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B_ Kontroverse Historikerdeutungen zu Canossa - Speyer ...

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

(K)ein (K)ein Gang Gang nach nach <strong>Canossa</strong>? <strong>Canossa</strong>? -<strong>Kontroverse</strong> <strong>Kontroverse</strong> <strong>Historikerdeutungen</strong> <strong>Historikerdeutungen</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>zu</strong><br />

„<strong>Canossa</strong>“<br />

„<strong>Canossa</strong>“<br />

M1: M1: Wilhelm von Giesebrecht bewertete den Gang Heinrichs IV. nach <strong>Canossa</strong> in seiner „Geschichte der<br />

deutschen Kaiserzeit“ aus dem Jahre 1867 wie folgt:<br />

„[…] Aber was der König [Heinrich IV.] auch gewonnen hatte 1 , es war mit einem Opfer erkauft, dessen<br />

Schwere jeden Gewinn überbot. Offen vor den Augen der ganzen Welt hatte er bekannt, dass der<br />

römische Bischof das Recht ihn <strong>zu</strong> binden und <strong>zu</strong> lösen habe; ihm, der als deutscher König und Erbe des<br />

Kaiserthums das höchste Richteramt im Abendlande überkommen hatte, war das Geständnis<br />

entwunden, dass der Erwählte der römischen Cardinäle und des römischen Volks der Mächtigere sei, der<br />

ihn in den Staub stürzen, ihn aus dem Staube erheben könne. Als Heinrich vor dem Thore von <strong>Canossa</strong><br />

im Büßerhemde vergeblich um Einlass flehte, erblasste der Glanz des deutschen Kaiserthums, und eine<br />

neue Glorie bildete sich um das Haupt des römischen Bischofs. Jene Tage von <strong>Canossa</strong> konnten niemals<br />

wieder vergessen werden; Blutströme sind in mehr als hundertjährigen Kämpfen vergossen worden, um<br />

das Andenken an dieselben <strong>zu</strong> tilgen, aber sie haben es nimmer vermocht. Von ihnen beginnt eine neue<br />

Periode unserer Kaisergeschichte, wie der Geschichte des Papstthums, von ihnen zählt eine neue Epoche<br />

der Weltgeschichte. […] Es war ein glänzender Triumph der Kirche, aber gewiss ist, dieser Triumph<br />

befriedigte Gregor nicht. Ein köstlicherer Sieg wäre ihm bereitet worden, wenn er im Herzen<br />

Deutschlands inmitten der deutschen Fürsten über den höchsten Thron des Abendlands hätte verfügen,<br />

wenn er dort Heinrich hätte aus dem Staube erheben können, und diesen Sieg hat ihm Heinrichs<br />

Klugheit damals und für immer entzogen. […]“<br />

(aus: Wilhelm von Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 3. Band: Das Kaiserthum im Kampfe mit dem<br />

Papstthum, 5. Auflage Leipzig 1890 (1. Auflage 1867), S. 403-404.)<br />

M2: M2: Wilfried Hartmann schrieb 1996 in einem enzyklopädischen Überblick über die Zeit des<br />

Investiturstreits:<br />

„[…] Die Fürsten verabredeten darüber hinaus, Heinrich nicht mehr als König an<strong>zu</strong>erkennen, wenn er<br />

nicht bis <strong>zu</strong>m ersten Jahrestag seiner Exkommunikation die Lossprechung vom Bann erreicht habe. Am<br />

2. Februar 1077 wollten sie <strong>zu</strong>r Neuwahl eines Königs in Augsburg <strong>zu</strong>sammentreten, wohin auch Papst<br />

Gregor eingeladen wurde. Jetzt war ein schneller Entschluss erforderlich, und Heinrich fasste ihn. Mitten<br />

im Winter überschritt er mit kleinstem Gefolge die Alpen und erschien am 25. Januar 1077, dem Fest der<br />

Bekehrung des Paulus, vor der Burg <strong>Canossa</strong>, in die sich Gregor VII. auf seinem Weg ins Reich<br />

<strong>zu</strong>rückgezogen hatte. An diesem und an den folgenden Tagen stand der König im wollenen<br />

Büßergewand barfuß im Schnee und erreichte auf Fürsprache der Marktgräfin Mathilde und seines in<br />

<strong>Canossa</strong> anwesenden Paten Hugo von Cluny, dass er vom Bann gelöst und wieder in die Gemeinschaft<br />

der Kirche aufgenommen wurde (28. Januar 1077). Heinrich musste versprechen, sich wegen seines<br />

Konflikts mit den Fürsten dem Urteil des Papstes <strong>zu</strong> unterwerfen. Damit hatte Heinrich zwar vorerst<br />

seine Krone gerettet, er hatte aber den Anspruch aufgegeben, den er im Schreiben vom Januar 1076<br />

formuliert hatte, dass der König als „Gesalbter des Herrn“ keinem irdischen Richter verantwortlich sei.<br />

Wie ein gewöhnlicher Laie hatte Heinrich eine Kirchenbuße auf sich genommen und damit gezeigt, dass<br />

1 Giesebrecht verweist <strong>zu</strong>vor darauf, dass Heinrich mit dem Gang nach <strong>Canossa</strong> wieder in die Kirche aufgenommen<br />

wurde und somit die Pläne der Fürsten bezüglich einer Neuwahl nichtig gemacht wurden.<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

auch Könige dem geistlichen Richteramt des Papstes unterworfen sind. Schon die Zeitgenossen<br />

empfanden die Zwiespältigkeit des Vorgangs: Einerseits akzeptierten sie die in der Buße ausgedrückte<br />

religiöse Gesinnung des Königs, andererseits hielten sie es für unwürdig, dass der König um eines<br />

augenblicklichen Vorteils willen eine Kehrtwendung vollzogen hatte. […]“<br />

(aus: Wilfried Hartmann: Der Investiturstreit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 21), 2. Auflage, München 1996, S.25f.)<br />

M3: M3: Johannes Fried sieht die gängige Darstellung von <strong>Canossa</strong> <strong>zu</strong> sehr von den Deutungen des 19.<br />

Jahrhunderts geprägt, die nicht berücksichtigten, dass die meisten Quellen aus päpstlich-kurialer<br />

Perspektive verfasst seien (2008):<br />

„[…] Die folgenden Ereignisse sind freilich durch die einseitig antikönigliche, aus oftmals beträchtlicher<br />

Distanz <strong>zu</strong>m Geschehen unter irrigen Prämissen konstruierte Überlieferung vielfach bis <strong>zu</strong>r<br />

Unkenntlichkeit entstellt. Doch nicht der dem König feindseligen Propaganda-Version des 11.<br />

Jahrhunderts ist <strong>zu</strong> trauen, […] sondern jenen Zeugen, die aus nächster Nähe das Geschehen verfolgt<br />

hatten. Danach erkannte Heinrich schon im Sommer 1076 seinen Fehler. Beraten vom Großabt Hugo von<br />

Cluny, seinem Paten, von seiner Mutter und seiner nächsten Verwandten in Italien, der Markgräfin<br />

Mathilde von <strong>Canossa</strong>, wurde ein Weg gesucht, den ausgebrochenen Konflikt <strong>zu</strong> heilen. Auch Gregor war<br />

um Frieden bemüht, ohne freilich demselben die „Freiheit der Kirche“ <strong>zu</strong> opfern. Sein eigentlicher<br />

Gegner war ja nicht der deutsche König, vielmehr die kirchenferne Welt, die falschen Christen, die Feinde<br />

des Apostelfürsten und seiner Lehre, die Feinde der Gerechtigkeit. Eine persönliche Begegnung des<br />

Papstes mit dem König ließ sich vereinbaren, <strong>zu</strong>gleich die päpstliche Vermittlung in der<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit Heinrichs Gegnern im eigenen Reich vorbereiten. Diese erhofften eine weithin<br />

vernehmbare Verurteilung des Königs durch den herbeieilenden Papst und rüsteten bereits <strong>zu</strong>r Neuwahl.<br />

[…]<br />

Der König scheute begreiflicherweise die <strong>zu</strong>nächst mit den Fürsten verabredete Versammlung auf<br />

deutschem Boden, nämlich in Augsburg, im Zentrum der Macht seiner Feinde, und eilte ohne deren<br />

Kenntnis dem anreisenden Papst nach Italien entgegen. In <strong>Canossa</strong>, einer Burg der Mathilde, in der sich<br />

<strong>zu</strong>gleich ein Kloster befand, trafen sich beide (1077). Die Begegnung war […] gut vorbereitet. Heinrich<br />

wurde nach dreitägiger symbolischer Buße vom Bann gelöst, Papst und König schlossen einen Vertrag,<br />

wonach letzterer die Gegner des Papstes […] nicht weiter unterstützte und Gregor ein Gleiches<br />

hinsichtlich der Feinde des Königs <strong>zu</strong>sagte. Anschließend wollte Heinrich den Papst über die Alpen <strong>zu</strong>m<br />

Treffen mit den Fürsten geleiten; doch diesen letzten Erfolg vereitelten beider Gegner, die durch<br />

Gefangennahme päpstlicher Legaten und die Wahl Rudolfs von Rheinfelden <strong>zu</strong>m Gegenkönig den eben<br />

geschlossenen Friedensvertrag hintertrieben. […]“<br />

(aus: Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008, S. 170-171.)<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

Arbeitsvorschläge<br />

Arbeitsvorschläge<br />

1. Klären Sie die historischen Hintergründe, auf die sich Historiker beziehen.<br />

2. Erarbeiten Sie die unterschiedlichen Deutungen von <strong>Canossa</strong> als ‚Gang nach <strong>Canossa</strong>‘ oder<br />

als ‚Pakt von <strong>Canossa</strong>‘ aus den Darstellungen und erklären Sie die Unterschiede.<br />

3. „<strong>Canossa</strong> aktuell“:<br />

a) "Wenn Real Madrid kommt, dann geht Ballack, wenn Real nicht kommt, dann gibt’s<br />

<strong>Canossa</strong>“<br />

b) „Mythos <strong>Canossa</strong> – Wir sollten die Legende vergessen“<br />

Das erste Zitat stammt vom Manager des FC Bayern Uli Hoeneß anlässlich der Diskussionen über einen<br />

möglichen Wechsel des Mittelfeldspielers Michael Ballack <strong>zu</strong>m spanischen Fußballclub Real Madrid (zitiert<br />

nach Spiegel-online v. 20.01.2006). Mit dem zweiten Zitat titelte die F.A.Z. im Feuilleton einen Beitrag<br />

(v.29.01.2009) <strong>zu</strong>r neuen Interpretation Frieds.<br />

Definieren Sie, inwieweit die Zitate auf das historische Phänomen <strong>Canossa</strong> anspielen und<br />

erklären Sie die implizierte Geschichtsdeutung.<br />

Zusatzaufgabe<br />

Zusatzaufgabe<br />

„Für mich bedeutet <strong>Canossa</strong> nach wie vor eine Chiffre für einen Umbruch in der<br />

Gesellschaftsordnung, für einen Umbruch größten Ausmaßes“,<br />

so begann der Historiker Stefan Weinfurter in einer Radiodebatte [SWR2-Forum,<br />

07.04.2009: Kein Gang nach <strong>Canossa</strong>?] seine Überlegungen <strong>zu</strong> diesem historischen<br />

Phänomen.<br />

In Be<strong>zu</strong>g auf <strong>Canossa</strong>-Deutungen ist häufig vom „Mythos <strong>Canossa</strong>“, dann wieder von der<br />

„Chiffre <strong>Canossa</strong>“ die Rede. Erarbeiten Sie die Unterschiede, indem Sie die Begriffe Mythos<br />

und Chiffre definieren und auf die <strong>Canossa</strong>-Deutungen anwenden.<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

(K)ein (K)ein Gang Gang nach nach <strong>Canossa</strong>? <strong>Canossa</strong>? <strong>Canossa</strong>? <strong>Kontroverse</strong> <strong>Kontroverse</strong> Histor <strong>Historikerdeutungen</strong> Histor ikerdeutungen <strong>zu</strong><br />

<strong>zu</strong><br />

„<strong>Canossa</strong>“<br />

„<strong>Canossa</strong>“<br />

Didaktischer Didaktischer Kommentar<br />

Kommentar<br />

Das Arbeitsblatt eignet sich für alle Oberstufenkurse <strong>zu</strong>r Vor- oder Nachbereitung des<br />

Museumsbesuchs in <strong>Speyer</strong>. Es geht dabei um die Deutungen, die <strong>Canossa</strong> im 19.-21.<br />

Jahrhundert erfahren hat und um die Diskussion, inwieweit <strong>Canossa</strong> eine Erniedrigung des<br />

Königs war und die sakrale Legitimation des Königtums in Frage gestellt wurde. Der<br />

Schwerpunkt bei der Erarbeitung kann auf das historische oder aber auf das<br />

geschichtskulturelle Phänomen gelegt werden. Im ersten Fall könnte Arbeitsvorschlag 3 (und<br />

natürlich die Zusatzaufgabe Nr. 4) entfallen. Das Arbeitsblatt wäre so in einer Stunde lösbar. Im<br />

zweiten Fall könnte der erste Arbeitsauftrag entfallen und die Ereignisse um <strong>Canossa</strong> nur im<br />

einleitenden Unterrichtsgespräch wiederholt werden. Der Arbeitsauftrag 4 kann im Sinne einer<br />

Erweiterung für eine stärkere Schülergruppe genutzt werden.<br />

Zu den Materialien:<br />

M1: Wilhelm von Giesebrecht (1814-1889) war Schüler Rankes und bekleidete eine Professor<br />

für Geschichte (Berlin und München). Sein Schwerpunkt war die mittelalterliche Geschichte. Er<br />

veröffentlichte ab 1855 eine „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, die auf umfassenden<br />

Quellenrecherchen und –analysen beruhte. In der sehr berühmten Deutung Giesebrechts wird<br />

<strong>Canossa</strong> als entscheidende Zäsur in der Machtentfaltung des „deutschen“ Kaisertums<br />

interpretiert. Giesebrecht vertrat die nationalistische Geschichtsschreibung des 19.<br />

Jahrhunderts, die unter dem Eindruck der Entwicklungen von 1814 über 1848 <strong>zu</strong> 1871 die<br />

historische Herleitung eines Anspruchs auf ein deutsches Reich <strong>zu</strong>r historischen Grundfrage<br />

erhob. Den Schülern sollte hier deutlich werden, wie sehr die Deutung durch die aus der<br />

Gegenwartserfahrung heraus gestellte Frage an die Vergangenheit nach der ‚deutschen Größe‘<br />

geprägt war.<br />

M2: Wilfried Hartmann gibt die heute (<strong>zu</strong>mindest bis 2008/09) gängigste <strong>Canossa</strong>-Deutung<br />

wieder. Dies entspricht der Zielset<strong>zu</strong>ng der Enzyklopädie deutscher Geschichte im<br />

Überblickskapitel: Nach <strong>Canossa</strong> <strong>zu</strong> gehen, war ein schneller Entschluss Heinrichs IV., mit dem<br />

angesichts der winterlichen Verhältnisse nicht gerechnet wurde. Er fasste den Plan, um ein<br />

Zusammentreffen der Fürsten mit Papst Gregor VII. <strong>zu</strong> verhindern und <strong>zu</strong>vor wieder in die<br />

Kirche aufgenommen <strong>zu</strong> werden. Heinrich wurde nach drei Tagen Buße vom Bann gelöst. Wohl<br />

mit Absicht spricht Hartmann hier nicht explizit an, ob Heinrich in <strong>Canossa</strong> wieder als König<br />

eingesetzt wurde, sondern urteilt nur <strong>zu</strong>sammenfassend „Krone gerettet“. Hartmann betont<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

aber auch die große Wende mit <strong>Canossa</strong>, der König ist in der öffentlichen Darstellung dem<br />

geistlichen Richteramt des Papstes unterworfen, die königliche Würde ist somit entsakralisiert.<br />

(Heinrich hatte in seinem Brief an Gregor VII. vom 27. März 1076 selbst auf diese Dimension<br />

der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng verwiesen: „Aber Du…hast Dich nicht gescheut, Dich sogar gegen die<br />

uns von Gott vergebene königliche Herrschaft <strong>zu</strong> erheben, Du hast an<strong>zu</strong>drohen gewagt, Du<br />

würdest uns sie wegnehmen, als ob wir das Königtum von Dir empfangen hätten, als ob in<br />

Deiner und nicht in Gottes Hand sowohl König- als auch Kaisertum seien.“, zitiert nach J.<br />

Laudage, Der Investiturstreit, Quellen und Material, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 123).<br />

M3: Der Textausschnitt ist einem 2008 veröffentlichten Überblickswerk <strong>zu</strong>m Mittelalter<br />

Johannes Frieds (Professor für Mittelalterliche Geschichte, Universität Frankfurt) entnommen.<br />

Fried fasste seine neue, viel beachtete Deutung <strong>zu</strong> diesem Ereignis hier <strong>zu</strong>sammen. Später<br />

führte er seine Überlegungen weiter aus [Pakt von <strong>Canossa</strong>] und erreichte mit dem Vortrag <strong>zu</strong><br />

seiner Ehrenpromotion in Aachen eine große Öffentlichkeit. „<strong>Canossa</strong>“ schaffte es wieder in die<br />

Schlagzeilen [F.A.Z. 2009]. Diskutiert wurden die Thesen Frieds vor allem von und mit Stefan<br />

Weinfurter [Universität Heidelberg], der 2006 sein Werk <strong>zu</strong>m Investiturstreit unter dem Titel<br />

„<strong>Canossa</strong> - die Entzauberung der Welt“ veröffentlicht hatte. Fried wendet sich gegen die<br />

Interpretation <strong>Canossa</strong>s als Wendepunkt, als Erschütterung der Welt, auch als Chiffre für einen<br />

gesellschaftlichen Umbruch. Diese Deutung sei nach wie vor vom 19. Jahrhundert bestimmt<br />

und das 21. Jahrhundert müsse Erkenntnisse der Erinnerungsforschung berücksichtigen und <strong>zu</strong><br />

einer neuen Interpretation kommen. Die Vorstellung, Heinrich habe in einer verzweifelten<br />

Anstrengung die Alpen überquert, um den Papst unvermutet ab<strong>zu</strong>fangen und so das<br />

Zusammentreffen zwischen dem Papst und der Fürstenopposition <strong>zu</strong> verhindern, sei<br />

gegnerische Propaganda (vor allem durch Lampert von Hersfeld geprägt). Nach Fried gab es<br />

bereits im September 1076 Anzeichen, dass sich Papst und König wieder aufeinander<br />

<strong>zu</strong>bewegten. Es wurden lange Verhandlungen über Boten und Vermittler geführt, man einigte<br />

sich auf die Begegnung in <strong>Canossa</strong> und schloss dort einen Vertrag (Pakt), nachdem Heinrich<br />

symbolisch Buße geleistet hatte (das Bild vom drei Tage im tiefen Schnee knieenden frierenden<br />

Heinrich sei gegnerische Propaganda). Das „Vertragswerk von <strong>Canossa</strong>“ regelte die<br />

Streitigkeiten um den lombardischen Episkopat und andere Konfliktpunkte. Hintertrieben<br />

wurde diese Übereinkunft dann von der Opposition.<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

Erwartete Erwartete Schülerleistung<br />

Schülerleistung<br />

Grundüberlegungen:<br />

Die Ereignisse der Jahre 1076/77 müssen - wie der gesamte Investiturstreit - im Kontext der<br />

Kirchenreform sowie des Reformpapsttums auf der einen Seite und im Kontext der Bedeutung<br />

der Bischöfe im ottonisch-salischen Reichskirchensystem und der Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen<br />

zwischen Heinrich und den Fürsten auf der anderen Seite gesehen werden. Die Materialien sind<br />

ausgewählte Textausschnitte, die sich auf <strong>Canossa</strong> beziehen. Die Autoren von M1-3 legen den<br />

Investiturstreit in weit größeren Zusammenhängen dar. Um sich mit der Deutung der<br />

Darstellungen auseinandersetzen <strong>zu</strong> können, müssten folgende Ereignisse aus den Jahren<br />

1076/77 verstanden werden:<br />

(1075 war deutlich geworden, dass Gregor VII. die Reformen verstärkt umsetzen würde<br />

(Dictatus papae, Verbot der Laieninvestitur, Suspendierung von Reichsbischöfen); Konflikt um<br />

die Investitur des Mailänder Bischofs zwischen Heinrich und Gregor.<br />

- Jan. 1076: Heinrich und Reichsbischöfe erklären den Papst für abgesetzt, Heinrich<br />

betont das Gottesgnadentum seiner Königswürde<br />

- Feb 1076: Gregor VII. bannt die Bischöfe und Heinrich IV., den er auch als König absetzt,<br />

die Fürsten entbindet er von ihrem Treueid<br />

- Okt. 1076: Fürstentag <strong>zu</strong> Trebur: Ultimatum der Fürsten an Heinrich, sich binnen eines<br />

Jahres vom Bann <strong>zu</strong> lösen; Anberaumung eines Gerichtstages für Anfang 1077 nach<br />

Augsburg unter Vorsitz Gregors VII.<br />

- 25.-28. Jan. 1077: Heinrich und Gregor treffen in <strong>Canossa</strong> aufeinander: Buße Heinrichs,<br />

Aufhebung der Exkommunikation durch Gregor VII.<br />

M1: Im hier gewählten Textausschnitt wird Heinrich als deutscher König und Erbe des<br />

deutschen Kaisertums (Kaiserkrönung war erst 1084) verstanden, der Papst wird nur als<br />

‚römischer Bischof‘ bezeichnet. Heinrich sei gezwungen worden an<strong>zu</strong>erkennen, dass ihn ein<br />

von Fremden Erwählter stürzen und erheben konnte. <strong>Canossa</strong> wird als Erniedrigung des<br />

Kaisertums gedeutet. Der vollkommene Sieg Gregors wurde aber durch die Klugheit Heinrichs<br />

<strong>zu</strong>nichte gemacht, der mit dem unerwarteten Bußgang nach <strong>Canossa</strong> verhinderte, dass der<br />

Papst grundsätzlich Verfügungsgewalt über den Thron erhielt.<br />

M2: Der Gang nach <strong>Canossa</strong> war ein „schneller Entschluss“ des Königs, der darin die einzige<br />

Chance sah, sich vom Kirchenbann <strong>zu</strong> befreien, bevor bei dem geplanten Treffen in Augsburg<br />

(02. Feb. 1077) Fürstenopposition und Papst Gregor VII. aufeinandertrafen und über sein<br />

Königtum entschieden. Nach dreitägiger Buße wurde er vom Bann gelöst, musste sich aber<br />

verpflichten, das Urteil des Papstes in der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit den Fürsten <strong>zu</strong> akzeptieren.<br />

Zwar rettete Heinrich die Krone, aber er verlor die Position als direkter Gesalbter des Herrn.<br />

Zwischen ihn und sein Gottesgnadentum „schob“ sich in <strong>Canossa</strong> der Papst.<br />

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Arbeitsblätter für den Unterricht: Sek. II<br />

Erarbeitet von Dr. Meike Hensel-Grobe, VGD<br />

M3: : König und Papst bewegten sich bereits ab Sommer 1076 aufeinander <strong>zu</strong>, der<br />

Friedensschluss wurde lange vorbereitet. Heinrich überraschte mit seiner Reise in die<br />

Lombardei nur die Fürsten, nicht auch den Papst. In <strong>Canossa</strong> wurde ein <strong>zu</strong>vor vorbereiteter<br />

Vertrag geschlossen, der den Frieden zwischen König und Papst wiederherstellte. Der Vertrag<br />

wurde von den Gegnern beider Seiten hintertrieben. Die Berichterstattung ist von der<br />

Propaganda der kurialen Perspektive geprägt. Die Quellenkritik (Perspektivenbestimmung und<br />

zeitliche Nähe) muss bei der Interpretation und Auswahl der Quellen eine größere Rolle spielen<br />

und damit verschiebt sich die Deutung von <strong>Canossa</strong> von einem Bußgang <strong>zu</strong> einem<br />

vereinbarten Treffen <strong>zu</strong>m Zweck der Vereinbarung eines Friedensvertrages.<br />

3. Die Erklärung des Zitats dürfte den Schülern leicht fallen. <strong>Canossa</strong> wird fast als Synonym für<br />

einen Bittgang mit Bußbezeugung gebraucht, während die Verbindung <strong>zu</strong> einer tiefen<br />

Demütigung nicht impliziert ist. Es geht um keinen Mythos, um keinen Erinnerungsort. Im<br />

‚Spiegel‘ wird das Zitat erklärt mit „Ballack wird bitten bei den Bayern bleiben <strong>zu</strong> dürfen“, wenn<br />

das Angebot aus Madrid nicht kommt. Hintergrund war ein Wechselpoker um den<br />

Mittelfeldspieler Ballack zwischen dem 1. FC Bayern und Real Madrid im Jahre 2006.<br />

Auffällig im zweiten Beispiel ist die Verbindung von <strong>Canossa</strong> mit einem Mythos und mit einer<br />

Legende. Die Schüler sollten die Begriffe (Geschichtsmythos und Legende) in einem Lexikon<br />

nachschlagen und <strong>zu</strong>nächst definieren. So müsste in einem zweiten Schritt dann erschlossen<br />

werden, dass der ‚Mythos <strong>Canossa</strong>‘ einen deutschen Nationalmythos des 19. Jahrhunderts<br />

benennt, der die Ereignisse im Winter 1077 nutzt, um die tiefe Demütigung „deutscher“ Macht<br />

durch eine anmaßende römische (=fremde) Kirche als nationalen Erinnerungsort aus<strong>zu</strong>weisen.<br />

Die Legende schließt die bildreiche Erzählung vom im Schnee knieenden König ein, der mit<br />

seinem aufopferungsvollen, aber klugen Bußgang die Pläne des Papstes durchgekreuzte.<br />

4. Die ‚Chiffre <strong>Canossa</strong>‘ bezieht sich auf das historische Phänomen im 11. Jahrhundert, nicht<br />

auf seine spätere Instrumentalisierung. <strong>Canossa</strong> wird als Verschlüsselung für eine komplexe<br />

gesamtgesellschaftliche Veränderung gesetzt, die durch die Kirchenreform im 11. Jahrhundert<br />

bewirkt wurde und in deren Folge es auch <strong>zu</strong>m Investiturstreit kam. Mit der Rückbesinnung auf<br />

die Freiheit der Kirche begannen die Überlegungen <strong>zu</strong> einer Differenzierung in weltliche und<br />

geistliche Angelegenheiten. Die ‚Chiffre <strong>Canossa</strong>‘ wird dabei auch heftig kritisiert. Johannes<br />

Fried etwa weist darauf hin, dass <strong>Canossa</strong> als europäischer Erinnerungsort ungeeignet sei, da<br />

die Kirchenreform <strong>zu</strong> ganz ähnlichen Tendenzen in Frankreich und England geführt habe, man<br />

dort aber mit dem Erinnerungsort „<strong>Canossa</strong>“ wenig anfangen könne. Eine gemeinsame<br />

europäische Erinnerung sollte aber nicht einseitig auf einen nationalen Erinnerungsort<br />

bezogen werden in heutiger Zeit, da es sinnvoller und der aktuellen Entwicklung angemessener<br />

sei, eine europäische Erinnerungskultur <strong>zu</strong> entwickeln.<br />

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