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Daylight & Architecture | Architektur-Magazin von VELUX, Ausgabe ...

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DAYLIGHT &<br />

ARCHITECTURE<br />

ARCHITEKTUR-<br />

MAGAZIN<br />

VON <strong>VELUX</strong>


FOTOGRAFIE VON JOSEF HOFLEHNER.<br />

<strong>VELUX</strong><br />

EDITORIAL<br />

DAS TAGES-<br />

LICHT UND<br />

DIE SPEZIFIK<br />

DES ORTES<br />

Nach altem römischen Glauben besitzt jedes Lebewesen – ob Mensch oder Tier –<br />

einen „Genius“ oder Schutzgeist, der es am Leben hält. Der „Genius loci“ ist der Geist<br />

eines Ortes, die Summe seines sichtbaren und unsichtbaren Wesens. Schon im Altertum<br />

ließen sich Architekten in ihrem Streben nach Harmonie vom Geist eines<br />

Ortes inspirieren, und bis heute ist der Genius loci für die <strong>Architektur</strong> <strong>von</strong> großer<br />

Bedeutung: Er bestimmt die Form eines Gebäudes, die Auswahl des Materials, dessen<br />

Verträglichkeit mit den natürlichen Gegebenheiten und klimatischen Bedingungen<br />

sowie den Umgang mit Tageslicht und Belüftung.<br />

Wie aber beeinflusst die natürliche Lichtsituation an einem bestimmten Ort<br />

das Leben der dort ansässigen Menschen, und wie wirken sich diese lokalen Tageslichtverhältnisse<br />

auf die jeweilige <strong>Architektur</strong> aus? Gehört doch das Tageslicht<br />

zu den ureigenen Merkmalen, die einen Ort charakterisieren. Landschaften<br />

lassen sich einebnen und Grünflächen zubetonieren, Baumaterialien sind heute<br />

nahezu grenzenlos verfügbar, und historische Ereignisse geraten in Vergessenheit.<br />

Doch das Tageslicht lässt sich weder exportieren noch standardisieren; die<br />

skandinavische Mittsommernacht oder die Mittagssonne in den Anden, die alle<br />

Schatten verschwinden lässt, bleiben stets an ihren Ort gebunden.<br />

Wir baten fünf Architekten, die an Universitäten lehren und beim International<br />

<strong>VELUX</strong> Award 2008 als Tutoren für teilnehmende Studenten fungierten, sich für<br />

uns auf die Suche nach dem charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu begeben<br />

– in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo und Charleston. Sie analysierten die<br />

spezifischen Eigenschaften des Tageslichts, die an dem jeweiligen Ort zu beobachten<br />

sind, und gingen der Frage nach, wie traditionelle Baumeister und moderne Architekten<br />

das vorhandene natürliche Licht für ihre Bauten nutzten.<br />

Aus den Blickwinkeln des <strong>Architektur</strong>theoretikers und des Physikers betrachten<br />

Gerhard Auer und Nick Baker unser Thema in ihren Beiträgen. Im Mittelpunkt<br />

<strong>von</strong> Gerhard Auers Überlegungen steht jener Ort, der jedem Menschen wohl am<br />

vertrautesten ist – die eigene Wohnung. Nick Baker dagegen beginnt seine Argumentation<br />

zunächst ganz ohne Gebäude: Unsere Gene sind die eines Lebewesens<br />

aus der freien Natur, und daher sollten uns Gebäude auch so wenig wie möglich<br />

<strong>von</strong> dieser trennen. Beide Autoren weisen darauf hin, wie wichtig Ausblicke ins<br />

Freie für das Wohlbefinden des Menschen sind. Dies wiederum unterstreicht, dass<br />

<strong>Architektur</strong> bei allen Diskussionen über Klimadaten und Energieverbräuche doch<br />

nach wie vor zuallererst der sinnlichen Wahrnehmung eines Ortes und der direkten<br />

Interaktion zwischen Mensch und Umwelt dienen sollte.<br />

Mit dem Sanatorium Zonnestraal und der Van-Nelle-Fabrik begegnen uns<br />

zwei interessante Beispiele für die Wechselbeziehung zwischen <strong>Architektur</strong>, Lokalität,<br />

Tageslicht und Innenklima – großzügig geschnittene und schöne Räume<br />

vermitteln hier gerade durch den Einfluss des Tageslichts den Bewohnern die Einzigartigkeit<br />

des Ortes. Ein Interview mit dem Architekten Wessel de Jonge, der<br />

die beiden Gebäude restaurierte, komplettiert diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />

Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam wird im Mai 2009 Schauplatz des<br />

3. <strong>VELUX</strong> <strong>Daylight</strong> Symposiums sein, an dem u. a. Nick Baker und Wessel de Jonge<br />

mit Vorträgen teilnehmen werden.<br />

Viel Vergnügen bei der Lektüre!<br />

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FRÜHLING 2009<br />

AUSGABE 11<br />

INHALT<br />

<strong>VELUX</strong> Editorial<br />

Inhalt<br />

Jetzt<br />

Mensch und <strong>Architektur</strong><br />

Licht und Orte<br />

Tageslicht<br />

Lichter der Welt<br />

Licht<br />

Reflektionen<br />

Genius Lucis<br />

Tageslicht im Detail<br />

Innenlicht und Außenwelt<br />

<strong>VELUX</strong> Einblicke<br />

Diskreter Nachbar<br />

<strong>VELUX</strong> im Dialog<br />

„Dieses Gebäude stimmt mich optimistisch”<br />

<strong>VELUX</strong> Panorama<br />

Bücher<br />

Rezensionen<br />

Vorschau<br />

MENSCH<br />

UND ARCHITEKTUR<br />

LICHT UND ORTE<br />

2<br />

8<br />

Licht ist … anders. Immer wieder. Jeder Ort, jede<br />

Tages- und Jahreszeit bringt eine eigene Lichtstimmung<br />

hervor – das ist wohl die wichtigste Lehre,<br />

die Architekten aus Jahrtausenden der Beschäftigung<br />

mit Tageslicht gezogen haben. Wie sie dabei<br />

vorgingen und welche Antworten sie auf die feinen<br />

Lichtunterschiede fanden, beschreibt Marietta<br />

Millet in ihrem Beitrag.<br />

JETZT<br />

Neue Projekte rund um das Thema Tageslicht:<br />

I. M. Pei hat einen kristallinen Baukörper unter der<br />

Wüstensonne Abu Dhabis errichtet, Jean Nouvel<br />

eine „Grotte in Weiß“ in den Docklands <strong>von</strong> Le Havre<br />

gebaut. Die neue Festungsmauer <strong>von</strong> Granada<br />

gleicht einem Lichtfilter, während die ‚GreenPix’-<br />

Medienfassade in Peking mithilfe der Energie des<br />

Tageslichts Videokunst ins Straßenbild bringt.<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

4 <strong>VELUX</strong> EINBLICKE<br />

DISKRETER NACHBAR<br />

56<br />

Groß, düster und fensterlos wirkt das Wohnhaus<br />

<strong>von</strong> Alan Jones in Randalstown <strong>von</strong> der Straße aus.<br />

Seine schwarze Faserzementhülle erinnert an die<br />

traditionellen Schieferfassaden Nordirlands, seine<br />

Größe und Form an die Kirchen und Versammlungshäuser<br />

der Nachbarschaft. Das Gebäudeinnere jedoch<br />

überrascht durch Offenheit, Ausblicke und ein<br />

Entwurfskonzept, das Raum für Tageslicht lässt.<br />

FOTOGRAFIE VON JOSEF HOFLEHNER. NIAGARA FALLS, STUDY 4 – ONTARIO, CANADA


FOTOGRAFIE VON BEATRICE MINDA, MASSY-PALAISEAU, 2005<br />

REFLEKTIONEN<br />

GENIUS LUCIS<br />

42<br />

Mit welchem Licht wollen wir wohnen? „Das<br />

kommt darauf an“, möchte man antworten. Doch<br />

jenseits aller individuellen und kulturellen Unterschiede<br />

gibt es weltweite, zeitlose Konstanten<br />

bei der Gestaltung <strong>von</strong> Wohn-Licht. Gerhard<br />

Auer hat sich auf die Suche nach ihnen gemacht.<br />

TAGESLICHT<br />

LICHTER DER WELT<br />

14<br />

Wir baten fünf Architekten, die an Hochschulen und<br />

Universitäten lehren und beim International <strong>VELUX</strong><br />

Award 2008 als Tutoren für teilnehmende Studenten<br />

fungierten, sich für uns auf die Suche nach dem<br />

charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu<br />

begeben – in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo<br />

und Charleston. Sie analysierten die spezifischen<br />

Eigenschaften des Tageslichts, die an dem jeweiligen<br />

Ort zu beobachten sind, und gingen der Frage<br />

nach, wie traditionelle Baumeister und moderne<br />

Architekten das vorhandene natürliche Licht für<br />

ihre Bauten nutzten.<br />

<strong>VELUX</strong> IM DIALOG<br />

„DIESES GEBÄUDE STIMMT<br />

MICH OPTIMISTISCH”<br />

64<br />

Niemand kennt die Bauten der niederländischen<br />

Moderne besser als Wessel de Jonge. Der niederländische<br />

Architekt hat in den vergangenen Jahren<br />

unter anderem Bauten <strong>von</strong> Jan Duiker, Gerrit<br />

Rietveld und Brinkman & Van der Vlugt restauriert.<br />

In <strong>Daylight</strong>&<strong>Architecture</strong> berichtet er über<br />

Tageslicht und Komfort in der klassisch-modernen<br />

<strong>Architektur</strong> und über die Herausforderung, zeitgemäße<br />

Nutzungen für die Gebäude der 20er-Jahre<br />

zu finden.<br />

<strong>VELUX</strong> PANORAMA<br />

FENSTER ZUM GARTEN<br />

72<br />

Die Architekten frundgallina haben sich eines Bürgerhauses<br />

in der Schweizer Kleinstadt Le Landeron<br />

angenommen. Sie schufen eine lichte, offene Wohnlandschaft<br />

in Weiß und dunklem Holz, deren Geometrie<br />

sich <strong>von</strong> den Außenmauern des Hauses löst.<br />

Da diese überdies nur wenige Öffnungen besaßen,<br />

lenken nun zwei Reihen Dachwohnfenster das Tageslicht<br />

tief in das Dachgeschoss.<br />

3


JETZT<br />

FOTO: COURTESY OF THE MUSEUM OF ISLAMIC ART<br />

Was die <strong>Architektur</strong> bewegt: Projekte,<br />

Veranstaltungen und ausgewählte Neuentwicklungen<br />

aus der Welt des Tageslichts.


„Architektonischer Edelstein“<br />

in I. M. Peis Neubau Museum<br />

für Islamische Kunst in Doha.<br />

Tageslicht tritt durch einen<br />

kleinen Okulus <strong>von</strong> oben in das<br />

Gebäude ein und wird <strong>von</strong> einer<br />

facettierten Kuppel aus Edelstahl<br />

reflektiert.


EDELSTEIN IN DER<br />

WÜSTENSONNE<br />

Die Kunst der Edelsteinschleiferei besteht<br />

darin, einen Rohling durch Bearbeitung<br />

seiner Oberflächen in ein<br />

funkelndes Kunstwerk zu verwandeln.<br />

Je komplexer die dabei verwendete<br />

Geometrie, je zahlreicher die<br />

Facetten des Steins, desto eindrucksvoller<br />

das Endergebnis. Auch I. M.<br />

Peis Neubau des Museums für Islamische<br />

Kunst in Doha ist ein solcher, architektonischer<br />

Edelstein, obwohl er<br />

mit undurchsichtigem französischem<br />

Kalkstein verkleidet ist. Seine scharfkantige,<br />

regelmäßige und komplexe<br />

Form ist wie geschaffen dazu, in der<br />

gleißenden arabischen Wüstensonne<br />

Geometrien aus Licht und Schatten<br />

zu erzeugen. Im Inneren des fast 50<br />

Meter hohen Atriums setzt sich das<br />

Spiel fort: Tageslicht tritt durch einen<br />

vergleichsweise kleinen Okulus oben<br />

im Gebäude ein und wird <strong>von</strong> einer facettierten<br />

Kuppel aus Edelstahl reflektiert.<br />

Das Museum ist in vielerlei<br />

Hinsicht ein ‚typischer’ Pei – monumental,<br />

monolithisch und bis auf eine<br />

fast gebäudehohe Öffnung auf der<br />

Nordseite fensterlos. Dennoch mühte<br />

sich der 1917 geborene <strong>Architektur</strong>veteran,<br />

sein Formenvokabular an<br />

die Traditionen der islamischen Welt<br />

anzupassen: „Es schien mir, dass ich<br />

die Essenz der islamischen Architek-<br />

tur finden müsste. Die Schwierigkeit<br />

dabei war, dass die islamische Kultur<br />

so vielgestaltig ist.“ Wichtige Inspirationsquellen<br />

waren für ihn die Festungsbauten<br />

Nordafrikas und ein Brunnen<br />

im Innenhof der Ibn-Tulun-Moschee<br />

in Kairo. Wie bei dem Brunnen sollte<br />

auch in I. M. Peis Museum die pure,<br />

ornamentlose Form für sich stehen.<br />

Während der Außenbau diesen Anspruch<br />

einlöst, wurde das Atrium mit<br />

seinen Beton-Kassettendecken und<br />

vielfarbigen Steinfußböden deutlich<br />

stärker an den Geschmack der Auftraggeber<br />

angepasst. Das Gebäude<br />

steht auf einer eigens aufgeschütteten<br />

Insel 60 Meter vor der Küste am<br />

Südende der Bucht <strong>von</strong> Doha. Lediglich<br />

eine 45 Meter hohe Curtain-Wall<br />

aus Glas an der Nordseite des Atriums<br />

stellt die visuelle Verbindung<br />

zwischen dem Museumsinneren und<br />

der Skyline Dohas her. In die auf fünf<br />

Geschossen rings um das Atrium verteilten<br />

Ausstellungsräume dringt dagegen<br />

kein Lichtstrahl vor: Sie wurden<br />

nach Entwürfen des französischen Architekten<br />

Jean-Michel Wilmotte mit<br />

Porphyr, brasilianischem Edelholz und<br />

Edelstahlgewebe ausgekleidet und<br />

werden genau mit der Menge elektrischen<br />

Lichts beleuchtet, die den<br />

Kunstwerken zuträglich ist.<br />

GROTTE IN WEISS<br />

Le Havre, die zweitgrößte Hafenstadt<br />

Frankreichs, wächst wie viele<br />

Seehäfen stetig dem Meer entgegen:<br />

Draußen an der Seine-Mündung entstehen<br />

gegenwärtig neue Kaianlagen<br />

für Supertanker und Containerschiffe.<br />

Die weiter stadteinwärts gelegenen<br />

Docks dagegen stehen großenteils<br />

leer und warten auf neue Nutzungen.<br />

Wie zum Beispiel die ‚Bains des Docks‘<br />

<strong>von</strong> Jean Nouvel: Äußerlich fügt sich<br />

der massige Block aus schwarzglänzend<br />

lasierten Betonfertigteilen mit<br />

seinen maßstabslosen Aluminiumfenstern<br />

ebenso nahtlos ins Hafengebiet<br />

ein, wie er später in ein hier noch<br />

zu schaffendes Büro- oder Gewerbegebiet<br />

passen würde. Innen jedoch<br />

weicht die Geschlossenheit einer faszinierenden<br />

und bisweilen irritierenden<br />

Vielfalt der Räume und Korridore,<br />

Becken, Sitz- und Liegeflächen. Das<br />

einzig ordnende Element ist – neben<br />

der kubischen Gesamtform des Bauwerks<br />

– das große 50-Meter-Becken,<br />

das zwar im Inneren des Gebäudes,<br />

aber unter freiem Himmel liegt. Die<br />

weiß gestrichenen Fassaden ringsum<br />

deuten mit ihren Nischen und unregelmäßig<br />

verteilten Fenstern bereits<br />

an, welche Idee Nouvel bei seinem<br />

Entwurf leitete: die einer kleinteilig<br />

gegliederten Großskulptur, in deren<br />

6 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

FOTOO: COURTESY OF THE MUSEUM OF ISLAMIC ART<br />

Ecken und Winkeln der Besucher auch<br />

ausreichend Rückzugsräume findet.<br />

Während viele seiner Kollegen den<br />

rechten Winkel und die nackte weiße<br />

Wand derzeit am liebsten abschaffen<br />

möchten, rehabilitiert der französische<br />

Pritzker-Preisträger beide<br />

mit Nachdruck. Eines seiner Vorbilder<br />

war Eduardo Chillidas Skulpturenzyklus<br />

‚Elogio de la luz‘. Wie der<br />

baskische Bildhauer lässt Nouvel das<br />

Tageslicht durch tiefe Einschnitte in<br />

der Gebäudehülle in die Innenräume<br />

fallen. Dort wird es <strong>von</strong> weißen Mosaikfliesen,<br />

mit denen Böden, Becken<br />

und Sitzgelegenheiten verkleidet<br />

sind, reflektiert und in alle Richtungen<br />

gestreut. Neben dem Sportbecken<br />

umfassen die ‚Bains des Docks‘<br />

ein Spaßbecken mit Innen- und Außenbereich,<br />

zwei Kinderbecken und<br />

einen Bereich für die Balneotherapie.<br />

Die Gestaltung der ineinander<br />

geschachtelten Beckenlandschaft<br />

orientiert sich nicht zuletzt an natürlichen<br />

Vorbildern wie den Sinterterrassen<br />

<strong>von</strong> Pamukkale in der Türkei.<br />

Wie dort bilden auch in Jean Nouvels<br />

Bad das strahlende Weiß der Raumoberflächen<br />

und das Türkis des Wassers<br />

die zurückhaltende Farbpalette,<br />

vor der sich das bunte Treiben der Badenden<br />

abspielt.<br />

FOTO: CLEMENT GUILLAUME


KULTURFERNSEHEN<br />

MIT SOLARENERGIE<br />

Noch immer genießen Medienfassaden<br />

unter Architekten keinen besonders<br />

guten Ruf. Denn sie gelten als<br />

unarchitektonischer Eingriff in das ureigene<br />

Metier der <strong>Architektur</strong>; Motto:<br />

„Wir unterbrechen das Stadtbild für<br />

eine Werbepause.“ Außerdem verbrauchen<br />

sie eine nicht unbeträchtliche<br />

Menge Elektrizität und tragen zur<br />

viel beklagten Lichtverschmutzung<br />

am Nachthimmel bei. Bei GreenPix,<br />

die 2200 Quadratmeter große Medienfassade<br />

des Xicui Entertainment<br />

Complex in Peking, liegen die Dinge<br />

etwas anders. Zwar schmückt auch<br />

dieses Kunstwerk einen an sich unscheinbaren<br />

Gebäudekomplex nahe<br />

des olympischen Basketball- und des<br />

Baseballstadions, doch das Bildprogramm,<br />

das darauf abgespielt wird,<br />

umfasst vor allem Videoinstallationen<br />

junger Künstler. Koordiniert wird<br />

es <strong>von</strong> einem vielköpfigen Team um<br />

die Kuratorin und Produzentin Luisa<br />

Gui. Noch wesentlicher ist bei diesem<br />

Projekt jedoch der energetische<br />

Aspekt: Die gesamte Fassade<br />

operiert unabhängig vom Stromnetz.<br />

Sie wird durch in das Glas einlaminierte<br />

Solarzellen gespeist, deren<br />

Elektrizität tagsüber in Batterien<br />

zwischengespeichert und nachts<br />

zur Versorgung der 2292 farbverän-<br />

derlichen LED-Lichtpunkte verwendet<br />

wird. Die Photovoltaikelemente<br />

sind nicht gleichmäßig über die Fassade<br />

verteilt, sondern in einem unregelmäßigen<br />

Muster angeordnet, das<br />

ein wenig an einen Wolkenhimmel<br />

erinnert. „Mit der Medienfassade<br />

erhält die Stadt Peking ihren ersten<br />

Ausstellungsort für digitale Medienkunst<br />

und zugleich das bisher radikalste<br />

Beispiel für gebäudeintegrierte<br />

Photovoltaik“, sagt der New Yorker<br />

Architekt Simone Giostra, der die<br />

Fassade gemeinsam mit den Ingenieuren<br />

<strong>von</strong> Arup konzipiert hat. Der gebürtige<br />

Italiener sammelte während<br />

12 Jahren als Projektarchitekt in den<br />

Büros <strong>von</strong> Richard Meier, Steven Holl,<br />

Raimund Abraham und Rafael Viñoly<br />

Erfahrungen in der Konstruktion <strong>von</strong><br />

Glasfassaden, bevor er sich auf die<br />

Integration neuer Medien in die <strong>Architektur</strong><br />

spezialisierte. Um der Medienfassade,<br />

die rund zwei Meter vor<br />

der eigentlichen Außenwand des Gebäudes<br />

installiert wurde, auch bei Tag<br />

Struktur und Tiefe zu verleihen, sind<br />

einige der quadratischen, punktgehaltenen<br />

Glasscheiben um bis zu fünf<br />

Grad aus der Fassadenebene geneigt,<br />

was auf den ersten Blick den Anschein<br />

erweckt, als handele es sich um zahlreiche<br />

leicht geöffnete Fenster.<br />

FOTO: SIMONE GIOSTRA/ARUP/ROGU<br />

PORÖSE FESTUNGSMAUER<br />

Mit der Alhambra und dem Generalife<br />

zählt Granada zwei der wichtigsten<br />

maurischen Bauwerke in Spanien zu<br />

seinen Sehenswürdigkeiten. Die Wurzeln<br />

der Stadt liegen indessen woanders:<br />

Schon die Iberer und Römer<br />

errichteten auf dem der Alhambra<br />

gegenüberliegenden Cerro de San<br />

Miguel eine Festung. Heute ist dieser<br />

Ort in Anlehnung an seinen späteren<br />

maurischen Namen als ‚Alto Albaicín‘<br />

bekannt. Unter der Herrschaft der<br />

Nasriden wurde das Viertel ab Mitte<br />

des 14. Jahrhunderts mit einer Mauer<br />

umgeben. Heute trennt diese das<br />

einstige Maurenviertel <strong>von</strong> den innenstadtnahen<br />

Vororten Granadas.<br />

Doch das nähere Umfeld war lange<br />

Zeit alles andere als einladend: Schon<br />

im 19. Jahrhundert wurde die Mauer<br />

teilweise durch ein Erdbeben zerstört;<br />

auf den Grundstücken ringsum<br />

sammelte sich der Schutt der Jahrhunderte<br />

an. Der Wiederaufbau der<br />

Mauer durch Antonio Jimenez Torrecillas<br />

ist Teil einer groß angelegten<br />

Instandsetzung des gesamten Gebiets.<br />

112 Tonnen Granit ließen die<br />

Architekten aufschichten, bis ihre<br />

Konstruktion in Breite und Höhe der<br />

alten Mauer entsprach. Aus der Ferne<br />

wirkt sie nun tatsächlich wie deren<br />

Fortsetzung; im Detail wird jedoch<br />

ihre Eigenständigkeit sichtbar: Sie<br />

steht nicht unmittelbar in der Flucht<br />

der Nasridenmauer, sondern daneben<br />

auf einem eigenen Fundament und<br />

kann daher (theoretisch) wieder abgerissen<br />

werden, ohne das Baudenkmal<br />

zu beschädigen. Ihre äußerst flachen<br />

Steinschichten werden <strong>von</strong> lediglich<br />

einen Millimeter breiten Mörtelfugen<br />

zusammengehalten, was dem<br />

Ganzen das Aussehen eines Trockenmauerwerks<br />

verleiht. Außerdem ist<br />

die Mauer innen hohl: Zwischen den<br />

beiden Mauerschalen verläuft ein<br />

gedeckter Gang, in dem im Sommer<br />

eine angenehme Kühle herrscht. Spür-<br />

und sichtbar ist die Außenwelt dennoch<br />

auch <strong>von</strong> hier: Die Granitplatten<br />

sind ‚auf Abstand‘ vermauert, sodass<br />

die Zwischenräume ein lebhaftes<br />

Licht- und Schattenspiel im Innenraum<br />

entstehen lassen. Im Gegenzug<br />

erhaschen die Passanten durch<br />

die Mauerzwischenräume immer<br />

wieder kleine, punktuelle Ausblicke<br />

auf die Stadt. Die Architekten selbst<br />

sagen über ihre Intervention: „Wir<br />

wollen unserer Mauer den Eindruck<br />

<strong>von</strong> zusammengetragenem, aufgeschichtetem<br />

Material verleihen und<br />

so den dauerhaften, historischen Charakter<br />

des alten Baudenkmals noch<br />

stärker betonen.“<br />

7<br />

FOTO: VICENTE DEL AMO


MENSCH<br />

UND ARCHITEKTUR<br />

LICHT UND ORTE<br />

Der Mensch als Mittelpunkt der <strong>Architektur</strong>:<br />

Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.


Von Marietta Millet<br />

Fotografie <strong>von</strong> Josef Hoflehner<br />

Wohl nur das Medium Tageslicht kann uns sowohl<br />

Raum- als auch Zeitgefühl vermitteln. Seit Generationen<br />

versuchen Maler und Fotografen, das besondere Licht<br />

unterschiedlicher Orte einzufangen. Auch Architekten<br />

tun dies mit guten Gründen: Die Anpassung eines Gebäudes<br />

an spezifische Lichtverhältnisse bereichert nicht nur<br />

unsere Sinne, sondern kann auch zu beträchtlicher<br />

Energieeinsparung führen.<br />

Wir alle kennen Licht und Dunkelheit. Die Erfahrung eines<br />

Raums und die räumliche Wahrnehmung beruhen auf den Phänomenen<br />

Licht und Schatten, ihren Rhythmen und Mustern.<br />

Es ist nur schwer vorstellbar, ohne Blick auf den Himmel aufzuwachsen,<br />

ob er nun sonnig, dunstig oder schneeverhangen ist –<br />

oder alles zugleich. Das Tageslicht spielt eine entscheidende Rolle<br />

für den Charakter eines Ortes: Schon dessen bloße Nennung –<br />

die Sahara, Miami Beach, der Schwarzwald oder die Schweizer<br />

Alpen – ruft im Geiste die Vorstellung bestimmter Lichtverhältnisse<br />

hervor. Heute vermittelt uns die Bilderflut aus dem Internet<br />

einen Eindruck <strong>von</strong> fast jedem Ort der Erde. Doch bloße Bilder<br />

enthüllen nicht das vollständige Spektrum des Tageslichts an<br />

einem Ort, ein Spektrum, zu dem die Rhythmen <strong>von</strong> Licht und<br />

Dunkelheit ebenso gehören wie die physikalischen Eigenschaften<br />

und Merkmale der Objekte, auf die das Licht fällt. Ein Bild<br />

allein kann nie all die Veränderungen einfangen, die das Licht<br />

an einem bestimmten Ort einzigartig machen und die zum Beispiel<br />

Monet in seinen Gemäldeserien ‚Heuschober‘ oder ‚Wasserlilien<br />

in Giverny‘ festgehalten hat. Der einzigartige Geist eines<br />

Ortes lässt sich nur aus erster Hand erfahren.<br />

Zeit, Ort und Licht:<br />

Ein Verhältnis in konstantem Wandel<br />

Auch wenn wir in Schweden und in Südfrankreich (sowie an vielen<br />

anderen Orten dieser Welt) denselben klaren blauen Himmel<br />

sehen, nehmen wir ihn zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten<br />

wahr. An jedem Ort zeigt sich eine besondere Abfolge der Himmelsverhältnisse<br />

im Laufe eines Tages oder einer Jahreszeit. Neben<br />

solchen regionalen Mustern existieren spezifische Merkmale an<br />

bestimmten Orten einer Region. An jedem beliebigen Sonnentag<br />

erleben Talbewohner weniger Sonnenstunden als Bergbewohner.<br />

Und neben den physikalischen Formen – Berge oder Täler,<br />

Wälder oder Felder – trägt die Qualität des Tageslichts entscheidend<br />

zum Charakter eines bestimmten Ortes bei.<br />

Einige Orte sind bekannt für schnelle und dramatische Wetterwechsel<br />

und den raschen Wandel <strong>von</strong> Qualität und Quantität<br />

des Tageslichts: „Wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, warten<br />

Sie eine Minute!“ Andere Orte zeichnen sich durch sehr subtile<br />

Änderungen <strong>von</strong> Temperatur und Licht aus, das die Farbe <strong>von</strong><br />

Laubblättern und Himmel sacht verändert und die Entdeckung<br />

der Langsamkeit erahnen lässt.<br />

Links: Geheimnisvolles Licht, das<br />

den Ort umschmeichelt und seinen<br />

Geist zum Vorschein bringt. „Water<br />

Walk“, Japan.<br />

Die tiefen Wintersonnenstände in Finnland sind nicht nur ursächlich<br />

für die wenigen Stunden Tageslicht, sondern erzeugen auch<br />

ein eigentümlich gelbes Licht als Vorbote des nahenden Sonnenuntergangs.<br />

Die niedrige Sonne verursacht lange Schatten <strong>von</strong><br />

Menschen und Gebäuden. Im Sommer dagegen wird es fast nie<br />

dunkel, und dieser starke Kontrast zwischen Sommer und Winter<br />

prägt das Leben der Menschen. Die wertvollen Lichtstunden<br />

im Sommer führen zur Verkürzung der Arbeitszeiten, die Mittsommernachtsfeiern<br />

sind legendär.<br />

In den Tropen hingegen, wo die Sonne fast senkrecht steht,<br />

ist in der Monotonie der Tage hochgeschätzter Schatten nur selten<br />

zu finden. Die hohe Luftfeuchtigkeit erzeugt einen diffusen<br />

Lichtdunst und verschleiert den eigentlich blauen Himmel. In<br />

den letzten Jahrzehnten haben wir diese natürlichen Gegebenheiten<br />

durch künstliche Schadstoffe so verstärkt, dass über vielen<br />

Großstädten eine Smogglocke hängt. Der Smog verändert<br />

Farbe und Natur des Tageslichts, trübt den Fernblick und verringert<br />

den Tageslichteinfall in den Gebäuden.<br />

,Tageslichtkulturen’ und Tageslichtarchitektur<br />

Licht kann eine visuelle Botschaft übermitteln und die unangenehmen<br />

Seiten des Klimas abschwächen. In vielen nördlichen<br />

Gegenden werden Schmuckformen in der <strong>Architektur</strong><br />

gerne mit Goldfarbe gestrichen, als Kontrast zu der ansonsten<br />

trüben Szenerie dunkler Himmel und Oberflächen. In warmen<br />

und trockenen Klimaten hingegen ist das <strong>von</strong> senkrechten<br />

Flachflächen reflektierte Sonnenlicht oftmals zu intensiv<br />

und wird als störend empfunden. Strukturierte Ornamente<br />

erzeugen hier ein Muster aus Licht und Schatten, sie erfreuen<br />

das Auge und reduzieren die Blendwirkung.<br />

Die Lichtsensitivität eines Ortes beeinflusst uns sowohl im<br />

psychologischen als auch physiologischen Sinne. Ausgangspunkt<br />

jeder Landschafts- oder Gebäudeplanung ist normalerweise<br />

die harmonische Einfügung des Entwurfs in seine<br />

Umgebung. Komfort und Behaglichkeit für die zukünftigen<br />

Bewohner unterliegen unserer eigenen Wahrnehmung des<br />

Ortes mit seiner Kultur und Sinnlichkeit.<br />

Unsere Reaktion auf den Genius loci impliziert eine Reaktion<br />

auf die Kultur, die rund um Klima und Licht entstand.<br />

Diese Reaktionen auf das Licht wurden <strong>von</strong> zahlreichen Schriftstellern<br />

geschildert. In seinem Essay Lob des Schattens aus dem<br />

9


Jahr 1934 beschreibt Junichiro Tanizaki die traditionelle japanische<br />

Reaktion auf Licht: 1<br />

„Und so hängt die Schönheit eines japanischen<br />

Zimmers zwangsläufig <strong>von</strong> variierenden Schatten ab,<br />

schwere Schatten gegen leichte Schatten – etwas anderes<br />

gibt es nicht. Die Menschen aus dem Westen sind<br />

verblüfft <strong>von</strong> der Schlichtheit japanischer Zimmer, die<br />

für sie aus aschfahlen und schmucklosen Wänden bestehen.<br />

Ihre Reaktion ist nachvollziehbar, zeugt aber <strong>von</strong><br />

mangelndem Verständnis für das Mysterium der Schatten.<br />

Draußen vor dem Wohnraum, in den die Sonnenstrahlen<br />

allenfalls spärlich einfallen, vergrößern wir die<br />

Traufen oder bauen eine Veranda und distanzieren uns<br />

so noch weiter <strong>von</strong> der Sonne. Das Licht aus dem Garten<br />

stiehlt sich trübe durch papierverkleidete Türen ins<br />

Innere, und genau dieses indirekte Licht macht für uns<br />

den Charme eines Zimmers aus.“<br />

Tanizaki verdeutlicht, dass Entwurf und Konstruktion eines<br />

Hauses sowie die verwendeten Materialien diese spezielle<br />

Lichtqualität schaffen. Bedingt durch das Klima müssen die<br />

papierverkleideten Türen durch breite Veranden vor heftigem<br />

Monsunregen geschützt werden. Spezielle Reaktionen<br />

und Rituale wärmen die Bewohner im Winter, zum Beispiel<br />

die wärmespendende Feuergrube und das gemeinsame heiße<br />

Bad.<br />

Der kanadische Architekt Arthur Erickson hat die Qualität<br />

des Lichts im pazifischen Nordwesten und dessen Auswirkungen<br />

auf seine Entwürfe eloquent beschrieben. „Die Westküste<br />

ist ein besonders schwieriges Gebiet mit ihrem wässrigen Licht<br />

und dessen sanfter und subtiler Stimmung.“ 2 Er bezeichnet<br />

dies als Nordlicht, das „fern und über den Wolken versteckt<br />

ist“. 3 In seinen Entwürfen, so stellt er fest, bemühe er sich stets<br />

um „Transparenz im Haus oder Dachfenster, die die Wände in<br />

ein sanftes, beschauliches Licht tauchen, oder Wasserreflexionen,<br />

um die Helligkeit des Himmels auf die dunklen Erdoberflächen<br />

zu transportieren”. 4 Wasserreflexionen legen uns den Himmel<br />

zu Füßen. Im British-Columbia-Regierungskomplex (1973–<br />

1979) in Vancouver sind Wasserbecken in das Gebäude integriert.<br />

Das Wasser reflektiert das Sonnenlicht und seine Leuchtkraft<br />

12 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

auf die Menschen im Gebäude. Der Wolkenhimmel wird<br />

lebendig und belebt die Erfahrung des Ortes innen und außen.<br />

Licht und Wärme: Das Fenster als Schnittstelle<br />

Tageslicht spielt auch eine praktische Rolle für das thermische<br />

Verhalten <strong>von</strong> Gebäuden. Sonnenlicht, aber auch das Licht<br />

eines wolkenverhangenen Himmels, transportiert Wärme, und<br />

Glas, welches das Licht hindurchlässt, lässt auch Wärme herein<br />

oder hinaus.<br />

Jedes Fenster birgt daher ein Problem, das Le Corbusier in<br />

einer kurzen Schrift mit dem Titel ‚Die Probleme des Sonnenscheins‘<br />

zusammengefasst hat: „Die Geschichte des Fensters ist<br />

auch diejenige der <strong>Architektur</strong>, … zumindest eines der prägnantesten<br />

Aspekte der <strong>Architektur</strong>geschichte.” 5<br />

Heute weicht das Fenster immer mehr der gläsernen Vorhangfassade.<br />

Bei Vollverglasung wird das gesamte Gebäude zum<br />

Fenster. Und auch wenn neue Materialien und Fortschritte in der<br />

Gebäudetechnik vollverglaste Gebäude auch in rauen Klimaten<br />

möglich gemacht haben, reagieren die besten Gebäude doch stets<br />

einfühlsam auf ihren Standort und dessen Lichtverhältnisse. Oft<br />

wird innerhalb eines Gebäudes in jedem Raum eine andere Lichtqualität<br />

benötigt, bei der sich visueller Komfort und thermische<br />

Aspekte die Waage halten müssen.<br />

Licht zu entwerfen, bedeutet daher, ein Gleichgewicht herzustellen.<br />

Dieser heikle Prozess erfordert verschiedene Arten <strong>von</strong><br />

Beschattung, spezielle Materialien, bestimmte Verglasungen –<br />

oder alles zugleich. Zudem muss alles mit dem Gebäudeentwurf<br />

harmonieren – oder, besser noch, sich aus diesem ergeben. Ist das<br />

Tageslicht im Gebäudeentwurf kein entscheidender Faktor, wird<br />

es auch niemals für die Erfahrung eines Gebäudes <strong>von</strong> Belang<br />

oder Bedeutung sein.<br />

Eine Entwurfsfrage, keine Technikfrage<br />

Technologie ist hier nicht mit Stil zu verwechseln. Auch Gebäude,<br />

die mit Hilfe moderner Konstruktionstechniken und Materialien<br />

errichtet wurden, lassen sich gut an die Umgebung und<br />

ihren Genius loci anpassen, wie das ‚Paul Klee Zentrum’ (Renzo<br />

Piano Workshop, 2005) in Bern in der Schweiz. Piano thematisierte<br />

dies bereits in seinem ersten Bewerbungsschreiben um<br />

den Auftrag: „… Ich spüre, dass der Geist dieses Ortes, dieser<br />

Landschaft im sanften Gefälle des Hügels liegt … Eine Archi-


Vorherige Seite Mystische<br />

Szenerie, die Weite und Einsamkeit<br />

suggeriert: „Biwako Sticks“,<br />

Japan.<br />

Links Licht, das die Magie des<br />

Ortes einfängt. „Li River Study<br />

4“, aufgenommen in China <strong>von</strong><br />

Josef Hoflehner.<br />

tektur des Bodens bildet die Grundlage, auf der wir eine <strong>Architektur</strong><br />

aus Stein und klarem Licht bauen können.“ 6<br />

Die Dreiteilung des Gebäudes nimmt die Form der umliegenden<br />

Hügel harmonisch auf und passt sich gleichzeitig der<br />

vielbefahrenen Schnellstraße auf der Vorderseite an. Das gleichmäßig<br />

ins Gebäude strömende Tageslicht wird dort abhängig<br />

<strong>von</strong> der Empfindlichkeit der einzelnen Kunstwerke reguliert<br />

und gedämpft. 7 Das Licht dient nicht nur dem Sehen, sondern<br />

soll auch Stimmungen erzeugen: Geschäftigkeit in den<br />

öffentlichen Bereichen, Ruhe hingegen im „Museum des Zwielichts“,<br />

in dem die Besucher in eine Welt fern des Alltags versetzt<br />

werden.<br />

Ein gänzlich anderes Konzept verfolgte Piano bei der Erweiterung<br />

der Morgan Library in New York City (2006) – eine<br />

interne Piazza inmitten der Stadt. Die schlichten Glasfassaden<br />

sorgen für Transparenz und fügen die komplexe Anlage der<br />

Bibliothek zu einem Großen, Ganzen. Die eindringenden Sonnenstrahlen,<br />

wenngleich abgeschwächt durch die umliegenden<br />

Einzelbauten, erwecken den Innenhof zum Leben und schaffen<br />

eine Verbindung zwischen innen und außen.<br />

In Australien hat Glenn Murcutt Wohnhäuser entworfen,<br />

die ein tiefes Verständnis für die konkreten Gegebenheiten des<br />

Ortes ebenso widerspiegeln wie für dessen geistige Atmosphäre.<br />

Ein geneigtes Dach, das seinen Schatten auf eine horizontale<br />

Plattform wirft, ist bei Murcutt Grundelement des Hausbaus.<br />

Dazwischen werden leichte Trennwände eingefügt, die die<br />

Innenräume <strong>von</strong>einander und vom Außenraum abgrenzen.<br />

Einige seiner isoliert stehenden Häuser sind vollständig selbstversorgend.<br />

Da sie zudem vor Buschfeuern geschützt werden<br />

müssen, verhindert ihre Dachform die Ansammlung leicht entzündlichen<br />

Laubs. Auf diese Weise reagieren die Häuser nicht<br />

nur auf die lebenserhaltenden, sondern auch die bedrohlichen<br />

Aspekte des Genius loci.<br />

Energie und Genius loci<br />

Innovative Methoden wie die, die das Wesen eines Ortes sowohl<br />

praktisch als auch empirisch aufgreifen, sind für die moderne<br />

<strong>Architektur</strong> zukunftsweisend. Wir müssen aus weniger mehr<br />

machen – dieses Prinzip stellt wohl niemand mehr in Frage.<br />

Auch in Zukunft brauchen wir Licht, um zu sehen, doch das<br />

Tageslicht ermöglicht uns, auch ohne künstliche Lichtquelle zu<br />

arbeiten oder zu spielen. Richard Taylor schrieb 2007: „Laut<br />

unserer Schätzung verbrauchen wir auf der Erde derzeit nahezu<br />

40 % mehr an elektrischer Energie für Beleuchtung, als nötig<br />

wäre, wenn wir Tageslichtnutzung und präsenzabhängige Lichtsteuerung<br />

durchgängig und nicht nur bei Prestigeobjekten ausschöpfen<br />

würden.“ 8 Hinzu kommt, dass uns das Tageslicht nicht<br />

nur erlaubt, zu lesen, Kunstgegenstände zu betrachten oder<br />

Maschinen zusammenzusetzen; vielmehr lässt uns die Sonne<br />

viele Erlebnisse angenehmer erfahren.<br />

Die Energiekosten eines Gebäudes lassen sich aber nur dann<br />

durch Nutzung des Tageslichts reduzieren, wenn die Bauweise<br />

des Hauses dem Klima und den örtlichen Gegebenheiten entspricht.<br />

Daher wird es immer wichtiger, dass der gesamte Gebäudeentwurf<br />

– angefangen <strong>von</strong> Standortmerkmalen bis hin zu<br />

Konstruktionsdetails und durchdachter Beschattung – perfekt<br />

auf die Umgebung und die herrschenden Lichtverhältnisse<br />

abgestimmt ist.<br />

Denn schließlich dient das Tageslicht nicht nur dem<br />

Sehen.<br />

Marietta Millet ist emeritierte Professorin an der Fakultät für <strong>Architektur</strong> der<br />

Washington University, wo sie insbesondere in den Bereichen Licht und Farbe,<br />

Tageslicht/Kunstlicht und Klimadesign lehrte. Sie war Teilhaberin des Büros<br />

Loveland/Millet Lighting Consultants und ist Autorin des Buchs „Light Revealing<br />

<strong>Architecture</strong>“, publiziert 1996 <strong>von</strong> Van Nostrand Reinhold.<br />

Fußnoten<br />

„… <strong>Architektur</strong> liefert nicht nur den physischen<br />

Rahmen für menschliche Tätigkeiten, sondern weist<br />

den Menschen ihren Platz in Natur und Gesellschaft<br />

zu.“ 9<br />

1. Tanizaki, Junichiro. 1977. In Praise of<br />

Shadows. (New Haven, Conn.: Leete’s<br />

Island Books), S. 18.<br />

2. Erickson, Arthur. 1975. The <strong>Architecture</strong><br />

of Arthur Erickson. (Montreal,<br />

Quebec: Tundra Books), S. 33.<br />

3. ebd.<br />

4. ebd.<br />

5. Boesiger, Willy (Hrsg.) 1946. Le Corbusier:<br />

Oeuvre Complète, 1938-1946.<br />

(Zürich: Les Editions d’<strong>Architecture</strong>),<br />

S. 103. Übersetzung der Autorin.<br />

6. www.paulkleezentrum.ch<br />

7. Erster Entwurf des Museumsplans,<br />

1999. www.paulkleezentrum.ch<br />

8. Taylor, Richard. 2007, “The End of<br />

an Era, or the Start of a New One?”<br />

3lux:letters, 3-2007.<br />

9. Harries, Karsten. 1984, “On Truth and<br />

Lie in <strong>Architecture</strong>,” Via 7, The Building<br />

of <strong>Architecture</strong>. (Cambridge,<br />

Mass.: The M.I.T. Press, S. 51)<br />

13


TAGESLICHT Ein Geschenk der Natur: Tageslicht und wie<br />

es in der <strong>Architektur</strong> genutzt wird.<br />

14 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


Gebautes wird erst durch seinen konkreten Ortsbezug zu<br />

<strong>Architektur</strong>, und Orte werden erst durch ihre Licht- und Klimaverhältnisse<br />

einzigartig. <strong>Architektur</strong> ist daher stets eine Antwort<br />

auf diese natürlichen Gegebenheiten. Gebäude an der<br />

Küste sehen anders aus als jene im Landesinneren, Häuser in<br />

den Flusstälern der Welt sind anders konstruiert als solche im<br />

Hochgebirge, und die Bauten des Nordens unterscheiden sich<br />

dramatisch <strong>von</strong> denen subtropischer Regionen.<br />

Die folgenden 24 Seiten zeigen die Ergebnisse einer Entdeckungsreise<br />

an fünf Orte auf dem Globus. Wir baten fünf<br />

Architekten, die an Hochschulen und Universitäten lehren und<br />

beim International <strong>VELUX</strong> Award 2008 als Tutoren für teilnehmende<br />

Studenten fungierten, sich für uns auf die Suche nach<br />

dem charakteristischen Tageslicht ihrer Umgebung zu begeben<br />

– in Hangzhou, Eskisehir, Lissabon, Oslo und Charleston.<br />

Sie analysierten die spezifischen Eigenschaften des Tageslichts,<br />

die an dem jeweiligen Ort zu beobachten sind, und gingen der<br />

Frage nach, wie traditionelle Baumeister und moderne Architekten<br />

das vorhandene natürliche Licht für ihre Bauten nutz-<br />

MIDDLETON PLACE, USA<br />

LISSABON, PORTUGAL<br />

ten. Die Beiträge zeigen, dass es tageslichtsensible <strong>Architektur</strong><br />

zu allen Zeiten gegeben hat und bis heute gibt. Sie zeigen aber<br />

auch, dass Tageslicht in der <strong>Architektur</strong> nie isoliert betrachtet<br />

werden kann. Immer steht es in enger Wechselwirkung mit<br />

dem Klima und der Topografie eines Orts, mit den Oberflächen<br />

<strong>von</strong> Natur und <strong>Architektur</strong>, ja selbst mit der Lokalgeschichte<br />

und den Alltagsgewohnheiten seiner Bewohner. Die Introvertiertheit<br />

chinesischer Wohnhäuser und die Offenheit der Bauten<br />

der amerikanischen Nachkriegsmoderne erzählen uns <strong>von</strong><br />

der Enge der Stadt und der Weite der Landschaft, <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />

sozialen Strukturen, aber auch <strong>von</strong> unterschiedlichen<br />

Haltungen der Menschen gegenüber dem Tageslicht.<br />

Auch die azulejo-Fassaden Lissabons entstanden ursprünglich<br />

als Reaktion auf das regenreiche Klima Portugals. Seither<br />

jedoch haben sie Stadtbild und ‚Lichtatmosphäre’ der Stadt am<br />

Tejo maßgeblich geprägt.<br />

Doch genug der Vorrede. Welche Nuancen des Tageslichts<br />

unsere Autoren auf ihren Reisen noch entdeckt haben, erfahren<br />

Sie auf den folgenden Seiten.<br />

OSLO, NORWEGEN<br />

ESKISEHIR, TÜRKEI<br />

HANGZHOU, CHINA<br />

15


OSLO, NORWEGEN<br />

Betrachtungen über<br />

das Licht in Oslo<br />

VON ROLF GERSTLAUER<br />

Licht ist, … und ist nicht gleich.<br />

Ebenso wie der Umgang verschiedener Kulturen mit dem Licht<br />

sich nicht verallgemeinern lässt, ist auch die Lichtqualität <strong>von</strong><br />

Ort zu Ort und <strong>von</strong> Zeit zu Zeit verschieden. Um dem jahres-<br />

und ortsspezifischen Licht wirklich auf die Spur zu kommen,<br />

muss der Betrachter es deshalb für sich selbst entdecken.<br />

Die hier gezeigte Entdeckungsreise durch Oslo vollzog sich<br />

an sieben verschiedenen Tagen im Januar 2009. Ihre Schauplätze<br />

sind Orte der täglichen Routine sowie Räume und Orte,<br />

mit denen ich mich zur gegebenen Zeit fachlich in meiner<br />

Arbeit als Architekt auseinandersetzen musste. Die Betrachtung<br />

und Erforschung des Januar-Lichts hat bestätigt, was<br />

ich über die Tageslichtqualität Oslos intuitiv bereits wusste.<br />

Zugleich hat sie wieder einmal verdeutlicht, welch unerschöpfliches<br />

gestalterisches Medium das Licht für Architekten ist.<br />

Licht erschöpft sich nicht, und Licht ist für den Architekten<br />

das kreative Material, mit dem er Räume und Objekte erschafft<br />

und somit das architektonische Werk dem Ort zuschreibt, ihm<br />

so seine Einzigartigkeit verleiht.<br />

Licht scheint, ... und scheint weniger.<br />

Das Oslo eigene ‚nordische Licht’ hat einen langen Atem und<br />

einen schwachen, fast nicht fühlbaren Puls. Im Gegensatz zu<br />

meiner Heimat, den Graubündner Alpen, stützt sich die Dramaturgie<br />

des Lichtes hier nicht auf starke Kontraste, pulsierende<br />

Rhythmen und variierende Intervalle – das Licht spricht hier<br />

wenig oder nur leise, es ist ausgeglichen, monochrom und unaufdringlich,<br />

aber auch zuverlässig: ein demokratisches, transparentes<br />

Licht.<br />

Der Tag wird, wie ihn der Morgen versprochen hat. Die Wolken<br />

stehen entweder hoch am Himmel und bleiben dort, oder<br />

aber es gelingt ihnen den ganzen Tag nicht, in das Innerste des<br />

Oslo-Fjords einzudringen. Gewitter und plötzliche Wetterein-<br />

16<br />

brüche sind hier, anders als an der Westküste Norwegens, eine<br />

Seltenheit. Der Reiz <strong>von</strong> Oslos Tageslicht liegt nicht im Spektakulären<br />

und Spekulativen, sondern erschließt sich erst in der<br />

tieferen Auseinandersetzung mit ihm.<br />

Diese Auseinandersetzung besitzt notwendigerweise einen<br />

dialogischen Charakter. Um das Licht erfahren zu können,<br />

genügt es meist nicht, sich nur als reiner Zuschauer zu ver- und<br />

begnügen. Speziell (aber nicht nur) zur Winterzeit bedarf es einer<br />

erheblichen Anstrengung, um das zurückhaltende und an Pathos<br />

arme Licht wirklich zum Sprechen zu bringen. Das Januar-Licht<br />

in Oslo scheint wenig und will darum gesehen werden.<br />

Licht ist, ... doch selten allein.<br />

Brauchtum und Verhalten im Norden Europas sind zusätzliche<br />

Faktoren, die den Zugang zum Licht stark beeinflussen. Der<br />

Innenraum in seiner deutlichen Abgrenzung zum ungastlichen<br />

Klima bedingte eine bis auf den Rauchauslass für die Feuerstelle<br />

kompakte und vollständig geschlossene Hülle. Tag und Nacht<br />

mit ihrem Wetter waren draußen, das flackernde, wärmende<br />

und sammelnde Licht der Feuerstelle drinnen. Auch heute noch,<br />

wenn mit modernen Mitteln im offenen Gelände gebaut wird,<br />

scheint der Norweger Öffnungen in der Außenhülle hauptsächlich<br />

als Verlängerungen des Innenraumes zur Aussicht hin zu<br />

betrachten. Die Aussicht als eingerahmte und oft spektakuläre,<br />

ideell unberührte Natur wird dem Innenraum einverleibt. Das<br />

zaghafte Tageslicht schafft es dagegen nicht in allen Fällen, auf<br />

prägnante Weise in den Raum einzufallen.<br />

Die Feuerstelle als zentraler und sammelnder Punkt ist immer<br />

noch ein Leitbild und in übersetzter Weise bis heute bestimmend<br />

für die Beleuchtung des Innenraums. Auf dem Kontinent versucht<br />

das weiße und kräftige, an der Decke des Raumes befestigte<br />

Kunstlicht nach Einbruch der Dämmerung den Tag zu<br />

‚verlängern‘. In Norwegen geben dagegen auch tagsüber zahl-<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


OSLO, NORWEGEN<br />

reiche, meist mobile künstliche Lichtquellen (auch Kerzen) die<br />

weiche, gedämpfte gelb-orange Lichtstimmung des lebenden<br />

und wärmenden Feuers wieder. Niedrige Strompreise erlauben<br />

es, die Beleuchtung in allen Räumen brennen zu lassen, und das<br />

Fenster dient somit weniger dem Tageslichtdurchlass als der Aussicht<br />

auf ein gerahmtes Bild mit anderer, ‚abstrakter’ Lichtsituation.<br />

Um den Dialog mit dem Licht wirklich zu pflegen, muss<br />

das Licht daher manchmal ausgeschaltet werden.<br />

Licht ist, ... und bewegt uns.<br />

Lebt man in dieser Stadt, ist man versucht zu denken, dass<br />

es im Winter nie wirklich hell und im Sommer nie eigentlich<br />

dunkel wird. Der Sonnengang, so der Eindruck, schafft<br />

im Laufe des Jahres zwei Welten, die das Leben in Oslo entweder<br />

aufblühen lassen oder zum Schweigen bringen. Die<br />

Auseinandersetzung mit dem zeit- und ortsspezifischen Licht<br />

jedoch lässt einen anderen Gedanken reifen: Gerade die zarten,<br />

subtilen und fast unwahrnehmbar langsamen Wechsel<br />

sind für Oslo charakteristisch und tauchen die Stadt täglich<br />

in ein neues Licht.<br />

Das Subtile ist insistierend und intensiv. Die Dramaturgie<br />

des Lichts liegt im Wesentlichen nicht in den Jahreszeiten, sondern<br />

in der plötzlichen und bewussten Erfahrung einer Farbe,<br />

Form oder Reflektion – der Andeutung <strong>von</strong> etwas, das gestern<br />

oder vor ein paar Stunden noch nicht hier war, nicht in dieser<br />

Art und nicht in dieser Gestalt. Was eben noch flach und ohne<br />

Perspektive war, ist nun räumlich und ausgeprägt grafisch.<br />

Diese Erfahrung ist ebenso plötzlich, wie der Wechsel <strong>von</strong><br />

einer Gegebenheit zur anderen schwer wahrzunehmen ist. Die<br />

See, die noch vor einigen Minuten wie seit Wochen grau und leblos<br />

dalag, ist nun tiefgrün, farbsatt und wird körperhaft. Der im<br />

Januar ständig nass-dunkle und schwere Boden der Stadt wird<br />

vom Streiflicht der Sonne berührt, und die Reflektionen und Bre-<br />

chungen der Fenster zeichnen zusammen mit den endlos langen<br />

Schlagschatten der Bäume eine Partitur <strong>von</strong> Licht und Schatten,<br />

<strong>von</strong> heller und noch heller, <strong>von</strong> oben und unten, bis zuletzt die<br />

Gesetze der Schwerkraft aufgehoben zu sein scheinen und der<br />

Boden dem Himmel seinen Platz streitig machen will.<br />

Die Entdeckungsreise in Sachen Tageslicht endete im <strong>von</strong><br />

Sverre Fehn entworfenen neuen Ausstellungs-Pavillon für das<br />

<strong>Architektur</strong>museum in Oslo. Es ist ein Raum, der sich im<br />

und mit dem Licht bewegt und sich fortlaufend neu zeichnet.<br />

Ein Raum als eine Lichtmaschine, die weiß, wie sie sich dem<br />

Licht öffnen will, um es sich mit all seinen subtilen Nuancen<br />

einzuverleiben.<br />

Rolf Gerstlauer ist Professor an der Oslo School of <strong>Architecture</strong> and Design.<br />

Im eigenen Studio Gerstlauer Molne (seit 1992) befasst er sich neben der<br />

<strong>Architektur</strong> auch ausführlich mit Fotografie und experimentellen Filmprojekten.<br />

Die Bauten und Filme <strong>von</strong> Gerstlauer Molne (Letztere unter Pseudonym)<br />

wurden mehrfach publiziert und mit Preisen ausgezeichntet.<br />

S 18: 5. Januar 2009<br />

13.34 – 13.39; Stadtteil Hanshaugen,<br />

Außenbild<br />

Sonne: Aufgang 09.16 – Zenit 12.23<br />

(Höhe 7.4°) – Untergang 15.30<br />

Klima: wolkenfrei, Temp. –6.1°C,<br />

rel. Luftfeuchtigkeit 84 %,<br />

Oberfläche: Frostlag<br />

S 19: 6. Januar 2009<br />

09.35 – 09.39; Stadtteil Frogner,<br />

Interieurbild<br />

Sonne: Aufgang 09.15 – Zenit 12.23<br />

(Höhe 7.5°) – Untergang 15.31<br />

Klima: leicht bewölkt, Temp. –4.9°C,<br />

rel. Luftfeuchtigkeit 80 %,<br />

Oberfläche: bar<br />

S 20–21: 19. Januar 2009<br />

15.57 – 16.09; Stadtteil Kvadraturen,<br />

Interieurbild<br />

Sonne: Aufgang 08.57 – Zenit<br />

12.28 (Höhe 9.6°) – Aufgang 15.59<br />

Klima: bedeckt (Schneefall),<br />

Temp. –0.2°C,<br />

rel. Luftfeuchtigkeit 90 %,<br />

Oberfläche: Neuschnee (32 cm)<br />

17


OSLO, NORWEGEN<br />

18 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


3. JAN JANUAR 2009, 12:22<br />

OSLO, NORWEGEN<br />

19


OSLO, NORWEGEN


3. JANUAR 2009, 12:22


HANGZHOU, CHINA<br />

Implizite Kultur und<br />

introvertiertes Tageslicht<br />

Zwei Häuser in<br />

Hangzhou, China<br />

VONRUANHAOAND ZHANG YUE<br />

FOTOS: RUAN HAO<br />

gegenstand unserer fotoserie ist der Vergleich eines alten<br />

und eines neuen Hauses in der Stadt Hangzhou. Das alte Haus<br />

aus dem Jahre 1872 ist eine private Villa, die renoviert und<br />

zu Tourismuszwecken umgebaut wurde, während es sich bei<br />

dem neuen Haus, nach 2004 gebaut, um ein Ausbildungszentrum<br />

der China Academy of Art handelt. Wir gehen <strong>von</strong> der<br />

Annahme aus, dass das alte Gebäude als prototypisches Vorbild<br />

für das neue diente. Beide Gebäude illustrieren, wie das<br />

Wesen <strong>von</strong> Raum und Licht in südchinesischen Häusern seit<br />

Jahrhunderten überliefert und neu interpretiert wird.<br />

Die Fotos wurden an einem normalen, leicht bewölkten<br />

Nachmittag in dem sanften Licht aufgenommen, das für<br />

südchinesische Städte so typisch ist. Beide Gebäude wurden<br />

durch und für diese Lichtatmosphäre geschaffen. Ihre weißen<br />

Außenmauern vermitteln einen soliden und zugleich kühlen<br />

Eindruck. Sie reflektieren das Licht und grenzen die Häuser<br />

zu ihren Nachbarn hin ab. Im Gegensatz zu den fensterlosen<br />

Außenmauern sind die Innenhöfe <strong>von</strong> der Morgendämmerung<br />

bis zum Einbruch der Dunkelheit lichtdurchflutet.<br />

Die warmen Holzfassaden, die sie an allen Seiten umgeben,<br />

zeugen <strong>von</strong> der Behaglichkeit der Häuser und verwandeln<br />

das Licht im Innenhof in ein lebendiges, fast dramatisches<br />

Element, das im Hof eingeschlossen ist. Ein Teil des Lichts<br />

wird indirekt durch die Korridore in die Räume geleitet und<br />

erscheint so rein und erhaben, als sei es gleichsam <strong>von</strong> der<br />

Holzfassade ‚getauft’.<br />

Baustile mögen sich ändern, der innere kulturelle Wert<br />

einer Region sowie der Menschen und <strong>Architektur</strong> dort aber<br />

bleibt. Und so wohnt beiden Häusern, obgleich ihre Entstehungszeit<br />

132 Jahre auseinanderliegt, der gleiche Gegensatz<br />

inne: hier die äußere, verschlossene und indifferente Erscheinung<br />

und dort die lebendige, aber kontrollierbare und in<br />

sich ruhende Innenwelt.<br />

22<br />

Ruan Hao ist MArch Student an der Fakultät für <strong>Architektur</strong> der Tsinghua-<br />

Universität in Peking. Er war Gasthörer an der Harvard Graduate School of<br />

Design und gewann den zweiten Preis beim International Velux Award 2008.<br />

Derzeit arbeitet er für die Preston Scott Cohen, Inc. am Taiyuan Museum of<br />

Art in China.<br />

Dr.Zhang Yue ist außerordentlicher Professor an der Fakultät für <strong>Architektur</strong><br />

der Tsinghua-Universität in Peking. Er gewann den Holcim Award für Ostasien<br />

in Gold, den Grand Prix der dritten DBEW International Housing Competition<br />

und war Finalist bei der zweiten Living Steel Competition.<br />

Rechts: Außenwand der alten Villa.<br />

Die weiße Außenwand scheint das<br />

Gebäude <strong>von</strong> der Außenwelt abzuschirmen.<br />

Obwohl das neue<br />

Gebäude offener gestaltet ist,<br />

herrscht auch hier Exklusivität.<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Nächste Seite: Innenhof – alt und neu.<br />

Die Form des Lichts ist nicht fassbar,<br />

obwohl es durch klar definierte Grenzen<br />

in die Räume gelassen wird. Das Licht<br />

wird intensiv wahrgenommen, obwohl<br />

die Sonne nicht direkt sichtbar ist.


HANGZHOU, CHINA<br />

23


HANGZHOU, CHINA<br />

24 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


3. JANUAR 2009, 12:22<br />

HANGZHOU, CHINA<br />

25


MIDDLETON PLACE, USA<br />

Genius Loci und Maisgrütze<br />

Inn in Middleton Place<br />

bei Charleston, usa<br />

VON MARK MORRIS<br />

unvergessliche orte sind typischerweise verbunden mit<br />

dem ersten Eindruck, bestimmten Menschen oder der Erinnerung<br />

an ein gutes Essen. Nur wenige für uns denkwürdige<br />

Orte verdanken dies ihrer Gestaltung. Es wundert mich selbst,<br />

warum ich das Inn in Middleton Place neben meinen Lieblingshotels<br />

in London und New York zu meinen Favoriten<br />

zähle, doch steckt es voller Überraschungen. Architektonisch<br />

ist es das Letzte, was man am Ende eines gewundenen Schotterwegs,<br />

gesäumt <strong>von</strong> kleinen Palmen und Dschungelmoos, in<br />

der Nähe <strong>von</strong> Charleston in South Carolina zu finden erwartet.<br />

Der formale Gegensatz zu den Überresten der Middleton<br />

Plantage ist krass. Das Hotel, wohl das gelungenste Gemeinschaftsprojekt<br />

<strong>von</strong> W. G. Clark und Charles Menefee, liegt<br />

beschaulich auf einer kleinen Anhöhe über dem trüben Sumpfgewässer<br />

des Ashley River. Der Komplex, vor fünfundzwanzig<br />

Jahren auf Geheiß eines Nachfahren Middletons gebaut,<br />

besteht aus einem Haupthaus in L-Form, das eine gepflegte<br />

Rasenfläche einschließt, und einer Handvoll wie Satelliten in<br />

der Gegend verstreuter Bauten.<br />

Alle Gebäude sehen aus wie mehrgeschossige Glaswürfel<br />

mit schwarzen Holzrahmen, Betonschornsteinen und Brandmauern.<br />

Das Ganze mutet an wie ein Kartäuserkloster: Hier<br />

wird jeder zum kontemplativen Einsiedler. Enge gewölbeähnliche<br />

Treppen verbinden die oberen Zimmer mit dem Erdgeschoss.<br />

Die karge Materialpalette wird ausgeglichen durch die<br />

üppige Landschaft und die angenehme Optik des Interieurs.<br />

Die Gästezimmer sind spärlich eingerichtet, erstrahlen aber<br />

im honigfarbenen Licht, das durch die für diese Gegend typischen<br />

wandhohen Innenjalousien dringt. Durch Öffnen und<br />

Schließen einzelner Jalousien und je nach Stellung der vertikalen<br />

Lamellen variieren Licht und Stimmung in den Zimmern.<br />

Hinzu kommen zwei besondere Fensterarten: Zwischen<br />

dem schwarzen Holz und dem Beton befinden sich schmale<br />

26<br />

verstellbare Flügelfenster, die an Lüftungsschlitze erinnern;<br />

durch ihre Echowirkung intensivieren sie das Geräusch des<br />

Regens. Leicht gebogene, sandgestrahlte Glasbausteinfenster<br />

bilden die Hintergrundkulisse für trogförmige Badewannen<br />

und harmonieren perfekt mit dem Fliesenmuster.<br />

Das ‚L‘ mündet im Rezeptionsbereich, über dem eine Penthouse<br />

Suite liegt. Ein riesiger Kamin durchbohrt das Ganze<br />

wie ein Spieß; die Feuerstellen im Erdgeschoss und im Wohnzimmer<br />

der Suite greifen die L-Form auf subtile Weise auf,<br />

und der Kamin in der Lobby lodert und knistert wie die Esse<br />

einer Schmiede. Ein luftiger Balkon auf Rasen- und Flussseite<br />

umläuft die Suite. Die uralte architektonische Herausforderung,<br />

die Ecke des ‚L‘ zu füllen, wird geschickt gelöst. Die Querachse<br />

mündet in einer etwas unheimlichen Ruine, die sich gegen den<br />

Himmel absetzt und schwere Schatten auf den Fahrradständer<br />

darunter wirft. Die hier verwurzelte Kopoubohne bedeckt den<br />

Großteil des Eingangsbereichs und verleiht dem Inn das Aussehen<br />

einer riesigen Hecke, erfüllt vom Summen der Stechfliegen<br />

und Zwitschern der Spatzen.<br />

Das Hotel zieht Gäste unterschiedlichster Couleur an:<br />

Einige kommen dorthin wegen der bewegten Geschichte<br />

der Plantage nebenan, andere wandern durch die Gärten (die<br />

ältesten architektonischen Gärten des Landes) und pflücken<br />

Rhododendron, ein paar Sportler tummeln sich in Kanus auf<br />

dem Fluss. Sie alle aber teilen die unbegründete Sorge über<br />

die ‚Haltbarkeit‘ des Ortes in dem Wunsch, alles so zu belassen<br />

wie auf den alten Spoleto-Festival-Postern über den Betten,<br />

und fragen sich laut, wer zum Teufel sonst noch den einzigartigen<br />

Charme dieses Ortes zu schätzen weiß. Welche breite<br />

und gewinnträchtige Touristenschicht mit Interesse an Vorkriegs-Grandeur<br />

möchte schon in einem düsteren modernen<br />

Kloster einquartiert werden, wenn man ein wenig weiter unten<br />

an der Straße in Villen mit Säulengängen und spitzenbesetz-<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


MIDDLETON PLACE, USA<br />

ten Himmelbetten residieren kann? Wissen oder interessiert<br />

es genügend Leute, dass das Hotel vom American Institute of<br />

Architects höchste Anerkennung bekam (das AIA-Zitat hängt<br />

in der Lobby neben den Mitgliedsurkunden der Green Hotel<br />

Association, Audubon Society und National Wildlife Federation)?<br />

Viele wissen es. Und viele scheint es zu interessieren.<br />

Für Alexander Pope „offenbart sich ein Genius loci in der<br />

Landschaft, fängt offene Lichtungen ein, gesellt sich zu dichten<br />

Wäldern und variiert Schatten um Schatten, bricht hier und<br />

leitet dort die vorgegebenen Linien …“. Das Design <strong>von</strong> Clark<br />

und Menefee, in die Landschaft eingebettet, nutzt und evoziert<br />

diese Definition wortwörtlich. Die geistige Atmosphäre dieses<br />

Ortes wird nicht nur optisch verstärkt. Der Geruch <strong>von</strong> Holzfeuern<br />

ist auch im Hochsommer in den Räumen wahrzunehmen.<br />

Die kühlen Fliesen im Bad wirken erfrischend nach einem<br />

beschaulichen Spaziergang durch die Gärten oder einem Aufenthalt<br />

am Pool. Auch der Geschmackssinn spielt eine Rolle:<br />

Das Hotelfrühstück wird stets mit Maisgrütze serviert, auf<br />

deren Geschmack ich allerdings noch kommen muss. Egal, sie<br />

gehört zu diesem Ort und seiner speziellen Atmosphäre dazu.<br />

Viel mehr aber ist die nachhaltige Erinnerung an diesen Ort<br />

dem überzeugenden Design und dessen geschickter Umsetzung<br />

sowie der Genügsamkeit als Naturkulisse zu verdanken.<br />

Mark Morris lehrt Entwurf und Theorie an der Cornell University in Ithaca/<br />

USA und koordiniert dort den Aufbaustudiengang zum Master of <strong>Architecture</strong><br />

sowie zum PhD der <strong>Architektur</strong>geschichte. Er studierte an der Ohio State University<br />

und erlangte seinen Doktortitel am London Consortium der University<br />

of London. Morris ist Verfasser des Buchs Automatic <strong>Architecture</strong> and Models:<br />

<strong>Architecture</strong> and the Miniature und Moderator der iTunes-Podcast-Serie „<strong>Architecture</strong><br />

on Air“. Er lehrte an der Londoner Bartlett School, der Architectural<br />

Association und der University of North Carolina in Charlotte, wo sein Freund<br />

und Kollege Greg Snyder ihn mit der Arbeit der Architekten Clark und Menefee<br />

bekannt machte.<br />

27


MIDDLETON PLACE, USA


ESKISEHIR, TÜRKEI<br />

Licht ist die Zeit<br />

Kilicoglu-Ziegelei<br />

in Eskisehir<br />

VON RECEP ÜSTÜN<br />

die fotografien wurden in den inzwischen leerstehenden<br />

Kilicoglu-Ziegeleien in Eskisehir aufgenommen.<br />

In den nun inmitten der Stadt verbliebenen Fabrikanlagen,<br />

die in Eskisehir seit 1928 in Betrieb waren, wurde noch<br />

bis vor 5 Jahren produziert.<br />

Licht ist die Zeit ...<br />

Licht lässt sich nicht eintrüben und ist deshalb auch unabhängig<br />

<strong>von</strong> Zeit.<br />

Louis Kahn betrachtet Materie als Licht ohne Glanz. Ihm<br />

zufolge ist Materie aus ‚Licht’ gegossen, ebenso wie Eisen in<br />

eine Form gegossen wird. Deshalb hat Materie sichtbare<br />

Zustände. Diese Zustandsvielfalt verhindert, dass wir die<br />

Materie als ein einziges Objekt betrachten können.<br />

Bei Bewegungslosigkeit des Materien-Lichts (Ewigkeit)<br />

ruht die Arbeit.<br />

Diese Fotos beabsichtigen, die Spannung zwischen Licht<br />

und Materie und die Reflexion dieser Beziehung auf Orte aufzuzeichnen.<br />

Die Vergänglichkeit <strong>von</strong> Zeit wandelt jedes Foto in einen<br />

Abschied. Von allem, was fotografierbar ist, kann man sich<br />

verabschieden.<br />

Doch das Licht bleibt” ...<br />

30<br />

Recep Üstün schloss 1988 sein <strong>Architektur</strong>studium an der Fakultät für Ingenieurswesen<br />

und <strong>Architektur</strong> der Anadolu-Universität in Eskisehir ab. Seit<br />

1989 ist er als Dozent an der Fakultät für Ingenieurswesen und <strong>Architektur</strong><br />

der Anadolu-Universität sowie im Studiengang <strong>Architektur</strong> der Osmangazi-<br />

Universität tätig. Er nimmt an nationalen und internationalen <strong>Architektur</strong>-<br />

Wettbewerben teil.<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


ESKISEHIR, TÜRKEI<br />

31


LISSABON, PORTUGAL<br />

Licht über Lissabon<br />

VON CARLOS LAMPREIA<br />

„Sage mir, meine Seele, arme, erkaltete Seele, was<br />

dächtest du da<strong>von</strong>, in Lissabon zu wohnen? Es soll<br />

dort warm sein, und du würdest wieder munter<br />

werden wie eine Eidechse. Diese Stadt liegt am Rande<br />

des Wassers, man sagt, dass sie aus Marmor gebaut<br />

ist und die Menschen dort Pflanzen so sehr hassen,<br />

dass sie jeden Baum der Erde entreißen. Das ist eine<br />

Landschaft nach deinem Geschmack, eine Landschaft<br />

aus Licht und Mineralien und dem Wasser, um sie zu<br />

spiegeln.”<br />

Charles Baudelaire, in Le spleen de Paris [Petits poèmes en prose]<br />

das licht, abstrakt in seiner Essenz, diese leichte, unfassbare<br />

Substanz, macht in Kombination mit geografischen und<br />

meteorologischen Phänomenen die <strong>Architektur</strong> mit all ihren<br />

Strukturen und Zuständen erst sichtbar. Fast ist es eine lebendige,<br />

unvorhersehbare Materie, die – sobald sie sich verändert –<br />

Einfluss auf unserer Verhalten und unseren bewohnten Raum<br />

nimmt. Vor allem aber ist Licht Energie, welche den Raum erst<br />

wahrnehmbar werden lässt und ihn und jede andere Materie<br />

offenbart.<br />

Die Abhängigkeit vom Licht ist fast so alt wie die Erde<br />

selbst, und seit Menschengedenken wird sie in allen Kulturen<br />

dargestellt. Heute können wir dies im Werk <strong>von</strong> Künstlern<br />

wie James Turrell entdecken. Er fängt das Licht mit einer<br />

Serie <strong>von</strong> sogenannten ‚Skyspaces‘ – kleinen, architektonischen<br />

Strukturen, die zur Beobachtung des Himmels konzipiert sind<br />

– ein und sucht es so zu verstehen. Auch Olafur Eliasson hat<br />

mit seiner Installation ‚The weather project‘ <strong>von</strong> 2003 die physikalischen<br />

Phänomene der Natur künstlich erzeugt, dabei<br />

die Tate Gallery in London mit einem intensiven Sonnenlicht<br />

zum Leben erweckt und die Betrachter in Verzückung versetzt.<br />

32<br />

In Lissabon, wo das Licht intensiv ist und vom Wasser noch<br />

verstärkt wird, wird auch die <strong>Architektur</strong> zur Kunst. Sie nimmt<br />

die Energie in lichtdurchfluteten Räumen auf und macht diese<br />

dadurch bewohnbar. Ihren Ursprung nimmt diese Wechselwirkung<br />

in Lissabons geografischer Lage: Der Fluss Tejo erreicht<br />

durch einen kleinen Kanal den Atlantischen Ozean und bildet<br />

mit seinem ausgedehnten Flussdelta ein kleines Binnenmeer,<br />

das Mar da Palha. Es markiert den Übergang vom ruhigen,<br />

natürlichen Hafen in die Weiten der Meere. An diesem Angelpunkt,<br />

der Grenze zwischen Wasser und Land, entwickelte<br />

sich Lissabon.<br />

Im 17. Jahrhundert <strong>von</strong> einem Erdbeben fast vollständig<br />

und systematisch zerstört, wurde die Stadt in einem Zug wiederaufgebaut,<br />

was ein großes Maß an Homogenität schuf, dem<br />

sogenannten ‚Pombalino‘-Stil. Er lässt die Stadt so erscheinen,<br />

als sei sie aus nur einem Material, dem Stein.<br />

Die Konfrontation dieser beiden immensen Massen, der<br />

steinernen Stadt einerseits und dem Fluss des Lichtes andererseits,<br />

hat das Bild der Stadt geprägt und intensive Spiele mit<br />

dem Licht ermöglicht. Sie leitet es durch die Straßen und Gassen<br />

der Stadt, während wir auf die nächste Gelegenheit warten,<br />

den Fluss wiederzusehen. Spürbar wird das Lichtspiel an den<br />

Terraços de Bragança in der Rua do Alecrim <strong>von</strong> Álvaro Siza:<br />

Die Gebäude kommunizieren mit ihrem im Pombalino-Stil<br />

erbauten Nachbarn. Zwischen ihnen blieben Reste der alten<br />

Stadtmauer erhalten. Die gefliesten Fassaden in subtilen Abstufungen<br />

<strong>von</strong> Weiß und Blau reflektieren das Licht, lenken es in<br />

diese Zwischenräume, entmaterialisieren dadurch die Präsenz<br />

der Gebäude und durchfluten das Stadtgefüge mit der intensiven<br />

Energie der Sonne.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts wurde nahe dem Kanal in der<br />

Mitte der Stadt, gleich neben dem Hafen, eine riesige steinerne<br />

Plattform gebaut, wie eine immense, gradlinige Veranda. Sie<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


LISSABON, PORTUGAL<br />

überbrückt den Fluss und fungiert als eine Art Spiegel des hektischen<br />

Industrie- und Hafenlebens. Auf dieser Plattform steht<br />

das ‚Museu do Oriente‘ <strong>von</strong> João Luís Carrilho da Graça, ein<br />

ehemaliges Lagerhaus, dessen dynamisches Nebeneinander verschiedener<br />

Volumina immer neue, unvorhersehbare Dialoge<br />

mit den Containerschiffen des Hafens entstehen lässt. Goldfarbene<br />

Pigmente an der Fassade des Dachgeschosses verleihen dem<br />

Gebäude Glanz und weisen auf seine neue Nutzung hin.<br />

In Lissabon findet ein ständiges Wachstum entlang der Ufer<br />

in Richtung Meer oder <strong>von</strong> der Quelle bis zum Mar da Palha<br />

statt. Dieses schon immer intensiv für Industrie und Hafenbetrieb<br />

genutzte Gebiet bildet seit der Weltausstellung 1998 eine<br />

Erweiterung des Stadtgefüges. Hier ist die Stadt sehr exponiert,<br />

Topografie und Bebauung sind gleichermaßen flach, und<br />

die ausgedehnten Wasserflächen besitzen eine enorme Weite.<br />

Das intensive Licht blendet oft so stark, dass das andere Ufer<br />

kaum zu erkennen ist. Einen zeichenhaften Sonnenschutz schuf<br />

Álvaro Siza an dieser Stelle mit dem portugiesischen Pavillon<br />

der EXPO98. Sein immenses Hängedach aus Beton erstreckt<br />

sich entlang des Wassers und schafft so einen bedeckten und<br />

angenehm kühlen Platz in Ufernähe.<br />

Je mehr man sich dem Meer nähert, umso breiter wird der<br />

Fluss und umso stärker die Veränderungen seiner Oberflächenstruktur.<br />

Je nach Lichtintensität erleben wir den Tejo auf ganz<br />

unterschiedliche Weise. Die westlichen Randgebiete der Stadt<br />

begleiten diese Variationen mit ihrer suburbanen Bebauungsstruktur,<br />

die versucht, die Intensität des Lichts einzufangen.<br />

Beispielhaft hierfür ist das Centro de Coordenação BRISA in<br />

Carcavelos <strong>von</strong> João Luís Carrilho da Graça. Das Gebäude<br />

nahe der Autobahn nutzt das auf die Fassaden auftreffende<br />

Sonnenlicht mittels großer Solarkollektoren. Im Atrium dagegen<br />

schaffen Wasserflächen und weiß verputzte Wände eine<br />

Lichtqualität, wie wir sie vom Fluss her kennen.<br />

Endlich erreicht das Meer Cascais, den Ort, an welchem sich die<br />

Bebauung verdichtet und sich dem Ozean zuwendet. Unmittelbar<br />

an der Einfahrt zum Kanal <strong>von</strong> Lissabon stehen hier der<br />

Leuchtturm und das Museum Santa Marta <strong>von</strong> Aires Mateus.<br />

Die Architekten hüllten die bestehenden Gebäude in glänzende,<br />

weiße Fliesen, abstrahierten so deren Form und verwandelten<br />

den gesamten Komplex zugleich in eine leuchtende Einheit, die<br />

sich über den schwarzen Felsen emporhebt.<br />

Die <strong>Architektur</strong> <strong>von</strong> Aires Mateus nimmt die Bestandteile<br />

des genius loci auf, vom Fassbarsten, wie den bestehenden<br />

Naturformen und Gebäuden, bis hin zum Abstraktesten, wie<br />

dem Licht. Wenn wir verstehen, dass – wie José María Montaner<br />

es tut – das Mysterium des Universums ist, dass es vollständig<br />

aus Energie und deren Umwandlung besteht, dann<br />

könnten wir wagen zu sagen, dass der Raum die Art und Weise<br />

darstellt, wie wir das Licht einfangen.<br />

Carlos Lampreia ist seit 1994 Dozent an der FAA-Universidade de Lisboa und<br />

leitet sein eigenes <strong>Architektur</strong>büro in Lissabon. Er studierte an der <strong>Architektur</strong>fakultät<br />

in Porto und der Technischen Universität Lissabon, erwarb danach<br />

einen Mastertitel in <strong>Architektur</strong>theorie und arbeitet an seiner Dissertation<br />

über orts- und materialbezogene Strategien in <strong>Architektur</strong> und Kunst.<br />

33


LISSABON, PORTUGAL<br />

34 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


LISSABON, PORTUGAL<br />

35


LISSABON, PORTUGAL<br />

36 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


LISSABON, PORTUGAL<br />

37


––°––’––’’ N<br />

––°––’––’’ S<br />

2005


––°––’––’’ E<br />

––°––’––’’ W<br />

Landschaften kreiert <strong>von</strong><br />

Michael Reisch<br />

www.michaelreisch.com<br />

Vorherige Seite: Landschaft,<br />

1/010 digital c-print/diasec<br />

2005, 124 × 201 cm – courtesy<br />

Gallery Rolf Hengesbach,<br />

Köln, Deutschland<br />

Gegenüber: Landschaft, 0/023<br />

digital c-print/diasec 2003,<br />

124 × 190 cm – courtesy Gallery<br />

Rolf Hengesbach, Köln,<br />

Deutschland<br />

40<br />

„In der Fotografie geht man, so die<br />

Konvention, eigentlich immer <strong>von</strong><br />

etwas Realem, physikalisch Existenten,<br />

Abbildenswertem aus:<br />

Erst gibt es die Realität, das Phänomen.<br />

Das Foto ist dann gemeinhin<br />

das Abbild dieses Phänomens.<br />

In meinen Bildern habe ich diesen<br />

Sachverhalt in gewisser Weise<br />

umgekehrt, hier habe ich die Realität,<br />

das Phänomen, die tatsächlich<br />

existente Landschaft, als Abbild,<br />

als Entsprechung meiner Vorstellung<br />

benützt, wobei das Authentische<br />

des fotografierten Ortes<br />

letztendlich im Bild keine Rolle<br />

mehr spielt. Das Authentische<br />

des Ortes wird ersetzt durch das<br />

Authentische des Bildes. Mit anderen<br />

Worten: meine Bilder sagen<br />

weniger über das Abgebildete als<br />

vielmehr etwas über meine visuellen<br />

Entscheidungen aus. Der Ort,<br />

der Genius loci, ist bei meinen Bildern<br />

nicht die reale Landschaft,<br />

sondern befindet sich im Kopf des<br />

Künstlers oder des Betrachters. An<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

diesen subjektiven Vorstellungen<br />

des Betrachters, die ja wiederum in<br />

kollektiven Vorstellungen (Malerei,<br />

Literatur, Film, Werbung, etc.) eingebettet<br />

sind, und aus denen sich<br />

letztlich so etwas wie unsere zeitgenössische<br />

Auffassung <strong>von</strong> Landschaft<br />

und Natur zusammensetzt,<br />

interessiert mich insbesondere der<br />

Aspekt <strong>von</strong> Landschaft als Projektionsfläche<br />

einer kollektiven, unerfüllbaren<br />

Sehnsucht, Landschaft<br />

als utopischer, paradiesischer Entwurf,<br />

als Traum <strong>von</strong> unberührter<br />

Natur; und, demgegenüber, eine<br />

gängige, pragmatische, funktionalistische,<br />

kalte Auffassung <strong>von</strong><br />

Natur als Roh- und Gebrauchsmaterial,<br />

als nützliche und verfügbare<br />

Bio-Masse: Landschaft zwischen<br />

Paradies und Gentechnikalbtraum.“<br />

Michael Reisch


REFLEKTIONEN Neue Perspektiven:<br />

Ideen abseits der Alltagsarchitektur.<br />

GENIUS LUCIS<br />

WAS WOHNLICHT<br />

SEIN KÖNNTE


Von Gerhard Auer<br />

Fotografie <strong>von</strong> Beatrice Minda<br />

Es gibt kaum einen Ort auf der Erde, zu dem der<br />

Mensch eine engere Beziehung pflegt als zu seiner<br />

Wohnung. Bei welchem Licht Menschen sich ‚zu Hause‘<br />

fühlen, variiert je nach kulturellem Hintergrund und<br />

individueller Präferenz. Dennoch lassen sich bei<br />

näherem Hinsehen Grundfunktionen des Wohnens<br />

und ‚Genien‘ des Wohn-Lichts identifizieren, die über<br />

alle Zeiten Bestand hatten.<br />

Nur wer das Wohnen gleich mit Wohnung und diese gleich<br />

mit dem Wohnbau verbindet, wird sich auch unter Licht gleich<br />

die Belichtung und unter der Belichtung gleich Fenster und<br />

Leuchtkörper vorstellen. Doch die Frage, was Wohnen überhaupt<br />

kennzeichnet und in welcher Beziehung es zum Licht<br />

steht, zwingt zu verzweigteren Annäherungsversuchen an eine<br />

Begriffspaarung ‚Wohnlicht‘, die bisher weder in den Diskursen<br />

zum Wohnungsbau noch zur Lichtgestaltung als Kapitelüberschrift<br />

zu finden ist. 1<br />

Wohnen ist…<br />

Angesichts der weltweiten Vielzahl <strong>von</strong> Wohnformen, hervorgegangen<br />

aus Kontrasten des Klimas, aus Unterschieden sozialer<br />

Konvention und aus Ungleichzeitigkeiten zivilisatorischer<br />

Technik, scheint sich jeder Vergleich zu verbieten. Doch vor und<br />

jenseits aller kulturellen Differenz – so lehrt uns die Anthropologie<br />

– musste sich homo habilis, weil ein Nestbauprogramm in<br />

seiner genetischen Ausstattung fehlt, ein Habitat selbst ausdenken.<br />

Seither sind zwar nicht die Lösungen, aber die Probleme des<br />

Wohnens die gleichen geblieben. Mit anderen Worten: Wohnbedürfnisse<br />

und Wohnträume sind die gemeinsamen Nenner,<br />

die sich jeder Erdenbürger mit jedem anderen teilt – und für<br />

die Rilke einen gemeinsamen Verursacher gefunden hat: „das<br />

große Zuviel des Draußen“.<br />

Im Folgenden skizziere ich also keine neue Typologie, sondern<br />

überprüfe konkrete Wünsche und Praktiken auf ihre<br />

Deckungsgleichheit. Man lasse sich nicht vom Artenreichtum<br />

der Erscheinungsformen täuschen: Einmal sortiert und auf<br />

Wesentliches reduziert, bleiben nur wenige Kriterien, die sich<br />

als Bedingungen „sine qua non“ benennen lassen zum globalen<br />

und interkulturellen Konsens, vom Windschirm des Patagoniers<br />

bis zu Bill Gates’ Cyber-Landschloss.<br />

Leibwache<br />

Man findet keine Wohntheorie oder Wohnpraxis, die nicht<br />

Sicherungsaspekte in den Vordergrund stellen würden, also<br />

die Abwehr gegen Gefährdungen vorrangig des schlafenden<br />

Körpers, der im kritischen Zustand allnächtlicher Bewusstlosigkeit<br />

seine eigene Wachsamkeit aufgeben muss. Das<br />

verlangt nach zuverlässiger Bewachung, in Gestalt sicherer<br />

Orte (erst Höhle und Baumkrone, später Bunker und<br />

Links Lichtdurchflutet – die<br />

„geborgene Schlafstätte“,<br />

fotografiert <strong>von</strong> Beatrice Minda.<br />

(Massy-Palaiseau, 2005.) Ihre<br />

Serie „Innenansicht“ umfasst<br />

Bilder rumänischer Wohnungen,<br />

aufgenommen in Frankreich,<br />

Deutschland und in Rumänien.<br />

Turm), wachender Mitmenschen oder Haustiere (Nachtwächter,<br />

Wachhunde, Bodyguards).<br />

Die geborgene Schlafstätte nimmt in einem vergleichenden<br />

Ranking unverzichtbarer Wohnmotive den ersten Platz ein.<br />

Vom Strohsack bis zum Futon, <strong>von</strong> der Luft- bis zur Wassermatratze:<br />

wie phantasiereich wird sie montiert auf Hochebenen, in<br />

Wandnischen und Alkoven, umhüllt <strong>von</strong> Moskitonetzen und<br />

Gardinen, überdacht mit Baldachinen und Zelthimmeln; wie<br />

originell lässt sie sich transportieren als Schiffskojen, Schlafwagenabteile<br />

und Wohnmobile (und wie aufwendig wird sie hergerichtet<br />

für längere Schlafzeiten in Särgen und Pyramiden)!<br />

Egozentrum<br />

Einen „Room of One’s Own“ bezeichnete Virginia Woolfe<br />

in einem Essay zur weiblichen Kreativität 1928 als existenzielle<br />

Bedingung der Schaffenskraft. Der Wunsch nach dem<br />

eigenen Zimmer proklamiert das Recht des Individuums auf<br />

einen Raum persönlicher Verfügungen und Freiheiten: des<br />

Verhaltens, der Ausstattung, des Öffnens und Schließens. Die<br />

Schlüsselgewalt garantiert nicht nur Ungestörtheit, sondern<br />

auch eine Wahl zwischen erwünschten und unerwünschten<br />

Besuchern. Denn das Egozentrum ist nicht nur Rückzugs-,<br />

sondern auch Empfangsraum. Da sich sein Besitzer dort mit<br />

persönlichen Gegenständen umgibt, erlaubt er dem Gast Einblicke<br />

in seinen Charakter und seine Biografie.<br />

Die Ethnologie weiß <strong>von</strong> Separierungsregeln aus jeder Kultur<br />

zu berichten: In unseren Kinderzimmern und Klosterzellen,<br />

im Séparée für Alte oder im Individualraum der WG, und<br />

natürlich überdeutlich in den Apartments einer zukunftsträchtigen<br />

Single-Generation findet dieser Wohnwunsch seine Erfüllungen.<br />

Versionen des Sich-Einschließens und Sich-Ausstellens<br />

sind auch jene Ateliers, Büros oder Werkstätten, die schon immer<br />

<strong>von</strong> den Ich-AGs der Schriftsteller und Künstler, der selbstständigen<br />

Geistes- und Handwerker bewohnt wurden. Das Egozentrum<br />

kann bis zum Campingcar schrumpfen oder sich bis zur<br />

Pferdefarm aufblähen, es ist jedoch immer unteilbar!<br />

Kontaktzone<br />

Ein Bereich der Begegnungen – dem Separierungsbedürfnis<br />

nicht entgegengerichtet – wird dann unerlässlich, wenn<br />

mehrere Personen zusammen wohnen. Bekanntlich haben<br />

43


sich Modelle der Kohabitation, vom kinderlosen Paar bis zur<br />

Mehrgenerationen-Großfamilie, bewährt und werden als<br />

gattungstypisch angesehen. Sie vereinen Arbeitsteilung und<br />

gegenseitige Rückversicherungen: zur Kinderaufzucht und<br />

Altenpflege, bei Krankheiten oder anderen Notfällen ökonomischer,<br />

physischer wie psychischer Art.<br />

Die räumlichen Manifestationen des Kommunizierens sind<br />

so variationsreich wie die Natur oder Kultur der Wohnregionen:<br />

Als Höfe oder Hallen, Salons oder Gute Stuben, immer den<br />

Bedingungen des Klimas oder den Regeln der Diskretion unterworfen,<br />

können sie sich mehr oder weniger transparent zeigen.<br />

Allen gemeinsam ist aber ihre Funktion als Puffer zwischen Privatheit<br />

des Egozentrums und Öffentlichkeit der Straße. (Nur im<br />

Single-Apartment fällt der Kommunikations- mit dem Individualraum<br />

in eins.) Gleichzeitig Wegekreuzung und Berührungszone,<br />

entwickelt das Infranetz kontrastreiche Eigenschaften der<br />

Intro- und Extroversion: Es ist Trainingsraum für Sozialisation<br />

und Selbstkontrolle, Ort der Konflikte wie der Feste, und nicht<br />

zuletzt schafft es eine Schauseite zur Straße – sofern dort eitle<br />

Zurschaustellungen als politisch korrekt akzeptiert werden.<br />

Schatzkiste<br />

Nicht zuletzt gehört ein viertes Wohnbedürfnis zur Spitzengruppe:<br />

die Sorge um den Besitz. Zuerst verlangte die Vorratshaltung<br />

Speicher und Keller, dann hat das Einbunkern <strong>von</strong><br />

Schmuck, Geld und wertvollen Sammlungen Schatzhäuser entstehen<br />

lassen. In ihren Frühformen (noch erhalten in japanischen<br />

oder indonesischen Beispielen) erscheinen sie als fensterlose,<br />

eisenbeschlagene, unbrennbare und diebstahlsichere Stein- oder<br />

Lehmkuben, oft zentral positioniert und kostspieliger dekoriert<br />

als die übrigen Leichtbauten für das Alltagsleben.<br />

Verlustängste plagen jedoch nur den Besitzenden; sie werden<br />

dominant erst mit dem Zusammenleben, sei es in Familien<br />

oder anderen Kollektiven, insbesondere dort, wo mit Ackerbau<br />

und Tierzucht eine Haushaltung und das befestigte Wohnhaus<br />

unerlässlich werden. In der marokkanischen Kasbah wird<br />

gleich im Schatzhaus gewohnt: Dort drängen sich solide verriegelte<br />

Familienhöhlen entlang dunkler Gassen eng aneinander<br />

hinter den Festungsmauern der Siedlung: Deutlicher ist<br />

die Behausung als Angst- und Fluchtraum nicht darzustellen.<br />

(Zu meiner Verblüffung zeigt das Modell <strong>von</strong> Masdar-City, die<br />

jüngste, aber konkrete Utopie einer „Energie-Stadt <strong>von</strong> morgen“,<br />

dieselben Burg-in-Burg-Strukturen. Welche Furcht beherrscht<br />

wohl Abu Dhabis Architekten?) Ob Vorgänger oder Nachfolger<br />

des Schatzhauses, haben sich Seekisten, Tresore oder Koffer<br />

reisetüchtig bewährt; sie begleiten den Fahrenden als Obdachlosen<br />

noch, wenn er schon alle Schutzräume verlassen oder verloren<br />

hat, als Behälter letzter „Habseligkeiten“.<br />

rent a home<br />

Mit seinem – allzu oft zitierten – Diktum „Wohnen ist Bleiben“<br />

idealisierte ein stadtskeptischer Martin Heidegger seinen<br />

Rückblick auf schollengebundene Agrargesellschaften. Aber die<br />

menschlichen Wohnwirklichkeiten waren seit je entgrenzter, und<br />

Heimatgefühle sind ortlose Imaginationen, wie Ernst Bloch es<br />

44 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

wusste: „... so entsteht in der Welt etwas, was allen in die Kindheit<br />

scheint und worin noch niemand war: Heimat.“<br />

Unsere spät im 19. Jahrhundert erst einsetzenden Wohndiskurse<br />

wurden <strong>von</strong> Stadtbürgern Mitteleuropas geführt, also<br />

<strong>von</strong> den sesshaften Erben einer Kulturgeschichte, die Festigkeit<br />

und Dauerhaftigkeit als primäre Bautugenden schon mit<br />

Vitruvs firmitas festgeschrieben hatte. Hätten jedoch Eskimos,<br />

Indianer und Kirgisen an diesem Diskurs teilgenommen,<br />

wären Iglus, Zelte und Faltwerke sichtbar geworden als<br />

Ursprung und Idealkonstruktionen nomadischer Wohnweisen<br />

in transportablen Gehäusen.<br />

Der frühe Mensch war über Millionen <strong>von</strong> Jahren ein vagabundierender<br />

Nestflüchter, bevor er, erst vor zehn Jahrtausenden,<br />

zum sitzenden wurde. Kriege und ambulante Tätigkeiten<br />

– und heute die unsicheren Arbeitsmärkte – haben seit je Emigranten<br />

und Wanderarbeiter zum mehr oder weniger freiwilligen<br />

Umziehen genötigt. Alle Betroffenen behelfen sich wenn<br />

nicht mit Leihwohnungen, dann mit Unterkünften, die entweder<br />

gleich auf Rädern stehen oder als leichte Container beweglich<br />

sind. Es ist nicht zu übersehen, dass ein postindustrielles Nomadentum<br />

heute weltweit und klassenübergreifend anwächst – und<br />

mit ihm eine Renaissance ortloser Wohnkulturen. Auch die<br />

hartnäckigste Werbung der Möbelindustrie fürs cocooning und<br />

homing kann dem nicht gegensteuern. Ob indessen als Hausbesitzer<br />

oder als Mieter, jeder wird früher oder später zum Wohnungswechsler.<br />

Und weil sich in der städtischen Mietwohnung<br />

die größte Schnittmenge gegenwärtiger „Einwohner“ zusammenfindet,<br />

werden Wohn-Vagabunden zu den idealen Konsumenten<br />

der Einrichtungs-Industrie.<br />

Den Publikationen <strong>von</strong> Interieurs ist anzusehen, ob Architekten<br />

oder Designer ihre Urheber sind: Gewinnt der Erstere<br />

immer noch aus Sonne und Fenster Licht- und Schattenspiele,<br />

verhängt der Letztere alle Wandöffnungen, um zwischen<br />

Möbeln und Leuchten seine Bühnenbilder zu gestalten.<br />

Fenstergeschichten<br />

Suchen wir nach einer Schnittstelle, an der sich Licht und Wohnen<br />

begegnen, dann bietet sich naheliegend das Auge an, eine<br />

evolutionäre Gattungskonstante, die über Zeiten, Regionen<br />

und Kulturen hinweg uns im Sehvermögen verbindet – die<br />

optischen Täuschungen inbegriffen. Die populäre Metapher<br />

<strong>von</strong> den Fenstern als Augen des Hauses besitzt sprichwörtliche<br />

Weisheit, indem sie die Doppelaufgabe Ausblick und Lichtempfang<br />

ebenso treffend beschreibt wie die zweideutige Funktion,<br />

ein Innen und Außen sowohl zu trennen wie zu verbinden.<br />

Das Windauge (window) sagt zudem, dass es nicht nur Licht,<br />

sondern auch Wetteröffnung sein will – das heißt Grenzkontrolle<br />

über die Phänomene der Atmosphäre, die dem Wohnenden<br />

abwechselnd feindlich oder freundlich begegnen.<br />

Eine Belichtungstypologie – die noch nicht verfasst ist –<br />

würde sich ohne Frage aus zwei Baugeschichten bedienen: der<br />

zehntausendjährigen Anthropologie des Fensters und der erst<br />

200- jährigen Geschichte fortgeschrittener Lichttechniken. Es<br />

ist auffällig, dass Wohnbau-Architekten erst zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts dem Licht überhaupt Beachtung schenkten


Beatrice Minda inszeniert in<br />

klaren, atmosphärischen Bildern<br />

das einfallende Tageslicht als<br />

elementaren Bestandteil jeder<br />

Wohnung. Die <strong>von</strong> ihr fotografierten<br />

Räume strahlen eine große<br />

Ruhe aus. Caracal, 2003.<br />

45


Helles, überblendendes Tageslicht<br />

verleiht den <strong>von</strong> Beatrice<br />

Minda fotografierten Räumen<br />

eine ganz eigene Poesie.<br />

Sâmbăta, 2003.<br />

46 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


und erst zu dessen Mitte dies auch in Werken und Schriften<br />

ausdrückten. Keiner hat – soweit mein Wissen reicht – lichtbewusster<br />

reflektiert und entworfen als Louis Kahn. Hat er deswegen<br />

die bemerkenswertesten Fenster seiner Epoche erfunden<br />

– aber dem Kunstlicht so wenig wie möglich zugemutet? Vergleichbar<br />

kunstlichtscheu benahmen sich seine bekanntesten<br />

Vorgänger der Tageslicht-Baukunst: Frank Lloyd Wright und<br />

Le Corbusier. Der Erstere hat die alte gelochte Wohnkiste mit<br />

Sonne geflutet und zugleich ihre Bewohner um offene Feuerstellen<br />

versammelt, dem Letzteren ist jene oft zitierte Definition<br />

der <strong>Architektur</strong> als ein „genaues, wissendes und großartiges<br />

Spiel der Volumen unter dem Licht“ zu verdanken. Meist werden<br />

die drei Adjektive übersehen, obwohl ihnen wesentliche<br />

Bedeutung zukommt, wie eine andere Bemerkung Corbusiers<br />

belegt: Ein Fenster müsse in guter <strong>Architektur</strong> zu groß oder zu<br />

klein in Erscheinung treten; dort, wo es nur praktisch und richtig<br />

dimensioniert sei, handle es sich um ordinäres Bauen!<br />

Auch wenn für manche Baukünstler der Wohnbau eine<br />

Marginalie ist, erfüllen auch seine Fenster mehr als puren Helligkeitsbedarf.<br />

Erst als Instrument der Mehrdeutigkeit richtig<br />

verstanden, mutiert auch sein Belichtungsloch zum Übermittler<br />

vielsprachiger Lichtbotschaften.<br />

Gucklöcher<br />

Ein Kokon hat kein Fenster. Wenn der Schutz des Schlafs die<br />

erste Wohnungspflicht ist, wäre gute Dunkelheit ihr Lichtbedürfnis.<br />

Lichtgestaltung als Bedunkelung zu begreifen, ist kein<br />

absurder Gedanke angesichts der Belästigungen aus Stadtbeleuchtungen<br />

und einer hausgemachten light pollution, die aus<br />

Kunstlichtern des eigenen Interieurs droht.<br />

Genau genommen wünscht sich auch der Schlafende nicht<br />

absolute Finsternis; aber keine gedimmte Leuchte kann es aufnehmen<br />

mit einem Himmelsfenster, das in die nuancierten Dunkelheiten<br />

des Nachthimmels gerichtet ist. Ein Guckloch nach<br />

oben wäre das einzige Fenster, das der Leibwache gerecht würde.<br />

(Seit man auch Dächer durchlöchert, bietet sich das flächenbündige<br />

Dachfenster als Alleskönner an, folglich wird es zum Fenster<br />

ohne Eigenschaften: Ist es Lichtfänger oder Ausguck? Richtet<br />

es sich auf den Himmel oder auf die Straße? Belichtet es einen<br />

Arbeitsplatz oder bedunkelt es ein Bett?)<br />

Nicht jede Perforation einer Wand dient jedoch der Beleuchtung:<br />

Schon die erste war eine Schießscharte; und die zweite<br />

eine Klappe in oder neben der Eingangsluke, die wie der heute<br />

gebräuchliche Türspion zur Gesichtskontrolle des klopfenden<br />

Fremden diente. Alles ebenerdige und straßennahe Wohnen ist<br />

gefährdet, muss also seine Gucklöcher klein halten, vergittern<br />

und des Nachts mit soliden Läden verschließen. Die Bewohner<br />

niedriger Hofhäuser errichten sich deshalb den Mirador, der als<br />

Periskop und Hochsitz die Wohnfestung überragt.<br />

Erst in sicherer Höhe lässt sich das Guckloch vergrößern:<br />

Dann liefert es tiefe und breite Aussichten und streckt sich zum<br />

horizontalen Schlitz des Panoramafensters. Panoptische Schaulust,<br />

die nur dem abendländischen Wohncharakter bescheinigt<br />

wird, lässt dessen ganzes Haus zum Cockpit werden und jedes<br />

seiner Fenster zur Rahmung einer einverleibten Landschaft.<br />

Lichtfänger<br />

Erst Öffnungen über Augenhöhe werden zu effektiven Lichtfallen:<br />

Oberlichter und Glasdächer wenden sich dem hellsten<br />

Zenitlicht zu und lenken es in tiefer gelegene Räume. Wohnbauten<br />

waren lange Zeit durch hochformatige Vertikalschlitze<br />

geprägt, wohingegen Werkstätten und Ateliers ihren Lichtbedarf<br />

schon früh aus großflächigen Verglasungen deckten. Diese<br />

mussten freilich meist durch Vorhänge, Jalousien oder transluzente<br />

Anstriche vor zu viel Sonne oder Einblicken geschützt<br />

werden. Die Lichtfalle heißer Zonen, den Patio, nannte Jorge<br />

Luis Borges einen „Brunnen, durch den der Himmel ins Haus<br />

fällt“. Gruppiert sich die Wohngruppe um einen Hof, wird sie<br />

reich beschenkt mit Stern- und Wolkenbildern, Wassergüssen<br />

und einem Übermaß an Sonne, das dann unter Schirmen und<br />

Arkaden auf Schattenstärke gedimmt werden muss. Hier richtet<br />

also der Gemeinschaftsraum ein Riesenauge zum offenen<br />

Himmel, während sich Schlafplätze und Privaträume unter<br />

die Arkaden zurückziehen und ihre Gucklöcher nicht mehr<br />

nach draußen, sondern zur Mitte gerichtet sind.<br />

Wie den Grundriss wollte die funktionalistische Moderne<br />

auch einen Helligkeitsbedarf nach dem Gebrauch programmieren,<br />

mit dem Erfolg, dass unter Normierung und Multiplizierung<br />

auch die Befensterung in Stereotypie verfiel. Ein Gegenmittel<br />

hierzu ist die Multifunktionalität nicht nur zeitgenössischer<br />

Grundrisse, sondern auch der Fassaden, deren Entwerfer aus<br />

Angst vor falschen Fensterformen immer häufiger auf ganzverglaste<br />

Wohnwände ausweichen. Was Wunder, dass alte Spielarten<br />

beweglicher Verschattung wiederentdeckt und technisch<br />

perfektioniert werden: Indem der Bewohner Jalousien kippen<br />

und Läden verschieben, Transparenzen und Farben moderieren,<br />

zwischen Hell und Dunkel frei wählen kann, wird er zum<br />

selbstverantwortlichen Lichtgestalter seines Ambientes.<br />

Dazu kann die japanische Wohntradition nützliche Erfahrungen<br />

beitragen: Weil sie schon immer nur Mehrzweckräume<br />

kannte, hat sie die Lichtregie mithilfe raumhoher Schiebefenster<br />

und -türen schon lange Zeit erprobt, beherrscht den Wechsel<br />

zwischen transparenten, transluzenten und opaken Wänden,<br />

nutzt die Auskragungen und Einbuchtungen der Terrassen im<br />

Spiel mit der Sonne und nuanciert die Dunkelheit <strong>von</strong> tiefen<br />

Räumen durch Spiegelungs- oder Absorptionseffekte. 2<br />

Schaufenster<br />

Schon der Begriff des ‚Windauges’ besagt, dass nicht alle Fenster<br />

dem Lichteinfall dienen wollen. Viele bieten sich auch nur Blicken<br />

an nach draußen wie nach drinnen. Nicht bloß Kaufläden,<br />

auch Wohnungen brauchen Schaufenster: ein kleines dort vielleicht,<br />

wo sich das Egozentrum als Museum oder als Atelier dem<br />

Besucher öffnet; ein großes gewiss dort, wo sich das Wohnfoyer<br />

nach draußen präsentiert: Während sich hinter niederländischvorhanglosen<br />

Scheiben nur eine dekorative Wohnstube zeigt, hat<br />

der Villenbesitzer schon mehr auszustellen, und der urbane Single<br />

outet schon gern einmal seinen kompletten lifestyle durch die<br />

Ganzglaswand. (Was Wunder, dass Palladios Villa Rotonda, die<br />

auf ihren vier Schaubühnen nach allen Himmelsrichtungen Aus-<br />

und Einblicke theatralisch verbindet, zur panoptischen Ikone<br />

47


wurde.) Das definitive Glashaus – als Extremprodukt selten realisiert,<br />

aber übermäßig publiziert – ist der Höhepunkt nicht des<br />

Lichthungers, sondern der Exponierung. Seine scheinbaren Entgrenzungen<br />

müssen durch Distanzierung (also ein größtmögliches<br />

Grundstück) erkauft, die unvermeidlichen Schamgrenzen<br />

durch Verschleierungstechniken doch wieder errichtet werden.<br />

Ob also im exhibitionistischen Schaufenster des Terrariums oder<br />

als dekorative Verschleierungen eines orientalischen Harems: jede<br />

Wohnfassade wird nolens volens zur Werbefläche. Wenn im Hofhaus<br />

die Angst vor der Straße keine Vitrinen mehr erlaubt, wird<br />

die Ausstellung hinter die Türschwelle verlegt, wird der Hof zur<br />

Repräsentationszone. Noch die Fenster der jemenitischen Wohnung,<br />

obwohl zurückgezogen ins oberste Geschoss eines Turmes,<br />

bleiben plakativ, diesmal mit farbigsten Glasornamenten<br />

verschleiert, die zugleich sehr fernwirksam nach außen und bildkräftig<br />

nach innen strahlen.<br />

Terrarien<br />

Die Heilsbotschaft der Wohnreformer „Mehr Licht, Luft und<br />

Sonne“ zur Linderung der Wohnungsnot in der Hinterhöfen,<br />

und überhaupt die vielstimmigen Appelle für „mehr Natur“<br />

fanden auch in den Wohnetagen der Vorderhausbesitzer<br />

Gehör: Diese lüfteten und lichteten ihre nippes-überladenen<br />

Salons, bereicherten ihre Straßenfassaden mit Fenstertüren,<br />

Balkons, und Glasveranden, hinauf bis zu Dachgärten, die<br />

der Orangerie und dem Wintergarten des Adels nacheiferten.<br />

Erkundeten Wandervögel und Badetouristen die „freie“ Natur,<br />

dann holte sie der Hobbygärtner in Pflanztrögen, Aquarien<br />

und Volieren unter sein heimisches Glasdach.<br />

Daran hat sich ein Jahrhundert lang nur verändert, dass<br />

nach und nach auch die Mietwohnung Terrarien nachrüstete<br />

und zuletzt sogar die Vorstadtvilla – eigentlich schon im<br />

Grünen gelegen – ihre Kontaktzone um einen Wintergarten<br />

bereicherte: weniger des Gartens wegen – dem man ja schon<br />

auf der Wohnterrasse nahe war –, sondern um nicht zurückzufallen<br />

hinter den zeitgemäßen Trend, der jetzt hieß: Wohnökologie<br />

durch Sonnenenergie.<br />

Die Glaswand verspricht neuerdings vollends zum Stromkraftwerk<br />

zu werden und das Wohnen energetisch autark zu<br />

machen. Licht aus dieser Öffnung scheint nur noch ein Nebenprodukt<br />

der Wärmegewinnung, hat aber ungewollt segens-<br />

48<br />

reiche Folgen: Denn nicht zuletzt haben die Wohnterrarien<br />

– eigentlich als Biotope für Pflanzen und Tiere eingerichtet –<br />

dazu verholfen, biophysische Lichtwirkungen ernst zu nehmen,<br />

die auch den menschlichen Organismus schon immer steuerten,<br />

aber erst neuerdings als unentbehrlich erkannt sind.<br />

Eine abschließende Bemerkung zum Thema ‚Fenster‘: Besser<br />

als jede Vorlesung es könnte, illustriert Alfred Hitchcocks<br />

‚Fenster zum Hof‘ unser Thema – ein veritabler Lehrfilm, der<br />

über die Eventualitäten der Behausung und alle Eigenschaften<br />

der Befensterung erzählt, aber auch über die riskanten Abenteuer<br />

des Beobachtens und Beobachtetwerdens. Eine Reise<br />

um die Welt des Wohnens, des Sehens und der Lichtwirkungen<br />

in zwei Stunden!<br />

die genien des wohnlichts<br />

Ohne ihn ignorieren zu können, muss eine kurze thematische<br />

Skizze wie die vorliegende jenen 3000-jährigen Lichtdiskurs ausklammern,<br />

der <strong>von</strong> Philosophen und Physikern, <strong>von</strong> Psychologen<br />

und Künstlern, neuerdings <strong>von</strong> Neurologen und Informatikern<br />

geführt, eine gigantische Enzyklopädie des Spekulierens und<br />

Wissens hervorgebracht hat. Ebenso unerwähnt bleiben an dieser<br />

Stelle Theorien der Lichtarchitektur mit ihren symbolischen,<br />

ästhetischen und anwendungstechnischen Kapiteln. 4 Sogar Einstein<br />

hat einst sein Nichtwissen bekannt: „Den Rest meines<br />

Lebens werde ich noch darüber nachdenken, was Licht ist.“ Aber<br />

selbst der Ahnungsloseste kann mit- oder nachempfinden, was<br />

Licht bewirkt, zum Beispiel in seiner Wohnung:<br />

1. Von der ersten Höhle bis zu Frank Lloyd Wrights beispielgebenden<br />

Entwürfen hat sich Wohnen um Feuerstellen organisiert.<br />

Wenn die Beleuchtung dabei auch kein Hauptmotiv<br />

war, dann doch eine Nebenerscheinung, die sich erst seit<br />

der Elektrifizierung <strong>von</strong> der offenen Flamme verabschiedet<br />

hat. Seit mehr als einer Million Jahren soll der Mensch nun<br />

schon am Feuer wohnen; das kalte Licht der Entladungslampen<br />

bescheint ihn noch kein Jahrhundert. Als transportable<br />

Wärmequelle erlaubte das Feuer den frühen Emigranten,<br />

auch kältere Regionen zu besiedeln: ihr erstes controlled environment<br />

war nicht nur regendicht, sondern auch beheizbar,<br />

und ein wohltuendes Nebenprodukt des Herdfeuers, das erste<br />

Kunstlicht, beleuchtete ihre Unterkünfte, lange bevor diese<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


ein Fenster erhielten. Sonnen- und Feuererfahrungen haben<br />

in unserer Wahrnehmung eine stabile Licht-Wärme-Kopplung<br />

geschaffen, an der auch die spürbare Abkühlung in moderneren<br />

Leuchtmitteln nichts ändern wird, weil unser Körper<br />

sie täglich wieder beglaubigt (und die noch in der Glühbirne<br />

nachfühlbar bleibt). „Licht ist der Genius des Feuerprozesses;<br />

Licht macht Feuer!“, folgert Novalis geheimnisvoll. Mit Feuerkontrolle<br />

beginnt die Genese menschlicher Techniken, und<br />

mit neuen Lichteinsätzen auf elektronischen und nanotechnischen<br />

Terrains hat eine Zukunft schon begonnen, die eine<br />

photonische zu werden verspricht. Dem ältesten Genius lucis<br />

werden wir dann nur noch in Kerzenflammen und Kaminfeuern<br />

begegnen.<br />

2. War unser Lichtbewusstsein lange Zeit besetzt und abgelenkt<br />

<strong>von</strong> den optischen Faszinationen des Sehens und Belichtens<br />

(und <strong>von</strong> den Techniken der Aufhellung), richtet es sich<br />

nun mehr und mehr auf den invasiven Dialog des Mediums<br />

mit unserem Körper, anders gesagt auf die Regieanweisungen<br />

der Sonne. Aufgeschreckt <strong>von</strong> neurologischen Befunden<br />

zur menschlichen Willensschwäche, fühlen wir deutlicher den<br />

altbekannten, aber neu benannten circadianen Lichtzwang,<br />

der unserer Verhaltensfreiheit Zeitgrenzen setzt und den Profiteuren<br />

des 24-Stunden-Tags Sorgen bereitet. Mich befriedigen<br />

dagegen die taktgebenden Devisen, setzen sie doch dem<br />

derzeit meistgenannten Übel der Menschheit, der Beschleunigung,<br />

eine stabilisierende Heliotherapie entgegen.<br />

Aus jüngeren physiologischen Forschungsergebnissen<br />

erfahren wir, welch immense Kontroll- und Steuerungsaufgaben<br />

über unser hormonelles und vegetatives Wohlergehen<br />

den Himmelslichtern obliegen. Eine neue somatische<br />

Rolle des Lichts wird seiner optischen Bedeutung ebenbürtig.<br />

Zuerst unbeabsichtigt, ist mit dem Erfolg der Terrarien<br />

nicht bloß ein Fenster zur äußeren Natur geöffnet worden,<br />

sondern auch eines zum Inneren unseres Körpers: Wohnen<br />

unter Tageslicht ist ein Mittel der Selbsterhaltung, seit wir wissen,<br />

dass wir nichts Besseres tun können, als diesem Genius<br />

auch unsere lichthungrige Epidermis so oft und so lange wie<br />

möglich auszusetzen. Glücklich der Eigenbrötler, der sein<br />

privates Refugium als Biosolarium des Echtlichts einrichten<br />

könnte. Rousseaus „Zurück zur Natur“ erhält ein weiteres<br />

In Beatrice Mindas Fotografien<br />

stehen Innenräume als Platzhalter<br />

für den Wunsch nach Rückzug,<br />

Intimität und Heimat. Links:<br />

Tomnatic, 2004, rechts: Massy-<br />

Palaiseau, 2005.<br />

Mal neue Argumente (deren Weisheit letzter Schluss freilich<br />

wäre, nur noch bei Tageslicht zu arbeiten).<br />

3. Ein geografisch fixierter, also schon deshalb einzigartiger Ort<br />

beherbergt ohne Frage jenen Genius loci, der <strong>von</strong> Erdgeschichte,<br />

Klima oder Bautraditionen geprägt einen exklusiven Charakter<br />

besitzt. Sein blauer oder besternter Himmel, seine Sonnenauf-<br />

und -untergänge, seine Bewölkungen oder Gewitterblitze<br />

kennzeichnen ihn nicht: Er teilt sie mit unzähligen Bauorten<br />

bewohnbarer Erdstriche. Alles Bauen besteht in der Errichtung<br />

<strong>von</strong> Grenzen: Belichtung und Durchleuchtung sind Grenzverletzungen;<br />

alles Bauen formt schwere und reglose Gebilde. Lichter<br />

sind Mobilmacher und Verwandler, also gewiss Widerspruchsgeister<br />

des Bauens, aber damit keine Widersacher des Wohnens.<br />

Sie gehören zur Klasse der medialen Erreger, die eine immobile<br />

und stumme Baumasse mit Anmutungen aufladen: mit jenen<br />

unwägbaren ‚atmosphärischen’ Licht-, Farb-, Temperatur-, Klang-<br />

oder Geruchswirkungen, die zum behaglich gestimmten Raum<br />

mehr beitragen als die Formsprachen der Geometrie und Proportion,<br />

der Materialien und Designs. Als ein Unruhestifter macht<br />

der Genius lucis auch dem Erdverbundenen Mut zur Bewegungsfreiheit:<br />

Benötigt ein künstliches Habitat auch Grenzschutz, so<br />

dürfen seine Wände doch nicht allzu schwer sein und müssen<br />

versetzbar bleiben auf der Oberfläche unseres Heimatplaneten.<br />

Immerhin begleiten uns dessen verlässliche Feuer- und Sonnenlichter<br />

nach überallhin, und dies als kostenlose Wohngüter, die<br />

sich jeder Privatisierung und Privilegierung verweigern.<br />

Gerhard Auer (1938) studierte <strong>Architektur</strong> an der Universität Stuttgart und ist seit<br />

1967 als selbstständiger Architekt tätig. Von 1980 bis 2004 hatte er eine Professur für<br />

Entwerfen an der TU Braunschweig inne. Seit den 80er-Jahren befasst er sich intensiv<br />

mit der Theorie und Praxis des Lichts in der <strong>Architektur</strong> und im Stadtraum.<br />

www.gerhardauer.de<br />

Fußnoten<br />

1. Eine Ausnahme: „LichtEinfall“ <strong>von</strong> Michelle Corrodi und Klaus Spechtenhauser<br />

(Birkhäuser, 2008)<br />

2. Siehe auch Junichiro Tanizaki „Lob des Schattens“ (Manesse, 1987<br />

3. Beste interdisziplinäre Studie: Arthur Zajonc: „Die gemeinsame Geschichte <strong>von</strong><br />

Licht und Bewusstsein” (Rowohlt 1994)<br />

4. Siehe hierzu u. a. die Publikationen unter www.gerhardauer.de<br />

49


TAGESLICHT IM<br />

DETAIL<br />

Genauer hinsehen: Wie Tageslicht<br />

in Gebäude gelangt.<br />

INNENLICHT UND<br />

AUSSENWELT<br />

50 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

FOTOGRAFIE VON BJÖRN KUSOFFSKY


Von Nick Baker<br />

Im Laufe der Jahrhunderte hat uns die <strong>Architektur</strong><br />

immer mehr <strong>von</strong> der Natur und ihren Licht- und<br />

Temperaturschwankungen abgeschottet. Wissenschaftliche<br />

Untersuchungen belegen jedoch, dass der<br />

Mensch weitaus anpassungsfähiger ist, als in den<br />

geltenden Normen und Regelwerken angenommen.<br />

Diese Erkenntnis kann nicht nur zum Bau gesünderer<br />

Häuser beitragen, sondern auch Energie sparen und<br />

die CO 2 -Emissionen einschränken.<br />

einleitung<br />

Obwohl wir 95 Prozent unserer Zeit drinnen verbringen,<br />

kommen wir eigentlich aus der Natur. Der Ursprung unserer<br />

heutigen Gene liegt in Wiesen, Wald und Bergen, nicht in<br />

klimatisierten Schlafzimmern oder ergonomischen Arbeitsplätzen.<br />

Die außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit des Menschen<br />

an seine natürliche Umgebung ermöglichte ein Leben<br />

<strong>von</strong> der Subarktis bis zum Äquator lange vor unserer Abhängigkeit<br />

<strong>von</strong> fossilen Brennstoffen.<br />

Das Sehen spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Jahrtausendelang<br />

konnten wir nur bei Tageslicht sehen, was unseren<br />

Tagesablauf <strong>von</strong> Arbeit, Erholung und Spiel bestimmte.<br />

Die spektrale Sensitivität unseres Auges ist nahezu perfekt auf<br />

das Solarspektrum abgestimmt; wir können millionenfache<br />

Helligkeitsgrade zwischen Sonnen- und Sternenlicht unterscheiden.<br />

Man kann durchaus behaupten, dass das Tageslicht<br />

uns fundamental und genetisch prägt. Im Folgenden werde<br />

ich erläutern, wie wir auf unser modernes Wohnumfeld reagieren,<br />

das sich weitaus mehr <strong>von</strong> unseren primitiven Ursprüngen<br />

unterscheidet als die heutigen Sozial- und Familienstrukturen.<br />

Insbesondere beschäftigen wir uns mit der psychologischen und<br />

physiologischen Reaktion auf Tageslicht, dem verminderten<br />

Tageslicht in Gebäuden und mit Technologien, die angesichts<br />

unseres mittlerweile besorgniserregenden Energieverbrauchs<br />

wieder vermehrt auf das Tageslicht zurückgreifen.<br />

tageslicht in innenräumen<br />

Historisch gesehen gab es bis weit ins 20. Jahrhundert kaum eine<br />

Alternative zum Tageslicht. Künstliche Beleuchtung war teuer: In<br />

1900 kostete jedes Lumen etwa 300-mal mehr als heute. Außerdem<br />

war künstliches Licht ungesund – Gas- und Öldämpfe<br />

wirkten sich verheerend auf die Luftqualität aus – und gefährlich<br />

– vermutlich die größte Brandursache überhaupt. Daher betrachtete<br />

man künstliches Licht als notwendiges Übel in den Nachtstunden,<br />

und niemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zog<br />

künstliche Beleuchtung am Tage auch nur in Erwägung. Sogar<br />

das elektrische Licht, 1870 erfunden, konnte sich erst nach etwa<br />

fünfzig Jahren durchsetzen, blieb aber teuer wegen der technischen<br />

Grenzen der Glühlampe. Bis in die 50er-Jahre orientierte<br />

man sich bei der Gebäude- und Stadtplanung maßgeblich am<br />

Einfluss des Tageslichts.<br />

Links 95 Prozent seiner Zeit<br />

verbringt der moderne Mensch<br />

heute in geschlossenen Räumen<br />

– die Elektrifizierung nimmt<br />

einen hohen Anteil an fossiler<br />

Energie in Anspruch. Dem<br />

Tageslicht bleibt im menschlichen<br />

Alltag nur noch eine<br />

Neben rolle zugewiesen.<br />

Mit Erfindung der Leuchtstoffröhre setzte sich künstliches<br />

Licht allmählich als mögliche Alternative zum Tageslicht<br />

durch. Höhere Leuchtkraft und billigerer Strom kamen dem<br />

neuen Ideal <strong>von</strong> größeren, dunkleren Flachbauten entgegen.<br />

Mit mechanischer Belüftung und Neonlicht ließ sich dieser<br />

Traum verwirklichen.<br />

Andere technische Weiterentwicklungen in jener Zeit<br />

führten zur recht preisgünstigen Massenherstellung großer<br />

Glasscheiben mit entsprechenden Rahmenstrukturen. Gute<br />

Neuigkeiten für das Tageslicht, sollte man denken, doch ironischerweise<br />

bewirkten solche Glasfassaden (siehe Abb. 1) häufig<br />

eine schlechte Lichtverteilung in den Räumen aufgrund hoher<br />

Unterschiede in der Beleuchtungsstärke. Sie bedurften daher<br />

einer permanenten künstlichen Zusatzbeleuchtung, um dies<br />

zu korrigieren. Zudem erwiesen sich die großen Glasflächen<br />

sommers wie winters als nachteilig für den Wärmekomfort,<br />

sodass viele Architekten kleine Fenster bevorzugten und sich<br />

zu 100 % auf künstliches Licht verließen. Das ‚dunkle Zeitalter<br />

des Neonlichts‘ brach an (Abb. 2).<br />

Heute, fünfzig Jahre später, messen wir dem Energieverbrauch<br />

angesichts des hohen CO2-Ausstoßes und der<br />

Erderwärmung wieder verstärkt Bedeutung bei. Trotz einschneidender<br />

Verbesserungen der Leuchtwirkung <strong>von</strong> Lichtquellen<br />

– ein zentrales Anliegen im letzten Jahrhundert – ist<br />

und bleibt künstliches Licht wesentlicher Mitverursacher der<br />

CO2-Emissionen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die<br />

Nutzung künstlichen Lichts bei angemessenem Tageslicht<br />

mindestens zu 50 % als überflüssig. So groß die Fortschritte<br />

in der Entwicklung <strong>von</strong> Lichtsteuerungen auch sein mögen<br />

– es ist an der Zeit, sich wieder auf den technischen Wert des<br />

Tageslichts zu besinnen.<br />

tageslicht im haus<br />

Der Lichtplanung wird vor allem in Geschäfts- und Bürogebäuden<br />

große Aufmerksamkeit geschenkt, erstens vermutlich,<br />

weil diese überwiegend am Tag genutzt werden, und zweitens,<br />

weil der Bauherr Wert legt auf ein komfortables und produktives<br />

Umfeld. Wohnhäuser hingegen werden sowohl nachts als<br />

auch tagsüber genutzt und deutlich stärker <strong>von</strong> den Bewohnern<br />

kontrolliert. Zudem lassen sich die meist kleineren Räume<br />

relativ problemlos auf natürliche Weise beleuchten. Dennoch<br />

51


gibt es zum Beispiel in Großbritannien schon länger Empfehlungen<br />

bzw. verbindliche Vorschriften für den Tageslichtfaktor:<br />

mindestens 2 % für Küchen, 1,5 % für Wohnzimmer und<br />

1 % für Schlafzimmer.<br />

Aber nicht nur die Gestaltung <strong>von</strong> Raum und Fenster beeinflusst<br />

das verfügbare Tageslicht. Die Städteplanung wirkt sich<br />

auf das verfügbare Tageslicht an der Gebäudehülle aus. Nachdem<br />

man lange vorzugsweise Städte mit geringer Wohndichte<br />

baute, plädieren viele heute aus Gründen der Energieeffizienz<br />

wieder für eine hohe Dichte. Bei einer Dichte <strong>von</strong> 50 bis 100<br />

Wohneinheiten pro Hektar lässt sich das geforderte Tageslichtniveau<br />

jedoch nur schwierig erreichen. Abb. 3 illustriert eine<br />

Studie zu einem neuen Entwicklungsgebiet in Leicester (GB).<br />

Dabei wurde in einem dreidimensionalen digitalen Modell der<br />

Sky View Factor (SVF) aufgezeichnet. Diese Größe misst die<br />

Sonnenexposition an einem bestimmten Punkt und ist somit<br />

Indikator für das Tageslichtpotenzial dort und im angrenzenden<br />

Raum. Interessanterweise variierte der SVF aufgrund der heterogenen<br />

Gebäudeformen sehr stark; dies ließ sich aber größtenteils<br />

durch individuelle Designlösungen ausgleichen. Eine hohe<br />

Wohndichte erfordert zweifellos großen Einfallsreichtum <strong>von</strong><br />

Architekten und Baustofffabrikanten. Fundierte Kenntnisse der<br />

Physik des Tageslichts sind hierfür unerlässlich.<br />

umweltkomfort<br />

Unser moderner ‚Indoor-Lifestyle‘ verbraucht Unmengen an<br />

fossiler Energie, um uns <strong>von</strong> der Natur abzugrenzen, aus der<br />

wir stammen. Am deutlichsten zeigt sich dies bei Heizung und<br />

Kühlung unserer Gebäude: Temperaturschwankungen – so das<br />

gängige Credo – sind um jeden Preis zu vermeiden. Das Ziel ist<br />

eine optimale Umgebung‘ mit Komfortgarantie und Selbstregulierung<br />

ohne Eingreifen des Bewohners. Diese Anforderungen,<br />

die weitgehend auf Studien zum menschlichen Wohlbefinden in<br />

Klimakammern beruhen, werden nun in Frage gestellt. Neueste<br />

Erkenntnisse besagen, dass die Menschen nicht-neutrale Bedingungen<br />

in realen Gebäuden viel besser tolerieren, dass es ohnehin<br />

keine optimale Umgebung gibt und dass die meisten Menschen<br />

eine mögliche Regulierung zur Anpassung an nicht-neutrales<br />

Empfinden (Adaptionsmöglichkeit) bevorzugen. Dieser neue,<br />

als adaptive Komforttheorie bezeichnete Ansatz geht da<strong>von</strong> aus,<br />

dass Häuser auch mit weniger technischen Finessen akzeptiert<br />

werden, was wiederum zu beträchtlichen Energieeinsparungen<br />

führt. Ähnliches gilt für die Beleuchtung <strong>von</strong> Gebäuden: Die<br />

52 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Mit einer erhöhten Sensibilität<br />

für ökologische und energiewirtschaftliche<br />

Zusammenhänge<br />

sollte auch dem Tageslicht eine<br />

größere Bedeutung beigemessen<br />

werden. Licht und die Nähe zur<br />

Natur haben einen nicht zu unterschätzenden<br />

Einfluss auf unsere<br />

Gesundheit.<br />

manische Fixierung auf Beleuchtungsgrade und andere technische<br />

Messgrößen erschwert es, die anerkannten Standards allein<br />

mit Tageslicht zu erfüllen. In Leistungsverzeichnissen dreht sich<br />

alles um künstliches Licht, das Tageslicht wird bestenfalls als<br />

ästhetische Option betrachtet. Bei stets verfügbarem künstlichem<br />

Licht wird die Frage, ob ein Gebäude <strong>von</strong> Sonnenlicht<br />

durchflutet ist, irrelevant. Wir haben dies in einigen modernen<br />

Bibliotheken, die <strong>von</strong> der Presse wegen ihres guten Tageslichtdesigns<br />

allseits gelobt worden waren (Abb. 4), konkret erlebt.<br />

Als wir bei klaren Wetterverhältnissen den Bibliothekar fragten,<br />

ob er das Licht ausschalten könne, wurde dies meistens aus<br />

Gründen der „Gesundheit und Sicherheit“ verneint!<br />

tageslicht, aussicht und natur<br />

Die adaptive Komforttheorie besagt, dass die Menschen gegenüber<br />

Veränderungen in der Umwelt eine weitaus größere Toleranz<br />

beweisen, als Labortests vermuten lassen. Dies wurde am<br />

Beispiel des Wärmekomforts umfassend demonstriert. Tatsächlich<br />

gibt es Belege dafür, dass der Mensch auf nicht-neutrale<br />

Stimuli positiv reagiert, wenn deren Ursache als natürlich<br />

erkannt wird. Lisa Heschong hat dies 1979 in ihrem Buch<br />

‚Thermal Delight in <strong>Architecture</strong>‘ beschrieben. Lässt sich dieses<br />

Prinzip auch auf das Licht anwenden?<br />

Unsere Lichtempfindlichkeit unterscheidet sich <strong>von</strong> unserem<br />

Wärmeempfinden. Licht als solches ist selten lebensbedrohlich.<br />

Trotzdem kann es in seiner Rolle als Informationsträger<br />

durchaus lebensnotwendig sein. Natürliches Licht signalisiert<br />

den täglichen Zyklus <strong>von</strong> Ruhe- und Schaffensphase und ist<br />

sozusagen lebenserhaltende Maßnahme.<br />

Aber lassen sich ähnliche Reaktionen auf das Licht wie<br />

auf die Wärme feststellen? Parpairi kam in ihrer Studie in<br />

Cambridge zu einem unerwarteten Ergebnis. Sie untersuchte<br />

die Reaktionen der Benutzer diverser Universitätsbibliotheken<br />

auf unterschiedliche Tageslichtverhältnisse. Abb. 5 zeigt<br />

zwei Fälle: Zum einen eine Arbeitskabine mit qualitativ hochwertiger<br />

technischer Beleuchtung (blendfreies diffuses Licht<br />

ohne störende Kontraste), zum anderen einen Arbeitsplatz am<br />

Fenster, wo die Lichtbedingungen je nach Wetterverhältnissen<br />

stark variieren, insbesondere bei Sonnenschein.<br />

Die Studie zeigt, dass die zweite Situation bevorzugt wurde.<br />

Die Benutzer genossen die sonnige Aussicht auf den Fluss Cam;<br />

wurde die Blendwirkung zu stark, konnten sie sich in den schattigen<br />

Teil des Raums zurückziehen. Das Gebäude bot adap-


53<br />

FOTOGRAFIE VON BJÖRN KUSOFFSKY


tive Möglichkeiten, und trotz der starken Stimuli natürlichen<br />

Ursprungs fühlten sich die Benutzer sehr wohl. Zwar weist dieser<br />

Fall Parallelen zu verstärktem Wohlbefinden bei natürlich stimulierter<br />

Wärme auf, ist aber wegen der viel größeren Kapazität<br />

des Lichts als Informationsträger deutlich komplexer. Man kann<br />

nur mutmaßen, ob das Ergebnis dasselbe gewesen wäre, hätte<br />

man die idyllische Flusslandschaft durch einen Parkplatz oder<br />

eine Müllhalde ersetzt. Natürlich ist die übermittelte Information<br />

wichtig, auch wenn sie nichts mit der zentralen Aufgabe<br />

zu tun hat. Hier geht es um Atmosphären, und offenbar<br />

wird eine natürliche Atmosphäre sehr geschätzt.<br />

Ulrich untersuchte in einer bemerkenswerten und viel<br />

zitierten Studie den Einfluss eines Naturausblicks auf Patienten<br />

nach einer Operation. Die Patienten mit Aussicht auf<br />

eine Naturlandschaft mit Bäumen in einiger Ferne erholten<br />

sich nachgewiesenermaßen rascher als diejenigen mit Blick<br />

auf eine blanke Wand (Tabelle 1).<br />

Eine auf offizielle Schulleistungstests gestützte Studie der<br />

Heschong Mahone Group in den USA ergab, dass sich der jährliche<br />

Lernfortschritt in Mathematik und Englisch bei 8- bis 10-jährigen<br />

Schülern in Räumen mit natürlichem Lichteinfall <strong>von</strong> 6 %<br />

auf 26 % steigerte. Dieser Effekt wurde bereits dort festgestellt,<br />

wo das Tageslicht nur durch diffuse Lichtschächte einfiel; die<br />

größten Fortschritte aber wurden erzielt, wenn das Tageslicht<br />

auch durch Fenster hereinkam. Zuletzt ein Faktum, das wir<br />

alle kennen. Wie oft sieht man, dass jemand in einem natürlich<br />

beleuchteten Raum auch beim schwindenden Tageslicht gegen<br />

Abend zu lesen fortfährt? Mit Hilfe protokollierter Messungen<br />

der Lichtstärke im Raum bestimmten wir den Schwellenwert,<br />

an dem künstliche Beleuchtung eingeschaltet wird. Das Ergebnis<br />

war verblüffend: Die typischen Werte bewegten sich um nur<br />

70 Lux und waren somit 4- bis 5-mal niedriger als die Standardlichtstärke<br />

für künstliches Licht. Eine so geringe Lichtmenge<br />

würden wir bei künstlichem Licht niemals tolerieren (höchstens<br />

in einem romantischen Restaurant). Dies bestätigt erneut<br />

unsere Toleranz gegenüber den Veränderungen unserer Umgebung,<br />

sofern diese natürlichen Ursprungs sind.<br />

das fenster zur welt<br />

Tageslicht hat viele wertvolle technische Eigenschaften – als<br />

freie Quelle sichtbarer Strahlung mit einzigartigem Farbspektrum<br />

und wichtigen physiologischen Funktionen. Die zuvor<br />

beschriebenen Fallstudien scheinen zu belegen, dass die vom<br />

54 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Tageslicht transportierten Informationen allerdings auch <strong>von</strong><br />

psychologischer Bedeutung sein können.<br />

Moderne Technik macht es möglich, künstliches Licht<br />

zu erzeugen, dessen spektrale Eigenschaften sich nicht vom<br />

Tageslicht unterscheiden und dessen Intensität variiert werden<br />

kann, um den natürlichen Verlauf des Sonnenlichts zu<br />

imitieren. Würde dieses Licht aber durch eine konventionelle<br />

Leuchte mitten im Raum geliefert, hätte es dann dieselbe<br />

Wertigkeit wie Tageslicht? Gehen wir einen Schritt weiter:<br />

Angenommen, bei dem Licht handelte es sich tatsächlich um<br />

Tageslicht, das durch Spiegel und lichtleitende Elemente zugeführt<br />

wird, wäre es dann gleichwertig?<br />

Stellen wir uns ein recht großes Fenster mit Ausblick auf<br />

den Himmel, ein paar Bäume und die nähere Umgebung<br />

vor. Das Tageslicht fällt auf die hellen Außenleibungen und<br />

Fensterbänke und erleichtert dem Auge den Übergang <strong>von</strong><br />

der sanften Raumbeleuchtung zum hellen Himmel mit weißen<br />

Wolken. Nehmen wir weiterhin an, dass die Person im<br />

Raum das Fenster öffnet, um eine Verbindung herzustellen<br />

zur frischen Luft und zu den Gerüchen und Geräuschen der<br />

Außenwelt. Keine Frage – der Wert des Lichts hängt <strong>von</strong> dessen<br />

Ursprung ebenso ab wie <strong>von</strong> seinen immanenten Eigenschaften.<br />

Das Gesamtpaket, das das Fenster zu bieten hat,<br />

ist wertvoller als die Summe der einzelnen Teile. Die Funktion<br />

<strong>von</strong> Tageslicht und natürlicher Belüftung zu unterbinden,<br />

mag im Sinne technischer Kontrolle attraktiv sein, wird<br />

aber niemals mit den Vorzügen eines simplen Fensters konkurrieren<br />

können (Abb. 6).<br />

schlussfolgerungen<br />

Unsere Gene sind ein Produkt der Außenwelt, doch mit der<br />

Zeit haben wir unser Leben nach innen verlagert und versuchen,<br />

Innenräume vom ständigen Wechselspiel der Natur zu<br />

isolieren. Für die meisten <strong>von</strong> uns, deren Leben sich überwiegend<br />

drinnen abspielt, ist das Fenster die letzte Verbindung<br />

zur Natur. Kaum verwunderlich also, dass den Fenstern <strong>von</strong><br />

den Architekten in der Vergangenheit so viel Bedeutung beigemessen<br />

wurde. Nun aber laufen wir Gefahr, trotz all unserer<br />

wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Mittel<br />

den Wert des Fensters für Gesundheit und Wohlbefinden zu<br />

vergessen. Absurderweise tragen wir durch den Bau <strong>von</strong> überwiegend<br />

künstlich beleuchteten Häusern auch noch zur Krise<br />

der Erderwärmung bei.


1. Eine vollverglaste Fassade aus<br />

den Sechziger Jahren –<br />

Universität Delft, Niederlande.<br />

2. Im Mittelalter der Lichtkultur –<br />

der Kalamazoo-Firmensitz,<br />

England, ein Beispiel für die<br />

Abschaffung des Tageslichts in<br />

den siebziger Jahren.<br />

1.<br />

3. Eine Sky View Factor (SVF)<br />

Karte eines geplanten Wohngebiets<br />

mit dichter Bebauung<br />

in Leicester (GB). (Die SVFs<br />

auf Bodenhöhe an den Stellen<br />

1–7 betrugen 0,32, 0,11, 0,39,<br />

0,21, 0,42, 0,17 bzw. 0,09 und<br />

sind Indikator für unterschiedlich<br />

starke Überschattung. Anmerkung:<br />

Der maximale SVF<br />

einer senkrechten Fassade beträgt<br />

0,5.)<br />

Tabelle 1:<br />

Art des Dosisanzahl<br />

Schmerzmittels Wandgruppe Baumgruppe<br />

Stark 2.48 0.96<br />

Mittel 3.65 1.74<br />

Schwach 2.57 5.39<br />

Vergleich der erforderlichen Schmerzmittelmenge für Patienten mit Wandblick<br />

bzw. Aussicht auf Bäume; 46 Patienten zwischen 2 und 5 Tagen nach der<br />

Operation (Quelle: R. S. Ulrich).<br />

Fußnoten<br />

1. Laut Schätzungen verursacht die Beleuchtung in Großbritannien<br />

11 % des CO2-Ausstoßes des gesamten Häuserbestands und erreicht<br />

sogar 30 % bei öffentlichen und Geschäftsgebäuden.<br />

2. Der Tageslichtfaktor (DF) bezeichnet das Verhältnis des Beleuchtungsgrads<br />

an einem bestimmten Punkt im Haus zu demjenigen außerhalb<br />

des Gebäudes. Die typischen Werte liegen zwischen 1 und 10 %.<br />

4. Die Bibliothek in Peckham,<br />

England. Sogar in der Nähe der<br />

Fenster bleibt das elektrische<br />

Licht eingeschaltet – „aus<br />

Gesundheits- und Sicherheitsgründen”.<br />

5. Die Bibliotheken des Jesus<br />

College (a) und des Darwin<br />

College (b) in Cambridge zeigen<br />

ganz unterschiedliche<br />

Tageslicht umgebungen.<br />

2. 3. 4.<br />

5a. 5b. 6.<br />

6. Das herkömmliche Fenster<br />

bietet zugleich Tageslicht,<br />

Lüftung und Aussicht.<br />

Nick Baker studierte zunächst Physik, wechselte dann aber zur <strong>Architektur</strong><br />

und arbeitet in Bildung, Forschung und Beratung. Er veröffentlichte diverse<br />

Studien zu den Themen Energieverbrauch in Gebäuden, Wärmekomfort und<br />

Tageslicht und ist Co-Autor des Buchs ‚<strong>Daylight</strong>ing Design of Buildings‘ (James<br />

and James, London, 2002). Derzeit arbeitet er als Tutor und wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter an der <strong>Architektur</strong>fakultät der Universität Cambridge.<br />

Literaturhinweise<br />

Heschong, L. Thermal Delight in <strong>Architecture</strong>, The MIT Press, 1979<br />

Schiller, G.E., A comparison between measured and predicted<br />

comfort in office buildings<br />

Parpairi, K. <strong>Daylight</strong>ing in <strong>Architecture</strong> – Quality and User Preference.<br />

PhD Thesis. Univ Cambridge, 1999<br />

Ulrich, R S. View through a Window may influence Recovery<br />

from Surgery. Science 224, 1984<br />

Robson, E R., School <strong>Architecture</strong>, Leicester University Press (1972) 1874<br />

Heschong Mahone Group., <strong>Daylight</strong>ing in schools.<br />

California Board of Energy Efficiency, 1999<br />

55<br />

FOTO: ROBERT HARDING PICTURE LIBRARY


<strong>VELUX</strong> EINBLICKE <strong>Architektur</strong> für Menschen –<br />

gebaut mit <strong>VELUX</strong>.<br />

DISKRETER<br />

NACHBAR<br />

Wohnhaus in Randalstown<br />

Von Jakob Schoof<br />

Fotos: Alan Jones<br />

Grün die Wiesen, grau die Städte und der Wolkenhimmel<br />

– dieser Farbklang hat die Landschaft Nordirlands<br />

seit jeher bestimmt und tut es bis heute. Alan<br />

Jones‘ Wohnhaus in Randalstown fügt sich nahtlos in<br />

dieses Bild: Mit seiner schwarzen Faserzementverkleidung<br />

könnte das Gebäude auch als Scheune oder<br />

Gemeindehalle durchgehen. Seinen wohnlichen<br />

Charakter entfaltet es – auf überraschende und<br />

virtuose Art und Weise – erst im Inneren.


”Was heißt das, eine <strong>Architektur</strong> mit einer bestimmten Region<br />

im Hinterkopf zu schaffen, bei der es sich in diesem Fall um<br />

Ulster handelt? Welche Schlussfolgerungen und Fragen<br />

ergeben sich daraus?<br />

Wir legen großen Wert darauf, unsere <strong>Architektur</strong> so zu<br />

interpretieren, da neue politische Wege einer soliden Basis<br />

bedürfen, um erfolgreich zu sein – und nichts ist so permanent<br />

und wahrhaftig fundiert wie ein Bauwerk.”<br />

David Brett und Alan Jones in „Toward an <strong>Architecture</strong>”:<br />

Ulster. Black Square Books 2007<br />

Vorherige Seite Nebel verhüllt<br />

den Friedhof der presbyterianischen<br />

Kirche <strong>von</strong> Randalstown.<br />

Das Wohnhaus der Familie Jones<br />

ist aus dieser Perspektive nur als<br />

große, fensterlose Silhouette zu<br />

erkennen.<br />

Oben Erste Entwurfsskizzen,<br />

die die Kubatur des Hauses klären.<br />

Primäre Frage während des<br />

Entwurfs war für Alan Jones,<br />

wie sich das Haus äußerlich in<br />

seine Umgebung aus öffentlichen<br />

Gebäuden einfügen würde und<br />

gleichzeitig im Inneren der Familie<br />

Privatheit bieten könnte.<br />

Rechts Während sich das Haus<br />

der Familie Jones zur Straße hin<br />

geschlossen und optisch ruhig<br />

präsentiert, öffnet es sich auf der<br />

Ostseite mit vier traufhohen,<br />

schräg ausgestellten Erkern dem<br />

<strong>von</strong> Süden einfallenden Tageslicht.<br />

Wenn Wohnhäuser physische Größe zeigen,<br />

so ist dies meist eher dem Komfort- und<br />

Repräsentationsbedürfnis ihrer Bewohner<br />

geschuldet als der städtebaulichen Notwendigkeit.<br />

Mit anderen Worten: Häuser wirken<br />

heutzutage in den allermeisten Fällen eher<br />

zu groß als zu klein für ihr Umfeld. Von Alan<br />

Jones‘ Haus im nordirischen Randalstown<br />

lässt sich dies trotz seiner Grundfläche <strong>von</strong><br />

rund 20 x 7 Metern nicht behaupten: Es steht<br />

als einziges Wohnhaus inmitten öffentlicher<br />

Gebäude mit Solitärcharakter. Auf dem Nachbargrundstück<br />

erhebt sich die Kirche der Presbyterianer,<br />

ein ovaler, neo-georgianischer Bau<br />

aus dem 18. Jahrhundert, daneben das dazugehörige<br />

Gemeindehaus und etwas weiter<br />

entfernt ihr anglikanisches Gegenstück, die<br />

Drummaul Parish Church, mit spitzem Turmhelm.<br />

An der Straße sind darüber hinaus die<br />

Versammlungshallen der örtlichen Freimaurerloge<br />

und des Oranier-Ordens aufgereiht.<br />

Ein weniger intimer Standort für ein Wohnhaus<br />

ließe sich in der 5000-Einwohner-Gemeinde<br />

schwerlich ausmachen, zumal das<br />

Gartengrundstück der Jones‘ direkt an den<br />

presbyterianischen Friedhof grenzt. Seiner<br />

Lage entsprechend besitzt das Gebäude zwei<br />

58 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Eingänge entlang einer mit weißem Kalksteinkies<br />

bedeckten Zufahrt: einen vorderen, halböffentlichen,<br />

und einen hinteren, privaten, der<br />

mit einer Holzterrasse auf der Südseite des<br />

Hauses verbunden ist. Das Gebäudevolumen<br />

lässt weder die innere Geschossteilung erahnen,<br />

noch macht es die Grundrisse ablesbar.<br />

Alan Jones beschreibt die Straßenansicht<br />

als „stumm, dunkel und optisch ruhig, mit<br />

nur einem einzigen Giebelfenster, das nachts<br />

erleuchtet ist“. Dafür öffnen sich vier traufhohe,<br />

schräg ausgestellte Erker auf der Ostseite<br />

des Hauses. Ihre Fenster weisen <strong>von</strong> der<br />

Straße weg Richtung Süden. „Es war Zufall,<br />

dass die Südseite <strong>von</strong> der öffentlichen Straße<br />

abgewandt war, und der Kontrast zwischen<br />

öffentlichem Norden und privatem Süden<br />

wurde so <strong>von</strong> Anfang an zum Entwurfsthema“,<br />

sagt Alan Jones.<br />

Auch im Inneren des Hauses wird dieser<br />

Gegensatz spürbar, ohne dass er zu einer Trennung<br />

in einen öffentlichen Nord- und einen privaten<br />

Südteil geführt hätte. Im Gegenteil: Das<br />

kombinierte Wohn-, Koch-, Ess- und Empfangszimmer<br />

im Erdgeschoss ist ein rund 20<br />

Meter langer, nur durch Mobiliar und Glastrennwände<br />

unterteilter Raum, der sich über


60 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Links Da die Räume im Obergeschoss<br />

weniger Platz beanspruchen<br />

als die im Erdgeschoss,<br />

verzahnte Alan Jones die beiden<br />

Geschosse miteinander. Zweigeschossige<br />

Lufträume bringen<br />

das Licht der Dachwohnfenster<br />

allenthalben bis hinunter ins<br />

Erdgeschoss.<br />

Unten Gold trifft grau: Raue, mit<br />

OSB-Tafeln eingeschalte Sichtbetonwände<br />

bestimmen die<br />

Lichtatmosphäre im Inneren.<br />

Sie kontrastieren mit den weißen<br />

Decken und dem polierten<br />

Betonfußboden.<br />

Rechts Geheimnisvolles Äußeres<br />

– mit seiner Faserzementverkleidung<br />

wirkt das Wohnhaus fast<br />

wie ein Monolith. Das Gebäudevolumen<br />

lässt weder die innere<br />

Geschossteilung erahnen, noch<br />

macht es die Grundrisse ablesbar.


die gesamte Gebäudelänge erstreckt. Er vereint<br />

alle Funktionen <strong>von</strong> öffentlich bis privat<br />

in sich: An der Straßenseite empfängt Alan<br />

Jones seine Gäste und Besucher, dahinter folgen<br />

der Essbereich, die Küche und schließlich<br />

der zum Garten orientierte Wohnraum. Jeder<br />

dieser Abschnitte wird durch einen eigenen<br />

Erker belichtet; die Räume im Obergeschoss<br />

erhalten ihr Licht dagegen ausschließlich <strong>von</strong><br />

oben durch Dachwohnfenster. Vier Schlafzimmer<br />

und drei Bäder gibt es im Obergeschoss<br />

– was viel ist für eine vierköpfige Familie und<br />

doch weit weniger Platz beansprucht als die<br />

Räume im Erdgeschoss. An den Giebelseiten<br />

sind die Obergeschossräume daher teilweise<br />

<strong>von</strong> den Außenwänden des Hauses zurückgesetzt.<br />

Der Wohnraum und der Empfangsbereich<br />

im Erdgeschoss erhalten so zusätzliches,<br />

indirektes Licht durch hoch liegende Fenster<br />

in den Giebelfassaden und Dachflächen. Die<br />

Obergeschossräume scheinen als geschlossene<br />

Kuben über dem Erdgeschoss zu hängen,<br />

ohne dass ihre Erschließung auf den ersten<br />

Blick sichtbar wird.<br />

Diese Verzahnung zwischen Erd- und<br />

Obergeschoss ist jedoch nicht die einzige<br />

Überraschung, die das Haus im Inneren bereit-<br />

hält. Nahezu alle Innenwände sind mehr oder<br />

weniger stark gegen den rechten Winkel verdreht;<br />

die Grundrisse wirken, als sei ein Wirbelsturm<br />

durch das Haus gefahren. Dabei ist ihre<br />

Gliederung durchaus klassisch: im Osten die<br />

Wohnräume und Schlafzimmer, im Westen<br />

eine kleinteiligere und niedrigere Nebenraumspange<br />

mit Treppe, Bädern, WCs, Garderoben<br />

und Abstellräumen. Die schrägen Winkel,<br />

stumpfen und spitzen Ecken sowie zweigeschossigen<br />

Lufträume verleihen den Innenräumen<br />

eine Dynamik und Spannung, die sich<br />

erst nach und nach erschließt – und die Alan<br />

Jones mit derjenigen der Kirche nebenan vergleicht:<br />

„Wie in der Kirche ist auch hier das<br />

Gebäudeinnere nicht <strong>von</strong> außen ablesbar, und<br />

in beiden Gebäuden wird man für das Eintreten<br />

belohnt.“<br />

Die Belohnung schließt auch die Materialpalette<br />

im Innenraum mit ein: Alan Jones entschied<br />

sich für einen Massivbau aus Beton mit<br />

vorgehängter Faserzementverkleidung. Die<br />

Betonwände wurden mit groben OSB-Platten<br />

eingeschalt und haben deren Textur angenommen:<br />

eine natürliche, weiche, das Licht<br />

streuende Oberfläche, mehrfarbig gefleckt<br />

durch Abfärbungen der Schalplatten und<br />

zahlreiche hellbraune Holzsplitter, die in der<br />

Betonwand zurückgeblieben sind. Gemeinsam<br />

mit dem polierten Betonfußboden<br />

ergeben sie einen eigentümlichen Höhlencharakter,<br />

dem auch das thermische Verhalten<br />

des Gebäudes entspricht: Die unverkleideten<br />

Betonmassen bilden einen vorzüglichen Wärmespeicher,<br />

der winters wie sommers Temperaturspitzen<br />

abfedert.<br />

„Kann ein Wohnhaus eine wichtige Position<br />

in der Stadt einnehmen, in einer Reihe<br />

öffentlicher Gebäude, und dort ruhen, in<br />

friedlicher Koexistenz mit seinen bürgerlichen<br />

Nachbarn? Kann ein neues Wohnhaus<br />

sich all jener optischen Hinweise entledigen,<br />

die es als Haus identifizieren, sodass es mit<br />

seiner Umgebung in Einklang steht und – wie<br />

manche Bewohner des Orts sagen – ‚aussieht,<br />

als hätte es immer dort stehen sollen‘?“, zählt<br />

Alan Jones die Fragen auf, die ihn bei seinem<br />

Entwurf geleitet haben. Mit seinem Haus in<br />

Randalstown hat er sie selbst mit „Ja“ beantwortet.<br />

Er führt damit eine lange Tradition<br />

<strong>von</strong> ‚Architekten-Wohnhäusern‘ fort, die eher<br />

durch stille Größe, praktischen Nutzwert und<br />

intelligente Details zu überzeugen wissen als<br />

durch formale Extrovertiertheit.<br />

61


Fakten<br />

Gebäudetyp: Einfamilienhaus<br />

Bauherr: Laura and Alan<br />

Jones, Randalstown, GB<br />

Architekt: Alan Jones, SPACE,<br />

Queen’s University, Belfast, GB<br />

Standort: Randalstown/Antrim, GB<br />

Querschnitt<br />

Längsschnitt<br />

Ansicht Süd<br />

Ansicht Nord<br />

Grundriss Obergeschoss<br />

Grundriss Erdgeschoss<br />

Ansicht Ost<br />

Ansicht West<br />

62<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Grundriss Kellergeschoss


Links Als einziges Wohnhaus<br />

inmitten öffentlicher Gebäude<br />

gelegen: Die Old Congregation<br />

Presbyterian Church, das dazugehörige<br />

Gemeindehaus und Friedhof,<br />

die anglikanische Kirche<br />

Drummaul Parish Church sowie<br />

die Versammlungshallen der örtlichen<br />

Freimaurerloge und des<br />

Oranier-Ordens umgeben das<br />

Grundstück der Familie Jones.<br />

Links unten Zweigeschossige<br />

Lufträume erlauben diagonale<br />

Querblicke in den Etagen und lassen<br />

<strong>von</strong> oben Tageslicht in die im<br />

Erdgeschoss angesiedelte Küche<br />

dringen.<br />

Unter der schwarzen Dachhaut<br />

öffnen sich tageslichthelle<br />

Räume. Im Bad verstärkt ein<br />

geschickt angebrachter Spiegel<br />

den Eindruck der Weitläufigkeit.<br />

63


PHOTO: SYBOLT VOETEN / MICHEL KIEVITS<br />

64 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11


<strong>VELUX</strong> IM DIALOG Architekten im Dialog<br />

mit <strong>VELUX</strong>.<br />

„DIESES GEBÄUDE<br />

STIMMT MICH<br />

OPTIMISTISCH“<br />

Interview mit Wessel de Jonge<br />

65


Vorherige Seite Die „Van Nelle<br />

Ontwerpfabriek“ gilt als Ikone<br />

der Klassischen Moderne in den<br />

Niederlanden. 2004 wurde das<br />

Bauwerk <strong>von</strong> Brinkman & Van<br />

der Vlugt nach seiner Sanierung<br />

durch Wessel de Jonge Architects<br />

und Hubert-Jan Henket wiedereröffnet.<br />

Rechts In der 1931 fertig gestellten<br />

Van-Nelle-Fabrik wurden<br />

einst auf industrielle Art und<br />

Weise Tee und Kaffee produziert.<br />

Nach der Renovierung durch<br />

Wessel de Jonge beherbergt das<br />

<strong>von</strong> der UNESCO ins Weltkulturerbe<br />

aufgenommene Gebäude<br />

moderne Büros und Geschäftsbereiche.<br />

66<br />

Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam, eines der Meisterwerke<br />

der niederländischen klassischen Moderne,<br />

wird Schauplatz des <strong>VELUX</strong> <strong>Daylight</strong> Symposiums im<br />

Mai 2009 sein. Wessel de Jonge hat die Restaurierung<br />

des Gebäudekomplexes nach einem langwierigen<br />

Planungsprozess 2004 abgeschlossen. <strong>Daylight</strong> &<br />

<strong>Architecture</strong> sprach mit ihm über seine Erfahrungen<br />

mit der klassisch-modernen <strong>Architektur</strong> und über die<br />

Rolle <strong>von</strong> Tageslicht und Innenklima in den Gebäuden.<br />

D&A: Herr de Jonge, in den letzten Jahren<br />

hat Ihr <strong>Architektur</strong>büro diverse Gebäude<br />

<strong>von</strong> Meistern der holländischen Moderne<br />

wie Jan Duiker, Brinkman & Van der Vlugt<br />

und Gerrit Rietveld restauriert. Worin liegen<br />

die Unterschiede zwischen diesen drei<br />

Architekten?<br />

WdJ: Die Unterschiede sind beträchtlich.<br />

Rietveld benutzte ganz andere Entwurfswerkzeuge<br />

als Duiker und Brinkman & Van<br />

der Vlugt, nämlich die eines Schreiners und<br />

Künstlers. Duiker hingegen sah sich selbst<br />

eher als Ingenieur denn als Architekt.<br />

Diese unterschiedlichen Haltungen spiegeln<br />

die Suche der Architekten der 20er-<br />

Jahre nach neuen Strategien wider. Die<br />

<strong>Architektur</strong> sah sich seinerzeit mit den Folgen<br />

der Industrialisierung konfrontiert, wie<br />

der Massenmigration in die Städte, den Problemen<br />

der Arbeiterwohnviertel sowie neuen<br />

Herausforderungen in Gesundheitswesen,<br />

Hygiene und Bildung. Diese Belange waren<br />

etwas völlig Neues und bewegten daher<br />

auch die gesamte <strong>Architektur</strong> in eine neue<br />

Richtung: Deren Schwerpunkt verlagerte<br />

sich nun zunehmend <strong>von</strong> der künstlerischen<br />

Arbeit hin zu wissenschaftlichen und technischen<br />

Ansätzen. Viele Architekten suchten<br />

nach neuen industriellen Konstruktionsmethoden,<br />

die, wie sie behaupteten, zur Lösung<br />

der mit der Industrialisierung einhergehenden<br />

Probleme unumgänglich seien.<br />

Zunächst jedoch experimentierten auch<br />

viele Architekten – wie die Künstler – mit<br />

eher künstlerischen Lösungen wie etwa<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

den schlichten Formen und Primärfarben<br />

der De-Stijl-Bewegung. Rietveld war in dieser<br />

Hinsicht äußerst engagiert. Duiker und<br />

Brinkman & Van der Vlugt unterstützten<br />

dagegen eine Bewegung, die das Wesen der<br />

<strong>Architektur</strong> grundsätzlich in Frage stellte.<br />

Sie favorisierten eine rationalere und technisch<br />

orientierte Problemlösung auf der<br />

Basis gründlicher Analysen.<br />

D&A: Verfolgten die drei Architekten auch<br />

unterschiedliche Konzepte im Umgang mit<br />

Tageslicht, oder überwiegen hier die Gemeinsamkeiten?<br />

WdJ: In der Arbeit mit Tageslicht dominieren<br />

meines Erachtens eher Gemeinsamkeiten<br />

als Unterschiede. In der Moderne war die<br />

Transparenz <strong>von</strong> Gebäuden gewissermaßen<br />

Programm, ein allgemeines kulturelles Ideal<br />

als Sinnbild einer Gesellschaft, die – so mutmaßten<br />

die Architekten – ebenso transparent<br />

organisiert sei. Diese Vorstellung zeigt sich in<br />

der extensiven Nutzung <strong>von</strong> Glas. Das Baukonzept<br />

der Van-Nelle-Fabrik beispielsweise<br />

orientiert sich maßgeblich am Tageslicht.<br />

Die Tiefe des Gebäudes wurde auf 19 Meter<br />

beschränkt – ein Maß, das sich aus einer einfachen<br />

Berechnung ergab: Wenn man das<br />

Gebäude an beiden Längsseiten dem Tageslicht<br />

öffnete, so mussten die Arbeiter auch in<br />

der Raummitte noch ihr Tagwerk unter natürlichen<br />

Lichtbedingungen verrichten können.<br />

Diese rationalen Anforderungen und Berechnungen<br />

sind ursächlich für die Form des<br />

außergewöhnlich langen Flachbaus.


Im Sanatorium Zonnestraal sieht es ähnlich<br />

aus. Auch hier sind die Gebäude sehr<br />

schmal, häufig beträgt ihre Tiefe nicht mehr<br />

als 7,5 Meter. Die Besonderheit in Zonnestraal<br />

war, dass die Patienten in separaten kleinen<br />

Zimmern untergebracht wurden. In anderen<br />

Sanatorien jener Zeit lagen meist 10 bis 12<br />

Personen gemeinsam in einem größeren Saal.<br />

In Zonnestraal hingegen waren die Zimmer<br />

nur 3 Meter tief, sodass das Licht ungehindert<br />

eindringen, die gesamte Raumtiefe beleuchten<br />

und Keime wirkungsvoll abtöten konnte.<br />

Die Unterschiede zwischen den beiden<br />

Gebäuden bestehen im Wesentlichen<br />

in den Baumaterialien wie Glas. In Zonnestraal<br />

sollten die Patienten vom Krankenbett<br />

ungehindert ins Grüne blicken können.<br />

In der Van-Nelle-Fabrik waren Ausblicke<br />

dagegen unwichtig bis unerwünscht, um<br />

die Arbeiter nicht abzulenken. Folglich<br />

benutzte man für das Sanatorium erstklassiges<br />

Fensterglas, für die Fabrik hingegen<br />

eine geringere Glasqualität mit mehr Fehlern<br />

und Unebenheiten in der Oberfläche<br />

sowie kleinere Glasscheiben. Dieses Glas<br />

stammte ursprünglich aus der Gewächshausindustrie<br />

und wurde ausschließlich<br />

in standardisierten Formaten hergestellt.<br />

Brinkman & Van der Vlugt mussten sogar<br />

die Gesamtproportion der Fassaden<br />

ändern, um sie diesem billigen massenproduzierten<br />

Glas anzupassen.<br />

D&A: Beschränkte sich die Nutzung des<br />

Tageslichts im Modernismus auf visuellen<br />

Komfort und Hygiene, oder berücksichtig-<br />

ten die Architekten auch seinen psychologischen<br />

Wert?<br />

WdJ: Der psychologische Wert des Tageslichts<br />

war natürlich enorm – ebenso wie seine<br />

metaphorische Bedeutung. Duiker erwähnte<br />

oft seine Abneigung gegen die Tendenz der<br />

Menschen, alles zu kategorisieren. Als Ingenieur<br />

forderte er Unvoreingenommenheit<br />

und die Fähigkeit, jede Lösung abzuwägen<br />

und dann die beste zu wählen. Tageslicht war<br />

immer Bestandteil seiner rationalen Denkweise.<br />

Duikers Absicht war, die Menschen<br />

aus ihren dunklen Höhlen und Kellern hinaus<br />

ins Freie, zur frischen Luft und ans Tageslicht<br />

zu holen, ihre Gesundheit durch Sport zu fördern<br />

und größeren Wert auf Hygiene zu legen.<br />

Interessanterweise lehnte Duiker noch eine<br />

weitere ‚traditionelle‘ Beschränkung ab: den<br />

Schutz historischer Gebäude. Dies birgt eine<br />

gewisse Ironie, denn heute sind Duikers Häuser<br />

selbst Gegenstand des Denkmalschutzes.<br />

D&A: Herman Hertzberger schrieb einmal:<br />

„Dass man so ungehindert in holländische<br />

Wohnzimmer blicken und nahezu am dortigen<br />

Leben teilnehmen kann, ist eine Tradition,<br />

die die Besucher dieses Landes immer<br />

wieder verblüfft.” War diese Tradition einer<br />

der Gründe, warum die klassische Moderne<br />

mit ihrer Tendenz zu Offenheit und Transparenz<br />

in den Niederlanden so begeistert aufgenommen<br />

wurde?<br />

WdJ: Das ist eine interessante Frage, die<br />

ich nicht wirklich beantworten kann. Sicher-<br />

lich sind die Niederländer, zumindest im<br />

Westen des Landes, daran gewöhnt, ihren<br />

Lebensraum – und auch die Gesellschaft<br />

– ingenieursmäßig zu konstruieren. Mein<br />

Wohnzimmer zum Beispiel liegt 4,5 Meter<br />

unter dem Meeresspiegel. Wenn man unter<br />

diesen Umständen nicht seine gesamte<br />

Umwelt unter künstlicher Kontrolle hält,<br />

ertrinkt man schlicht und einfach.<br />

Wir sind also daran gewöhnt, die Umwelt<br />

zu unserem Vorteil zu konstruieren und zu<br />

modifizieren. Dies bedeutet, dass der Ansatz<br />

der Architekten in den 20er-Jahren sehr gut<br />

zu der holländischen Denkweise passte: Das<br />

Problem analysieren, eine technische Lösung<br />

finden und die Lösung in die Tat umsetzen.<br />

D&A: Welche Planungswerkzeuge für<br />

Tageslicht und Belüftung standen den Architekten<br />

der Moderne zur Verfügung, und wie<br />

exakt waren sie?<br />

WdJ: Einige Architekten jener Zeit – aber<br />

längst nicht alle – wandten Methoden an,<br />

die der modernen Bauphysik oder Konstruktionswissenschaft<br />

recht nahe stehen. Wie<br />

schon gesagt, betrachtete Duiker sich eher als<br />

Ingenieur denn als Architekt, und einige seiner<br />

Kollegen teilten diese Berufsauffassung.<br />

Einer <strong>von</strong> ihnen war Johannes Bernardus van<br />

Loghem, der zahlreiche Artikel über technische<br />

Themen wie Akustik, Kondensation,<br />

Tageslicht, die Vorzüge passiver Solarenergie<br />

und entsprechende Berechnungsmethoden<br />

verfasste. 1932 veröffentlichte Van Loghem<br />

ein Buch über Bauphysik und Bautechnolo-<br />

67<br />

FOTO: FAS KEUZENKAMP


Trotz der Gebäudetiefe <strong>von</strong> 19<br />

Metern erhalten die 60 000 Quadratmeter<br />

Büroräume im Inneren<br />

der Van-Nelle-Fabrik reichlich<br />

Tageslicht. Die Fassaden sind so<br />

transparent geblieben wie früher;<br />

lediglich die elektrische<br />

Beleuchtung wurde den Erfordernissen<br />

der Bildschirmarbeit<br />

angepasst.<br />

gie, das wir vor Beginn unserer Arbeit an Van<br />

Nelle und Zonnestraal gelesen haben. Dieses<br />

Buch entspricht erstaunlicherweise ungefähr<br />

dem Wissensstand, der mir 40 Jahre später<br />

an der Universität vermittelt wurde. Im Vorwort<br />

begründet Van Loghem, warum er das<br />

Buch schrieb: Viele zeitgenössische Architekten<br />

und Befürworter der Moderne wüssten<br />

noch zu wenig über Bauphysik. Das gilt offensichtlich<br />

nicht nur für die 30er-Jahre, sondern<br />

ist auch heute noch der Fall.<br />

D&A: Aus heutiger Sicht waren der thermische<br />

Komfort und die sommerliche Überhitzung<br />

klare Schwachpunkte der meisten<br />

klassisch-modernen Gebäude. Fehlten den<br />

Architekten einfach die entsprechenden<br />

Möglichkeiten?<br />

WdJ: Keinesfalls! Sie hatten alle diesbezüglich<br />

eine klare Vorstellung. Aber unsere<br />

Sichtweise hat sich seitdem verändert, und<br />

wenn wir die damaligen Gebäude mit unserem<br />

modernen Verständnis betrachten, fällen<br />

wir natürlich ein negatives Urteil. Zum<br />

Beispiel könnte das Sanatorium Zonne straal<br />

gemessen an modernen Standards wegen<br />

seiner massiven Kondensationsprobleme<br />

und sonstigen Mängel gar nicht ‚funktionieren‘.<br />

Man muss aber bedenken, wie das<br />

Gebäude ursprünglich genutzt wurde: Während<br />

wir heute eine konstante Raumtemperatur<br />

<strong>von</strong> 21 Grad fordern, waren es damals<br />

17 oder 18 Grad. Außerdem gehörte Frischluft<br />

zur Behandlungstherapie der Patienten,<br />

weshalb Türen und Fenster auch im Winter<br />

68<br />

stets offen standen. Unter diesen Umständen<br />

ist Kondensation überhaupt kein Thema,<br />

weil sie nicht auftritt!<br />

Jan Duiker entwarf auch eine Freiluftschule<br />

in Amsterdam, in deren Klassenzimmern<br />

die Fenster während des Unterrichts<br />

ständig offen standen. Er wusste natürlich,<br />

dass der thermische Komfort in diesem<br />

Gebäude ein problematisches Thema sein<br />

würde. Daher entwickelte er ein innovatives<br />

Bodenheizungssystem nach dem Strahlungsprinzip,<br />

ganz ähnlich den heutigen Systemen<br />

zur Betonkernaktivierung. Obgleich<br />

Duikers Erfindung letzten Endes nicht funktionierte,<br />

ist es bemerkenswert, dass er bereits<br />

1942 ein derart zukunftsweisendes System<br />

erdachte. Auch viele andere Architekten seiner<br />

Zeit waren sich ihrer Verpflichtung durchaus<br />

bewusst, eine angenehme und gesunde<br />

Umgebung zu schaffen. Sie zeigten großes<br />

Interesse an der Bauphysik, weil sie wussten,<br />

dass sie ohne Kenntnisse der Klimatisierungstechnik<br />

nie offene Häuser und große Glasfassaden<br />

entwerfen könnten.<br />

D&A: Was fanden Sie besonders schwierig<br />

bei dem Versuch, die Gebäude der Moderne<br />

nachzurüsten und den heutigen Klima- und<br />

Lichtstandards anzupassen? Wo mussten<br />

Sie Kompromisse eingehen?<br />

WdJ: Da die Architekten der Moderne derart<br />

darauf bedacht waren, extrem leichte<br />

Fassadenkonstruktionen zu entwerfen, ist<br />

die Nachrüstung dieser Fassaden ein wichtiger<br />

Bestandteil jedes Sanierungskon-<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

zepts. Zugleich sind die Fassaden häufig<br />

die schwierigsten Baukomponenten, da<br />

man sie technisch verbessern muss, ohne<br />

das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes<br />

völlig zu verändern.<br />

In unserem Büro haben wir uns daher<br />

sehr intensiv mit Fassadenbau sowie Klima-<br />

und Lüftungstechnik beschäftigt, weil diese<br />

Bereiche immer zusammengehören. So hängt<br />

zum Beispiel der solare Energieeintrag in ein<br />

Gebäude unmittelbar <strong>von</strong> der Glassorte ab<br />

und ist seinerseits wiederum entscheidend<br />

für die Kühllast des Systems. Nun kann ich<br />

mich natürlich bei der Restaurierung eines<br />

historischen Gebäudes dafür entscheiden,<br />

die Fassade unangetastet zu lassen. In diesem<br />

Fall aber wäre der Klimatisierungsaufwand<br />

enorm, und am Ende führten dicke<br />

Belüftungsrohre durch das ganze Haus –<br />

mit katastrophalen Folgen für die architektonische<br />

Qualität. Sie sehen: Wir müssen bei<br />

jedem Projekt ein Gleichgewicht finden zwischen<br />

innen und außen, indem wir einige Verbesserungen<br />

an Verglasung und Fassade und<br />

einige an den Installationen vornehmen, bis<br />

beide sich etwa in der Mitte treffen.<br />

D&A: Sie sprachen einmal <strong>von</strong> der ‚veränderten<br />

Sicht’ der Architekten zur Erhaltung<br />

modernistischer Gebäude. Wie hat sich dieser<br />

Standpunkt in den letzten 30-40 Jahren<br />

verändert?<br />

WdJ: Vor dreißig Jahren betrachtete man<br />

diese Gebäude noch nicht einmal als etwas<br />

Besonderes. Sie waren einfach nicht alt<br />

FOTO: FAS KEUZENKAMP


FOTO: FAS KEUZENKAMP<br />

69


FOTO: CAPITAL PHOTOS<br />

genug. Selbst die Architekten der Moderne<br />

haben später zahlreiche Veränderungen an<br />

ihren Häusern vorgenommen, ohne den Wert<br />

ihrer eigenen, 30 Jahre zurückliegenden<br />

Arbeit besonders hoch einzuschätzen. Nach<br />

ihrer Überzeugung sollte <strong>Architektur</strong> funktional<br />

und unmittelbar mit dem Nutzungszweck<br />

des Gebäudes verbunden sein. Änderte sich<br />

die Nutzung, musste man auch das Gebäude<br />

verändern – dieser Grundsatz entsprach der<br />

funktionalistischen Logik jener Tage. Bis vor<br />

drei Jahrzehnten galt daher der Grundsatz:<br />

„Würden die Architekten selbst noch leben,<br />

hätten sie das Gebäude ebenfalls verändert.<br />

Warum es also nicht umbauen und einem<br />

neuen Nutzungszweck zuführen?“<br />

Vor 20 Jahren änderte sich diese Haltung.<br />

Einige Gebäude der Moderne wurden<br />

als so besonders, innovativ und prototypisch<br />

angesehen, dass man sie erhalten müsse.<br />

Hierbei musste man allerdings selektiv vorgehen:<br />

Rund 80 Prozent unseres heutigen<br />

Gebäudebestands stammen aus der Zeit<br />

nach 1900. Beginnt man also erst einmal<br />

mit der Erhaltung <strong>von</strong> Gebäuden aus dem<br />

20. Jahrhundert, endet man rasch bei Millionen<br />

potenzieller ‚Kandidaten‘, aus denen<br />

man eine begründete Auswahl treffen muss.<br />

Zonnestraal zum Beispiel gehörte zu den<br />

Gebäuden, die vor rund 20 Jahren unter<br />

Denkmalschutz gestellt wurden.<br />

Der dritte Wandel betraf die Frage, was<br />

genau an den klassisch-modernen Bauwerken<br />

schützenswert sei. Noch vor zwanzig<br />

Jahren schätzte man die Gebäude eher<br />

wegen ihrer Raumkonzepte und weniger<br />

70<br />

wegen ihrer Materialien. Im Gegensatz zu<br />

älteren, handwerklich verarbeiteten Materialien<br />

betrachtete man die Industriewerkstoffe<br />

der 20er- und 30er-Jahre schlichtweg<br />

als ‚ersetzbar‘ durch moderne Baustoffe,<br />

selbst wenn sich das Aussehen eines Gebäudes<br />

hierdurch beträchtlich veränderte. Erst<br />

in den vergangenen 10 Jahren hat sich diese<br />

Haltung verändert. Häufig lassen nämlich<br />

erst die Materialien das tatsächliche Alter<br />

eines Gebäudes erkennen. Wenn Menschen,<br />

die keine Architekten sind, die Van-Nelle-Fabrik<br />

aus gewisser Entfernung sehen und ich<br />

sie frage: „Wie alt ist das Gebäude?“, antworten<br />

sie fast alle: „Vielleicht <strong>von</strong> 1960<br />

oder 1965.“ Erst wenn man näher kommt<br />

und das Haus betritt, zeigt sich an vielen<br />

Details, dass es tatsächlich aus den späten<br />

20er-Jahren stammt.<br />

Jetzt, im dritten Stadium, erkennen wir,<br />

wie wichtig es ist, die ursprünglichen Materialien,<br />

Oberflächen, Strukturen und Farben –<br />

einschließlich Glas – zu erhalten. Als wir das<br />

Projekt Zonnestraal in Angriff nahmen, plädierte<br />

ich als einziger im Team dafür, gezogenes<br />

Glas und kein Floatglas einzusetzen.<br />

Schließlich besteht Zonnestraal fast nur aus<br />

Glas – und wenn das nicht passt, was bleibt<br />

dann übrig?<br />

Sogar die Denkmalschutzbehörden verstanden<br />

damals den Unterschied nicht. Ich<br />

aber hatte festgestellt, dass die Reflexionen<br />

und die Sicht durch gezogenes Glas aufgrund<br />

seiner Unregelmäßigkeit leicht verzerrt sind.<br />

Das Material unterstreicht somit die Fragilität<br />

des Gebäudes. Würde man das Haus<br />

Am Amsterdamer Flughafen<br />

Schiphol erinnert nur noch der<br />

alte Tower an die Frühzeit des<br />

Luftverkehrs. Wessel de Jonge<br />

Architects bauten ihn 2001 zu<br />

einem „Industry Club“ für die<br />

Manager aus dem benachbarten<br />

Business-Park um. Das oberste<br />

Geschoss wird nun als „Sky Bar“<br />

genutzt.<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

mit einer Fassade aus Floatglas <strong>von</strong> außen<br />

betrachten, sähe man eine perfekte Reflexion<br />

dessen, was hinter einem ist. Die Reflexion<br />

lenkt die Aufmerksamkeit ab, das Glas<br />

erscheint weniger transparent und verliert<br />

dadurch seinen Reiz.<br />

D&A: Ursprünglich lag die geplante Lebensdauer<br />

Zonnestraals bei 30-40 Jahren. Handeln<br />

Sie mit der Sanierung des Gebäudes<br />

dann nicht eigentlich gegen die Intention<br />

des Architekten, und welche Konsequenzen<br />

hat dies?<br />

WdJ: Ja, wir arbeiten tatsächlich gegen<br />

seine Intention, aber ich sehe darin kein Problem.<br />

Architekten wie Jan Duiker hegten die<br />

Vorstellung, die ganze Welt werde irgendwann<br />

wie ihre Gebäude aussehen. Sie entwarfen<br />

Prototypen für die Zukunft. Aber<br />

diese Prototypen fanden nie wirklich Beachtung:<br />

Zuerst kam die Wirtschaftskrise in den<br />

Dreißigern, dann der 2. Weltkrieg, nach dessen<br />

Ende sich die Denkweise änderte und<br />

sich der Einfluss der USA in der Bauindustrie<br />

bemerkbar machte. Deshalb gibt es heute<br />

nicht mehr viele der Gebäude, wie sie Duiker<br />

und seine Zeitgenossen in den 20er- und<br />

30er-Jahren bauten. Dies ist mit ein Grund,<br />

warum wir sie schützen sollten.<br />

Außerdem kann die Qualität eines Kunstwerks<br />

wertvoller sein als die Interessen des<br />

Künstlers. Franz Kafka zum Beispiel verfügte<br />

die Verbrennung all seiner Manuskripte nach<br />

seinem Tod, doch man verbrannte sie nicht.<br />

Kafkas Werke waren einfach wichtiger als


FOTO: SYBOLT VOETEN / MICHEL KIEVITS<br />

sein eigener Wunsch. Das Gleiche gilt für<br />

ein Gebäude wie Zonnestraal: Was Duiker<br />

dachte, ist vielleicht nicht so wichtig. Wir<br />

treffen die Entscheidung, es zu erhalten, und<br />

daher zählt unsere Philosophie und nicht<br />

seine Sichtweise.<br />

D&A: Sie schrieben einmal: „Die Pioniere<br />

der modernistischen Bewegung sahen die<br />

Daseinsberechtigung eines Gebäudes nicht<br />

in seiner Geschichte, sondern in seinem Nutzen.“<br />

Impliziert dies die Aufforderung an<br />

heutige Investoren und Architekten, nach<br />

passenden Möglichkeiten zur Wiederverwendung<br />

solcher Gebäude zu suchen?<br />

WdJ: Das stimmt, die Pioniere der Moderne<br />

hegten diese Ideen, die aber auch Teil ihrer<br />

Polemik waren. Sie propagierten eine völlig<br />

neue <strong>Architektur</strong>philosophie, daher formulierten<br />

sie ihre Ansichten vermutlich radikaler,<br />

als sie wirklich waren. Andererseits ist es auch<br />

richtig, dass für sie die Schönheit eines Gebäudes<br />

in dessen Funktionalität wurzelte. Deshalb<br />

sind wir stets bemüht, die neuen Nutzungen<br />

der ursprünglichen Zweckbestimmung des<br />

Gebäudes anzupassen. Das ist schon interessant,<br />

denn der Slogan in den Zwanzigern und<br />

Dreißigern lautete ‚form follows function‘. Auf<br />

der Grundlage einer festgelegten Nutzung<br />

entwarfen die Architekten ein Gebäude. Wir<br />

gehen genau den umgekehrten Weg: Um das<br />

Erscheinungsbild des Gebäudes zu bewahren,<br />

müssen wir eine seinem Charakter entsprechende<br />

Verwendung finden – mit anderen<br />

Worten: ‚function follows form‘.<br />

Beim Kauf eines klassisch-modernen Gebäudes<br />

hat der neue Eigentümer häufig keine<br />

exakte Vorstellung <strong>von</strong> dessen neuen Nutzungsmöglichkeiten.<br />

Dann ist es unsere Aufgabe,<br />

das Gebäude zu analysieren. Derzeit<br />

arbeiten wir an Projekten, für die wir ein<br />

entsprechendes Nutzungsprogramm aus<br />

vier oder fünf verschiedenen Optionen auswählen.<br />

Orientiert man sich dabei stark am<br />

ursprünglichen Zweck des Gebäudes, so kann<br />

ein großer Teil der bestehenden Bausubstanz<br />

erhalten bleiben, was im Sinn des Denkmalschutzes<br />

äußerst wünschenswert ist. Aber<br />

es ist meistens auch kostengünstiger, das<br />

vorhandene Potenzial des Gebäudes auszuschöpfen<br />

und nicht zu missachten.<br />

D&A: Mit Ihrem Büro sind Sie mittlerweile in<br />

die Van-Nelle-Fabrik umgezogen. Wie würden<br />

Sie die Atmosphäre dort beschreiben –<br />

als absoluter Kenner dieses Gebäudes? Kann<br />

man die alte Fabrik nach wie vor spüren?<br />

WdJ: Oh ja, jeder spürt sie, und das schon<br />

beim ersten Besuch. Sobald man das Büro<br />

betritt, öffnet sich der Blick nach draußen,<br />

es stellt sich ein gewisses Wettergefühl ein,<br />

man sieht das Wolkenspiel am Himmel. Dieses<br />

Gebäude stimmt mich optimistisch, weil<br />

es so erhebend ist. Es schafft gute Laune<br />

und öffnet die Sinne, es ist inspirierend und<br />

dynamisch und bietet ein perfektes Arbeitsumfeld.<br />

Die meisten Leute, die hier arbeiten,<br />

teilen diese Meinung – und wenn nicht, sind<br />

sie hier fehl am Platze! Wie ich schon sagte:<br />

‚function follows form‘, man muss sich die-<br />

Das Sanatorium Zonnestraal <strong>von</strong><br />

Jan Duiker war eigentlich nur für<br />

eine Lebensdauer <strong>von</strong> 30 Jahren<br />

konzipiert worden. Umso<br />

schwieriger gestaltete sich<br />

seine Sanierung Anfang des 21.<br />

Jahrhunderts. Unter anderem<br />

wurde dabei gezogenes Fensterglas<br />

verwendet, das die gleichen<br />

leichten Unebenheiten aufweist<br />

wie das Original.<br />

sem Gebäude anpassen, auch wenn das<br />

gewisse Nachteile mit sich bringen mag. So<br />

ist zum Beispiel die Akustik ein Problem, und<br />

manchmal blendet das Licht bei der Arbeit<br />

am Computer.<br />

Dies aber machen die positiven Effekte dieses<br />

weitläufigen Gebäudes allemal wett: die<br />

Atmosphäre, die wunderschönen Räume,<br />

die hohen Decken, das Tageslicht … In Zonnestraal<br />

ist es ähnlich. Die Menschen dort<br />

sind begeistert, sie spüren die Einzigartigkeit<br />

dieses Ortes. Die Wechselwirkung zwischen<br />

<strong>Architektur</strong> und Natur in Zonnestraal<br />

ist einfach verblüffend!<br />

Wessel de Jonge (1957) erhielt 1985 sein <strong>Architektur</strong>diplom<br />

an der Technischen Universität<br />

Delft in Holland. Als Mitbegründer der internationalen<br />

Vereinigung DOCOMOMO war er <strong>von</strong> 1990<br />

bis 2002 internationaler Organisationsleiter und<br />

Herausgeber des DOCOMOMO International Journal.<br />

Als Architekt zeichnete er unter anderem für<br />

die Restauration des <strong>von</strong> Gerrit Rietveld im Jahr<br />

1953 entworfenen Biennale-Pavillons in Venedig,<br />

den Umbau des Sanatoriums ‚Zonnestraal’ im niederländischen<br />

Hilversum (in Zusammenarbeit mit<br />

Henket Architects) und die Sanierung der Van-Nelle-Fabrik<br />

in Rotterdam verantwortlich.<br />

71


<strong>VELUX</strong> PANORAMA <strong>Architektur</strong> mit <strong>VELUX</strong><br />

aus aller Welt.<br />

Rechts Ein Raum wie aus einem<br />

Guss: Wände und Decken in dem<br />

fast sieben Meter hohen<br />

Dachgeschoss sind ganz in Weiß<br />

gehalten. Zwei Reihen Dachwohnfenster<br />

bringen Licht in den<br />

außerordentlich tiefen Raum.<br />

FENSTER ZUM GARTEN<br />

Das Städtchen Le Landeron liegt am<br />

südlichen Fuß des Schweizer Jura,<br />

zwischen Bieler und Neuenburger<br />

See. Im dortigen Schwemmland des<br />

Flusses Zihl gründeten die Grafen<br />

<strong>von</strong> Neuenburg Mitte des 14. Jahrhunderts<br />

eine befestigte Ortschaft,<br />

der schon bald darauf die Stadtrechte<br />

verliehen wurden. Bis heute<br />

hat die Altstadt ihre mittelalterliche<br />

Struktur bewahrt: Eine außergewöhnlich<br />

breite, baumbestandene<br />

Hauptgasse durchzieht den Ortskern<br />

<strong>von</strong> Süd nach Nord. Flankiert wird sie<br />

<strong>von</strong> schmalen, tiefen Wohnhäusern<br />

mit verputzten Fassaden und teils<br />

weiten Dachüberständen.<br />

Das Haus Nummer 27 steht an der<br />

Ostseite der Gasse. Seine Straßenfassade<br />

ist wie die aller Häuser im Ortskern<br />

denkmalgeschützt. Lediglich ihr<br />

frischer weißer Anstrich deutet darauf<br />

hin, dass das Haus in jüngster Zeit<br />

Veränderungen erfahren hat. Ganz anders<br />

die Fassade im Osten, wo die Altstadt<br />

abrupt endet und in weitläufige<br />

Gärten und Streuobstwiesen übergeht:<br />

Hier öffnet sich das Gebäude<br />

mit einem breiten Panoramafenster<br />

zur Landschaft und bildet damit den<br />

größtmöglichen denkbaren Kontrast<br />

zu den umliegenden Altbauten.<br />

Der Umbau durch die Architekten<br />

frundgallina umfasste lediglich<br />

das zweite Obergeschoss und den<br />

Dachboden des Hauses, aber nicht<br />

die Wohnungen in den unteren Geschossen.<br />

Eine Bestandsaufnahme<br />

ergab, dass der Dachstuhl ersetzt<br />

werden musste; die Holzbalkendecke<br />

zwischen oberstem Wohngeschoss<br />

und Dachboden blieb dagegen erhalten.<br />

Die Architekten schufen zwei<br />

Raumfolgen, wie sie unterschiedlicher<br />

kaum sein könnten: Im zweiten Ober-<br />

geschoss entstand ein eher kleinteiliger<br />

Grundriss mit drei Schlafzimmern<br />

und Bad, im Dachboden dagegen ein<br />

offener Raum zum Wohnen, Kochen<br />

und Essen, der bis hinauf unter den<br />

First reicht und durch eine offene Galerie<br />

ergänzt wird. Doch es gibt auch<br />

Gemeinsamkeiten: Beide Etagen erhielten<br />

einen dunklen Dielenboden<br />

und weiß gespachtelte Wände, die<br />

das Tageslicht tief in die Innenräume<br />

reflektieren. Und in beiden Fällen wurden<br />

die Grundrisse vom rechten Winkel<br />

der Außenwände losgelöst. Der<br />

Korridor im zweiten Obergeschoss<br />

verläuft diagonal durchs Haus. Sind<br />

die Zimmertüren geschlossen, ergibt<br />

sich ein klar definierter Weg-Raum,<br />

der geradewegs Richtung Treppe<br />

ins Dachgeschoss führt. Öffnet man<br />

dagegen die raumhohen Türen, verschwimmen<br />

die Raumgrenzen, und es<br />

entstehen Durchblicke <strong>von</strong> Fassade<br />

zu Fassade. Da die leichten Trennwände<br />

und Einbauschränke die gleichen<br />

weißen Oberflächen erhielten<br />

wie die tragenden Außenwände, ergibt<br />

sich eine homogene, vielfach gewinkelte<br />

Raumhülle, die Bewegungen<br />

und Blicke gleichermaßen lenkt.<br />

Ein ähnliches Bild ergibt sich<br />

im Dachgeschoss: Treppe, WC und<br />

Stauraum wurden entlang der Längswände<br />

zu den Nachbarhäusern untergebracht.<br />

Die Möbelfronten und<br />

Trennwände verengen den Raum zur<br />

Mitte hin, wo ein Küchenblock den<br />

Dreh- und Angelpunkt der Etage bildet.<br />

Lediglich seine unterschiedliche<br />

Befensterung gibt dem Raum eine<br />

Richtung: Während sich im Westen<br />

nur ein schmales Fenster zur Straße<br />

hin öffnet – die einstige Ladeluke des<br />

Dachbodens, die mit einer Glasscheibe<br />

verschlossen wurde –, genießen die<br />

72 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

Hausbewohner <strong>von</strong> ihrem Essplatz im<br />

Osten aus freien Blick durch das Panoramafenster.<br />

Maßgeblich zur Belichtung<br />

des fast sieben Meter tiefen<br />

Raums tragen zwei Dreierreihen <strong>von</strong><br />

Dachwohnfenstern bei: In der Ostfassade<br />

sind sie hoch unter dem First angebracht<br />

und versorgen vor allem die<br />

Galerie mit Tageslicht; im Westen liegen<br />

sie dagegen sehr viel tiefer, direkt<br />

über dem ansonsten nur spärlich befensterten<br />

Wohnbereich.<br />

Als „feinfühlig, aber engagiert“<br />

bezeichnen die Architekten ihren<br />

Eingriff in das Jahrhunderte alte<br />

Stadthaus. Der Umbau setzt zugleich<br />

ein deutliches Zeichen des architektonischen<br />

Aufbruchs in einem Ort,<br />

der sich als ‚Stadt der Antiquitäten‘<br />

einen Namen gemacht hat und jedes<br />

Jahr den größten Trödelmarkt der<br />

Schweiz beherbergt. Bei ihrer ‚Entrümpelung‘<br />

des Altbaus kam frundgallina<br />

sicher die Tatsache entgegen,<br />

dass sie auf keinerlei tragende Innenwände<br />

Rücksicht nehmen mussten.<br />

Sie haben die Freiheiten, die sich<br />

ihnen boten, genutzt und dem altehrwürdigen<br />

Bauwerk ein avantgardistisches<br />

Innenleben mit unbestrittenen<br />

Qualitäten einverleibt. Dass dabei, gerade<br />

auf der Gartenseite, ein Teil der<br />

(Gebäude-)Hüllen fallen musste, illustriert,<br />

wie sich die Ansprüche an<br />

Raum und Licht im Laufe der Jahrhunderte<br />

verändert haben. Es zeigt aber<br />

auch die Grenzen bei der Erfüllung dieser<br />

Ansprüche: Ein Panoramafenster<br />

wie bei Haus 27 wird inmitten seines<br />

historischen Umfelds noch als wohltuend<br />

moderner Akzent wahrgenommen.<br />

Besitzen jedoch erst einmal auch<br />

JANTSCHER<br />

die Nachbarn einen solchen Grad der<br />

Öffnung, hat man es bereits mit einem<br />

THOMAS<br />

völlig neuen Ortsbild zu tun. FOTO:


Von der Gartenseite aus wirkt<br />

Haus Nr. 27 wie ein Neubau. Doch<br />

lediglich die beiden obersten<br />

Geschosse wurden umgebaut; die<br />

unteren blieben unangetastet,<br />

und auch die Straßenfassade<br />

wurde kaum verändert.<br />

FOTO: THOMAS JANTSCHER


76<br />

D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />

FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />

Die Galerie unter dem<br />

First ist ein Raum zum<br />

ungestörten Arbeiten.<br />

Doch auch <strong>von</strong> hier<br />

aus hat man Ausblicke<br />

in den Garten – und in<br />

den Himmel über Le<br />

Landeron.<br />

Im Osten geht das<br />

Stadtzentrum<br />

relativ abrupt in eine<br />

Landschaft aus<br />

Obstgärten über.<br />

Das geschosshohe<br />

und gebäudebreite<br />

Panoramafenster<br />

holt die Natur ins<br />

Haus.


1<br />

2<br />

FOTO: THOMAS JANTSCHER<br />

3<br />

FOTO: FRUNDGALLINA<br />

Fakten<br />

Gebäudetyp Umbau eines Wohnhauses<br />

Bauherr privat<br />

Architekten frundgallina SA, Neuchâtel, CH<br />

Standort Ville 27, Le Landeron, CH<br />

4<br />

5<br />

6<br />

1. Lageplan<br />

2. Die Stau- und Nebenräume sowie die<br />

Treppe ins 2. Obergeschoss wurden<br />

entlang der Trennwände zu den Nachbarhäusern<br />

untergebracht. So konnte die<br />

Weite des Wohnraums erhalten bleiben.<br />

3. Die Straßenfassade (hier vor dem Umbau)<br />

wurde lediglich neu gestrichen und die<br />

„Ladeluke“ des einstigen Dachbodens<br />

(ganz oben) durch ein Fenster ersetzt.<br />

4. Grundriss Dachgeschoss<br />

5. Grundriss 2. Obergeschoss<br />

6. Grundriss Galeriegeschoss<br />

77


BÜCHER<br />

REZENSIONEN<br />

Zum Weiterlesen:<br />

Aktuelle Bücher,<br />

vorgestellt <strong>von</strong> D&A.<br />

DAS SCHRÄGE DACH<br />

Herausgeber: Barbara Burren,<br />

Martin Tschanz, Christa Vogt<br />

Niggli Verlag<br />

ISBN 978-3-7212-0663-0<br />

Digitale Medien, Globalisierung, Ökologie<br />

und neue Materialien – dieses<br />

Themenquartett hat (nebst der damit<br />

verbundenen Theoriegebäude) die <strong>Architektur</strong>publikationen<br />

der letzten<br />

Jahre beherrscht. Doch inzwischen<br />

ist eine Gegentendenz erkennbar:<br />

Verlagshäuser und Autoren (vor allem<br />

diejenigen, die an Universitäten lehren)<br />

besinnen sich wieder stärker<br />

auf die Vermittlung <strong>von</strong> Grundlagenwissen.<br />

Die Studierenden unserer<br />

Tage, so ihre Erkenntnis, benötigen<br />

wieder konkrete Handreichungen<br />

beim Entwerfen und der Baukonstruktion.<br />

Immer mehr Handbücher<br />

zu Darstellungstechniken, Entwurfsstrategien<br />

und alltäglichen konstruktiven<br />

Fragen füllen daher die Regale<br />

der Bücherläden.<br />

Auch das neue Buch der Zürcher<br />

Hochschule für Angewandte Wissenschaften<br />

(ZHAW) Winterthur gehört<br />

in die Kategorie ‚Grundlagenwissen’,<br />

obgleich es eigentlich weder Konstruktions-<br />

noch Entwurfshandbuch ist.<br />

Vielmehr wird hierin eines der vielseitigsten<br />

Bauelemente in der <strong>Architektur</strong><br />

– das geneigte Dach – auf seine<br />

geschichtliche Herkunft und gestalterischen<br />

Möglichkeiten hin untersucht.<br />

Noch vor 15 Jahren wäre die Wahl<br />

eines solchen Themas als politisches<br />

Statement verstanden worden: Geneigte<br />

Dächer galten als konservativ<br />

bis rückwärtsgewandt; und nur wer<br />

sich des Flachdachs, jenes Symbolelements<br />

der Moderne, bemächtigte,<br />

galt als fortschrittlicher Architekt.<br />

Heute sind diese ideologischen<br />

Gräben zugeschüttet. Die Avantgarde<br />

hat sich des geneigten Dachs<br />

bemächtigt und es aus seiner Nostalgie-Nische<br />

befreit. An Bauten wie<br />

dem Fährterminal in Yokohama <strong>von</strong><br />

Foreign Office Architects oder der<br />

Casa da Música in Porto treten flache<br />

und geneigte Dachflächen in ein<br />

unvorbelastetes, neues Wechselspiel<br />

miteinander. Selbst in der Wohnarchitektur<br />

ist viel in Bewegung geraten.<br />

Das Buch der Hochschule Winterthur<br />

stellt folgerichtig historische<br />

und hochaktuelle Beispiele einander<br />

gegenüber, sortiert nach Entwurfsthemen<br />

und nicht nach Jahreszahlen.<br />

Einen didaktischen Ansatz oder<br />

gar den Wunsch nach Vollständigkeit<br />

hätten sie nicht verfolgt, schreiben<br />

die Herausgeber im Vorwort. Eher<br />

bewegt sich ihr Buch in der Tradition<br />

<strong>von</strong> Corbusiers ‚Vers une <strong>Architecture</strong>‘<br />

und Rudofskys ‚<strong>Architecture</strong> Without<br />

Architects‘: Subjektive, collagenhafte<br />

Bildtafeln werden <strong>von</strong> kurzen Texten<br />

begleitet, die auf Querbeziehungen<br />

zwischen den jeweiligen Gebäuden<br />

hinweisen. Gegliedert ist das Buch in<br />

Kapitel wie ‚Dach und Kontext‘, ‚Dach<br />

als Zeichen‘ oder ‚Dach und Licht‘,<br />

deren jedes mit Bildern beginnt und<br />

mit einem kurzen Essay endet. Letztere<br />

unterstreichen in ihrer Vielfalt<br />

den Facettenreichtum des Themas:<br />

Die Autoren untersuchen den ‚Dächerkrieg‘<br />

der Moderne zwischen<br />

den Verfechtern des Flachdachs und<br />

des geneigten Dachs, die Tradition der<br />

‚Zelträume‘ in historischen Palästen<br />

und Wohnhäusern, den Symbolwert<br />

offener Holzdachstühle und die Dachkonstruktionen<br />

des schwedischen Architekten<br />

Klas Anshelm. Lehrreich<br />

ist das meiste hier<strong>von</strong>, wenngleich<br />

gelegentlich etwas weit <strong>von</strong> der<br />

Alltagspraxis entfernt. Mit seinen<br />

zahlreichen Illustrationen hält ‚Das<br />

geneigte Dach’ dennoch einen reichen<br />

Fundus an Inspirationen für die Entwurfsarbeit<br />

bereit – weit mehr übrigens,<br />

als dies bei den derzeit gängigen,<br />

preisgünstigen und großformatigen,<br />

aber oft wenig fokussierten ‚<strong>Architektur</strong>bilderbüchern‘<br />

der Fall ist.<br />

OVER<br />

Herausgeber: Alex MacLean<br />

Schirmer/Mosel, München<br />

ISBN 978-3-8296-0383-6<br />

Seit Jahrhunderten schon prägt der<br />

Mensch die Welt nach seinem Willen.<br />

Nichts scheint dabei unmöglich<br />

zu sein: Da werden ganze Städte wie<br />

riesige Oasen mit manikürten Golfplätzen<br />

und palmengeschmückten<br />

Vorortsiedlungen in die Wüste gebaut,<br />

künstlich mit Wasser am Leben<br />

gehalten, das dort eigentlich Mangelware<br />

ist. Riesige Ferien-Hochburgen<br />

erheben sich an erosions- und orkangefährdeten<br />

Meeresufern, um den<br />

luxushungrigen Urlaubern ein kleines<br />

Paradies zu schaffen. Retortensiedlungen<br />

werden aus dem Boden<br />

gestampft, die <strong>von</strong> Sackgassen und<br />

immer gleich aussehenden Hausplus-Garten-Monokulturen<br />

geprägt<br />

78 D&A FRÜHJAHR 2009 AUSGABE 11<br />

sind, die Anonymität fördern und das<br />

Auto zu einem (über-)lebenswichtigen<br />

Gebrauchsgegenstand machen. Gewaltige<br />

Kohle- und Kernkraftwerke<br />

produzieren Unmengen an Elektrizität,<br />

die beinahe schneller verbraucht<br />

als erzeugt werden. Grundstücksspekulanten<br />

pflügen ganze Wegenetze<br />

in die Landschaft, die dort wie warnende<br />

Narben in der Erde prangen.<br />

Indem er diese Szenerien mit der<br />

Kamera aufzeichnet, hält der Fotograf<br />

und Pilot Alex MacLean der<br />

Menschheit den Spiegel vor. Für sein<br />

Buch ‚Over‘ ist er kreuz und quer über<br />

die USA geflogen, hat Vorstadtsiedlungen<br />

und Industrieanlagen,<br />

Kraft- und Klärwerke, aber auch gigantische<br />

Windparks und Solarfarmen<br />

fotografiert. Die Bilder öffnen<br />

uns, gerade weil sie mit einigem Abstand<br />

aus ungewöhnlichem Blickwinkel<br />

aufgenommen wurden, aufs<br />

Neue den Blick auf unseren Lebenswandel<br />

– auf Hoffnung und Hybris,<br />

Bequemlichkeit und Gier, Machbarkeitswahn<br />

und die Vergänglichkeit<br />

unseres Daseins. Und sie lassen die<br />

Klimaveränderungen und exzessiven<br />

Waldrodungen, die Zersiedlung der<br />

Landschaft und vieles mehr, das wir<br />

zwar als beklagenswert, aber im Alltag<br />

doch als merkwürdig fern empfinden,<br />

auf einmal sehr nah erscheinen.<br />

MacLeans Aufnahmen dokumentieren<br />

dabei nicht nur den Ehrgeiz und<br />

die Maßlosigkeit Amerikas, sondern<br />

sind ein Fingerzeig auch für andere<br />

Kontinente, findet doch das amerikanische<br />

Vorbild bereits begeisterte<br />

Nachahmung in Asien.<br />

Doch nicht nur MacLeans Fotografien,<br />

auch seine ausführlichen<br />

Bildkommentare und kurzen Essays<br />

zu Themen wie der Abhängigkeit vom<br />

Auto, den bedrohten Wüsten oder der<br />

Verschwendung <strong>von</strong> Wasser regen


zum Nachdenken an. Sie machen das<br />

Buch zu einem „überaus wertvollen<br />

Dokument, weil sie präzise jene Kräfte<br />

benennen, die im Begriff sind, unseren<br />

Planeten zu zerstören“, wie der Wissenschaftsjournalist<br />

Bill McKibben<br />

in der Einleitung schreibt. Man sollte<br />

sich daher davor hüten, ‚Over‘ lediglich<br />

als Dokument des American Way of<br />

Life zu lesen. Alex MacLean zeigt uns<br />

in seinem Buch, scheinbar unschuldig,<br />

seine Heimat – doch im Grunde meint<br />

er uns alle damit, weltweit.<br />

LIVING IN<br />

DAYLIGHT<br />

Autorin: Maria-Therese Hoppe<br />

Gyldendal<br />

ISBN 978-87-02-07610-3<br />

Es gibt Erfindungen, die die Welt<br />

verändern. Diese hier hat zumindest<br />

die Dächer Europas verändert: 1941<br />

entwickelte der dänische Ingenieur<br />

Villum Kann Rasmussen für einen<br />

befreundeten Architekten das erste<br />

Dachfenster [roof window], das es in<br />

punkto Wind- und Regendichtheit mit<br />

Fassadenfenstern aufnehmen konnte.<br />

Um es zu vermarkten, gründete er eine<br />

Firma und benannte sie nach den<br />

wichtigsten Qualitäten, die seine Erfindung<br />

ins Haus bringen sollte: VE für<br />

‚ventilation’ (frische Luft) und LUX für<br />

Licht. In der Wiederaufbauzeit nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg wurden VE-<br />

LUX-Dachwohnfenster [<strong>VELUX</strong> roof<br />

windows] zu einer festen Größe in den<br />

Stadtbildern Europas – in den Zentren<br />

ebenso wie in den Neubaugebieten.<br />

Rasmussen hatte schon früh erkannt,<br />

wie er seine Fenster zu vermarkten<br />

hatte: Gezielt sprach er den Wunsch<br />

der Eigenheimbesitzer nach mehr<br />

Wohnraum und Licht an, statt sein<br />

eigenes Produkt in den Vordergrund<br />

zu stellen. Zum 100. Geburtstag des<br />

Firmengründers hat <strong>VELUX</strong> nun gemeinsam<br />

mit der dänischen Ethnologin<br />

und Autorin Maria-Therese Hoppe<br />

ein Buch ganz im Geiste dieser Philosophie<br />

publiziert. ‚Living in <strong>Daylight</strong>’<br />

stellt mehr als 50 Referenzprojekte<br />

mit <strong>VELUX</strong>-Dachwohnfenstern dar –<br />

doch nicht, indem es die technischen<br />

oder gestalterischen Aspekte der jeweiligen<br />

Gebäude in den Vordergrund<br />

stellt. Wichtig waren den Herausgebern<br />

und der Autorin die Geschichten,<br />

die die Bewohner zu erzählen hatten.<br />

Viele dieser Charaktere sind ebenso<br />

einzigartig wie ihre Wohnungen: die<br />

Aquarellkünstlerin in ihrem Atelier<br />

über den Dächern <strong>von</strong> Paris, die deutsche<br />

Ärztin, die in die norwegische<br />

Wildnis ausgewandert ist, oder der<br />

junge estnische Außenminister, der<br />

sich im Buch als Familienmensch und<br />

Naturliebhaber offenbart.<br />

‚Living in <strong>Daylight</strong>’ dokumentiert<br />

jedoch auch, dass Dachwohnfenster<br />

inzwischen zu einem Stück Kulturgeschichte<br />

geworden sind. Es gibt kaum<br />

einen Ort, an dem sie nicht anzutreffen<br />

wären – das gilt für das Palais de<br />

Justice mitten in Paris ebenso wie für<br />

das portugiesische Parlamentsgebäude<br />

oder die Hippie-Stadt Christiania<br />

in Kopenhagen. Dachwohnfenster<br />

findet man in türkischen Neubausiedlungen,<br />

an sanierten Stadthäusern in<br />

Bukarest und umgebauten Scheunen<br />

in der britischen ‚countryside’. Maria-Therese<br />

Hoppe hat all diese Orte<br />

bereist und aufgezeichnet, wie die<br />

Menschen in ihren Räumen leben und<br />

arbeiten, was ihnen Tageslicht und<br />

Aussicht durch die Dachwohnfenster<br />

bedeuten. Die durchweg erstklassigen<br />

Fotos zeigen die Gebäude und<br />

ihre Bewohner auf einfühlsame Art<br />

und Weise, oft aus ungewohnter Per-<br />

spektive, aber ohne jene Tendenz zur<br />

Überinszenierung, wie man sie gelegentlich<br />

in <strong>Architektur</strong>publikationen<br />

antrifft. Abgerundet wird das Buch<br />

durch einen kurzen historischen Abriss<br />

nicht nur über <strong>VELUX</strong> und die<br />

Geschichte des Dachwohnfensters,<br />

sondern auch darüber, wie dieses im<br />

Laufe der Zeit unsere Wohnvorstellungen<br />

verändert hat.<br />

BEACHLIFE<br />

Herausgeber: Frame Publishers<br />

Die Gestalten Verlag<br />

ISBN 978-3-89955-302-4<br />

Die Strände und Küsten der Welt<br />

haben seit jeher Kreativität und<br />

Basteltrieb des Menschen herausgefordert<br />

– das kann jeder bezeugen,<br />

der einmal eine Sandburg<br />

gebaut hat. Doch gerade an den<br />

Küsten der Flüsse und Weltmeere<br />

kollidieren auch widersprüchliche<br />

Interessen: Erholung versus Verkehrserschließung,<br />

Klima- und Gewässerschutz<br />

versus Renditestreben.<br />

Das Buch ‚Beachlife‘ zeigt mehr als<br />

115 Bauten und Projekte, Kunstwerke<br />

und Designobjekte, die in den<br />

vergangenen fünf Jahren für Standorte<br />

im oder am Wasser entworfen<br />

wurden. Diese schier überbordende,<br />

auf 280 Seiten komprimierte Projektvielfalt<br />

belegt die mannigfaltigen<br />

Ansprüche an das ‚Beachlife‘<br />

<strong>von</strong> heute: Schwimmende Megaprojekte<br />

vor den Küsten Dubais und<br />

Abu Dhabis stehen neben Kleinst-<br />

<strong>Architektur</strong>en wie Nils Holger Moormanns<br />

‚Walden‘, Land Art in der<br />

Tradition <strong>von</strong> Dani Karavan neben<br />

künstlerischen Interventionen, die<br />

Klimawandel und Flüchtlingsproblematik<br />

thematisieren. Gegliedert<br />

haben die Herausgeber ihr Buch<br />

in fünf Kapitel: Leisure, Hospitality,<br />

Art, Residential und Products.<br />

Doch das ist lediglich eine Art Minimalkonsens,<br />

und man fragt sich, ob<br />

nicht eine Sortierung nach Gebäudegrößen<br />

und -typologien in diesem<br />

Fall sinnvoller gewesen wäre. So<br />

wirkt die Abfolge bisweilen etwas<br />

beliebig, und es bleibt nur, sich im<br />

Buch <strong>von</strong> Projekt zu Projekt vorwärts<br />

zu hangeln. Das fällt – trotz<br />

gelegentlich schwankender Entwurfsqualität<br />

– nicht allzu schwer,<br />

denn das Buch ist ansprechend gestaltet,<br />

die Texte prägnant und mit<br />

Witz geschrieben.<br />

Zwei Erkenntnisse lassen sich abschließend<br />

aus dem Buch ziehen.<br />

Erstens: Nur die wenigsten Gestalter<br />

bedienten sich tatsächlich des<br />

Elements Wasser für ihre Arbeiten.<br />

Die allermeisten begnügten sich mit<br />

einem mehr oder minder freien ‚Blick<br />

aufs Meer‘. Und, zweitens: Am besten<br />

scheint es noch den bildenden<br />

Künstlern zu gelingen, der Ambivalenz<br />

heutiger Strände Ausdruck<br />

zu verleihen. Fern <strong>von</strong> Repräsentationsbedürfnis<br />

und Funktionalitätszwängen<br />

konnten sie sich mit<br />

Themen wie der Wegwerfgesellschaft,<br />

der Erderwärmung oder<br />

dem globalen Terrorismus befassen.<br />

Eine Installation wie Gregor<br />

Schneiders ‚21 Beach Cells‘, bei der<br />

der deutsche Künstler 21 guantanamo-artige<br />

Maschendrahtzellen auf<br />

dem Bondi Beach in Sydney errichtete,<br />

illustriert die Kehrseiten des<br />

weltumspannenden Beach-Tourismus<br />

und seines Sicherheitsbedürfnisses.<br />

Und sie macht deutlich, dass<br />

es auch ein ‚Beachlife‘ jenseits des<br />

hier gezeigten gibt – auch wenn dieses<br />

bislang kein Thema für Architekten<br />

und Designer gewesen ist.<br />

79


DAYLIGHT & ARCHITECTURE<br />

ARCHITEKTURMAGAZIN<br />

VON <strong>VELUX</strong><br />

Frühjahr 2009 AUSGABE 11<br />

Herausgeber<br />

Michael K. Rasmussen<br />

<strong>VELUX</strong>-Redaktionsteam<br />

Per Arnold Andersen<br />

Christine Bjørnager<br />

Lone Feifer<br />

Lotte Kragelund<br />

Torben Thyregod<br />

Redakteure<br />

Gesellschaft für Knowhow-<br />

Transfer<br />

Jakob Schoof<br />

Britta Rohlfing<br />

Übersetzungen<br />

Sprachendienst Dr. Herrlinger<br />

Michael Robinson<br />

Dr. Jeremy Gaines<br />

Korrektorat<br />

Tony Wedgwood<br />

Bildredaktion<br />

Torben Eskerod<br />

Adam Mørk<br />

Art Direction & Layout<br />

Stockholm Design Lab ®<br />

Per Carlsson<br />

Nina Granath<br />

Björn Kusoffsky<br />

www.stockholmdesignlab.se<br />

Fotos Cover<br />

Michael Reisch<br />

www.michaelreisch.com<br />

Landschaft 0/010, 2004<br />

124x187 cm, courtesy Gallery<br />

Rolf Hengesbach, Köln,<br />

Deutschland<br />

www.rolf-hengesbach.com<br />

Foto Umschlaginnenseite<br />

Josef Hoflehner<br />

Li River Study 8 – China<br />

www.josefhoflehner.com<br />

Foto Umschlaginnenseite hinten<br />

Josef Hoflehner<br />

Niagara Falls, Study 6 –<br />

Ontario, Canada<br />

Website<br />

www.velux.de/<strong>Architektur</strong><br />

E-mail<br />

da@velux.com<br />

Auflage<br />

40,000 Stück<br />

ISSN 1901-0982<br />

Dieses Werk und seine Beiträge sind<br />

urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Wiedergabe, auch auszugsweise,<br />

bedraf der Zustimmung der <strong>VELUX</strong><br />

Gruppe.<br />

Die Beiträge in <strong>Daylight</strong> & <strong>Architecture</strong><br />

geben die Meinung der Autoren wieder.<br />

Sie entsprechen nicht notwendigerweise<br />

den Ansichten <strong>von</strong> <strong>VELUX</strong>.<br />

© 2009 <strong>VELUX</strong> Group.<br />

® <strong>VELUX</strong> und das <strong>VELUX</strong> Logo sind<br />

eingetragene Warenzeichen mit Lizenz<br />

der <strong>VELUX</strong> Gruppe.

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