal des Pleasant River dahinter zu gelangen.<br />

Auf der Karte waren nur drei kleine Gletscherseen eingezeichnet,<br />

Überreste der Eiszeit, allesamt abseits des Trails; sonst gab es nicht den<br />

geringsten Hinweis auf andere Wasserreservoirs. Mit nicht einmal vier<br />

Litern für uns beide und bei den hohen Temperaturen bereits am frühen<br />

Morgen versprach die Kraxelei von einer Wasserquelle zur nächsten recht<br />

ungemütlich zu werden.<br />

Der Aufstieg zum Barren Mountain war eine mühselige Schinderei, auf<br />

weiten Strecken steil, und es war heiß, aber wir beide schienen auch an<br />

Kraft zu gewinnen. Selbst Katz ging die Sache relativ beschwingt an. Dennoch<br />

brauchten wir fast den ganzen Morgen für die 7,24 Kilometer dort<br />

hinauf. Ich erreichte den Gipfel etwas eher als Katz. Der Granitstein war<br />

von der Sonne so aufgewärmt, daß er zu heiß zum Sitzen war, aber es ging


ein leichter Wind – der erste seit Tagen –, und ich fand eine schattige Stelle<br />

unter einem ausgedienten Beobachtungsturm. Es war das erste Mal seit<br />

Wochen, wenigstens kam es mir so vor, daß ich mal wieder einen einigermaßen<br />

bequemen Platz gefunden hatte. Ich lehnte mich zurück und hatte ein<br />

Gefühl, als könne ich monatelang schlafen. Katz kam zehn Minuten später,<br />

schwer keuchend, aber zufrieden, daß er es bis hier geschafft hatte. Er ließ<br />

sich auf einem Stein neben mir nieder. Ich hatte noch ein Restchen Wasser<br />

übrig und reichte Katz meine Flasche. Er trank einen bescheidenen Schluck<br />

und wollte mir die Flasche zurückgeben.<br />

»Trink aus«, sagte ich, »du hast sicher Durst.«<br />

»Danke.« Er trank einen noch bescheideneren Schluck als vorher und stellte<br />

die Flasche ab. Er blieb eine Weile ruhig sitzen und holte dann ein Snickers<br />

hervor, brach den Riegel in zwei Stücke und gab mir die eine Hälfte. Es war<br />

eine komische Geste. Ich hatte selbst genug Snickers dabei, und das wußte<br />

er auch, aber er hatte sonst nichts, was er <strong>mit</strong> mir teilen konnte.<br />

»Danke«, sagte ich.<br />

Er biß einen Happen von dem Riegel ab, kaute eine Minute lang und sagte<br />

dann ganz unver<strong>mit</strong>telt: »Freundin und Freund unterhalten sich. Sagt die<br />

Freundin zu dem Freund, >Wie schreibt man eigentlich Pädophilie, Jimmy?<<br />

Der Freund sieht sie erstaunt an. >Meine Güte


sage dir, wenn man das jeden Tag macht, fällt es einem schwer, sich einzureden,<br />

man würde ein ausgefülltes und aufregendes Leben führen. Das persönliche<br />

Stimmungsbarometer schlägt nicht gerade bis zum orgiastischen<br />

Bereich aus, nur weil man sich sein eigenes Fertiggericht kocht. Verstehst<br />

du, was ich meine?«<br />

Er warf mir einen Blick zu und sah, daß ich nickte.<br />

»Und so kam es, daß mich die Kollegen eines Tages wieder zum x-ten Mal<br />

einluden, und ich dachte: Ach, Scheiße, was soll’s, kein Gesetz verbietet<br />

mir, so wie jeder andere auch in eine Kneipe zu gehen. Also ging ich <strong>mit</strong>,<br />

trank meine Cola, und alles war in Ordnung. Es war schön, einfach mal<br />

wieder auszugehen. Es gab nur einen Spinner unter den Kollegen, Dwayne,<br />

der mich ständig blöd anmachte. >Na los, bestell dir schon ein Bier. Du<br />

weißt doch, daß du eins trinken willst. Ein kleines Bierchen kann nicht<br />

schaden. Du hast seit drei Jahren keinen Schluck mehr getrunken. Du<br />

kriegst das schon hin.


Ich lächelte ihn kurz an. »Wie das allerletzte Arschloch«, sagte ich.<br />

Er schnäuzte sich und lachte dabei. »Ja, schon möglich.«<br />

Ich beugte mich zu ihm hinüber und klopfte ihm verlegen, aber liebevoll auf<br />

die Schulter. Er ließ es <strong>mit</strong> einem Anflug von Dankbarkeit geschehen.<br />

»Und weißt du, was das Schlimmste ist?« sagte er plötzlich in einem Ton,<br />

als müsse er sich <strong>mit</strong> Gewalt am Riemen reißen. »Was gäbe ich jetzt für ein<br />

Fertiggericht! Ich könnte jetzt glatt jemanden dafür umlegen. Wirklich.«<br />

Wir lachten.<br />

»Truthahnbraten für den großen Hunger, <strong>mit</strong> künstlichen Innereien und 40<br />

Prozent Fettanteil. Hmmm. Lecker. Für einmal dran schnuppern würde ich<br />

dich glatt im Stich lassen.« Dann wischte er sich etwas aus den Augenwinkeln,<br />

sagte: »Ach, Scheiße«, stand auf und pinkelte über den Rand der<br />

Klippe.<br />

Ich sah ihm hinterher, er wirkte alt und müde, und für einen Moment fragte<br />

ich mich, was wir hier oben eigentlich verloren hatten. Wir waren keine<br />

kleinen Jungs mehr.<br />

Ich schaute auf die Karte. Wir hatten praktisch kein Wasser mehr, aber es<br />

war nur etwas über einen Kilometer bis zum Cloud Pond, wo wir unsere<br />

Flaschen auffüllen konnten. Wir teilten uns den allerletzten Schluck, und<br />

ich sagte Katz, ich würde schon mal vorausgehen zu dem See und Wasser<br />

filtern, dann sei es fertig, wenn er dazustoße.<br />

Es war ein netter Spaziergang von 20 Minuten entlang einer grasbewachsenen<br />

Kammlinie. Cloud Pond lag am Ende eines steilen Seitenwegs, ungefähr<br />

400 Meter neben dem eigentlichen Trail. Ich lehnte meinen Rucksack<br />

gegen einen Baum oben am Wegesrand und ging <strong>mit</strong> unseren Wasserflaschen<br />

und dem Filter runter zum Seeufer.<br />

Ich brauchte ungefähr 20 Minuten, um an den See zu gelangen, die drei<br />

Flaschen zu füllen und auf den AT zurückzukehren, so daß insgesamt etwa<br />

40 Minuten vergangen waren, seit ich Katz zuletzt gesehen hatte. Eigentlich<br />

hätte er längst da sein müssen, selbst wenn er noch etwas auf dem Gipfel<br />

verweilt hätte und auch, wenn man sein langsames Tempo berücksichtigte.<br />

Außerdem war es ein leichter Weg, und ich wußte, daß er Durst hatte, ich<br />

fand es daher seltsam, daß er nicht schneller war. Ich wartete 15 Minuten,<br />

20 Minuten, 25 Minuten, schließlich ließ ich meinen Rucksack stehen und<br />

ging zurück, um nach ihm zu suchen. Es war über eine Stunde her, daß wir<br />

uns zuletzt gesehen hatten, als ich den Gipfel jetzt wieder erreichte – aber<br />

Katz war nicht da.<br />

Ich stand einigermaßen verwirrt an der Stelle, wo wir eben noch gesessen<br />

hatten. Seine Sachen waren weg. Offenbar war er losgegangen, aber er war<br />

weder auf dem Barren Mountain noch am Cloud Pond und auch nicht auf<br />

dem Weg dazwischen – wo steckte er bloß? Die einzige Erklärung war, daß


er in die andere Richtung gegangen war. Eigentlich unmöglich. Katz hätte<br />

mich niemals ohne eine Erklärung im Stich gelassen. Nie. Oder war er irgendwo<br />

unterwegs auf dem Grat gestürzt? Es war ein absurder Gedanke,<br />

denn der Weg war nicht im mindesten schwierig oder gar gefährlich, aber<br />

man konnte ja nie wissen. John Connolly hatte uns vor einigen Wochen von<br />

einem Freund berichtet, der bei großer Hitze ohnmächtig geworden war, auf<br />

einem sicheren und ebenen Weg gestürzt war und stundenlang ein paar<br />

Meter neben dem Weg in der brütenden Sonne gelegen hatte, bis er langsam<br />

austrocknete. Ich suchte den ganzen Trail bis zur Abzweigung zum Cloud<br />

Pond nach frischen Spuren ab, besonders den Wegrand, und schaute in<br />

Abständen über den Kamm, jedesmal in Angst, Katz in verrenkter Haltung<br />

unten auf einem Stein liegend zu entdecken. Ich rief mehrere Male laut<br />

seinen Namen, aber bekam nur das Echo meiner eigenen schwächer werdenden<br />

Stimme zur Antwort.<br />

Als ich zur Abzweigung kam, waren es zwei Stunden, seit ich Katz zuletzt<br />

gesehen hatte. Langsam wurde mir die Sache unheimlich. Die einzige noch<br />

verbliebene Möglichkeit war, daß er an der Abzweigung vorbeigegangen<br />

war, als ich gerade unten am See das Wasser filterte, aber auch das war<br />

eigentlich höchst unwahrscheinlich. Oben am Trail hing deutlich sichtbar<br />

ein Pfeil, auf dem »Cloud Pond« stand, und mein Rucksack hatte darunter<br />

am selben Baum gelehnt. Selbst wenn ihm beides nicht aufgefallen wäre,<br />

hätte er doch gewußt, daß Cloud Pond nur anderthalb Kilometer vom Barren<br />

Mountain entfernt war. Wenn man den AT über so lange Zeit abgewandert<br />

war wie wir, kann man einen Kilometer ziemlich genau abschätzen. Er<br />

konnte nicht allzu weit über die Abzweigung hinaus gegangen sein, ohne<br />

daß er seinen Fehler bemerkt hätte und zurückgekommen wäre. Das ergab<br />

keinen Sinn.<br />

Katz war allein da draußen in der Wildnis, ohne Wasser, ohne Karte, ohne<br />

eine genaue Vorstellung von der Beschaffenheit des Geländes vor ihm,<br />

wahrscheinlich ohne irgendeine Vorstellung davon, wie es mir erging, und<br />

<strong>mit</strong> einem beängstigenden Mangel an Gespür für das Richtige. Wenn es<br />

jemanden gab, der in dem Fall, daß er sich verirrte, den Weg verlassen und<br />

eine Abkürzung suchen würde, dann war es Katz. Allmählich machte ich<br />

mir ernsthaft Sorgen. Ich hinterließ einen Zettel auf meinem Rucksack und<br />

ging den Trail weiter. Nach ungefähr 800 Metern führte der Weg fast 180<br />

Meter senkrecht bergab in ein einsames namenloses Hochtal. Er hätte sicher<br />

längst gemerkt, daß er falsch gegangen war. Ich hatte ihm gesagt, der Weg<br />

zum Cloud Pond führe über leichtes und ebenes Gelände.<br />

Ich kletterte vorsichtig den Hang hinunter, rief in Abständen Katz’ Namen<br />

und befürchtete das Schlimmste – es war eine Klippe, die man leicht hinunterstürzen<br />

konnte, besonders, wenn man <strong>mit</strong> einem schweren sperrigen


Rucksack beladen war und <strong>mit</strong> den Gedanken woanders war, aber ich entdeckte<br />

keine Spur von Katz. Ich folgte dem Trail noch drei Kilometer weiter<br />

durch das Tal und wieder hinauf zu einem hohen Felsgipfel, der sich<br />

Fourth Mountain nannte. Oben bot sich ein unglaublich weiter Ausblick in<br />

alle Richtungen, die Wildnis war mir noch nie so riesig erschienen. Ich rief<br />

wieder mehrmals laut Katz’ Namen, aber ich erhielt keine Antwort.<br />

Mittlerweile war es später Nach<strong>mit</strong>tag, Katz war jetzt schon vier Stunden<br />

ohne einen Tropfen Wasser. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ein Mensch<br />

bei dieser Hitze ohne Wasser auskommen konnte, aber ich wußte aus eigener<br />

Erfahrung, daß es nach einer halben Stunde Marschierens ziemlich<br />

ungemütlich werden konnte. Mir sank der Mut bei dem Gedanken, daß er<br />

von oben vielleicht einen anderen See entdeckt hatte – in dem Tal, über 600<br />

Meter unter uns, lag verstreut ein halbes Dutzend Seen – und in seiner Verwirrung<br />

beschlossen hatte, querfeldein zu gehen. Auch wenn er nicht verwirrt<br />

war, hatte ihn vielleicht der Durst dazu getrieben, sich auf den Weg zu<br />

einem dieser Seen zu machen. Sie sahen herrlich und einladend aus. Der<br />

nächste war nur drei Kilometer weit entfernt, aber es gab keinen angelegten<br />

Pfad dorthin, und man hätte einen gefährlichen Abhang im Wald hinunterklettern<br />

müssen. Mitten im Wald, ohne jede Orientierung, kann man einen<br />

Weg leicht um 1.000 Meter verfehlen. Andererseits konnte es auch passieren,<br />

daß man nur 50 Meter davon entfernt war und es nicht wußte, so wie es<br />

uns ein paar Tage vorher <strong>mit</strong> dem Pleasant Pond ergangen war. Und wenn<br />

man sich in diesen riesigen Wäldern erstmal richtig verirrt hatte, konnte<br />

man ohne weiteres darin den Tod finden. So einfach war das. Es würde<br />

niemand kommen, um einen zu retten. Kein Hubschrauber würde einen<br />

durch die dichte Blätterdecke hindurch von oben sehen. Keine Rettungsmannschaften<br />

würden einen finden. Wahrscheinlich würde nicht mal eine<br />

aufbrechen, um nach einem zu suchen. Es gab Bären in dieser Gegend,<br />

Bären, die wahrscheinlich noch nie einen Menschen gesehen hatten. Ich<br />

bekam regelrecht Kopfschmerzen bei dem Gedanken, was Katz alles zugestoßen<br />

sein konnte.<br />

Ich ging zurück zu der Abzweigung zum Cloud Pond und hoffte, inständiger<br />

als ich je in meinen Leben etwas gehofft hatte, daß er auf seinem Rucksack<br />

saß und es eine witzige, von mir bisher nur noch nicht berücksichtigte<br />

Erklärung für alles gab, etwa, daß wir permanent aneinander vorbeigelaufen<br />

waren, wie in einer Slapstick-Komödie: Er wartet verdutzt neben meinem<br />

Rucksack, geht dann los und sucht mich, ich komme eine Sekunde später,<br />

warte verwundert auf ihn und gehe dann auch los – aber ich ahnte, daß er<br />

nicht da sein würde, und so war es auch. Es war fast dunkel, als ich an die<br />

Stelle kam. Ich schrieb nochmal eine Nachricht und legte sie unter einen<br />

Stein <strong>mit</strong>ten auf dem Trail – nur für den Fall –, setzte den Rucksack auf und


ging runter zum See, wo eine Hütte stand.<br />

Ironischerweise handelte es sich um den schönsten Lagerplatz, den ich je<br />

am Appalachian Trail gesehen hatte, und ausgerechnet hier war Katz nicht<br />

dabei. Cloud Pond war ein zirka 80 Hektar großes, ruhiges Gewässer, umgeben<br />

von einem dunklen Wald aus Nadelbäumen, deren Wipfel wie spitze,<br />

schwarze Silhouetten in den fahlen, blauen Abendhimmel ragten. Die Hütte,<br />

die ich ganz für mich allein hatte, stand 30 bis 40 Meter vom Seeufer entfernt<br />

und etwas erhöht. Sie war ziemlich neu und absolut sauber. Nebenan<br />

gab es ein Plumpsklo. Es war perfekt. Ich legte meine Sachen auf das<br />

Schlafpodest und ging ans Ufer, um Wasser zu filtern, da<strong>mit</strong> ich das nicht<br />

morgen früh machen mußte. Dann zog ich mich bis auf die Shorts aus,<br />

stapfte ein paar Schritte in das dunkle Wasser hinein und wusch mich <strong>mit</strong><br />

meinem Stirnband. Wenn Katz hier gewesen wäre, hätte ich mich auch<br />

getraut zu schwimmen. Ich versuchte, nicht an ihn zu denken, versuchte zumindest,<br />

mir nicht vorzustellen, wie er einsam im Wald umherirrte. Ich<br />

konnte jetzt ohnehin nichts für ihn tun.<br />

Statt dessen setzte ich mich auf einen Stein und schaute mir den Sonnenuntergang<br />

an. Der See war sagenhaft schön. Im Licht der langen Strahlen der<br />

untergehenden Sonne schimmerte die Wasseroberfläche golden. In Ufernähe<br />

kreisten zwei Seetaucher, als machten sie sich nach dem Abendessen<br />

noch zu einem kleinen Spazierflug auf. Ich beobachtete sie eine ganze Weile,<br />

und mir fiel ein Naturfilm ein, den ich vor einiger Zeit auf BBC gesehen<br />

hatte.<br />

Seetaucher sind keine geselligen Tiere. Nur gegen Ende des Sommers, kurz<br />

bevor sie zum Nordatlantik zurückfliegen, wo sie auf stürmischen Wellen<br />

reitend den Winter verbringen, laden sie sich gegenseitig zu kleinen Versammlungen<br />

ein. Ein Dutzend oder mehr Seetaucher von den Nachbarseen<br />

fliegen herbei, und alle schwimmen ein paar Runden im Wasser. Es gibt<br />

keinen ersichtlichen Grund dafür, außer der puren Freude am Zusammensein.<br />

Der jeweilige Gastgeber führt seinen Gästen stolz, aber doch zurückhaltend<br />

sein Territorium vor – zuerst geht es zu seiner Lieblingsbucht, dann<br />

vielleicht zu einem umgestürzten Baum, dann weiter zu einem weichen<br />

Teppich aus Wasserlilien. »Hier gehe ich morgens immer gern auf Fischfang«,<br />

teilt er den anderen <strong>mit</strong>. »Und an dieser Stelle da wollen wir nächstes<br />

Jahr unser Nest bauen.« Die anderen Seetaucher folgen ihm emsig und<br />

zeigen sich höflich interessiert. Man weiß nicht, warum sie das tun (so wenig,<br />

wie man weiß, warum ein Mensch einem anderen Menschen gern sein<br />

renoviertes Badezimmer zeigen will) oder wie sie diese Zusammenkünfte<br />

organisieren, dennoch finden sich die Tiere jeden Abend zur rechten Zeit<br />

am richtigen See ein, <strong>mit</strong> einer Gewißheit, als hätte man ihnen eine Einladung<br />

geschickt: »Wir feiern ein Fest!« Ich finde so etwas wundervoll. Mei-


ne Freude wäre noch größer gewesen, wenn ich nicht andauernd an Katz<br />

hätte denken müssen, der jetzt bei Mondlicht keuchend durch die Nacht irrte<br />

und einen See suchte.<br />

Ach, übrigens: Die Seetaucher verschwinden zunehmend, weil die Seen am<br />

sauren Regen sterben.<br />

Die Nacht war natürlich entsetzlich, und ich war vor fünf Uhr auf den Beinen<br />

und beim ersten Dämmerlicht wieder auf dem Trail. Ich ging weiter<br />

nach Norden, die Richtung, in die Katz ebenfalls gegangen war, wie ich<br />

vermutete, aber es beschlich mich das Gefühl, daß ich mich nur noch tiefer<br />

in die Hundred Mile Wilderness begab – nicht der allerbeste Weg, wenn<br />

Katz vielleicht ganz in der Nähe war und Probleme hatte. Gelegentlich<br />

erfüllte mich der Gedanke, daß ich hier, am Ende der Welt, ganz allein auf<br />

mich gestellt war, <strong>mit</strong> einer gewissen Unruhe – einer Unruhe, die kurzzeitig<br />

noch heftig verstärkt wurde, als ich beim Abstieg zurück in das namenlose<br />

Tal in meiner Eile stolperte und beinahe 15 Meter tief gestürzt und unten in<br />

der Schlucht aufgeprallt wäre. Das hätte eine ziemliche Schweinerei gegeben.<br />

Ich hoffte nur, daß ich das Richtige tat.<br />

Selbst in Hochform würde ich drei, vielleicht sogar vier Tage bis Aböl<br />

Bridge und zum Campingplatz brauchen. Bis ich dann die Polizei oder<br />

Rettungsmannschaften benachrichtigt hätte, wäre Katz bereits vier bis fünf<br />

Tage vermißt gewesen. Wenn ich andererseits jetzt umkehren und den Weg<br />

zurückgehen würde, den wir gekommen waren, könnte ich morgen nach<strong>mit</strong>tag<br />

schon in Monson sein. Das Beste wäre, es käme mir jemand entgegen,<br />

der Richtung Süden ging und mir sagen könnte, ob er Katz begegnet war<br />

oder nicht, aber außer mir war niemand auf dem Trail. Es war jetzt kurz<br />

nach sechs. In Chairback Gap, neuneinhalb Kilometer weiter, gab es einen<br />

Unterstand. Den würde ich gegen acht Uhr erreichen. Wenn ich Glück hatte,<br />

würde ich vielleicht noch jemanden antreffen. Ich zog entschlossen weiter,<br />

<strong>mit</strong> etwas mehr Bedacht und einem unangenehmen Gefühl der Unsicherheit.<br />

Ich kletterte über den Gipfel des Fourth Mountain – was <strong>mit</strong> einem Rucksack<br />

auf dem Rücken sehr viel schwerer fällt – und stieg in das nächste<br />

bewaldete Tal dahinter ab. Sechseinhalb Kilometer hinter dem Cloud Pond<br />

gelangte ich an einen kleinen Bach, den man kaum als solchen bezeichnen<br />

konnte – eigentlich war es nur ein Schlammloch. Aufgespießt auf einen<br />

Zweig neben dem Trail, an einer absichtlich unübersehbaren Stelle, steckte<br />

eine leere Packung Old-Gold-Zigaretten. Katz war kein starker Raucher,<br />

aber er hatte immer eine Packung Old Golds dabei. Im Schlamm neben<br />

einem umgestürzten Baumstamm lagen drei Zigarettenkippen. Offenbar<br />

hatte Katz hier gewartet. Er war also am Leben, hatte den Trail nicht verlassen<br />

und war eindeutig hier entlanggekommen. Ich spürte gleich ein Gefühl


unermeßlicher Erleichterung. Wenigstens ging ich in die richtige Richtung.<br />

Solange er auf dem Trail blieb, würde ich ihn irgendwann unweigerlich<br />

überholen.<br />

Ich fand ihn vier Stunden nachdem ich losgegangen war. Er saß auf einem<br />

Stein an der Abzweigung zum West Chairback Pond, das Gesicht der Sonne<br />

zugewandt, als wollte er sich bräunen. Er hatte ziemlich viele Schrammen<br />

und Kratzer abbekommen und war schmutzig, aber ansonsten sah er gesund<br />

aus. Er war natürlich hocherfreut, als er mich sah.<br />

»<strong>Bryson</strong>, altes Haus. Tut das gut, dich zu sehen. Wo warst du die ganze<br />

Zeit?«<br />

»Das habe ich mich auch gefragt. Was dich betrifft.«<br />

»Ich muß wohl die letzte Wasserstelle verpaßt haben, oder?«<br />

Ich nickte.<br />

Er nickte ebenfalls. »Das habe ich mir schon gedacht. Als ich an den Fuß<br />

der großen Klippe kam, hatte ich so ein Gefühl. Scheiße, dachte ich, das<br />

kann nicht richtig sein.«<br />

»Warum bist du nicht umgekehrt?«<br />

»Das weiß ich auch nicht. Ich war davon ausgegangen, daß du bestimmt<br />

schon weitergewandert bist. Ich hatte echt Durst. Vielleicht hat mich das<br />

etwas verwirrt – vielleicht war ich auch nur denkfaul. Wirklich, ich hatte<br />

irren Durst.«<br />

»Und was hast du gemacht?«<br />

»Ich bin weitermarschiert und habe mir gedacht, daß ich irgendwann schon<br />

auf Wasser stoßen müßte, und schließlich kam ich an diese Schlammgrube.«<br />

»Wo du die Zigarettenpackung liegengelassen hast.«<br />

»Hast du sie gefunden? Darauf war ich so stolz. Ich habe etwas Wasser <strong>mit</strong><br />

meinem Stirnband aufgesogen, das hat Fess Parker mal in der Dave-<br />

Crockett-Show vorgeführt.«<br />

»Gewagt.«<br />

Er nahm das Kompliment <strong>mit</strong> einem Kopfnicken entgegen. »Das hat ungefähr<br />

eine Stunde gedauert, und dann habe ich noch eine Stunde auf dich<br />

gewartet und ein paar Zigaretten geraucht. Dann wurde es dunkel, und ich<br />

habe mein Zelt aufgeschlagen, ein bißchen von meiner Salami gegessen und<br />

bin schlafen gegangen. Heute morgen dann habe ich nochmal etwas Wasser<br />

<strong>mit</strong> dem Tuch aufgesogen und bin bis hierher gewandert. Ein hübscher See<br />

da unten, habe ich mir gedacht, und bin auf die Idee gekommen, hier auf<br />

dich zu warten, wo es Wasser gibt, und habe darauf gehofft, daß du vorbeikommst.<br />

Ich habe zwar nicht da<strong>mit</strong> gerechnet, daß du mich hier versauern<br />

läßt, aber du bist so ein Tagträumer beim Wandern, <strong>Bryson</strong>. Ich konnte mir<br />

gut vorstellen, daß du den ganzen Weg bis auf den Katahdin durchmar-


schiert wärst, bevor dir aufgefallen wäre, daß ich gar nicht mehr hinter dir<br />

bin.« Er nahm einen affektierten Tonfall an. »Oh, was für eine herrliche<br />

Aussicht, findest du nicht auch, Stephen? Stephen…? Stephen…? Also, wo<br />

steckt der Kerl denn bloß wieder?« Er lachte mich an. Sein altes, vertrautes<br />

Lachen. »Insofern bin ich froh, dich wiederzusehen.«<br />

»Wo hast du die ganzen Kratzer her?«<br />

Er sah auf seinen Arm, der <strong>mit</strong> blutverkrusteten Schrammen im Zickzackmuster<br />

bedeckt war. »Ach, die? Das weiß ich auch nicht.«<br />

»Das weißt du nicht? Das sieht aus, als hättest du dich <strong>mit</strong> einem Skalpell<br />

traktiert.«<br />

»Na ja, ich wollte dich nicht erschrecken, aber ich habe mich außerdem ein<br />

bißchen verlaufen.«<br />

»Wie ist das passiert?«<br />

»Nachdem ich dich aus den Augen verloren hatte und bevor ich an das<br />

Schlammloch gekommen war, wollte ich an einen See, den ich von oben<br />

aus gesehen hatte.«<br />

»Das ist nicht wahr, Stephen.«<br />

»Mann, ich hatte wahnsinnigen Durst, und so weit sah es nun auch wieder<br />

nicht aus. Also stieg ich in den Wald ab. Das war wohl nicht sehr klug,<br />

was?«<br />

»Nein.«<br />

»Tja, das habe ich auch sehr schnell begriffen. Kaum war ich ein paar hundert<br />

Meter weit gegangen, hatte ich mich auch schon verlaufen. Total verlaufen.<br />

Es ist komisch, weil man glaubt, daß man nur runter an den See zu<br />

gehen braucht und denselben Weg wieder rauf. Das dürfte nicht allzu<br />

schwierig sein, wenn man ein bißchen acht gibt, denkt man. Aber die Sache<br />

ist die: Es gibt überhaupt nichts, auf das man acht geben kann. Ein Baum ist<br />

wie der andere. Es gibt nur einen einzigen riesigen Wald. Als ich dann begriff,<br />

daß ich absolut keine Ahnung mehr hatte, wo ich mich befand, dachte<br />

ich, na gut, du hast dich beim Absteigen verlaufen, also geh jetzt besser<br />

bergauf. Aber plötzlich sind da tausend Möglichkeiten, bergauf oder bergab<br />

zu gehen. Es ist total verwirrend. Ich latsche also einfach los, und latsche<br />

und latsche, bis mir klar war, daß ich schon viel weiter rauf gegangen war<br />

als vorher runter. Scheiße, Stephen, dachte ich, du dämlicher Trottel. Ich<br />

war <strong>mit</strong>tlerweile schon stinksauer auf mich selbst, kann ich dir sagen. Du<br />

mußt zu weit gegangen sein, du Hornochse, dachte ich. Also bin ich wieder<br />

ein Stück runter gegangen, aber das half auch nichts, dann ein Stück seitwärts,<br />

und dann – na ja, du siehst, was ich meine.«<br />

»Man soll nie vom Weg abgehen, Stephen.«<br />

»Vielen Dank auch. Kommt nur ein bißchen spät, dem Ratschlag, <strong>Bryson</strong>.<br />

Das ist so, als würde man einem Verkehrstoten sagen: >Von jetzt an fahr


vorsichtig.«<br />

»Entschuldige.«<br />

»Schon verziehen. Ich glaube, ich bin nur noch ein bißchen aus dem<br />

Gleichgewicht. Ich dachte wirklich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.<br />

Im Wald verirrt, ohne Wasser, während du die ganzen Schokoladenkekse<br />

hast.«<br />

»Wie hast du den Trail dann wieder gefunden?«<br />

»Durch ein Wunder, ich schwöre es dir. Ich wollte mich gerade den Wölfen<br />

und Bären zum Fraß vorwerfen, da schaue ich auf und sehe das weiße Wanderzeichen<br />

an einem Baum, und dann gucke ich an mir runter, und siehe da,<br />

ich stehe direkt auf dem Trail. Neben dem Schlammloch auch noch. Ich<br />

setzte mich hin und rauchte drei Zigaretten hintereinander, um mich zu<br />

beruhigen, und dann dachte ich: Scheiße. <strong>Bryson</strong> ist hier bestimmt schon<br />

vorbeigekommen, während ich draußen im Wald herumgetappt bin. Der<br />

kommt nicht mehr zurück, denn diesen Abschnitt des Trails hat er schon<br />

abgesucht. Dann fing ich an mir Sorgen zu machen, daß ich dich nie wiedersehen<br />

würde. Deswegen war ich wirklich überfroh, als du dann aufgekreuzt<br />

bist. Um die Wahrheit zu sagen, <strong>Bryson</strong>, ich war in meinem Leben<br />

noch nie so froh, einen Menschen zu sehen.«<br />

Etwas Flehendes lag in seinem Blick.<br />

»Willst du nach Hause?« fragte ich.<br />

Er überlegte einen Moment. »Ja.«<br />

»Ich auch.«<br />

Wir beschlossen, den Trail zu verlassen und uns nicht weiter vorzumachen,<br />

wir wären echte Bergmenschen, das waren wir nämlich nicht. Am Fuß des<br />

Chairback Mountain, sechseinhalb Kilometer weiter, befand sich eine befestigte<br />

Forststraße. Wir wußten nicht, wohin sie führte, aber irgendwohin<br />

mußte sie ja führen. Ein Pfeil am Rand meiner Karte wies südlich zu den<br />

Katahdin Iron Works, einer seltsamen Fabrikanlage aus dem 19. Jahrhundert,<br />

heute ein Denkmal der Industriegeschichte. Nach meinem Trail -<br />

Führer befand sich vor dem Eisenwerk ein öffentlicher Parkplatz, es mußte<br />

also auch eine Straße dorthin führen. Am Fuß des Berges füllten wir unsere<br />

Flaschen in einem Bach auf und marschierten dann die Forststraße entlang.<br />

Wir waren erst wenige Minuten unterwegs, als in der Nähe Lärm zu hören<br />

war. Wir drehten uns um und sahen hinter uns eine Staubwolke auf uns<br />

zurollen, die von einem uralten Pick-up verursacht wurde, der <strong>mit</strong> großer<br />

Geschwindigkeit heranraste. Ich hielt instinktiv meinen Daumen raus, und<br />

zu meinem großen Erstaunen bremste der Wagen zehn Meter vor uns ab.<br />

Wir liefen hin und steckten unsere Köpfe durch die heruntergekurbelte<br />

Fensterscheibe. In dem Wagen saßen zwei Männer <strong>mit</strong> Schutzhelmen und<br />

ziemlich verdreckt – offenbar Waldarbeiter.


»Wo wollen Sie hin?« fragte der Fahrer.<br />

»Egal«, sagte ich. »Hauptsache weg von hier.«


21. Kapitel<br />

Wir bekamen den Katahdin Mountain also nicht zu sehen. Wir bekamen<br />

nicht einmal die Katahdin Iron Works zu sehen, erhaschten nur einen verschwommenen<br />

Blick von ihnen, weil wir <strong>mit</strong> 100 Stundenkilometern daran<br />

vorbeirasten. Es war die schrecklichste, holprigste Fahrt, die ich je in meinem<br />

Leben über eine Schotterpiste, hinten auf der offenen Ladefläche eines<br />

Pick-up <strong>mit</strong>gemacht habe. Nie wieder.<br />

Wir hielten uns fest, so gut wir konnten, mußten aber zwischendurch die<br />

Beine hochreißen, um den Motorsägen und anderen gefährlich aussehenden<br />

Gerätschaften auszuweichen, die auf der Ladefläche hin und her rutschten.<br />

Der Wald flog an uns vorbei, denn der Fahrer donnerte rücksichtslos die<br />

Straße entlang und fuhr <strong>mit</strong> Begeisterung durch Schlaglöcher, so daß wir<br />

hochgeschleudert wurden, und legte sich gleich anschließend, um unsere<br />

Marter noch zu erhöhen, <strong>mit</strong> Freude in die Kurve. Wir standen auf wackligen<br />

Beinen, als wir in dem kleinen Ort Milo ausstiegen, 32 Kilometer weiter<br />

südlich. Wir waren maßlos erstaunt, <strong>mit</strong> welcher Geschwindigkeit sich<br />

unsere Umgebung verändert hatte. Eben noch <strong>mit</strong>ten in der Wildnis, vor uns<br />

mindestens ein Zwei-Tages-Marsch zurück in die Zivilisation, und jetzt<br />

standen wir auf dem Gelände einer Tankstelle am Rand einer Kleinstadt.<br />

Wir sahen dem Pick-up hinterher, als er wegfuhr, und mußten uns erstmal<br />

orientieren.<br />

»Willst du eine Cola?« sagte ich zu Katz. Neben dem Eingang zur Tankstelle<br />

stand ein Automat.<br />

Er überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er. »Nachher vielleicht.«<br />

Es war ungewöhnlich für Katz, normalerweise stürzte er sich bei jeder sich<br />

bietenden Gelegenheit <strong>mit</strong> überschwenglicher Begeisterung auf Cola und<br />

Fastfood, aber ich konnte ihn ganz gut verstehen. Es ist immer wie ein<br />

leichter Schock, wenn man den Trail verläßt und kurzzeitig in die Welt der<br />

Bequemlichkeit hineinversetzt wird, in der es Wahlmöglichkeiten gibt.<br />

Diesmal aber war es anders. Diesmal sollte es für immer sein. Wir wollten<br />

unsere Wanderschuhe an den Nagel hängen. Von jetzt ab sollte es immer<br />

Cola geben, ein weiches Bett, eine heiße Dusche und was man sich sonst<br />

noch so wünscht. Jetzt herrschte keine Not mehr. Eine überwältigende Vorstellung.<br />

Es gab kein Motel in Milo, aber man empfahl uns eine Pension, die sich<br />

Bishop’s Boarding House nannte, ein großes, weißes Haus in einer hübschen,<br />

baumbestandenen Straße <strong>mit</strong> breiten Vorgärten und soliden alten<br />

Villen – die Sorte, bei denen die ehemaligen Kutscherhäuser <strong>mit</strong> Quartier<br />

für die Hausangestellten im ersten Stock in Garagen umgewandelt worden<br />

waren.


Die Besitzerin, Joan Bishop, begrüßte uns herzlich und <strong>mit</strong> einer freundlichen<br />

Geschäftigkeit. Sie war eine muntere, weißhaarige Dame <strong>mit</strong> einem<br />

schweren Ostküstendialekt, und als sie an die Tür kam, wischte sie sich die<br />

mehlbestaubten Hände an der Schürze ab und bat uns <strong>mit</strong> unseren verdreckten<br />

Rucksäcken ohne einen Anflug von Mißbilligung in ihre blitzsaubere<br />

Diele.<br />

Es roch nach selbstgebackenem Kuchen, nach selbstgezüchteten Tomaten<br />

und nach frischer, von Ventilatoren und Klimaanlagen verschonter Luft –<br />

altmodische Sommergerüche. Sie nannte uns »Jungs« und benahm sich, als<br />

hätte sie uns seit Tagen, ja seit Jahren erwartet.<br />

»Meine Güte, Jungs, wie seht ihr denn aus!« gluckste sie vor Erstaunen und<br />

Freude. »Als hättet ihr schwer <strong>mit</strong> Bären gekämpft.«<br />

Wir müssen wirklich einen hübschen Anblick geboten haben. Katz war von<br />

seinem angstvollen Herumirren im Wald geradezu blutüberströmt, und die<br />

Erschöpfung stand uns ins Gesicht geschrieben.<br />

»Geht erst mal nach oben, Jungs, und wascht euch. Dann kommt runter auf<br />

die Veranda, und ich mache euch in der Zwischenzeit einen Eistee. Oder<br />

wollt ihr lieber Limonade? Egal, ich stelle beides hin. Und jetzt ab <strong>mit</strong><br />

euch!« Mit diesen Worten scheuchte sie uns nach oben.<br />

»Danke, Mom«, murmelten wir ein bißchen verwirrt, aber dankbar.<br />

Katz war augenblicklich wie verwandelt – so daß er sich vielleicht ein bißchen<br />

zu sehr wie zu Hause fühlte. Ich kramte gerade müde ein paar Sachen<br />

aus meinem Rucksack, als er plötzlich ohne anzuklopfen in meinem Zimmer<br />

stand und schnell die Tür schloß. Er war ganz aus der Fassung. Er war<br />

nur <strong>mit</strong> einem in der Eile um die Hüften gewickelten Handtuch bekleidet.<br />

»Eine kleine alte Dame«, sagte er völlig verdutzt.<br />

»Wie bitte?«<br />

»Im Flur ist eine kleine alte Dame«, sagte er.<br />

»Das ist schließlich eine Pension«, sagte ich.<br />

»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.« Er öffnete die Tür einen Spalt breit,<br />

spähte hinaus und verschwand, ohne sich weiter darüber auszulassen.<br />

Nachdem wir geduscht und uns umgezogen hatten, setzten wir uns zu Mrs.<br />

Bishop auf die Veranda, sanken dankbar in die großen alten Gartenstühle<br />

und streckten die Beine von uns, so wie man es eben macht, wenn es heiß<br />

ist und man müde ist. Ich hoffte, Mrs. Bishop würde uns erzählen, wie viele<br />

Wanderer sie schon bei sich aufgenommen hätte, die sich dem Appalachian<br />

Trail ebenfalls geschlagen gegeben hatten, aber soweit sie sich erinnerte,<br />

waren wir die ersten.<br />

»Gestern stand in der Zeitung, ein Mann aus Portland ist auf den Katahdin<br />

geklettert, um auf dem Gipfel seinen achtundsiebzigsten Geburtstag zu<br />

feiern«, sagte sie, um ein Gespräch anzufangen.


Wie man sich vorstellen kann, baute mich das unglaublich auf.<br />

»Bis dahin werde ich es wohl auch nochmal versuchen«, sagte Katz und<br />

fuhr sich <strong>mit</strong> dem Finger über die Schrammen auf seinem Unterarm.<br />

»Der Berg läuft jedenfalls nicht davon, Jungs«, sagte sie. Da hatte sie natürlich<br />

recht.<br />

Wir aßen in der Stadt in einem beliebten Restaurant und machten anschließend<br />

einen Bummel, denn es war ein lauer, angenehmer Abend. Milo war<br />

auf reizende Weise ein hoffnungsloser Ort – wirtschaftlich gesehen aussichtslos<br />

weit ab vom Schuß, aber irgendwie liebenswert. Es gab einige sehr<br />

schöne Wohnviertel und eine imposante Feuerwache. Vielleicht kam es uns<br />

allerdings auch nur so vor, weil es unser letzter Abend war, bevor es nach<br />

Hause ging. Da wäre uns jeder Ort recht gewesen.<br />

»Und? Findest du es schade, daß du den Trail jetzt verläßt?« fragte Katz<br />

mich nach einer Weile.<br />

Ich überlegte. Ich war unsicher. Ich merkte, daß ich keine Gefühle gegenüber<br />

dem AT hegte, die nicht von Widersprüchlichkeit gekennzeichnet<br />

waren. Einerseits hatte ich den Trail satt, andererseits hatte er mich in seinen<br />

Bann geschlagen; einerseits konnte ich die endlosen Wälder hinterher<br />

nicht mehr sehen, andererseits bewunderte ich gerade diese Endlosigkeit;<br />

einerseits begab ich mich gern auf eine Flucht vor der Zivilisation, und andererseits<br />

sehnte ich mich doch nach deren Annehmlichkeiten. Ich wollte<br />

aufhören, und ich wollte ewig so weitermachen; in einem Bett schlafen und<br />

im Zelt; gucken, was hinter dem nächsten Berg lag, und nie wieder einen<br />

Berg sehen. Alles zusammen, und alles auf einmal, auf jedem Meter des<br />

Trails. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ja und nein. Und du?«<br />

Er nickte. »Mir geht es genauso. Ja und nein.«<br />

Wir spazierten noch ein Stück weiter, gedankenverloren.<br />

»Wir haben es geschafft«, sagte Katz und schaute dabei hoch. Ihm fiel mein<br />

fragender Gesichtsausdruck auf. »Jedenfalls haben wir Maine durchwandert.«<br />

Ich sah ihn an. »Wir sind nicht einmal in die Nähe des Mount Katahdin<br />

gekommen.«<br />

Er tat das als reine Spitzfindigkeit ab. »Ist doch nur ein Berg«, sagte er.<br />

»Auf wieviel Bergen muß man denn gewesen sein, <strong>Bryson</strong>?«<br />

Ich lachte kurz auf. »So kann man das natürlich auch sehen.«<br />

»So muß man es sehen«, fuhr Katz fort, jetzt ganz ernst. »Was mich betrifft,<br />

kann ich sagen, ich bin den Appalachian Trail entlanggewandert. Bei<br />

Schnee und bei Hitze. Im Süden und im Norden. Ich bin gewandert, bis mir<br />

die Füße bluteten. Ich bin den Appalachian Trail entlanggewandert, <strong>Bryson</strong>.«<br />

»Wir haben ganz schön viel ausgelassen.«


»Nebensächlichkeiten«, bemerkte Katz naserümpfend.<br />

Ich zuckte die Achseln, nicht unzufrieden <strong>mit</strong> dem, was er sagte. »Vielleicht<br />

hast du recht.«<br />

»Natürlich habe ich recht«, sagte er, als sei nur selten das Gegenteil der<br />

Fall.<br />

Wir waren wieder an den Stadtrand gekommen, an die Tankstelle, wo uns<br />

die Holzfäller abgesetzt hatten. Sie war immer noch geöffnet.<br />

»Was hältst du von einer Cream Soda?« sagte Katz vergnügt. »Ich lade dich<br />

ein.«<br />

Ich sah ihn verdutzt an. »Du hast doch gar kein Geld mehr.«<br />

»Ich weiß. Ich lade dich <strong>mit</strong> deinem Geld ein.«<br />

Ich grinste und gab ihm fünf Dollar aus meinem Portemonnaie.<br />

»Heute abend kommt Akte X«, sagte Katz zufrieden, sehr zufrieden sogar,<br />

und verschwand in dem Laden. Ich sah ihm hinterher, schüttelte den Kopf<br />

und fragte mich, woher er das bloß immer wußte.<br />

Und so ging unsere gemeinsame Tour zu Ende – <strong>mit</strong> einem Sixpack Cream<br />

Soda in Milo, Maine.<br />

Katz kehrte nach Des Moines in seine kleine Wohnung zurück, zu seinem<br />

Job auf dem Bau und zu einem Leben eifriger Nüchternheit. Ab und zu ruft<br />

er an und redet davon, sich doch nochmal an die Hundred Mile Wilderness<br />

heranzuwagen, aber ich glaube nicht, daß wir das je machen werden.<br />

Ich bin noch den ganzen Sommer über bis weit in den Herbst hinein gewandert,<br />

mal hier, mal da. Mitte Oktober, zum Höhepunkt der Herbstsaison, bin<br />

ich zu meiner, wie sich später erwies, letzten Wanderung aufgebrochen,<br />

einer erneuten Besteigung des Killington Peak in Vermont. Es war ein Tag<br />

wie aus dem Bilderbuch, die Gegend war erfüllt von einem moschusartigen<br />

herbstlichen Duft und einer scharfen Frische, und die Luft war so rein, daß<br />

man meinte, man brauche nur die Hand auszustrecken, um sie <strong>mit</strong> den Fingern<br />

zu berühren. Selbst die Farben waren knackig frisch: stahlblauer Himmel,<br />

dunkelgrüne Felder, und Blätter in allen Schattierungen, die die Natur<br />

hervorzubringen vermag. Es ist wahrlich ein erstaunlicher Anblick, wenn<br />

jeder einzelne Baum in einem Wald auf einmal für sich steht, wenn da, wo<br />

vorher ein nahtloser grüner Teppich ausgebreitet war, plötzlich tausend verschiedene<br />

Farben leuchten.<br />

Ich schritt begeistert und energisch aus, angetrieben von der frischen Luft<br />

und der Pracht um mich herum. Vom Gipfel des Killington aus hatte ich<br />

einen Rundblick über fast ganz New England und weiter bis nach Quebec,<br />

zum fernen, bläulichen Stumpf des Mont Royal. Fast jeder bedeutendere<br />

Gipfel in New England – Washington, Lafayette, Greylock, Monadnock,<br />

Ascutney, Moosilauke – hob sich reliefartig ab und sah viel näher aus, als er


in Wirklichkeit war. Ein unvorstellbar schöner Anblick. Daß dieser unendlich<br />

weite Ausblick nur einen Ausschnitt der Appalachen darstellte, daß da<br />

unten ein für alle offener, gepflegter Trail verlief, 3.540 Kilometer durch<br />

Berge und durch Wälder von ebenso erhabener Größe, war ein Gedanke,<br />

der einen geradezu überwältigte. Ich kann mich nicht erinnern, daß mir jemals<br />

in meinem Leben stärker ins Bewußtsein gerückt war, wie sehr die<br />

Vorsehung das Land, in dem ich auf die Welt gekommen bin, begünstigt<br />

hat. Das war der ideale Ort, um die Wanderung zu beenden.<br />

Es wäre mir sowieso nichts anderes übriggeblieben. Der Herbst ist nur kurz<br />

in New England. Wenige Tage nach meiner Tour auf den Killington setzte<br />

der Winter <strong>mit</strong> aller Macht ein. Die Wandersaison war eindeutig zu Ende.<br />

Kurz darauf, an einem Sonntagnach<strong>mit</strong>tag, saß ich zu Hause am Küchentisch<br />

<strong>mit</strong> Wanderbuch und Taschenrechner und zählte die Kilometer zusammen,<br />

die ich gegangen war. Ich überprüfte die Zahlen zweimal und schaute<br />

dann <strong>mit</strong> einem Gesichtsausdruck auf, der ungefähr so ausgesehen haben<br />

mag wie der von Katz und mir in dem Moment, als uns klar wurde, daß wir<br />

den Appalachian Trail niemals ganz schaffen würden.<br />

Ich hatte l .400 Kilometer geschafft, weit weniger als die Hälfte des AT. Die<br />

ganze Mühe, der ganze Schweiß, all der Dreck, die Tage endlosen Marschierens,<br />

die Nächte auf hartem Boden – und all das belief sich zum<br />

Schluß nur auf 39,5 Prozent des Weges. Weiß der Himmel, wie andere den<br />

gesamten Trail bewältigen. Ich habe nur ungläubiges Staunen für die übrig,<br />

die die ganze Strecke gehen. Und dennoch, 1.400 Kilometer sind auch kein<br />

Pappenstiel. Es entspricht der Entfernung zwischen New York und Chicago,<br />

sogar etwas mehr. Wenn ich diese Strecke ohne eine Vorgabe zu Fuß gegangen<br />

wäre, wären jetzt alle ziemlich stolz auf mich.<br />

Ich gehe immer noch häufig auf dem Trail hinter unserem Haus wandern,<br />

meist wenn ich bei meiner Arbeit mal steckenbleibe. Meistens bin ich in<br />

Gedanken versunken, aber irgendwann kommt jedesmal der Moment, in<br />

dem ich aufschaue und um mich blicke und <strong>mit</strong> ungetrübter Bewunderung<br />

erkenne, was für ein unglaublich kompliziertes und empfindliches Gebilde<br />

der Wald ist, <strong>mit</strong> welch zwangloser Mühelosigkeit elementare Dinge sich<br />

zusammenfügen und eine Komposition bilden, die, welche Jahreszeit auch<br />

immer herrscht und wohin ich meinen berauschten Blick auch wende, perfekt<br />

ist. Nicht bloß sehr feingliedrig oder herrlich, sondern perfekt, nicht<br />

weiter zu verbessern. Man braucht nicht Berge hinaufzusteigen, sich nicht<br />

durch Schneestürme zu kämpfen, nicht im Matsch auszurutschen, nicht tagein,<br />

tagaus im wahrsten Sinne des Wortes bis an seine Grenzen zu gehen,<br />

um zu dieser Erkenntnis zu gelangen – aber glauben Sie mir, es hilft dabei.<br />

Ein paar Dinge bedaure ich natürlich. Ich bedaure, daß ich den Katahdin<br />

nicht hinaufgegangen bin. (Ich verspreche, das werde ich nachholen.) Ich


edaure, daß ich keinen Bär gesehen habe und keinen Wolf, daß ich keinen<br />

Rotluchs verscheucht und keinen verdutzten Eber aufgeschreckt habe, daß<br />

ich keinem Riesensalamander in seinen Schlupfwinkel gefolgt und keiner<br />

Klapperschlange ausgewichen bin. Ich hätte zu gern, wenigstens einmal<br />

dem Tod ins Gesicht geschaut (aber nur kurz, bitteschön, und <strong>mit</strong> der<br />

schriftlichen Garantie, daß ich überlebe). Dafür habe ich jede Menge anderer<br />

Erfahrungen gemacht. Ich weiß, wie man ein Zelt aufschlägt und was es<br />

heißt, unter freiem Himmel zu schlafen. Für kurze Zeit in meinem Leben<br />

war ich schlank und fit und stolz auf mich. Ich habe enormen Respekt vor<br />

der Wildnis und den gütigen dunklen Mächten des Waldes bekommen. Ich<br />

habe eine Ahnung von den ungeheuren Dimensionen der Erde erhalten. Ich<br />

habe Geduld und Kraft in mir gefunden, die ich vorher an mir nicht kannte.<br />

Ich habe ein Amerika entdeckt, von dessen Existenz nur wenige wissen. Ich<br />

habe einen Freund gewonnen. Ich bin nach Hause gekommen.<br />

Und das Schönste ist: Wenn ich heute einen Berg sehe, schaue ich ihn mir<br />

lange an und taxiere ihn <strong>mit</strong> einem selbstsicheren Blick aus Granitaugen.<br />

Wir sind nicht alle 3.540 Kilometer gegangen, das stimmt, aber wir haben<br />

es versucht. Katz hatte doch recht, und es ist mir egal, was andere Leute<br />

sagen. Wir sind den Appalachian Trail entlanggewandert.


Anmerkung des Autors<br />

Dieses Buch berichtet von den Erfahrungen, die der Autor bei seiner Wanderung<br />

entlang des Appalachian Trail gemacht hat, und spiegelt seine Meinung<br />

wider. Einige Namen sowie Eigenschaften, die lebenden Personen<br />

zugeschrieben werden könnten, wurden verändert, um die Privatsphäre<br />

dieser Personen zu schützen.<br />

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Wilson, Edward O.: The Diversity of Life. Cambridge, MA: Belknap<br />

Press/Harvard University Press, 1992.

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