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Leben zwischen Häusern

978-3-86859-146-0

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© 2012 by jovis Verlag GmbH<br />

Das Copyright für den Text liegt beim Autor.<br />

Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotografen/<br />

Inhabern der Bildrechte.<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Erstausgabe: Livet mellem husene, 1971. Die deutsche<br />

Fassung folgt der überarbeiteten englischen Neuauflage<br />

von 2010.<br />

(© Arkitektens Forlag. The Danish Architectural Press and<br />

Jan Gehl 2010) Übersetzung: Gehl Architects, Kopenhagen;<br />

bearbeitet von Jana Pippel, Berlin<br />

Korrektur: Christian Sander, Berlin<br />

Satz: Susanne Rösler, Berlin<br />

Druck und Bindung: fgb freiburger graphische betriebe<br />

Bibliografische Information der Deutschen<br />

Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese<br />

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

jovis Verlag GmbH<br />

Kurfürstenstraße 15/16<br />

10785 Berlin<br />

www.jovis.de<br />

ISBN 978-3-86859-146-0


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort 7<br />

1 <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong><br />

Drei Arten von Aktivitäten im Freien 9<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> 15<br />

Aktivitäten im Freien und die Qualität von Außenräumen 31<br />

Aktivitäten im Freien und Architekturentwicklungen 39<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> – in aktuellen sozialen Situationen 49<br />

2 Planungsvoraussetzungen<br />

Prozesse und Projekte 53<br />

Sinne, Kommunikation und Dimensionen 63<br />

Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> – ein Prozess 73<br />

3 Versammeln oder zerstreuen<br />

Versammeln oder zerstreuen 81<br />

Integrieren oder ausgrenzen 101<br />

Einladen oder abweisen 113<br />

Öffnen oder abschotten 121<br />

4 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen<br />

Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen 129<br />

Gehen 133<br />

Stehen 147<br />

Sitzen 155<br />

Sehen, hören und sprechen 163<br />

Ein angenehmer Ort in jeder Hinsicht 171<br />

Sanfte Übergänge 183<br />

Bibliografie 198<br />

Bildnachweis 199


6 <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong>


Vorwort<br />

Es ist mir eine große Freude, das Vorwort zur deutschen Ausgabe<br />

von Life between Buildings zu schreiben. Die Erstausgabe dieses<br />

Buchs erschien in den 1970er Jahren und wollte die Missstände<br />

benennen, die zu jener Zeit die Stadtplanung in ganz Europa bestimmten.<br />

Das Buch forderte, endlich die Bedürfnisse der Menschen<br />

zu be rück sichtigen, die sich <strong>zwischen</strong> den Gebäuden bewegen,<br />

die den Raum <strong>zwischen</strong> den <strong>Häusern</strong> nutzen. Es warb auch um<br />

Ver ständnis für die subtilen Eigenschaften und Vorzüge, die in der<br />

gesamten Geschichte menschlichen Siedlungsbaus die öffentlichen<br />

Räume <strong>zwischen</strong> den Gebäuden bestimmten, wo die Menschen sich<br />

trafen und versammelten. Und es wies darauf hin, dass das <strong>Leben</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> eine Dimension von Architektur darstellt und als<br />

solche berücksichtigt werden muss.<br />

Vier Jahrzehnte sind seit dem Erscheinen der Erstausgabe vergangen<br />

– Dekaden, in denen architektonische Moden und Ideo logien<br />

kamen und gingen. Aber nach wie vor ist es vordringlich, die<br />

<strong>Leben</strong>digkeit, ja buchstäblich die Bewohnbarkeit von Städten zum Ziel<br />

jedes städtebaulichen Projekts zu machen. Qualitätvolle öffentliche<br />

Räume wer den heute überall auf der Welt zunehmend intensiv genutzt.<br />

Davon zeugt das wachsende allgemeine Interesse an der in<br />

den Städten und deren öffentlichen Räumen gebotenen Wohn- und<br />

<strong>Leben</strong>squalität. Wenn sich die Gesellschaft verändert, ändert sich<br />

auch der Charakter des städtischen <strong>Leben</strong>s, aber die wesentlichen<br />

Prinzipien und Qualitätskriterien für gute öffentliche Räume haben<br />

sich bemerkenswerterweise als dauerhaft gültig erwiesen.<br />

Über die Jahre hat dieses Buch zahlreiche Überarbeitungen und Über -<br />

setzungen in verschiedene Sprachen erfahren. Deshalb hat die vor liegen<br />

de deutsche Ausgabe nur noch wenig Ähnlichkeit mit den frühen<br />

Versionen des Buches, auch weil sie neu aufgenommene Materialien<br />

und Abbildungen enthält. Dennoch hat es keinerlei Gründe gegeben,<br />

die fundamentale Botschaft zu ändern, die heute genauso wichtig ist<br />

wie vor 40 Jahren. Sie lautet: Sorgt gut für die Menschen und das<br />

kostbare <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> den <strong>Häusern</strong>.<br />

Derzeit erleben viele europäische Städte tiefgreifende Veränderungen,<br />

sie wachsen oder schrumpfen, werden umgebaut und modernisiert;<br />

und ich hoffe, dass die in diesem Buch vorgestellten humanistischen<br />

Planungsgrundsätze in deutschsprachigen Ländern als Inspirationsquelle<br />

für derartige Prozesse dienen werden.<br />

Kopenhagen, im Februar 2012<br />

Jan Gehl<br />

7


<strong>Leben</strong><br />

<strong>zwischen</strong><br />

<strong>Häusern</strong><br />

Drei Arten von Aktivitäten im Freien 9<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> 15<br />

Aktivitäten im Freien und Qualität<br />

von Außenräumen 31<br />

Aktivitäten im Freien und<br />

Architekturentwicklungen 39<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> –<br />

in aktuellen sozialen Situationen 49<br />

8 <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong>


Drei Arten von Aktivitäten im Freien<br />

Ein StraSSenbild<br />

Eine gewöhnliche Straße an einem gewöhnlichen Tag: Fußgänger<br />

bevölkern die Gehsteige, Kinder spielen vor den Haustüren, Leute<br />

sitzen auf Bänken und Stufen, der Briefträger macht seine Runde,<br />

zwei Passanten grüßen sich im Vorbeigehen, zwei Mechaniker reparieren<br />

ein Auto, Gruppen sind ins Gespräch vertieft – eine Vielzahl<br />

von Aktivitäten im Freien. Viele Faktoren wirken sich auf diese Aktivitäten<br />

aus. Einer davon ist die physische Umgebung. Sie beeinflusst<br />

die Aktivitäten im Freien in unterschiedlichem Maß und auf verschiedene<br />

Weise. Und mit diesen Wechselwirkungen und Zusammenhängen<br />

beschäftigt sich das vorliegende Buch.<br />

Drei Arten von<br />

Aktivitäten im Freien<br />

Stark vereinfacht gesagt: Aktivitäten im öffentlichen Raum können in<br />

drei Kategorien eingeteilt werden: notwendige Aktivitäten, freiwillige<br />

Aktivitäten und soziale Aktivitäten. Jede von ihnen stellt andere Anforderungen<br />

an die physische Umgebung.<br />

Notwendige Aktivitäten –<br />

unter allen Umständen<br />

Notwendige Aktivitäten – das sind unter anderem jene Beschäftigungen,<br />

die mehr oder weniger unumgänglich sind, wie in die Schule<br />

oder zur Arbeit zu gehen, einzukaufen, auf den Bus oder eine Person<br />

zu warten, Besorgungen zu machen oder die Post auszutragen.<br />

Alltägliche Erledigungen und Freizeitbeschäftigungen gehören im<br />

Allgemeinen zu dieser Kategorie, bei der im Vergleich zu den anderen<br />

am meisten zu Fuß passiert.<br />

Weil die Aktivitäten dieser Kategorie notwendig sind, hängen sie<br />

nur wenig von den physischen Rahmenbedingungen ab. Sie finden<br />

das ganze Jahr über unter fast allen Bedingungen statt und sind im<br />

Großen und Ganzen unabhängig von der äußeren Umgebung. Die<br />

Beteiligten haben keine Wahl.<br />

Freiwillige Aktivitäten –<br />

nur unter günstigen<br />

äuSSeren Bedingungen<br />

Ganz anders verhält es sich mit den freiwilligen Aktivitäten, die nur<br />

ausgeübt werden, weil der Wunsch danach besteht und Zeit und Ort<br />

es zulassen – etwa ein Spaziergang, um frische Luft zu schnappen,<br />

der genießerische Müßiggang oder ein Sonnenbad.<br />

Drei Arten von Aktivitäten im Freien 9


Ein möglicher Anfang für vertiefte Kontakte<br />

16 <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong>


Kontakt auf niedriger Ebene<br />

<br />

<br />

<br />

die Möglichkeit der Aufrechterhaltung bereits bestehender<br />

Kontakte<br />

eine Informationsquelle über die soziale Welt außerhalb<br />

eine Quelle der Inspiration und ein Angebot anregender<br />

Erfahrungen<br />

Eine Form des Kontakts<br />

Welche Möglichkeiten sich aus flüchtigen Kontakten im öffentlichen<br />

Raum ergeben, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, was ihr Fehlen<br />

bedeuten würde:<br />

Ohne <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> den <strong>Häusern</strong> sind Kontakte vom unteren<br />

Ende der Kontaktskala nicht mehr möglich. Die verschiedenen Übergangsformen<br />

<strong>zwischen</strong> dem Alleinsein und dem Zusammensein<br />

verschwinden. Die Grenzen <strong>zwischen</strong> Isolation und Kontakt werden<br />

schärfer – Menschen sind entweder allein oder sie sind bewusst mit<br />

anderen Menschen zusammen, auf einem relativ anspruchsvollen<br />

und hohen Level.<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> bietet die Gelegenheit, auf entspannte<br />

und wenig anstrengende Art und Weise mit anderen zusammen zu<br />

sein. Seien es gelegentliche Spaziergänge, ein Bummel über eine<br />

Einkaufsstraße auf dem Nachhauseweg, eine kurze Pause auf einer<br />

einladenden Bank nahe einer Haustür – in jedem Fall ist man für kurze<br />

Zeit unter Leuten. Man könnte auch täglich einkaufen gehen, obwohl<br />

einmal pro Woche praktischer wäre. Schon allein ab und zu aus<br />

dem Fenster zu sehen kann lohnend sein, vorausgesetzt, man hat<br />

das Glück einer interessanten Aussicht. In Gesellschaft anderer zu<br />

sein, sie zu sehen und zu hören, von anderen Impulse zu empfangen<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> 17


Aktivitäten und bevorzugte Sitzplätze<br />

unten: Auf der ganzen<br />

Welt sind Caféstühle auf<br />

das Straßenleben hin<br />

ausgerichtet. (Fotos von<br />

Karl Johan, Hauptstraße<br />

Oslo, Norwegen)<br />

26 <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong>


Aktivitäten und bevorzugte<br />

Sitzgewohnheiten<br />

Wenn man sich ansieht, wo im öffentlichen Raum sich die Menschen<br />

gern niederlassen, kann man ähnliche Tendenzen feststellen.<br />

Bänke, die einen guten Blick auf die Geschehnisse in der Umgebung<br />

bieten, sind beliebter als Plätze, von denen aus man nur wenig<br />

oder gar nichts von den Ereignissen rundherum mitbekommt.<br />

Eine Studie zum Kopenhagener Tivoli Park [36], die von dem Architekten<br />

John Lyle durchgeführt wurde, zeigt, dass die meistbenutzten<br />

Bänke im Park entlang des Hauptweges stehen, wo es einen<br />

guten Ausblick auf die Bereiche mit besonders reger Aktivität gibt,<br />

während die Bänke in den stillen Winkeln des Parks nur selten aufgesucht<br />

werden. An manchen Stellen des Parks stehen die Bänke<br />

Lehne an Lehne, sodass eine Bank zum Weg hin steht, während die<br />

andere dem Weg quasi „den Rücken zudreht“. In diesem Fall werden<br />

immer erstere vorgezogen.<br />

Ähnliche Resultate ergaben Untersuchungen zum Sitzverhalten auf<br />

mehreren Plätzen im Zentrum von Kopenhagen. Bänke, die einen<br />

Blick auf die besonders belebten Fußgängerbereiche bieten, werden<br />

eher genutzt als jene, die einen Ausblick auf die Grünfläche des Platzes<br />

bieten [15, 18, 27].<br />

Dasselbe gilt für Straßencafés, auch hier sind die Geschehnisse vor<br />

dem Café die Hauptattraktion. Nahezu überall auf der Welt werden<br />

die Stühle in Straßencafés zum lebhaftesten Bereich in der Umgebung<br />

gerichtet. Es ist nicht überraschend: Die Straße ist der Grund<br />

für Straßencafés.<br />

Bänke, die dem Treiben auf der<br />

Straße den Rücken zuweisen,<br />

werden gar nicht oder auf<br />

unübliche Weise genutzt.<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> 27


denen Interessen und Bedürfnisse einzelner Bewohner in diesen<br />

Gebieten.<br />

In jedem Fall gilt, dass der physische Rahmen mehr oder weniger<br />

Einfluss auf die soziale Situation ausüben kann. Er kann so gestaltet<br />

sein, dass die gewünschten Kontakte erschwert oder gar unmöglich<br />

gemacht werden. Architektur kann, im wahrsten Sinne des Wortes,<br />

beabsichtigten Aktivitäten im Weg stehen. Andererseits kann der<br />

physische Rahmen aber auch so geplant sein, dass ein breiteres<br />

Spektrum an verfügbaren Möglichkeiten gegeben ist, sodass soziale<br />

Prozesse und Bauprojekte sich gegenseitig unterstützen können. In<br />

diesem Kontext sollte die Gestaltung öffentlicher Räume und das<br />

Eingänge, Balkone, Veranden, Vorhöfe<br />

und Gärten, die zur Straße weisen,<br />

bieten den Bewohnern Gelegenheit,<br />

das öffentliche <strong>Leben</strong> zu verfolgen<br />

und sich während ihrer täglichen<br />

Verrichtungen zu begegnen – ein<br />

wichtiger Faktor für die Bildung<br />

sozialer Netzwerke. (Sibeliusparken,<br />

Kopenhagen, Dänemark, Architekten:<br />

Fællestegnestuen)<br />

54 Planungsvoraussetzungen


Die Aufgliederung in kleinere<br />

Einheiten ist in Skandinavien<br />

bei neuen Siedlungs- und Wohnungsbauprojekten<br />

mittlerweile<br />

weitverbreitet. Insbesondere<br />

eine Einheit von etwa 15 bis<br />

30 Haushalten erwies sich<br />

als geeignet, weil sie soziale<br />

Netzwerke fördert.<br />

rechts: Skaade, Dänemark,<br />

1985 (Architekten: C.F. Møllers<br />

Tegnestue)<br />

unten: Der Nachbarschaftsblock<br />

als Organisationseinheit<br />

<strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> gesehen werden. Möglichkeiten können<br />

behindert oder bewusst geschaffen werden.<br />

Die folgenden Beispiele zeigen detailliert praktische Versuche, die Interaktion<br />

<strong>zwischen</strong> sozialen Prozessen und Bauprojekten herzustellen.<br />

Einige Prinzipien und Definitionen werden ebenso vorgestellt.<br />

Soziale Struktur<br />

Die Notwendigkeit, Unterteilungen und Gruppen zu schaffen, um<br />

demokratische Prozesse zu ermöglichen, ist am Arbeitsplatz, in Vereinen,<br />

Schulen und Universitäten offensichtlich. In Hochschulen zum<br />

Beispiel besteht eine Hierarchie <strong>zwischen</strong> Fakultäten, Instituten,<br />

Fachbereichen und schlussendlich Gruppen von Studenten, die die<br />

kleinste Einheit darstellen. Die Struktur spiegelt Entscheidungsebenen<br />

wider und dient dem Einzelnen als Orientierung in sozialer und<br />

professioneller Hinsicht.<br />

Prozesse und Projekte 55


Sinne und Kommunikation<br />

Die räumlichen Verhältnisse können<br />

visuelle und akustische Kontakte auf<br />

mindestens fünf verschiedene Arten<br />

fördern oder verhindern.<br />

kontakthemmeND<br />

visuell und akustisch<br />

kontaktfördernd<br />

visuell und akustisch<br />

1. Wände keine Wände<br />

2. große Distanzen kleine Distanzen<br />

3. hohe Geschwindigkeit niedrige Geschwindigkeit<br />

4. verschiedene Ebenen eine Ebene<br />

5. Rücken an Rücken Auge in Auge<br />

62 Planungsvoraussetzungen


Sinne, Kommunikation<br />

und Dimensionen<br />

Die Sinne – eine wichtige<br />

Komponente bei der<br />

Planung<br />

Nach vorn und horizontal<br />

orientierte Sinnesorgane<br />

Die Kenntnis von den menschlichen Sinnen – ihrer Funktions- und<br />

Wirkungsbereiche – ist eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltung<br />

und Dimensionierung von Außenraum und Gebäudeanordnungen<br />

jeglicher Art.<br />

Das Sehen und Hören steht mit fast allen Aktivitäten im Freien intensiv<br />

in Beziehung, wodurch natürlich die visuellen und akustischen<br />

Kontakte und ihre Funktionsweisen einen zentralen Faktor bei der<br />

Planung bilden. Auch für das Verständnis aller anderen Formen unmittelbarer<br />

Kommunikation und der menschlichen Wahrnehmung<br />

von räumlichen Gegebenheiten und Dimensionen ist das Wissen<br />

von den Sinnen eine notwendige Voraussetzung.<br />

Die menschliche Bewegung ist von Natur aus vorwiegend auf die<br />

Horizontale sowie eine Geschwindigkeit von 5 km/h beschränkt –<br />

und die Sinnesorgane sind an diese Bedingungen angepasst. Sie<br />

haben im Wesentlichen eine frontale Ausrichtung, einer der bestentwickelten<br />

und besonders wichtigen Sinne, der Sehsinn, ist ausdrücklich<br />

horizontal ausgelegt. Das horizontale Gesichtsfeld ist beträchtlich<br />

größer als das vertikale. Wenn jemand geradeaus schaut, ist es<br />

möglich, das, was links und rechts in einem horizontalen Bereich von<br />

jeweils fast 90 Grad vor sich geht, flüchtig zu erkennen.<br />

Das nach unten gerichtete Sichtfeld ist viel enger als das horizontale<br />

und das nach oben blickende ist noch begrenzter. Letzteres ist<br />

reduziert, weil die Blickachse beim Gehen ungefähr 10 Grad nach<br />

unten geneigt ist, um besser zu sehen, wohin man sich bewegt.<br />

Eine Person, die eine Straße entlanggeht, sieht abgesehen vom<br />

Erdgeschoss, dem Bürgersteig und dem Geschehen auf der Straße<br />

selbst praktisch nichts. Ereignisse, die wahrgenommen werden<br />

sollen, müssen vor dem Betrachter und auf ungefähr der gleichen<br />

Höhe passieren – eine Tatsache, die sich zum Beispiel in der Gestaltung<br />

jedes Zuschauerraums widerspiegelt: in Theatern, Kinos und<br />

Hörsälen. Hier sind die Plätze in der Galerie deswegen billiger, weil<br />

die Ereignisse nicht „im richtigen Winkel“ gesehen werden können.<br />

Sinne, Kommunikation und Dimensionen 63


andere werfen, doch das <strong>Leben</strong> passiert zu Fuß. Nur wer zu Fuß unterwegs<br />

ist, kann sich Zeit nehmen, um Situationen wahrzunehmen<br />

oder daran teilzunehmen. Nur einem Fußgänger bieten sich Gelegenheiten<br />

zur Kontakt- und Informationsaufnahme.<br />

Physische Planung von<br />

Isolation und Kontakt<br />

Wenn man die Möglichkeiten und Beschränkungen im Zusammenhang<br />

mit den Sinnen zusammenfasst, wird deutlich, dass es für Architekten<br />

und Planer fünf verschiedene Mittel gibt, mit denen Isolation<br />

oder Kontakt gefördert und verhindert werden können.<br />

Isolation<br />

Kontakt<br />

Wände<br />

groSSe Distanzen<br />

hohe Geschwindigkeiten<br />

mehrere Ebenen<br />

Orientierung voneinander weg<br />

Keine Wände<br />

KLeine Distanzen<br />

Geringe Geschwindigkeiten<br />

eine Ebene<br />

Orientierung zueinander hin<br />

Indem man mit diesen fünf Prinzipien einzeln oder kombiniert arbeitet,<br />

können die entsprechenden physischen Voraussetzungen für<br />

Isolation beziehungsweise Kontakt geschaffen werden.<br />

Das <strong>Leben</strong> findet zu Fuß statt.<br />

(Fußgängerstraße, Kopenhagen,<br />

Dänemark)<br />

72 Planungsvoraussetzungen


Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> –<br />

ein Prozess<br />

Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong><br />

<strong>Häusern</strong> – ein sich selbst<br />

verstärkender Prozess<br />

Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> ist potenziell ein sich selbst verstärkender<br />

Prozess. Wenn jemand eine Aktion startet, so besteht die<br />

hohe Wahrscheinlichkeit, dass andere sich anschließen, sei es als<br />

selbst Handelnde oder als Beobachter. Auf diese Weise beeinflussen<br />

und stimulieren sich Individuen und Ereignisse gegenseitig. Hat<br />

dieser Prozess einmal begonnen, dann ist die Gesamtaktivität meist<br />

größer und komplexer als die Summe der ursprünglich involvierten<br />

Teilaktivitäten.<br />

Zu Hause verlagern und bewegen sich die Ereignisse und die Familienmitglieder<br />

von Raum zu Raum, je nachdem, wo sich das Zentrum<br />

der Aktivität gerade befindet. Wird in der Küche gearbeitet, dann<br />

spielen die Kinder auf dem Küchenboden usw. Auch auf Spielplätzen<br />

lässt sich dieses Phänomen beobachten. Beginnen einige Kinder zu<br />

spielen, so werden auch andere Kinder animiert, rauszukommen und<br />

sich am Spiel zu beteiligen. Die anfangs kleine Gruppe kann schnell<br />

wachsen. Ein Prozess hat begonnen. Im öffentlichen Raum können<br />

ähnliche Muster beobachtet werden. Wenn viele Menschen anwesend<br />

sind oder etwas vor sich geht, kommen für gewöhnlich weitere<br />

hinzu. Die Aktivitäten steigen sowohl im Umfang als auch in der<br />

Dauer.<br />

Eins plus eins ist drei –<br />

mindestens<br />

Der niederländische Architekt F. van Klingeren, der ganz bewusst<br />

mit der Konzentration und Kombination verschiedener Aktivitäten in<br />

den Stadtzentren von Dronten und Eindhoven in Holland gearbeitet<br />

hat [11], beobachtete, wie das gesamte Aktivitätsniveau in diesen<br />

Städten aufgrund eines solchen sich selbst verstärkenden Prozesses<br />

zugenommen hat. Van Klingeren hat diese Erkenntnis über Aktivität<br />

in der Stadt in der Formel „eins plus eins ist drei – mindestens“ zusammengefasst.<br />

Der positive Prozess:<br />

etwas passiert, weil<br />

etwas passiert<br />

Ein sehr einleuchtendes Beispiel für dieses Prinzip liefert eine Studie<br />

über Spielmuster von Kindern in Gegenden mit Einfamilienhäusern<br />

und Reihenhäusern in Dänemark [28]. In den Reihenhausgegenden<br />

Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> – ein Prozess 73


Lange Aufenthalte im Freien bedeuten lebendige Städte<br />

78 Planungsvoraussetzungen


Werden in Wohngebieten die Möglichkeiten für Aktivitäten im Freien<br />

so angehoben, dass die durchschnittliche im Freien verbrachte Zeit<br />

von zehn auf 20 Minuten ansteigt, verdoppelt sich das Aktivitätsniveau.<br />

Verglichen mit der Zeit, die für den Transport aufgewendet<br />

wird, ist die Dauer der Aufenthalte in diesem Zusammenhang ein viel<br />

wichtigerer Faktor. Während der Wechsel von Auto- auf Fußgängerverkehr<br />

die durchschnittliche Dauer jedes Ausflugs um etwa zwei<br />

Minuten verlängert, hat eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer im<br />

Freien von zehn auf 20 Minuten einen fünfmal so großen Effekt.<br />

Längere Aufenthalte im Freien machen Wohngebiete und städtische<br />

Räume lebendig – mehr noch als langsamer Verkehr. Dieser Zusammenhang,<br />

dass die Dauer genauso wichtig ist wie die Anzahl der<br />

Ereignisse, ist eine wichtige Erklärung dafür, warum in vielen neuen<br />

Wohnprojekten so wenig Aktivität herrscht. In Gegenden mit mehrstöckigen<br />

Wohnblöcken leben eigentlich sehr viele Menschen, aber<br />

die vielen Bewohner kommen und gehen, es gibt nur dürftige Möglichkeiten,<br />

eine längere Zeit im Freien zu verbringen. Ebenso existieren<br />

keine richtigen Orte, an denen man sein kann, es gibt nichts<br />

zu tun. Daher werden die Aufenthalte im Freien kurz und das Aktivitätsniveau<br />

ist vergleichsweise niedrig. Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten<br />

können mit wesentlich weniger Einwohnern oft viel stärkere<br />

Aktivitäten rund um die Häuser verzeichnen, weil die Zeit, die pro<br />

Einwohner im Freien verbracht wird, im Allgemeinen viel größer ist.<br />

Der dargelegte Zusammenhang <strong>zwischen</strong> dem <strong>Leben</strong> auf der Straße,<br />

der Anzahl von Leuten und Ereignissen sowie der Zeit, die im<br />

Freien verbracht wird, ist einer der wichtigsten Schlüssel zur Verbesserung<br />

der <strong>Leben</strong>sbedingungen <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> in bereits bestehenden<br />

und in neuen Wohngebieten – nämlich durch verbesserte<br />

Bedingungen für Aufenthalte im Freien.<br />

Im Sommer ist die Straße wesentlich<br />

lebendiger, weil fast jeder mehr Zeit<br />

draußen verbringt. Die Menschen<br />

stehen und sitzen und das Gehtempo<br />

ist 20 Prozent langsamer als im<br />

Winter. Sogar mit derselben Passantenzahl<br />

pro Tag sind im Sommer<br />

fünf- bis zehnmal mehr Menschen auf<br />

der Straße – je länger der Aufenthalt,<br />

desto belebter die Stadt.<br />

Das <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Häusern</strong> – ein Prozess 79


Versammeln oder zerstreuen – entlang der Fassade<br />

links: Sind Gebäude schmal, müssen<br />

kürzere Fußwege zurückgelegt werden<br />

und es gibt mehr <strong>Leben</strong> auf den<br />

Straßen. (Wettbewerbsprojekt zur<br />

Erweiterung von Rørås, Norwegen)<br />

Schmale Straßenfassaden bedeuten<br />

kurze Distanzen <strong>zwischen</strong> den Eingängen<br />

– und gerade an den Eingängen<br />

spielt sich ja fast immer das meiste<br />

<strong>Leben</strong> ab.<br />

94 Versammeln oder zerstreuen


Errichtung von Banken und Büros auf Straßenniveau einschränkt. In<br />

anderen Städten Dänemarks hat es sich bewährt, derartige Einrichtungen<br />

in der Innenstadt nur zuzulassen, solange die zur Straße hin<br />

ausgerichtete Fassade unter fünf Meter Breite bleibt.<br />

Es überrascht nicht, dass diese Praxis auch in allen vorstädtischen<br />

Einkaufsstraßen angewandt wird. Gestalter berücksichtigen, dass<br />

Fußgänger normalerweise nicht gerne weit gehen. Deshalb wird<br />

Raum für so viele Geschäfte wie möglich in kurzer Distanz geschaffen.<br />

Durch schmale, tiefe Bauparzellen und durch die effiziente Platznutzung<br />

an der Straßenfront wird das Problem von „Löchern“ und<br />

„übrig gebliebenen Flächen“ vermieden. Dies gilt ebenso für Wohngebiete.<br />

Gute Beispiele dafür findet man in vielen traditionellen Reihenhaussiedlungen<br />

und in vielen neueren Bauprojekten, wie der<br />

Siedlung Halen in Bern und in den Wohngebieten Java, Borneo und<br />

Sporenburg im Hafen von Amsterdam.<br />

Versammeln auf einer<br />

Ebene oder zerstreuen auf<br />

mehreren Ebenen<br />

Die bereits genannten Möglichkeiten der Versammlung oder Zerstreuung<br />

können auf einer oder mehreren Ebenen existieren. Das<br />

Problem ist sehr simpel. Aktivitäten, die auf derselben Ebene stattfinden,<br />

können innerhalb der Grenzen der Sinne erlebt werden. Das<br />

meint einen Radius von 20 bis 100 Metern – abhängig davon, was<br />

zu sehen ist. In dieser Situation ist es leicht, sich <strong>zwischen</strong> den Aktivitäten<br />

zu bewegen. Wenn etwas auf einer Ebene passiert, die nur<br />

ein wenig höher ist, werden die Möglichkeiten der Wahrnehmung<br />

In Stadtstraßen sollte die Länge der<br />

Fassaden sorgfältig geplant werden.<br />

Weltweit sind Einkaufsstraßen in<br />

einem Rhythmus von 15 bis 25 Einheiten<br />

pro 100 Meter gegliedert.<br />

(Straßen in der Altstadt von Stockholm,<br />

Schweden)<br />

Versammeln oder zerstreuen 95


Vier Prinzipien der Verkehrsplanung<br />

Los Angeles:<br />

Verkehrsintegration nach den Regeln<br />

des Schnellverkehrs. Ein gerade und<br />

einfach angelegtes Verkehrssystem<br />

mit geringer Verkehrssicherheit.<br />

Die Straßen sind ausschließlich für<br />

Autoverkehr geeignet.<br />

Radburn:<br />

Verkehrstrennung, wie sie 1928 in<br />

Radburn, New Jersey, eingeführt<br />

wurde: ein kompliziertes, teures<br />

System, das aus vielen Parallelstraßen<br />

und -wegen sowie vielen<br />

teuren Unterführungen besteht. In<br />

Wohnbezirken durchgeführte Umfragen<br />

zeigen, dass dieses Prinzip, das<br />

theoretisch die Verkehrssicherheit<br />

zu erhöhen scheint, in der Praxis<br />

schlecht funktioniert: Fußgänger<br />

bevorzugen kürzere gegenüber<br />

längeren, sichereren Wegen.<br />

Delft:<br />

Verkehrsintegration nach den<br />

Regeln des langsamen Verkehrs:<br />

Dieses 1969 eingeführte System ist<br />

einfach, überschaubar und sicher<br />

und erhält die Straße als wichtigsten<br />

öffentlichen Raum. Wenn Autos bis<br />

zu einem Haus vorfahren müssen,<br />

ist dieses System den zwei oben<br />

genannten weitaus überlegen.<br />

Venedig:<br />

Die Fußgängerstadt: Übergang vom<br />

schnellen zum langsamen Verkehr am<br />

Stadtrand. Ein überschaubares und<br />

einfaches Verkehrssystem mit einem<br />

beträchtlich höheren Sicherheitsgrad<br />

und -gefühl als bei den anderen<br />

Systemen.<br />

110 Versammeln oder zerstreuen


Jahren in neuen europäischen Wohngebieten immer gängiger geworden.<br />

Dies ist eine positive Entwicklung, die es ermöglicht, den<br />

örtlichen Verkehr wieder mit anderen Aktivitäten im Freien zu integrieren.<br />

Integration des<br />

örtlichen Verkehrs<br />

nach den Regeln des<br />

FuSSgängerverkehrs<br />

Integration von Verkehr<br />

und Aufenthalten im Freien<br />

Auch der Versuch, den örtlichen Kfz-Verkehr nach den Regeln des Fußgängerverkehrs<br />

zu integrieren, ist eine positive Entwicklung. Dieses<br />

Prinzip wurde erstmals in Holland eingeführt, wo lokale Bereiche für<br />

langsamen Verkehr gestaltet oder erneuert wurden. In diesen sogenannten<br />

Woonerf-Gebieten dürfen Autos bis zu den Hauseingängen<br />

vorfahren, aber die Straßen sind ganz klar als Fußgängerzonen gestaltet,<br />

in denen Autos <strong>zwischen</strong> den festgelegten Aufenthaltsbereichen<br />

und Spielplätzen nur mit niedriger Geschwindigkeit fahren dürfen. Autos<br />

sind „Gäste“ im Fußgängerbereich.<br />

Konzepte zur Integration von Kfz-Verkehr nach den Regeln des Fußgängerverkehrs<br />

bieten beträchtliche Vorteile gegenüber Maßnahmen<br />

zur Verkehrstrennung. Zwar ermöglichen gänzlich autofreie<br />

Zonen sowohl einen höheren Verkehrssicherheitsgrad als auch eine<br />

bessere Gestaltung und Bemessung für Aufenthalte im Freien und<br />

Fußgängerverkehr und somit eine optimale Lösung, aber das holländische<br />

Konzept der Verkehrsintegration bietet doch in vielen Fällen<br />

eine sehr akzeptable Alternative – die zweitbeste Lösung.<br />

Unabhängig davon, ob Wohngebiete nach dem venezianischen Prinzip<br />

gebaut sind, mit einem Umstieg vom schnellen zum langsamen<br />

Verkehr am Stadtrand, oder nach dem holländischen Woonerf-Prinzip,<br />

mit multifunktionalen Straßen für den langsamen Kfz- sowie Fahrrad-<br />

und Fußgängerverkehr: Wichtig ist die Integration von Verkehr<br />

und Aktivitäten im Freien. Besteht der Verkehr aus Fußgängern oder<br />

langsam fahrenden Autos, verlieren die Argumente für eine Trennung<br />

von Aufenthaltsbereichen, Spielplätzen und Verkehrsflächen<br />

ihre Gültigkeit. Die Tatsache, dass der Verkehr zu und von <strong>Häusern</strong><br />

in Wohngebieten fast immer die umfangreichste aller Aktivitäten im<br />

Freien darstellt, ist ein guter Grund, den Verkehr mit so vielen Aktivitäten<br />

wie möglich zu verbinden. Von einer Politik des integrierten<br />

Verkehrs werden alle profitieren – ob sie unterwegs oder mit alltäglichen<br />

häuslichen Erledigungen beschäftigt sind, ob Autofahrer oder<br />

spielende Kinder.<br />

Viele Aktivitäten, wie spielen, sich im Freien aufhalten und miteinander<br />

plaudern, beginnen, wenn man eigentlich mit einer anderen<br />

Tätigkeit beschäftigt ist oder auf dem Weg von einem Ort zum anderen<br />

ist.<br />

Integrieren oder ausgrenzen 111


132 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen


Gehen<br />

Gehen<br />

Platz zum Gehen<br />

Gehen ist in erster Linie eine Art der Fortbewegung, eine Möglichkeit<br />

herumzukommen, aber auch eine ungezwungene und unkomplizierte<br />

Möglichkeit, im öffentlichen Raum anwesend zu sein. Man<br />

geht, um Besorgungen zu machen, um die Umgebung zu sehen<br />

oder einfach ohne Grund. Alle drei Motive können zusammenfallen<br />

oder einzeln vorliegen. Das Gehen ist oft eine notwendige Handlung,<br />

manchmal aber auch schlicht eine Entschuldigung für Anwesenheit –<br />

„kurz bei jemandem vorbeigehen“.<br />

Alle Arten von Fußverkehr stellen bestimmte physisch und physiologisch<br />

bedingte Anforderungen an die Umgebung.<br />

Gehen erfordert Platz. Es ist wichtig, einigermaßen frei gehen zu<br />

können, ohne gestört oder gestoßen zu werden und ohne allzu viel<br />

ausweichen zu müssen. Das Problem hierbei ist, den richtigen Toleranzbereich<br />

zu finden, sodass Räume klein genug sind und genügend<br />

Anreize bieten, gleichzeitig jedoch genügend Bewegungsfreiheit<br />

vorhanden ist. Toleranz und Raumanforderungen sind von<br />

Person zu Person, innerhalb von Gruppen und von Situation zu Situation<br />

verschieden. Diese Beziehung wird durch Beobachtung des<br />

traditionellen abendlichen Spaziergangs auf dem Platz in Ioannina,<br />

einer Stadt in Nordgriechenland, veranschaulicht. Am Spätnachmittag<br />

ist die Anzahl der Beteiligten noch gering; vor allem Eltern mit<br />

Kindern und ältere Menschen bewegen sich auf dem Platz auf und<br />

ab. Allmählich wird es dunkel und immer mehr Menschen kommen<br />

heraus, dafür verschwinden zuerst die Kinder und dann die älteren<br />

Menschen. Später, wenn die Menge anwächst, ziehen sich vor allem<br />

Erwachsene mittleren Alters aus dem regen Treiben zurück.<br />

Am Abend bummeln eigentlich nur noch die jungen Bewohner der<br />

Stadt auf dem Platz.<br />

Gehen 133


sekundäre Sitzgelegenheiten<br />

160 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen


Sitzlandschaften<br />

Treppen, Fassadendetails und<br />

alle Arten von Stadtmöbeln<br />

sollten in der Regel ein breites<br />

Spektrum an zusätzlichen,<br />

sekundären Sitzgelegenheiten<br />

bieten.<br />

rechts: Sitzlandschaften an der<br />

Oper in Sydney, Australien, und<br />

auf dem Pioneer Courthouse<br />

Square, Portland, USA<br />

Eine Gestaltung des Raumes, bei der eine relativ beschränkte Anzahl<br />

primärer mit einer großen Anzahl sekundärer Sitzgelegenheiten kombiniert<br />

wird, hat zudem den Vorteil, dass der Raum auch in Zeiten<br />

mit geringer Benutzerzahl ziemlich gut zu funktionieren scheint. Umgekehrt<br />

können viele leere Bänke und Stühle, wie sie während der<br />

Nebensaison in Straßencafés und Ferienhotels zu finden sind, leicht<br />

den deprimierenden Eindruck vermitteln, dass der Platz abgelehnt<br />

und verlassen wurde.<br />

Sitzlandschaften –<br />

Städtische MehrzwecKeinrichtungen<br />

Eine besondere Art von sekundären Sitzgelegenheiten stellen Sitzlandschaften<br />

dar – Mehrzweckelemente in städtischen Räumen,<br />

wie große Treppenaufgänge, Monumente oder Brunnen mit einem<br />

breiten Stufensockel sowie andere große Raumelemente, die dafür<br />

entworfen wurden, gleichzeitig mehrere Zwecke zu erfüllen. Die Ge-<br />

Sitzen 161


Sehen<br />

Alle, egal wie alt, sollten sehen<br />

können, was passiert. Fenster in<br />

Kinderhöhe in einem Kindergarten und<br />

ein Fenster für junge Passagiere auf<br />

einer Fähre<br />

Sehen ist eine Frage von guter Aussicht<br />

und ungehinderten Sichtlinien. Platz vor<br />

der Kathedrale, Straßburg, Frankreich<br />

164 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen


Madrid, Spanien<br />

oft Fußgängerzonen, die zwei oder drei Stufen höher liegen als die<br />

Zonen des Kraftfahrzeugverkehrs.<br />

Auf der Piazza del Campo in Siena kommt dieses Prinzip besonders<br />

ausgefeilt zum Tragen. Der ganze Platz ist wie eine Tribüne gebaut –<br />

eine konkave Muschel mit Plätzen zum Stehen und Sitzen am oberen<br />

Rand und entlang der Fassaden. Diese Gestaltung bietet optimale<br />

Gelegenheiten zum Stehen und Sitzen in den Randzonen, neben<br />

Pollern und in Straßencafés. Sie sind gut definiert, der Rücken der<br />

Menschen ist geschützt und man hat einen wunderbaren Blick über<br />

die gesamte städtische Arena.<br />

Sehen – eine Frage des<br />

Lichts<br />

Hören<br />

Möglichkeiten zum Sehen sind auch eine Frage von angemessenem<br />

Licht auf die zu sehenden Objekte. Da öffentliche Räume ja auch<br />

im Dunkeln funktionieren sollen, kommt der Beleuchtung eine wesentliche<br />

Rolle zu, besonders der von Mitmenschen und Gesichtern.<br />

Um ein allgemeines Gefühl von Behagen und Sicherheit zu gewährleisten<br />

und es möglich zu machen, Menschen und Geschehnisse zu<br />

sehen, ist es wünschenswert, dass die Beleuchtung von Fußgängerzonen<br />

immer ausreichend und gut ausgerichtet ist. Bessere Beleuchtung<br />

bedeutet hier nicht zwangsläufig helleres Licht, sondern eine<br />

angemessene Helligkeit, die auf die vertikalen Oberflächen gerichtet<br />

oder reflektiert wird: Gesichter, Mauern, Straßenschilder, Briefkästen<br />

usw. – im Gegensatz zur Beleuchtung von Straßen. Bessere Beleuchtung<br />

bedeutet auch warmes und freundliches Licht.<br />

Jedes Mal, wenn eine Straße mit Autoverkehr in eine Fußgängerzone<br />

umgewandelt wird, bedeutet das auch, dass wir unsere Mitmen-<br />

Sehen, hören und sprechen 165


Aufenthaltsmöglichkeiten direkt an den <strong>Häusern</strong> – oder bloSSes kommen und gehen<br />

Zwei parallele Straßen in Kopenhagen<br />

oben: Klar begrenzte Straße, hier<br />

ist nur kurzes Kommen und Gehen<br />

möglich.<br />

Mitte und unten: Weiche Übergänge:<br />

An einem gewöhnlichen Tag finden<br />

hier dreimal mehr Aktivitäten als auf<br />

der oberen Straße statt. [19]<br />

186 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen


Fließender, lebendiger Austausch<br />

<strong>zwischen</strong> öffentlichen und privaten<br />

Räumen (Sporenburg Eiland, Amsterdam,<br />

Holland)<br />

Die Verbindung von innen<br />

und auSSen – funktionell<br />

und psychologisch<br />

Geeignete Rastplätze direkt<br />

vor der Haustür<br />

Sitzbänke vor der Tür<br />

Viele Details bei der Gestaltung des Wohn- und Außenbereichs sowie<br />

des Eingangs selbst können für die Nutzung des Raums im Freien<br />

von Bedeutung sein. Es reicht nicht aus, dass Wohnhäuser niedrig<br />

sind. Der Plan eines Wohnbereichs muss so gestaltet sein, dass die<br />

Aktivitäten im Haus frei nach außen fließen können. Das kann zum<br />

Beispiel durch Türen von der Küche, dem Ess- oder Wohnzimmer<br />

direkt in den Außenbereich auf die öffentlich zugängliche Seite des<br />

Hauses gefördert werden. Dementsprechend müssen auch die Außenräume<br />

arrangiert werden – unmittelbar neben den Wohnräumen.<br />

Der Eingang selbst sollte so gestaltet sein, dass man so einfach wie<br />

möglich hindurchgelangen kann – funktionell und psychologisch.<br />

Mittelgänge, zusätzliche Türen und vor allem Höhenunterschiede<br />

<strong>zwischen</strong> Innen- und Außenraum sollten vermieden werden. Sie<br />

sollten sich vielmehr auf einer Ebene befinden. Nur dann können Ereignisse<br />

mühelos nach innen und außen fließen.<br />

Einer der Gründe, warum in vielen Wohngegenden vor <strong>Häusern</strong> relativ<br />

schwache Aktivitäten zu verzeichnen sind, liegt zweifellos darin,<br />

dass geeignete Orte für Aufenthalte im Freien gerade dort fehlen,<br />

wo sie am natürlichsten wären – am Eingang oder an anderen Orten,<br />

wo man mühelos eintreten und wieder gehen kann.<br />

Die Bank neben der Eingangstür, geschützt vor Regen und Wind,<br />

mit einer guten Sicht auf die Straße ist eine bescheidene, aber naheliegende<br />

Möglichkeit, das <strong>Leben</strong> vor der Tür in Schwung zu bringen.<br />

Sanfte Übergänge 187


Sanfte Übergänge – in jeder UmGebung<br />

196 Räume zum Gehen – Plätze zum Verweilen


In vielen Fällen lassen sich die Bedingungen für Aufenthalte im<br />

Freien auch vor und neben Hochhäusern verbessern, obwohl die<br />

schwierigen Übergänge <strong>zwischen</strong> dem Inneren und Äußeren die<br />

tatsächliche Inanspruchnahme der neuen Möglichkeiten einigermaßen<br />

einschränken. So können zum Beispiel halbprivate Vorgärten mit<br />

Sitz- und Spielgelegenheiten sowie Blumenbeeten an der Eingangstür<br />

eines jeden Treppenaufgangs für die jeweiligen Anwohner angelegt<br />

werden.<br />

In vielen Orten sind solche Verbesserungen an relativ neuen mehrstöckigen<br />

Wohngebäuden durchgeführt worden, wie unter anderem<br />

an den Hochhausprojekten Krocksbäck und Rosengård, die in den<br />

1960er Jahren in Malmö, Schweden, errichtet und ab den späten<br />

70ern ausgiebig verbessert wurden.<br />

In diesen und vergleichbaren Projekten bemühte man sich, die<br />

Wohngebäude unterschiedlich zu gestalten, sodass große unübersichtliche<br />

Bereiche klar in kleinere Einheiten unterteilt werden können.<br />

Diese Gliederung wird durch die Gestaltung von drei oder vier<br />

verschiedenen Kategorien öffentlicher Räume verstärkt, die klar definiert<br />

entweder zum gesamten Bauprojekt, zu einzelnen <strong>Häusern</strong>,<br />

zu den individuellen Treppenaufgängen oder zu den Wohnungen im<br />

Erdgeschoss gehören.<br />

Sanfte Übergänge –<br />

in jeder Umgebung<br />

Die Gestaltungsprinzipien, die in Wohngebieten stationäre Tätigkeiten<br />

im Freien fördern, gelten auch im Kontext anderer Gebäudetypen<br />

und städtischer Funktionen. Überall, wo sich Menschen von einer<br />

städtischen Funktion zur nächsten bewegen oder wo die Funktionen<br />

innerhalb eines Gebäudes von den Aufenthaltsmöglichkeiten<br />

im Freien profitieren können, muss eine gute Verbindung <strong>zwischen</strong><br />

Innen- und Außenraum, kombiniert mit geeigneten Ruheplätzen vor<br />

den Gebäuden, selbstverständlich sein.<br />

Eine derartige Ausweitung der Möglichkeiten für Aufenthalte im Freien<br />

– und zwar genau dort, wo die täglichen Aktivitäten stattfinden –<br />

wird fast ausnahmslos einen wertvollen Beitrag zu einer gegebenen<br />

Funktion und zum <strong>Leben</strong> <strong>zwischen</strong> den <strong>Häusern</strong> in einem Bauprojekt,<br />

in einem Stadtteil und in der Stadt darstellen.<br />

Sanfte Übergänge 197

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