Daylight & Architecture | Architektur-Magazin von VELUX, Ausgabe ...
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DAYLIGHT &<br />
ARCHITECTURE<br />
ARCHITEKTUR-<br />
MAGAZIN<br />
VON <strong>VELUX</strong>
FOTOGRAFIE VON JOSEF HOFLEHNER.<br />
<strong>VELUX</strong><br />
EDITORIAL<br />
DAS TAGES-<br />
LICHT UND<br />
DIE SPEZIFIK<br />
DES ORTES<br />
Nach altem römischen Glauben besitzt jedes Lebewesen – ob Mensch oder Tier –<br />
einen „Genius“ oder Schutzgeist, der es am Leben hält. Der „Genius loci“ ist der Geist<br />
eines Ortes, die Summe seines sichtbaren und unsichtbaren Wesens. Schon im Altertum<br />
ließen sich Architekten in ihrem Streben nach Harmonie vom Geist eines<br />
Ortes inspirieren, und bis heute ist der Genius loci für die <strong>Architektur</strong> <strong>von</strong> großer<br />
Bedeutung: Er bestimmt die Form eines Gebäudes, die Auswahl des Materials, dessen<br />
Verträglichkeit mit den natürlichen Gegebenheiten und klimatischen Bedingungen<br />
sowie den Umgang mit Tageslicht und Belüftung.<br />
Wie aber beeinflusst die natürliche Lichtsituation an einem bestimmten Ort<br />
das Leben der dort ansässigen Menschen, und wie wirken sich diese lokalen Tageslichtverhältnisse<br />
auf die jeweilige <strong>Architektur</strong> aus? Gehört doch das Tageslicht<br />
zu den ureigenen Merkmalen, die einen Ort charakterisieren. Landschaften<br />
lassen sich einebnen und Grünflächen zubetonieren, Baumaterialien sind heute<br />
nahezu grenzenlos verfügbar, und historische Ereignisse geraten in Vergessenheit.<br />
Doch das Tageslicht lässt sich weder exportieren noch standardisieren; die<br />
skandinavische Mittsommernacht oder die Mittagssonne in den Anden, die alle<br />
Schatten verschwinden lässt, bleiben stets an ihren Ort gebunden.<br />
Wir baten fünf Architekten, die an Universitäten lehren und beim International<br />
<strong>VELUX</strong> Award 2008 als Tutoren für teilnehmende Studenten fungierten, sich für<br />
uns auf die Suche nach dem charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu begeben<br />
– in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo und Charleston. Sie analysierten die<br />
spezifischen Eigenschaften des Tageslichts, die an dem jeweiligen Ort zu beobachten<br />
sind, und gingen der Frage nach, wie traditionelle Baumeister und moderne Architekten<br />
das vorhandene natürliche Licht für ihre Bauten nutzten.<br />
Aus den Blickwinkeln des <strong>Architektur</strong>theoretikers und des Physikers betrachten<br />
Gerhard Auer und Nick Baker unser Thema in ihren Beiträgen. Im Mittelpunkt<br />
<strong>von</strong> Gerhard Auers Überlegungen steht jener Ort, der jedem Menschen wohl am<br />
vertrautesten ist – die eigene Wohnung. Nick Baker dagegen beginnt seine Argumentation<br />
zunächst ganz ohne Gebäude: Unsere Gene sind die eines Lebewesens<br />
aus der freien Natur, und daher sollten uns Gebäude auch so wenig wie möglich<br />
<strong>von</strong> dieser trennen. Beide Autoren weisen darauf hin, wie wichtig Ausblicke ins<br />
Freie für das Wohlbefinden des Menschen sind. Dies wiederum unterstreicht, dass<br />
<strong>Architektur</strong> bei allen Diskussionen über Klimadaten und Energieverbräuche doch<br />
nach wie vor zuallererst der sinnlichen Wahrnehmung eines Ortes und der direkten<br />
Interaktion zwischen Mensch und Umwelt dienen sollte.<br />
Mit dem Sanatorium Zonnestraal und der Van-Nelle-Fabrik begegnen uns<br />
zwei interessante Beispiele für die Wechselbeziehung zwischen <strong>Architektur</strong>, Lokalität,<br />
Tageslicht und Innenklima – großzügig geschnittene und schöne Räume<br />
vermitteln hier gerade durch den Einfluss des Tageslichts den Bewohnern die Einzigartigkeit<br />
des Ortes. Ein Interview mit dem Architekten Wessel de Jonge, der<br />
die beiden Gebäude restaurierte, komplettiert diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />
Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam wird im Mai 2009 Schauplatz des<br />
3. <strong>VELUX</strong> <strong>Daylight</strong> Symposiums sein, an dem u. a. Nick Baker und Wessel de Jonge<br />
mit Vorträgen teilnehmen werden.<br />
Viel Vergnügen bei der Lektüre!<br />
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FRÜHLING 2009<br />
AUSGABE 11<br />
INHALT<br />
<strong>VELUX</strong> Editorial<br />
Inhalt<br />
Jetzt<br />
Mensch und <strong>Architektur</strong><br />
Licht und Orte<br />
Tageslicht<br />
Lichter der Welt<br />
Licht<br />
Reflektionen<br />
Genius Lucis<br />
Tageslicht im Detail<br />
Innenlicht und Außenwelt<br />
<strong>VELUX</strong> Einblicke<br />
Diskreter Nachbar<br />
<strong>VELUX</strong> im Dialog<br />
„Dieses Gebäude stimmt mich optimistisch”<br />
<strong>VELUX</strong> Panorama<br />
Bücher<br />
Rezensionen<br />
Vorschau<br />
MENSCH<br />
UND ARCHITEKTUR<br />
LICHT UND ORTE<br />
2<br />
8<br />
Licht ist … anders. Immer wieder. Jeder Ort, jede<br />
Tages- und Jahreszeit bringt eine eigene Lichtstimmung<br />
hervor – das ist wohl die wichtigste Lehre,<br />
die Architekten aus Jahrtausenden der Beschäftigung<br />
mit Tageslicht gezogen haben. Wie sie dabei<br />
vorgingen und welche Antworten sie auf die feinen<br />
Lichtunterschiede fanden, beschreibt Marietta<br />
Millet in ihrem Beitrag.<br />
JETZT<br />
Neue Projekte rund um das Thema Tageslicht:<br />
I. M. Pei hat einen kristallinen Baukörper unter der<br />
Wüstensonne Abu Dhabis errichtet, Jean Nouvel<br />
eine „Grotte in Weiß“ in den Docklands <strong>von</strong> Le Havre<br />
gebaut. Die neue Festungsmauer <strong>von</strong> Granada<br />
gleicht einem Lichtfilter, während die ‚GreenPix’-<br />
Medienfassade in Peking mithilfe der Energie des<br />
Tageslichts Videokunst ins Straßenbild bringt.<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
4 <strong>VELUX</strong> EINBLICKE<br />
DISKRETER NACHBAR<br />
56<br />
Groß, düster und fensterlos wirkt das Wohnhaus<br />
<strong>von</strong> Alan Jones in Randalstown <strong>von</strong> der Straße aus.<br />
Seine schwarze Faserzementhülle erinnert an die<br />
traditionellen Schieferfassaden Nordirlands, seine<br />
Größe und Form an die Kirchen und Versammlungshäuser<br />
der Nachbarschaft. Das Gebäudeinnere jedoch<br />
überrascht durch Offenheit, Ausblicke und ein<br />
Entwurfskonzept, das Raum für Tageslicht lässt.<br />
FOTOGRAFIE VON JOSEF HOFLEHNER. NIAGARA FALLS, STUDY 4 – ONTARIO, CANADA
FOTOGRAFIE VON BEATRICE MINDA, MASSY-PALAISEAU, 2005<br />
REFLEKTIONEN<br />
GENIUS LUCIS<br />
42<br />
Mit welchem Licht wollen wir wohnen? „Das<br />
kommt darauf an“, möchte man antworten. Doch<br />
jenseits aller individuellen und kulturellen Unterschiede<br />
gibt es weltweite, zeitlose Konstanten<br />
bei der Gestaltung <strong>von</strong> Wohn-Licht. Gerhard<br />
Auer hat sich auf die Suche nach ihnen gemacht.<br />
TAGESLICHT<br />
LICHTER DER WELT<br />
14<br />
Wir baten fünf Architekten, die an Hochschulen und<br />
Universitäten lehren und beim International <strong>VELUX</strong><br />
Award 2008 als Tutoren für teilnehmende Studenten<br />
fungierten, sich für uns auf die Suche nach dem<br />
charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu<br />
begeben – in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo<br />
und Charleston. Sie analysierten die spezifischen<br />
Eigenschaften des Tageslichts, die an dem jeweiligen<br />
Ort zu beobachten sind, und gingen der Frage<br />
nach, wie traditionelle Baumeister und moderne<br />
Architekten das vorhandene natürliche Licht für<br />
ihre Bauten nutzten.<br />
<strong>VELUX</strong> IM DIALOG<br />
„DIESES GEBÄUDE STIMMT<br />
MICH OPTIMISTISCH”<br />
64<br />
Niemand kennt die Bauten der niederländischen<br />
Moderne besser als Wessel de Jonge. Der niederländische<br />
Architekt hat in den vergangenen Jahren<br />
unter anderem Bauten <strong>von</strong> Jan Duiker, Gerrit<br />
Rietveld und Brinkman & Van der Vlugt restauriert.<br />
In <strong>Daylight</strong>&<strong>Architecture</strong> berichtet er über<br />
Tageslicht und Komfort in der klassisch-modernen<br />
<strong>Architektur</strong> und über die Herausforderung, zeitgemäße<br />
Nutzungen für die Gebäude der 20er-Jahre<br />
zu finden.<br />
<strong>VELUX</strong> PANORAMA<br />
FENSTER ZUM GARTEN<br />
72<br />
Die Architekten frundgallina haben sich eines Bürgerhauses<br />
in der Schweizer Kleinstadt Le Landeron<br />
angenommen. Sie schufen eine lichte, offene Wohnlandschaft<br />
in Weiß und dunklem Holz, deren Geometrie<br />
sich <strong>von</strong> den Außenmauern des Hauses löst.<br />
Da diese überdies nur wenige Öffnungen besaßen,<br />
lenken nun zwei Reihen Dachwohnfenster das Tageslicht<br />
tief in das Dachgeschoss.<br />
3
JETZT<br />
FOTO: COURTESY OF THE MUSEUM OF ISLAMIC ART<br />
Was die <strong>Architektur</strong> bewegt: Projekte,<br />
Veranstaltungen und ausgewählte Neuentwicklungen<br />
aus der Welt des Tageslichts.
„Architektonischer Edelstein“<br />
in I. M. Peis Neubau Museum<br />
für Islamische Kunst in Doha.<br />
Tageslicht tritt durch einen<br />
kleinen Okulus <strong>von</strong> oben in das<br />
Gebäude ein und wird <strong>von</strong> einer<br />
facettierten Kuppel aus Edelstahl<br />
reflektiert.
EDELSTEIN IN DER<br />
WÜSTENSONNE<br />
Die Kunst der Edelsteinschleiferei besteht<br />
darin, einen Rohling durch Bearbeitung<br />
seiner Oberflächen in ein<br />
funkelndes Kunstwerk zu verwandeln.<br />
Je komplexer die dabei verwendete<br />
Geometrie, je zahlreicher die<br />
Facetten des Steins, desto eindrucksvoller<br />
das Endergebnis. Auch I. M.<br />
Peis Neubau des Museums für Islamische<br />
Kunst in Doha ist ein solcher, architektonischer<br />
Edelstein, obwohl er<br />
mit undurchsichtigem französischem<br />
Kalkstein verkleidet ist. Seine scharfkantige,<br />
regelmäßige und komplexe<br />
Form ist wie geschaffen dazu, in der<br />
gleißenden arabischen Wüstensonne<br />
Geometrien aus Licht und Schatten<br />
zu erzeugen. Im Inneren des fast 50<br />
Meter hohen Atriums setzt sich das<br />
Spiel fort: Tageslicht tritt durch einen<br />
vergleichsweise kleinen Okulus oben<br />
im Gebäude ein und wird <strong>von</strong> einer facettierten<br />
Kuppel aus Edelstahl reflektiert.<br />
Das Museum ist in vielerlei<br />
Hinsicht ein ‚typischer’ Pei – monumental,<br />
monolithisch und bis auf eine<br />
fast gebäudehohe Öffnung auf der<br />
Nordseite fensterlos. Dennoch mühte<br />
sich der 1917 geborene <strong>Architektur</strong>veteran,<br />
sein Formenvokabular an<br />
die Traditionen der islamischen Welt<br />
anzupassen: „Es schien mir, dass ich<br />
die Essenz der islamischen Architek-<br />
tur finden müsste. Die Schwierigkeit<br />
dabei war, dass die islamische Kultur<br />
so vielgestaltig ist.“ Wichtige Inspirationsquellen<br />
waren für ihn die Festungsbauten<br />
Nordafrikas und ein Brunnen<br />
im Innenhof der Ibn-Tulun-Moschee<br />
in Kairo. Wie bei dem Brunnen sollte<br />
auch in I. M. Peis Museum die pure,<br />
ornamentlose Form für sich stehen.<br />
Während der Außenbau diesen Anspruch<br />
einlöst, wurde das Atrium mit<br />
seinen Beton-Kassettendecken und<br />
vielfarbigen Steinfußböden deutlich<br />
stärker an den Geschmack der Auftraggeber<br />
angepasst. Das Gebäude<br />
steht auf einer eigens aufgeschütteten<br />
Insel 60 Meter vor der Küste am<br />
Südende der Bucht <strong>von</strong> Doha. Lediglich<br />
eine 45 Meter hohe Curtain-Wall<br />
aus Glas an der Nordseite des Atriums<br />
stellt die visuelle Verbindung<br />
zwischen dem Museumsinneren und<br />
der Skyline Dohas her. In die auf fünf<br />
Geschossen rings um das Atrium verteilten<br />
Ausstellungsräume dringt dagegen<br />
kein Lichtstrahl vor: Sie wurden<br />
nach Entwürfen des französischen Architekten<br />
Jean-Michel Wilmotte mit<br />
Porphyr, brasilianischem Edelholz und<br />
Edelstahlgewebe ausgekleidet und<br />
werden genau mit der Menge elektrischen<br />
Lichts beleuchtet, die den<br />
Kunstwerken zuträglich ist.<br />
GROTTE IN WEISS<br />
Le Havre, die zweitgrößte Hafenstadt<br />
Frankreichs, wächst wie viele<br />
Seehäfen stetig dem Meer entgegen:<br />
Draußen an der Seine-Mündung entstehen<br />
gegenwärtig neue Kaianlagen<br />
für Supertanker und Containerschiffe.<br />
Die weiter stadteinwärts gelegenen<br />
Docks dagegen stehen großenteils<br />
leer und warten auf neue Nutzungen.<br />
Wie zum Beispiel die ‚Bains des Docks‘<br />
<strong>von</strong> Jean Nouvel: Äußerlich fügt sich<br />
der massige Block aus schwarzglänzend<br />
lasierten Betonfertigteilen mit<br />
seinen maßstabslosen Aluminiumfenstern<br />
ebenso nahtlos ins Hafengebiet<br />
ein, wie er später in ein hier noch<br />
zu schaffendes Büro- oder Gewerbegebiet<br />
passen würde. Innen jedoch<br />
weicht die Geschlossenheit einer faszinierenden<br />
und bisweilen irritierenden<br />
Vielfalt der Räume und Korridore,<br />
Becken, Sitz- und Liegeflächen. Das<br />
einzig ordnende Element ist – neben<br />
der kubischen Gesamtform des Bauwerks<br />
– das große 50-Meter-Becken,<br />
das zwar im Inneren des Gebäudes,<br />
aber unter freiem Himmel liegt. Die<br />
weiß gestrichenen Fassaden ringsum<br />
deuten mit ihren Nischen und unregelmäßig<br />
verteilten Fenstern bereits<br />
an, welche Idee Nouvel bei seinem<br />
Entwurf leitete: die einer kleinteilig<br />
gegliederten Großskulptur, in deren<br />
6 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
FOTOO: COURTESY OF THE MUSEUM OF ISLAMIC ART<br />
Ecken und Winkeln der Besucher auch<br />
ausreichend Rückzugsräume findet.<br />
Während viele seiner Kollegen den<br />
rechten Winkel und die nackte weiße<br />
Wand derzeit am liebsten abschaffen<br />
möchten, rehabilitiert der französische<br />
Pritzker-Preisträger beide<br />
mit Nachdruck. Eines seiner Vorbilder<br />
war Eduardo Chillidas Skulpturenzyklus<br />
‚Elogio de la luz‘. Wie der<br />
baskische Bildhauer lässt Nouvel das<br />
Tageslicht durch tiefe Einschnitte in<br />
der Gebäudehülle in die Innenräume<br />
fallen. Dort wird es <strong>von</strong> weißen Mosaikfliesen,<br />
mit denen Böden, Becken<br />
und Sitzgelegenheiten verkleidet<br />
sind, reflektiert und in alle Richtungen<br />
gestreut. Neben dem Sportbecken<br />
umfassen die ‚Bains des Docks‘<br />
ein Spaßbecken mit Innen- und Außenbereich,<br />
zwei Kinderbecken und<br />
einen Bereich für die Balneotherapie.<br />
Die Gestaltung der ineinander<br />
geschachtelten Beckenlandschaft<br />
orientiert sich nicht zuletzt an natürlichen<br />
Vorbildern wie den Sinterterrassen<br />
<strong>von</strong> Pamukkale in der Türkei.<br />
Wie dort bilden auch in Jean Nouvels<br />
Bad das strahlende Weiß der Raumoberflächen<br />
und das Türkis des Wassers<br />
die zurückhaltende Farbpalette,<br />
vor der sich das bunte Treiben der Badenden<br />
abspielt.<br />
FOTO: CLEMENT GUILLAUME
KULTURFERNSEHEN<br />
MIT SOLARENERGIE<br />
Noch immer genießen Medienfassaden<br />
unter Architekten keinen besonders<br />
guten Ruf. Denn sie gelten als<br />
unarchitektonischer Eingriff in das ureigene<br />
Metier der <strong>Architektur</strong>; Motto:<br />
„Wir unterbrechen das Stadtbild für<br />
eine Werbepause.“ Außerdem verbrauchen<br />
sie eine nicht unbeträchtliche<br />
Menge Elektrizität und tragen zur<br />
viel beklagten Lichtverschmutzung<br />
am Nachthimmel bei. Bei GreenPix,<br />
die 2200 Quadratmeter große Medienfassade<br />
des Xicui Entertainment<br />
Complex in Peking, liegen die Dinge<br />
etwas anders. Zwar schmückt auch<br />
dieses Kunstwerk einen an sich unscheinbaren<br />
Gebäudekomplex nahe<br />
des olympischen Basketball- und des<br />
Baseballstadions, doch das Bildprogramm,<br />
das darauf abgespielt wird,<br />
umfasst vor allem Videoinstallationen<br />
junger Künstler. Koordiniert wird<br />
es <strong>von</strong> einem vielköpfigen Team um<br />
die Kuratorin und Produzentin Luisa<br />
Gui. Noch wesentlicher ist bei diesem<br />
Projekt jedoch der energetische<br />
Aspekt: Die gesamte Fassade<br />
operiert unabhängig vom Stromnetz.<br />
Sie wird durch in das Glas einlaminierte<br />
Solarzellen gespeist, deren<br />
Elektrizität tagsüber in Batterien<br />
zwischengespeichert und nachts<br />
zur Versorgung der 2292 farbverän-<br />
derlichen LED-Lichtpunkte verwendet<br />
wird. Die Photovoltaikelemente<br />
sind nicht gleichmäßig über die Fassade<br />
verteilt, sondern in einem unregelmäßigen<br />
Muster angeordnet, das<br />
ein wenig an einen Wolkenhimmel<br />
erinnert. „Mit der Medienfassade<br />
erhält die Stadt Peking ihren ersten<br />
Ausstellungsort für digitale Medienkunst<br />
und zugleich das bisher radikalste<br />
Beispiel für gebäudeintegrierte<br />
Photovoltaik“, sagt der New Yorker<br />
Architekt Simone Giostra, der die<br />
Fassade gemeinsam mit den Ingenieuren<br />
<strong>von</strong> Arup konzipiert hat. Der gebürtige<br />
Italiener sammelte während<br />
12 Jahren als Projektarchitekt in den<br />
Büros <strong>von</strong> Richard Meier, Steven Holl,<br />
Raimund Abraham und Rafael Viñoly<br />
Erfahrungen in der Konstruktion <strong>von</strong><br />
Glasfassaden, bevor er sich auf die<br />
Integration neuer Medien in die <strong>Architektur</strong><br />
spezialisierte. Um der Medienfassade,<br />
die rund zwei Meter vor<br />
der eigentlichen Außenwand des Gebäudes<br />
installiert wurde, auch bei Tag<br />
Struktur und Tiefe zu verleihen, sind<br />
einige der quadratischen, punktgehaltenen<br />
Glasscheiben um bis zu fünf<br />
Grad aus der Fassadenebene geneigt,<br />
was auf den ersten Blick den Anschein<br />
erweckt, als handele es sich um zahlreiche<br />
leicht geöffnete Fenster.<br />
FOTO: SIMONE GIOSTRA/ARUP/ROGU<br />
PORÖSE FESTUNGSMAUER<br />
Mit der Alhambra und dem Generalife<br />
zählt Granada zwei der wichtigsten<br />
maurischen Bauwerke in Spanien zu<br />
seinen Sehenswürdigkeiten. Die Wurzeln<br />
der Stadt liegen indessen woanders:<br />
Schon die Iberer und Römer<br />
errichteten auf dem der Alhambra<br />
gegenüberliegenden Cerro de San<br />
Miguel eine Festung. Heute ist dieser<br />
Ort in Anlehnung an seinen späteren<br />
maurischen Namen als ‚Alto Albaicín‘<br />
bekannt. Unter der Herrschaft der<br />
Nasriden wurde das Viertel ab Mitte<br />
des 14. Jahrhunderts mit einer Mauer<br />
umgeben. Heute trennt diese das<br />
einstige Maurenviertel <strong>von</strong> den innenstadtnahen<br />
Vororten Granadas.<br />
Doch das nähere Umfeld war lange<br />
Zeit alles andere als einladend: Schon<br />
im 19. Jahrhundert wurde die Mauer<br />
teilweise durch ein Erdbeben zerstört;<br />
auf den Grundstücken ringsum<br />
sammelte sich der Schutt der Jahrhunderte<br />
an. Der Wiederaufbau der<br />
Mauer durch Antonio Jimenez Torrecillas<br />
ist Teil einer groß angelegten<br />
Instandsetzung des gesamten Gebiets.<br />
112 Tonnen Granit ließen die<br />
Architekten aufschichten, bis ihre<br />
Konstruktion in Breite und Höhe der<br />
alten Mauer entsprach. Aus der Ferne<br />
wirkt sie nun tatsächlich wie deren<br />
Fortsetzung; im Detail wird jedoch<br />
ihre Eigenständigkeit sichtbar: Sie<br />
steht nicht unmittelbar in der Flucht<br />
der Nasridenmauer, sondern daneben<br />
auf einem eigenen Fundament und<br />
kann daher (theoretisch) wieder abgerissen<br />
werden, ohne das Baudenkmal<br />
zu beschädigen. Ihre äußerst flachen<br />
Steinschichten werden <strong>von</strong> lediglich<br />
einen Millimeter breiten Mörtelfugen<br />
zusammengehalten, was dem<br />
Ganzen das Aussehen eines Trockenmauerwerks<br />
verleiht. Außerdem ist<br />
die Mauer innen hohl: Zwischen den<br />
beiden Mauerschalen verläuft ein<br />
gedeckter Gang, in dem im Sommer<br />
eine angenehme Kühle herrscht. Spür-<br />
und sichtbar ist die Außenwelt dennoch<br />
auch <strong>von</strong> hier: Die Granitplatten<br />
sind ‚auf Abstand‘ vermauert, sodass<br />
die Zwischenräume ein lebhaftes<br />
Licht- und Schattenspiel im Innenraum<br />
entstehen lassen. Im Gegenzug<br />
erhaschen die Passanten durch<br />
die Mauerzwischenräume immer<br />
wieder kleine, punktuelle Ausblicke<br />
auf die Stadt. Die Architekten selbst<br />
sagen über ihre Intervention: „Wir<br />
wollen unserer Mauer den Eindruck<br />
<strong>von</strong> zusammengetragenem, aufgeschichtetem<br />
Material verleihen und<br />
so den dauerhaften, historischen Charakter<br />
des alten Baudenkmals noch<br />
stärker betonen.“<br />
7<br />
FOTO: VICENTE DEL AMO
MENSCH<br />
UND ARCHITEKTUR<br />
LICHT UND ORTE<br />
Der Mensch als Mittelpunkt der <strong>Architektur</strong>:<br />
Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.
Von Marietta Millet<br />
Fotografie <strong>von</strong> Josef Hoflehner<br />
Wohl nur das Medium Tageslicht kann uns sowohl<br />
Raum- als auch Zeitgefühl vermitteln. Seit Generationen<br />
versuchen Maler und Fotografen, das besondere Licht<br />
unterschiedlicher Orte einzufangen. Auch Architekten<br />
tun dies mit guten Gründen: Die Anpassung eines Gebäudes<br />
an spezifische Lichtverhältnisse bereichert nicht nur<br />
unsere Sinne, sondern kann auch zu beträchtlicher<br />
Energieeinsparung führen.<br />
Wir alle kennen Licht und Dunkelheit. Die Erfahrung eines<br />
Raums und die räumliche Wahrnehmung beruhen auf den Phänomenen<br />
Licht und Schatten, ihren Rhythmen und Mustern.<br />
Es ist nur schwer vorstellbar, ohne Blick auf den Himmel aufzuwachsen,<br />
ob er nun sonnig, dunstig oder schneeverhangen ist –<br />
oder alles zugleich. Das Tageslicht spielt eine entscheidende Rolle<br />
für den Charakter eines Ortes: Schon dessen bloße Nennung –<br />
die Sahara, Miami Beach, der Schwarzwald oder die Schweizer<br />
Alpen – ruft im Geiste die Vorstellung bestimmter Lichtverhältnisse<br />
hervor. Heute vermittelt uns die Bilderflut aus dem Internet<br />
einen Eindruck <strong>von</strong> fast jedem Ort der Erde. Doch bloße Bilder<br />
enthüllen nicht das vollständige Spektrum des Tageslichts an<br />
einem Ort, ein Spektrum, zu dem die Rhythmen <strong>von</strong> Licht und<br />
Dunkelheit ebenso gehören wie die physikalischen Eigenschaften<br />
und Merkmale der Objekte, auf die das Licht fällt. Ein Bild<br />
allein kann nie all die Veränderungen einfangen, die das Licht<br />
an einem bestimmten Ort einzigartig machen und die zum Beispiel<br />
Monet in seinen Gemäldeserien ‚Heuschober‘ oder ‚Wasserlilien<br />
in Giverny‘ festgehalten hat. Der einzigartige Geist eines<br />
Ortes lässt sich nur aus erster Hand erfahren.<br />
Zeit, Ort und Licht:<br />
Ein Verhältnis in konstantem Wandel<br />
Auch wenn wir in Schweden und in Südfrankreich (sowie an vielen<br />
anderen Orten dieser Welt) denselben klaren blauen Himmel<br />
sehen, nehmen wir ihn zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten<br />
wahr. An jedem Ort zeigt sich eine besondere Abfolge der Himmelsverhältnisse<br />
im Laufe eines Tages oder einer Jahreszeit. Neben<br />
solchen regionalen Mustern existieren spezifische Merkmale an<br />
bestimmten Orten einer Region. An jedem beliebigen Sonnentag<br />
erleben Talbewohner weniger Sonnenstunden als Bergbewohner.<br />
Und neben den physikalischen Formen – Berge oder Täler,<br />
Wälder oder Felder – trägt die Qualität des Tageslichts entscheidend<br />
zum Charakter eines bestimmten Ortes bei.<br />
Einige Orte sind bekannt für schnelle und dramatische Wetterwechsel<br />
und den raschen Wandel <strong>von</strong> Qualität und Quantität<br />
des Tageslichts: „Wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, warten<br />
Sie eine Minute!“ Andere Orte zeichnen sich durch sehr subtile<br />
Änderungen <strong>von</strong> Temperatur und Licht aus, das die Farbe <strong>von</strong><br />
Laubblättern und Himmel sacht verändert und die Entdeckung<br />
der Langsamkeit erahnen lässt.<br />
Links: Geheimnisvolles Licht, das<br />
den Ort umschmeichelt und seinen<br />
Geist zum Vorschein bringt. „Water<br />
Walk“, Japan.<br />
Die tiefen Wintersonnenstände in Finnland sind nicht nur ursächlich<br />
für die wenigen Stunden Tageslicht, sondern erzeugen auch<br />
ein eigentümlich gelbes Licht als Vorbote des nahenden Sonnenuntergangs.<br />
Die niedrige Sonne verursacht lange Schatten <strong>von</strong><br />
Menschen und Gebäuden. Im Sommer dagegen wird es fast nie<br />
dunkel, und dieser starke Kontrast zwischen Sommer und Winter<br />
prägt das Leben der Menschen. Die wertvollen Lichtstunden<br />
im Sommer führen zur Verkürzung der Arbeitszeiten, die Mittsommernachtsfeiern<br />
sind legendär.<br />
In den Tropen hingegen, wo die Sonne fast senkrecht steht,<br />
ist in der Monotonie der Tage hochgeschätzter Schatten nur selten<br />
zu finden. Die hohe Luftfeuchtigkeit erzeugt einen diffusen<br />
Lichtdunst und verschleiert den eigentlich blauen Himmel. In<br />
den letzten Jahrzehnten haben wir diese natürlichen Gegebenheiten<br />
durch künstliche Schadstoffe so verstärkt, dass über vielen<br />
Großstädten eine Smogglocke hängt. Der Smog verändert<br />
Farbe und Natur des Tageslichts, trübt den Fernblick und verringert<br />
den Tageslichteinfall in den Gebäuden.<br />
,Tageslichtkulturen’ und Tageslichtarchitektur<br />
Licht kann eine visuelle Botschaft übermitteln und die unangenehmen<br />
Seiten des Klimas abschwächen. In vielen nördlichen<br />
Gegenden werden Schmuckformen in der <strong>Architektur</strong><br />
gerne mit Goldfarbe gestrichen, als Kontrast zu der ansonsten<br />
trüben Szenerie dunkler Himmel und Oberflächen. In warmen<br />
und trockenen Klimaten hingegen ist das <strong>von</strong> senkrechten<br />
Flachflächen reflektierte Sonnenlicht oftmals zu intensiv<br />
und wird als störend empfunden. Strukturierte Ornamente<br />
erzeugen hier ein Muster aus Licht und Schatten, sie erfreuen<br />
das Auge und reduzieren die Blendwirkung.<br />
Die Lichtsensitivität eines Ortes beeinflusst uns sowohl im<br />
psychologischen als auch physiologischen Sinne. Ausgangspunkt<br />
jeder Landschafts- oder Gebäudeplanung ist normalerweise<br />
die harmonische Einfügung des Entwurfs in seine<br />
Umgebung. Komfort und Behaglichkeit für die zukünftigen<br />
Bewohner unterliegen unserer eigenen Wahrnehmung des<br />
Ortes mit seiner Kultur und Sinnlichkeit.<br />
Unsere Reaktion auf den Genius loci impliziert eine Reaktion<br />
auf die Kultur, die rund um Klima und Licht entstand.<br />
Diese Reaktionen auf das Licht wurden <strong>von</strong> zahlreichen Schriftstellern<br />
geschildert. In seinem Essay Lob des Schattens aus dem<br />
9
Jahr 1934 beschreibt Junichiro Tanizaki die traditionelle japanische<br />
Reaktion auf Licht: 1<br />
„Und so hängt die Schönheit eines japanischen<br />
Zimmers zwangsläufig <strong>von</strong> variierenden Schatten ab,<br />
schwere Schatten gegen leichte Schatten – etwas anderes<br />
gibt es nicht. Die Menschen aus dem Westen sind<br />
verblüfft <strong>von</strong> der Schlichtheit japanischer Zimmer, die<br />
für sie aus aschfahlen und schmucklosen Wänden bestehen.<br />
Ihre Reaktion ist nachvollziehbar, zeugt aber <strong>von</strong><br />
mangelndem Verständnis für das Mysterium der Schatten.<br />
Draußen vor dem Wohnraum, in den die Sonnenstrahlen<br />
allenfalls spärlich einfallen, vergrößern wir die<br />
Traufen oder bauen eine Veranda und distanzieren uns<br />
so noch weiter <strong>von</strong> der Sonne. Das Licht aus dem Garten<br />
stiehlt sich trübe durch papierverkleidete Türen ins<br />
Innere, und genau dieses indirekte Licht macht für uns<br />
den Charme eines Zimmers aus.“<br />
Tanizaki verdeutlicht, dass Entwurf und Konstruktion eines<br />
Hauses sowie die verwendeten Materialien diese spezielle<br />
Lichtqualität schaffen. Bedingt durch das Klima müssen die<br />
papierverkleideten Türen durch breite Veranden vor heftigem<br />
Monsunregen geschützt werden. Spezielle Reaktionen<br />
und Rituale wärmen die Bewohner im Winter, zum Beispiel<br />
die wärmespendende Feuergrube und das gemeinsame heiße<br />
Bad.<br />
Der kanadische Architekt Arthur Erickson hat die Qualität<br />
des Lichts im pazifischen Nordwesten und dessen Auswirkungen<br />
auf seine Entwürfe eloquent beschrieben. „Die Westküste<br />
ist ein besonders schwieriges Gebiet mit ihrem wässrigen Licht<br />
und dessen sanfter und subtiler Stimmung.“ 2 Er bezeichnet<br />
dies als Nordlicht, das „fern und über den Wolken versteckt<br />
ist“. 3 In seinen Entwürfen, so stellt er fest, bemühe er sich stets<br />
um „Transparenz im Haus oder Dachfenster, die die Wände in<br />
ein sanftes, beschauliches Licht tauchen, oder Wasserreflexionen,<br />
um die Helligkeit des Himmels auf die dunklen Erdoberflächen<br />
zu transportieren”. 4 Wasserreflexionen legen uns den Himmel<br />
zu Füßen. Im British-Columbia-Regierungskomplex (1973–<br />
1979) in Vancouver sind Wasserbecken in das Gebäude integriert.<br />
Das Wasser reflektiert das Sonnenlicht und seine Leuchtkraft<br />
12 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
auf die Menschen im Gebäude. Der Wolkenhimmel wird<br />
lebendig und belebt die Erfahrung des Ortes innen und außen.<br />
Licht und Wärme: Das Fenster als Schnittstelle<br />
Tageslicht spielt auch eine praktische Rolle für das thermische<br />
Verhalten <strong>von</strong> Gebäuden. Sonnenlicht, aber auch das Licht<br />
eines wolkenverhangenen Himmels, transportiert Wärme, und<br />
Glas, welches das Licht hindurchlässt, lässt auch Wärme herein<br />
oder hinaus.<br />
Jedes Fenster birgt daher ein Problem, das Le Corbusier in<br />
einer kurzen Schrift mit dem Titel ‚Die Probleme des Sonnenscheins‘<br />
zusammengefasst hat: „Die Geschichte des Fensters ist<br />
auch diejenige der <strong>Architektur</strong>, … zumindest eines der prägnantesten<br />
Aspekte der <strong>Architektur</strong>geschichte.” 5<br />
Heute weicht das Fenster immer mehr der gläsernen Vorhangfassade.<br />
Bei Vollverglasung wird das gesamte Gebäude zum<br />
Fenster. Und auch wenn neue Materialien und Fortschritte in der<br />
Gebäudetechnik vollverglaste Gebäude auch in rauen Klimaten<br />
möglich gemacht haben, reagieren die besten Gebäude doch stets<br />
einfühlsam auf ihren Standort und dessen Lichtverhältnisse. Oft<br />
wird innerhalb eines Gebäudes in jedem Raum eine andere Lichtqualität<br />
benötigt, bei der sich visueller Komfort und thermische<br />
Aspekte die Waage halten müssen.<br />
Licht zu entwerfen, bedeutet daher, ein Gleichgewicht herzustellen.<br />
Dieser heikle Prozess erfordert verschiedene Arten <strong>von</strong><br />
Beschattung, spezielle Materialien, bestimmte Verglasungen –<br />
oder alles zugleich. Zudem muss alles mit dem Gebäudeentwurf<br />
harmonieren – oder, besser noch, sich aus diesem ergeben. Ist das<br />
Tageslicht im Gebäudeentwurf kein entscheidender Faktor, wird<br />
es auch niemals für die Erfahrung eines Gebäudes <strong>von</strong> Belang<br />
oder Bedeutung sein.<br />
Eine Entwurfsfrage, keine Technikfrage<br />
Technologie ist hier nicht mit Stil zu verwechseln. Auch Gebäude,<br />
die mit Hilfe moderner Konstruktionstechniken und Materialien<br />
errichtet wurden, lassen sich gut an die Umgebung und<br />
ihren Genius loci anpassen, wie das ‚Paul Klee Zentrum’ (Renzo<br />
Piano Workshop, 2005) in Bern in der Schweiz. Piano thematisierte<br />
dies bereits in seinem ersten Bewerbungsschreiben um<br />
den Auftrag: „… Ich spüre, dass der Geist dieses Ortes, dieser<br />
Landschaft im sanften Gefälle des Hügels liegt … Eine Archi-
Vorherige Seite Mystische<br />
Szenerie, die Weite und Einsamkeit<br />
suggeriert: „Biwako Sticks“,<br />
Japan.<br />
Links Licht, das die Magie des<br />
Ortes einfängt. „Li River Study<br />
4“, aufgenommen in China <strong>von</strong><br />
Josef Hoflehner.<br />
tektur des Bodens bildet die Grundlage, auf der wir eine <strong>Architektur</strong><br />
aus Stein und klarem Licht bauen können.“ 6<br />
Die Dreiteilung des Gebäudes nimmt die Form der umliegenden<br />
Hügel harmonisch auf und passt sich gleichzeitig der<br />
vielbefahrenen Schnellstraße auf der Vorderseite an. Das gleichmäßig<br />
ins Gebäude strömende Tageslicht wird dort abhängig<br />
<strong>von</strong> der Empfindlichkeit der einzelnen Kunstwerke reguliert<br />
und gedämpft. 7 Das Licht dient nicht nur dem Sehen, sondern<br />
soll auch Stimmungen erzeugen: Geschäftigkeit in den<br />
öffentlichen Bereichen, Ruhe hingegen im „Museum des Zwielichts“,<br />
in dem die Besucher in eine Welt fern des Alltags versetzt<br />
werden.<br />
Ein gänzlich anderes Konzept verfolgte Piano bei der Erweiterung<br />
der Morgan Library in New York City (2006) – eine<br />
interne Piazza inmitten der Stadt. Die schlichten Glasfassaden<br />
sorgen für Transparenz und fügen die komplexe Anlage der<br />
Bibliothek zu einem Großen, Ganzen. Die eindringenden Sonnenstrahlen,<br />
wenngleich abgeschwächt durch die umliegenden<br />
Einzelbauten, erwecken den Innenhof zum Leben und schaffen<br />
eine Verbindung zwischen innen und außen.<br />
In Australien hat Glenn Murcutt Wohnhäuser entworfen,<br />
die ein tiefes Verständnis für die konkreten Gegebenheiten des<br />
Ortes ebenso widerspiegeln wie für dessen geistige Atmosphäre.<br />
Ein geneigtes Dach, das seinen Schatten auf eine horizontale<br />
Plattform wirft, ist bei Murcutt Grundelement des Hausbaus.<br />
Dazwischen werden leichte Trennwände eingefügt, die die<br />
Innenräume <strong>von</strong>einander und vom Außenraum abgrenzen.<br />
Einige seiner isoliert stehenden Häuser sind vollständig selbstversorgend.<br />
Da sie zudem vor Buschfeuern geschützt werden<br />
müssen, verhindert ihre Dachform die Ansammlung leicht entzündlichen<br />
Laubs. Auf diese Weise reagieren die Häuser nicht<br />
nur auf die lebenserhaltenden, sondern auch die bedrohlichen<br />
Aspekte des Genius loci.<br />
Energie und Genius loci<br />
Innovative Methoden wie die, die das Wesen eines Ortes sowohl<br />
praktisch als auch empirisch aufgreifen, sind für die moderne<br />
<strong>Architektur</strong> zukunftsweisend. Wir müssen aus weniger mehr<br />
machen – dieses Prinzip stellt wohl niemand mehr in Frage.<br />
Auch in Zukunft brauchen wir Licht, um zu sehen, doch das<br />
Tageslicht ermöglicht uns, auch ohne künstliche Lichtquelle zu<br />
arbeiten oder zu spielen. Richard Taylor schrieb 2007: „Laut<br />
unserer Schätzung verbrauchen wir auf der Erde derzeit nahezu<br />
40 % mehr an elektrischer Energie für Beleuchtung, als nötig<br />
wäre, wenn wir Tageslichtnutzung und präsenzabhängige Lichtsteuerung<br />
durchgängig und nicht nur bei Prestigeobjekten ausschöpfen<br />
würden.“ 8 Hinzu kommt, dass uns das Tageslicht nicht<br />
nur erlaubt, zu lesen, Kunstgegenstände zu betrachten oder<br />
Maschinen zusammenzusetzen; vielmehr lässt uns die Sonne<br />
viele Erlebnisse angenehmer erfahren.<br />
Die Energiekosten eines Gebäudes lassen sich aber nur dann<br />
durch Nutzung des Tageslichts reduzieren, wenn die Bauweise<br />
des Hauses dem Klima und den örtlichen Gegebenheiten entspricht.<br />
Daher wird es immer wichtiger, dass der gesamte Gebäudeentwurf<br />
– angefangen <strong>von</strong> Standortmerkmalen bis hin zu<br />
Konstruktionsdetails und durchdachter Beschattung – perfekt<br />
auf die Umgebung und die herrschenden Lichtverhältnisse<br />
abgestimmt ist.<br />
Denn schließlich dient das Tageslicht nicht nur dem<br />
Sehen.<br />
Marietta Millet ist emeritierte Professorin an der Fakultät für <strong>Architektur</strong> der<br />
Washington University, wo sie insbesondere in den Bereichen Licht und Farbe,<br />
Tageslicht/Kunstlicht und Klimadesign lehrte. Sie war Teilhaberin des Büros<br />
Loveland/Millet Lighting Consultants und ist Autorin des Buchs „Light Revealing<br />
<strong>Architecture</strong>“, publiziert 1996 <strong>von</strong> Van Nostrand Reinhold.<br />
Fußnoten<br />
„… <strong>Architektur</strong> liefert nicht nur den physischen<br />
Rahmen für menschliche Tätigkeiten, sondern weist<br />
den Menschen ihren Platz in Natur und Gesellschaft<br />
zu.“ 9<br />
1. Tanizaki, Junichiro. 1977. In Praise of<br />
Shadows. (New Haven, Conn.: Leete’s<br />
Island Books), S. 18.<br />
2. Erickson, Arthur. 1975. The <strong>Architecture</strong><br />
of Arthur Erickson. (Montreal,<br />
Quebec: Tundra Books), S. 33.<br />
3. ebd.<br />
4. ebd.<br />
5. Boesiger, Willy (Hrsg.) 1946. Le Corbusier:<br />
Oeuvre Complète, 1938-1946.<br />
(Zürich: Les Editions d’<strong>Architecture</strong>),<br />
S. 103. Übersetzung der Autorin.<br />
6. www.paulkleezentrum.ch<br />
7. Erster Entwurf des Museumsplans,<br />
1999. www.paulkleezentrum.ch<br />
8. Taylor, Richard. 2007, “The End of<br />
an Era, or the Start of a New One?”<br />
3lux:letters, 3-2007.<br />
9. Harries, Karsten. 1984, “On Truth and<br />
Lie in <strong>Architecture</strong>,” Via 7, The Building<br />
of <strong>Architecture</strong>. (Cambridge,<br />
Mass.: The M.I.T. Press, S. 51)<br />
13
TAGESLICHT Ein Geschenk der Natur: Tageslicht und wie<br />
es in der <strong>Architektur</strong> genutzt wird.<br />
14 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
Gebautes wird erst durch seinen konkreten Ortsbezug zu<br />
<strong>Architektur</strong>, und Orte werden erst durch ihre Licht- und Klimaverhältnisse<br />
einzigartig. <strong>Architektur</strong> ist daher stets eine Antwort<br />
auf diese natürlichen Gegebenheiten. Gebäude an der<br />
Küste sehen anders aus als jene im Landesinneren, Häuser in<br />
den Flusstälern der Welt sind anders konstruiert als solche im<br />
Hochgebirge, und die Bauten des Nordens unterscheiden sich<br />
dramatisch <strong>von</strong> denen subtropischer Regionen.<br />
Die folgenden 24 Seiten zeigen die Ergebnisse einer Entdeckungsreise<br />
an fünf Orte auf dem Globus. Wir baten fünf<br />
Architekten, die an Hochschulen und Universitäten lehren und<br />
beim International <strong>VELUX</strong> Award 2008 als Tutoren für teilnehmende<br />
Studenten fungierten, sich für uns auf die Suche nach<br />
dem charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu begeben<br />
– in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo und Charleston.<br />
Sie analysierten die spezifischen Eigenschaften des Tageslichts,<br />
die an dem jeweiligen Ort zu beobachten sind, und gingen der<br />
Frage nach, wie traditionelle Baumeister und moderne Architekten<br />
das vorhandene natürliche Licht für ihre Bauten nutz-<br />
MIDDLETON PLACE, USA<br />
LISSABON, PORTUGAL<br />
ten. Die Beiträge zeigen, dass es tageslichtsensible <strong>Architektur</strong><br />
zu allen Zeiten gegeben hat und bis heute gibt. Sie zeigen aber<br />
auch, dass Tageslicht in der <strong>Architektur</strong> nie isoliert betrachtet<br />
werden kann. Immer steht es in enger Wechselwirkung mit<br />
dem Klima und der Topografie eines Orts, mit den Oberflächen<br />
<strong>von</strong> Natur und <strong>Architektur</strong>, ja selbst mit der Lokalgeschichte<br />
und den Alltagsgewohnheiten seiner Bewohner. Die Introvertiertheit<br />
chinesischer Wohnhäuser und die Offenheit der Bauten<br />
der amerikanischen Nachkriegsmoderne erzählen uns <strong>von</strong><br />
der Enge der Stadt und der Weite der Landschaft, <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />
sozialen Strukturen, aber auch <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />
Haltungen der Menschen gegenüber dem Tageslicht.<br />
Auch die azulejo-Fassaden Lissabons entstanden ursprünglich<br />
als Reaktion auf das regenreiche Klima Portugals. Seither<br />
jedoch haben sie Stadtbild und ‚Lichtatmosphäre’ der Stadt am<br />
Tejo maßgeblich geprägt.<br />
Doch genug der Vorrede. Welche Nuancen des Tageslichts<br />
unsere Autoren auf ihren Reisen noch entdeckt haben, erfahren<br />
Sie auf den folgenden Seiten.<br />
OSLO, NORWEGEN<br />
ESKISEHIR, TÜRKEI<br />
HANGZHOU, CHINA<br />
15
OSLO, NORWEGEN<br />
Betrachtungen über<br />
das Licht in Oslo<br />
VON ROLF GERSTLAUER<br />
Licht ist, … und ist nicht gleich.<br />
Ebenso wie der Umgang verschiedener Kulturen mit dem Licht<br />
sich nicht verallgemeinern lässt, ist auch die Lichtqualität <strong>von</strong><br />
Ort zu Ort und <strong>von</strong> Zeit zu Zeit verschieden. Um dem jahres-<br />
und ortsspezifischen Licht wirklich auf die Spur zu kommen,<br />
muss der Betrachter es deshalb für sich selbst entdecken.<br />
Die hier gezeigte Entdeckungsreise durch Oslo vollzog sich<br />
an sieben verschiedenen Tagen im Januar 2009. Ihre Schauplätze<br />
sind Orte der täglichen Routine sowie Räume und Orte,<br />
mit denen ich mich zur gegebenen Zeit fachlich in meiner<br />
Arbeit als Architekt auseinandersetzen musste. Die Betrachtung<br />
und Erforschung des Januar-Lichts hat bestätigt, was<br />
ich über die Tageslichtqualität Oslos intuitiv bereits wusste.<br />
Zugleich hat sie wieder einmal verdeutlicht, welch unerschöpfliches<br />
gestalterisches Medium das Licht für Architekten ist.<br />
Licht erschöpft sich nicht, und Licht ist für den Architekten<br />
das kreative Material, mit dem er Räume und Objekte erschafft<br />
und somit das architektonische Werk dem Ort zuschreibt, ihm<br />
so seine Einzigartigkeit verleiht.<br />
Licht scheint, ... und scheint weniger.<br />
Das Oslo eigene ‚nordische Licht’ hat einen langen Atem und<br />
einen schwachen, fast nicht fühlbaren Puls. Im Gegensatz zu<br />
meiner Heimat, den Graubündner Alpen, stützt sich die Dramaturgie<br />
des Lichtes hier nicht auf starke Kontraste, pulsierende<br />
Rhythmen und variierende Intervalle – das Licht spricht hier<br />
wenig oder nur leise, es ist ausgeglichen, monochrom und unaufdringlich,<br />
aber auch zuverlässig: ein demokratisches, transparentes<br />
Licht.<br />
Der Tag wird, wie ihn der Morgen versprochen hat. Die Wolken<br />
stehen entweder hoch am Himmel und bleiben dort, oder<br />
aber es gelingt ihnen den ganzen Tag nicht, in das Innerste des<br />
Oslo-Fjords einzudringen. Gewitter und plötzliche Wetterein-<br />
16<br />
brüche sind hier, anders als an der Westküste Norwegens, eine<br />
Seltenheit. Der Reiz <strong>von</strong> Oslos Tageslicht liegt nicht im Spektakulären<br />
und Spekulativen, sondern erschließt sich erst in der<br />
tieferen Auseinandersetzung mit ihm.<br />
Diese Auseinandersetzung besitzt notwendigerweise einen<br />
dialogischen Charakter. Um das Licht erfahren zu können,<br />
genügt es meist nicht, sich nur als reiner Zuschauer zu ver- und<br />
begnügen. Speziell (aber nicht nur) zur Winterzeit bedarf es einer<br />
erheblichen Anstrengung, um das zurückhaltende und an Pathos<br />
arme Licht wirklich zum Sprechen zu bringen. Das Januar-Licht<br />
in Oslo scheint wenig und will darum gesehen werden.<br />
Licht ist, ... doch selten allein.<br />
Brauchtum und Verhalten im Norden Europas sind zusätzliche<br />
Faktoren, die den Zugang zum Licht stark beeinflussen. Der<br />
Innenraum in seiner deutlichen Abgrenzung zum ungastlichen<br />
Klima bedingte eine bis auf den Rauchauslass für die Feuerstelle<br />
kompakte und vollständig geschlossene Hülle. Tag und Nacht<br />
mit ihrem Wetter waren draußen, das flackernde, wärmende<br />
und sammelnde Licht der Feuerstelle drinnen. Auch heute noch,<br />
wenn mit modernen Mitteln im offenen Gelände gebaut wird,<br />
scheint der Norweger Öffnungen in der Außenhülle hauptsächlich<br />
als Verlängerungen des Innenraumes zur Aussicht hin zu<br />
betrachten. Die Aussicht als eingerahmte und oft spektakuläre,<br />
ideell unberührte Natur wird dem Innenraum einverleibt. Das<br />
zaghafte Tageslicht schafft es dagegen nicht in allen Fällen, auf<br />
prägnante Weise in den Raum einzufallen.<br />
Die Feuerstelle als zentraler und sammelnder Punkt ist immer<br />
noch ein Leitbild und in übersetzter Weise bis heute bestimmend<br />
für die Beleuchtung des Innenraums. Auf dem Kontinent versucht<br />
das weiße und kräftige, an der Decke des Raumes befestigte<br />
Kunstlicht nach Einbruch der Dämmerung den Tag zu<br />
‚verlängern‘. In Norwegen geben dagegen auch tagsüber zahl-<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
OSLO, NORWEGEN<br />
reiche, meist mobile künstliche Lichtquellen (auch Kerzen) die<br />
weiche, gedämpfte gelb-orange Lichtstimmung des lebenden<br />
und wärmenden Feuers wieder. Niedrige Strompreise erlauben<br />
es, die Beleuchtung in allen Räumen brennen zu lassen, und das<br />
Fenster dient somit weniger dem Tageslichtdurchlass als der Aussicht<br />
auf ein gerahmtes Bild mit anderer, ‚abstrakter’ Lichtsituation.<br />
Um den Dialog mit dem Licht wirklich zu pflegen, muss<br />
das Licht daher manchmal ausgeschaltet werden.<br />
Licht ist, ... und bewegt uns.<br />
Lebt man in dieser Stadt, ist man versucht zu denken, dass<br />
es im Winter nie wirklich hell und im Sommer nie eigentlich<br />
dunkel wird. Der Sonnengang, so der Eindruck, schafft<br />
im Laufe des Jahres zwei Welten, die das Leben in Oslo entweder<br />
aufblühen lassen oder zum Schweigen bringen. Die<br />
Auseinandersetzung mit dem zeit- und ortsspezifischen Licht<br />
jedoch lässt einen anderen Gedanken reifen: Gerade die zarten,<br />
subtilen und fast unwahrnehmbar langsamen Wechsel<br />
sind für Oslo charakteristisch und tauchen die Stadt täglich<br />
in ein neues Licht.<br />
Das Subtile ist insistierend und intensiv. Die Dramaturgie<br />
des Lichts liegt im Wesentlichen nicht in den Jahreszeiten, sondern<br />
in der plötzlichen und bewussten Erfahrung einer Farbe,<br />
Form oder Reflektion – der Andeutung <strong>von</strong> etwas, das gestern<br />
oder vor ein paar Stunden noch nicht hier war, nicht in dieser<br />
Art und nicht in dieser Gestalt. Was eben noch flach und ohne<br />
Perspektive war, ist nun räumlich und ausgeprägt grafisch.<br />
Diese Erfahrung ist ebenso plötzlich, wie der Wechsel <strong>von</strong><br />
einer Gegebenheit zur anderen schwer wahrzunehmen ist. Die<br />
See, die noch vor einigen Minuten wie seit Wochen grau und leblos<br />
dalag, ist nun tiefgrün, farbsatt und wird körperhaft. Der im<br />
Januar ständig nass-dunkle und schwere Boden der Stadt wird<br />
vom Streiflicht der Sonne berührt, und die Reflektionen und Bre-<br />
chungen der Fenster zeichnen zusammen mit den endlos langen<br />
Schlagschatten der Bäume eine Partitur <strong>von</strong> Licht und Schatten,<br />
<strong>von</strong> heller und noch heller, <strong>von</strong> oben und unten, bis zuletzt die<br />
Gesetze der Schwerkraft aufgehoben zu sein scheinen und der<br />
Boden dem Himmel seinen Platz streitig machen will.<br />
Die Entdeckungsreise in Sachen Tageslicht endete im <strong>von</strong><br />
Sverre Fehn entworfenen neuen Ausstellungs-Pavillon für das<br />
<strong>Architektur</strong>museum in Oslo. Es ist ein Raum, der sich im<br />
und mit dem Licht bewegt und sich fortlaufend neu zeichnet.<br />
Ein Raum als eine Lichtmaschine, die weiß, wie sie sich dem<br />
Licht öffnen will, um es sich mit all seinen subtilen Nuancen<br />
einzuverleiben.<br />
Rolf Gerstlauer ist Professor an der Oslo School of <strong>Architecture</strong> and Design.<br />
Im eigenen Studio Gerstlauer Molne (seit 1992) befasst er sich neben der<br />
<strong>Architektur</strong> auch ausführlich mit Fotografie und experimentellen Filmprojekten.<br />
Die Bauten und Filme <strong>von</strong> Gerstlauer Molne (Letztere unter Pseudonym)<br />
wurden mehrfach publiziert und mit Preisen ausgezeichntet.<br />
S 18: 5. Januar 2009<br />
13.34 – 13.39; Stadtteil Hanshaugen,<br />
Außenbild<br />
Sonne: Aufgang 09.16 – Zenit 12.23<br />
(Höhe 7.4°) – Untergang 15.30<br />
Klima: wolkenfrei, Temp. –6.1°C,<br />
rel. Luftfeuchtigkeit 84 %,<br />
Oberfläche: Frostlag<br />
S 19: 6. Januar 2009<br />
09.35 – 09.39; Stadtteil Frogner,<br />
Interieurbild<br />
Sonne: Aufgang 09.15 – Zenit 12.23<br />
(Höhe 7.5°) – Untergang 15.31<br />
Klima: leicht bewölkt, Temp. –4.9°C,<br />
rel. Luftfeuchtigkeit 80 %,<br />
Oberfläche: bar<br />
S 20–21: 19. Januar 2009<br />
15.57 – 16.09; Stadtteil Kvadraturen,<br />
Interieurbild<br />
Sonne: Aufgang 08.57 – Zenit<br />
12.28 (Höhe 9.6°) – Aufgang 15.59<br />
Klima: bedeckt (Schneefall),<br />
Temp. –0.2°C,<br />
rel. Luftfeuchtigkeit 90 %,<br />
Oberfläche: Neuschnee (32 cm)<br />
17
OSLO, NORWEGEN<br />
18 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
3. JAN JANUAR 2009, 12:22<br />
OSLO, NORWEGEN<br />
19
OSLO, NORWEGEN
3. JANUAR 2009, 12:22
HANGZHOU, CHINA<br />
Implizite Kultur und<br />
introvertiertes Tageslicht<br />
Zwei Häuser in<br />
Hangzhou, China<br />
VONRUANHAOAND ZHANG YUE<br />
FOTOS: RUAN HAO<br />
gegenstand unserer fotoserie ist der Vergleich eines alten<br />
und eines neuen Hauses in der Stadt Hangzhou. Das alte Haus<br />
aus dem Jahre 1872 ist eine private Villa, die renoviert und<br />
zu Tourismuszwecken umgebaut wurde, während es sich bei<br />
dem neuen Haus, nach 2004 gebaut, um ein Ausbildungszentrum<br />
der China Academy of Art handelt. Wir gehen <strong>von</strong> der<br />
Annahme aus, dass das alte Gebäude als prototypisches Vorbild<br />
für das neue diente. Beide Gebäude illustrieren, wie das<br />
Wesen <strong>von</strong> Raum und Licht in südchinesischen Häusern seit<br />
Jahrhunderten überliefert und neu interpretiert wird.<br />
Die Fotos wurden an einem normalen, leicht bewölkten<br />
Nachmittag in dem sanften Licht aufgenommen, das für<br />
südchinesische Städte so typisch ist. Beide Gebäude wurden<br />
durch und für diese Lichtatmosphäre geschaffen. Ihre weißen<br />
Außenmauern vermitteln einen soliden und zugleich kühlen<br />
Eindruck. Sie reflektieren das Licht und grenzen die Häuser<br />
zu ihren Nachbarn hin ab. Im Gegensatz zu den fensterlosen<br />
Außenmauern sind die Innenhöfe <strong>von</strong> der Morgendämmerung<br />
bis zum Einbruch der Dunkelheit lichtdurchflutet.<br />
Die warmen Holzfassaden, die sie an allen Seiten umgeben,<br />
zeugen <strong>von</strong> der Behaglichkeit der Häuser und verwandeln<br />
das Licht im Innenhof in ein lebendiges, fast dramatisches<br />
Element, das im Hof eingeschlossen ist. Ein Teil des Lichts<br />
wird indirekt durch die Korridore in die Räume geleitet und<br />
erscheint so rein und erhaben, als sei es gleichsam <strong>von</strong> der<br />
Holzfassade ‚getauft’.<br />
Baustile mögen sich ändern, der innere kulturelle Wert<br />
einer Region sowie der Menschen und <strong>Architektur</strong> dort aber<br />
bleibt. Und so wohnt beiden Häusern, obgleich ihre Entstehungszeit<br />
132 Jahre auseinanderliegt, der gleiche Gegensatz<br />
inne: hier die äußere, verschlossene und indifferente Erscheinung<br />
und dort die lebendige, aber kontrollierbare und in<br />
sich ruhende Innenwelt.<br />
22<br />
Ruan Hao ist MArch Student an der Fakultät für <strong>Architektur</strong> der Tsinghua-<br />
Universität in Peking. Er war Gasthörer an der Harvard Graduate School of<br />
Design und gewann den zweiten Preis beim International Velux Award 2008.<br />
Derzeit arbeitet er für die Preston Scott Cohen, Inc. am Taiyuan Museum of<br />
Art in China.<br />
Dr.Zhang Yue ist außerordentlicher Professor an der Fakultät für <strong>Architektur</strong><br />
der Tsinghua-Universität in Peking. Er gewann den Holcim Award für Ostasien<br />
in Gold, den Grand Prix der dritten DBEW International Housing Competition<br />
und war Finalist bei der zweiten Living Steel Competition.<br />
Rechts: Außenwand der alten Villa.<br />
Die weiße Außenwand scheint das<br />
Gebäude <strong>von</strong> der Außenwelt abzuschirmen.<br />
Obwohl das neue<br />
Gebäude offener gestaltet ist,<br />
herrscht auch hier Exklusivität.<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Nächste Seite: Innenhof – alt und neu.<br />
Die Form des Lichts ist nicht fassbar,<br />
obwohl es durch klar definierte Grenzen<br />
in die Räume gelassen wird. Das Licht<br />
wird intensiv wahrgenommen, obwohl<br />
die Sonne nicht direkt sichtbar ist.
HANGZHOU, CHINA<br />
23
HANGZHOU, CHINA<br />
24 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
3. JANUAR 2009, 12:22<br />
HANGZHOU, CHINA<br />
25
MIDDLETON PLACE, USA<br />
Genius Loci und Maisgrütze<br />
Inn in Middleton Place<br />
bei Charleston, usa<br />
VON MARK MORRIS<br />
unvergessliche orte sind typischerweise verbunden mit<br />
dem ersten Eindruck, bestimmten Menschen oder der Erinnerung<br />
an ein gutes Essen. Nur wenige für uns denkwürdige<br />
Orte verdanken dies ihrer Gestaltung. Es wundert mich selbst,<br />
warum ich das Inn in Middleton Place neben meinen Lieblingshotels<br />
in London und New York zu meinen Favoriten<br />
zähle, doch steckt es voller Überraschungen. Architektonisch<br />
ist es das Letzte, was man am Ende eines gewundenen Schotterwegs,<br />
gesäumt <strong>von</strong> kleinen Palmen und Dschungelmoos, in<br />
der Nähe <strong>von</strong> Charleston in South Carolina zu finden erwartet.<br />
Der formale Gegensatz zu den Überresten der Middleton<br />
Plantage ist krass. Das Hotel, wohl das gelungenste Gemeinschaftsprojekt<br />
<strong>von</strong> W. G. Clark und Charles Menefee, liegt<br />
beschaulich auf einer kleinen Anhöhe über dem trüben Sumpfgewässer<br />
des Ashley River. Der Komplex, vor fünfundzwanzig<br />
Jahren auf Geheiß eines Nachfahren Middletons gebaut,<br />
besteht aus einem Haupthaus in L-Form, das eine gepflegte<br />
Rasenfläche einschließt, und einer Handvoll wie Satelliten in<br />
der Gegend verstreuter Bauten.<br />
Alle Gebäude sehen aus wie mehrgeschossige Glaswürfel<br />
mit schwarzen Holzrahmen, Betonschornsteinen und Brandmauern.<br />
Das Ganze mutet an wie ein Kartäuserkloster: Hier<br />
wird jeder zum kontemplativen Einsiedler. Enge gewölbeähnliche<br />
Treppen verbinden die oberen Zimmer mit dem Erdgeschoss.<br />
Die karge Materialpalette wird ausgeglichen durch die<br />
üppige Landschaft und die angenehme Optik des Interieurs.<br />
Die Gästezimmer sind spärlich eingerichtet, erstrahlen aber<br />
im honigfarbenen Licht, das durch die für diese Gegend typischen<br />
wandhohen Innenjalousien dringt. Durch Öffnen und<br />
Schließen einzelner Jalousien und je nach Stellung der vertikalen<br />
Lamellen variieren Licht und Stimmung in den Zimmern.<br />
Hinzu kommen zwei besondere Fensterarten: Zwischen<br />
dem schwarzen Holz und dem Beton befinden sich schmale<br />
26<br />
verstellbare Flügelfenster, die an Lüftungsschlitze erinnern;<br />
durch ihre Echowirkung intensivieren sie das Geräusch des<br />
Regens. Leicht gebogene, sandgestrahlte Glasbausteinfenster<br />
bilden die Hintergrundkulisse für trogförmige Badewannen<br />
und harmonieren perfekt mit dem Fliesenmuster.<br />
Das ‚L‘ mündet im Rezeptionsbereich, über dem eine Penthouse<br />
Suite liegt. Ein riesiger Kamin durchbohrt das Ganze<br />
wie ein Spieß; die Feuerstellen im Erdgeschoss und im Wohnzimmer<br />
der Suite greifen die L-Form auf subtile Weise auf,<br />
und der Kamin in der Lobby lodert und knistert wie die Esse<br />
einer Schmiede. Ein luftiger Balkon auf Rasen- und Flussseite<br />
umläuft die Suite. Die uralte architektonische Herausforderung,<br />
die Ecke des ‚L‘ zu füllen, wird geschickt gelöst. Die Querachse<br />
mündet in einer etwas unheimlichen Ruine, die sich gegen den<br />
Himmel absetzt und schwere Schatten auf den Fahrradständer<br />
darunter wirft. Die hier verwurzelte Kopoubohne bedeckt den<br />
Großteil des Eingangsbereichs und verleiht dem Inn das Aussehen<br />
einer riesigen Hecke, erfüllt vom Summen der Stechfliegen<br />
und Zwitschern der Spatzen.<br />
Das Hotel zieht Gäste unterschiedlichster Couleur an:<br />
Einige kommen dorthin wegen der bewegten Geschichte<br />
der Plantage nebenan, andere wandern durch die Gärten (die<br />
ältesten architektonischen Gärten des Landes) und pflücken<br />
Rhododendron, ein paar Sportler tummeln sich in Kanus auf<br />
dem Fluss. Sie alle aber teilen die unbegründete Sorge über<br />
die ‚Haltbarkeit‘ des Ortes in dem Wunsch, alles so zu belassen<br />
wie auf den alten Spoleto-Festival-Postern über den Betten,<br />
und fragen sich laut, wer zum Teufel sonst noch den einzigartigen<br />
Charme dieses Ortes zu schätzen weiß. Welche breite<br />
und gewinnträchtige Touristenschicht mit Interesse an Vorkriegs-Grandeur<br />
möchte schon in einem düsteren modernen<br />
Kloster einquartiert werden, wenn man ein wenig weiter unten<br />
an der Straße in Villen mit Säulengängen und spitzenbesetz-<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
MIDDLETON PLACE, USA<br />
ten Himmelbetten residieren kann? Wissen oder interessiert<br />
es genügend Leute, dass das Hotel vom American Institute of<br />
Architects höchste Anerkennung bekam (das AIA-Zitat hängt<br />
in der Lobby neben den Mitgliedsurkunden der Green Hotel<br />
Association, Audubon Society und National Wildlife Federation)?<br />
Viele wissen es. Und viele scheint es zu interessieren.<br />
Für Alexander Pope „offenbart sich ein Genius loci in der<br />
Landschaft, fängt offene Lichtungen ein, gesellt sich zu dichten<br />
Wäldern und variiert Schatten um Schatten, bricht hier und<br />
leitet dort die vorgegebenen Linien …“. Das Design <strong>von</strong> Clark<br />
und Menefee, in die Landschaft eingebettet, nutzt und evoziert<br />
diese Definition wortwörtlich. Die geistige Atmosphäre dieses<br />
Ortes wird nicht nur optisch verstärkt. Der Geruch <strong>von</strong> Holzfeuern<br />
ist auch im Hochsommer in den Räumen wahrzunehmen.<br />
Die kühlen Fliesen im Bad wirken erfrischend nach einem<br />
beschaulichen Spaziergang durch die Gärten oder einem Aufenthalt<br />
am Pool. Auch der Geschmackssinn spielt eine Rolle:<br />
Das Hotelfrühstück wird stets mit Maisgrütze serviert, auf<br />
deren Geschmack ich allerdings noch kommen muss. Egal, sie<br />
gehört zu diesem Ort und seiner speziellen Atmosphäre dazu.<br />
Viel mehr aber ist die nachhaltige Erinnerung an diesen Ort<br />
dem überzeugenden Design und dessen geschickter Umsetzung<br />
sowie der Genügsamkeit als Naturkulisse zu verdanken.<br />
Mark Morris lehrt Entwurf und Theorie an der Cornell University in Ithaca/<br />
USA und koordiniert dort den Aufbaustudiengang zum Master of <strong>Architecture</strong><br />
sowie zum PhD der <strong>Architektur</strong>geschichte. Er studierte an der Ohio State University<br />
und erlangte seinen Doktortitel am London Consortium der University<br />
of London. Morris ist Verfasser des Buchs Automatic <strong>Architecture</strong> and Models:<br />
<strong>Architecture</strong> and the Miniature und Moderator der iTunes-Podcast-Serie „<strong>Architecture</strong><br />
on Air“. Er lehrte an der Londoner Bartlett School, der Architectural<br />
Association und der University of North Carolina in Charlotte, wo sein Freund<br />
und Kollege Greg Snyder ihn mit der Arbeit der Architekten Clark und Menefee<br />
bekannt machte.<br />
27
MIDDLETON PLACE, USA
ESKISEHIR, TÜRKEI<br />
Licht ist die Zeit<br />
Kilicoglu-Ziegelei<br />
in Eskisehir<br />
VON RECEP ÜSTÜN<br />
die fotografien wurden in den inzwischen leerstehenden<br />
Kilicoglu-Ziegeleien in Eskisehir aufgenommen.<br />
In den nun inmitten der Stadt verbliebenen Fabrikanlagen,<br />
die in Eskisehir seit 1928 in Betrieb waren, wurde noch<br />
bis vor 5 Jahren produziert.<br />
Licht ist die Zeit ...<br />
Licht lässt sich nicht eintrüben und ist deshalb auch unabhängig<br />
<strong>von</strong> Zeit.<br />
Louis Kahn betrachtet Materie als Licht ohne Glanz. Ihm<br />
zufolge ist Materie aus ‚Licht’ gegossen, ebenso wie Eisen in<br />
eine Form gegossen wird. Deshalb hat Materie sichtbare<br />
Zustände. Diese Zustandsvielfalt verhindert, dass wir die<br />
Materie als ein einziges Objekt betrachten können.<br />
Bei Bewegungslosigkeit des Materien-Lichts (Ewigkeit)<br />
ruht die Arbeit.<br />
Diese Fotos beabsichtigen, die Spannung zwischen Licht<br />
und Materie und die Reflexion dieser Beziehung auf Orte aufzuzeichnen.<br />
Die Vergänglichkeit <strong>von</strong> Zeit wandelt jedes Foto in einen<br />
Abschied. Von allem, was fotografierbar ist, kann man sich<br />
verabschieden.<br />
Doch das Licht bleibt” ...<br />
30<br />
Recep Üstün schloss 1988 sein <strong>Architektur</strong>studium an der Fakultät für Ingenieurswesen<br />
und <strong>Architektur</strong> der Anadolu-Universität in Eskisehir ab. Seit<br />
1989 ist er als Dozent an der Fakultät für Ingenieurswesen und <strong>Architektur</strong><br />
der Anadolu-Universität sowie im Studiengang <strong>Architektur</strong> der Osmangazi-<br />
Universität tätig. Er nimmt an nationalen und internationalen <strong>Architektur</strong>-<br />
Wettbewerben teil.<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
ESKISEHIR, TÜRKEI<br />
31
LISSABON, PORTUGAL<br />
Licht über Lissabon<br />
VON CARLOS LAMPREIA<br />
„Sage mir, meine Seele, arme, erkaltete Seele, was<br />
dächtest du da<strong>von</strong>, in Lissabon zu wohnen? Es soll<br />
dort warm sein, und du würdest wieder munter<br />
werden wie eine Eidechse. Diese Stadt liegt am Rande<br />
des Wassers, man sagt, dass sie aus Marmor gebaut<br />
ist und die Menschen dort Pflanzen so sehr hassen,<br />
dass sie jeden Baum der Erde entreißen. Das ist eine<br />
Landschaft nach deinem Geschmack, eine Landschaft<br />
aus Licht und Mineralien und dem Wasser, um sie zu<br />
spiegeln.”<br />
Charles Baudelaire, in Le spleen de Paris [Petits poèmes en prose]<br />
das licht, abstrakt in seiner Essenz, diese leichte, unfassbare<br />
Substanz, macht in Kombination mit geografischen und<br />
meteorologischen Phänomenen die <strong>Architektur</strong> mit all ihren<br />
Strukturen und Zuständen erst sichtbar. Fast ist es eine lebendige,<br />
unvorhersehbare Materie, die – sobald sie sich verändert –<br />
Einfluss auf unserer Verhalten und unseren bewohnten Raum<br />
nimmt. Vor allem aber ist Licht Energie, welche den Raum erst<br />
wahrnehmbar werden lässt und ihn und jede andere Materie<br />
offenbart.<br />
Die Abhängigkeit vom Licht ist fast so alt wie die Erde<br />
selbst, und seit Menschengedenken wird sie in allen Kulturen<br />
dargestellt. Heute können wir dies im Werk <strong>von</strong> Künstlern<br />
wie James Turrell entdecken. Er fängt das Licht mit einer<br />
Serie <strong>von</strong> sogenannten ‚Skyspaces‘ – kleinen, architektonischen<br />
Strukturen, die zur Beobachtung des Himmels konzipiert sind<br />
– ein und sucht es so zu verstehen. Auch Olafur Eliasson hat<br />
mit seiner Installation ‚The weather project‘ <strong>von</strong> 2003 die physikalischen<br />
Phänomene der Natur künstlich erzeugt, dabei<br />
die Tate Gallery in London mit einem intensiven Sonnenlicht<br />
zum Leben erweckt und die Betrachter in Verzückung versetzt.<br />
32<br />
In Lissabon, wo das Licht intensiv ist und vom Wasser noch<br />
verstärkt wird, wird auch die <strong>Architektur</strong> zur Kunst. Sie nimmt<br />
die Energie in lichtdurchfluteten Räumen auf und macht diese<br />
dadurch bewohnbar. Ihren Ursprung nimmt diese Wechselwirkung<br />
in Lissabons geografischer Lage: Der Fluss Tejo erreicht<br />
durch einen kleinen Kanal den Atlantischen Ozean und bildet<br />
mit seinem ausgedehnten Flussdelta ein kleines Binnenmeer,<br />
das Mar da Palha. Es markiert den Übergang vom ruhigen,<br />
natürlichen Hafen in die Weiten der Meere. An diesem Angelpunkt,<br />
der Grenze zwischen Wasser und Land, entwickelte<br />
sich Lissabon.<br />
Im 17. Jahrhundert <strong>von</strong> einem Erdbeben fast vollständig<br />
und systematisch zerstört, wurde die Stadt in einem Zug wiederaufgebaut,<br />
was ein großes Maß an Homogenität schuf, dem<br />
sogenannten ‚Pombalino‘-Stil. Er lässt die Stadt so erscheinen,<br />
als sei sie aus nur einem Material, dem Stein.<br />
Die Konfrontation dieser beiden immensen Massen, der<br />
steinernen Stadt einerseits und dem Fluss des Lichtes andererseits,<br />
hat das Bild der Stadt geprägt und intensive Spiele mit<br />
dem Licht ermöglicht. Sie leitet es durch die Straßen und Gassen<br />
der Stadt, während wir auf die nächste Gelegenheit warten,<br />
den Fluss wiederzusehen. Spürbar wird das Lichtspiel an den<br />
Terraços de Bragança in der Rua do Alecrim <strong>von</strong> Álvaro Siza:<br />
Die Gebäude kommunizieren mit ihrem im Pombalino-Stil<br />
erbauten Nachbarn. Zwischen ihnen blieben Reste der alten<br />
Stadtmauer erhalten. Die gefliesten Fassaden in subtilen Abstufungen<br />
<strong>von</strong> Weiß und Blau reflektieren das Licht, lenken es in<br />
diese Zwischenräume, entmaterialisieren dadurch die Präsenz<br />
der Gebäude und durchfluten das Stadtgefüge mit der intensiven<br />
Energie der Sonne.<br />
Ende des 19. Jahrhunderts wurde nahe dem Kanal in der<br />
Mitte der Stadt, gleich neben dem Hafen, eine riesige steinerne<br />
Plattform gebaut, wie eine immense, gradlinige Veranda. Sie<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
LISSABON, PORTUGAL<br />
überbrückt den Fluss und fungiert als eine Art Spiegel des hektischen<br />
Industrie- und Hafenlebens. Auf dieser Plattform steht<br />
das ‚Museu do Oriente‘ <strong>von</strong> João Luís Carrilho da Graça, ein<br />
ehemaliges Lagerhaus, dessen dynamisches Nebeneinander verschiedener<br />
Volumina immer neue, unvorhersehbare Dialoge<br />
mit den Containerschiffen des Hafens entstehen lässt. Goldfarbene<br />
Pigmente an der Fassade des Dachgeschosses verleihen dem<br />
Gebäude Glanz und weisen auf seine neue Nutzung hin.<br />
In Lissabon findet ein ständiges Wachstum entlang der Ufer<br />
in Richtung Meer oder <strong>von</strong> der Quelle bis zum Mar da Palha<br />
statt. Dieses schon immer intensiv für Industrie und Hafenbetrieb<br />
genutzte Gebiet bildet seit der Weltausstellung 1998 eine<br />
Erweiterung des Stadtgefüges. Hier ist die Stadt sehr exponiert,<br />
Topografie und Bebauung sind gleichermaßen flach, und<br />
die ausgedehnten Wasserflächen besitzen eine enorme Weite.<br />
Das intensive Licht blendet oft so stark, dass das andere Ufer<br />
kaum zu erkennen ist. Einen zeichenhaften Sonnenschutz schuf<br />
Álvaro Siza an dieser Stelle mit dem portugiesischen Pavillon<br />
der EXPO98. Sein immenses Hängedach aus Beton erstreckt<br />
sich entlang des Wassers und schafft so einen bedeckten und<br />
angenehm kühlen Platz in Ufernähe.<br />
Je mehr man sich dem Meer nähert, umso breiter wird der<br />
Fluss und umso stärker die Veränderungen seiner Oberflächenstruktur.<br />
Je nach Lichtintensität erleben wir den Tejo auf ganz<br />
unterschiedliche Weise. Die westlichen Randgebiete der Stadt<br />
begleiten diese Variationen mit ihrer suburbanen Bebauungsstruktur,<br />
die versucht, die Intensität des Lichts einzufangen.<br />
Beispielhaft hierfür ist das Centro de Coordenação BRISA in<br />
Carcavelos <strong>von</strong> João Luís Carrilho da Graça. Das Gebäude<br />
nahe der Autobahn nutzt das auf die Fassaden auftreffende<br />
Sonnenlicht mittels großer Solarkollektoren. Im Atrium dagegen<br />
schaffen Wasserflächen und weiß verputzte Wände eine<br />
Lichtqualität, wie wir sie vom Fluss her kennen.<br />
Endlich erreicht das Meer Cascais, den Ort, an welchem sich die<br />
Bebauung verdichtet und sich dem Ozean zuwendet. Unmittelbar<br />
an der Einfahrt zum Kanal <strong>von</strong> Lissabon stehen hier der<br />
Leuchtturm und das Museum Santa Marta <strong>von</strong> Aires Mateus.<br />
Die Architekten hüllten die bestehenden Gebäude in glänzende,<br />
weiße Fliesen, abstrahierten so deren Form und verwandelten<br />
den gesamten Komplex zugleich in eine leuchtende Einheit, die<br />
sich über den schwarzen Felsen emporhebt.<br />
Die <strong>Architektur</strong> <strong>von</strong> Aires Mateus nimmt die Bestandteile<br />
des genius loci auf, vom Fassbarsten, wie den bestehenden<br />
Naturformen und Gebäuden, bis hin zum Abstraktesten, wie<br />
dem Licht. Wenn wir verstehen, dass – wie José María Montaner<br />
es tut – das Mysterium des Universums ist, dass es vollständig<br />
aus Energie und deren Umwandlung besteht, dann<br />
könnten wir wagen zu sagen, dass der Raum die Art und Weise<br />
darstellt, wie wir das Licht einfangen.<br />
Carlos Lampreia ist seit 1994 Dozent an der FAA-Universidade de Lisboa und<br />
leitet sein eigenes <strong>Architektur</strong>büro in Lissabon. Er studierte an der <strong>Architektur</strong>fakultät<br />
in Porto und der Technischen Universität Lissabon, erwarb danach<br />
einen Mastertitel in <strong>Architektur</strong>theorie und arbeitet an seiner Dissertation<br />
über orts- und materialbezogene Strategien in <strong>Architektur</strong> und Kunst.<br />
33
LISSABON, PORTUGAL<br />
34 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
LISSABON, PORTUGAL<br />
35
LISSABON, PORTUGAL<br />
36 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
LISSABON, PORTUGAL<br />
37
––°––’––’’ N<br />
––°––’––’’ S<br />
2005
––°––’––’’ E<br />
––°––’––’’ W<br />
Landschaften kreiert <strong>von</strong><br />
Michael Reisch<br />
www.michaelreisch.com<br />
Vorherige Seite: Landschaft,<br />
1/010 digital c-print/diasec<br />
2005, 124 × 201 cm – courtesy<br />
Gallery Rolf Hengesbach,<br />
Köln, Deutschland<br />
Gegenüber: Landschaft, 0/023<br />
digital c-print/diasec 2003,<br />
124 × 190 cm – courtesy Gallery<br />
Rolf Hengesbach, Köln,<br />
Deutschland<br />
40<br />
„In der Fotografie geht man, so die<br />
Konvention, eigentlich immer <strong>von</strong><br />
etwas Realem, physikalisch Existenten,<br />
Abbildenswertem aus:<br />
Erst gibt es die Realität, das Phänomen.<br />
Das Foto ist dann gemeinhin<br />
das Abbild dieses Phänomens.<br />
In meinen Bildern habe ich diesen<br />
Sachverhalt in gewisser Weise<br />
umgekehrt, hier habe ich die Realität,<br />
das Phänomen, die tatsächlich<br />
existente Landschaft, als Abbild,<br />
als Entsprechung meiner Vorstellung<br />
benützt, wobei das Authentische<br />
des fotografierten Ortes<br />
letztendlich im Bild keine Rolle<br />
mehr spielt. Das Authentische<br />
des Ortes wird ersetzt durch das<br />
Authentische des Bildes. Mit anderen<br />
Worten: meine Bilder sagen<br />
weniger über das Abgebildete als<br />
vielmehr etwas über meine visuellen<br />
Entscheidungen aus. Der Ort,<br />
der Genius loci, ist bei meinen Bildern<br />
nicht die reale Landschaft,<br />
sondern befindet sich im Kopf des<br />
Künstlers oder des Betrachters. An<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
diesen subjektiven Vorstellungen<br />
des Betrachters, die ja wiederum in<br />
kollektiven Vorstellungen (Malerei,<br />
Literatur, Film, Werbung, etc.) eingebettet<br />
sind, und aus denen sich<br />
letztlich so etwas wie unsere zeitgenössische<br />
Auffassung <strong>von</strong> Landschaft<br />
und Natur zusammensetzt,<br />
interessiert mich insbesondere der<br />
Aspekt <strong>von</strong> Landschaft als Projektionsfläche<br />
einer kollektiven, unerfüllbaren<br />
Sehnsucht, Landschaft<br />
als utopischer, paradiesischer Entwurf,<br />
als Traum <strong>von</strong> unberührter<br />
Natur; und, demgegenüber, eine<br />
gängige, pragmatische, funktionalistische,<br />
kalte Auffassung <strong>von</strong><br />
Natur als Roh- und Gebrauchsmaterial,<br />
als nützliche und verfügbare<br />
Bio-Masse: Landschaft zwischen<br />
Paradies und Gentechnikalbtraum.“<br />
Michael Reisch
REFLEKTIONEN Neue Perspektiven:<br />
Ideen abseits der Alltagsarchitektur.<br />
GENIUS LUCIS<br />
WAS WOHNLICHT<br />
SEIN KÖNNTE
Von Gerhard Auer<br />
Fotografie <strong>von</strong> Beatrice Minda<br />
Es gibt kaum einen Ort auf der Erde, zu dem der<br />
Mensch eine engere Beziehung pflegt als zu seiner<br />
Wohnung. Bei welchem Licht Menschen sich ‚zu Hause‘<br />
fühlen, variiert je nach kulturellem Hintergrund und<br />
individueller Präferenz. Dennoch lassen sich bei<br />
näherem Hinsehen Grundfunktionen des Wohnens<br />
und ‚Genien‘ des Wohn-Lichts identifizieren, die über<br />
alle Zeiten Bestand hatten.<br />
Nur wer das Wohnen gleich mit Wohnung und diese gleich<br />
mit dem Wohnbau verbindet, wird sich auch unter Licht gleich<br />
die Belichtung und unter der Belichtung gleich Fenster und<br />
Leuchtkörper vorstellen. Doch die Frage, was Wohnen überhaupt<br />
kennzeichnet und in welcher Beziehung es zum Licht<br />
steht, zwingt zu verzweigteren Annäherungsversuchen an eine<br />
Begriffspaarung ‚Wohnlicht‘, die bisher weder in den Diskursen<br />
zum Wohnungsbau noch zur Lichtgestaltung als Kapitelüberschrift<br />
zu finden ist. 1<br />
Wohnen ist…<br />
Angesichts der weltweiten Vielzahl <strong>von</strong> Wohnformen, hervorgegangen<br />
aus Kontrasten des Klimas, aus Unterschieden sozialer<br />
Konvention und aus Ungleichzeitigkeiten zivilisatorischer<br />
Technik, scheint sich jeder Vergleich zu verbieten. Doch vor und<br />
jenseits aller kulturellen Differenz – so lehrt uns die Anthropologie<br />
– musste sich homo habilis, weil ein Nestbauprogramm in<br />
seiner genetischen Ausstattung fehlt, ein Habitat selbst ausdenken.<br />
Seither sind zwar nicht die Lösungen, aber die Probleme des<br />
Wohnens die gleichen geblieben. Mit anderen Worten: Wohnbedürfnisse<br />
und Wohnträume sind die gemeinsamen Nenner,<br />
die sich jeder Erdenbürger mit jedem anderen teilt – und für<br />
die Rilke einen gemeinsamen Verursacher gefunden hat: „das<br />
große Zuviel des Draußen“.<br />
Im Folgenden skizziere ich also keine neue Typologie, sondern<br />
überprüfe konkrete Wünsche und Praktiken auf ihre<br />
Deckungsgleichheit. Man lasse sich nicht vom Artenreichtum<br />
der Erscheinungsformen täuschen: Einmal sortiert und auf<br />
Wesentliches reduziert, bleiben nur wenige Kriterien, die sich<br />
als Bedingungen „sine qua non“ benennen lassen zum globalen<br />
und interkulturellen Konsens, vom Windschirm des Patagoniers<br />
bis zu Bill Gates’ Cyber-Landschloss.<br />
Leibwache<br />
Man findet keine Wohntheorie oder Wohnpraxis, die nicht<br />
Sicherungsaspekte in den Vordergrund stellen würden, also<br />
die Abwehr gegen Gefährdungen vorrangig des schlafenden<br />
Körpers, der im kritischen Zustand allnächtlicher Bewusstlosigkeit<br />
seine eigene Wachsamkeit aufgeben muss. Das<br />
verlangt nach zuverlässiger Bewachung, in Gestalt sicherer<br />
Orte (erst Höhle und Baumkrone, später Bunker und<br />
Links Lichtdurchflutet – die<br />
„geborgene Schlafstätte“,<br />
fotografiert <strong>von</strong> Beatrice Minda.<br />
(Massy-Palaiseau, 2005.) Ihre<br />
Serie „Innenansicht“ umfasst<br />
Bilder rumänischer Wohnungen,<br />
aufgenommen in Frankreich,<br />
Deutschland und in Rumänien.<br />
Turm), wachender Mitmenschen oder Haustiere (Nachtwächter,<br />
Wachhunde, Bodyguards).<br />
Die geborgene Schlafstätte nimmt in einem vergleichenden<br />
Ranking unverzichtbarer Wohnmotive den ersten Platz ein.<br />
Vom Strohsack bis zum Futon, <strong>von</strong> der Luft- bis zur Wassermatratze:<br />
wie phantasiereich wird sie montiert auf Hochebenen, in<br />
Wandnischen und Alkoven, umhüllt <strong>von</strong> Moskitonetzen und<br />
Gardinen, überdacht mit Baldachinen und Zelthimmeln; wie<br />
originell lässt sie sich transportieren als Schiffskojen, Schlafwagenabteile<br />
und Wohnmobile (und wie aufwendig wird sie hergerichtet<br />
für längere Schlafzeiten in Särgen und Pyramiden)!<br />
Egozentrum<br />
Einen „Room of One’s Own“ bezeichnete Virginia Woolfe<br />
in einem Essay zur weiblichen Kreativität 1928 als existenzielle<br />
Bedingung der Schaffenskraft. Der Wunsch nach dem<br />
eigenen Zimmer proklamiert das Recht des Individuums auf<br />
einen Raum persönlicher Verfügungen und Freiheiten: des<br />
Verhaltens, der Ausstattung, des Öffnens und Schließens. Die<br />
Schlüsselgewalt garantiert nicht nur Ungestörtheit, sondern<br />
auch eine Wahl zwischen erwünschten und unerwünschten<br />
Besuchern. Denn das Egozentrum ist nicht nur Rückzugs-,<br />
sondern auch Empfangsraum. Da sich sein Besitzer dort mit<br />
persönlichen Gegenständen umgibt, erlaubt er dem Gast Einblicke<br />
in seinen Charakter und seine Biografie.<br />
Die Ethnologie weiß <strong>von</strong> Separierungsregeln aus jeder Kultur<br />
zu berichten: In unseren Kinderzimmern und Klosterzellen,<br />
im Séparée für Alte oder im Individualraum der WG, und<br />
natürlich überdeutlich in den Apartments einer zukunftsträchtigen<br />
Single-Generation findet dieser Wohnwunsch seine Erfüllungen.<br />
Versionen des Sich-Einschließens und Sich-Ausstellens<br />
sind auch jene Ateliers, Büros oder Werkstätten, die schon immer<br />
<strong>von</strong> den Ich-AGs der Schriftsteller und Künstler, der selbstständigen<br />
Geistes- und Handwerker bewohnt wurden. Das Egozentrum<br />
kann bis zum Campingcar schrumpfen oder sich bis zur<br />
Pferdefarm aufblähen, es ist jedoch immer unteilbar!<br />
Kontaktzone<br />
Ein Bereich der Begegnungen – dem Separierungsbedürfnis<br />
nicht entgegengerichtet – wird dann unerlässlich, wenn<br />
mehrere Personen zusammen wohnen. Bekanntlich haben<br />
43
sich Modelle der Kohabitation, vom kinderlosen Paar bis zur<br />
Mehrgenerationen-Großfamilie, bewährt und werden als<br />
gattungstypisch angesehen. Sie vereinen Arbeitsteilung und<br />
gegenseitige Rückversicherungen: zur Kinderaufzucht und<br />
Altenpflege, bei Krankheiten oder anderen Notfällen ökonomischer,<br />
physischer wie psychischer Art.<br />
Die räumlichen Manifestationen des Kommunizierens sind<br />
so variationsreich wie die Natur oder Kultur der Wohnregionen:<br />
Als Höfe oder Hallen, Salons oder Gute Stuben, immer den<br />
Bedingungen des Klimas oder den Regeln der Diskretion unterworfen,<br />
können sie sich mehr oder weniger transparent zeigen.<br />
Allen gemeinsam ist aber ihre Funktion als Puffer zwischen Privatheit<br />
des Egozentrums und Öffentlichkeit der Straße. (Nur im<br />
Single-Apartment fällt der Kommunikations- mit dem Individualraum<br />
in eins.) Gleichzeitig Wegekreuzung und Berührungszone,<br />
entwickelt das Infranetz kontrastreiche Eigenschaften der<br />
Intro- und Extroversion: Es ist Trainingsraum für Sozialisation<br />
und Selbstkontrolle, Ort der Konflikte wie der Feste, und nicht<br />
zuletzt schafft es eine Schauseite zur Straße – sofern dort eitle<br />
Zurschaustellungen als politisch korrekt akzeptiert werden.<br />
Schatzkiste<br />
Nicht zuletzt gehört ein viertes Wohnbedürfnis zur Spitzengruppe:<br />
die Sorge um den Besitz. Zuerst verlangte die Vorratshaltung<br />
Speicher und Keller, dann hat das Einbunkern <strong>von</strong><br />
Schmuck, Geld und wertvollen Sammlungen Schatzhäuser entstehen<br />
lassen. In ihren Frühformen (noch erhalten in japanischen<br />
oder indonesischen Beispielen) erscheinen sie als fensterlose,<br />
eisenbeschlagene, unbrennbare und diebstahlsichere Stein- oder<br />
Lehmkuben, oft zentral positioniert und kostspieliger dekoriert<br />
als die übrigen Leichtbauten für das Alltagsleben.<br />
Verlustängste plagen jedoch nur den Besitzenden; sie werden<br />
dominant erst mit dem Zusammenleben, sei es in Familien<br />
oder anderen Kollektiven, insbesondere dort, wo mit Ackerbau<br />
und Tierzucht eine Haushaltung und das befestigte Wohnhaus<br />
unerlässlich werden. In der marokkanischen Kasbah wird<br />
gleich im Schatzhaus gewohnt: Dort drängen sich solide verriegelte<br />
Familienhöhlen entlang dunkler Gassen eng aneinander<br />
hinter den Festungsmauern der Siedlung: Deutlicher ist<br />
die Behausung als Angst- und Fluchtraum nicht darzustellen.<br />
(Zu meiner Verblüffung zeigt das Modell <strong>von</strong> Masdar-City, die<br />
jüngste, aber konkrete Utopie einer „Energie-Stadt <strong>von</strong> morgen“,<br />
dieselben Burg-in-Burg-Strukturen. Welche Furcht beherrscht<br />
wohl Abu Dhabis Architekten?) Ob Vorgänger oder Nachfolger<br />
des Schatzhauses, haben sich Seekisten, Tresore oder Koffer<br />
reisetüchtig bewährt; sie begleiten den Fahrenden als Obdachlosen<br />
noch, wenn er schon alle Schutzräume verlassen oder verloren<br />
hat, als Behälter letzter „Habseligkeiten“.<br />
rent a home<br />
Mit seinem – allzu oft zitierten – Diktum „Wohnen ist Bleiben“<br />
idealisierte ein stadtskeptischer Martin Heidegger seinen<br />
Rückblick auf schollengebundene Agrargesellschaften. Aber die<br />
menschlichen Wohnwirklichkeiten waren seit je entgrenzter, und<br />
Heimatgefühle sind ortlose Imaginationen, wie Ernst Bloch es<br />
44 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
wusste: „... so entsteht in der Welt etwas, was allen in die Kindheit<br />
scheint und worin noch niemand war: Heimat.“<br />
Unsere spät im 19. Jahrhundert erst einsetzenden Wohndiskurse<br />
wurden <strong>von</strong> Stadtbürgern Mitteleuropas geführt, also<br />
<strong>von</strong> den sesshaften Erben einer Kulturgeschichte, die Festigkeit<br />
und Dauerhaftigkeit als primäre Bautugenden schon mit<br />
Vitruvs firmitas festgeschrieben hatte. Hätten jedoch Eskimos,<br />
Indianer und Kirgisen an diesem Diskurs teilgenommen,<br />
wären Iglus, Zelte und Faltwerke sichtbar geworden als<br />
Ursprung und Idealkonstruktionen nomadischer Wohnweisen<br />
in transportablen Gehäusen.<br />
Der frühe Mensch war über Millionen <strong>von</strong> Jahren ein vagabundierender<br />
Nestflüchter, bevor er, erst vor zehn Jahrtausenden,<br />
zum sitzenden wurde. Kriege und ambulante Tätigkeiten<br />
– und heute die unsicheren Arbeitsmärkte – haben seit je Emigranten<br />
und Wanderarbeiter zum mehr oder weniger freiwilligen<br />
Umziehen genötigt. Alle Betroffenen behelfen sich wenn<br />
nicht mit Leihwohnungen, dann mit Unterkünften, die entweder<br />
gleich auf Rädern stehen oder als leichte Container beweglich<br />
sind. Es ist nicht zu übersehen, dass ein postindustrielles Nomadentum<br />
heute weltweit und klassenübergreifend anwächst – und<br />
mit ihm eine Renaissance ortloser Wohnkulturen. Auch die<br />
hartnäckigste Werbung der Möbelindustrie fürs cocooning und<br />
homing kann dem nicht gegensteuern. Ob indessen als Hausbesitzer<br />
oder als Mieter, jeder wird früher oder später zum Wohnungswechsler.<br />
Und weil sich in der städtischen Mietwohnung<br />
die größte Schnittmenge gegenwärtiger „Einwohner“ zusammenfindet,<br />
werden Wohn-Vagabunden zu den idealen Konsumenten<br />
der Einrichtungs-Industrie.<br />
Den Publikationen <strong>von</strong> Interieurs ist anzusehen, ob Architekten<br />
oder Designer ihre Urheber sind: Gewinnt der Erstere<br />
immer noch aus Sonne und Fenster Licht- und Schattenspiele,<br />
verhängt der Letztere alle Wandöffnungen, um zwischen<br />
Möbeln und Leuchten seine Bühnenbilder zu gestalten.<br />
Fenstergeschichten<br />
Suchen wir nach einer Schnittstelle, an der sich Licht und Wohnen<br />
begegnen, dann bietet sich naheliegend das Auge an, eine<br />
evolutionäre Gattungskonstante, die über Zeiten, Regionen<br />
und Kulturen hinweg uns im Sehvermögen verbindet – die<br />
optischen Täuschungen inbegriffen. Die populäre Metapher<br />
<strong>von</strong> den Fenstern als Augen des Hauses besitzt sprichwörtliche<br />
Weisheit, indem sie die Doppelaufgabe Ausblick und Lichtempfang<br />
ebenso treffend beschreibt wie die zweideutige Funktion,<br />
ein Innen und Außen sowohl zu trennen wie zu verbinden.<br />
Das Windauge (window) sagt zudem, dass es nicht nur Licht,<br />
sondern auch Wetteröffnung sein will – das heißt Grenzkontrolle<br />
über die Phänomene der Atmosphäre, die dem Wohnenden<br />
abwechselnd feindlich oder freundlich begegnen.<br />
Eine Belichtungstypologie – die noch nicht verfasst ist –<br />
würde sich ohne Frage aus zwei Baugeschichten bedienen: der<br />
zehntausendjährigen Anthropologie des Fensters und der erst<br />
200- jährigen Geschichte fortgeschrittener Lichttechniken. Es<br />
ist auffällig, dass Wohnbau-Architekten erst zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts dem Licht überhaupt Beachtung schenkten
Beatrice Minda inszeniert in<br />
klaren, atmosphärischen Bildern<br />
das einfallende Tageslicht als<br />
elementaren Bestandteil jeder<br />
Wohnung. Die <strong>von</strong> ihr fotografierten<br />
Räume strahlen eine große<br />
Ruhe aus. Caracal, 2003.<br />
45
Helles, überblendendes Tageslicht<br />
verleiht den <strong>von</strong> Beatrice<br />
Minda fotografierten Räumen<br />
eine ganz eigene Poesie.<br />
Sâmbăta, 2003.<br />
46 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
und erst zu dessen Mitte dies auch in Werken und Schriften<br />
ausdrückten. Keiner hat – soweit mein Wissen reicht – lichtbewusster<br />
reflektiert und entworfen als Louis Kahn. Hat er deswegen<br />
die bemerkenswertesten Fenster seiner Epoche erfunden<br />
– aber dem Kunstlicht so wenig wie möglich zugemutet? Vergleichbar<br />
kunstlichtscheu benahmen sich seine bekanntesten<br />
Vorgänger der Tageslicht-Baukunst: Frank Lloyd Wright und<br />
Le Corbusier. Der Erstere hat die alte gelochte Wohnkiste mit<br />
Sonne geflutet und zugleich ihre Bewohner um offene Feuerstellen<br />
versammelt, dem Letzteren ist jene oft zitierte Definition<br />
der <strong>Architektur</strong> als ein „genaues, wissendes und großartiges<br />
Spiel der Volumen unter dem Licht“ zu verdanken. Meist werden<br />
die drei Adjektive übersehen, obwohl ihnen wesentliche<br />
Bedeutung zukommt, wie eine andere Bemerkung Corbusiers<br />
belegt: Ein Fenster müsse in guter <strong>Architektur</strong> zu groß oder zu<br />
klein in Erscheinung treten; dort, wo es nur praktisch und richtig<br />
dimensioniert sei, handle es sich um ordinäres Bauen!<br />
Auch wenn für manche Baukünstler der Wohnbau eine<br />
Marginalie ist, erfüllen auch seine Fenster mehr als puren Helligkeitsbedarf.<br />
Erst als Instrument der Mehrdeutigkeit richtig<br />
verstanden, mutiert auch sein Belichtungsloch zum Übermittler<br />
vielsprachiger Lichtbotschaften.<br />
Gucklöcher<br />
Ein Kokon hat kein Fenster. Wenn der Schutz des Schlafs die<br />
erste Wohnungspflicht ist, wäre gute Dunkelheit ihr Lichtbedürfnis.<br />
Lichtgestaltung als Bedunkelung zu begreifen, ist kein<br />
absurder Gedanke angesichts der Belästigungen aus Stadtbeleuchtungen<br />
und einer hausgemachten light pollution, die aus<br />
Kunstlichtern des eigenen Interieurs droht.<br />
Genau genommen wünscht sich auch der Schlafende nicht<br />
absolute Finsternis; aber keine gedimmte Leuchte kann es aufnehmen<br />
mit einem Himmelsfenster, das in die nuancierten Dunkelheiten<br />
des Nachthimmels gerichtet ist. Ein Guckloch nach<br />
oben wäre das einzige Fenster, das der Leibwache gerecht würde.<br />
(Seit man auch Dächer durchlöchert, bietet sich das flächenbündige<br />
Dachfenster als Alleskönner an, folglich wird es zum Fenster<br />
ohne Eigenschaften: Ist es Lichtfänger oder Ausguck? Richtet<br />
es sich auf den Himmel oder auf die Straße? Belichtet es einen<br />
Arbeitsplatz oder bedunkelt es ein Bett?)<br />
Nicht jede Perforation einer Wand dient jedoch der Beleuchtung:<br />
Schon die erste war eine Schießscharte; und die zweite<br />
eine Klappe in oder neben der Eingangsluke, die wie der heute<br />
gebräuchliche Türspion zur Gesichtskontrolle des klopfenden<br />
Fremden diente. Alles ebenerdige und straßennahe Wohnen ist<br />
gefährdet, muss also seine Gucklöcher klein halten, vergittern<br />
und des Nachts mit soliden Läden verschließen. Die Bewohner<br />
niedriger Hofhäuser errichten sich deshalb den Mirador, der als<br />
Periskop und Hochsitz die Wohnfestung überragt.<br />
Erst in sicherer Höhe lässt sich das Guckloch vergrößern:<br />
Dann liefert es tiefe und breite Aussichten und streckt sich zum<br />
horizontalen Schlitz des Panoramafensters. Panoptische Schaulust,<br />
die nur dem abendländischen Wohncharakter bescheinigt<br />
wird, lässt dessen ganzes Haus zum Cockpit werden und jedes<br />
seiner Fenster zur Rahmung einer einverleibten Landschaft.<br />
Lichtfänger<br />
Erst Öffnungen über Augenhöhe werden zu effektiven Lichtfallen:<br />
Oberlichter und Glasdächer wenden sich dem hellsten<br />
Zenitlicht zu und lenken es in tiefer gelegene Räume. Wohnbauten<br />
waren lange Zeit durch hochformatige Vertikalschlitze<br />
geprägt, wohingegen Werkstätten und Ateliers ihren Lichtbedarf<br />
schon früh aus großflächigen Verglasungen deckten. Diese<br />
mussten freilich meist durch Vorhänge, Jalousien oder transluzente<br />
Anstriche vor zu viel Sonne oder Einblicken geschützt<br />
werden. Die Lichtfalle heißer Zonen, den Patio, nannte Jorge<br />
Luis Borges einen „Brunnen, durch den der Himmel ins Haus<br />
fällt“. Gruppiert sich die Wohngruppe um einen Hof, wird sie<br />
reich beschenkt mit Stern- und Wolkenbildern, Wassergüssen<br />
und einem Übermaß an Sonne, das dann unter Schirmen und<br />
Arkaden auf Schattenstärke gedimmt werden muss. Hier richtet<br />
also der Gemeinschaftsraum ein Riesenauge zum offenen<br />
Himmel, während sich Schlafplätze und Privaträume unter<br />
die Arkaden zurückziehen und ihre Gucklöcher nicht mehr<br />
nach draußen, sondern zur Mitte gerichtet sind.<br />
Wie den Grundriss wollte die funktionalistische Moderne<br />
auch einen Helligkeitsbedarf nach dem Gebrauch programmieren,<br />
mit dem Erfolg, dass unter Normierung und Multiplizierung<br />
auch die Befensterung in Stereotypie verfiel. Ein Gegenmittel<br />
hierzu ist die Multifunktionalität nicht nur zeitgenössischer<br />
Grundrisse, sondern auch der Fassaden, deren Entwerfer aus<br />
Angst vor falschen Fensterformen immer häufiger auf ganzverglaste<br />
Wohnwände ausweichen. Was Wunder, dass alte Spielarten<br />
beweglicher Verschattung wiederentdeckt und technisch<br />
perfektioniert werden: Indem der Bewohner Jalousien kippen<br />
und Läden verschieben, Transparenzen und Farben moderieren,<br />
zwischen Hell und Dunkel frei wählen kann, wird er zum<br />
selbstverantwortlichen Lichtgestalter seines Ambientes.<br />
Dazu kann die japanische Wohntradition nützliche Erfahrungen<br />
beitragen: Weil sie schon immer nur Mehrzweckräume<br />
kannte, hat sie die Lichtregie mithilfe raumhoher Schiebefenster<br />
und -türen schon lange Zeit erprobt, beherrscht den Wechsel<br />
zwischen transparenten, transluzenten und opaken Wänden,<br />
nutzt die Auskragungen und Einbuchtungen der Terrassen im<br />
Spiel mit der Sonne und nuanciert die Dunkelheit <strong>von</strong> tiefen<br />
Räumen durch Spiegelungs- oder Absorptionseffekte. 2<br />
Schaufenster<br />
Schon der Begriff des ‚Windauges’ besagt, dass nicht alle Fenster<br />
dem Lichteinfall dienen wollen. Viele bieten sich auch nur Blicken<br />
an nach draußen wie nach drinnen. Nicht bloß Kaufläden,<br />
auch Wohnungen brauchen Schaufenster: ein kleines dort vielleicht,<br />
wo sich das Egozentrum als Museum oder als Atelier dem<br />
Besucher öffnet; ein großes gewiss dort, wo sich das Wohnfoyer<br />
nach draußen präsentiert: Während sich hinter niederländischvorhanglosen<br />
Scheiben nur eine dekorative Wohnstube zeigt, hat<br />
der Villenbesitzer schon mehr auszustellen, und der urbane Single<br />
outet schon gern einmal seinen kompletten lifestyle durch die<br />
Ganzglaswand. (Was Wunder, dass Palladios Villa Rotonda, die<br />
auf ihren vier Schaubühnen nach allen Himmelsrichtungen Aus-<br />
und Einblicke theatralisch verbindet, zur panoptischen Ikone<br />
47
wurde.) Das definitive Glashaus – als Extremprodukt selten realisiert,<br />
aber übermäßig publiziert – ist der Höhepunkt nicht des<br />
Lichthungers, sondern der Exponierung. Seine scheinbaren Entgrenzungen<br />
müssen durch Distanzierung (also ein größtmögliches<br />
Grundstück) erkauft, die unvermeidlichen Schamgrenzen<br />
durch Verschleierungstechniken doch wieder errichtet werden.<br />
Ob also im exhibitionistischen Schaufenster des Terrariums oder<br />
als dekorative Verschleierungen eines orientalischen Harems: jede<br />
Wohnfassade wird nolens volens zur Werbefläche. Wenn im Hofhaus<br />
die Angst vor der Straße keine Vitrinen mehr erlaubt, wird<br />
die Ausstellung hinter die Türschwelle verlegt, wird der Hof zur<br />
Repräsentationszone. Noch die Fenster der jemenitischen Wohnung,<br />
obwohl zurückgezogen ins oberste Geschoss eines Turmes,<br />
bleiben plakativ, diesmal mit farbigsten Glasornamenten<br />
verschleiert, die zugleich sehr fernwirksam nach außen und bildkräftig<br />
nach innen strahlen.<br />
Terrarien<br />
Die Heilsbotschaft der Wohnreformer „Mehr Licht, Luft und<br />
Sonne“ zur Linderung der Wohnungsnot in der Hinterhöfen,<br />
und überhaupt die vielstimmigen Appelle für „mehr Natur“<br />
fanden auch in den Wohnetagen der Vorderhausbesitzer<br />
Gehör: Diese lüfteten und lichteten ihre nippes-überladenen<br />
Salons, bereicherten ihre Straßenfassaden mit Fenstertüren,<br />
Balkons, und Glasveranden, hinauf bis zu Dachgärten, die<br />
der Orangerie und dem Wintergarten des Adels nacheiferten.<br />
Erkundeten Wandervögel und Badetouristen die „freie“ Natur,<br />
dann holte sie der Hobbygärtner in Pflanztrögen, Aquarien<br />
und Volieren unter sein heimisches Glasdach.<br />
Daran hat sich ein Jahrhundert lang nur verändert, dass<br />
nach und nach auch die Mietwohnung Terrarien nachrüstete<br />
und zuletzt sogar die Vorstadtvilla – eigentlich schon im<br />
Grünen gelegen – ihre Kontaktzone um einen Wintergarten<br />
bereicherte: weniger des Gartens wegen – dem man ja schon<br />
auf der Wohnterrasse nahe war –, sondern um nicht zurückzufallen<br />
hinter den zeitgemäßen Trend, der jetzt hieß: Wohnökologie<br />
durch Sonnenenergie.<br />
Die Glaswand verspricht neuerdings vollends zum Stromkraftwerk<br />
zu werden und das Wohnen energetisch autark zu<br />
machen. Licht aus dieser Öffnung scheint nur noch ein Nebenprodukt<br />
der Wärmegewinnung, hat aber ungewollt segens-<br />
48<br />
reiche Folgen: Denn nicht zuletzt haben die Wohnterrarien<br />
– eigentlich als Biotope für Pflanzen und Tiere eingerichtet –<br />
dazu verholfen, biophysische Lichtwirkungen ernst zu nehmen,<br />
die auch den menschlichen Organismus schon immer steuerten,<br />
aber erst neuerdings als unentbehrlich erkannt sind.<br />
Eine abschließende Bemerkung zum Thema ‚Fenster‘: Besser<br />
als jede Vorlesung es könnte, illustriert Alfred Hitchcocks<br />
‚Fenster zum Hof‘ unser Thema – ein veritabler Lehrfilm, der<br />
über die Eventualitäten der Behausung und alle Eigenschaften<br />
der Befensterung erzählt, aber auch über die riskanten Abenteuer<br />
des Beobachtens und Beobachtetwerdens. Eine Reise<br />
um die Welt des Wohnens, des Sehens und der Lichtwirkungen<br />
in zwei Stunden!<br />
die genien des wohnlichts<br />
Ohne ihn ignorieren zu können, muss eine kurze thematische<br />
Skizze wie die vorliegende jenen 3000-jährigen Lichtdiskurs ausklammern,<br />
der <strong>von</strong> Philosophen und Physikern, <strong>von</strong> Psychologen<br />
und Künstlern, neuerdings <strong>von</strong> Neurologen und Informatikern<br />
geführt, eine gigantische Enzyklopädie des Spekulierens und<br />
Wissens hervorgebracht hat. Ebenso unerwähnt bleiben an dieser<br />
Stelle Theorien der Lichtarchitektur mit ihren symbolischen,<br />
ästhetischen und anwendungstechnischen Kapiteln. 4 Sogar Einstein<br />
hat einst sein Nichtwissen bekannt: „Den Rest meines<br />
Lebens werde ich noch darüber nachdenken, was Licht ist.“ Aber<br />
selbst der Ahnungsloseste kann mit- oder nachempfinden, was<br />
Licht bewirkt, zum Beispiel in seiner Wohnung:<br />
1. Von der ersten Höhle bis zu Frank Lloyd Wrights beispielgebenden<br />
Entwürfen hat sich Wohnen um Feuerstellen organisiert.<br />
Wenn die Beleuchtung dabei auch kein Hauptmotiv<br />
war, dann doch eine Nebenerscheinung, die sich erst seit<br />
der Elektrifizierung <strong>von</strong> der offenen Flamme verabschiedet<br />
hat. Seit mehr als einer Million Jahren soll der Mensch nun<br />
schon am Feuer wohnen; das kalte Licht der Entladungslampen<br />
bescheint ihn noch kein Jahrhundert. Als transportable<br />
Wärmequelle erlaubte das Feuer den frühen Emigranten,<br />
auch kältere Regionen zu besiedeln: ihr erstes controlled environment<br />
war nicht nur regendicht, sondern auch beheizbar,<br />
und ein wohltuendes Nebenprodukt des Herdfeuers, das erste<br />
Kunstlicht, beleuchtete ihre Unterkünfte, lange bevor diese<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
ein Fenster erhielten. Sonnen- und Feuererfahrungen haben<br />
in unserer Wahrnehmung eine stabile Licht-Wärme-Kopplung<br />
geschaffen, an der auch die spürbare Abkühlung in moderneren<br />
Leuchtmitteln nichts ändern wird, weil unser Körper<br />
sie täglich wieder beglaubigt (und die noch in der Glühbirne<br />
nachfühlbar bleibt). „Licht ist der Genius des Feuerprozesses;<br />
Licht macht Feuer!“, folgert Novalis geheimnisvoll. Mit Feuerkontrolle<br />
beginnt die Genese menschlicher Techniken, und<br />
mit neuen Lichteinsätzen auf elektronischen und nanotechnischen<br />
Terrains hat eine Zukunft schon begonnen, die eine<br />
photonische zu werden verspricht. Dem ältesten Genius lucis<br />
werden wir dann nur noch in Kerzenflammen und Kaminfeuern<br />
begegnen.<br />
2. War unser Lichtbewusstsein lange Zeit besetzt und abgelenkt<br />
<strong>von</strong> den optischen Faszinationen des Sehens und Belichtens<br />
(und <strong>von</strong> den Techniken der Aufhellung), richtet es sich<br />
nun mehr und mehr auf den invasiven Dialog des Mediums<br />
mit unserem Körper, anders gesagt auf die Regieanweisungen<br />
der Sonne. Aufgeschreckt <strong>von</strong> neurologischen Befunden<br />
zur menschlichen Willensschwäche, fühlen wir deutlicher den<br />
altbekannten, aber neu benannten circadianen Lichtzwang,<br />
der unserer Verhaltensfreiheit Zeitgrenzen setzt und den Profiteuren<br />
des 24-Stunden-Tags Sorgen bereitet. Mich befriedigen<br />
dagegen die taktgebenden Devisen, setzen sie doch dem<br />
derzeit meistgenannten Übel der Menschheit, der Beschleunigung,<br />
eine stabilisierende Heliotherapie entgegen.<br />
Aus jüngeren physiologischen Forschungsergebnissen<br />
erfahren wir, welch immense Kontroll- und Steuerungsaufgaben<br />
über unser hormonelles und vegetatives Wohlergehen<br />
den Himmelslichtern obliegen. Eine neue somatische<br />
Rolle des Lichts wird seiner optischen Bedeutung ebenbürtig.<br />
Zuerst unbeabsichtigt, ist mit dem Erfolg der Terrarien<br />
nicht bloß ein Fenster zur äußeren Natur geöffnet worden,<br />
sondern auch eines zum Inneren unseres Körpers: Wohnen<br />
unter Tageslicht ist ein Mittel der Selbsterhaltung, seit wir wissen,<br />
dass wir nichts Besseres tun können, als diesem Genius<br />
auch unsere lichthungrige Epidermis so oft und so lange wie<br />
möglich auszusetzen. Glücklich der Eigenbrötler, der sein<br />
privates Refugium als Biosolarium des Echtlichts einrichten<br />
könnte. Rousseaus „Zurück zur Natur“ erhält ein weiteres<br />
In Beatrice Mindas Fotografien<br />
stehen Innenräume als Platzhalter<br />
für den Wunsch nach Rückzug,<br />
Intimität und Heimat. Links:<br />
Tomnatic, 2004, rechts: Massy-<br />
Palaiseau, 2005.<br />
Mal neue Argumente (deren Weisheit letzter Schluss freilich<br />
wäre, nur noch bei Tageslicht zu arbeiten).<br />
3. Ein geografisch fixierter, also schon deshalb einzigartiger Ort<br />
beherbergt ohne Frage jenen Genius loci, der <strong>von</strong> Erdgeschichte,<br />
Klima oder Bautraditionen geprägt einen exklusiven Charakter<br />
besitzt. Sein blauer oder besternter Himmel, seine Sonnenauf-<br />
und -untergänge, seine Bewölkungen oder Gewitterblitze<br />
kennzeichnen ihn nicht: Er teilt sie mit unzähligen Bauorten<br />
bewohnbarer Erdstriche. Alles Bauen besteht in der Errichtung<br />
<strong>von</strong> Grenzen: Belichtung und Durchleuchtung sind Grenzverletzungen;<br />
alles Bauen formt schwere und reglose Gebilde. Lichter<br />
sind Mobilmacher und Verwandler, also gewiss Widerspruchsgeister<br />
des Bauens, aber damit keine Widersacher des Wohnens.<br />
Sie gehören zur Klasse der medialen Erreger, die eine immobile<br />
und stumme Baumasse mit Anmutungen aufladen: mit jenen<br />
unwägbaren ‚atmosphärischen’ Licht-, Farb-, Temperatur-, Klang-<br />
oder Geruchswirkungen, die zum behaglich gestimmten Raum<br />
mehr beitragen als die Formsprachen der Geometrie und Proportion,<br />
der Materialien und Designs. Als ein Unruhestifter macht<br />
der Genius lucis auch dem Erdverbundenen Mut zur Bewegungsfreiheit:<br />
Benötigt ein künstliches Habitat auch Grenzschutz, so<br />
dürfen seine Wände doch nicht allzu schwer sein und müssen<br />
versetzbar bleiben auf der Oberfläche unseres Heimatplaneten.<br />
Immerhin begleiten uns dessen verlässliche Feuer- und Sonnenlichter<br />
nach überallhin, und dies als kostenlose Wohngüter, die<br />
sich jeder Privatisierung und Privilegierung verweigern.<br />
Gerhard Auer (1938) studierte <strong>Architektur</strong> an der Universität Stuttgart und ist seit<br />
1967 als selbstständiger Architekt tätig. Von 1980 bis 2004 hatte er eine Professur für<br />
Entwerfen an der TU Braunschweig inne. Seit den 80er-Jahren befasst er sich intensiv<br />
mit der Theorie und Praxis des Lichts in der <strong>Architektur</strong> und im Stadtraum.<br />
www.gerhardauer.de<br />
Fußnoten<br />
1. Eine Ausnahme: „LichtEinfall“ <strong>von</strong> Michelle Corrodi und Klaus Spechtenhauser<br />
(Birkhäuser, 2008)<br />
2. Siehe auch Junichiro Tanizaki „Lob des Schattens“ (Manesse, 1987<br />
3. Beste interdisziplinäre Studie: Arthur Zajonc: „Die gemeinsame Geschichte <strong>von</strong><br />
Licht und Bewusstsein” (Rowohlt 1994)<br />
4. Siehe hierzu u. a. die Publikationen unter www.gerhardauer.de<br />
49
TAGESLICHT IM<br />
DETAIL<br />
Genauer hinsehen: Wie Tageslicht<br />
in Gebäude gelangt.<br />
INNENLICHT UND<br />
AUSSENWELT<br />
50 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
FOTOGRAFIE VON BJÖRN KUSOFFSKY
Von Nick Baker<br />
Im Laufe der Jahrhunderte hat uns die <strong>Architektur</strong><br />
immer mehr <strong>von</strong> der Natur und ihren Licht- und<br />
Temperaturschwankungen abgeschottet. Wissenschaftliche<br />
Untersuchungen belegen jedoch, dass der<br />
Mensch weitaus anpassungsfähiger ist, als in den<br />
geltenden Normen und Regelwerken angenommen.<br />
Diese Erkenntnis kann nicht nur zum Bau gesünderer<br />
Häuser beitragen, sondern auch Energie sparen und<br />
die CO 2 -Emissionen einschränken.<br />
einleitung<br />
Obwohl wir 95 Prozent unserer Zeit drinnen verbringen,<br />
kommen wir eigentlich aus der Natur. Der Ursprung unserer<br />
heutigen Gene liegt in Wiesen, Wald und Bergen, nicht in<br />
klimatisierten Schlafzimmern oder ergonomischen Arbeitsplätzen.<br />
Die außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit des Menschen<br />
an seine natürliche Umgebung ermöglichte ein Leben<br />
<strong>von</strong> der Subarktis bis zum Äquator lange vor unserer Abhängigkeit<br />
<strong>von</strong> fossilen Brennstoffen.<br />
Das Sehen spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Jahrtausendelang<br />
konnten wir nur bei Tageslicht sehen, was unseren<br />
Tagesablauf <strong>von</strong> Arbeit, Erholung und Spiel bestimmte.<br />
Die spektrale Sensitivität unseres Auges ist nahezu perfekt auf<br />
das Solarspektrum abgestimmt; wir können millionenfache<br />
Helligkeitsgrade zwischen Sonnen- und Sternenlicht unterscheiden.<br />
Man kann durchaus behaupten, dass das Tageslicht<br />
uns fundamental und genetisch prägt. Im Folgenden werde<br />
ich erläutern, wie wir auf unser modernes Wohnumfeld reagieren,<br />
das sich weitaus mehr <strong>von</strong> unseren primitiven Ursprüngen<br />
unterscheidet als die heutigen Sozial- und Familienstrukturen.<br />
Insbesondere beschäftigen wir uns mit der psychologischen und<br />
physiologischen Reaktion auf Tageslicht, dem verminderten<br />
Tageslicht in Gebäuden und mit Technologien, die angesichts<br />
unseres mittlerweile besorgniserregenden Energieverbrauchs<br />
wieder vermehrt auf das Tageslicht zurückgreifen.<br />
tageslicht in innenräumen<br />
Historisch gesehen gab es bis weit ins 20. Jahrhundert kaum eine<br />
Alternative zum Tageslicht. Künstliche Beleuchtung war teuer: In<br />
1900 kostete jedes Lumen etwa 300-mal mehr als heute. Außerdem<br />
war künstliches Licht ungesund – Gas- und Öldämpfe<br />
wirkten sich verheerend auf die Luftqualität aus – und gefährlich<br />
– vermutlich die größte Brandursache überhaupt. Daher betrachtete<br />
man künstliches Licht als notwendiges Übel in den Nachtstunden,<br />
und niemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zog<br />
künstliche Beleuchtung am Tage auch nur in Erwägung. Sogar<br />
das elektrische Licht, 1870 erfunden, konnte sich erst nach etwa<br />
fünfzig Jahren durchsetzen, blieb aber teuer wegen der technischen<br />
Grenzen der Glühlampe. Bis in die 50er-Jahre orientierte<br />
man sich bei der Gebäude- und Stadtplanung maßgeblich am<br />
Einfluss des Tageslichts.<br />
Links 95 Prozent seiner Zeit<br />
verbringt der moderne Mensch<br />
heute in geschlossenen Räumen<br />
– die Elektrifizierung nimmt<br />
einen hohen Anteil an fossiler<br />
Energie in Anspruch. Dem<br />
Tageslicht bleibt im menschlichen<br />
Alltag nur noch eine<br />
Neben rolle zugewiesen.<br />
Mit Erfindung der Leuchtstoffröhre setzte sich künstliches<br />
Licht allmählich als mögliche Alternative zum Tageslicht<br />
durch. Höhere Leuchtkraft und billigerer Strom kamen dem<br />
neuen Ideal <strong>von</strong> größeren, dunkleren Flachbauten entgegen.<br />
Mit mechanischer Belüftung und Neonlicht ließ sich dieser<br />
Traum verwirklichen.<br />
Andere technische Weiterentwicklungen in jener Zeit<br />
führten zur recht preisgünstigen Massenherstellung großer<br />
Glasscheiben mit entsprechenden Rahmenstrukturen. Gute<br />
Neuigkeiten für das Tageslicht, sollte man denken, doch ironischerweise<br />
bewirkten solche Glasfassaden (siehe Abb. 1) häufig<br />
eine schlechte Lichtverteilung in den Räumen aufgrund hoher<br />
Unterschiede in der Beleuchtungsstärke. Sie bedurften daher<br />
einer permanenten künstlichen Zusatzbeleuchtung, um dies<br />
zu korrigieren. Zudem erwiesen sich die großen Glasflächen<br />
sommers wie winters als nachteilig für den Wärmekomfort,<br />
sodass viele Architekten kleine Fenster bevorzugten und sich<br />
zu 100 % auf künstliches Licht verließen. Das ‚dunkle Zeitalter<br />
des Neonlichts‘ brach an (Abb. 2).<br />
Heute, fünfzig Jahre später, messen wir dem Energieverbrauch<br />
angesichts des hohen CO2-Ausstoßes und der<br />
Erderwärmung wieder verstärkt Bedeutung bei. Trotz einschneidender<br />
Verbesserungen der Leuchtwirkung <strong>von</strong> Lichtquellen<br />
– ein zentrales Anliegen im letzten Jahrhundert – ist<br />
und bleibt künstliches Licht wesentlicher Mitverursacher der<br />
CO2-Emissionen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die<br />
Nutzung künstlichen Lichts bei angemessenem Tageslicht<br />
mindestens zu 50 % als überflüssig. So groß die Fortschritte<br />
in der Entwicklung <strong>von</strong> Lichtsteuerungen auch sein mögen<br />
– es ist an der Zeit, sich wieder auf den technischen Wert des<br />
Tageslichts zu besinnen.<br />
tageslicht im haus<br />
Der Lichtplanung wird vor allem in Geschäfts- und Bürogebäuden<br />
große Aufmerksamkeit geschenkt, erstens vermutlich,<br />
weil diese überwiegend am Tag genutzt werden, und zweitens,<br />
weil der Bauherr Wert legt auf ein komfortables und produktives<br />
Umfeld. Wohnhäuser hingegen werden sowohl nachts als<br />
auch tagsüber genutzt und deutlich stärker <strong>von</strong> den Bewohnern<br />
kontrolliert. Zudem lassen sich die meist kleineren Räume<br />
relativ problemlos auf natürliche Weise beleuchten. Dennoch<br />
51
gibt es zum Beispiel in Großbritannien schon länger Empfehlungen<br />
bzw. verbindliche Vorschriften für den Tageslichtfaktor:<br />
mindestens 2 % für Küchen, 1,5 % für Wohnzimmer und<br />
1 % für Schlafzimmer.<br />
Aber nicht nur die Gestaltung <strong>von</strong> Raum und Fenster beeinflusst<br />
das verfügbare Tageslicht. Die Städteplanung wirkt sich<br />
auf das verfügbare Tageslicht an der Gebäudehülle aus. Nachdem<br />
man lange vorzugsweise Städte mit geringer Wohndichte<br />
baute, plädieren viele heute aus Gründen der Energieeffizienz<br />
wieder für eine hohe Dichte. Bei einer Dichte <strong>von</strong> 50 bis 100<br />
Wohneinheiten pro Hektar lässt sich das geforderte Tageslichtniveau<br />
jedoch nur schwierig erreichen. Abb. 3 illustriert eine<br />
Studie zu einem neuen Entwicklungsgebiet in Leicester (GB).<br />
Dabei wurde in einem dreidimensionalen digitalen Modell der<br />
Sky View Factor (SVF) aufgezeichnet. Diese Größe misst die<br />
Sonnenexposition an einem bestimmten Punkt und ist somit<br />
Indikator für das Tageslichtpotenzial dort und im angrenzenden<br />
Raum. Interessanterweise variierte der SVF aufgrund der heterogenen<br />
Gebäudeformen sehr stark; dies ließ sich aber größtenteils<br />
durch individuelle Designlösungen ausgleichen. Eine hohe<br />
Wohndichte erfordert zweifellos großen Einfallsreichtum <strong>von</strong><br />
Architekten und Baustofffabrikanten. Fundierte Kenntnisse der<br />
Physik des Tageslichts sind hierfür unerlässlich.<br />
umweltkomfort<br />
Unser moderner ‚Indoor-Lifestyle‘ verbraucht Unmengen an<br />
fossiler Energie, um uns <strong>von</strong> der Natur abzugrenzen, aus der<br />
wir stammen. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Heizung und<br />
Kühlung unserer Gebäude: Temperaturschwankungen – so das<br />
gängige Credo – sind um jeden Preis zu vermeiden. Das Ziel ist<br />
eine optimale Umgebung‘ mit Komfortgarantie und Selbstregulierung<br />
ohne Eingreifen des Bewohners. Diese Anforderungen,<br />
die weitgehend auf Studien zum menschlichen Wohlbefinden in<br />
Klimakammern beruhen, werden nun in Frage gestellt. Neueste<br />
Erkenntnisse besagen, dass die Menschen nicht-neutrale Bedingungen<br />
in realen Gebäuden viel besser tolerieren, dass es ohnehin<br />
keine optimale Umgebung gibt und dass die meisten Menschen<br />
eine mögliche Regulierung zur Anpassung an nicht-neutrales<br />
Empfinden (Adaptionsmöglichkeit) bevorzugen. Dieser neue,<br />
als adaptive Komforttheorie bezeichnete Ansatz geht da<strong>von</strong> aus,<br />
dass Häuser auch mit weniger technischen Finessen akzeptiert<br />
werden, was wiederum zu beträchtlichen Energieeinsparungen<br />
führt. Ähnliches gilt für die Beleuchtung <strong>von</strong> Gebäuden: Die<br />
52 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Mit einer erhöhten Sensibilität<br />
für ökologische und energiewirtschaftliche<br />
Zusammenhänge<br />
sollte auch dem Tageslicht eine<br />
größere Bedeutung beigemessen<br />
werden. Licht und die Nähe zur<br />
Natur haben einen nicht zu unterschätzenden<br />
Einfluss auf unsere<br />
Gesundheit.<br />
manische Fixierung auf Beleuchtungsgrade und andere technische<br />
Messgrößen erschwert es, die anerkannten Standards allein<br />
mit Tageslicht zu erfüllen. In Leistungsverzeichnissen dreht sich<br />
alles um künstliches Licht, das Tageslicht wird bestenfalls als<br />
ästhetische Option betrachtet. Bei stets verfügbarem künstlichem<br />
Licht wird die Frage, ob ein Gebäude <strong>von</strong> Sonnenlicht<br />
durchflutet ist, irrelevant. Wir haben dies in einigen modernen<br />
Bibliotheken, die <strong>von</strong> der Presse wegen ihres guten Tageslichtdesigns<br />
allseits gelobt worden waren (Abb. 4), konkret erlebt.<br />
Als wir bei klaren Wetterverhältnissen den Bibliothekar fragten,<br />
ob er das Licht ausschalten könne, wurde dies meistens aus<br />
Gründen der „Gesundheit und Sicherheit“ verneint!<br />
tageslicht, aussicht und natur<br />
Die adaptive Komforttheorie besagt, dass die Menschen gegenüber<br />
Veränderungen in der Umwelt eine weitaus größere Toleranz<br />
beweisen, als Labortests vermuten lassen. Dies wurde am<br />
Beispiel des Wärmekomforts umfassend demonstriert. Tatsächlich<br />
gibt es Belege dafür, dass der Mensch auf nicht-neutrale<br />
Stimuli positiv reagiert, wenn deren Ursache als natürlich<br />
erkannt wird. Lisa Heschong hat dies 1979 in ihrem Buch<br />
‚Thermal Delight in <strong>Architecture</strong>‘ beschrieben. Lässt sich dieses<br />
Prinzip auch auf das Licht anwenden?<br />
Unsere Lichtempfindlichkeit unterscheidet sich <strong>von</strong> unserem<br />
Wärmeempfinden. Licht als solches ist selten lebensbedrohlich.<br />
Trotzdem kann es in seiner Rolle als Informationsträger<br />
durchaus lebensnotwendig sein. Natürliches Licht signalisiert<br />
den täglichen Zyklus <strong>von</strong> Ruhe- und Schaffensphase und ist<br />
sozusagen lebenserhaltende Maßnahme.<br />
Aber lassen sich ähnliche Reaktionen auf das Licht wie<br />
auf die Wärme feststellen? Parpairi kam in ihrer Studie in<br />
Cambridge zu einem unerwarteten Ergebnis. Sie untersuchte<br />
die Reaktionen der Benutzer diverser Universitätsbibliotheken<br />
auf unterschiedliche Tageslichtverhältnisse. Abb. 5 zeigt<br />
zwei Fälle: Zum einen eine Arbeitskabine mit qualitativ hochwertiger<br />
technischer Beleuchtung (blendfreies diffuses Licht<br />
ohne störende Kontraste), zum anderen einen Arbeitsplatz am<br />
Fenster, wo die Lichtbedingungen je nach Wetterverhältnissen<br />
stark variieren, insbesondere bei Sonnenschein.<br />
Die Studie zeigt, dass die zweite Situation bevorzugt wurde.<br />
Die Benutzer genossen die sonnige Aussicht auf den Fluss Cam;<br />
wurde die Blendwirkung zu stark, konnten sie sich in den schattigen<br />
Teil des Raums zurückziehen. Das Gebäude bot adap-
53<br />
FOTOGRAFIE VON BJÖRN KUSOFFSKY
tive Möglichkeiten, und trotz der starken Stimuli natürlichen<br />
Ursprungs fühlten sich die Benutzer sehr wohl. Zwar weist dieser<br />
Fall Parallelen zu verstärktem Wohlbefinden bei natürlich stimulierter<br />
Wärme auf, ist aber wegen der viel größeren Kapazität<br />
des Lichts als Informationsträger deutlich komplexer. Man kann<br />
nur mutmaßen, ob das Ergebnis dasselbe gewesen wäre, hätte<br />
man die idyllische Flusslandschaft durch einen Parkplatz oder<br />
eine Müllhalde ersetzt. Natürlich ist die übermittelte Information<br />
wichtig, auch wenn sie nichts mit der zentralen Aufgabe<br />
zu tun hat. Hier geht es um Atmosphären, und offenbar<br />
wird eine natürliche Atmosphäre sehr geschätzt.<br />
Ulrich untersuchte in einer bemerkenswerten und viel<br />
zitierten Studie den Einfluss eines Naturausblicks auf Patienten<br />
nach einer Operation. Die Patienten mit Aussicht auf<br />
eine Naturlandschaft mit Bäumen in einiger Ferne erholten<br />
sich nachgewiesenermaßen rascher als diejenigen mit Blick<br />
auf eine blanke Wand (Tabelle 1).<br />
Eine auf offizielle Schulleistungstests gestützte Studie der<br />
Heschong Mahone Group in den USA ergab, dass sich der jährliche<br />
Lernfortschritt in Mathematik und Englisch bei 8- bis 10-jährigen<br />
Schülern in Räumen mit natürlichem Lichteinfall <strong>von</strong> 6 %<br />
auf 26 % steigerte. Dieser Effekt wurde bereits dort festgestellt,<br />
wo das Tageslicht nur durch diffuse Lichtschächte einfiel; die<br />
größten Fortschritte aber wurden erzielt, wenn das Tageslicht<br />
auch durch Fenster hereinkam. Zuletzt ein Faktum, das wir<br />
alle kennen. Wie oft sieht man, dass jemand in einem natürlich<br />
beleuchteten Raum auch beim schwindenden Tageslicht gegen<br />
Abend zu lesen fortfährt? Mit Hilfe protokollierter Messungen<br />
der Lichtstärke im Raum bestimmten wir den Schwellenwert,<br />
an dem künstliche Beleuchtung eingeschaltet wird. Das Ergebnis<br />
war verblüffend: Die typischen Werte bewegten sich um nur<br />
70 Lux und waren somit 4- bis 5-mal niedriger als die Standardlichtstärke<br />
für künstliches Licht. Eine so geringe Lichtmenge<br />
würden wir bei künstlichem Licht niemals tolerieren (höchstens<br />
in einem romantischen Restaurant). Dies bestätigt erneut<br />
unsere Toleranz gegenüber den Veränderungen unserer Umgebung,<br />
sofern diese natürlichen Ursprungs sind.<br />
das fenster zur welt<br />
Tageslicht hat viele wertvolle technische Eigenschaften – als<br />
freie Quelle sichtbarer Strahlung mit einzigartigem Farbspektrum<br />
und wichtigen physiologischen Funktionen. Die zuvor<br />
beschriebenen Fallstudien scheinen zu belegen, dass die vom<br />
54 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Tageslicht transportierten Informationen allerdings auch <strong>von</strong><br />
psychologischer Bedeutung sein können.<br />
Moderne Technik macht es möglich, künstliches Licht<br />
zu erzeugen, dessen spektrale Eigenschaften sich nicht vom<br />
Tageslicht unterscheiden und dessen Intensität variiert werden<br />
kann, um den natürlichen Verlauf des Sonnenlichts zu<br />
imitieren. Würde dieses Licht aber durch eine konventionelle<br />
Leuchte mitten im Raum geliefert, hätte es dann dieselbe<br />
Wertigkeit wie Tageslicht? Gehen wir einen Schritt weiter:<br />
Angenommen, bei dem Licht handelte es sich tatsächlich um<br />
Tageslicht, das durch Spiegel und lichtleitende Elemente zugeführt<br />
wird, wäre es dann gleichwertig?<br />
Stellen wir uns ein recht großes Fenster mit Ausblick auf<br />
den Himmel, ein paar Bäume und die nähere Umgebung<br />
vor. Das Tageslicht fällt auf die hellen Außenleibungen und<br />
Fensterbänke und erleichtert dem Auge den Übergang <strong>von</strong><br />
der sanften Raumbeleuchtung zum hellen Himmel mit weißen<br />
Wolken. Nehmen wir weiterhin an, dass die Person im<br />
Raum das Fenster öffnet, um eine Verbindung herzustellen<br />
zur frischen Luft und zu den Gerüchen und Geräuschen der<br />
Außenwelt. Keine Frage – der Wert des Lichts hängt <strong>von</strong> dessen<br />
Ursprung ebenso ab wie <strong>von</strong> seinen immanenten Eigenschaften.<br />
Das Gesamtpaket, das das Fenster zu bieten hat,<br />
ist wertvoller als die Summe der einzelnen Teile. Die Funktion<br />
<strong>von</strong> Tageslicht und natürlicher Belüftung zu unterbinden,<br />
mag im Sinne technischer Kontrolle attraktiv sein, wird<br />
aber niemals mit den Vorzügen eines simplen Fensters konkurrieren<br />
können (Abb. 6).<br />
schlussfolgerungen<br />
Unsere Gene sind ein Produkt der Außenwelt, doch mit der<br />
Zeit haben wir unser Leben nach innen verlagert und versuchen,<br />
Innenräume vom ständigen Wechselspiel der Natur zu<br />
isolieren. Für die meisten <strong>von</strong> uns, deren Leben sich überwiegend<br />
drinnen abspielt, ist das Fenster die letzte Verbindung<br />
zur Natur. Kaum verwunderlich also, dass den Fenstern <strong>von</strong><br />
den Architekten in der Vergangenheit so viel Bedeutung beigemessen<br />
wurde. Nun aber laufen wir Gefahr, trotz all unserer<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Mittel<br />
den Wert des Fensters für Gesundheit und Wohlbefinden zu<br />
vergessen. Absurderweise tragen wir durch den Bau <strong>von</strong> überwiegend<br />
künstlich beleuchteten Häusern auch noch zur Krise<br />
der Erderwärmung bei.
1. Eine vollverglaste Fassade aus<br />
den Sechziger Jahren –<br />
Universität Delft, Niederlande.<br />
2. Im Mittelalter der Lichtkultur –<br />
der Kalamazoo-Firmensitz,<br />
England, ein Beispiel für die<br />
Abschaffung des Tageslichts in<br />
den siebziger Jahren.<br />
1.<br />
3. Eine Sky View Factor (SVF)<br />
Karte eines geplanten Wohngebiets<br />
mit dichter Bebauung<br />
in Leicester (GB). (Die SVFs<br />
auf Bodenhöhe an den Stellen<br />
1–7 betrugen 0,32, 0,11, 0,39,<br />
0,21, 0,42, 0,17 bzw. 0,09 und<br />
sind Indikator für unterschiedlich<br />
starke Überschattung. Anmerkung:<br />
Der maximale SVF<br />
einer senkrechten Fassade beträgt<br />
0,5.)<br />
Tabelle 1:<br />
Art des Dosisanzahl<br />
Schmerzmittels Wandgruppe Baumgruppe<br />
Stark 2.48 0.96<br />
Mittel 3.65 1.74<br />
Schwach 2.57 5.39<br />
Vergleich der erforderlichen Schmerzmittelmenge für Patienten mit Wandblick<br />
bzw. Aussicht auf Bäume; 46 Patienten zwischen 2 und 5 Tagen nach der<br />
Operation (Quelle: R. S. Ulrich).<br />
Fußnoten<br />
1. Laut Schätzungen verursacht die Beleuchtung in Großbritannien<br />
11 % des CO2-Ausstoßes des gesamten Häuserbestands und erreicht<br />
sogar 30 % bei öffentlichen und Geschäftsgebäuden.<br />
2. Der Tageslichtfaktor (DF) bezeichnet das Verhältnis des Beleuchtungsgrads<br />
an einem bestimmten Punkt im Haus zu demjenigen außerhalb<br />
des Gebäudes. Die typischen Werte liegen zwischen 1 und 10 %.<br />
4. Die Bibliothek in Peckham,<br />
England. Sogar in der Nähe der<br />
Fenster bleibt das elektrische<br />
Licht eingeschaltet – „aus<br />
Gesundheits- und Sicherheitsgründen”.<br />
5. Die Bibliotheken des Jesus<br />
College (a) und des Darwin<br />
College (b) in Cambridge zeigen<br />
ganz unterschiedliche<br />
Tageslicht umgebungen.<br />
2. 3. 4.<br />
5a. 5b. 6.<br />
6. Das herkömmliche Fenster<br />
bietet zugleich Tageslicht,<br />
Lüftung und Aussicht.<br />
Nick Baker studierte zunächst Physik, wechselte dann aber zur <strong>Architektur</strong><br />
und arbeitet in Bildung, Forschung und Beratung. Er veröffentlichte diverse<br />
Studien zu den Themen Energieverbrauch in Gebäuden, Wärmekomfort und<br />
Tageslicht und ist Co-Autor des Buchs ‚<strong>Daylight</strong>ing Design of Buildings‘ (James<br />
and James, London, 2002). Derzeit arbeitet er als Tutor und wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter an der <strong>Architektur</strong>fakultät der Universität Cambridge.<br />
Literaturhinweise<br />
Heschong, L. Thermal Delight in <strong>Architecture</strong>, The MIT Press, 1979<br />
Schiller, G.E., A comparison between measured and predicted<br />
comfort in office buildings<br />
Parpairi, K. <strong>Daylight</strong>ing in <strong>Architecture</strong> – Quality and User Preference.<br />
PhD Thesis. Univ Cambridge, 1999<br />
Ulrich, R S. View through a Window may influence Recovery<br />
from Surgery. Science 224, 1984<br />
Robson, E R., School <strong>Architecture</strong>, Leicester University Press (1972) 1874<br />
Heschong Mahone Group., <strong>Daylight</strong>ing in schools.<br />
California Board of Energy Efficiency, 1999<br />
55<br />
FOTO: ROBERT HARDING PICTURE LIBRARY
<strong>VELUX</strong> EINBLICKE <strong>Architektur</strong> für Menschen –<br />
gebaut mit <strong>VELUX</strong>.<br />
DISKRETER<br />
NACHBAR<br />
Wohnhaus in Randalstown<br />
Von Jakob Schoof<br />
Fotos: Alan Jones<br />
Grün die Wiesen, grau die Städte und der Wolkenhimmel<br />
– dieser Farbklang hat die Landschaft Nordirlands<br />
seit jeher bestimmt und tut es bis heute. Alan<br />
Jones‘ Wohnhaus in Randalstown fügt sich nahtlos in<br />
dieses Bild: Mit seiner schwarzen Faserzementverkleidung<br />
könnte das Gebäude auch als Scheune oder<br />
Gemeindehalle durchgehen. Seinen wohnlichen<br />
Charakter entfaltet es – auf überraschende und<br />
virtuose Art und Weise – erst im Inneren.
”Was heißt das, eine <strong>Architektur</strong> mit einer bestimmten Region<br />
im Hinterkopf zu schaffen, bei der es sich in diesem Fall um<br />
Ulster handelt? Welche Schlussfolgerungen und Fragen<br />
ergeben sich daraus?<br />
Wir legen großen Wert darauf, unsere <strong>Architektur</strong> so zu<br />
interpretieren, da neue politische Wege einer soliden Basis<br />
bedürfen, um erfolgreich zu sein – und nichts ist so permanent<br />
und wahrhaftig fundiert wie ein Bauwerk.”<br />
David Brett und Alan Jones in „Toward an <strong>Architecture</strong>”:<br />
Ulster. Black Square Books 2007<br />
Vorherige Seite Nebel verhüllt<br />
den Friedhof der presbyterianischen<br />
Kirche <strong>von</strong> Randalstown.<br />
Das Wohnhaus der Familie Jones<br />
ist aus dieser Perspektive nur als<br />
große, fensterlose Silhouette zu<br />
erkennen.<br />
Oben Erste Entwurfsskizzen,<br />
die die Kubatur des Hauses klären.<br />
Primäre Frage während des<br />
Entwurfs war für Alan Jones,<br />
wie sich das Haus äußerlich in<br />
seine Umgebung aus öffentlichen<br />
Gebäuden einfügen würde und<br />
gleichzeitig im Inneren der Familie<br />
Privatheit bieten könnte.<br />
Rechts Während sich das Haus<br />
der Familie Jones zur Straße hin<br />
geschlossen und optisch ruhig<br />
präsentiert, öffnet es sich auf der<br />
Ostseite mit vier traufhohen,<br />
schräg ausgestellten Erkern dem<br />
<strong>von</strong> Süden einfallenden Tageslicht.<br />
Wenn Wohnhäuser physische Größe zeigen,<br />
so ist dies meist eher dem Komfort- und<br />
Repräsentationsbedürfnis ihrer Bewohner<br />
geschuldet als der städtebaulichen Notwendigkeit.<br />
Mit anderen Worten: Häuser wirken<br />
heutzutage in den allermeisten Fällen eher<br />
zu groß als zu klein für ihr Umfeld. Von Alan<br />
Jones‘ Haus im nordirischen Randalstown<br />
lässt sich dies trotz seiner Grundfläche <strong>von</strong><br />
rund 20 x 7 Metern nicht behaupten: Es steht<br />
als einziges Wohnhaus inmitten öffentlicher<br />
Gebäude mit Solitärcharakter. Auf dem Nachbargrundstück<br />
erhebt sich die Kirche der Presbyterianer,<br />
ein ovaler, neo-georgianischer Bau<br />
aus dem 18. Jahrhundert, daneben das dazugehörige<br />
Gemeindehaus und etwas weiter<br />
entfernt ihr anglikanisches Gegenstück, die<br />
Drummaul Parish Church, mit spitzem Turmhelm.<br />
An der Straße sind darüber hinaus die<br />
Versammlungshallen der örtlichen Freimaurerloge<br />
und des Oranier-Ordens aufgereiht.<br />
Ein weniger intimer Standort für ein Wohnhaus<br />
ließe sich in der 5000-Einwohner-Gemeinde<br />
schwerlich ausmachen, zumal das<br />
Gartengrundstück der Jones‘ direkt an den<br />
presbyterianischen Friedhof grenzt. Seiner<br />
Lage entsprechend besitzt das Gebäude zwei<br />
58 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Eingänge entlang einer mit weißem Kalksteinkies<br />
bedeckten Zufahrt: einen vorderen, halböffentlichen,<br />
und einen hinteren, privaten, der<br />
mit einer Holzterrasse auf der Südseite des<br />
Hauses verbunden ist. Das Gebäudevolumen<br />
lässt weder die innere Geschossteilung erahnen,<br />
noch macht es die Grundrisse ablesbar.<br />
Alan Jones beschreibt die Straßenansicht<br />
als „stumm, dunkel und optisch ruhig, mit<br />
nur einem einzigen Giebelfenster, das nachts<br />
erleuchtet ist“. Dafür öffnen sich vier traufhohe,<br />
schräg ausgestellte Erker auf der Ostseite<br />
des Hauses. Ihre Fenster weisen <strong>von</strong> der<br />
Straße weg Richtung Süden. „Es war Zufall,<br />
dass die Südseite <strong>von</strong> der öffentlichen Straße<br />
abgewandt war, und der Kontrast zwischen<br />
öffentlichem Norden und privatem Süden<br />
wurde so <strong>von</strong> Anfang an zum Entwurfsthema“,<br />
sagt Alan Jones.<br />
Auch im Inneren des Hauses wird dieser<br />
Gegensatz spürbar, ohne dass er zu einer Trennung<br />
in einen öffentlichen Nord- und einen privaten<br />
Südteil geführt hätte. Im Gegenteil: Das<br />
kombinierte Wohn-, Koch-, Ess- und Empfangszimmer<br />
im Erdgeschoss ist ein rund 20<br />
Meter langer, nur durch Mobiliar und Glastrennwände<br />
unterteilter Raum, der sich über
60 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Links Da die Räume im Obergeschoss<br />
weniger Platz beanspruchen<br />
als die im Erdgeschoss,<br />
verzahnte Alan Jones die beiden<br />
Geschosse miteinander. Zweigeschossige<br />
Lufträume bringen<br />
das Licht der Dachwohnfenster<br />
allenthalben bis hinunter ins<br />
Erdgeschoss.<br />
Unten Gold trifft grau: Raue, mit<br />
OSB-Tafeln eingeschalte Sichtbetonwände<br />
bestimmen die<br />
Lichtatmosphäre im Inneren.<br />
Sie kontrastieren mit den weißen<br />
Decken und dem polierten<br />
Betonfußboden.<br />
Rechts Geheimnisvolles Äußeres<br />
– mit seiner Faserzementverkleidung<br />
wirkt das Wohnhaus fast<br />
wie ein Monolith. Das Gebäudevolumen<br />
lässt weder die innere<br />
Geschossteilung erahnen, noch<br />
macht es die Grundrisse ablesbar.
die gesamte Gebäudelänge erstreckt. Er vereint<br />
alle Funktionen <strong>von</strong> öffentlich bis privat<br />
in sich: An der Straßenseite empfängt Alan<br />
Jones seine Gäste und Besucher, dahinter folgen<br />
der Essbereich, die Küche und schließlich<br />
der zum Garten orientierte Wohnraum. Jeder<br />
dieser Abschnitte wird durch einen eigenen<br />
Erker belichtet; die Räume im Obergeschoss<br />
erhalten ihr Licht dagegen ausschließlich <strong>von</strong><br />
oben durch Dachwohnfenster. Vier Schlafzimmer<br />
und drei Bäder gibt es im Obergeschoss<br />
– was viel ist für eine vierköpfige Familie und<br />
doch weit weniger Platz beansprucht als die<br />
Räume im Erdgeschoss. An den Giebelseiten<br />
sind die Obergeschossräume daher teilweise<br />
<strong>von</strong> den Außenwänden des Hauses zurückgesetzt.<br />
Der Wohnraum und der Empfangsbereich<br />
im Erdgeschoss erhalten so zusätzliches,<br />
indirektes Licht durch hoch liegende Fenster<br />
in den Giebelfassaden und Dachflächen. Die<br />
Obergeschossräume scheinen als geschlossene<br />
Kuben über dem Erdgeschoss zu hängen,<br />
ohne dass ihre Erschließung auf den ersten<br />
Blick sichtbar wird.<br />
Diese Verzahnung zwischen Erd- und<br />
Obergeschoss ist jedoch nicht die einzige<br />
Überraschung, die das Haus im Inneren bereit-<br />
hält. Nahezu alle Innenwände sind mehr oder<br />
weniger stark gegen den rechten Winkel verdreht;<br />
die Grundrisse wirken, als sei ein Wirbelsturm<br />
durch das Haus gefahren. Dabei ist ihre<br />
Gliederung durchaus klassisch: im Osten die<br />
Wohnräume und Schlafzimmer, im Westen<br />
eine kleinteiligere und niedrigere Nebenraumspange<br />
mit Treppe, Bädern, WCs, Garderoben<br />
und Abstellräumen. Die schrägen Winkel,<br />
stumpfen und spitzen Ecken sowie zweigeschossigen<br />
Lufträume verleihen den Innenräumen<br />
eine Dynamik und Spannung, die sich<br />
erst nach und nach erschließt – und die Alan<br />
Jones mit derjenigen der Kirche nebenan vergleicht:<br />
„Wie in der Kirche ist auch hier das<br />
Gebäudeinnere nicht <strong>von</strong> außen ablesbar, und<br />
in beiden Gebäuden wird man für das Eintreten<br />
belohnt.“<br />
Die Belohnung schließt auch die Materialpalette<br />
im Innenraum mit ein: Alan Jones entschied<br />
sich für einen Massivbau aus Beton mit<br />
vorgehängter Faserzementverkleidung. Die<br />
Betonwände wurden mit groben OSB-Platten<br />
eingeschalt und haben deren Textur angenommen:<br />
eine natürliche, weiche, das Licht<br />
streuende Oberfläche, mehrfarbig gefleckt<br />
durch Abfärbungen der Schalplatten und<br />
zahlreiche hellbraune Holzsplitter, die in der<br />
Betonwand zurückgeblieben sind. Gemeinsam<br />
mit dem polierten Betonfußboden<br />
ergeben sie einen eigentümlichen Höhlencharakter,<br />
dem auch das thermische Verhalten<br />
des Gebäudes entspricht: Die unverkleideten<br />
Betonmassen bilden einen vorzüglichen Wärmespeicher,<br />
der winters wie sommers Temperaturspitzen<br />
abfedert.<br />
„Kann ein Wohnhaus eine wichtige Position<br />
in der Stadt einnehmen, in einer Reihe<br />
öffentlicher Gebäude, und dort ruhen, in<br />
friedlicher Koexistenz mit seinen bürgerlichen<br />
Nachbarn? Kann ein neues Wohnhaus<br />
sich all jener optischen Hinweise entledigen,<br />
die es als Haus identifizieren, sodass es mit<br />
seiner Umgebung in Einklang steht und – wie<br />
manche Bewohner des Orts sagen – ‚aussieht,<br />
als hätte es immer dort stehen sollen‘?“, zählt<br />
Alan Jones die Fragen auf, die ihn bei seinem<br />
Entwurf geleitet haben. Mit seinem Haus in<br />
Randalstown hat er sie selbst mit „Ja“ beantwortet.<br />
Er führt damit eine lange Tradition<br />
<strong>von</strong> ‚Architekten-Wohnhäusern‘ fort, die eher<br />
durch stille Größe, praktischen Nutzwert und<br />
intelligente Details zu überzeugen wissen als<br />
durch formale Extrovertiertheit.<br />
61
Fakten<br />
Gebäudetyp: Einfamilienhaus<br />
Bauherr: Laura and Alan<br />
Jones, Randalstown, GB<br />
Architekt: Alan Jones, SPACE,<br />
Queen’s University, Belfast, GB<br />
Standort: Randalstown/Antrim, GB<br />
Querschnitt<br />
Längsschnitt<br />
Ansicht Süd<br />
Ansicht Nord<br />
Grundriss Obergeschoss<br />
Grundriss Erdgeschoss<br />
Ansicht Ost<br />
Ansicht West<br />
62<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Grundriss Kellergeschoss
Links Als einziges Wohnhaus<br />
inmitten öffentlicher Gebäude<br />
gelegen: Die Old Congregation<br />
Presbyterian Church, das dazugehörige<br />
Gemeindehaus und Friedhof,<br />
die anglikanische Kirche<br />
Drummaul Parish Church sowie<br />
die Versammlungshallen der örtlichen<br />
Freimaurerloge und des<br />
Oranier-Ordens umgeben das<br />
Grundstück der Familie Jones.<br />
Links unten Zweigeschossige<br />
Lufträume erlauben diagonale<br />
Querblicke in den Etagen und lassen<br />
<strong>von</strong> oben Tageslicht in die im<br />
Erdgeschoss angesiedelte Küche<br />
dringen.<br />
Unter der schwarzen Dachhaut<br />
öffnen sich tageslichthelle<br />
Räume. Im Bad verstärkt ein<br />
geschickt angebrachter Spiegel<br />
den Eindruck der Weitläufigkeit.<br />
63
PHOTO: SYBOLT VOETEN / MICHEL KIEVITS<br />
64 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11
<strong>VELUX</strong> IM DIALOG Architekten im Dialog<br />
mit <strong>VELUX</strong>.<br />
„DIESES GEBÄUDE<br />
STIMMT MICH<br />
OPTIMISTISCH“<br />
Interview mit Wessel de Jonge<br />
65
Vorherige Seite Die „Van Nelle<br />
Ontwerpfabriek“ gilt als Ikone<br />
der Klassischen Moderne in den<br />
Niederlanden. 2004 wurde das<br />
Bauwerk <strong>von</strong> Brinkman & Van<br />
der Vlugt nach seiner Sanierung<br />
durch Wessel de Jonge Architects<br />
und Hubert-Jan Henket wiedereröffnet.<br />
Rechts In der 1931 fertig gestellten<br />
Van-Nelle-Fabrik wurden<br />
einst auf industrielle Art und<br />
Weise Tee und Kaffee produziert.<br />
Nach der Renovierung durch<br />
Wessel de Jonge beherbergt das<br />
<strong>von</strong> der UNESCO ins Weltkulturerbe<br />
aufgenommene Gebäude<br />
moderne Büros und Geschäftsbereiche.<br />
66<br />
Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam, eines der Meisterwerke<br />
der niederländischen klassischen Moderne,<br />
wird Schauplatz des <strong>VELUX</strong> <strong>Daylight</strong> Symposiums im<br />
Mai 2009 sein. Wessel de Jonge hat die Restaurierung<br />
des Gebäudekomplexes nach einem langwierigen<br />
Planungsprozess 2004 abgeschlossen. <strong>Daylight</strong> &<br />
<strong>Architecture</strong> sprach mit ihm über seine Erfahrungen<br />
mit der klassisch-modernen <strong>Architektur</strong> und über die<br />
Rolle <strong>von</strong> Tageslicht und Innenklima in den Gebäuden.<br />
D&A: Herr de Jonge, in den letzten Jahren<br />
hat Ihr <strong>Architektur</strong>büro diverse Gebäude<br />
<strong>von</strong> Meistern der holländischen Moderne<br />
wie Jan Duiker, Brinkman & Van der Vlugt<br />
und Gerrit Rietveld restauriert. Worin liegen<br />
die Unterschiede zwischen diesen drei<br />
Architekten?<br />
WdJ: Die Unterschiede sind beträchtlich.<br />
Rietveld benutzte ganz andere Entwurfswerkzeuge<br />
als Duiker und Brinkman & Van<br />
der Vlugt, nämlich die eines Schreiners und<br />
Künstlers. Duiker hingegen sah sich selbst<br />
eher als Ingenieur denn als Architekt.<br />
Diese unterschiedlichen Haltungen spiegeln<br />
die Suche der Architekten der 20er-<br />
Jahre nach neuen Strategien wider. Die<br />
<strong>Architektur</strong> sah sich seinerzeit mit den Folgen<br />
der Industrialisierung konfrontiert, wie<br />
der Massenmigration in die Städte, den Problemen<br />
der Arbeiterwohnviertel sowie neuen<br />
Herausforderungen in Gesundheitswesen,<br />
Hygiene und Bildung. Diese Belange waren<br />
etwas völlig Neues und bewegten daher<br />
auch die gesamte <strong>Architektur</strong> in eine neue<br />
Richtung: Deren Schwerpunkt verlagerte<br />
sich nun zunehmend <strong>von</strong> der künstlerischen<br />
Arbeit hin zu wissenschaftlichen und technischen<br />
Ansätzen. Viele Architekten suchten<br />
nach neuen industriellen Konstruktionsmethoden,<br />
die, wie sie behaupteten, zur Lösung<br />
der mit der Industrialisierung einhergehenden<br />
Probleme unumgänglich seien.<br />
Zunächst jedoch experimentierten auch<br />
viele Architekten – wie die Künstler – mit<br />
eher künstlerischen Lösungen wie etwa<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
den schlichten Formen und Primärfarben<br />
der De-Stijl-Bewegung. Rietveld war in dieser<br />
Hinsicht äußerst engagiert. Duiker und<br />
Brinkman & Van der Vlugt unterstützten<br />
dagegen eine Bewegung, die das Wesen der<br />
<strong>Architektur</strong> grundsätzlich in Frage stellte.<br />
Sie favorisierten eine rationalere und technisch<br />
orientierte Problemlösung auf der<br />
Basis gründlicher Analysen.<br />
D&A: Verfolgten die drei Architekten auch<br />
unterschiedliche Konzepte im Umgang mit<br />
Tageslicht, oder überwiegen hier die Gemeinsamkeiten?<br />
WdJ: In der Arbeit mit Tageslicht dominieren<br />
meines Erachtens eher Gemeinsamkeiten<br />
als Unterschiede. In der Moderne war die<br />
Transparenz <strong>von</strong> Gebäuden gewissermaßen<br />
Programm, ein allgemeines kulturelles Ideal<br />
als Sinnbild einer Gesellschaft, die – so mutmaßten<br />
die Architekten – ebenso transparent<br />
organisiert sei. Diese Vorstellung zeigt sich in<br />
der extensiven Nutzung <strong>von</strong> Glas. Das Baukonzept<br />
der Van-Nelle-Fabrik beispielsweise<br />
orientiert sich maßgeblich am Tageslicht.<br />
Die Tiefe des Gebäudes wurde auf 19 Meter<br />
beschränkt – ein Maß, das sich aus einer einfachen<br />
Berechnung ergab: Wenn man das<br />
Gebäude an beiden Längsseiten dem Tageslicht<br />
öffnete, so mussten die Arbeiter auch in<br />
der Raummitte noch ihr Tagwerk unter natürlichen<br />
Lichtbedingungen verrichten können.<br />
Diese rationalen Anforderungen und Berechnungen<br />
sind ursächlich für die Form des<br />
außergewöhnlich langen Flachbaus.
Im Sanatorium Zonnestraal sieht es ähnlich<br />
aus. Auch hier sind die Gebäude sehr<br />
schmal, häufig beträgt ihre Tiefe nicht mehr<br />
als 7,5 Meter. Die Besonderheit in Zonnestraal<br />
war, dass die Patienten in separaten kleinen<br />
Zimmern untergebracht wurden. In anderen<br />
Sanatorien jener Zeit lagen meist 10 bis 12<br />
Personen gemeinsam in einem größeren Saal.<br />
In Zonnestraal hingegen waren die Zimmer<br />
nur 3 Meter tief, sodass das Licht ungehindert<br />
eindringen, die gesamte Raumtiefe beleuchten<br />
und Keime wirkungsvoll abtöten konnte.<br />
Die Unterschiede zwischen den beiden<br />
Gebäuden bestehen im Wesentlichen<br />
in den Baumaterialien wie Glas. In Zonnestraal<br />
sollten die Patienten vom Krankenbett<br />
ungehindert ins Grüne blicken können.<br />
In der Van-Nelle-Fabrik waren Ausblicke<br />
dagegen unwichtig bis unerwünscht, um<br />
die Arbeiter nicht abzulenken. Folglich<br />
benutzte man für das Sanatorium erstklassiges<br />
Fensterglas, für die Fabrik hingegen<br />
eine geringere Glasqualität mit mehr Fehlern<br />
und Unebenheiten in der Oberfläche<br />
sowie kleinere Glasscheiben. Dieses Glas<br />
stammte ursprünglich aus der Gewächshausindustrie<br />
und wurde ausschließlich<br />
in standardisierten Formaten hergestellt.<br />
Brinkman & Van der Vlugt mussten sogar<br />
die Gesamtproportion der Fassaden<br />
ändern, um sie diesem billigen massenproduzierten<br />
Glas anzupassen.<br />
D&A: Beschränkte sich die Nutzung des<br />
Tageslichts im Modernismus auf visuellen<br />
Komfort und Hygiene, oder berücksichtig-<br />
ten die Architekten auch seinen psychologischen<br />
Wert?<br />
WdJ: Der psychologische Wert des Tageslichts<br />
war natürlich enorm – ebenso wie seine<br />
metaphorische Bedeutung. Duiker erwähnte<br />
oft seine Abneigung gegen die Tendenz der<br />
Menschen, alles zu kategorisieren. Als Ingenieur<br />
forderte er Unvoreingenommenheit<br />
und die Fähigkeit, jede Lösung abzuwägen<br />
und dann die beste zu wählen. Tageslicht war<br />
immer Bestandteil seiner rationalen Denkweise.<br />
Duikers Absicht war, die Menschen<br />
aus ihren dunklen Höhlen und Kellern hinaus<br />
ins Freie, zur frischen Luft und ans Tageslicht<br />
zu holen, ihre Gesundheit durch Sport zu fördern<br />
und größeren Wert auf Hygiene zu legen.<br />
Interessanterweise lehnte Duiker noch eine<br />
weitere ‚traditionelle‘ Beschränkung ab: den<br />
Schutz historischer Gebäude. Dies birgt eine<br />
gewisse Ironie, denn heute sind Duikers Häuser<br />
selbst Gegenstand des Denkmalschutzes.<br />
D&A: Herman Hertzberger schrieb einmal:<br />
„Dass man so ungehindert in holländische<br />
Wohnzimmer blicken und nahezu am dortigen<br />
Leben teilnehmen kann, ist eine Tradition,<br />
die die Besucher dieses Landes immer<br />
wieder verblüfft.” War diese Tradition einer<br />
der Gründe, warum die klassische Moderne<br />
mit ihrer Tendenz zu Offenheit und Transparenz<br />
in den Niederlanden so begeistert aufgenommen<br />
wurde?<br />
WdJ: Das ist eine interessante Frage, die<br />
ich nicht wirklich beantworten kann. Sicher-<br />
lich sind die Niederländer, zumindest im<br />
Westen des Landes, daran gewöhnt, ihren<br />
Lebensraum – und auch die Gesellschaft<br />
– ingenieursmäßig zu konstruieren. Mein<br />
Wohnzimmer zum Beispiel liegt 4,5 Meter<br />
unter dem Meeresspiegel. Wenn man unter<br />
diesen Umständen nicht seine gesamte<br />
Umwelt unter künstlicher Kontrolle hält,<br />
ertrinkt man schlicht und einfach.<br />
Wir sind also daran gewöhnt, die Umwelt<br />
zu unserem Vorteil zu konstruieren und zu<br />
modifizieren. Dies bedeutet, dass der Ansatz<br />
der Architekten in den 20er-Jahren sehr gut<br />
zu der holländischen Denkweise passte: Das<br />
Problem analysieren, eine technische Lösung<br />
finden und die Lösung in die Tat umsetzen.<br />
D&A: Welche Planungswerkzeuge für<br />
Tageslicht und Belüftung standen den Architekten<br />
der Moderne zur Verfügung, und wie<br />
exakt waren sie?<br />
WdJ: Einige Architekten jener Zeit – aber<br />
längst nicht alle – wandten Methoden an,<br />
die der modernen Bauphysik oder Konstruktionswissenschaft<br />
recht nahe stehen. Wie<br />
schon gesagt, betrachtete Duiker sich eher als<br />
Ingenieur denn als Architekt, und einige seiner<br />
Kollegen teilten diese Berufsauffassung.<br />
Einer <strong>von</strong> ihnen war Johannes Bernardus van<br />
Loghem, der zahlreiche Artikel über technische<br />
Themen wie Akustik, Kondensation,<br />
Tageslicht, die Vorzüge passiver Solarenergie<br />
und entsprechende Berechnungsmethoden<br />
verfasste. 1932 veröffentlichte Van Loghem<br />
ein Buch über Bauphysik und Bautechnolo-<br />
67<br />
FOTO: FAS KEUZENKAMP
Trotz der Gebäudetiefe <strong>von</strong> 19<br />
Metern erhalten die 60 000 Quadratmeter<br />
Büroräume im Inneren<br />
der Van-Nelle-Fabrik reichlich<br />
Tageslicht. Die Fassaden sind so<br />
transparent geblieben wie früher;<br />
lediglich die elektrische<br />
Beleuchtung wurde den Erfordernissen<br />
der Bildschirmarbeit<br />
angepasst.<br />
gie, das wir vor Beginn unserer Arbeit an Van<br />
Nelle und Zonnestraal gelesen haben. Dieses<br />
Buch entspricht erstaunlicherweise ungefähr<br />
dem Wissensstand, der mir 40 Jahre später<br />
an der Universität vermittelt wurde. Im Vorwort<br />
begründet Van Loghem, warum er das<br />
Buch schrieb: Viele zeitgenössische Architekten<br />
und Befürworter der Moderne wüssten<br />
noch zu wenig über Bauphysik. Das gilt offensichtlich<br />
nicht nur für die 30er-Jahre, sondern<br />
ist auch heute noch der Fall.<br />
D&A: Aus heutiger Sicht waren der thermische<br />
Komfort und die sommerliche Überhitzung<br />
klare Schwachpunkte der meisten<br />
klassisch-modernen Gebäude. Fehlten den<br />
Architekten einfach die entsprechenden<br />
Möglichkeiten?<br />
WdJ: Keinesfalls! Sie hatten alle diesbezüglich<br />
eine klare Vorstellung. Aber unsere<br />
Sichtweise hat sich seitdem verändert, und<br />
wenn wir die damaligen Gebäude mit unserem<br />
modernen Verständnis betrachten, fällen<br />
wir natürlich ein negatives Urteil. Zum<br />
Beispiel könnte das Sanatorium Zonne straal<br />
gemessen an modernen Standards wegen<br />
seiner massiven Kondensationsprobleme<br />
und sonstigen Mängel gar nicht ‚funktionieren‘.<br />
Man muss aber bedenken, wie das<br />
Gebäude ursprünglich genutzt wurde: Während<br />
wir heute eine konstante Raumtemperatur<br />
<strong>von</strong> 21 Grad fordern, waren es damals<br />
17 oder 18 Grad. Außerdem gehörte Frischluft<br />
zur Behandlungstherapie der Patienten,<br />
weshalb Türen und Fenster auch im Winter<br />
68<br />
stets offen standen. Unter diesen Umständen<br />
ist Kondensation überhaupt kein Thema,<br />
weil sie nicht auftritt!<br />
Jan Duiker entwarf auch eine Freiluftschule<br />
in Amsterdam, in deren Klassenzimmern<br />
die Fenster während des Unterrichts<br />
ständig offen standen. Er wusste natürlich,<br />
dass der thermische Komfort in diesem<br />
Gebäude ein problematisches Thema sein<br />
würde. Daher entwickelte er ein innovatives<br />
Bodenheizungssystem nach dem Strahlungsprinzip,<br />
ganz ähnlich den heutigen Systemen<br />
zur Betonkernaktivierung. Obgleich<br />
Duikers Erfindung letzten Endes nicht funktionierte,<br />
ist es bemerkenswert, dass er bereits<br />
1942 ein derart zukunftsweisendes System<br />
erdachte. Auch viele andere Architekten seiner<br />
Zeit waren sich ihrer Verpflichtung durchaus<br />
bewusst, eine angenehme und gesunde<br />
Umgebung zu schaffen. Sie zeigten großes<br />
Interesse an der Bauphysik, weil sie wussten,<br />
dass sie ohne Kenntnisse der Klimatisierungstechnik<br />
nie offene Häuser und große Glasfassaden<br />
entwerfen könnten.<br />
D&A: Was fanden Sie besonders schwierig<br />
bei dem Versuch, die Gebäude der Moderne<br />
nachzurüsten und den heutigen Klima- und<br />
Lichtstandards anzupassen? Wo mussten<br />
Sie Kompromisse eingehen?<br />
WdJ: Da die Architekten der Moderne derart<br />
darauf bedacht waren, extrem leichte<br />
Fassadenkonstruktionen zu entwerfen, ist<br />
die Nachrüstung dieser Fassaden ein wichtiger<br />
Bestandteil jedes Sanierungskon-<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
zepts. Zugleich sind die Fassaden häufig<br />
die schwierigsten Baukomponenten, da<br />
man sie technisch verbessern muss, ohne<br />
das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes<br />
völlig zu verändern.<br />
In unserem Büro haben wir uns daher<br />
sehr intensiv mit Fassadenbau sowie Klima-<br />
und Lüftungstechnik beschäftigt, weil diese<br />
Bereiche immer zusammengehören. So hängt<br />
zum Beispiel der solare Energieeintrag in ein<br />
Gebäude unmittelbar <strong>von</strong> der Glassorte ab<br />
und ist seinerseits wiederum entscheidend<br />
für die Kühllast des Systems. Nun kann ich<br />
mich natürlich bei der Restaurierung eines<br />
historischen Gebäudes dafür entscheiden,<br />
die Fassade unangetastet zu lassen. In diesem<br />
Fall aber wäre der Klimatisierungsaufwand<br />
enorm, und am Ende führten dicke<br />
Belüftungsrohre durch das ganze Haus –<br />
mit katastrophalen Folgen für die architektonische<br />
Qualität. Sie sehen: Wir müssen bei<br />
jedem Projekt ein Gleichgewicht finden zwischen<br />
innen und außen, indem wir einige Verbesserungen<br />
an Verglasung und Fassade und<br />
einige an den Installationen vornehmen, bis<br />
beide sich etwa in der Mitte treffen.<br />
D&A: Sie sprachen einmal <strong>von</strong> der ‚veränderten<br />
Sicht’ der Architekten zur Erhaltung<br />
modernistischer Gebäude. Wie hat sich dieser<br />
Standpunkt in den letzten 30-40 Jahren<br />
verändert?<br />
WdJ: Vor dreißig Jahren betrachtete man<br />
diese Gebäude noch nicht einmal als etwas<br />
Besonderes. Sie waren einfach nicht alt<br />
FOTO: FAS KEUZENKAMP
FOTO: FAS KEUZENKAMP<br />
69
FOTO: CAPITAL PHOTOS<br />
genug. Selbst die Architekten der Moderne<br />
haben später zahlreiche Veränderungen an<br />
ihren Häusern vorgenommen, ohne den Wert<br />
ihrer eigenen, 30 Jahre zurückliegenden<br />
Arbeit besonders hoch einzuschätzen. Nach<br />
ihrer Überzeugung sollte <strong>Architektur</strong> funktional<br />
und unmittelbar mit dem Nutzungszweck<br />
des Gebäudes verbunden sein. Änderte sich<br />
die Nutzung, musste man auch das Gebäude<br />
verändern – dieser Grundsatz entsprach der<br />
funktionalistischen Logik jener Tage. Bis vor<br />
drei Jahrzehnten galt daher der Grundsatz:<br />
„Würden die Architekten selbst noch leben,<br />
hätten sie das Gebäude ebenfalls verändert.<br />
Warum es also nicht umbauen und einem<br />
neuen Nutzungszweck zuführen?“<br />
Vor 20 Jahren änderte sich diese Haltung.<br />
Einige Gebäude der Moderne wurden<br />
als so besonders, innovativ und prototypisch<br />
angesehen, dass man sie erhalten müsse.<br />
Hierbei musste man allerdings selektiv vorgehen:<br />
Rund 80 Prozent unseres heutigen<br />
Gebäudebestands stammen aus der Zeit<br />
nach 1900. Beginnt man also erst einmal<br />
mit der Erhaltung <strong>von</strong> Gebäuden aus dem<br />
20. Jahrhundert, endet man rasch bei Millionen<br />
potenzieller ‚Kandidaten‘, aus denen<br />
man eine begründete Auswahl treffen muss.<br />
Zonnestraal zum Beispiel gehörte zu den<br />
Gebäuden, die vor rund 20 Jahren unter<br />
Denkmalschutz gestellt wurden.<br />
Der dritte Wandel betraf die Frage, was<br />
genau an den klassisch-modernen Bauwerken<br />
schützenswert sei. Noch vor zwanzig<br />
Jahren schätzte man die Gebäude eher<br />
wegen ihrer Raumkonzepte und weniger<br />
70<br />
wegen ihrer Materialien. Im Gegensatz zu<br />
älteren, handwerklich verarbeiteten Materialien<br />
betrachtete man die Industriewerkstoffe<br />
der 20er- und 30er-Jahre schlichtweg<br />
als ‚ersetzbar‘ durch moderne Baustoffe,<br />
selbst wenn sich das Aussehen eines Gebäudes<br />
hierdurch beträchtlich veränderte. Erst<br />
in den vergangenen 10 Jahren hat sich diese<br />
Haltung verändert. Häufig lassen nämlich<br />
erst die Materialien das tatsächliche Alter<br />
eines Gebäudes erkennen. Wenn Menschen,<br />
die keine Architekten sind, die Van-Nelle-Fabrik<br />
aus gewisser Entfernung sehen und ich<br />
sie frage: „Wie alt ist das Gebäude?“, antworten<br />
sie fast alle: „Vielleicht <strong>von</strong> 1960<br />
oder 1965.“ Erst wenn man näher kommt<br />
und das Haus betritt, zeigt sich an vielen<br />
Details, dass es tatsächlich aus den späten<br />
20er-Jahren stammt.<br />
Jetzt, im dritten Stadium, erkennen wir,<br />
wie wichtig es ist, die ursprünglichen Materialien,<br />
Oberflächen, Strukturen und Farben –<br />
einschließlich Glas – zu erhalten. Als wir das<br />
Projekt Zonnestraal in Angriff nahmen, plädierte<br />
ich als einziger im Team dafür, gezogenes<br />
Glas und kein Floatglas einzusetzen.<br />
Schließlich besteht Zonnestraal fast nur aus<br />
Glas – und wenn das nicht passt, was bleibt<br />
dann übrig?<br />
Sogar die Denkmalschutzbehörden verstanden<br />
damals den Unterschied nicht. Ich<br />
aber hatte festgestellt, dass die Reflexionen<br />
und die Sicht durch gezogenes Glas aufgrund<br />
seiner Unregelmäßigkeit leicht verzerrt sind.<br />
Das Material unterstreicht somit die Fragilität<br />
des Gebäudes. Würde man das Haus<br />
Am Amsterdamer Flughafen<br />
Schiphol erinnert nur noch der<br />
alte Tower an die Frühzeit des<br />
Luftverkehrs. Wessel de Jonge<br />
Architects bauten ihn 2001 zu<br />
einem „Industry Club“ für die<br />
Manager aus dem benachbarten<br />
Business-Park um. Das oberste<br />
Geschoss wird nun als „Sky Bar“<br />
genutzt.<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
mit einer Fassade aus Floatglas <strong>von</strong> außen<br />
betrachten, sähe man eine perfekte Reflexion<br />
dessen, was hinter einem ist. Die Reflexion<br />
lenkt die Aufmerksamkeit ab, das Glas<br />
erscheint weniger transparent und verliert<br />
dadurch seinen Reiz.<br />
D&A: Ursprünglich lag die geplante Lebensdauer<br />
Zonnestraals bei 30-40 Jahren. Handeln<br />
Sie mit der Sanierung des Gebäudes<br />
dann nicht eigentlich gegen die Intention<br />
des Architekten, und welche Konsequenzen<br />
hat dies?<br />
WdJ: Ja, wir arbeiten tatsächlich gegen<br />
seine Intention, aber ich sehe darin kein Problem.<br />
Architekten wie Jan Duiker hegten die<br />
Vorstellung, die ganze Welt werde irgendwann<br />
wie ihre Gebäude aussehen. Sie entwarfen<br />
Prototypen für die Zukunft. Aber<br />
diese Prototypen fanden nie wirklich Beachtung:<br />
Zuerst kam die Wirtschaftskrise in den<br />
Dreißigern, dann der 2. Weltkrieg, nach dessen<br />
Ende sich die Denkweise änderte und<br />
sich der Einfluss der USA in der Bauindustrie<br />
bemerkbar machte. Deshalb gibt es heute<br />
nicht mehr viele der Gebäude, wie sie Duiker<br />
und seine Zeitgenossen in den 20er- und<br />
30er-Jahren bauten. Dies ist mit ein Grund,<br />
warum wir sie schützen sollten.<br />
Außerdem kann die Qualität eines Kunstwerks<br />
wertvoller sein als die Interessen des<br />
Künstlers. Franz Kafka zum Beispiel verfügte<br />
die Verbrennung all seiner Manuskripte nach<br />
seinem Tod, doch man verbrannte sie nicht.<br />
Kafkas Werke waren einfach wichtiger als
FOTO: SYBOLT VOETEN / MICHEL KIEVITS<br />
sein eigener Wunsch. Das Gleiche gilt für<br />
ein Gebäude wie Zonnestraal: Was Duiker<br />
dachte, ist vielleicht nicht so wichtig. Wir<br />
treffen die Entscheidung, es zu erhalten, und<br />
daher zählt unsere Philosophie und nicht<br />
seine Sichtweise.<br />
D&A: Sie schrieben einmal: „Die Pioniere<br />
der modernistischen Bewegung sahen die<br />
Daseinsberechtigung eines Gebäudes nicht<br />
in seiner Geschichte, sondern in seinem Nutzen.“<br />
Impliziert dies die Aufforderung an<br />
heutige Investoren und Architekten, nach<br />
passenden Möglichkeiten zur Wiederverwendung<br />
solcher Gebäude zu suchen?<br />
WdJ: Das stimmt, die Pioniere der Moderne<br />
hegten diese Ideen, die aber auch Teil ihrer<br />
Polemik waren. Sie propagierten eine völlig<br />
neue <strong>Architektur</strong>philosophie, daher formulierten<br />
sie ihre Ansichten vermutlich radikaler,<br />
als sie wirklich waren. Andererseits ist es auch<br />
richtig, dass für sie die Schönheit eines Gebäudes<br />
in dessen Funktionalität wurzelte. Deshalb<br />
sind wir stets bemüht, die neuen Nutzungen<br />
der ursprünglichen Zweckbestimmung des<br />
Gebäudes anzupassen. Das ist schon interessant,<br />
denn der Slogan in den Zwanzigern und<br />
Dreißigern lautete ‚form follows function‘. Auf<br />
der Grundlage einer festgelegten Nutzung<br />
entwarfen die Architekten ein Gebäude. Wir<br />
gehen genau den umgekehrten Weg: Um das<br />
Erscheinungsbild des Gebäudes zu bewahren,<br />
müssen wir eine seinem Charakter entsprechende<br />
Verwendung finden – mit anderen<br />
Worten: ‚function follows form‘.<br />
Beim Kauf eines klassisch-modernen Gebäudes<br />
hat der neue Eigentümer häufig keine<br />
exakte Vorstellung <strong>von</strong> dessen neuen Nutzungsmöglichkeiten.<br />
Dann ist es unsere Aufgabe,<br />
das Gebäude zu analysieren. Derzeit<br />
arbeiten wir an Projekten, für die wir ein<br />
entsprechendes Nutzungsprogramm aus<br />
vier oder fünf verschiedenen Optionen auswählen.<br />
Orientiert man sich dabei stark am<br />
ursprünglichen Zweck des Gebäudes, so kann<br />
ein großer Teil der bestehenden Bausubstanz<br />
erhalten bleiben, was im Sinn des Denkmalschutzes<br />
äußerst wünschenswert ist. Aber<br />
es ist meistens auch kostengünstiger, das<br />
vorhandene Potenzial des Gebäudes auszuschöpfen<br />
und nicht zu missachten.<br />
D&A: Mit Ihrem Büro sind Sie mittlerweile in<br />
die Van-Nelle-Fabrik umgezogen. Wie würden<br />
Sie die Atmosphäre dort beschreiben –<br />
als absoluter Kenner dieses Gebäudes? Kann<br />
man die alte Fabrik nach wie vor spüren?<br />
WdJ: Oh ja, jeder spürt sie, und das schon<br />
beim ersten Besuch. Sobald man das Büro<br />
betritt, öffnet sich der Blick nach draußen,<br />
es stellt sich ein gewisses Wettergefühl ein,<br />
man sieht das Wolkenspiel am Himmel. Dieses<br />
Gebäude stimmt mich optimistisch, weil<br />
es so erhebend ist. Es schafft gute Laune<br />
und öffnet die Sinne, es ist inspirierend und<br />
dynamisch und bietet ein perfektes Arbeitsumfeld.<br />
Die meisten Leute, die hier arbeiten,<br />
teilen diese Meinung – und wenn nicht, sind<br />
sie hier fehl am Platze! Wie ich schon sagte:<br />
‚function follows form‘, man muss sich die-<br />
Das Sanatorium Zonnestraal <strong>von</strong><br />
Jan Duiker war eigentlich nur für<br />
eine Lebensdauer <strong>von</strong> 30 Jahren<br />
konzipiert worden. Umso<br />
schwieriger gestaltete sich<br />
seine Sanierung Anfang des 21.<br />
Jahrhunderts. Unter anderem<br />
wurde dabei gezogenes Fensterglas<br />
verwendet, das die gleichen<br />
leichten Unebenheiten aufweist<br />
wie das Original.<br />
sem Gebäude anpassen, auch wenn das<br />
gewisse Nachteile mit sich bringen mag. So<br />
ist zum Beispiel die Akustik ein Problem, und<br />
manchmal blendet das Licht bei der Arbeit<br />
am Computer.<br />
Dies aber machen die positiven Effekte dieses<br />
weitläufigen Gebäudes allemal wett: die<br />
Atmosphäre, die wunderschönen Räume,<br />
die hohen Decken, das Tageslicht … In Zonnestraal<br />
ist es ähnlich. Die Menschen dort<br />
sind begeistert, sie spüren die Einzigartigkeit<br />
dieses Ortes. Die Wechselwirkung zwischen<br />
<strong>Architektur</strong> und Natur in Zonnestraal<br />
ist einfach verblüffend!<br />
Wessel de Jonge (1957) erhielt 1985 sein <strong>Architektur</strong>diplom<br />
an der Technischen Universität<br />
Delft in Holland. Als Mitbegründer der internationalen<br />
Vereinigung DOCOMOMO war er <strong>von</strong> 1990<br />
bis 2002 internationaler Organisationsleiter und<br />
Herausgeber des DOCOMOMO International Journal.<br />
Als Architekt zeichnete er unter anderem für<br />
die Restauration des <strong>von</strong> Gerrit Rietveld im Jahr<br />
1953 entworfenen Biennale-Pavillons in Venedig,<br />
den Umbau des Sanatoriums ‚Zonnestraal’ im niederländischen<br />
Hilversum (in Zusammenarbeit mit<br />
Henket Architects) und die Sanierung der Van-Nelle-Fabrik<br />
in Rotterdam verantwortlich.<br />
71
<strong>VELUX</strong> PANORAMA <strong>Architektur</strong> mit <strong>VELUX</strong><br />
aus aller Welt.<br />
Rechts Ein Raum wie aus einem<br />
Guss: Wände und Decken in dem<br />
fast sieben Meter hohen<br />
Dachgeschoss sind ganz in Weiß<br />
gehalten. Zwei Reihen Dachwohnfenster<br />
bringen Licht in den<br />
außerordentlich tiefen Raum.<br />
FENSTER ZUM GARTEN<br />
Das Städtchen Le Landeron liegt am<br />
südlichen Fuß des Schweizer Jura,<br />
zwischen Bieler und Neuenburger<br />
See. Im dortigen Schwemmland des<br />
Flusses Zihl gründeten die Grafen<br />
<strong>von</strong> Neuenburg Mitte des 14. Jahrhunderts<br />
eine befestigte Ortschaft,<br />
der schon bald darauf die Stadtrechte<br />
verliehen wurden. Bis heute<br />
hat die Altstadt ihre mittelalterliche<br />
Struktur bewahrt: Eine außergewöhnlich<br />
breite, baumbestandene<br />
Hauptgasse durchzieht den Ortskern<br />
<strong>von</strong> Süd nach Nord. Flankiert wird sie<br />
<strong>von</strong> schmalen, tiefen Wohnhäusern<br />
mit verputzten Fassaden und teils<br />
weiten Dachüberständen.<br />
Das Haus Nummer 27 steht an der<br />
Ostseite der Gasse. Seine Straßenfassade<br />
ist wie die aller Häuser im Ortskern<br />
denkmalgeschützt. Lediglich ihr<br />
frischer weißer Anstrich deutet darauf<br />
hin, dass das Haus in jüngster Zeit<br />
Veränderungen erfahren hat. Ganz anders<br />
die Fassade im Osten, wo die Altstadt<br />
abrupt endet und in weitläufige<br />
Gärten und Streuobstwiesen übergeht:<br />
Hier öffnet sich das Gebäude<br />
mit einem breiten Panoramafenster<br />
zur Landschaft und bildet damit den<br />
größtmöglichen denkbaren Kontrast<br />
zu den umliegenden Altbauten.<br />
Der Umbau durch die Architekten<br />
frundgallina umfasste lediglich<br />
das zweite Obergeschoss und den<br />
Dachboden des Hauses, aber nicht<br />
die Wohnungen in den unteren Geschossen.<br />
Eine Bestandsaufnahme<br />
ergab, dass der Dachstuhl ersetzt<br />
werden musste; die Holzbalkendecke<br />
zwischen oberstem Wohngeschoss<br />
und Dachboden blieb dagegen erhalten.<br />
Die Architekten schufen zwei<br />
Raumfolgen, wie sie unterschiedlicher<br />
kaum sein könnten: Im zweiten Ober-<br />
geschoss entstand ein eher kleinteiliger<br />
Grundriss mit drei Schlafzimmern<br />
und Bad, im Dachboden dagegen ein<br />
offener Raum zum Wohnen, Kochen<br />
und Essen, der bis hinauf unter den<br />
First reicht und durch eine offene Galerie<br />
ergänzt wird. Doch es gibt auch<br />
Gemeinsamkeiten: Beide Etagen erhielten<br />
einen dunklen Dielenboden<br />
und weiß gespachtelte Wände, die<br />
das Tageslicht tief in die Innenräume<br />
reflektieren. Und in beiden Fällen wurden<br />
die Grundrisse vom rechten Winkel<br />
der Außenwände losgelöst. Der<br />
Korridor im zweiten Obergeschoss<br />
verläuft diagonal durchs Haus. Sind<br />
die Zimmertüren geschlossen, ergibt<br />
sich ein klar definierter Weg-Raum,<br />
der geradewegs Richtung Treppe<br />
ins Dachgeschoss führt. Öffnet man<br />
dagegen die raumhohen Türen, verschwimmen<br />
die Raumgrenzen, und es<br />
entstehen Durchblicke <strong>von</strong> Fassade<br />
zu Fassade. Da die leichten Trennwände<br />
und Einbauschränke die gleichen<br />
weißen Oberflächen erhielten<br />
wie die tragenden Außenwände, ergibt<br />
sich eine homogene, vielfach gewinkelte<br />
Raumhülle, die Bewegungen<br />
und Blicke gleichermaßen lenkt.<br />
Ein ähnliches Bild ergibt sich<br />
im Dachgeschoss: Treppe, WC und<br />
Stauraum wurden entlang der Längswände<br />
zu den Nachbarhäusern untergebracht.<br />
Die Möbelfronten und<br />
Trennwände verengen den Raum zur<br />
Mitte hin, wo ein Küchenblock den<br />
Dreh- und Angelpunkt der Etage bildet.<br />
Lediglich seine unterschiedliche<br />
Befensterung gibt dem Raum eine<br />
Richtung: Während sich im Westen<br />
nur ein schmales Fenster zur Straße<br />
hin öffnet – die einstige Ladeluke des<br />
Dachbodens, die mit einer Glasscheibe<br />
verschlossen wurde –, genießen die<br />
72 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
Hausbewohner <strong>von</strong> ihrem Essplatz im<br />
Osten aus freien Blick durch das Panoramafenster.<br />
Maßgeblich zur Belichtung<br />
des fast sieben Meter tiefen<br />
Raums tragen zwei Dreierreihen <strong>von</strong><br />
Dachwohnfenstern bei: In der Ostfassade<br />
sind sie hoch unter dem First angebracht<br />
und versorgen vor allem die<br />
Galerie mit Tageslicht; im Westen liegen<br />
sie dagegen sehr viel tiefer, direkt<br />
über dem ansonsten nur spärlich befensterten<br />
Wohnbereich.<br />
Als „feinfühlig, aber engagiert“<br />
bezeichnen die Architekten ihren<br />
Eingriff in das Jahrhunderte alte<br />
Stadthaus. Der Umbau setzt zugleich<br />
ein deutliches Zeichen des architektonischen<br />
Aufbruchs in einem Ort,<br />
der sich als ‚Stadt der Antiquitäten‘<br />
einen Namen gemacht hat und jedes<br />
Jahr den größten Trödelmarkt der<br />
Schweiz beherbergt. Bei ihrer ‚Entrümpelung‘<br />
des Altbaus kam frundgallina<br />
sicher die Tatsache entgegen,<br />
dass sie auf keinerlei tragende Innenwände<br />
Rücksicht nehmen mussten.<br />
Sie haben die Freiheiten, die sich<br />
ihnen boten, genutzt und dem altehrwürdigen<br />
Bauwerk ein avantgardistisches<br />
Innenleben mit unbestrittenen<br />
Qualitäten einverleibt. Dass dabei, gerade<br />
auf der Gartenseite, ein Teil der<br />
(Gebäude-)Hüllen fallen musste, illustriert,<br />
wie sich die Ansprüche an<br />
Raum und Licht im Laufe der Jahrhunderte<br />
verändert haben. Es zeigt aber<br />
auch die Grenzen bei der Erfüllung dieser<br />
Ansprüche: Ein Panoramafenster<br />
wie bei Haus 27 wird inmitten seines<br />
historischen Umfelds noch als wohltuend<br />
moderner Akzent wahrgenommen.<br />
Besitzen jedoch erst einmal auch<br />
JANTSCHER<br />
die Nachbarn einen solchen Grad der<br />
Öffnung, hat man es bereits mit einem<br />
THOMAS<br />
völlig neuen Ortsbild zu tun. FOTO:
Von der Gartenseite aus wirkt<br />
Haus Nr. 27 wie ein Neubau. Doch<br />
lediglich die beiden obersten<br />
Geschosse wurden umgebaut; die<br />
unteren blieben unangetastet,<br />
und auch die Straßenfassade<br />
wurde kaum verändert.<br />
FOTO: THOMAS JANTSCHER
76<br />
D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />
FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />
Die Galerie unter dem<br />
First ist ein Raum zum<br />
ungestörten Arbeiten.<br />
Doch auch <strong>von</strong> hier<br />
aus hat man Ausblicke<br />
in den Garten – und in<br />
den Himmel über Le<br />
Landeron.<br />
Im Osten geht das<br />
Stadtzentrum<br />
relativ abrupt in eine<br />
Landschaft aus<br />
Obstgärten über.<br />
Das geschosshohe<br />
und gebäudebreite<br />
Panoramafenster<br />
holt die Natur ins<br />
Haus.
1<br />
2<br />
FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />
3<br />
FOTO: FRUNDGALLINA<br />
Fakten<br />
Gebäudetyp Umbau eines Wohnhauses<br />
Bauherr privat<br />
Architekten frundgallina SA, Neuchâtel, CH<br />
Standort Ville 27, Le Landeron, CH<br />
4<br />
5<br />
6<br />
1. Lageplan<br />
2. Die Stau- und Nebenräume sowie die<br />
Treppe ins 2. Obergeschoss wurden<br />
entlang der Trennwände zu den Nachbarhäusern<br />
untergebracht. So konnte die<br />
Weite des Wohnraums erhalten bleiben.<br />
3. Die Straßenfassade (hier vor dem Umbau)<br />
wurde lediglich neu gestrichen und die<br />
„Ladeluke“ des einstigen Dachbodens<br />
(ganz oben) durch ein Fenster ersetzt.<br />
4. Grundriss Dachgeschoss<br />
5. Grundriss 2. Obergeschoss<br />
6. Grundriss Galeriegeschoss<br />
77
BÜCHER<br />
REZENSIONEN<br />
Zum Weiterlesen:<br />
Aktuelle Bücher,<br />
vorgestellt <strong>von</strong> D&A.<br />
DAS SCHRÄGE DACH<br />
Herausgeber: Barbara Burren,<br />
Martin Tschanz, Christa Vogt<br />
Niggli Verlag<br />
ISBN 978-3-7212-0663-0<br />
Digitale Medien, Globalisierung, Ökologie<br />
und neue Materialien – dieses<br />
Themenquartett hat (nebst der damit<br />
verbundenen Theoriegebäude) die <strong>Architektur</strong>publikationen<br />
der letzten<br />
Jahre beherrscht. Doch inzwischen<br />
ist eine Gegentendenz erkennbar:<br />
Verlagshäuser und Autoren (vor allem<br />
diejenigen, die an Universitäten lehren)<br />
besinnen sich wieder stärker<br />
auf die Vermittlung <strong>von</strong> Grundlagenwissen.<br />
Die Studierenden unserer<br />
Tage, so ihre Erkenntnis, benötigen<br />
wieder konkrete Handreichungen<br />
beim Entwerfen und der Baukonstruktion.<br />
Immer mehr Handbücher<br />
zu Darstellungstechniken, Entwurfsstrategien<br />
und alltäglichen konstruktiven<br />
Fragen füllen daher die Regale<br />
der Bücherläden.<br />
Auch das neue Buch der Zürcher<br />
Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />
(ZHAW) Winterthur gehört<br />
in die Kategorie ‚Grundlagenwissen’,<br />
obgleich es eigentlich weder Konstruktions-<br />
noch Entwurfshandbuch ist.<br />
Vielmehr wird hierin eines der vielseitigsten<br />
Bauelemente in der <strong>Architektur</strong><br />
– das geneigte Dach – auf seine<br />
geschichtliche Herkunft und gestalterischen<br />
Möglichkeiten hin untersucht.<br />
Noch vor 15 Jahren wäre die Wahl<br />
eines solchen Themas als politisches<br />
Statement verstanden worden: Geneigte<br />
Dächer galten als konservativ<br />
bis rückwärtsgewandt; und nur wer<br />
sich des Flachdachs, jenes Symbolelements<br />
der Moderne, bemächtigte,<br />
galt als fortschrittlicher Architekt.<br />
Heute sind diese ideologischen<br />
Gräben zugeschüttet. Die Avantgarde<br />
hat sich des geneigten Dachs<br />
bemächtigt und es aus seiner Nostalgie-Nische<br />
befreit. An Bauten wie<br />
dem Fährterminal in Yokohama <strong>von</strong><br />
Foreign Office Architects oder der<br />
Casa da Música in Porto treten flache<br />
und geneigte Dachflächen in ein<br />
unvorbelastetes, neues Wechselspiel<br />
miteinander. Selbst in der Wohnarchitektur<br />
ist viel in Bewegung geraten.<br />
Das Buch der Hochschule Winterthur<br />
stellt folgerichtig historische<br />
und hochaktuelle Beispiele einander<br />
gegenüber, sortiert nach Entwurfsthemen<br />
und nicht nach Jahreszahlen.<br />
Einen didaktischen Ansatz oder<br />
gar den Wunsch nach Vollständigkeit<br />
hätten sie nicht verfolgt, schreiben<br />
die Herausgeber im Vorwort. Eher<br />
bewegt sich ihr Buch in der Tradition<br />
<strong>von</strong> Corbusiers ‚Vers une <strong>Architecture</strong>‘<br />
und Rudofskys ‚<strong>Architecture</strong> Without<br />
Architects‘: Subjektive, collagenhafte<br />
Bildtafeln werden <strong>von</strong> kurzen Texten<br />
begleitet, die auf Querbeziehungen<br />
zwischen den jeweiligen Gebäuden<br />
hinweisen. Gegliedert ist das Buch in<br />
Kapitel wie ‚Dach und Kontext‘, ‚Dach<br />
als Zeichen‘ oder ‚Dach und Licht‘,<br />
deren jedes mit Bildern beginnt und<br />
mit einem kurzen Essay endet. Letztere<br />
unterstreichen in ihrer Vielfalt<br />
den Facettenreichtum des Themas:<br />
Die Autoren untersuchen den ‚Dächerkrieg‘<br />
der Moderne zwischen<br />
den Verfechtern des Flachdachs und<br />
des geneigten Dachs, die Tradition der<br />
‚Zelträume‘ in historischen Palästen<br />
und Wohnhäusern, den Symbolwert<br />
offener Holzdachstühle und die Dachkonstruktionen<br />
des schwedischen Architekten<br />
Klas Anshelm. Lehrreich<br />
ist das meiste hier<strong>von</strong>, wenngleich<br />
gelegentlich etwas weit <strong>von</strong> der<br />
Alltagspraxis entfernt. Mit seinen<br />
zahlreichen Illustrationen hält ‚Das<br />
geneigte Dach’ dennoch einen reichen<br />
Fundus an Inspirationen für die Entwurfsarbeit<br />
bereit – weit mehr übrigens,<br />
als dies bei den derzeit gängigen,<br />
preisgünstigen und großformatigen,<br />
aber oft wenig fokussierten ‚<strong>Architektur</strong>bilderbüchern‘<br />
der Fall ist.<br />
OVER<br />
Herausgeber: Alex MacLean<br />
Schirmer/Mosel, München<br />
ISBN 978-3-8296-0383-6<br />
Seit Jahrhunderten schon prägt der<br />
Mensch die Welt nach seinem Willen.<br />
Nichts scheint dabei unmöglich<br />
zu sein: Da werden ganze Städte wie<br />
riesige Oasen mit manikürten Golfplätzen<br />
und palmengeschmückten<br />
Vorortsiedlungen in die Wüste gebaut,<br />
künstlich mit Wasser am Leben<br />
gehalten, das dort eigentlich Mangelware<br />
ist. Riesige Ferien-Hochburgen<br />
erheben sich an erosions- und orkangefährdeten<br />
Meeresufern, um den<br />
luxushungrigen Urlaubern ein kleines<br />
Paradies zu schaffen. Retortensiedlungen<br />
werden aus dem Boden<br />
gestampft, die <strong>von</strong> Sackgassen und<br />
immer gleich aussehenden Hausplus-Garten-Monokulturen<br />
geprägt<br />
78 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />
sind, die Anonymität fördern und das<br />
Auto zu einem (über-)lebenswichtigen<br />
Gebrauchsgegenstand machen. Gewaltige<br />
Kohle- und Kernkraftwerke<br />
produzieren Unmengen an Elektrizität,<br />
die beinahe schneller verbraucht<br />
als erzeugt werden. Grundstücksspekulanten<br />
pflügen ganze Wegenetze<br />
in die Landschaft, die dort wie warnende<br />
Narben in der Erde prangen.<br />
Indem er diese Szenerien mit der<br />
Kamera aufzeichnet, hält der Fotograf<br />
und Pilot Alex MacLean der<br />
Menschheit den Spiegel vor. Für sein<br />
Buch ‚Over‘ ist er kreuz und quer über<br />
die USA geflogen, hat Vorstadtsiedlungen<br />
und Industrieanlagen,<br />
Kraft- und Klärwerke, aber auch gigantische<br />
Windparks und Solarfarmen<br />
fotografiert. Die Bilder öffnen<br />
uns, gerade weil sie mit einigem Abstand<br />
aus ungewöhnlichem Blickwinkel<br />
aufgenommen wurden, aufs<br />
Neue den Blick auf unseren Lebenswandel<br />
– auf Hoffnung und Hybris,<br />
Bequemlichkeit und Gier, Machbarkeitswahn<br />
und die Vergänglichkeit<br />
unseres Daseins. Und sie lassen die<br />
Klimaveränderungen und exzessiven<br />
Waldrodungen, die Zersiedlung der<br />
Landschaft und vieles mehr, das wir<br />
zwar als beklagenswert, aber im Alltag<br />
doch als merkwürdig fern empfinden,<br />
auf einmal sehr nah erscheinen.<br />
MacLeans Aufnahmen dokumentieren<br />
dabei nicht nur den Ehrgeiz und<br />
die Maßlosigkeit Amerikas, sondern<br />
sind ein Fingerzeig auch für andere<br />
Kontinente, findet doch das amerikanische<br />
Vorbild bereits begeisterte<br />
Nachahmung in Asien.<br />
Doch nicht nur MacLeans Fotografien,<br />
auch seine ausführlichen<br />
Bildkommentare und kurzen Essays<br />
zu Themen wie der Abhängigkeit vom<br />
Auto, den bedrohten Wüsten oder der<br />
Verschwendung <strong>von</strong> Wasser regen
zum Nachdenken an. Sie machen das<br />
Buch zu einem „überaus wertvollen<br />
Dokument, weil sie präzise jene Kräfte<br />
benennen, die im Begriff sind, unseren<br />
Planeten zu zerstören“, wie der Wissenschaftsjournalist<br />
Bill McKibben<br />
in der Einleitung schreibt. Man sollte<br />
sich daher davor hüten, ‚Over‘ lediglich<br />
als Dokument des American Way of<br />
Life zu lesen. Alex MacLean zeigt uns<br />
in seinem Buch, scheinbar unschuldig,<br />
seine Heimat – doch im Grunde meint<br />
er uns alle damit, weltweit.<br />
LIVING IN<br />
DAYLIGHT<br />
Autorin: Maria-Therese Hoppe<br />
Gyldendal<br />
ISBN 978-87-02-07610-3<br />
Es gibt Erfindungen, die die Welt<br />
verändern. Diese hier hat zumindest<br />
die Dächer Europas verändert: 1941<br />
entwickelte der dänische Ingenieur<br />
Villum Kann Rasmussen für einen<br />
befreundeten Architekten das erste<br />
Dachfenster [roof window], das es in<br />
punkto Wind- und Regendichtheit mit<br />
Fassadenfenstern aufnehmen konnte.<br />
Um es zu vermarkten, gründete er eine<br />
Firma und benannte sie nach den<br />
wichtigsten Qualitäten, die seine Erfindung<br />
ins Haus bringen sollte: VE für<br />
‚ventilation’ (frische Luft) und LUX für<br />
Licht. In der Wiederaufbauzeit nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg wurden VE-<br />
LUX-Dachwohnfenster [<strong>VELUX</strong> roof<br />
windows] zu einer festen Größe in den<br />
Stadtbildern Europas – in den Zentren<br />
ebenso wie in den Neubaugebieten.<br />
Rasmussen hatte schon früh erkannt,<br />
wie er seine Fenster zu vermarkten<br />
hatte: Gezielt sprach er den Wunsch<br />
der Eigenheimbesitzer nach mehr<br />
Wohnraum und Licht an, statt sein<br />
eigenes Produkt in den Vordergrund<br />
zu stellen. Zum 100. Geburtstag des<br />
Firmengründers hat <strong>VELUX</strong> nun gemeinsam<br />
mit der dänischen Ethnologin<br />
und Autorin Maria-Therese Hoppe<br />
ein Buch ganz im Geiste dieser Philosophie<br />
publiziert. ‚Living in <strong>Daylight</strong>’<br />
stellt mehr als 50 Referenzprojekte<br />
mit <strong>VELUX</strong>-Dachwohnfenstern dar –<br />
doch nicht, indem es die technischen<br />
oder gestalterischen Aspekte der jeweiligen<br />
Gebäude in den Vordergrund<br />
stellt. Wichtig waren den Herausgebern<br />
und der Autorin die Geschichten,<br />
die die Bewohner zu erzählen hatten.<br />
Viele dieser Charaktere sind ebenso<br />
einzigartig wie ihre Wohnungen: die<br />
Aquarellkünstlerin in ihrem Atelier<br />
über den Dächern <strong>von</strong> Paris, die deutsche<br />
Ärztin, die in die norwegische<br />
Wildnis ausgewandert ist, oder der<br />
junge estnische Außenminister, der<br />
sich im Buch als Familienmensch und<br />
Naturliebhaber offenbart.<br />
‚Living in <strong>Daylight</strong>’ dokumentiert<br />
jedoch auch, dass Dachwohnfenster<br />
inzwischen zu einem Stück Kulturgeschichte<br />
geworden sind. Es gibt kaum<br />
einen Ort, an dem sie nicht anzutreffen<br />
wären – das gilt für das Palais de<br />
Justice mitten in Paris ebenso wie für<br />
das portugiesische Parlamentsgebäude<br />
oder die Hippie-Stadt Christiania<br />
in Kopenhagen. Dachwohnfenster<br />
findet man in türkischen Neubausiedlungen,<br />
an sanierten Stadthäusern in<br />
Bukarest und umgebauten Scheunen<br />
in der britischen ‚countryside’. Maria-Therese<br />
Hoppe hat all diese Orte<br />
bereist und aufgezeichnet, wie die<br />
Menschen in ihren Räumen leben und<br />
arbeiten, was ihnen Tageslicht und<br />
Aussicht durch die Dachwohnfenster<br />
bedeuten. Die durchweg erstklassigen<br />
Fotos zeigen die Gebäude und<br />
ihre Bewohner auf einfühlsame Art<br />
und Weise, oft aus ungewohnter Per-<br />
spektive, aber ohne jene Tendenz zur<br />
Überinszenierung, wie man sie gelegentlich<br />
in <strong>Architektur</strong>publikationen<br />
antrifft. Abgerundet wird das Buch<br />
durch einen kurzen historischen Abriss<br />
nicht nur über <strong>VELUX</strong> und die<br />
Geschichte des Dachwohnfensters,<br />
sondern auch darüber, wie dieses im<br />
Laufe der Zeit unsere Wohnvorstellungen<br />
verändert hat.<br />
BEACHLIFE<br />
Herausgeber: Frame Publishers<br />
Die Gestalten Verlag<br />
ISBN 978-3-89955-302-4<br />
Die Strände und Küsten der Welt<br />
haben seit jeher Kreativität und<br />
Basteltrieb des Menschen herausgefordert<br />
– das kann jeder bezeugen,<br />
der einmal eine Sandburg<br />
gebaut hat. Doch gerade an den<br />
Küsten der Flüsse und Weltmeere<br />
kollidieren auch widersprüchliche<br />
Interessen: Erholung versus Verkehrserschließung,<br />
Klima- und Gewässerschutz<br />
versus Renditestreben.<br />
Das Buch ‚Beachlife‘ zeigt mehr als<br />
115 Bauten und Projekte, Kunstwerke<br />
und Designobjekte, die in den<br />
vergangenen fünf Jahren für Standorte<br />
im oder am Wasser entworfen<br />
wurden. Diese schier überbordende,<br />
auf 280 Seiten komprimierte Projektvielfalt<br />
belegt die mannigfaltigen<br />
Ansprüche an das ‚Beachlife‘<br />
<strong>von</strong> heute: Schwimmende Megaprojekte<br />
vor den Küsten Dubais und<br />
Abu Dhabis stehen neben Kleinst-<br />
<strong>Architektur</strong>en wie Nils Holger Moormanns<br />
‚Walden‘, Land Art in der<br />
Tradition <strong>von</strong> Dani Karavan neben<br />
künstlerischen Interventionen, die<br />
Klimawandel und Flüchtlingsproblematik<br />
thematisieren. Gegliedert<br />
haben die Herausgeber ihr Buch<br />
in fünf Kapitel: Leisure, Hospitality,<br />
Art, Residential und Products.<br />
Doch das ist lediglich eine Art Minimalkonsens,<br />
und man fragt sich, ob<br />
nicht eine Sortierung nach Gebäudegrößen<br />
und -typologien in diesem<br />
Fall sinnvoller gewesen wäre. So<br />
wirkt die Abfolge bisweilen etwas<br />
beliebig, und es bleibt nur, sich im<br />
Buch <strong>von</strong> Projekt zu Projekt vorwärts<br />
zu hangeln. Das fällt – trotz<br />
gelegentlich schwankender Entwurfsqualität<br />
– nicht allzu schwer,<br />
denn das Buch ist ansprechend gestaltet,<br />
die Texte prägnant und mit<br />
Witz geschrieben.<br />
Zwei Erkenntnisse lassen sich abschließend<br />
aus dem Buch ziehen.<br />
Erstens: Nur die wenigsten Gestalter<br />
bedienten sich tatsächlich des<br />
Elements Wasser für ihre Arbeiten.<br />
Die allermeisten begnügten sich mit<br />
einem mehr oder minder freien ‚Blick<br />
aufs Meer‘. Und, zweitens: Am besten<br />
scheint es noch den bildenden<br />
Künstlern zu gelingen, der Ambivalenz<br />
heutiger Strände Ausdruck<br />
zu verleihen. Fern <strong>von</strong> Repräsentationsbedürfnis<br />
und Funktionalitätszwängen<br />
konnten sie sich mit<br />
Themen wie der Wegwerfgesellschaft,<br />
der Erderwärmung oder<br />
dem globalen Terrorismus befassen.<br />
Eine Installation wie Gregor<br />
Schneiders ‚21 Beach Cells‘, bei der<br />
der deutsche Künstler 21 guantanamo-artige<br />
Maschendrahtzellen auf<br />
dem Bondi Beach in Sydney errichtete,<br />
illustriert die Kehrseiten des<br />
weltumspannenden Beach-Tourismus<br />
und seines Sicherheitsbedürfnisses.<br />
Und sie macht deutlich, dass<br />
es auch ein ‚Beachlife‘ jenseits des<br />
hier gezeigten gibt – auch wenn dieses<br />
bislang kein Thema für Architekten<br />
und Designer gewesen ist.<br />
79
DAYLIGHT & ARCHITECTURE<br />
ARCHITEKTURMAGAZIN<br />
VON <strong>VELUX</strong><br />
Frühjahr 2009 AUSGABE 11<br />
Herausgeber<br />
Michael K. Rasmussen<br />
<strong>VELUX</strong>-Redaktionsteam<br />
Per Arnold Andersen<br />
Christine Bjørnager<br />
Lone Feifer<br />
Lotte Kragelund<br />
Torben Thyregod<br />
Redakteure<br />
Gesellschaft für Knowhow-<br />
Transfer<br />
Jakob Schoof<br />
Britta Rohlfing<br />
Übersetzungen<br />
Sprachendienst Dr. Herrlinger<br />
Michael Robinson<br />
Dr. Jeremy Gaines<br />
Korrektorat<br />
Tony Wedgwood<br />
Bildredaktion<br />
Torben Eskerod<br />
Adam Mørk<br />
Art Direction & Layout<br />
Stockholm Design Lab ®<br />
Per Carlsson<br />
Nina Granath<br />
Björn Kusoffsky<br />
www.stockholmdesignlab.se<br />
Fotos Cover<br />
Michael Reisch<br />
www.michaelreisch.com<br />
Landschaft 0/010, 2004<br />
124x187 cm, courtesy Gallery<br />
Rolf Hengesbach, Köln,<br />
Deutschland<br />
www.rolf-hengesbach.com<br />
Foto Umschlaginnenseite<br />
Josef Hoflehner<br />
Li River Study 8 – China<br />
www.josefhoflehner.com<br />
Foto Umschlaginnenseite hinten<br />
Josef Hoflehner<br />
Niagara Falls, Study 6 –<br />
Ontario, Canada<br />
Website<br />
www.velux.de/<strong>Architektur</strong><br />
E-mail<br />
da@velux.com<br />
Auflage<br />
40,000 Stück<br />
ISSN 1901-0982<br />
Dieses Werk und seine Beiträge sind<br />
urheberrechtlich geschützt. Jede<br />
Wiedergabe, auch auszugsweise,<br />
bedraf der Zustimmung der <strong>VELUX</strong><br />
Gruppe.<br />
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geben die Meinung der Autoren wieder.<br />
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den Ansichten <strong>von</strong> <strong>VELUX</strong>.<br />
© 2009 <strong>VELUX</strong> Group.<br />
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eingetragene Warenzeichen mit Lizenz<br />
der <strong>VELUX</strong> Gruppe.