RA_01-16_Digital_test
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Für Studierende & Referendare<br />
<strong>RA</strong><br />
Rechtsprechungs-Auswertung<br />
<strong>Digital</strong><br />
<strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
JU<strong>RA</strong><br />
INTENSIV<br />
EDITORIAL<br />
Der Menschen Recht<br />
ZIVILRECHT<br />
Rücktritt von einem gemischten Kauf- und Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB 1<br />
Ersatzfähigkeit von Aufwendungen bei fiktiver Abrechnung von Unfallschäden 5<br />
Bruchteilsberechtigung an Kontoforderung bei neLG 9<br />
Sichtbehindernde Bebauung als nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers 13<br />
Speziell für Referendare:<br />
Örtliche Zuständigkeit bei Rückabwicklung 17<br />
Bereicherungsausgleich bei Insolvenzanfechtung 21<br />
NEBENGEBIETE<br />
Handelsrecht: Sekundäre Unrichtigkeit des Handelsregisters 25<br />
ÖFFENTLICHES RECHT<br />
Meinungsfreiheit nach der EMRK 29<br />
Anwendbarkeit der Grundrechte in einem Kommunalverfassungsstreit 32<br />
Speziell für Referendare:<br />
Polizeimaßnahmen gegen gewaltbereiten Fußballfan 37<br />
ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />
Hypothetische Einwilligung kein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund 45<br />
Strafbarkeit des „bekennenden Schwarzfahrens“ 50<br />
Speziell für Referendare:<br />
Verfahrenshindernis bei rechtsstaatswidriger Tatprovokation 53<br />
GESETZGEBUNG<br />
Baden-Württemberg: Aktualisierung zur Gemeindeordnung 2<strong>01</strong>5<br />
Herausgeberin: Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG, 24. Jahrgang 2<strong>01</strong>6, ISSN 2366-2883
Für die KLAUSUR:<br />
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<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Editorial<br />
EDITORIAL<br />
Der Menschen Recht<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
was der Mensch gewährt, kann der Mensch auch wieder nehmen. Stellen wir uns ein Volk vor, das<br />
in einem demokratischen Rechtsstaat residiert, jedoch eine geschriebene Verfassung ablehnt, weil<br />
es glaubt, dass ein Gesetzgeber, der den Menschen Grundrechte in einer Verfassung zuerkennen<br />
kann, ihnen diese Rechte genauso gut auch wieder entziehen könnte. Ist diese Vorstellung wirklich<br />
so verrückt, wie sie klingt? Die Engländer glauben beispielsweise, dass ihr Staat seit langem eine<br />
Verfassung besitzt, auch wenn diese niemals niedergeschrieben wurde. Vielmehr soll das Staatsvolk<br />
die aus verschiedenen konstitutiven Rechtsakten bestehenden Verfassungsgrundsätze „geerbt“<br />
haben. Ähnlich denkt man in Neuseeland.<br />
Aber wenn Grundrechte nicht von Menschen gewährt werden, von wem dann? Kann man sie aus der<br />
Natur ableiten? Das glauben die vielen Romantiker unter uns immer so lange, bis sie der Natur in ihrer<br />
nackten Brutalität Auge in Auge gegenüber stehen, wenn sie leibhaftig erfahren, was der Brite Herbert<br />
Spencer mit „survival of the fit<strong>test</strong>“ gemeint hat. Wer erinnert sich nicht an die Sommergeschichte um<br />
den Problembären Bruno aus dem Sommer 2006. Wochenlang wurden von Bruno gerissene Haustiere<br />
in Massenmedien präsentiert wie Gefallene beim „bodycount“ im Vietnamkrieg. Weil die Wanderer<br />
keinen „Bärenführerschein“ ablegen wollten, wurden finnische Jäger gerufen um Bruno zu fangen,<br />
vergeblich. Am Ende hallte der Schuss durch die Rotwand. Seitdem erinnert der ausgestopfte Bruno<br />
im Museum an den ewigen Zwist zwischen Natur und Kultur in dicht besiedelten Ländern.<br />
Stammen Grundrechte von Gott? Falls ja, gelten sie dann auch für die zahlreichen Atheisten, die<br />
nicht an Gott glauben?<br />
Einigen wir uns auf den Kompromiss, dass der Wunsch, Menschen unveräußerliche Rechte zuzuerkennen,<br />
dem edlen, hilfreichen und guten Kern unserer Spezies entstammt, ihrem göttlichen<br />
Wesen, nämlich der Begabung zur Vernunft. Auf diese besinnen sich die übrig gebliebenen<br />
Menschen stets nach lang anhaltenden Phasen exzessiver Barbarei, nach einer wirkmächtigen<br />
Begegnung mit dem teuflischen Antagonisten. Es kann kein Zufall sein, dass die Aufklärung dem<br />
dreißigjährigen Krieg folgte, dass das Bonner Grundgesetz eine Antwort auf die Barbarei des NS-<br />
Regimes ist. Nach beinahe 70 Jahren hat sich dieses Grundgesetz nicht nur etabliert, vielmehr<br />
scheint es bei einigen Mitmenschen an die Stelle ihrer verlorenen kindlichen Gottgläubigkeit<br />
getreten zu sein. Sogar für einige Spitzenpolitiker scheint es eine Art Religionsersatz geworden<br />
zu sein, den sie stolz wie eine Monstranz vor sich her tragen, obwohl sie mangels Ausbildung die<br />
Bedeutung der Rechtsnormen nur emotional interpretieren können. An irgendetwas muss der<br />
Mensch ja glauben. Ohne bei den Beratungen dabei gewesen zu sein: Dies hatte der Parlamentarische<br />
Rat bestimmt nicht im Sinn. Erstens darf das Grundgesetz nicht starr sein. Es lebt nur, wenn<br />
es immer wieder neu interpretiert werden darf. Genau dadurch stellt es einen Gegenentwurf zu<br />
den oft starren Regeln der Religionsgemeinschaften dar, gleich, ob sich diese säkularisiert haben,<br />
oder nicht. Zweitens muss jedem einleuchten, dass geschriebene Grundrechte nur einen Wert<br />
haben, wenn ihre Geltung von sowohl starken, als auch weltanschaulich neutralen Institutionen<br />
garantiert wird. Das gilt umso mehr, je individueller sich die unter dem Dach einer solchen Verfassung<br />
lebenden Menschen gerieren. Vielfalt bereichert genauso, wie sie anstrengt.<br />
Für rechtliche Vielfalt der besonderen Art sorgen seit Jahren die Urteile des Europäischen Gerichtshofs<br />
für Menschenrechte (EGMR). Wie der Hagelschlag im Sommer stören sie die deutsche Gemütlichkeit.
Editorial <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Sie wirbeln nicht nur rechtliche, sondern auch gesellschaftliche und sprachliche Verabredungen<br />
durcheinander wie die Windhose in der Gewitterzelle und hinterlassen Erstaunen und Verblüffung<br />
unter den Juristen. Wer in Deutschland Vergleiche mit dem Holocaust anstellt, muss um seine Karriere,<br />
mindestens aber um sein gesellschaftliches Ansehen fürchten. Es ist gesellschaftlicher Konsens,<br />
dass diese Verbrechen einzigartig und unvergleichlich sind. Der Vergleich mit ihnen gilt deshalb<br />
regelmäßig als Relativierung. Wer an Ärzte in Konzentrationslagern denkt, dem erscheinen Unmenschen<br />
wie Josef Mengele. Wer einen Arzt, der „rechtswidrige“, aber „nicht strafbare“ Abtreibungen<br />
vornimmt, in die Nähe von Ärzten in Konzentrationslagern rückt, läuft Gefahr, die dort verübten<br />
Verbrechen zu relativieren. Der mit Naziverbrechern gleichgesetzte oder auch nur verglichene Arzt<br />
bekam mit Unterlassungsklagen vor einem deutschen Gericht in der Vergangenheit immer Recht,<br />
Meinungsäußerungsfreiheit hin oder her. Wie der EGMR die Meinungsfreiheit auf der Grundlage<br />
nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beurteilt, erfahren Sie auf Seite 29<br />
in dieser Ausgabe der <strong>RA</strong>. Der EGMR erkennt zwar die „feine Linie“, welche die deutschen Gerichte bei<br />
der Auslegung des § 218a StGB ziehen, kommt aber dennoch zu ganz eigenen Schlüssen im Hinblick<br />
auf den Schutz der Meinungsfreiheit. In der teilweise im englischen Originaltext abgedruckten, sehr<br />
examensrelevanten Entscheidungsbesprechung erfahren Sie, welchen Rang die Entscheidungen<br />
des EGMR in unserer Rechtsordnung einnehmen. Zugleich erhalten Sie einen Hinweis, wie oft die<br />
Urteile des EGMR in letzter Zeit Thema von Examensklausuren waren. Die Urteile des EGMR betreffen<br />
übrigens auch deutsches Strafprozessrecht. Nicht nur für Referendare ist die Entscheidungsbesprechung<br />
auf Seite 53 deshalb Pflichtlektüre!<br />
Ab dieser Ausgabe erscheint die <strong>RA</strong> in ihrem neuen Layout. Die aus unseren Verlagsprodukten<br />
bekannte Farbgebung führt sie ab sofort auch optisch durch die Rechtsgebiete und soll Ihnen auf<br />
diese Weise eine zusätzliche Orientierungshilfe gewähren.<br />
Die Redaktion der <strong>RA</strong> wünscht Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein frohes neues Jahr 2<strong>01</strong>6.<br />
Rechtsanwalt Oliver Soltner<br />
Franchisenehmer von Jura Intensiv<br />
Frankfurt, Gießen, Heidelberg, Mainz, Mannheim, Marburg und Saarbrücken<br />
IMPRESSUM<br />
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Richterin am Amtsgericht Dr. Katharina Henzler (Zivilrecht)<br />
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Ines Susen<br />
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<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
1<br />
ZIVILRECHT<br />
Problem: Rücktritt von einem gemischten Kauf- und<br />
Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB<br />
Einordnung: Schuldrecht<br />
AG Eilenburg, Urteil vom 19.11.2<strong>01</strong>5<br />
11 C 790/14 (bisher unveröffentlicht)<br />
EINLEITUNG<br />
Von typengemischten Verträgen spricht man, wenn sich ein Gesamtvertrag<br />
aus Einzelleistungen zusammensetzt, die verschiedenen Vertragstypen zugeordnet<br />
werden können. Ferner sind bei ihnen diese Einzelleistungen derart<br />
eng miteinander verbunden, dass sie nur in ihrer Gesamtheit ein sinnvolles<br />
Ganzes ergeben. Dadurch unterscheiden sich typengemischte von zusammengesetzten<br />
Verträgen. Bei letzteren verlieren die einzelnen Bestandteile<br />
nicht ihren Sinn, wenn die aus Ihnen folgenden Pflichten getrennt erfüllt<br />
werden. Im Mittelpunkt der vorliegenden Entscheidung steht ein nachträglich<br />
geschlossener gemischter Kauf- und Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB.<br />
SACHVERHALT<br />
Der Kläger (K) betreibt eine Frischkäseproduktion. Am 24.06.2<strong>01</strong>4 kauft der K<br />
bei der Beklagten (B) eine gebrauchte Kolbenfüllmaschine vom Typ „Frey Oscar<br />
Kolbenfüller - 20 Liter“ zum Preis von insgesamt 2.963,10 €. Im schriftlichen<br />
Vertrag heißt es: „Verkauf wie vom Kunden zurück nur an Gewerbetreibende,<br />
Händler (...). Keine Gewährleistung oder Umtausch.“ Den Kaufpreis zahlt K im<br />
Anschluss an den Vertragsabschluss in bar. Anfang Juli 2<strong>01</strong>4 trifft die Maschine<br />
in seinem Betrieb ein. Bereits einen Tag später meldet sich K bei B und teilt ihr<br />
mit, die Maschine funktioniere nicht. Beim Einschalten käme es zu einem Kurzschluss.<br />
K lässt die Maschine bei der Firma T begutachten. Am Vormittag des<br />
10.07.2<strong>01</strong>4 erscheint B‘s Geschäftsführer (G) zusammen mit dem Angestellten<br />
F bei K. Gemeinsam untersuchen sie die Maschine. F ändert daraufhin etwas<br />
am Stromanschluss und führt einen kurzen Probelauf durch. Anschließend<br />
fahren G und F weiter zu einem anderen Kunden. Noch im Verlauf desselben<br />
Tages meldet sich K erneut bei G und erklärt ihm, die Maschine funktioniere<br />
immer noch nicht. Hierauf erscheint F am Nachmittag nochmals bei K. Zwischenzeitlich<br />
war die Maschine von Angestellten des K mit Frischkäse befüllt<br />
und in Betrieb genommen worden. Allerdings lief der Frischkäse unten aus der<br />
Maschine heraus. G erkennt die konkrete Ursache nicht, jedoch ist ihm klar,<br />
dass irgendetwas mit der Maschine nicht stimmt. Er zeigt K auf seinem Handy<br />
ein Bild von einem ebenfalls gebrauchten, aber größeren 30-Liter-Kolbenfüller.<br />
Diesen bietet er im Namen der B der K im Austausch und gegen Zahlung<br />
weiterer 800,00 € an. Damit ist K einverstanden und übergibt G sogleich den<br />
20-Liter-Kolbenfüller. G nimmt diesen zum Firmensitz der B in Eilenburg mit.<br />
Am Vormittag des folgenden Tages ruft K bei G an, um sich nach der Lieferung<br />
der neuen Maschine zu erkundigen. G erklärt ihm daraufhin, dass er diese nicht<br />
bekommen werde. Mit Schreiben vom 12.07.2<strong>01</strong>4 fordert K den G auf, ihm den<br />
30-Liter-Kolbenfüller bis zum 14.07.2<strong>01</strong>4 zu liefern. Denn jeder Tag, an dem die<br />
Maschine seinem Betrieb nicht zur Verfügung stehe, führe wei<strong>test</strong>gehend zu<br />
einem Stillstand seiner Frischkäseproduktion. Als B nicht liefert, erklärt K mit<br />
Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5 „den Rücktritt vom am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen<br />
LEITSÄTZE<br />
1. Nimmt der Verkäufer die dem<br />
Käufer verkaufte Sache zurück<br />
und vereinbaren beide zugleich,<br />
dass unter Anrechnung des bereits<br />
gezahlten Kaufpreises sowie<br />
gegen Zahlung eines zusätzlichen<br />
Aufpreises eine andere<br />
Sache geliefert wird, so wird<br />
damit ein neues Vertragsverhältnis<br />
in Gestalt eines gemischten Kaufund<br />
Tauschvertrag nach §§ 433;<br />
480 BGB begründet.<br />
2. Dieses lässt den Inhalt des ursprünglich<br />
geschlossenen Vertrages<br />
grundsätzlich unberührt,<br />
namentlich einen dort vereinbarten<br />
Gewährleistungsausschluss.<br />
3. Tritt eine der beiden Vertragsparteien<br />
von dem neuen (zweiten)<br />
Vertrag zurück, so beschränkt sich<br />
die dann nach § 346 BGB entstehende<br />
Rückgewährpflicht ausschließlich<br />
auf die im Rahmen<br />
dieses (zweiten) Vertrages ausgetauschten<br />
Leistungen, umfasst<br />
also nicht den ursprünglich gezahlten<br />
Kaufpreis.
2 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Kaufvertrag“ und verlangt Rückzahlung der 2.963,10 €. B führt an, dass man<br />
den 20-Liter-Kolbenfüller am 10.07.2<strong>01</strong>4 nur aus Kulanz mitgenommen habe,<br />
um ihn im eigenen Betrieb auf angebliche technische Mängel zu untersuchen.<br />
Dabei habe sich aber herausgestellt, dass die Ursache des Defekts eine Fehlbedienung<br />
der Maschine durch K bzw. seine Angestellten gewesen sein muss.<br />
Diese hätten nämlich bei der Inbetriebnahme der Maschine vergessen, den<br />
Kolbenschlüssel aus dem Zylinder herauszunehmen. Dadurch sei die Zylinderwand<br />
vollständig verbeult worden.<br />
Hat K gegen B einen Anspruch auf Rückzahlung der 2.963,10 €?<br />
PRÜFUNGSSCHEMA<br />
A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung von 2.963,10 € gem.<br />
§§ 346 I, 323 I BGB<br />
I. Rücktrittserklärung, § 349 BGB<br />
II. Rücktrittsrecht<br />
1. Gegenseitiger Vertrag<br />
2. Nichterfüllung der fälligen und durchsetzbaren Leistungspflicht<br />
3. Angemessene Leistungsfrist<br />
4. Erfolgloser Fristablauf<br />
III. Kein Ausschluss des Rücktritts<br />
IV. Zwischenergebnis<br />
V. Rechtsfolge<br />
B. Ergebnis<br />
LÖSUNG<br />
Rückzahlungsanspruch aus §§ 346 I,<br />
323 I BGB<br />
Erklärung des Rücktritts mit<br />
Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5<br />
Gesetzliches Rücktrittsrecht gem.<br />
§ 323 I BGB<br />
Gemischter Kauf- und Tauschvertrag<br />
vom 10.07.2<strong>01</strong>4 ist ein gegenseitiger<br />
Vertrag<br />
30-Liter-Maschine soll gegen die<br />
vorhandene 20-Liter-Maschine ausgetauscht<br />
werden<br />
A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung von 2.963,10 € gem. §§ 346 I, 323 I BGB<br />
K könnte gegen B einen Anspruch auf Rückzahlung von 2.963,10 € aus §§ 346 I,<br />
323 I BGB haben.<br />
I. Rücktrittserklärung, § 349 BGB<br />
Mit Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5 hat K gegenüber B ausdrücklich „den Rücktritt<br />
vom am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen Kaufvertrag“ erklärt. Eine Rücktrittserklärung<br />
gem. § 349 BGB liegt damit vor.<br />
II. Rücktrittsrecht<br />
Weiterhin müsste K ein Rücktrittsrecht zustehen. Insoweit kommt ein gesetzliches<br />
Rücktrittsrecht gem. § 323 I BGB in Betracht.<br />
1. Gegenseitiger Vertrag<br />
Dies setzt zunächst einen gegenseitigen Vertrag voraus. Ein solcher liegt vor,<br />
wenn wenigstens einzelne der beiderseitigen Leistungspflichten im Verhältnis<br />
von Leistung und Gegenleistung stehen. Hier könnte zwischen K und B am<br />
10.07.2<strong>01</strong>4 ein solcher in Form eines gemischten Kauf- und Tauschvertrages<br />
gemäß §§ 433, 480 BGB zustande gekommen sein. K und G haben sich an dem<br />
Tag darauf geeinigt, dass B den 20-Liter-Kolbenfüller aus dem Kaufvertrag<br />
vom 24.06.2<strong>01</strong>4 wieder zurücknimmt. Im Austausch hierfür soll B dem K unter<br />
Anrechnung der bereits gezahlten 2.963,10 € und Zuzahlung weiterer 800,00 €<br />
einen anderen, größeren 30-Liter-Kolbenfüller liefern. Die von G abgegebene<br />
Willenserklärung wirkt aufgrund seiner Stellung als Geschäftsführer gem.<br />
§ <strong>16</strong>4 I BGB i.V.m. § 35 I GmbHG für und gegen B.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
3<br />
„[25] Das Gericht hat nach mündlicher Verhandlung keinen Zweifel daran,<br />
dass darüber beiderseits Einvernehmen erzielt worden ist. Denn die Parteien<br />
haben dies, abweichend von den vorbereiteten Schriftsätzen, in der<br />
mündlichen Verhandlung am 31.07.2<strong>01</strong>5 im Ergebnis unstreitig gestellt.<br />
Der Geschäftsführer der Beklagten hat zum Vortrag des Klägers nämlich<br />
wörtlich erklärt: „Das mit der 30-Liter-Maschine im Austausch habe ich<br />
angeboten“.<br />
[26] Die wiederholten schriftsätzlichen Bemühungen des Prozessbevollmächtigten<br />
der Beklagten, dies sei alles nur „aus Kulanz, ohne Anerkennung<br />
einer Rechtspflicht und ohne Präjudiz etc.“ geschehen, sind lediglich Ausdruck<br />
anwaltlichen Bemühens, die tatsächlich getroffene Abrede aus<br />
prozesstaktischen Erwägungen nun nachträglich zu relativieren. Denn es<br />
ist zwischen den Beteiligten am 10.07.2<strong>01</strong>4 weder über Kulanz noch über<br />
irgendwelche Rechtspflichten der Beklagten gesprochen worden. Auch<br />
das hat der Geschäftsführer der Beklagten in der ersten mündlichen Verhandlung<br />
eingeräumt.<br />
[27] Er mag sich derartiges insgeheim vorbehalten haben. Aber gerade<br />
deshalb, weil er diese Vorbehalte nicht deutlich gegenüber dem Kläger<br />
zum Ausdruck gebracht hat, sind sie auch nicht Bestandteil der vertraglichen<br />
Vereinbarung geworden.“<br />
Mithin liegt ein gegenseitiger Vertrag in Gestalt eines gemischten Kauf- und<br />
Tauschvertrags gem. §§ 433, 480 BGB vor.<br />
2. Nichterbringung der fälligen und durchsetzbaren Leistung<br />
Des Weiteren müsste B eine mögliche, fällige und durchsetzbare Leistungspflicht<br />
aus dem Vertrag verletzt haben. Die vertragliche Hauptleistungspflicht<br />
der B bestand vorliegend gem. § 433 I 1 BGB in der Übereignung des 30-Liter-<br />
Kolbenfüllers, den G dem K auf dem Handy gezeigt hatte. Durch die Nichtübereignung<br />
der Maschine hat B diese Leistungspflicht verletzt. Mangels entgegenstehender<br />
Anhaltspunkte kann zudem von der Möglich-, Fällig- (§ 271 I 1<br />
BGB) als auch Durchsetzbarkeit der Pflicht ausgegangen werden.<br />
3. Angemessene Leistungsfrist<br />
Darüber hinaus ist der rücktrittsberechtigte Gläubiger gemäß § 323 I BGB dazu<br />
verpflichtet, eine angemessene Frist zur Leistung zu setzen. Eine Fristsetzung<br />
ist die Aufforderung zur Bewirkung einer bestimmten Leistung nach Fälligkeit<br />
binnen einer hinreichend bestimmten Frist. Mit Schreiben vom 12.07.2<strong>01</strong>4<br />
hat K den G aufgefordert, ihm den 30-Liter-Kolbenfüller bis zum 14.07.2<strong>01</strong>4<br />
zu liefern. Die Angemessenheit der Leistungsfrist bestimmt sich nach den<br />
jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Dabei sind alle tatsächlichen Aspekte<br />
auf Schuldner- wie Gläubigerseite zu berücksichtigen. Der rasche Austausch<br />
und die Lieferung einer neuen Maschine waren im Hinblick auf die Frischkäseproduktion<br />
des K sehr dringlich. Zudem war es B auch ohne weiteren Aufwand<br />
möglich, K die neue und nur geringfügig größere Maschine zu liefern. Mithin<br />
liegt mit den zwei Tagen eine angemessene Leistungsfrist seitens K an B vor.<br />
4. Erfolgloser Fristablauf<br />
Diese Frist ist am 14.07.2<strong>01</strong>4 um 24 Uhr erfolglos abgelaufen.<br />
Am 10.07.2<strong>01</strong>4 fanden zwischen K<br />
und G keine Gespräche im Hinblick<br />
auf „Kulanz, ohne Anerkennung<br />
einer Rechtspflicht, Präjudiz etc.“<br />
statt.<br />
Unbeachtlichkeit eines geheimen<br />
Vorbehalts<br />
Die Nichtlieferung der 30-Liter-<br />
Maschine stellt die Nichterfüllung<br />
eines fälligen und durchsetzbaren<br />
Anspruchs auf Leistung dar.<br />
Hier war eine kurze Leistungsfrist<br />
von 2 Tagen im Hinblick auf die<br />
Schuldner- und Gläubigerinteressen<br />
angemessen.
4 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
III. Kein Ausschluss des Rücktritts<br />
Ausschlussgründe sind im Hinblick auf das Rücktrittsrecht aus § 323 I BGB<br />
nicht ersichtlich.<br />
Wirksamer Rücktritt vom neuen am<br />
10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen Vertrag<br />
Das Rückgewährschuldverhältnis<br />
bezieht sich auf die Leistungen, die<br />
auf Grund desjenigen Vertrages<br />
empfangen wurden, auf den sich der<br />
Rücktritt bezieht.<br />
Zahlung der 2.963,10 € erfolgte<br />
aufgrund des ursprünglich geschlossenen<br />
Kaufvertrags vom 24.06.2<strong>01</strong>4<br />
Vom ursprünglichen Kaufvertrag<br />
hätte K aufgrund des wirksamen<br />
Gewährleistungsausschluss nicht<br />
zurücktreten können.<br />
K kann somit allenfalls den 20-Liter-<br />
Kolbenfüller zurückverlangen, der<br />
derzeit bei B in Eilenburg steht<br />
Kein Rückzahlungsanspruch<br />
IV. Zwischenergebnis<br />
Am 15.07.2<strong>01</strong>4 ist K folglich von dem am 10.07.2<strong>01</strong>4 mit B geschlossenen,<br />
neuen Vertrag wirksam zurückgetreten.<br />
V. Rechtsfolge<br />
Als Rechtsfolge des wirksamen Rücktritts entsteht ein sog. Rückgewährschuldverhältnis.<br />
Im Rahmen dessen sind jedoch immer nur die Leistungen zurückzugewähren,<br />
die auf Grund desjenigen Vertrages empfangen wurden, auf den<br />
sich der Rücktritt bezieht.<br />
„[35] Die 2.963,10 €, die der Kläger zurückbekommen möchte, hat er jedoch<br />
nicht auf Grund des Vertrages vom 10.07.2<strong>01</strong>4 geleistet und die Beklagte<br />
auch nicht auf Grund des Vertrages vom 10.07.2<strong>01</strong>4 empfangen. Leistung<br />
und Empfang dieses Geldes beruhen vielmehr auf dem ursprünglich<br />
geschlossenen Kaufvertrag vom 24.06.2<strong>01</strong>4.<br />
[36] Von diesem ist der Kläger indes nicht - erst Recht nicht wirksam - zurückgetreten.<br />
Bereits der Inhalt seiner Rücktrittserklärung vom 15.07.2<strong>01</strong>4<br />
bezieht sich hierauf nicht. So heißt es darin: „...erkläre ich... den Rücktritt<br />
von dem Kaufvertrag vom 10.07.2<strong>01</strong>4...“.<br />
[37] Von dem ursprünglichen Kaufvertrag vom 24.06.2<strong>01</strong>4 hätte er auch gar<br />
nicht zurücktreten können. Dieser beinhaltete einen Gewährleistungsausschluss.<br />
Es heißt im schriftlichen Vertrag dazu: „Verkauf wie vom Kunden<br />
zurück nur an Gewerbetreibende, Händler...Keine Gewährleistung oder<br />
Umtausch.“<br />
[38] Die besagte Klausel ist, da beide Parteien den Vertrag als Kaufleute<br />
im Rahmen ihres Geschäfts- bzw. Gewerbebetriebes geschlossen haben,<br />
wirksam.<br />
[39] Durch den am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen neuen Vertrag wurde dieser<br />
Gewährleistungsausschluss nicht berührt.<br />
[40 Zurückverlangen könnte der Kläger in Folge seines Rücktritts daher<br />
allenfalls den 20-Liter-Kolbenfüller, der derzeit noch bei der Beklagten in<br />
Eilenburg steht. Dies wurde von dem Kläger jedoch nicht begehrt.<br />
[41] Nach alledem bedarf es deshalb auch keiner Feststellungen zu der<br />
Frage, ob der 20-Liter-Kolbenfüller tatsächlich mangelhaft ist/war und<br />
wenn ja, wer diesen Mangel ggf. zu vertreten hat.“<br />
B. Ergebnis<br />
K steht gegen B kein Anspruch auf Rückzahlung von 2.963,10 € aus §§ 346 I,<br />
323 I BGB zu.<br />
FAZIT<br />
Werden nacheinander mehrere im Zusammenhang stehende Verträge<br />
abgeschlossen, gilt es zu beachten, dass sich die bei einem Rücktritt entstehende<br />
Rückgewährpflicht ausschließlich auf die im jeweiligen Vertrag ausgetauschten<br />
Leistungen bezieht. Eine Leistung, die aufgrund des ersten Vertrags<br />
erfolgt ist, kann nicht aufgrund eines Rücktritts vom zweiten Vertrag zurückverlangt<br />
werden.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
5<br />
Problem: Ersatzfähigkeit von Aufwendungen für<br />
Reparatur in markengebundener Werkstatt bei fiktiver<br />
Abrechnung von Unfallschäden<br />
Einordnung: Vertragsrecht, allgemeine Geschäftsbedingungen<br />
BGH, Urteil vom 11.11.2<strong>01</strong>5,<br />
IV ZR 426/14<br />
EINLEITUNG<br />
Sind Aufwendungen, die bei Durchführung der Reparatur eines Unfallschadens<br />
in einer markengebundenen Fachwerkstatt angefallen wären, bei<br />
fiktiver Abrechnung ersatzfähig? Erneut beantwortete der BGH diese aufgeworfene<br />
Frage im vorliegenden Fall.<br />
SACHVERHALT<br />
Der Kläger (K) geriet am 10.12.2<strong>01</strong>3 mit F in einen Verkehrsunfall. Dabei wurde<br />
sein seit dem <strong>01</strong>.<strong>01</strong>.2008 bei der Beklagten (B) vollkaskoversicherter Mercedes<br />
beschädigt. K hat das Fahrzeug bisher nicht reparieren lassen. Dem Versicherungsvertrag<br />
zwischen K und B liegt mit Ziffer A.2.7.1 der allgemeinen Bedingungen<br />
für die Kraftfahrtversicherung (AKB) 2008 folgende Regelung zugrunde:<br />
„Wird das Fahrzeug beschädigt, zahlen wir die für die Reparatur erforderlichen<br />
Kosten bis zu folgenden Obergrenzen:<br />
a) Wird das Fahrzeug vollständig und fachgerecht repariert, zahlen wir die<br />
hierfür erforderlichen Kosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts<br />
nach A.2.6.6, wenn Sie uns dies durch eine Rechnung nachweisen. Fehlt<br />
dieser Nachweis, zahlen wir entsprechend A.2.7.1.b.<br />
b) Wird das Fahrzeug nicht, nicht vollständig oder nicht fachgerecht repariert,<br />
zahlen wir die erforderlichen Kosten einer vollständigen Reparatur bis<br />
zur Höhe des um den Restwert verminderten Wiederbeschaffungswerts<br />
nach A.2.6.6.“<br />
Auf Grundlage dessen begehrt K von B die Schadensregulierung entsprechend<br />
einem von ihm beauftragten Gutachten. Dieses weist für das beschädigte<br />
Fahrzeug einen Reparaturkostenaufwand i.H.v. 9.396,24 € aus. Dieser basiert<br />
auf den Stundenverrechnungssätzen einer Mercedes-Fachwerkstatt. B will<br />
den Schaden nur entsprechend einem von ihr eingeholten Gutachten regulieren.<br />
Dieses stellt auf die Lohnkosten einer ortsansässigen, nicht markengebundenen<br />
Fachwerkstatt ab und ermittelt dadurch Nettoreparaturkosten von<br />
lediglich 6.425,08 € für das versicherte Fahrzeug. K hat sein Fahrzeug stets in<br />
der Mercedes-Vertragswerkstatt habe warten und reparieren lassen. Hat K den<br />
geltend gemachten Anspruch?<br />
PRÜFUNGSSCHEMA<br />
LEITSÄTZE<br />
1. In der Fahrzeugkaskoversicherung<br />
können auch fiktive Aufwendungen<br />
für die Reparatur in einer markengebundenen<br />
Werkstatt als „erforderliche“<br />
Kosten im Sinne von<br />
A.2.7.1 b) AKB 2008 anzusehen sein.<br />
2. Dies ist zum einen dann zu<br />
bejahen, wenn die fachgerechte<br />
Wiederherstellung des Fahrzeugs<br />
nur in einer markengebundenen<br />
Werkstatt erfolgen kann, zum<br />
anderen aber regelmäßig auch<br />
dann, wenn es sich um ein neueres<br />
Fahrzeug oder um ein solches<br />
handelt, das der Versicherungsnehmer<br />
bisher stets in einer markengebundenen<br />
Fachwerkstatt hat<br />
warten und reparieren lassen.<br />
Kosten der Fachwerkstatt<br />
Kosten der nicht markengebundenen<br />
Werkstatt<br />
A. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 9.396,24 € gem. dem<br />
Versicherungsvertrag i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008<br />
I. Versicherungsvertrag<br />
II. Verhältnis zu den Schadensersatzvorschriften<br />
III. Voraussetzungen des A.2.7.1.b. AKB 2008<br />
B. Ergebnis
6 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
LÖSUNG<br />
Anspruch aufgrund des Versicherungsvertrags<br />
und der allgemeinen<br />
Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung<br />
(AKB) 2008<br />
A. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 9.396,24 € gem. dem<br />
Versicherungsvertrag i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008<br />
K könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 9.396,24 € für das beschädigte<br />
Fahrzeug aufgrund des Versicherungsvertrags i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB<br />
2008 haben.<br />
I. Versicherungsvertrag<br />
Seit dem <strong>01</strong>.<strong>01</strong>.2008 besteht zwischen K und B ein wirksamer Versicherungsvertrag<br />
für den am 10.12.2<strong>01</strong>3 bei einem Verkehrsunfall beschädigten Mercedes<br />
des K.<br />
II. Verhältnis zu den Schadensersatzvorschriften<br />
Weiterhin ist zu prüfen, ob im Hinblick auf eine etwaige Einstandspflicht der<br />
B allein auf den Versicherungsvertrag oder aber die gesetzlichen Vorschriften<br />
zum Schadensersatz (§§ 280 ff. BGB) abzustellen ist.<br />
Vorrang der vertraglichen Regelungen<br />
vor den gesetzlichen<br />
Schadensersatzvorschriften (§§ 280 ff.<br />
BGB)<br />
„[9] Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht in Übereinstimmung<br />
mit der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur davon<br />
aus, dass maßgeblich allein das vertragliche Leistungsversprechen des Versicherers<br />
ist und die gesetzlichen Vorschriften zum Schadensersatz keine<br />
Anwendung finden.“<br />
Folglich richtet sich ein möglicher Ersatzanspruch allein nach dem Versicherungsvertrag<br />
i.V.m. der Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008. Von einer wirksamen Einbeziehung<br />
der AKB gem. § 305 II BGB ist auszugehen.<br />
Voraussetzungen der Ziffer A.2.7.1.b.<br />
AKB 2008<br />
Problem der „erforderlichen“ Kosten<br />
i.S.d. der Klausel<br />
Auslegung der Geschäftsbedingungen<br />
nach allgemeinen Maßstäben:<br />
Maßgebend sind vor allem<br />
Wortlaut sowie Sinnzusammenhang<br />
und Zweck der Klausel<br />
III. Voraussetzungen des A.2.7.1.b. AKB 2008<br />
Die Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008 sieht vor, dass in den Fällen, in denen ein unfallgeschädigtes<br />
Fahrzeug nicht, nicht vollständig oder nicht fachgerecht repariert<br />
wird, B als Versicherer lediglich die erforderlichen Kosten einer vollständigen<br />
Reparatur bis zur Höhe des um den Restwert verminderten Wiederbeschaffungswerts<br />
gem. A.2.6.6 zahlen muss. K hat seinen aufgrund des Verkehrsunfalls<br />
mit F beschädigten Mercedes nicht reparieren lassen. Nach dem von ihm<br />
beauftragten Gutachten in einer markengebundenen Fachwerkstatt belaufen<br />
sich die Reparaturkosten auf 9.396,24 €. Zu prüfen ist, ob diese „erforderlich“<br />
i.S.d. A.2.7.1.b. AKB 2008 sind.<br />
„[10] Für die Auslegung, welche Kosten als für die Reparatur erforderlich im<br />
Sinne von A.2.7.1 AKB 2008 anzusehen sind, gelten die allgemeinen Maßstäbe.<br />
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger<br />
Rechtsprechung des Senats so auszulegen, wie ein durchschnittlicher<br />
Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer<br />
Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs<br />
verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten<br />
eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche<br />
Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie<br />
ist vom Wortlaut der jeweiligen Klausel auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk<br />
verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind<br />
zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer<br />
erkennbar sind.“
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
7<br />
Fraglich ist somit, ob auch (fiktive) Aufwendungen für die Reparatur in einer<br />
markengebundenen Werkstatt nach diesen Grundsätzen und den jeweiligen<br />
Umständen des Einzelfalles als „erforderliche“ Kosten i.S.v. A.2.7.1 AKB 2008<br />
anzusehen sein.<br />
„[11] Dies ist zum einen dann zu bejahen, wenn die fachgerechte Wiederherstellung<br />
des Fahrzeugs nur in einer markengebundenen Werkstatt<br />
erfolgen kann, zum anderen aber regelmäßig auch dann, wenn es sich<br />
um ein neueres Fahrzeug oder aber um ein solches handelt, das der Versicherungsnehmer<br />
bisher stets in einer markengebundenen Fachwerkstatt<br />
hat warten und reparieren lassen.“<br />
Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird schon nach dem Wortlaut<br />
der Klausel davon ausgehen, dass ihm im Versicherungsfall diejenigen Aufwendungen<br />
ersetzt werden, die ein wirtschaftlich vernünftig handelnder<br />
Betroffener in seiner Lage tätigen würde, um das beschädigte Fahrzeug wieder<br />
fachgerecht herzustellen.<br />
„[13] Somit sind Aufwendungen für die Reparatur in einer markengebundenen<br />
Werkstatt dann erforderlich, wenn aufgrund der Art der anfallenden<br />
Reparaturarbeiten nur dort eine vollständige und fachgerechte<br />
Reparatur durchgeführt werden kann.<br />
[14] Neben den technischen Notwendigkeiten wird der Versicherungsnehmer<br />
aber auch den Werterhalt seines Fahrzeugs in den Blick nehmen.<br />
Er wird deshalb berücksichtigen, dass insbesondere bei neuwertigen Fahrzeugen,<br />
die noch einer Herstellergarantie unterliegen, die Reparatur in<br />
einer Markenwerkstatt weitgehend üblich ist, dies darüber hinaus aber<br />
auch bei einem älteren Fahrzeug in Betracht kommen kann, wenn dieses in<br />
der Vergangenheit zur Erhaltung eines höheren Wiederverkaufswerts stets<br />
in einer Markenwerkstatt gewartet und repariert worden ist („scheckheftgepflegt“),<br />
weil bei einem großen Teil des Publikums insbesondere wegen<br />
fehlender Überprüfungsmöglichkeiten die Einschätzung vorherrscht, dass<br />
bei einer (regelmäßigen) Wartung und Reparatur eines Kraftfahrzeugs in<br />
einer markengebundenen Fachwerkstatt eine höhere Wahrscheinlichkeit<br />
besteht, dass diese ordnungsgemäß und fachgerecht erfolgt ist. Dagegen<br />
wird die Reparatur eines älteren Fahrzeugs in einer Markenwerkstatt<br />
nicht mehr als üblich anzusehen sein, wenn das Fahrzeug bereits in der<br />
Vergangenheit in freien Werkstätten repariert worden ist oder wenn<br />
vom Hersteller vorgesehene Wartungsarbeiten nicht durchgeführt<br />
worden sind.“<br />
Weil es für die Frage der Erforderlichkeit der Kosten nicht allein auf die technisch<br />
einwandfreie Instandsetzung des Fahrzeugs ankommen muss, ist weiterhin<br />
auch der vom Versicherungsnehmer beabsichtigte Zweck der Versicherung<br />
zu berücksichtigen.<br />
„[15] Denn mit dem Abschluss einer Fahrzeugkaskoversicherung erstrebt<br />
er in der Regel nicht nur den Schutz vor wirtschaftlich nachteiligen Folgen<br />
hinsichtlich des eigenen Fahrzeugschadens bei selbst verschuldeten<br />
Unfällen, sondern auch die Befreiung vom Risiko der Durchsetzung von<br />
Ersatzansprüchen gegen den Unfallgegner bei unklarer Haftungslage. Die<br />
Praxis zeigt, dass Versicherungsnehmer es in derartigen Fällen vielfach<br />
vorziehen, ihren Fahrzeugschaden beim eigenen Kaskoversicherer zu<br />
„Erforderlichkeit“ der Kosten, wenn<br />
die Reparatur des Fahrzeugs nur in<br />
der markengebundenen Fachwerkstatt<br />
erfolgen kann<br />
Art der anfallenden Reparaturarbeiten<br />
nur von einer markengebundenen<br />
Fachwerkstatt durchführbar<br />
Dortige Reparatur vor allem bei<br />
Neufahrzeugen üblich<br />
Üblich ist die Reparatur bei einem<br />
älteren Fahrzeug nur dann, wenn<br />
dieses in der Vergangenheit zur<br />
Erhaltung eines höheren Wiederverkaufswerts<br />
stets in einer Markenwerkstatt<br />
gewartet und repariert<br />
worden ist.<br />
Sinn und Zweck einer Vollkaskoversicherung<br />
für das Fahrzeug
8 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
In der Praxis zunehmend Tarife mit<br />
Werkstattbindung<br />
Die Auslegung der Klauseln A.2.7.1<br />
a) AKB 2008, sowie A.2.7.1 b) AKB<br />
2008 ist im Hinblick auf die „Erforderlichkeit“<br />
der Reparaturkosten<br />
identisch.<br />
Den Versicherungsnehmer treffen<br />
die Darlegungs- und Beweislast,<br />
dass die Anspruchsvoraussetzungen<br />
für den Ersatz der höheren Kosten<br />
in einer markengebundenen Fachwerkstatt<br />
vorliegen.<br />
Fahrzeug des K ist „scheckheftgepflegt“<br />
Zahlungsanspruch des K gegen B<br />
i.H.v. 9.396,24 €<br />
regulieren und diesem die Prüfung eines Regresses beim Unfallgegner<br />
zu überlassen. Dass der Umfang ihres Anspruchs gegen den Versicherer<br />
insoweit generell hinter dem zurückbleiben soll, was im Schadenfall von<br />
einem haftpflichtigen Unfallgegner verlangt werden kann, wird der durchschnittliche<br />
Versicherungsnehmer dem Begriff der erforderlichen Kosten<br />
jedenfalls nicht entnehmen.<br />
[<strong>16</strong>] Er wird sich in diesem Verständnis durch den Umstand bestärkt sehen,<br />
dass am Markt zunehmend Tarife mit Werkstattbindung angeboten werden,<br />
bei denen sich der Versicherungsnehmer verpflichtet, im Reparaturfall eine<br />
vom Versicherer ausgesuchte Werkstatt zu beauftragen, was von diesem<br />
mit einem niedrigeren Beitrag honoriert wird. Dies weckt beim Versicherungsnehmer<br />
die Erwartung, sein Fahrzeug gegebenenfalls auch<br />
in der teureren markengebundenen Werkstatt reparieren lassen zu<br />
dürfen, wenn er einen solchen Tarif gerade nicht gewählt und statt<br />
dessen eine höhere Prämie bezahlt hat.<br />
[20] Sind Kosten der Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt nach<br />
dem vorstehenden Maßstab als erforderlich im Sinne von A.2.7.1 a) AKB<br />
2008 anzusehen, so gilt dies auch für den Anspruch nach A.2.7.1 b) AKB<br />
2008, also bei einer Abrechnung fiktiver Reparaturkosten auf Gutachtenbasis.<br />
Beide Regelungen enthalten denselben Begriff der “erforderlichen<br />
Kosten”, so dass eine Differenzierung nicht erfolgt. Ein Unterschied besteht<br />
lediglich insoweit, als für den Fall einer nicht, nicht vollständig oder nicht<br />
fachgerecht durchgeführten Reparatur eine andere, niedrigere, nämlich<br />
um den Restwert verminderte Obergrenze der ersatzfähigen Reparaturkosten<br />
vereinbart ist.<br />
[21] Allerdings trägt der Versicherungsnehmer für die Umstände, die eine<br />
Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt als erforderlich erscheinen<br />
lassen, die Darlegungs- und Beweislast, weil es sich insoweit um eine<br />
Anspruchsvoraussetzung hinsichtlich der entsprechend höheren Kosten<br />
handelt. Er muss daher entweder darlegen und gegebenenfalls beweisen,<br />
dass die dortige Reparatur zur vollständigen und fachgerechten Instandsetzung<br />
des Fahrzeugs notwendig war, oder wenn das nicht der Fall ist,<br />
dass eine der oben genannten Voraussetzungen vorliegt. Zur Höhe dieser<br />
Kosten genügt er seiner Darlegungslast auch - wie im Streitfall geschehen -<br />
durch Zugrundelegung der üblichen Stundenverrechnungssätze einer<br />
markengebundenen Fachwerkstatt, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger<br />
auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat.“<br />
K ließ den Mercedes regelmäßig in einer Fachwerkstatt warten und reparieren.<br />
Es ist damit „scheckheftgepflegt“ i.S.d. oben gemachten Ausführungen.<br />
Folglich kann K die nach diesem Unfall entstandenen Reparaturkosten auf<br />
Basis der Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Fachwerkstatt<br />
ersetzt verlangen.<br />
B. Ergebnis<br />
K steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung von 9.396,24 € für das beschädigte<br />
Fahrzeug aufgrund des Vertragsvertrags i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008 zu.<br />
FAZIT<br />
Hat der Versicherungsnehmer ein “scheckheftgepflegtes” Kfz, kann ihn der<br />
Vollkaskoversicherer nicht immer auf die niedrigeren Kosten einer „freien“<br />
Werkstatt verweisen.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
9<br />
Problem: Konkludent vereinbarte<br />
Bruchteilsberechtigung an Kontoforderung bei<br />
nichtehelicher Lebensgemeinschaft<br />
Einordnung: Bereicherungsrecht<br />
OLG Schleswig, Urteil vom 17.11.2<strong>01</strong>5<br />
3 U 20/15 (bisher unveröffentlicht)<br />
EINLEITUNG<br />
Scheiden tut weh, vor allem finanziell. Haben die Ehegatten während der<br />
Ehe gemeinsame Giro-, Spar-, oder Festgeldkonten geführt, streiten sie bei<br />
Scheitern der Ehe nicht selten darum, wem ein vorhandenes Guthaben<br />
zusteht. Konfliktträchtig sind auch Kontoverfügungen, die ein Ehegatte ohne<br />
Einverständnis des anderen im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung<br />
getroffen hat. Ähnlich verhält es sich nach dem Tod eines Ehegatten, wenn sich<br />
der Überlebende mit den Erben um das zum Todeszeitpunkt auf dem Konto<br />
befindliche Geld streiten muss. Noch problematischer wird es hingegen, wenn<br />
der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Rechte an einer im<br />
Nachlass vorhandenen Kontoforderung geltend macht. Ob und unter welchen<br />
Voraussetzungen dies möglich ist, steht im Mittelpunkt dieser Entscheidung.<br />
SACHVERHALT<br />
Der Erblasser (E) lebte bis zu seinem Tod am 10.07.2<strong>01</strong>1 mit der Klägerin (A)<br />
in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Sie besaßen bei der Y-Bank ein<br />
gemeinsames Konto, auf dem Investmentfonds verbucht waren. Der wesentliche<br />
Zweck dieses Kontos bestand in der Unterhaltung ihrer gemeinsamen,<br />
im hälftigen Miteigentum stehenden Wohnung. Nach dem Verkauf der Investmentfonds<br />
und Auflösung des gemeinsamen Kontos im Juli 2<strong>01</strong>0 wurde der<br />
Verkaufserlös i.H.v. 110.000,- € auf ein bei der Y-Bank geführtes Festgeldkonto<br />
des E übertragen. Im Herbst 2<strong>01</strong>0 bezahlten E und A davon eine neue Verglasung<br />
des Wintergartens in ihrer Eigentumswohnung. Zum Todeszeitpunkt<br />
des E befanden sich hierdurch nur noch 84.797,02 € auf dem Festgeldkonto.<br />
Kurze Zeit später öffnet A zusammen mit den beiden Kindern des E das am<br />
12.05.2008 von diesem wirksam errichtete Testament. Darin beruft E seine<br />
Tochter (B) und seinen Sohn (X) als Erben zu je ½. Weiterhin heißt es:<br />
„Die Wohnung … und das Geld bei der Y-Bank in … gehört zur Hälfte A<br />
und mir. Das sollen alle Drei entscheiden, ob verkaufen oder das Konto aufheben,<br />
und die Hälfte sich B und X teilen, oder sie es nutzen.“<br />
LEITSATZ<br />
Auch Partner einer nichtehelichen<br />
Lebensgemeinschaft können konkludent<br />
eine (hälftige) Bruchteilsberechtigung<br />
(§ 742 BGB) des Partners,<br />
der nicht Kontoinhaber ist, an einer<br />
Kontoforderung vereinbaren. Eine<br />
derartige konkludente Vereinbarung<br />
ist insbesondere anzunehmen, wenn<br />
sich im Hinblick auf die eingezahlten<br />
Sparguthaben eine gemeinsame<br />
Zweckverfolgung - hier: Unterhaltung<br />
und Renovierung einer<br />
Eigentumswohnung, an der beide<br />
Miteigentum zu ½ haben - feststellen<br />
lässt.<br />
A wendet sich daraufhin an die beiden Kinder und verlangt ihre Hälfte am im<br />
Zeitpunkt des Erbfalls vorhandenen Guthabenbestand. Auf<br />
Nachfragen teilt X ihr mit, dass er und seine Schwester das Konto bereits aufgelöst<br />
und von der Y-Bank jeweils 42.398,50 € in bar ausgezahlt bekommen<br />
haben. X, der nicht mit A streiten möchte, gibt ihr die Hälfte des erhaltenen<br />
Geldes ab. B indes lehnt jegliche Zahlung ab. Steht A gegen B ein Anspruch auf<br />
Zahlung von 21.199,25 € zu?
10 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
PRÜFUNGSSCHEMA<br />
A. Anspruch A gegen B auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II BGB<br />
I. Anspruchsvoraussetzungen<br />
1. Leistung der Y-Bank<br />
2. Gegenüber einem Nichtberechtigten<br />
3. Wirksamkeit gegenüber dem Berechtigten<br />
II. Rechtsfolge<br />
B. Ergebnis<br />
LÖSUNG<br />
A. Anspruch A gegen B auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II BGB<br />
A könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II<br />
BGB haben.<br />
Voraussetzzungen des Anspruchs<br />
aus § 8<strong>16</strong> II BGB<br />
Leistung der Y-Bank an B durch Auszahlung<br />
der Hälfte des Guthabens<br />
i.H.v. 84.797,02 €<br />
B ist Nichtberechtigte, wenn ihr der<br />
ausgezahlte Anteil am Kontoguthaben<br />
nicht vollständig zustand.<br />
Inzidentprüfung, wem das Geld<br />
nach Auflösung des Kontos zustand<br />
Am gemeinschaftlichen Konto<br />
von K und E bestand bis zu dessen<br />
Auflösung im Juli 2<strong>01</strong>0 eine Bruchteilsgemeinschaft<br />
zu je ½ gem.<br />
§§ 741, 742 BGB.<br />
I. Anspruchsvoraussetzungen<br />
Wird an einen Nichtberechtigten eine Leistung bewirkt, die dem Berechtigten<br />
gegenüber wirksam ist, so ist nach dieser Norm der Nichtberechtigte dem<br />
Berechtigten zur Herausgabe des Geleisteten verpflichtet.<br />
1. Leistung der Y-Bank<br />
Zunächst müsste die Y-Bank eine Leistung am B erbracht haben. Unter einer Leistung<br />
versteht man die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.<br />
Vorliegend haben B und ihr Bruder X das bei der Y-Bank bestehende<br />
Festgeldkonto des E mit dem im Zeitpunkt des Erbfalls bestehenden Guthaben<br />
von 84.797,02 € aufgelöst. Die Y-Bank hat den Betrag an die Geschwister je<br />
hälftig ausgezahlt. Dadurch hat sie das Vermögen der B bewusst und zweckgerichtet<br />
gemehrt und somit eine Leistung erbracht.<br />
2. An einen Nichtberechtigten<br />
Fraglich ist, ob B diese Leistung berechtigterweise erhalten hat oder ob es sich<br />
um die Leistung an einen Nichtberechtigten handelt. Zur Beurteilung dieser<br />
Frage ist maßgeblich, wem die 84.797,02 € nach der Auflösung des Kontos<br />
zustanden.<br />
„[18] Bis Juli 2<strong>01</strong>0 waren die Klägerin und E auch im Verhältnis zur<br />
Y-Bank gemeinschaftliche Inhaber des Kontos, auf dem zunächst<br />
Investmentfonds verbucht waren. Auf diesem gemeinschaftlichen Konto<br />
ist dann nach der von der Y-Bank den beiden Kontoinhabern gemeinschaftlich<br />
erteilten Abrechnung vom 2. Juli 2<strong>01</strong>0 aber auch der Verkaufserlös<br />
der Investmentfonds als Festgeld in Höhe von 110.000 € verbucht<br />
worden, wie sich dem das gemeinschaftliche Konto betreffenden Kontoauszug<br />
für den Zeitraum 1. bis 31. Juli 2<strong>01</strong>0 entnehmen lässt.<br />
[19] Im Innenverhältnis der Klägerin und des E bestand hinsichtlich des<br />
gemeinsamen Kontos eine Bruchteilsgemeinschaft zu je ½, wobei es nicht<br />
darauf ankommt, von wem die Mittel für die Investmentfonds ursprünglich<br />
stammten und ob die Klägerin eigenes Geld eingebracht hat. Die Überzeugung<br />
von einer Bruchteilsgemeinschaft zu je ½ ergibt sich vielmehr<br />
- neben dem wichtigen Indiz der gemeinsamen Kontoinhaberschaft - vor<br />
allem aus der eigenen Darstellung des Erblassers in seinem Testament. Mit<br />
der dortigen Formulierung „gehört zur Hälfte A und mir“ ist in Bezug auf
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
11<br />
das Konto das (damalige) gemeinsame Investmentkonto bei der Y-Bank<br />
gemeint, denn nur hier bestand auch im Außenverhältnis ein gemeinsames<br />
Konto (im Unterschied zu dem vom Erblasser bei dieser Bank als alleiniger<br />
Inhaber geführten Girokonto). Die Beklagte hat dies erstinstanzlich selbst<br />
unstreitig gestellt, nämlich dazu im Schriftsatz vom 1. Juli 2<strong>01</strong>4, ausgeführt,<br />
der Erblasser „meint hiermit offenkundig das Konto mit den Investmentfonds.<br />
Denn das Guthaben auf dem Girokonto war demgegenüber von<br />
keiner wirtschaftlichen Relevanz.“<br />
Problematisch ist jedoch, dass die 110.000,- € Erlös aus dem Verkauf der Investmentfonds<br />
im Anschluss an die Auflösung des gemeinsamen Kontos im Juli<br />
2<strong>01</strong>0 auf ein Festgeldkonto bei der Y-Bank überwiesen wurden, das als Kontoinhaber<br />
allein E auswies.<br />
„[20] Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Klägerin dieser Änderung der<br />
Kontoinhaberschaft nicht zugestimmt haben sollte, weil anderenfalls die<br />
Bank bei ordnungsgemäßem Ablauf keine Umschreibung vorgenommen<br />
hätte. Allerdings fehlt auch jeder Hinweis darauf, dass sich damit eine<br />
Änderung in Bezug auf die im Innenverhältnis bestehende Bruchteilsgemeinschaft<br />
ergeben haben könnte. Für eine Schenkung der Klägerin an<br />
E gibt es keinen Anhaltspunkt. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt,<br />
dass Eheleute - für Partner einer Lebensgemeinschaft kann hier nichts<br />
anderes gelten - auch konkludent eine (hälftige) Bruchteilsberechtigung<br />
des Partners, der nicht Kontoinhaber ist, an der Kontoforderung<br />
vereinbaren können.“<br />
Eine derartige konkludente Vereinbarung ist insbesondere anzunehmen,<br />
wenn sich im Hinblick auf die eingezahlten Sparguthaben eine gemeinsame<br />
Zweckverfolgung der Parteien feststellen lässt. Die Rechtsprechung bejaht<br />
eine solche gemeinsame Zweckverfolgung jedenfalls dann, wenn zwischen<br />
den Partnern Einvernehmen besteht, dass die Ersparnisse beiden zugutekommen<br />
sollen<br />
„[21] Ausgehend von diesen Grundsätzen bestand zwischen der Klägerin<br />
und dem Erblasser eine Bruchteilsgemeinschaft an der Festgeldkontoforderung<br />
auch nach dem Wechsel auf die alleinige Kontoinhaberschaft<br />
des E. Beide waren Lebensgefährten. Wesentliches<br />
Indiz für die - fortbestehende - Bruchteilsgemeinschaft ist hier zudem der<br />
Umstand, dass das auf dem Konto des Erblassers verbuchte Festgeld von<br />
einem ursprünglich unstreitig gemeinsam als Kontoinhaber geführten<br />
Konto stammt. Der damalige wesentliche Zweck des gemeinschaftlichen<br />
Kontos – Bestreitung der Verwendungen für die im gemeinsamen je<br />
hälftigen Miteigentum stehende Wohnung gemäß dem Vorbringen der<br />
Klägerin vor dem Landgericht - ist auch nach Weiterführung des Festgeldes<br />
auf dem Einzelkonto des Erblassers fortgesetzt worden. Nach dem unstreitigen<br />
Vortrag der Parteien erster Instanz ist von diesem Konto nämlich im<br />
Herbst 2<strong>01</strong>0 die neue Verglasung des Wintergartens der gemeinsamen<br />
Wohnung bezahlt worden. Weiteres wesentliches Indiz für die (fortbestehende)<br />
Bruchteilsgemeinschaft des Erblassers und der Klägerin ist der<br />
Umstand, dass der Erblasser sein Testament - mit dem dort enthaltenden<br />
Hinweis darauf, dass das Geld bei der Y-Bank zur Hälfte der Klägerin<br />
gehöre - trotz Umwandlung des gemeinschaftlichen Kontos in ein Einzelkonto<br />
nicht geändert hat.“<br />
Auswirkung der Überweisung des<br />
Verkaufserlös i.H.v. 110.000,- € auf<br />
das Festgeldkonto des E<br />
BGH, Urteil vom 20.12.2<strong>01</strong>1, 3 U 31/11,<br />
NJW 2000, 2347<br />
Das Einvernehmen, dass die Ersparnisse<br />
beiden Partnern zugutekommen<br />
sollen, kann konkludent<br />
zu einer (hälftigen) Bruchteilsberechtigung<br />
gem. §§ 741, 742 BGB<br />
desjenigen führen, der nicht Kontoinhaber<br />
ist<br />
Auslegung der Anhaltspunkte im<br />
jeweiligen Einzelfall
12 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Fortsetzung der Bruchteilsgemeinschaft<br />
nach dem Tod des E<br />
Genehmigung der Einziehung durch<br />
B gem. §§ 185 I, 362 I BGB<br />
Herausgabe der 21.199,25 € oder<br />
Zahlung von Wertersatz in derselben<br />
Höhe<br />
Zahlungsanspruch aus § 8<strong>16</strong> II BGB<br />
Nach dem Tod eines der Partner setzt sich eine solche Bruchteilsgemeinschaft<br />
zwischen dem Überlebenden und der Erbengemeinschaft fort. Nach der faktischen<br />
Aufhebung der Bruchteilsgemeinschaft durch Auszahlung je des hälftigen<br />
Guthabens an die Beklagte und ihren Bruder seitens der Y-Bank haben<br />
diese somit im Verhältnis zur Klägerin jeweils die Hälfte des ihnen zugekommenen<br />
Betrages, d.h. 21.199,25 €, als Nichtberechtigte erlangt.<br />
III. Wirksamkeit gegenüber dem Berechtigten<br />
Grundsätzlich kann sich der Schuldner durch eine Leistung an einen Nichtberechtigten<br />
nicht von seiner Verpflichtung befreien (Arg. ex §§ 407 ff. BGB). In der<br />
Aufforderung der A an B, den Geldbetrag hälftig wieder herauszugeben, liegt<br />
jedoch eine Genehmigung der Einziehung durch B gem. §§ 185 I BGB, 362 I<br />
BGB. Mithin ist die Auszahlung seitens der Y-Bank an B gegenüber A wirksam.<br />
IV. Rechtsfolge<br />
Nach § 8<strong>16</strong> II BGB ist B als nicht berechtigter Empfänger der Leistung seitens der<br />
Y-Bank verpflichtet, das Erlangte herauszugeben. Hier hat sich B die 21.199,25 €<br />
in bar auszahlen und damit Besitz und Eigentum an diesen Geldscheinen<br />
erlangt. Sofern diese Geldscheine noch unterscheidbar bei ihr vorhanden sind,<br />
muss sie diese an A übergeben und übereignen. Andernfalls schuldet sie nach<br />
§ 818 II BGB Wertersatz i.H.v. 21.199,25 €.<br />
B. Ergebnis<br />
A steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung der geforderten 21.199,25 € aus<br />
§ 8<strong>16</strong> II BGB zu.<br />
FAZIT<br />
Auch ein nichtehelicher, verstorbener Kontoinhaber kann den nichtehelichen<br />
Lebenspartner zu Lebzeiten im Innenverhältnis an der Kontoforderung derart<br />
beteiligt haben, dass eine Bruchteilsberechtigung entstanden ist. Eine entsprechende<br />
Vereinbarung kann auch stillschweigend geschlossen werden. Bei der<br />
Auslegung konkludenten Verhaltens müssen besondere Umstände erkennbar<br />
hervortreten, welche den Schluss auf eine Einigung über eine gemeinsame<br />
Berechtigung am Guthaben zulassen. Anhaltspunkte hierfür können z.B.<br />
Absprachen über die Verwendung des Angesparten i.S.e. gemeinsamen Verwendung<br />
sein. In Betracht kommen auch Hinweise im Testament über einen<br />
Anteil an der Kontoforderung. Gleichwohl ist bei der Annahme einer für das<br />
Innenverhältnis stillschweigend vereinbarten Mitberechtigung des überlebenden<br />
Lebenspartners Zurückhaltung geboten. Es bedarf einer genauen<br />
Prüfung des jeweiligen Einzelfalls.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
13<br />
Problem: Sichtbehindernde Bebauung als<br />
nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers<br />
Einordnung: Schadensersatz, nachträgliche Pflichtverletzung<br />
OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 12.11.2<strong>01</strong>5<br />
3 U 4/14<br />
EINLEITUNG<br />
Die Stadt Frankfurt verzeichnete bereits Jahre vor der Flüchtlingswelle ein kontinuierliches<br />
Bevölkerungswachstum – gegen den allgemeinen Bundestrend.<br />
Vorausschauend plante sie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts<br />
den Bau zweier neuer Stadtteile, das innenstadtnahe “Europaviertel” und den<br />
nördlich gelegenen “Riedberg”. Letzterer liegt zwar außerhalb der eigentlichen<br />
Metropole, aber dafür etwas erhöht in einer gedachten Linie zwischen<br />
Taunus und City. Besonders begehrt waren und sind dort jene Grundstücke,<br />
die den Blick auf die in Deutschland einzigartige Skyline Mainhattens<br />
ermöglichen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilte in der<br />
vorliegenden Entscheidung einen Bauträger zur Rücknahme einer Eigentumswohnung<br />
in ebendiesem Frankfurter Stadtteil Riedberg gegen Rückzahlung<br />
des Kaufpreises, weil durch dessen Veranlassung der den Käufern zugesagte<br />
„Skyline-Blick“ nachträglich verbaut wurde. Es sieht in der sichtbehindernden<br />
Bebauung eine nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers, die zur<br />
Rückabwicklung des Kaufvertrages berechtige. Unter Skyline sei nämlich die<br />
Teilansicht oder das Panorama zu verstehen, das eine Stadt mit ihren höchsten<br />
Bauwerken und Strukturen vor dem Horizont abzeichne.<br />
LEITSÄTZE (DES BEARBEITERS)<br />
1. Ist der Frankfurter „Skyline-Blick“<br />
dem Vertrag als Beschaffenheit<br />
zugrunde gelegt, so liegt in der<br />
nachträglichen Verbauung durch<br />
denselben Bauträger eine nachträgliche<br />
Pflichtverletzung.<br />
2. Der Käufer der Eigentumswohnung<br />
kann Rückzahlung des Kaufpreises<br />
Zug um Zug gegen Rückgabe der<br />
Eigentumswohnung gem. § 280 I<br />
BGB verlangen.<br />
SACHVERHALT<br />
Der Kläger (K) und der Beklagte (B) schließen am 18.04.2008 einen notariellen<br />
Bauträgervertrag über eine Eigentumswohnung in der A-Straße 10 in Riedberg<br />
ab. Dem Vertrag liegen die Baubeschreibung und der Verkaufsprospekt<br />
„Skyline-Wohnkonzept“ zugrunde. Darin heißt es:<br />
„Auf der Südterrasse über dem X die Türme der Stadt fest im Blick. Der<br />
Abend, die Stadt mit ihren Türmen glüht. Die passende Bühne für den unverbaubaren<br />
Skyline-Blick. [...] Blick auf die Skyline der Frankfurter Innenstadt.“<br />
Im Anschluss an den Vertragsschluss zahlt K den Kaufpreis i.H.v. insgesamt<br />
326.118,<strong>01</strong> € an B aus. Die Übergabe des Objekts findet am 23.06.2009 statt.<br />
Kurz danach wird unterhalb des Hauses durch B eine weitere Bebauung in dreigeschossiger<br />
Bauweise errichtet (sog. X-Projekt). Mit Schreiben vom 20.05.2<strong>01</strong>1<br />
verlangt K von B die Rücknahme des Einfamilienhauses und Rückzahlung des<br />
Kaufpreises. Zur Begründung führt K an, dass B ihm im Verkaufsprospekt einen<br />
Blick auf die Frankfurter Skyline zugesagt habe. Dieser sei aber nach der Verwirklichung<br />
des X-Projekts nicht mehr gesichert. B macht daraufhin geltend,<br />
dass die Unverbaubarkeit des Blicks nicht zugesagt gewesen sei. Sein Mitarbeiter<br />
D habe alle Erwerber mündlich darauf hingewiesen, dass auf dem<br />
gegenüberliegenden Grundstück noch gebaut werde. Zu Recht?
14 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
PRÜFUNGSSCHEMA<br />
A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung des Kaufpreis i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />
gem. § 280 I BGB<br />
I. Schuldverhältnis<br />
II. Nicht spezieller geregelte Pflichtverletzung<br />
III. Vertretenmüssen<br />
IV. Rechtsfolge<br />
B. Ergebnis<br />
LÖSUNG<br />
A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung des Kaufpreises i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />
gem. § 280 I BGB<br />
K könnte gegen B einen Rückzahlungsanspruch i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> € gem. § 280 I<br />
BGB haben.<br />
Abschluss eines notariellen Bauträgervertrags<br />
als gemischttypischer<br />
Vertrag<br />
In einer Klausur müssten Sie zunächst<br />
ein Rücktrittsrecht aus §§ 437 Nr.2,<br />
323 I BGB wegen eines Sachmangels<br />
gem. § 434 I BGB prüfen. Aus Platzgründen<br />
müssen wir hier darauf leider<br />
verzichten. Die Besonderheit des<br />
Falles liegt im Übrigen darin, dass die<br />
Liegenschaft bei Gefahrübergang die<br />
vereinbarte Beschaffenheit aufwies<br />
und eine Haftung der X wegen eines<br />
Sachmangels nach § 434 BGB damit<br />
ausscheidet. Erst durch das nachvertragliche<br />
Verhalten der X wurde der<br />
Sache die vereinbarte Beschaffenheit<br />
wieder entzogen. Deshalb kommt<br />
hier nur die Verletzung einer nachvertraglichen<br />
Treuepflicht in Betracht.<br />
Das OLG nimmt wegen dieser “culpa<br />
post contractum finitum” konsequent<br />
§ 280 I BGB als Anspruchsgrundlage<br />
an.<br />
Bestimmter Ausblick auf seinem<br />
Grundstück im Regelfall nicht<br />
geschützt<br />
Vorliegend liegt der Blick auf die<br />
Frankfurter Skyline dem Vertrag<br />
als Beschaffenheit der erworbenen<br />
Eigentumswohnung zugrunde.<br />
Einzelne Anhaltspunkte im Verkaufsprospekt<br />
I. Schuldverhältnis<br />
K und B haben am 18.04.2008 einen notariellen Bauträgervertrag über eine<br />
Eigentumswohnung in Riedberg geschlossen. Der Bauträgervertrag stellt nach<br />
der h.M. einen typengemischten Vertrag dar, der aus kaufvertraglichen, werkvertraglichen<br />
und u.U. Auftrags- und Geschäftsbesorgungselementen besteht.<br />
II. Nicht spezieller geregelte Pflichtverletzung<br />
B müsste eine sich aus diesem Vertrag ergebene Pflicht verletzt haben.<br />
Grundsätzlich versteht man unter einer Pflichtverletzung i.S.d. § 280 I BGB<br />
jede objektive Abweichung des Verhaltens einer Partei vom geschuldeten<br />
Pflichtenprogramm. Soweit nachvertragliche Pflichten bestehen und verletzt<br />
werden, gilt § 280 I BGB. Verletzt werden kann, die nach der Vertragserfüllung<br />
im Rahmen des Zumutbaren bestehende Pflicht, alles zu unterlassen,<br />
was den Vertragszweck gefährden könnte. Ferner darf der Schuldner nichts<br />
unternehmen, was dem Gläubiger die aufgrund des Vertrags gewährten Vorteile<br />
wieder entziehen könnte. Im Falle eines Grundstückskauf kann es z.B. eine<br />
Pflichtverletzung darstellen, wenn der Verkäufer das Restgrundstück bebaut<br />
oder es anders bebaut als von ihm zugesagt oder die Pflicht zur Nichtbebauung<br />
nicht auf den Rechtsnachfolger überträgt. Der Erhalt einer Aussicht<br />
ist üblicherweise nicht geschützt, sodass darauf nach der Vertragsabwicklung<br />
keine Rücksicht genommen werden muss. Etwas anderes könnte sich jedoch<br />
ergeben, wenn der Blick auf die Frankfurter Skyline dem Vertrag vorliegend als<br />
Beschaffenheit des Grundstücks zugrunde gelegt wurde.<br />
„[15] K konnte als Beschaffenheit der erworbenen Eigentumswohnung<br />
erwarten, dass diese von den Wohn- und Außenbereichen einen unverbauten<br />
Blick auf die Frankfurter Skyline bietet; dies zwar nicht von<br />
jedem Punkt des Grundstücks und der Wohnung, aber jedenfalls von den<br />
im wesentlichen genutzten Bereichen im Inneren und auf der Terrasse. Dass<br />
K diese Beschaffenheit erwarten konnte, folgt aus dem Verkaufsprospekt,<br />
der als Werbung im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 3 BGB anzusehen ist und bei<br />
dem es sich um einen 138-seitigen ausführlich bebilderten Prospekt in DIN-<br />
A-3-Format handelt. Der Prospekt trägt den Titel „Skyline-Wohnkonzept“.<br />
Der Begriff „Skyline“ ist auch sonst der prägende Begriff des Objektes, wie<br />
es im Prospekt dargestellt wird. Im Inhaltsverzeichnis auf S. 9 sind beispielsweise<br />
10 der <strong>16</strong> Kapitel mit dem Zusatz „Skyline“ versehen. Auf S. 8 und
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Zivilrecht<br />
15<br />
134 des Prospektes findet sich eine Silhouettenzeichnung der Frankfurter<br />
Skyline, auf S. 21, 24, 25, 53 und 114 Fotos, welche die Frankfurter<br />
Hochhausbebauung zeigen, davon auf S. 53 ganzseitig. Das Bauvorhaben,<br />
welches aus insgesamt 8 Mehrfamilienhäusern besteht, hat die Anschrift/<br />
Straßenbezeichnung „A-Straße“. Zur Lage und zu den Sichtverhältnissen<br />
führt der Prospekt u.a. folgendes aus: „Auf der Südterrasse über dem X die<br />
Türme der Stadt fest im Blick. Der Abend, die Stadt mit ihren Türmen glüht.<br />
Die passende Bühne für den unverbaubaren Skyline-Blick. [...] Blick auf die<br />
Skyline der Frankfurter Innenstadt.“<br />
Der unverbaute Skyline-Blick auf die Stadt Frankfurt ist damit eine dem<br />
Vertrag zugrunde liegende Beschaffenheit der von K erworbenen Eigentumswohnung.<br />
Zu prüfen ist damit, ob dieser Blick durch die anschließende dreistöckige<br />
Bebauung des B im Rahmen des X-Projekts zerstört wurde und eine<br />
nachträgliche Pflichtverletzung i.S.d. § 280 I BGB angenommen werden kann.<br />
„[<strong>16</strong>] Der bei Vertragsschluss und Übergabe des Objektes an die Kläger<br />
vorhandene Blick auf die Skyline Frankfurts ist durch die nachfolgende<br />
von der Beklagten veranlasste Bebauung jenseits des X (X), soweit es die<br />
Sichtverhältnisse der Wohnung der Kläger betrifft, wesentlich beschränkt<br />
und beeinträchtigt worden. Dies hat die durchgeführte Ortsbesichtigung<br />
ergeben.<br />
[17] Auszugehen ist dabei von der Definition einer Skyline (englisch<br />
„Horizont“ oder „Silhouette“) als die Teilansicht oder das Panorama,<br />
das eine Stadt mit ihren höchsten Bauwerken und Strukturen vor dem<br />
Horizont abzeichnet (Wikipedia, Definition Skyline).<br />
[18] Das Panorama, welches sich von der Terrasse der Kläger bietet, zeigt als<br />
markan<strong>test</strong>e Bauten von links nach rechts das neue Gebäude der Europäischen<br />
Zentralbank (185 Meter hoch), den Commerzbank-Tower (259 Meter<br />
hoch), den Fernsehturm (337 Meter hoch) und den Messeturm (256 Meter<br />
hoch). Unbeeinträchtigt durch das Bauprojekt X bleibt allein die Sicht auf<br />
die Europäische Zentralbank und den Messeturm. Der dazwischen liegende<br />
Bereich einschließlich des Commerzbank-Towers und des Fernsehturms<br />
wird nunmehr verdeckt, der Fernsehturm etwa zur Hälfte, wenn man<br />
die Skyline vom günstigsten Standpunkt in den Blick nimmt. Dieser Blick<br />
bietet sich, wenn man auf der Terrasse auf der vordersten linken Ecke steht.<br />
[19] Nimmt man auf der Terrasse auf den dort aufgestellten Sitzmöbeln<br />
Platz, so sieht man nur noch die obere Spitze des Commerzbank-Towers,<br />
dem mit 259 Meter höchsten Gebäude der Stadt. Das in diesem Umfeld<br />
gelegene Frankfurter Bankenviertel ist nahezu völlig verdeckt. Das Panorama,<br />
welches nach der oben gegebenen Definition der Skyline auch aus<br />
den Hochhäusern besteht, die nicht die Höhe etwa des Commerzbank-<br />
Towers erreichen, ist damit in seinem zentralen Bereich durch den sichtbehindernden<br />
Bau des X-Projektes in einer Weise beeinträchtigt, dass eben<br />
kein unverbaubarer oder unverbauter Skyline-Blick mehr vorliegt.“<br />
Nachträgliche Bebauung führt zu<br />
einer wesentlichen Beschränkung<br />
und Beeinträchtigung des Blicks auf<br />
die Skyline<br />
Definition der „Skyline“<br />
Beschreibung des Ausblicks auf die<br />
einzelnen Türme, die die Frankfurter<br />
Skyline prägen<br />
Kein unverbauter Blick mehr vorhanden<br />
Die sichtbehindernde Bebauung durch das Projekt X stellt eine nachvertragliche<br />
Pflichtverletzung des B dar, die K zur Rückabwicklung des Kaufvertrages<br />
berechtigt. So wird das Integritätsinteresse des K beim Grunderwerb ausreichend<br />
geschützt.
<strong>16</strong> Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Keine Entlastung durch B bzgl. des<br />
Vertretenmüssen der nachträglichen<br />
Pflichtverletzung<br />
III. Vertretenmüssen<br />
Weiterhin müsste B die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Dieses wird<br />
gem. § 280 I 2 BGB grundsätzlich vermutet.<br />
„[21] Von dem nach § 280 I 2 BGB vermuteten Vertretenmüssen kann sich<br />
die Beklagte schon deshalb nicht entlasten, weil sie selbst die sichtbehindernde<br />
Bebauung geplant und ausgeführt hat. Der von ihr behauptete<br />
Hinweis des Zeugen F, „dass auf der gegenüberliegenden Seite noch gebaut<br />
werde“, stellt - seine Richtigkeit unterstellt - weder eine ordnungsgemäße<br />
Aufklärung noch eine Äußerung dar, die das vermutete Verschulden der<br />
Beklagten entfallen lassen könnte.“<br />
B ist die weitere Bebauung im Rahmen des X-Projekts zuzurechnen. Er hat die<br />
Pflichtverletzung damit auch nach §§ 280 I 2, 276 I BGB zu vertreten.<br />
Rechtsfolge ist die Rückabwicklung<br />
des gesamten Vertrags<br />
Palandt/Grüneberg, BGB, § 280 Rn 32<br />
Zahlungsanspruch des K gegen B<br />
i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />
IV. Rechtsfolge<br />
Die vom Schuldner zu vertretene Pflichtverletzung begründet für den anderen<br />
Teil einen Schadensersatzanspruch, der sich auf alle unmittelbaren und mittelbaren<br />
Nachteile des schädigenden Verhaltens erstreckt. Ist infolge der<br />
Pflichtverletzung ein nachteiliger Vertrag über den Erwerb eines Gegenstands<br />
(Grundstück, Wohnung etc.) abgeschlossen worden, richtet sich der Anspruch<br />
auf Erstattung des aufgewendeten Betrags Zug um Zug gegen Übertragung<br />
des erworbenen Gegenstandes. Gleiches gilt, wenn der Vertrag - wie hier - erst<br />
durch eine nachträgliche Pflichtverletzung nachteilig wird.<br />
B. Ergebnis<br />
K steht somit gegen B ein Anspruch auf Rückzahlung des gezahlten Kaufpreises<br />
i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> € aus § 280 I BGB zu.<br />
FAZIT<br />
Üblicherweise wird auf den Erhalt der Aussicht bei Eigenheimen keine Rücksicht<br />
genommen. Vorliegend gilt jedoch zum einen wegen der Anpreisung<br />
im Verkaufsprospekt etwas anderes und zum anderen, weil der Bauträger<br />
selbst die Aussicht nachvertraglich verbaut hat. Der Käufer hat vorliegend<br />
erwarten können, dass von den Wohn- und Außenbereichen der erworbenen<br />
Eigentumswohnung ein unverbauter Blick auf die Frankfurter Skyline auch<br />
nach Gefahrübergang möglich ist. Mindestens durfte er die Vertragstreue des<br />
Bauträgers erwarten. Dass der Skyline-Blick als Beschaffenheit der Wohnung<br />
vereinbart wurde, folgt aus dem Verkaufsprospekt, in dem mit dem Begriff<br />
„Skyline“ prägend geworben wurde. Die Entscheidung ist deswegen interessant,<br />
weil sie eine Ausnahme zum üblichen Regelfall darstellt, ferner weil<br />
sie den Zusammenhang zwischen der Sachmängelhaftung und den sonstigen<br />
Treuepflichten des Vertrages deutlich aufzeigt.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Zivilrecht<br />
17<br />
Speziell für Referendare<br />
Problem: Örtliche Zuständigkeit bei Rückabwicklung<br />
Einordnung: Zivilprozessrecht, Kauf-Sachmangelrecht<br />
OLG Hamm, Urteil vom 20.10.2<strong>01</strong>5,<br />
28 U 91/15<br />
EINLEITUNG<br />
Im materiellen Recht wird seit Jahrzehnten über die Frage gestritten, ob im<br />
Falle eines Rücktritts vom Kaufvertrag sich der Leistungsort der herauszugebenden<br />
Sache beim Käufer oder beim Verkäufer befindet. -Die Entscheidung<br />
dieser Frage hat wiederum im Zivilprozessrecht zur Folge, wo der örtliche<br />
Gerichtsstand der Klage ist.. Schließlich möchte niemand reisen, der auch<br />
daheim klagen kann. Zur Frage des Erfüllungsortes gem. § 29 ZPO hat sich<br />
für den Fall des Rücktritts eine Standardrechtsprechung herausgebildet, die<br />
man für beide Examina unbedingt beherrschen muss. Die nachfolgend dargestellte<br />
Entscheidung des OLG Hamm stellt die wesentlichen Erwägungen<br />
dieser Rechtsprechung dar.<br />
TATBESTAND<br />
Die Parteien streiten über die Rückabwicklung eines Kaufvertrags über ein<br />
Gebrauchtfahrzeug vom Typ Saab 900 Cabriolet.<br />
Dieses Fahrzeug befand sich im Besitz des Beklagten, der in Q im Landgerichtsbezirk<br />
Potsdam wohnt. Er bot das Cabriolet im September 2<strong>01</strong>4 über<br />
das Internet zum Kauf an. Der Kläger, der in M im Landgerichtsbezirk Bielefeld<br />
wohnt, wurde auf das Inserat aufmerksam. Er nahm in Q eine Fahrzeugbesichtigung<br />
vor und einigte sich mit dem Beklagten darauf, das Cabriolet zum<br />
Preis von 5.650,- € zu kaufen. Nach entsprechender Barzahlung verbrachte der<br />
Kläger das Fahrzeug nach M.<br />
LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />
Bei der Rückabwicklung eines Autokaufs<br />
ist im Rahmen des § 29 I ZPO<br />
ein einheitlicher Gerichtsstand des<br />
Erfüllungsortes dort anzunehmen,<br />
wo sich das gekaufte Fahrzeug im<br />
Zeitpunkt der Rücktrittserklärung<br />
vertragsgemäß befindet.<br />
Einleitungssätze sind nicht immer<br />
erwünscht. Richten Sie sich nach<br />
dem Usus in Ihrem Gericht bzw.<br />
Bundesland.<br />
Dort fand der Kläger heraus, dass die im Kaufvertrag vom 07.09.2<strong>01</strong>4 angegebene<br />
Gesamtlaufleistung von 173.000 km unzutreffend war und das<br />
Fahrzeug tatsächlich eine erheblich höhere Laufleistung aufweist. Noch bevor<br />
er das Fahrzeug auf seinen Namen zugelassen hatte, erklärte er aus diesem<br />
Grund am 09.09.2<strong>01</strong>4 den Rücktritt vom Kaufvertrag. Er forderte den Beklagten<br />
auf, das Cabriolet bis zum 20.09.2<strong>01</strong>4 in M abzuholen.<br />
Der Beklagte verweigerte die Rückabwicklung des Kaufvertrags.<br />
Der Kläger behauptet, dem Beklagten sei bekannt gewesen, dass das Saab<br />
Cabriolet von der Ehefrau des Klägers habe genutzt werden sollen, also am<br />
Wohnsitz des Klägers.<br />
Der Kläger beantragt,<br />
1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 5.650,00 € Zug um Zug gegen Rücknahme<br />
des PKW Saab 900 Cabrio, Fahrzeugident.nr. ... zu zahlen.<br />
2. festzustellen, dass sich der Beklagte mit der Rücknahme des PKW Saab 900<br />
Cabriolet, amtliches Kennzeichen ..., Fahrzeugident.nr. ... wie auch der zugehörigen<br />
Fahrzeugpapiere in Annahmeverzug befindet.
18 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Die Rüge der Zuständigkeit sollten<br />
Sie in das jeweilige Beklagtenvorbringen<br />
im Indikativ Präsens<br />
aufnehmen.<br />
Rechtansichten nur im Ausnahmefall<br />
zitieren: wenn, wie hier, im Wesentlichen<br />
nur Rechtsfragen streitig sind.<br />
Das Bestreiten mit Nichtwissen muss<br />
unbedingt benannt werden, da es<br />
gem. § 138 IV ZPO nur in engen Voraussetzungen<br />
zulässig ist.<br />
Zulässigkeit der Klage<br />
§ 35 ZPO: Wahlrecht zwischen verschiedenen<br />
allgemeinen und besonderen<br />
Gerichtsständen<br />
BGH, Urteil vom 18.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>1, X ZR<br />
71/10<br />
Beim Vortrag zum Erfüllungsort<br />
handelt es sich um sog. „doppelrelevante<br />
Tatsachen“. Sofern es für<br />
die Zuständigkeit darauf ankommt,<br />
muss dieses nicht bewiesen, sondern<br />
nur schlüssig vorgetragen sein.<br />
Der Leistungsort richtet sich nach<br />
dem Parteiwillen oder nach den<br />
Begleitumständen, insbesondere<br />
der Natur des Schuldverhältnisses.<br />
Es müsste §§ 437 Nr.2, 440, 323, 346 I<br />
BGB heißen.<br />
Rückabwicklung nur Zug um Zug.<br />
In diesem Fall ist der Verkäufer verpflichtet,<br />
das Fahrzeug beim Käufer<br />
abzuholen.<br />
Der Beklagte beantragt,<br />
die Klage abzuweisen.<br />
Er rügt die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Bielefeld.<br />
Er ist der Rechtansicht, dass dort nicht der Gerichtsstand des Erfüllungsortes<br />
nach § 29 ZPO liege. Bei der Rückabwicklung eines Kaufvertrages könne nicht<br />
von einem einheitlichen Erfüllungsort am Belegenheitsort der gekauften<br />
Sache ausgegangen werden. Vielmehr seien die Leistungspflichten gem. § 269<br />
BGB grundsätzlich gesondert zu bestimmen. Der mutmaßliche Parteiwille sei<br />
nicht darauf ausgerichtet, dass die Kaufsache nach Übergabe an den Käufer an<br />
dessen Wohnsitz verbleibe.<br />
Der Beklagte bestreitet mit Nichtwissen, dass bei Vertragsschluss über eine<br />
relativ stationäre Verwendung des Saab Cabriolets am Wohnsitz des Klägers<br />
gesprochen worden sei. Das ergebe sich nicht aus dem Vertragstext.<br />
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das LG Bielefeld örtlich zuständig.<br />
Der Kläger konnte nämlich gem. § 35 ZPO nach seiner Wahl die Klage vor<br />
dem Landgericht Bielefeld erheben, weil dort der Gerichtsstand des Erfüllungsortes<br />
nach § 29 ZPO gegeben ist.<br />
Nach § 29 ZPO ist für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis auch das<br />
Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist.<br />
Der insofern maßgebliche Ort richtet sich nach dem materiellen Recht.<br />
Nach dem vom Kläger zur Klagebegründung vorgetragenen Sachverhalt steht<br />
ihm gegen den Beklagten ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreis von<br />
5.650,- € zu, weil er wirksam von dem Kaufvertrag über das Saab 900 Cabriolet<br />
zurückgetreten sei.<br />
„[21] Das materielle Recht enthält keine abschließende Regelung, an<br />
welchem Ort die hier streitige Verpflichtung zur Rückzahlung des Kaufpreises<br />
zu erfüllen ist. Abzustellen ist vielmehr auf § 269 I BGB. Danach<br />
richtet sich der Ort für die Leistung nach der von den Parteien getroffenen<br />
Bestimmung oder nach den Begleitumständen, die sich insbesondere<br />
aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben. Wenn sich<br />
insoweit keine Feststellungen treffen lassen, bildet der Wohnsitz des Verkäufers,<br />
der vermeintlich die Rückzahlung des Kaufpreises schuldet, den<br />
maßgeblichen Leistungsort.<br />
[22] Die Parteien haben bei Abschluss des Kaufvertrages zwar keine ausdrückliche<br />
Bestimmung getroffen, wie im Falle der Rückabwicklung des<br />
Vertrages zu verfahren sei. Ihnen kann allerdings der mutmaßliche Wille<br />
unterstellt werden, dies nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen<br />
zu tun. Dabei ergibt sich aus §§ 346, 434, 440, 434, 433 BGB, dass<br />
der Käufer selbst bei wirksamer Ausübung des gesetzlichen Rücktrittsrechts<br />
keinen uneingeschränkten Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises<br />
hat, sondern dass dieser Anspruch vom Verkäufer nur Zug um Zug<br />
gegen Rückgabe und Rückübereignung der Kaufsache zu erfüllen ist.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Zivilrecht<br />
19<br />
[24] Wenn man vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass hier nach<br />
einem wirksamen Rücktritt die ausgetauschten Leistungen Zug um Zug<br />
rückabzuwickeln sind, dann steht wiederum rechtlich außer Frage, dass<br />
der Beklagte als Verkäufer verpflichtet ist, das - unterstellt: - mangelhafte<br />
Fahrzeug bei dem Kläger in M abzuholen. Nach der Vorstellung des<br />
Gesetzgebers soll der Verkäufer dann auch bei dieser Gelegenheit der<br />
Fahrzeugabholung Zug um Zug seine Verpflichtung zur Rückzahlung<br />
des Kaufpreises erfüllen.<br />
Für die vorherrschende Auffassung:<br />
OLG München, Urteil vom 13.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>4,<br />
19 U 3721/13 und Palandt-Grüneberg,<br />
BGB, § 269, Rn <strong>16</strong><br />
[25] Dieses mutmaßlich auch von den Parteien so gewollte Prozedere spricht<br />
dafür, bei der Rückabwicklung eines Autokaufs im Rahmen des § 29 I<br />
ZPO einen einheitlichen Gerichtsstand des Erfüllungsortes dort anzunehmen,<br />
wo sich das gekaufte Fahrzeug im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung<br />
vertragsgemäß befindet - nämlich regelmäßig am Wohnsitz des<br />
Käufers. Dies entspricht zu Recht der vorherrschenden Auffassung.“<br />
Dabei ist als unstreitig zu unterstellen, dass die Ehefrau des Klägers das<br />
Fahrzeug in M nutzen sollte. Dies hat der Beklagte nicht wirksam mit Nichtwissen<br />
bestritten. Denn nach § 138 IV ZPO können nur solche Tatsachen mit<br />
Nichtwissen bestritten werden, die nicht Gegenstand der Wahrnehmung<br />
einer Partei gewesen sein können. Dies ist für Bestandteile der Vertragsverhandlungen<br />
nicht der Fall.<br />
Für die abweichende Rechtsansicht des Beklagten, der Gerichtsstand des<br />
Erfüllungsortes liege an seinem Wohnsitz in Q, lassen sich dagegen keine tragfähigen<br />
Umstände anführen:<br />
„[26] Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch die nach § 439<br />
BGB vom Verkäufer vorrangig geschuldete Nacherfüllung grundsätzlich<br />
an dessen Betriebs- oder Wohnsitz vorzunehmen ist. Das lässt aber<br />
nicht den Rückschluss zu, dass dort auch die spätere Rückabwicklung<br />
des Kaufvertrages zu erfolgen hat. Vielmehr wird sich im Gegenteil das<br />
Scheitern der Nacherfüllung als Rücktrittsvoraussetzungen in der Regel erst<br />
dann feststellen lassen, wenn der Käufer das Fahrzeug im Anschluss an den<br />
Nacherfüllungsversuch wieder zur bestimmungsgemäßen Verwendung<br />
zurückerhalten hat.“<br />
Der Klageantrag zu 1. ist auch begründet.<br />
Der Kläger kann Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe<br />
des Fahrzeugs verlangen, § 346 I BGB, da er wirksam ein ihm nach den §§ 437<br />
Nr. 2, 434 I 1, 326 V BGB zustehendes Rücktrittsrecht ausgeübt hat. Das verkaufte<br />
Fahrzeug weist einen Mangel im Sinne des § 434 I 1 BGB auf, da es mit<br />
der höheren Laufleistung nicht die vereinbarte Beschaffenheit aufweist.<br />
Dies ist zwischen den Parteien auch unstreitig, da es der Beklagte nicht<br />
bestritten hat. Einer Nachfristsetzung seitens des Klägers bedurfte es gem.<br />
§ 326 V BGB nicht, da der Mangel nicht behebbar ist. Zurückzugewähren ist<br />
nach § 346 I BGB der vom Kläger entrichtete Kaufpreis.<br />
Auch der Klageantrag zu 2. ist zulässig.<br />
Das nach § 256 I ZPO für die Feststellungsklage erforderliche besondere Feststellungsinteresse<br />
liegt vor. Es ergibt sich daraus, dass der Kläger bei der<br />
§ 138 IV ZPO: Man kann nur das mit<br />
Nichtwissen bestreiten, was man<br />
nicht wissen kann!<br />
Erfüllungsort der Nacherfüllung ist<br />
nicht automatisch der Erfüllungsort<br />
der Rückabwicklung,<br />
BGH, Urteil vom 18.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>1, X ZR<br />
71/10<br />
Begründetheit der Klage: Voraussetzungen<br />
des wirksamen Rücktritts<br />
vom Kaufvertrag<br />
Das Feststellungsinteresse ergibt<br />
sich hier aus der gem. § 756 I ZPO<br />
erleichterten Vollstreckung aus dem<br />
Zug-um-Zug-Urteil zum Klageantrag<br />
zu 1.
20 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Vollstreckung aus dem Klageantrag zu 1. gem. § 756 I ZPO zunächst die<br />
Gegenleistung angeboten haben muss. Kann der Kläger als Vollstreckungsgläubiger<br />
durch öffentliche Urkunde, wozu insbesondere ein entsprechender<br />
feststellender Urteilstenor zählt, beweisen, dass sich der Vollstreckungsgegner<br />
mit der Annahme der Leistung im Gläubigerverzug befindet, darf<br />
der Kläger nach dieser Regelung sofort vollstrecken.<br />
Der Antrag ist begründet, wenn die<br />
Voraussetzungen des Gläubigerverzugs<br />
vorliegen.<br />
Für die Vollstreckbarkeit müssen Sie<br />
das Urteil als Ganzes betrachten.<br />
Der Antrag ist auch begründet.<br />
Der Beklagte, der die Rücknahme des Zug um Zug zurück zugewährenden<br />
Fahrzeugs verweigert hat, befindet sich in Annahmeverzug nach § 293 BGB.<br />
Der Kläger hat die Leistung dem Beklagten auch gem. § 294 BGB so angeboten,<br />
wie sie zu bewirken war. Der Erfüllungsort für die Nacherfüllung liegt,<br />
beim Kläger.Deshalb durfte der Kläger den Beklagten dazu auffordern, das<br />
Fahrzeug in M abzuholen.<br />
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen<br />
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 1, 2 ZPO. Auch wenn der Antrag<br />
zu 2. als Feststellungsantrag selbst nicht vollstreckbar ist, sondern lediglich<br />
die sich darauf beziehenden Kosten, ist § 708 Nr. 11 ZPO nicht anwendbar,<br />
da hierfür aus dem gesamten Urteil nur Kosten von nicht mehr als 1.500,- €<br />
für vollstreckbar erklärt sein dürfen.<br />
FAZIT<br />
Diese Entscheidung kann als Vorlage für jeden Klausurtyp im Assessorexamen<br />
dienen, denn sie beinhaltet einige zivilprozessuale Klassiker, die man im<br />
Examen in jedem Fall beherrschen muss: Neben der aktuellen Frage, wo der<br />
Erfüllungsort der Rückabwicklung ist, ist die Wirksamkeit eines Bestreitens<br />
mit Nichtwissen gem. § 138 IV ZPO zu beurteilen. Auch der Feststellungsantrag<br />
hinsichtlich des Gläubigerverzugs mit der Annahme der Zug um Zug<br />
zu gewährenden Gegenleistung zählt zum Standardrepertoire.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Zivilrecht<br />
21<br />
Problem: Bereicherungsausgleich bei<br />
Insolvenzanfechtung<br />
Einordnung: Insolvenzanfechtung, Bereicherungsrecht<br />
OLG München, Urteil vom 26.03.2<strong>01</strong>5<br />
24 U 3722/14<br />
EINLEITUNG<br />
Die nachfolgende Entscheidung befasst sich mit dem komplizierten Recht der<br />
Insolvenzanfechtung. Ein Inkassounternehmen hatte für das insolvente Unternehmen<br />
Beträge vereinnahmt und selektiv direkt an einzelne Gläubiger abgeführt.<br />
Dies warf im Prozess die Frage auf, ob es nach der Insolvenzanfechtung<br />
Geld an die Masse zurückgewähren muss. Besonders examensrelevant ist die<br />
Verknüpfung der §§ 129 ff. InsO mit dem Bereicherungsrecht.<br />
TATBESTAND<br />
Die Klägerin macht Ansprüche aus Insolvenzanfechtung gegen die Beklagten<br />
geltend, die Mitglieder einer Anwaltssozietät in Form einer GbR sind.<br />
Die Josef H. GmbH & Co. Parkettgeschäft KG (im Folgenden: Schuldnerin) hatte<br />
seit dem 05.05.2009 nach Pfändungsmaßnahmen kein liquides Bankvermögen<br />
mehr. Der Kassenbestand betrug maximal 1.000,- €. Im Juni 2009 kündigte die<br />
Vermieterin der Schuldnerin das Mietverhältnis über die Geschäftsräume. In<br />
der Folgezeit zahlte die Schuldnerin weder die Mieten noch das Arbeitsentgelt<br />
für ihre Arbeitnehmer. Spä<strong>test</strong>ens im September 2009 beauftragte der Zeuge<br />
L. als Betriebsleiter der Schuldnerin den Beklagten zu 1) damit, Außenstände<br />
in Höhe von 189.810,99 € für die Klägerin einzuziehen, daneben beriet der<br />
Beklagte zu 1) den Zeugen L. hinsichtlich der Kündigung der Arbeitnehmer.<br />
LEITSÄTZE<br />
1. Es stellt eine vorsätzliche Benachteiligung<br />
nach § 133 Abs. 1<br />
InsO dar, wenn der bereits zahlungsunfähige<br />
Schuldner einen<br />
Rechtsanwalt mit der Einziehung<br />
von Außenständen beauftragt<br />
und ihn anweist, eingehende<br />
Beträge direkt vom Rechtsanwalts-<br />
Anderkonto an ausgewählte<br />
Gläubiger auszuzahlen.(Rn.13)<br />
2. Der als anderer Teil nach §§ 133<br />
Abs. 1, 143 Abs. 2 InsO der Haftung<br />
unterliegende Rechtsanwalt kann<br />
sich nicht auf die Entreicherung<br />
infolge der Auszahlung an Gläubiger<br />
berufen, wenn er Kenntnis<br />
vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />
des Schuldners hatte. Ein<br />
Rechtsanwalt, der den Forderungseinzug<br />
übernommen hat, stellt<br />
nicht lediglich eine Zahlstelle im<br />
Sinn des Urteils des BGH vom<br />
26. April 2<strong>01</strong>2, IX ZR 74/11, BGHZ<br />
193, 129 dar (Rn.24, 37)<br />
Zwischen dem 04.11. und dem 23.12.2009 gelang es dem Beklagten zu 1),<br />
Außenstände in Höhe von 11.379,65 € einzuziehen, von denen er aufgrund<br />
einer Weisung des L. 8.540,54 € direkt an drei Gläubiger der Schuldnerin, darunter<br />
L. selbst, auszahlte. Gegen die restliche Forderung von 2.839,11 € erklärten<br />
die Beklagten mit Schreiben vom 14.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>0 vereinbarungsgemäß die Aufrechnung<br />
mit ihren Honoraransprüchen. Aufgrund von Insolvenzanträgen<br />
vom 27.<strong>01</strong>., 04.02. und 06.07.2<strong>01</strong>0 eröffnete das AG Düsseldorf am 28.04.2<strong>01</strong>1<br />
das Insolvenzverfahren und bestellte die Klägerin zur Insolvenzverwalterin.<br />
Mit Schreiben vom … hat die Klägerin gegenüber den Beklagten die Insolvenzanfechtung<br />
über die eingezogenen Beträge von 11.379,65 € erklärt und die<br />
Beklagten erfolglos zur Rückzahlung aufgefordert.<br />
Der Kläger beantragt,<br />
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 11.379,65 € zu zahlen.<br />
Die Beklagten beantragen,<br />
die Klage abzuweisen.<br />
Sie meinen, die Verfügungsmöglichkeit der Beklagte bedeute nicht, dass<br />
sie etwas „erlangt“ hätten. Nur die Anweisung des Betriebsleiters L. zur Auszahlung<br />
des Fremdguthabens an die Gläubiger sei anfechtbar. Damit habe<br />
die Schuldnerin über den Auszahlungsanspruch gegen die Beklagten verfügt.<br />
Hier entfällt das klägerische Vorbringen,<br />
da keine Tatsachen, sondern<br />
lediglich Rechtsfragen streitig<br />
sind.<br />
Hier sollte man die Rechtsauffassung<br />
der Beklagten darstellen, da<br />
das Urteil dieser gerade nicht folgt.
22 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Die Beklagten seien aufgrund ihrer Stellung als Treuhänder zur Erfüllung der<br />
Weisung der Schuldnerin verpflichtet gewesen. Ihre Stellung sei mit der eines<br />
Kreditinstituts vergleichbar.<br />
Zur Zulässigkeit sollten Sie hier<br />
nichts schreiben, da diese unproblematisch<br />
ist.<br />
Erste Tatbestandsvoraussetzungen<br />
der Insolvenzanfechtung aus<br />
§ 129 InsO: Rechtshandlung des<br />
Schuldners, welche die Gläubiger<br />
benachteiligt<br />
Die Beauftragung eines Inkassos<br />
ist grundsätzlich nicht gläubigerbenachteiligend.<br />
Hier aber ausnahmsweise doch: aufgrund<br />
der Anweisung, nur einzelne<br />
Gläubiger zu befriedigen.<br />
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />
Die zulässige Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht aufgrund der wirksamen<br />
Insolvenzanfechtung gegenüber den Beklagten aus §§ 133 I, 143 I, 819 I,<br />
818 IV, 292, 989 BGB der geltend gemachte Rückzahlungsanspruch zu.<br />
„[13] Die Schuldnerin hat durch ihren Betriebsleiter L. im September 2009<br />
die Beklagten mit der Einziehung von Außenständen beauftragt und die<br />
Beklagten angewiesen, eingehende Geldbeträge direkt an einzelne Gläubiger<br />
auszubezahlen. Hierin liegt eine Rechtshandlung der Schuldnerin<br />
vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die die Insolvenzgläubiger<br />
benachteiligt, § 129 I InsO. Die Schuldnerin hat ihre Forderungen,<br />
die sich in Höhe von 11.379,65 € als werthaltig erwiesen, den Beklagten<br />
zum Inkasso übertragen. Grundsätzlich liegt in einer Inkassotätigkeit<br />
keine Gläubigerbenachteiligung, da der Herausgabeanspruch aus dem<br />
Treuhandverhältnis zwischen der Schuldnerin und den Beklagten aus<br />
§§ 675, 667 BGB ein gleichwertiges Surrogat für die einzukassierenden<br />
Forderungen darstellen würde. Der Anspruch der Schuldnerin gegen die<br />
Beklagten würde nämlich der Masse im Fall einer Insolvenzeröffnung in<br />
gleicher Weise zur Verfügung stehen wie vorher die Ansprüche gegen die<br />
verschiedenen Schuldner der Forderungen. Diese Gleichwertigkeit fehlt<br />
jedoch aufgrund der gleichzeitig gegebenen Anweisung der Schuldnerin<br />
an die Beklagten, aus den eingezogenen auf das Anderkonto verbuchten<br />
Geldbeträgen direkt die Forderungen einzelner Gläubiger zu<br />
erfüllen. Aufgrund dieser Anweisung drohte von Anfang an, dass die Geldbeträge<br />
innerhalb kurzer Zeit wieder aus dem Anderkonto verschwinden<br />
und der Insolvenzmasse nicht mehr zur Verfügung stehen.“<br />
Auch die Voraussetzungen einer Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung<br />
nach § 133 I InsO liegen vor.<br />
Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung<br />
nach § 133 I InsO: Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />
der Insolvenzschuldnerin<br />
Diesen bestimmt der BGH anhand<br />
einer Vermutung aufgrund der Zahlungsunfähigkeit,<br />
BGH, Urteil vom<br />
27.05.2003, IX ZR <strong>16</strong>9/02<br />
Definition der Zahlungsunfähigkeit<br />
gem. § 17 InsO: Nicht eine bloß geringfügige<br />
Liquiditätslücke, sondern 10 %<br />
oder mehr<br />
Die Zahlungsunfähigkeit kann auch<br />
anhand von Indizien festgestellt<br />
werden.<br />
„[15] a) Der Betriebsleiter L. der Schuldnerin handelte mit Benachteiligungsvorsatz,<br />
da die Schuldnerin zur Zeit der Erteilung des Inkassoauftrags<br />
bereits zahlungsunfähig war. Der Bundesgerichtshof geht in der Regel<br />
davon aus, dass der Schuldner die angefochtenen Rechtshandlungen<br />
mit Benachteiligungsvorsatz vorgenommen hat, wenn er zur Zeit ihrer<br />
Wirksamkeit (§ 140 InsO) zahlungsunfähig war. Der Schuldner ist nach<br />
§ 17 II 1 InsO zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen<br />
Zahlungspflichten zu erfüllen. Nach der Grundsatzentscheidung des BGH<br />
im Urteil vom 24. Mai 2005 - IX ZR 123/04 -, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit<br />
auszugehen, wenn die Liquiditätslücke des Schuldners<br />
10% oder mehr beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit<br />
grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke<br />
demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und<br />
den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls<br />
zuzumuten ist. Derartige Feststellungen hat das Landgericht nicht<br />
getroffen; sie sind auch nicht erforderlich, da die Zahlungsunfähigkeit<br />
auch durch andere Indizien festgestellt werden kann, wie der Schließung<br />
des Geschäftslokals, Lastschriftrückgaben, Kündigungen von Krediten,<br />
größere Anzahl von Mahn- und Vollstreckungsbescheiden, Nichtabführung
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Zivilrecht<br />
23<br />
von Steuern und Sozialabgaben, Zahlungsrückständen bei Löhnen oder<br />
betriebsnotwendigen Leistungen (ebenda, Rn. 43). Derartige Umstände<br />
lagen vor, so dass die Schuldnerin nach den Feststellungen des Landgerichts<br />
am 05.05.2009, spä<strong>test</strong>ens aber bei der Erteilung des Inkassoauftrags<br />
im September 2009 zahlungsunfähig war:“<br />
Unstreitig waren nach einer Pfändung durch das Finanzamt seit dem 05.05.2009<br />
sämtliche Bankkonten der Schuldnerin gesperrt. Infolgedessen kam es zu verschiedenen<br />
Lastschrift-Rückgaben.<br />
Es bestand ein Mietrückstand. Das Mietverhältnis über die Geschäftsräume<br />
der Schuldnerin ist unstreitig im Juni 2009 gekündigt worden. Barmittel waren<br />
maximal in Höhe von 1.000,- € vorhanden.<br />
Drei Mitarbeiter sowie der frühere Geschäftsführer hatten Versäumnisurteile<br />
über zusammen 14.178,22 € sowie 6.026,59 € für ausstehendes Gehalt erwirkt.<br />
Dem Zeugen L. stellte sich die Schuldnerin als ein nicht mehr tätiges Unternehmen<br />
dar, das weder seine Arbeitnehmer noch Schulden beim Finanzamt<br />
und den Krankenkassen bedienen konnte. Der Zeuge L. hatte damit von<br />
den Umständen Kenntnis, die die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin<br />
begründeten.<br />
Die Beklagte haften als „anderer Teil“ i.S.v. § 133 I 1 InsO im Rahmen der<br />
Vorsatzanfechtung.<br />
Zwar haben die Beklagten mit Ausnahme des Anwaltshonorars in Höhe von<br />
2.839,11 €, das sie durch Verrechnung mit dem Restbestand auf dem Anderkonto<br />
eingezogen haben, nichts erlangt. Nach der Rechtsprechung des BGH<br />
kommt jedoch auch die Vorsatzanfechtung gegen den Angewiesenen in<br />
Betracht, wenn der spätere Insolvenzschuldner ihn mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />
veranlasst, unmittelbar an seinen Gläubiger zu bezahlen.<br />
Die Beklagten haben in kritischer Zeit Vermögensgegenstände der Schuldnerin<br />
erworben, indem sie das Inkasso der Außenstände übernommen und<br />
vereinbart haben, die vereinnahmten Beträge nicht an die Schuldnerin,<br />
sondern an deren Gläubiger auszuzahlen.<br />
Der für die Beklagten handelnde Beklagte zu 1) hatte dabei Kenntnis vom<br />
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des für die Schuldnerin handelnden<br />
Betriebsleiters L.<br />
Der Beklagte zu 1) wusste schon seit der Auftragserteilung, dass der Schuldnerin<br />
keine Konten mehr zur Verfügung standen. Deshalb hatte L. ihn gebeten,<br />
das „Forderungsmanagement“ zu übernehmen. Allein aus diesem Umstand<br />
musste sich dem Beklagten zu 1) aufdrängen, dass sich die Schuldnerin in<br />
einer ernsten Krise befand. Es ist völlig ungewöhnlich, wenn ein Unternehmen<br />
in Deutschland über kein einziges Bankkonto mehr verfügt.<br />
Er wusste zudem, dass bereits zwei ausgeschiedene und ein aktueller Arbeitnehmer<br />
Versäumnisurteile wegen ausstehender Gehälter gegen die Schuldnerin<br />
erwirkt hatten. Er kannte die Klageschriften und die Versäumnisurteile,<br />
nach seinem Vortrag aber nicht die Gründe für die Nichtzahlung der Gehälter.<br />
Darstellung und Subsumtion der<br />
verschiedenen Indizien für eine<br />
Zahlungsunfähigkeit<br />
Von diesen hatte auch der relevante<br />
Mitarbeiter der Schuldnerin<br />
Kenntnis.<br />
Aus der Vorsatzanfechtung haftet<br />
„der andere Teil“. Nach § 143 InsO<br />
ist das, was aus dem Schuldnervermögen<br />
weggegeben wurde,<br />
zurückzugewähren.<br />
Es haftet auch der Angewiesene aus<br />
der Vorsatzanfechtung,<br />
BGH, Urteil vom 29.11.2007, IX ZR<br />
121/06.<br />
Auch der für die Beklagten handelnde<br />
Rechtsanwalt hatte Kenntnis vom<br />
Gläubigerbenachteiligungsvorsatz.<br />
Die Beklagten können gegen die Haftung nicht einwenden, dass sie als Rechtsanwälte<br />
als uneigennützige Treuhänder für die Schuldnerin gehandelt<br />
haben und an die entsprechende Weisung des Betriebsleiters L. gebunden<br />
waren, die eingezogenen Beträge direkt an Gläubiger auszuzahlen.
24 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Die Beklagten sind nicht als uneigennützige<br />
Treuhänder von der Haftung<br />
frei, da sie die Beträge weisungsgemäß<br />
an privilegierte Gläubiger der<br />
Schuldnerin weitergeleitet haben.<br />
Lesenswert dazu auch:<br />
BGH, Urteile vom 26.04.2<strong>01</strong>2, IX ZR<br />
74/11 und 24.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>3, IX ZR 11/12<br />
Für die Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung<br />
verweist § 143 InsO<br />
auf die Rechtsfolgen des Bereicherungsrechts.<br />
Auf Entreicherung kann sich der<br />
andere Teil jedoch gerade bei der<br />
Vorsatzanfechtung kaum berufen.<br />
Beklagten ihrerseits können nach<br />
dem Gesamtschuldnerausgleich<br />
Rückgriff nehmen.<br />
Ein uneigennütziger Treuhänder unterliegt der Vorsatzanfechtung, wenn<br />
er nach Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ihm überlassene<br />
Geldbeträge vereinbarungsgemäß an bestimmte, bevorzugt zu befriedigende<br />
Gläubiger des Schuldners weiterleitet.<br />
Zwar handelt es sich bei den Beklagten um Angehörige rechtsberatender<br />
Berufe, die grundsätzlich an die Weisungen ihrer Mandanten gebunden sind.<br />
Diese Weisungen sind jedoch nicht verbindlich, wenn ihre Befolgung gegen<br />
das Recht verstößt oder - wie vorliegend - ein kollusives Zusammenwirken<br />
zum Nachteil anderer Gläubiger beinhaltet.<br />
Aufgrund der Kenntnis des Beklagten zu 1) von der drohenden Zahlungsunfähigkeit<br />
haften die Beklagten nach §§ 143 I InsO, 819 I, 818 IV, 292, 989 BGB.<br />
Sie können sich daher hinsichtlich der an andere Gläubiger ausgezahlten<br />
8.540,54 € nicht auf Entreicherung berufen. Den Beklagten steht insoweit<br />
ein Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gemäß § 426 I BGB gegen<br />
die Gläubiger zu, die als Empfänger der Zahlungen nach §§ 130, 131 InsO der<br />
Deckungsanfechtung unterliegen, deren Voraussetzungen aufgrund des Zahlungszeitpunkts<br />
weniger als drei Monaten vor Stellung des Insolvenzantrags<br />
nahe liegen. Jedenfalls hinsichtlich des Gläubigers L. dürften auch hinsichtlich<br />
des subjektiven Tatbestands keine Zweifel bestehen.<br />
Hinsichtlich der eigenen Honorarforderung der Beklagten in Höhe von<br />
2.839,11 € fehlt es schon an einer Entreicherung. Insoweit liegen - selbst<br />
wenn man von einer kongruenten Deckung ausgeht - die Voraussetzungen<br />
für eine Deckungsanfechtung nach § 130 I 1 Nr. 1 InsO aufgrund der Kenntnis<br />
des Beklagten zu 1) von der Zahlungsunfähigkeit einen Tag vor der Stellung<br />
des Insolvenzantrags durch das Finanzamt vor.<br />
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 I 1, 709 S. 1, 2 ZPO.<br />
FAZIT<br />
Aus mehreren Gründen ist diese Entscheidung ein heißer Tipp für das Examen.<br />
Weil das Anfechtungsrecht novelliert werden soll, könnten die Landesjustizprüfungämter<br />
die noch in den Schubladen vorhandenen Klausuren zur Insolvenzanfechtung<br />
stellen. Ferner sind Fragen zur Zahlungsunfähigkeit und zur<br />
vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung Klassiker, die auch in Zukunft die<br />
Gerichte beschäftigen werden. Folglich werden sie auch Themen des Assessorexamens<br />
bleiben.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Nebengebiete<br />
25<br />
NEBENGEBIETE<br />
Handelsrecht<br />
Problem: Sekundäre Unrichtigkeit des Handelsregisters<br />
Einordnung: Handelsrecht, Eintragung in das Handelsregister<br />
OLG Köln, Beschluss vom 03.06.2<strong>01</strong>5<br />
2 Wx 117/15 (MDR 2<strong>01</strong>5, 903)<br />
EINLEITUNG<br />
§ 15 HGB gehört zu den zentralen prüfungsrelevanten Normen des Handelsrechts.<br />
Hierbei liegt der Schwerpunkt bei Abs. 1.Diese Norm regelt die<br />
Frage, welche Rechtsfolgen es hat, wenn eine eintragungspflichtige – für die<br />
Änderung der Rechtslage aber nicht konstitutive – Tatsache nicht eingetragen<br />
und bekanntgemacht wird.<br />
Mit „sekundärer Unrichtigkeit“ des Handelsregisters wird der Fall beschrieben,<br />
dass z.B. weder der Ein- noch der Austritt eines Gesellschafters eingetragen<br />
dies. Dies führt zu der Frage, ob § 15 I HGB auf diesen Fall überhaupt anwendbar<br />
ist.<br />
Vorliegend war ein GmbH-Geschäftsführer nicht eingetragen. Das Registergericht<br />
verweigerte deshalb die Eintragung, dass er nicht mehr Geschäftsführer<br />
sei.<br />
SACHVERHALT<br />
Die Beteiligte zu 2. ist im Handelsregister des Amtsgerichts Köln unter HRB 5...5<br />
verzeichnet; die Beteiligte zu 1. ist als deren einzelvertretungsberechtigte<br />
Geschäftsführerin eingetragen.<br />
Am 02.02.2<strong>01</strong>5 hat die Beteiligte zu 1. über ihre Verfahrensbevollmächtigte<br />
dem Amtsgericht – Registergericht – Köln elektronisch einen Gesellschafterbeschluss<br />
vom 19.12.2<strong>01</strong>4 übermittelt, wonach u.a. Herrn T nicht mehr<br />
Geschäftsführer sei, und diese Tatsache zur Eintragung in das Handelsregister<br />
angemeldet (Ziff. 2. der Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5). Ausweislich eines ebenfalls<br />
beigefügten weiteren Gesellschafterbeschlusses war Herr T 12.08.2<strong>01</strong>4<br />
zum Geschäftsführer bestellt worden, eine entsprechende Anmeldung zur<br />
Eintragung im Handelsregister ist indes nicht erfolgt.<br />
LEITSATZ<br />
Das Amtsgericht wird angewiesen,<br />
den Vollzug von Punkt 2. der<br />
Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 nicht<br />
wegen der fehlenden Voreintragung<br />
des Herrn T als Geschäftsführer<br />
abzulehnen.<br />
Das Registergericht hat mit Beschluss vom 13.03.2<strong>01</strong>5, erlassen am <strong>16</strong>.03.2<strong>01</strong>5,<br />
den Antrag auf Vollzug von Punkt 2. der Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 zurückgewiesen.<br />
Da Herr T derzeit nicht als Geschäftsführer eingetragen sei, komme<br />
auch die Eintragung seines Ausscheidens nicht in Betracht; hierdurch würde<br />
nämlich zum Ausdruck gebracht, dass er zuvor Geschäftsführer gewesen sei.<br />
Dies könne indes vom Registergericht nicht mehr überprüft werden – insbesondere<br />
deshalb, weil die nach §§ 39 III, 6 II GmbHG erforderliche Versicherung<br />
nicht eingereicht worden sei.<br />
Gegen diesen ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 25.03.2<strong>01</strong>5 zugestellten<br />
Beschluss haben die Beteiligten mit Schriftsatz vom 20.04.2<strong>01</strong>5, bei Gericht am<br />
27.04.2<strong>01</strong>5 eingegangen, Beschwerde eingelegt. Das Amtsgericht hat dieser<br />
Beschwerde mit Beschluss vom 29.04.2<strong>01</strong>5, erlassen am 30.04.2<strong>01</strong>5, nicht<br />
abgeholfen und sie dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt.
26 Nebengebiete <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
LÖSUNG<br />
1. Die vorliegende Beschwerde ist gemäß § 58 I FamFG statthaft und auch im<br />
Übrigen zulässig.<br />
Das Rechtsmittel ist nach Maßgabe der §§ 63 I, III, 64 II 1 FamFG form- und<br />
fristgerecht eingelegt worden. (...)<br />
Schließlich sind auch beide Beteiligte im Sinne des § 59 FamFG beschwerdeberechtigt.<br />
(...)<br />
2. Die Beschwerde ist auch begründet; die vom Registergericht geäußerten<br />
Bedenken stehen der beantragten Eintragung nicht entgegen.<br />
„[9] Gemäß § 39 I GmbHG ist jede Änderung in den Personen der<br />
Geschäftsführer sowie die Beendigung der Vertretungsbefugnis eines<br />
Geschäftsführers zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Zu<br />
den danach anmeldepflichtigen Tatsachen zählt neben der Neubestellung<br />
von Geschäftsführern insbesondere auch die Beendigung des Geschäftsführeramtes,<br />
sei es durch Abberufung oder durch Amtsniederlegung. Die<br />
Eintragungspflicht für eine Amtsbeendigung entfällt nach herrschender<br />
Auffassung auch nicht etwa deshalb, weil schon die Bestellung nicht eingetragen<br />
worden war (...).<br />
[10] Dem schließt sich der Senat an. Die Eintragung der nach § 39 I GmbHG<br />
anmeldungspflichtigen Tatsachen hat grundsätzlich keine konstitutive<br />
Wirkung für die durch sie bekundeten Rechtsvorgänge (...). Sofern also der<br />
Bestellung eines GmbH-Geschäftsführers nicht anderweitige Hindernisse<br />
entgegenstehen, ist diese auch dann wirksam, wenn sie nicht im Handelsregister<br />
eingetragen ist. Dementsprechend führt auch die Abberufung eines<br />
nicht voreingetragenen Geschäftsführers – jedenfalls im Regelfall – zu einer<br />
Änderung in der Person der Geschäftsführer im Sinne des § 39 I GmbHG.<br />
[11] Vor allem aber beruht die dargestellte Auffassung wesentlich auf der<br />
auch vom Senat geteilten Erwägung, dass die Gesellschaft im Hinblick auf<br />
§ 15 I HGB ein erhebliches Interesse daran hat, das Wiederausscheiden<br />
des Geschäftsführers eintragen zu lassen. Ihr droht nämlich bei fehlender<br />
Eintragung der Amtsbeendigung auch dann eine Rechtsscheinhaftung<br />
aus § 15 I HGB, wenn schon die Bestellung nicht eingetragen worden war<br />
(...). Denn nach § 15 I HGB wird ein gutgläubiger Dritter gegen die Folgen<br />
nicht eingetragener Tatsachen auch dann geschützt, wenn die gebotene<br />
Voreintragung unterblieben ist (BGHZ 1<strong>16</strong>, 37, 44; Baumbach/Hopt, HGB,<br />
36. Aufl. 2<strong>01</strong>4, § 15 Rdn. 11). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass<br />
der Dritte auf andere Weise als durch das Handelsregister von der – dort<br />
nicht eingetragenen – Tatsache erfahren haben kann; er kann auf deren<br />
Fortbestand vertrauen, solange ihr Wegfall nicht entsprechend der Eintragungspflicht<br />
im Handelsregister kenntlich gemacht worden ist (BGHZ<br />
1<strong>16</strong>, 37, 44). Die Gesellschaft kann demnach einem Dritten die Abberufung<br />
eines Geschäftsführers unabhängig von dessen Voreintragung nur dann<br />
entgegenhalten, wenn die Abberufung entweder in das Handelsregister<br />
eingetragen und bekanntgemacht wurde oder dem Dritten positiv bekannt<br />
war. Vor diesem Hintergrund muss es möglich sein, die Abberufung ohne<br />
Rücksicht auf die Voreintragung einzutragen.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Nebengebiete<br />
27<br />
[12] Dementsprechend handelt es sich auch bei der Abberufung des Herrn<br />
T gemäß Gesellschafterbeschluss vom 19.12.2<strong>01</strong>4 um eine Tatsache, die<br />
nach § 39 I GmbHG anmeldepflichtig ist. Soweit das Registergericht die<br />
Eintragung gleichwohl im Hinblick auf den damit verbundenen Aussagegehalt<br />
für unzulässig hält, teilt der Senat diese Bedenken, die – soweit<br />
ersichtlich – auch in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht geäußert<br />
worden sind, nicht. Mit der Eintragung der Amtsbeendigung des Herrn T<br />
wird nämlich nicht zugleich register-rechtlich verlautbart, dass und insbesondere<br />
für welchen Zeitraum Herr T zuvor Geschäftsführer gewesen<br />
ist. Zwar mag die Beendigung des Geschäftsführeramtes gedanklich voraussetzen,<br />
dass der Geschäftsführer dieses Amt zuvor jedenfalls für eine<br />
logische Sekunde innehatte; hierbei handelt es sich aber nur um eine mittelbare<br />
Schlussfolgerung, die insbesondere nicht an den Rechtswirkungen<br />
des § 15 HGB teilnimmt. Vor diesem Hintergrund wird mit der beantragten<br />
Eintragung lediglich verlautbart, dass Herr T ( jedenfalls) jetzt nicht mehr<br />
Geschäftsführer ist – nicht aber, dass er es jemals gewesen sei.“<br />
FALLUMSETZUNG<br />
SACHVERHALT<br />
K erteilt P Prokura, was nicht eingetragen und bekannt gemacht wird. Später<br />
entzieht K dem P die Prokura wieder, was ebenfalls nicht eingetragen und<br />
bekannt gemacht wird. Aus Verärgerung über seine Abberufung kauft P bei<br />
dem nichts ahnenden V für 40.000 € ein Kfz „als Geschäftswagen für den<br />
Kaufmann K“ und verwertet dieses für sich. Kann V von K die Zahlung von<br />
40.000 € verlangen?<br />
LÖSUNG<br />
Anspruch auf 40.000 € aus § 433 II BGB<br />
V könnte gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von<br />
40.000 € aus § 433 II BGB haben, wenn zwischen ihm und K ein wirksamer<br />
Kaufvertrag zustande gekommen ist.<br />
Ein wirksamer Kaufvertrag, § 433 I BGB, setzt eine Stellvertretung des K durch<br />
P voraus, da K den Vertrag jedenfalls nicht selbst abgeschlossen hat. Hierfür<br />
müsste P eine eigene Willenserklärung im fremden Namen mit Vertretungsmacht<br />
abgegeben haben.<br />
Die Einkleidung des Problems<br />
in eine Beschwerde gegen eine<br />
Eintragungsverweigerung des Registergerichts<br />
ist eher unüblich. Deshalb<br />
wird das Problem nunmehr in einer<br />
typischen Klausurkonstellation aufgezeigt.<br />
Der Fall ist dem neuen HGB-Pocket<br />
aus dem JI-Verlag entnommen,<br />
welches in Kürze erscheinen wird.<br />
Voraussetzungen der Stellvertretung<br />
I. Eigene Willenserklärung in fremdem Namen<br />
Eine eigene Willenserklärung in fremdem Namen hat P abgegeben.<br />
II. Mit Vertretungsmacht<br />
Fraglich ist jedoch, ob P mit Vertretungsmacht, § <strong>16</strong>4 I BGB, ge-handelt hat.<br />
Die Vertretungsmacht könnte sich aus einer Prokura des P ergeben, § 48 HGB.<br />
1. Tatsächliche Rechtslage<br />
Im Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung hatte K dem P die Prokura<br />
bereits entzogen, allerdings war dies weder eingetragen, noch bekannt<br />
gemacht. Dies ändert jedoch an der Entziehung der Prokura nichts, da die Eintragung<br />
insoweit eine rein deklaratorische Wirkung hat. Folglich bestand die<br />
Prokura des P seit dem Widerruf durch K nicht mehr, § 52 I HGB.<br />
Bevor auf § 15 I HGB eingegangen<br />
wird, ist stets zu prüfen, wie sich die<br />
„tatsächliche“ Rechtslage darstellt.
28 Nebengebiete <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Die sich aus § 15 I HGB Rechtslage<br />
wird „fiktive“ Rechtslage genannt.<br />
Man spricht insoweit von „negativer“<br />
Publizität des Handelsregisters, da<br />
die nicht eingetragene Tatsache<br />
dem Dritten nicht entgegengesetzt<br />
werden kann; insoweit kann<br />
der Dritte auf das Schweigen des<br />
Registers vertrauen.<br />
Hiervon ist § 15 III HGB zu unterscheiden,<br />
welcher die positive Publizität<br />
der Bekanntmachung regelt.<br />
2. Fiktive Rechtslage, § 15 I HGB<br />
Ein anderes Ergebnis könnte sich aber aus dem gesetzlichen Rechtsscheinstatbestand<br />
des § 15 I HGB ergeben.<br />
Nach dieser Vorschrift kann derjenige, der eine eintragungspflichtige Tatsache<br />
– wie den Widerruf der Prokura, § 53 II HGB – nicht hat eintragen lassen, diese<br />
Tatsache einem Dritten nicht entgegensetzen, sofern der Dritte die Tatsache<br />
nicht kannte. Hier hat K die Entziehung der Prokura des P weder eintragen und<br />
bekannt machen lassen, noch war die Entziehung dem V bekannt.<br />
Fraglich ist jedoch, ob § 15 I HGB auf den vorliegenden Fall überhaupt<br />
Anwendung findet, da bereits die Erteilung der Prokura, § 53 I HGB, nicht eingetragen<br />
und bekannt gemacht war.<br />
Wie dieser Fall der „sekundären Unrichtigkeit des Handelsregisters“ zu<br />
behandeln ist, ist streitig.<br />
Nach einer Ansicht ist § 15 I HGB auf diesen Fall nicht anwendbar. Es könne<br />
keinen (handelsregisterlichen) Rechtsschein des Fortbestehens der Prokura<br />
geben, da die Prokuraerteilung niemals eingetragen wurde. Ein (handelsrechtlicher)<br />
Rechtsschein könne nur durch Eintragung und Bekanntmachung<br />
erzeugt werden.<br />
Ein Schutz des Dritten komme allenfalls durch allgemeine Rechtsscheinhaftung<br />
des Kaufmanns in Betracht. Hiernach wäre § 15 I HGB unanwendbar<br />
mit der Folge, dass P ohne Vertretungsmacht gehandelt hätte.<br />
Nach anderer Ansicht findet § 15 I HGB hingegen auch auf den Fall der „sekundären<br />
Unrichtigkeit des Handelsregisters“ Anwendung.<br />
§ 15 I HGB regele einen abstrakten Vertrauenstatbestand. Dieser setze nicht<br />
voraus, dass ein konkretes Vertrauen auf das Nicht-vorliegen einer nicht eingetragenen<br />
Tatsache gebildet worden sei. Über § 15 I HGB müsste sich K mithin<br />
so behandeln lassen, als habe P noch Prokura. Folglich hätte P mit Vertretungsmacht<br />
gehandelt.<br />
Vertiefung: Die Geltung des § 15 I<br />
HGB im Fall der „sekundären Unrichtigkeit<br />
des Handelsregisters“ wird<br />
zunehmend nur für den Fall angenommen,<br />
dass die voreintragungspflichtige<br />
Tatsache auch nach außen<br />
tatsächlich bekannt geworden war,<br />
weil es sonst zu einer Rechtsscheinhaftung<br />
ohne Vertrauenstatbestand<br />
kommen würde.<br />
Für die letztgenannte (herrschende) Ansicht spricht, dass sich im (handelsrechtlichen)<br />
Geschäftsverkehr Vertrauenstatbestände gerade auch durch den<br />
täglichen Rechtsverkehr bilden und eher selten durch die (Nicht-)Eintragungen<br />
im Handelsregister. Weiterhin stellt es einen Wertungswiderspruch dar, wenn<br />
§ 15 I HGB bei einmaliger Verletzung der Eintragungspflicht angewendet<br />
wird, bei mehrfacher hingegen nicht. Nach erstgenannter Ansicht würde sich<br />
eine mehrfache Verletzung der Eintragungspflicht somit quasi schlussendlich<br />
selbst legitimieren.<br />
3. Zwischenergebnis<br />
Folglich greift § 15 I HGB hier ein. K kann dem V den Entzug der Prokura des P<br />
nicht entgegensetzen und muss sich folglich so behandeln lassen, wie wenn P<br />
noch sein Prokurist wäre. In diesem Fall wäre der Vertrag mit Wirkung für den<br />
K zustande gekommen.<br />
III. Endergebnis<br />
V kann von K die Erfüllung des Vertrages und folglich auch die Bezahlung des<br />
Kfz gem. § 433 II BGB i.H.v. 40.000 € verlangen.
Übersicht zur GemO 2<strong>01</strong>5<br />
AKTUALISIERUNG<br />
FÜR BADEN-WÜRTTEMBERG<br />
Sehr geehrte <strong>RA</strong>-Leserinnen und <strong>RA</strong>-Leser,<br />
der Landtag von Baden-Württemberg hat am 14.10.2<strong>01</strong>5 das Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften<br />
beschlossen (LT-Drs. 15/7573), das am <strong>01</strong>.12.2<strong>01</strong>5 in Kraft getreten ist. Das Gesetz beruht auf einem Gesetzentwurf<br />
der Landesregierung (LT-Drs. 15/7265) sowie der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Innenausschusses<br />
(LT-Drs. 15/7480).<br />
Es handelt sich um ein sog. Artikel-Gesetz, das mehrere bereits bestehende Gesetze ändert.<br />
Regelungsziel des Gesetzgebers ist es, die Beteiligungsmöglichkeiten für die gesamte Bevölkerung auf kommunaler Ebene zu<br />
verbessern. Dazu hat er insbesondere Änderungen an § 21 GemO (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid) vorgenommen.<br />
Zu den examensrelevanten Neuerungen im Einzelnen:<br />
A. Änderung der Gemeindeordnung (GemO):<br />
I. § 21 GemO:<br />
§ 21 II GemO:<br />
In § 21 II Nr. 6 GemO werden nach dem Wort „Bauvorschriften“ die Wörter „mit Ausnahme des verfahrenseinleitenden<br />
Beschlusses“ eingefügt.<br />
zum Herausnehmen<br />
Kommentar:<br />
Der verfahrenseinleitende Beschluss ist bei Bauleitplänen in der Regel der Planaufstellungsbeschluss.<br />
Fehlt dieser (fakultative) Beschluss, ist ein Bürgerbegehren gegen den später erfolgenden ersten Beschluss<br />
des Gemeinderats im Bauleitplanverfahren möglich (z.B. den Auslegungsbeschluss, vgl. § 3 II 1<br />
BauGB). Im weiteren Verlauf des Bauleitplanverfahrens sind Bürgerbegehren und Bürgerentscheid nicht<br />
mehr möglich, insbesondere nicht zu dem Beschluss über den Flächennutzungsplan nach § 5 BauGB<br />
oder zu dem Beschluss über den Bebauungsplan nach § 10 BauGB. Dadurch sollen Rechts- und Planungssicherheit<br />
erzeugt werden (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />
Mit der Änderung des § 21 II Nr. 6 GemO korrigiert der Gesetzgeber eine gegenläufige Rechtsprechung<br />
des VGH Mannheim, der bisher davon ausgegangen ist, dass die Sperrwirkung des § 21 II Nr. 6 GemO ab<br />
dem Planaufstellungsbeschluss eintritt, dieser also nicht Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein kann<br />
(VGH Mannheim, Beschluss vom 27.6.2<strong>01</strong>1, 1 S 1509/11, juris Rn. 24 ff.).<br />
§ 21 III GemO:<br />
Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />
„(3) Über eine Angelegenheit des Wirkungskreises der Gemeinde, für die der Gemeinderat zuständig ist, kann die Bürgerschaft<br />
einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand<br />
haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid aufgrund eines Bürgerbegehrens durchgeführt<br />
worden ist. Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden, dabei findet § 3a LVwVfG keine Anwendung;<br />
richtet es sich gegen einen Beschluss des Gemeinderats, muss es innerhalb von drei Monaten nach der Bekanntgabe des<br />
Beschlusses eingereicht sein. Das Bürgerbegehren muss die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung und<br />
einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme<br />
enthalten. Die Gemeinde erteilt zur Erstellung des Kostendeckungsvorschlags Auskünfte zur Sach- und Rechtslage. Das<br />
Bürgerbegehren muss von mindestens 7 von Hundert der Bürger unterzeichnet sein, höchstens jedoch von 20000 Bürgern.<br />
Es soll bis zu drei Vertrauenspersonen mit Namen und Anschrift benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu<br />
vertreten. Sind keine Vertrauenspersonen benannt, gelten die beiden ersten Unterzeichner als Vertrauenspersonen. Nur die<br />
Vertrauenspersonen sind, jede für sich, berechtigt, verbindliche Erklärungen zum Antrag abzugeben und entgegenzunehmen.“<br />
Kommentar:<br />
Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 21 III 3 GemO die Frist für die Einreichung eines Bürgerbegehrens<br />
von 6 Wochen auf 3 Monate verlängert. Damit soll ausreichend Zeit für die Vorbereitung und<br />
Durchführung des Bürgerbegehrens eingeräumt werden (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />
Vollständig neu ist die in § 21 III 5 GemO vorgesehene Auskunftspflicht der Gemeinde bzgl. des Kostendeckungsvorschlags.<br />
Dieser verursachte den Initiatoren von Bürgerbegehren in der Vergangenheit
immer wieder große Schwierigkeiten, weil sie entweder die auftretenden Kosten nicht verlässlich schätzen<br />
konnten oder die rechtlich zulässigen Finanzierungsmöglichkeiten nicht kannten. Deshalb verlangt<br />
die Gesetzesbegründung auch, dass die Gemeinde sowohl zur Höhe der Kosten als auch zu den rechtlichen<br />
Möglichkeiten ihrer Deckung Auskunft geben muss (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />
Mit § 21 III 6 GemO hat der Gesetzgeber die zuvor bestehende sehr komplizierte und missverständliche<br />
Regelung des Unterschriftenquorums deutlich vereinfacht. Die Obergrenze von 20.000 Unterschriften<br />
trägt dem Umstand Rechnung, dass es gerade in Großstädten oftmals schwierig ist, die Bürger für lokale<br />
Themen, die eventuell auch nur Teile der Stadt betreffen, zu interessieren.<br />
Mit dem neu eingefügten § 21 III 7, 8 GemO übernimmt der Gesetzgeber die Bestimmungen des § 53 I<br />
1, 2 Kommunalwahlordnung (KomWO), erhöht allerdings die Zahl der möglichen Vertrauenspersonen<br />
von 2 auf 3. Mit der Änderung wird die Handhabung der Vorgaben für das Bürgerbegehren - gerade für<br />
juristische Laien - erleichtert, weil sich nunmehr alle zentralen Bestimmungen in § 21 GemO befinden.<br />
§ 21 III 9 GemO stellt mit dem Passus „jede für sich“ klar, dass jede Vertrauensperson alleinvertretungsberechtigt<br />
ist (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />
§ 21 IV GemO:<br />
Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />
„(4) Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat nach Anhörung der Vertrauenspersonen<br />
unverzüglich, spä<strong>test</strong>ens innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags. Nach Feststellung der Zulässigkeit des<br />
Bürgerbegehrens dürfen die Gemeindeorgane bis zur Durchführung des Bürgerentscheids keine dem Bürgerbegehren entgegenstehende<br />
Entscheidung treffen oder vollziehen, es sei denn, zum Zeitpunkt der Einreichung des Bürgerbegehrens haben<br />
rechtliche Verpflichtungen hierzu bestanden. Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit<br />
dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.“<br />
Kommentar:<br />
Die Anhörung der Vertrauenspersonen gem. § 21 IV 1 GemO kann schriftlich oder mündlich erfolgen. Sie<br />
soll sicherstellen, dass der Gemeinderat bei der Entscheidung über die Zulässigkeit umfassend informiert<br />
ist (LT-Drs. 15/7265, S. 36). Um eine Verzögerung des Ablaufs zu vermeiden, hat der Gesetzgeber zudem<br />
eine Zweimonatsfrist eingefügt (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />
Von großer Bedeutung ist § 21 IV 2 GemO, der eine Sperrwirkung normiert, die allerdings erst eintritt,<br />
wenn der Gemeinderat das Bürgerbegehren für zulässig erklärt hat. Mit diesem relativ späten Eintritt<br />
der Sperrwirkung will der Gesetzgeber eine langandauernde und möglicherweise unbegründete Handlungsunfähigkeit<br />
der Gemeindeorgane vermeiden (LT-Drs. 15/7265, S. 36f.). Für den Zeitraum vor der<br />
Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens bleibt es daher hinsichtlich einer etwaigen Sperrwirkung<br />
bei den Vorgaben, die der VGH Mannheim formuliert hat. D.h. im Zeitraum vor der Einreichung des<br />
Bürgerbegehrens steht Rechtsschutz nur zur Verfügung, wenn die Gemeindeverwaltung gegen den aus<br />
dem Staatsrecht bekannten Grundsatz der Organtreue verstößt. Das ist der Fall, wenn ein treuwidriges<br />
Verhalten der Gemeinde droht, welches allein dem Zweck dient, dem Bürgerbegehren die Grundlage zu<br />
entziehen. Nach Einreichung des Bürgerbegehrens und vor der Entscheidung des Gemeinderats über seine<br />
Zulässigkeit ist die vorläufige gerichtliche Feststellung möglich, dass das Bürgerbegehren zulässig ist.<br />
Das notwendige Rechtsschutzbedürfnis für eine solche vorläufige Feststellung soll in dem Warneffekt für<br />
die Gemeindeverwaltung bestehen, die auf diesem Weg von etwaigen Vollzugsmaßnahmen abgehalten<br />
werden könnte. Allerdings kommt diese Feststellung nur in Betracht, wenn die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens<br />
bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren mit solcher Wahrscheinlichkeit bejaht werden<br />
kann, dass eine gegenteilige Entscheidung im Hauptsacheverfahren praktisch auszuschließen ist und der<br />
mit dem Hauptsacheverfahren verbundene Zeitablauf voraussichtlich eine Erledigung des Bürgerbegehrens<br />
zur Folge hat (VGH Mannheim, Beschluss vom 6.12.2<strong>01</strong>2, 1 S 2408/12 und Beschluss vom 27.6.2<strong>01</strong>1,<br />
1 S 1509/11).<br />
zum Herausnehmen<br />
§ 21 V GemO:<br />
Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />
„(5) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, muss den Bürgern die innerhalb der Gemeindeorgane vertretene Auffassung<br />
durch Veröffentlichung oder Zusendung einer schriftlichen Information bis zum 20. Tag vor dem Bürgerentscheid dargelegt<br />
werden. In dieser Veröffentlichung oder schriftlichen Information der Gemeinde zum Bürgerentscheid dürfen die Vertrauenspersonen<br />
eines Bürgerbegehrens ihre Auffassung zum Gegenstand des Bürgerentscheids in gleichem Umfang darstellen<br />
wie die Gemeindeorgane.“
Kommentar:<br />
Durch die Neufassung des § 21 V 1 GemO wird die Informationspflicht der Gemeinde konkreter gefasst.<br />
§ 21 V 2 GemO stellt sicher, dass keine einseitige Information der Bürger erfolgt.<br />
§ 21 VI GemO:<br />
Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />
„(6) Der Bürgerentscheid ist innerhalb von vier Monaten nach der Entscheidung über die Zulässigkeit durchzuführen, es sei<br />
denn, die Vertrauenspersonen stimmen einer Verschiebung zu.“<br />
Kommentar:<br />
Der neu eingefügte § 21 VI GemO soll, wie bereits § 21 IV 1 GemO, unangemessene Verfahrensverzögerungen<br />
ausschließen. § 21 IV 1, VI GemO stellt sicher, dass spä<strong>test</strong>ens innerhalb eines halben Jahres nach<br />
Einreichung eines zulässigen Bürgerbegehrens ein Bürgerentscheid stattfindet. Um im Einzelfall flexibel<br />
zu sein und Raum z.B. für eine Kompromisssuche zu geben, kann der Termin für den Bürgerentscheid mit<br />
Zustimmung der Vertrauenspersonen verschoben werden (LT-Drs. 15/7265, S. 37).<br />
zum Herausnehmen<br />
§ 21 VII GemO:<br />
Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />
„(7) Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen<br />
Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 20 von Hundert der Stimmberechtigten beträgt. Bei Stimmengleichheit<br />
gilt die Frage als mit Nein beantwortet. Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat<br />
der Gemeinderat die Angelegenheit zu entscheiden.“<br />
Kommentar:<br />
Der Gesetzgeber hat das Zustimmungsquorum von 25% auf 20% gesenkt und damit die Hürden für<br />
einen erfolgreichen Bürgerentscheid herabgesetzt.<br />
§ 21 VIII, IX GemO:<br />
Die Vorschriften werden wie folgt gefasst:<br />
„(8) Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Gemeinderatsbeschlusses. Er kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen<br />
neuen Bürgerentscheid abgeändert werden.“<br />
„(9) Das Nähere wird durch das Kommunalwahlgesetz geregelt.“<br />
Kommentar:<br />
Inhaltlich keine Änderung gegenüber der alten Rechtslage.<br />
II. § 24 GemO:<br />
§ 24 III GemO wird wie folgt gefasst:<br />
„(3) Eine Fraktion oder ein Sechstel der Gemeinderäte kann in allen Angelegenheiten der Gemeinde und ihrer Verwaltung<br />
verlangen, dass der Bürgermeister den Gemeinderat unterrichtet. Ein Viertel der Gemeinderäte kann in Angelegenheiten im<br />
Sinne von Satz 1 verlangen, dass dem Gemeinderat oder einem von ihm bestellten Ausschuss Akteneinsicht gewährt wird. In<br />
dem Ausschuss müssen die Antragsteller vertreten sein.“<br />
Kommentar:<br />
Das Quorum für das Verlangen an den Bürgermeister auf Unterrichtung des Gemeinderats wird von ¼ auf 1⁄6<br />
gesenkt. Fraktionen erhalten dieses Recht unabhängig von der Zahl ihrer Mitglieder (LT-Drs. 15/7265, S. 37).
III. § 29 GemO:<br />
§ 29 GemO wird wie folgt geändert:<br />
Die Absätze 2 bis 4 werden aufgehoben.<br />
Kommentar:<br />
§ 29 II-IV GemO verhinderte bisher insbesondere die gleichzeitige Mitgliedschaft von Familienangehörigen<br />
im Gemeinderat sowie die Mitgliedschaft von Personen, die mit dem Bürgermeister oder einem Beigeordneten<br />
in einem die Befangenheit begründenden Verhältnis stehen. Der Gesetzgeber hat diese Vorschriften<br />
gestrichen, weil es respektiert werden soll, wenn der Wähler diese Personen in seine Vertretung<br />
wählt. Die Gefahr, dass eine Familie den Gemeinderat dominiert, sieht der Gesetzgeber als begrenzt an.<br />
Die Wähler haben es letztlich selbst in der Hand, dies zu verhindern. Zudem sind die Befangenheitsgründe<br />
des § 18 GemO ausreichend, um Interessenkollisionen zu verhindern (LT-Drs. 15/7480, S. 30).<br />
Der Hinderungsgrund für Personen, die als persönlich haftende Gesellschafter an derselben Handelsgesellschaft<br />
beteiligt sind, entfällt vor diesem Hintergrund ebenfalls, weil zwischen Gesellschaftern keine<br />
engere Bindung als zwischen Verwandten anzunehmen ist (LT-Drs. 15/7480, S. 39).<br />
IV. § 32a GemO:<br />
Nach § 32 GemO wird folgender § 32a GemO eingefügt:<br />
„§ 32a<br />
Fraktionen<br />
(1) Gemeinderäte können sich zu Fraktionen zusammenschließen. Das Nähere über die Bildung der Fraktionen, die Mindestzahl<br />
ihrer Mitglieder sowie die Rechte und Pflichten der Fraktionen regelt die Geschäftsordnung.<br />
(2) Die Fraktionen wirken bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Gemeinderats mit. Sie dürfen insoweit<br />
ihre Auffassungen öffentlich darstellen. Ihre innere Ordnung muss demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen.<br />
(3) Die Gemeinde kann den Fraktionen Mittel aus ihrem Haushalt für die sächlichen und personellen Aufwendungen der<br />
Fraktionsarbeit gewähren. Über die Verwendung der Mittel ist ein Nachweis in einfacher Form zu führen.“<br />
zum Herausnehmen<br />
Kommentar:<br />
Mit § 32a GemO schafft der Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage für die Bildung von Fraktionen.<br />
Da die Ratsmitglieder ein freies Mandat ausüben, spielt es für die Fraktionszugehörigkeit keine Rolle, aufgrund<br />
welchen Wahlvorschlags das jeweilige Ratsmitglied in den Gemeinderat gewählt wurde (LT-Drs.<br />
15/7265, S. 38). Folglich können Gemeinderatsmitglieder, die auf den Listen unterschiedlicher Parteien<br />
standen, zusammen eine Fraktion bilden.<br />
Die Fraktion muss mindestens aus 2 Mitgliedern bestehen, weil es anderenfalls an dem in § 32a I 1<br />
GemO geforderten Merkmal „zusammenschließen“ fehlt (LT-Drs. 15/7265, S. 38). Weitere Details legt die<br />
Geschäftsordnung des Gemeinderats fest (vgl. § 36 II GemO). Sie darf den Fraktionsstatus von einer bestimmten<br />
Mindestzahl von Mitgliedern (also mehr als 2 Mitglieder) abhängig machen, um die Arbeit im<br />
Gemeinderat zu straffen. Jedoch darf diese Mindeststärke in Abhängigkeit von der Größe des Gemeinderats<br />
und der Anzahl der auf die Mehrheit der Wahlvorschläge entfallenden Sitze nicht unangemessen<br />
hoch sein (LT-Drs. 15/7265, S. 38).<br />
Dass die Geschäftsordnung die Rechte und Pflichten der Fraktionen regelt beinhaltet nicht die Befugnis,<br />
Rechte und Pflichten der einzelnen Ratsmitglieder einzuschränken. Zudem können den Fraktionen auf<br />
diesem Weg keine Rechte eingeräumt werden, die über die Rechte des Gesamtgemeinderats hinausgehen<br />
oder in die Zuständigkeiten des Bürgermeisters eingreifen (LT-Drs. 15/7265, S. 38f.).<br />
Da die Fraktionen Teil des Organs Gemeinderat sind, hält es der Gesetzgeber für gerechtfertigt, ihnen<br />
gem. § 32a III 1 GemO eine Finanzierung aus dem Gemeindehaushalt zu gewähren. In Betracht kommen<br />
insbesondere Aufwendungen für die Fraktionsgeschäftsführung (z.B. Unterhaltung einer Geschäftsstelle,<br />
Anschaffung von Fachliteratur), für Fraktionssitzungen oder für die Öffentlichkeitsarbeit. Nicht erfasst hingegen<br />
ist der Aufwand für den Fraktionsvorsitzenden und die Fraktionsmitglieder, weil insoweit bereits<br />
in § 19 GemO Regelungen existieren (LT-Drs. 15/7265, S. 39). Der Gesetzgeber betont darüber hinaus ausdrücklich,<br />
dass die von der Gemeinde gewährten Zuwendungen nicht zur Finanzierung der Parteiarbeit<br />
verwendet werden dürfen (LT-Drs. 15/7265, S. 39).<br />
Mit dem Passus „in einfacher Form“ in § 32a III 2 GemO ist gemeint, dass z.B. eine summarische Darstellung<br />
der wesentlichen Ausgabearten mit den darauf entfallenden Beträgen genügt (LT-Drs. 15/7265, S. 39).<br />
Fortsetzung siehe vorletzte Seite
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Öffentliches Recht<br />
29<br />
ÖFFENTLICHES RECHT<br />
Problem: Meinungsfreiheit nach der EMRK<br />
Einordnung: Grundrechte/Völkerrecht<br />
EGMR, Urteil vom 26.11.2<strong>01</strong>5<br />
Case of Annen vs. Germany (Application no. 3690/10)<br />
EINLEITUNG<br />
Dürfen Ärzte, die Abtreibungen durchführen, massiv öffentlich kritisiert und ihr<br />
Handeln sogar in die Nähe der unbeschreiblichen Verbrechen gerückt werden,<br />
die in den NS-Konzentrationslagern begangen wurden? Mit dieser heiklen<br />
Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in<br />
einem Fall aus Deutschland zu befassen. Da die offiziellen Verfahrenssprachen<br />
beim EGMR Englisch und Französisch sind, werden die zitierten Passagen der<br />
Entscheidung im englischen Originaltext wiedergegeben.<br />
LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />
Zum Spannungsverhältnis zwischen<br />
der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK)<br />
und dem Schutz der persönlichen<br />
Ehre als Bestandteil des Art. 8 EMRK.<br />
SACHVERHALT (LEICHT GEKÜRZT)<br />
Der Beschwerdeführer (B) hatte im Juli 2005 u.a. in unmittelbarer Nachbarschaft<br />
einer Tagesklinik, die Abtreibungen durchführte, Flugblätter verteilt. Auf der<br />
ersten Seite des Faltblattes stand in Fettbuchstaben, dass die Klinik der beiden<br />
behandelnden Ärzte, deren vollständige Namen genannt wurden, „rechtswidrige<br />
Abtreibungen“ durchführe. Darunter wurde in kleinerer Schriftgröße<br />
ausgeführt, dass diese vom deutschen Gesetzgeber „erlaubt und nicht unter<br />
Strafe“ gestellt seien. Die Rückseite des Faltblattes enthielt folgenden Satz: „Die<br />
Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch<br />
verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt<br />
und nicht unter Strafe gestellt.“ Vor dem EGMR macht B geltend, dass das von<br />
deutschen Gerichten verhängte Verbot der Verbreitung der Flugblätter sein<br />
Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 10 EMRK verletze. Ist seine nach<br />
Art. 34 EMRK erhobene Individualbeschwerde begründet?<br />
LÖSUNG<br />
Die Individualbeschwerde ist begründet, soweit B in seinem Recht aus Art. 10<br />
EMRK verletzt ist.<br />
I. Eingriff in den Schutzbereich<br />
Das setzt voraus, dass ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 I EMRK<br />
vorliegt. Art. 10 I 2 EMRK schützt nicht nur die Meinungsäußerungsfreiheit,<br />
sondern auch die Freiheit, Informationen und Ideen weiterzugeben. Damit<br />
unterfallen auch Tatsachenbehauptungen dem Schutzbereich, sodass sich<br />
die Abgrenzung der Tatsachen von den Meinungen erübrigt. Somit unterfällt<br />
das Verhalten des B dem Schutzbereich des Art. 10 I EMRK.<br />
Eingriffe sind nur möglich durch die Verpflichteten der EMRK. Damit sind alle<br />
Organe der Legislative, Exekutive und Judikative in den Staaten gemeint,<br />
die die EMRK ratifiziert haben (sog. Konventionsstaaten). Deutschland ist<br />
ein Konventionsstaat. Durch das gerichtlich ausgesprochene Verbot greift die<br />
Bundesrepublik in die Meinungsäußerungsfreiheit des B ein.<br />
Der EGMR hat den Begriff „Meinung“<br />
bisher nicht abstrakt definiert,<br />
sondern prüft stets mit Blick auf den<br />
konkreten Einzelfall. Er zieht den<br />
Schutzbereich jedenfalls sehr weit,<br />
weil auch Werbung erfasst sein soll<br />
(Ehlers, EuGR, § 4 Rn 6 f.).<br />
Da eindeutig ein Eingriff vorliegt,<br />
bedarf es keiner Definition. In<br />
Zweifelsfällen ist zu fordern, dass<br />
die Beeinträchtigung eine gewisse<br />
Intensität aufweisen muss. Die<br />
deutsche Eingriffsdogmatik ist nicht<br />
übertragbar.
30 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
II. Rechtfertigung des Eingriffs<br />
Der Eingriff ist gerechtfertigt, soweit er durch die Schranken des Art. 10 EMRK<br />
gedeckt ist.<br />
Art. 10 II EMRK dürfte im deutschen<br />
Recht am ehesten einem<br />
qualifizierten Gesetzesvorbehalt<br />
entsprechen.<br />
1. Vorliegen einer Schranke<br />
Art. 10 II EMRK verlangt für Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit,<br />
dass diese „gesetzlich vorgesehen“ sind. Gesetzliche Grundlage für das<br />
gerichtliche Verbot sind §§ 823 I, 1004 I BGB. Weiterhin muss die Beschränkung<br />
einem der in Art. 10 II EMRK genannten Ziele dienen. Das ist hier der Schutz<br />
des guten Rufs.<br />
2. Verhältnismäßigkeit<br />
Der Eingriff in die Meinungsfreiheit muss schließlich gem. Art. 10 II EMRK<br />
in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d.h. dem<br />
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Das von den deutschen Gerichten<br />
verhängte Verbot dient dem legitimen Schutz der persönlichen Ehre der<br />
betroffenen Ärzte und ist dafür auch geeignet und erforderlich. Fraglich ist<br />
jedoch die Angemessenheit des Verbots.<br />
Rechtfertigung verlangt dringendes<br />
soziales Bedürfnis.<br />
Mitgliedstaaten steht Beurteilungsspielraum<br />
zu, der jedoch nicht<br />
unbegrenzt ist.<br />
Wenig Raum für Eingriffe, wenn<br />
Äußerung sich auf politische/öffentliche<br />
Themen bezieht.<br />
Schutz der Reputation der betroffenen<br />
Ärzte durch Art. 8 EMRK.<br />
“[52] […] The adjective ‘necessary’, within the meaning of Article 10 § 2,<br />
implies the existence of a ‘pressing social need’. The Contracting States<br />
have a certain margin of appreciation in assessing whether such a need<br />
exists, but it goes hand in hand with European supervision, embracing both<br />
the legislation and the decisions applying it, even those given by an independent<br />
court. […]<br />
[53] Another principle that has consistently emphasised in the Court’s<br />
case-law is that there is little scope under Article 10 of the Convention<br />
for restrictions on political expressions or on debate on questions of<br />
public interest.<br />
[54] The Court further reiterates that the right to protection of reputation<br />
is protected by Article 8 of the Convention as part of the right to respect<br />
for private life. […]”<br />
Unter Zugrundelegung dieser allgemeinen Erwägungen ist hinsichtlich der<br />
Aussagen auf dem Flugblatt festzuhalten, dass sie mit der Abtreibung ein<br />
öffentliches Thema betreffen, also besonders schutzwürdig sind.<br />
Hinweis des EGMR, dass Abtreibungen<br />
nach deutschem Recht, wie<br />
von B behauptet, rechtswidrig, aber<br />
nicht strafbar sein können.<br />
Aufmachung des Flugblatts veranlasst<br />
sorgfältigen Leser nicht zu der<br />
Annahme, das Verhalten der Ärzte<br />
sei strafbar.<br />
„[60] The Court notes that the German law, under section 218a of the<br />
Criminal Code, draws a fine line between abortions which are considered<br />
to be “unlawful”, but exempt from criminal liability, and those<br />
abortions which are considered as justified and thus “lawful” […]. It<br />
follows that the applicant’s statement that “unlawful abortions” had<br />
been performed was correct from a judicial point of view.<br />
[61] The Court moreover considers that – although the leaflet’s layout was<br />
clearly designed to draw the reader’s attention to the first sentence<br />
set in bold letters – the very wording of the applicant’s further explanation,<br />
according to which the abortions were not subject to criminal<br />
liability, was sufficiently clear, even from a layperson’s perspective.<br />
Although the assessment and interpretation of the factual background of a<br />
case is primarily a matter for the domestic courts, the Court, in the particular
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Öffentliches Recht<br />
31<br />
circumstances of the present case and also bearing in mind the judgment<br />
of the Federal Constitutional Court of 8 June 2<strong>01</strong>0 […] dealing with almost<br />
identical questions, is convinced that the mere fact that the additional<br />
explanation had not been visually highlighted does not imply that a<br />
reasonable person with ordinary awareness would assume that the<br />
abortions were performed outside the legal conditions and were forbidden<br />
in a stricter sense of criminal liability. […].<br />
[63] As to the applicant’s reference to the Auschwitz concentration camps<br />
and the Holocaust, the Court reiterates that the impact an expression of<br />
opinion has on another person’s personality rights cannot be detached<br />
from the historical and social context in which the statement was<br />
made. The reference to the Holocaust must also be seen in the specific<br />
context of German history. However, given the very wording of the leaflet,<br />
the Court cannot agree with the domestic courts’ interpretation that the<br />
applicant had compared the doctors and their professional activities<br />
to the Nazi regime. In fact, the applicant’s statement according to which<br />
the killing of human beings in Auschwitz had been unlawful, but allowed,<br />
and had not been subject to criminal liability under the Nazi regime, may<br />
also be understood as a way of creating awareness of the more general<br />
fact that law may diverge from morality. Although the Court is aware of<br />
the subtext of the applicant’s statement, which was further intensified by<br />
the reference to the webpage “www.babycaust.de”, it observes that the<br />
applicant did not – at least not explicitly – equate abortion with the<br />
Holocaust. Thus, the Court is not convinced that the prohibition of disseminating<br />
the leaflets was justified by a violation of the doctors’ personality<br />
rights due to the Holocaust reference alone.”<br />
Keine zwingende Gleichstellung<br />
der Abtreibung mit dem Holocaust.<br />
Flugblatt kann auch anders interpretiert<br />
werden.<br />
Folglich ist das Verbot der Verbreitung der Flugblätter unverhältnismäßig<br />
und verletzt den B in Art. 10 EMRK. Seine Individualbeschwerde ist demnach<br />
begründet.<br />
FAZIT<br />
Die Entscheidung des EGMR hat auch in der Tagespresse für Aufsehen gesorgt<br />
– wie immer, wenn der EGMR eine gegenläufige deutsche Rechtsprechung korrigiert.<br />
Das ist auch der eine Grund für die Examensrelevanz der Entscheidung.<br />
Der 2. Grund besteht in der Häufigkeit, mit welcher die EMRK inzwischen auch<br />
in Pflichtfachklausuren geprüft wird. Es sei in diesem Zusammenhang daran<br />
erinnert, dass nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch die<br />
deutschen Grundrechte „EMRK-freundlich“ auszulegen sind, d.h. die EMRK im<br />
Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung/Angemessenheit zu berücksichtigen<br />
ist.<br />
In der Sache sind die Entscheidungen der deutschen Gerichte im Übrigen<br />
nicht unvertretbar. Sie hatten betont, aufgrund des fettgedruckten Vorwurfs<br />
rechtswidriger Abtreibungen und der Verbindung zu den NS-Verbrechen entstehe<br />
eine besondere Prangerwirkung für die namentlich genannten Ärzte.<br />
Da die Entscheidungen des EGMR nur Feststellungsurteile sind, hat er die<br />
Entscheidungen der deutschen Gerichte nicht aufgehoben. Allerdings muss<br />
sein Urteil gem. Art. 46 EMRK bei zukünftigen Streitigkeiten beachtet werden.<br />
Z.B. Bad.-Württ., Termin 2<strong>01</strong>5 I,<br />
2. ÖR-Klausur; Termin 2009 I,<br />
1. ÖR-Klausur; Bayern, Termin 2<strong>01</strong>2 II,<br />
1. ÖR-Klausur; Nds., Termin Jan. 2<strong>01</strong>2,<br />
2. ÖR-Klausur; Rh.-Pfalz, Termin 2<strong>01</strong>2 II,<br />
1. ÖR-Klausur; Saarland, Termin 2<strong>01</strong>5 I,<br />
2. ÖR-Klausur<br />
Eine Auflistung wichtiger Entscheidungen<br />
des EGMR, die Deutschland<br />
betreffen, findet sich unter:<br />
www.echr.coe.int/Documents/CP_<br />
Germany_DEU.pdf
32 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
LEITSÄTZE<br />
1. § 43 Abs. 1 GO NRW stattet die Ratsmitglieder<br />
mit einem freien Mandat<br />
aus. Sie haben dabei insbesondere<br />
auch das Recht zur – ggf. gegenüber<br />
der Gemeinde und ihrer Politik kritischen<br />
– freien Meinungsäußerung,<br />
das nicht nur statusrechtlich,<br />
sondern – jedenfalls außerhalb von<br />
Ratssitzungen – zudem über Art. 5<br />
Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG grundrechtlich<br />
geschützt ist.<br />
2. Hinter der Treuepflicht des § 32<br />
Abs. 1 Satz 1 GO NRW steht der<br />
Gedanke, die Gemeindeverwaltung<br />
von allen Einflüssen freizuhalten,<br />
die eine objektive, unparteiische und<br />
einwandfreie Führung der Geschäfte<br />
gefährden könnten. Ratsmitglieder<br />
müssen alles unterlassen, was dem<br />
Wohl der Gemeinde und der Einwohnerschaft<br />
zuwiderläuft.<br />
3. Die verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung<br />
des Art. 5 Abs. 1<br />
Satz 1 Hs. 1 GG führt dazu, dass<br />
die Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1<br />
GO NRW einem Ratsmitglied grund<br />
sätzlich nicht verbietet, sich außerhalb<br />
von Ratssitzungen gegenüber<br />
der Gemeindeöffentlichkeit oder einzelnen<br />
Bürgern zu Vorgängen der<br />
Gemeindepolitik kritisch zu äußern.<br />
Soweit ein Ratsmitglied derartige<br />
Äußerungen tätigt, muss es dies<br />
allerdings nach pflichtgemäßer Prüfung<br />
insbesondere wahrheitsgemäß<br />
und – soweit geboten – vollständig<br />
tun. Die Äußerungen dürfen auch<br />
keinen diffamierenden Inhalt haben.<br />
4. Ein Gemeinderat kann eine Befugnis<br />
für eine Missbilligung und<br />
Rüge des Verhaltens seiner Mitglieder<br />
nicht allgemein aus §§ 40,<br />
41 Abs. 1 GO NRW in Verbindung<br />
mit der Garantie der kommunalen<br />
Selbstverwaltung gemäß Art. 28<br />
Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 78 LVerf NRW<br />
ableiten. Diese Normen ermächtigen<br />
den Rat lediglich dazu,<br />
Verstöße gegen organschaftliche<br />
Pflichten seiner Mitglieder festzustellen.<br />
5. Ein Gemeinderat hat nach nordrhein-westfälischem<br />
Kommunalrecht<br />
nicht die Befugnis, einem<br />
seiner Mitglieder den Ausschluss<br />
aus dem Rat anzudrohen.<br />
Problem: Anwendbarkeit der Grundrechte in einem<br />
Kommunalverfassungsstreit<br />
Einordnung: Kommunalrecht<br />
OVG Münster, Urteil vom 15.09.2<strong>01</strong>5<br />
15 A 1961/13<br />
EINLEITUNG<br />
Das OVG Münster hatte sich eigentlich „nur“ mit der Zulässigkeit eines<br />
Ratsbeschlusses zu befassen, in dem das Verhalten eines Ratsmitglieds<br />
missbilligt und gerügt wurde. Dabei hat sich das Gericht jedoch auch zur<br />
Anwendung der Grundrechte im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits<br />
geäußert.<br />
Der „Rat“ heißt in anderen Bundesländern im Übrigen „Gemeinderat“ oder<br />
„Gemeindevertretung“.<br />
SACHVERHALT (VEREINFACHT DARGESTELLT)<br />
Der Kläger (K) ist Mitglied des Rates der Gemeinde T. Gegen einen<br />
Bebauungsplan der T klagt einer ihrer Einwohner, Herr X. Dieser wandte<br />
sich an K mit der Frage, ob der Bebauungsplan formell ordnungsgemäß<br />
beschlossen worden sei. K bezweifelte dies und suggerierte, der Rat werde<br />
sich unabhängig von der objektiven Sachlage nicht an Recht und Gesetz<br />
halten, weil er den in Rede stehenden Bebauungsplan in jedem Fall halten<br />
wolle. Daraufhin fasst der Rat einen Beschluss, mit dem er das Verhalten des<br />
K als Verstoß gegen seine Treuepflichten missbilligt sowie rügt und sich im<br />
Wiederholungsfalle einen Ausschluss des K aus dem Rat vorbehält. Mit seiner<br />
Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht möchte K festgestellt wissen,<br />
dass er nicht gegen seine Pflichten als Ratsmitglied verstoßen hat und der<br />
Ratsbeschluss rechtswidrig ist.<br />
LÖSUNG<br />
Die Klage hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit der Klage<br />
I. Verwaltungsrechtsweg<br />
Mangels auf- und abdrängender Sonderzuweisungen richtet sich die<br />
Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I 1 VwGO. Die danach erforderliche<br />
öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor, wenn die streitentscheidende<br />
Norm eine solche des öffentlichen Rechts ist, d.h. ausschließlich einen<br />
Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet (sog. modifizierte Subjektstheorie<br />
bzw. Sonderrechtslehre). Streitentscheidend sind §§ 32, 43 GO NRW, also<br />
Normen des öffentlichen Rechts, sodass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit<br />
vorliegt. Diese ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art, sodass für die Klage<br />
des K der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.<br />
II. Statthafte Klageart<br />
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehren, § 88<br />
VwGO. K begehrt die Feststellung, dass er nicht gegen seine Pflichten als<br />
Ratsmitglied verstoßen hat und der Beschluss des Rates rechtswidrig ist.<br />
Diesem Begehren könnte die Feststellungsklage entsprechen. Dann muss K
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Öffentliches Recht<br />
33<br />
gem. § 43 I VwGO die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines<br />
Rechtsverhältnisses begehren.<br />
Ein Rechtsverhältnis sind die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund<br />
öffentlich-rechtlicher Normen ergebenden Rechtsbeziehungen zwischen<br />
Personen oder zwischen einer Person und einer Sache. Der konkrete Sachverhalt<br />
besteht einerseits in der Äußerung des K gegenüber Herrn X sowie andererseits<br />
in dem Beschluss des Rates. Die zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen<br />
Normen sind diejenigen der GO NRW. Die sich daraus ergebenden umstrittenen<br />
Rechtsbeziehungen betreffen zum einen die Frage, ob K durch die Äußerung<br />
gegenüber Herrn X seine Pflichten als Ratsmitglied verletzt hat. Zum anderen<br />
will K festgestellt wissen, dass der Rat nicht berechtigt war, sein Verhalten zu<br />
rügen, zu missbilligen und sich einen Ratsausschluss vorzubehalten. Demnach<br />
geht es ihm in beiden Konstellationen um die Feststellung des Nichtbestehens<br />
eines Rechtsverhältnisses (sog. negative Feststellungsklage).<br />
Die prozessuale Situation weist allerdings die Besonderheit auf, dass K ein<br />
kommunales Mandat innehat und sich seine Klage gegen Maßnahmen des<br />
Organs richtet, dem er selbst angehört. Folglich handelt es sich um einen sog.<br />
Kommunalverfassungsstreit, der sich dadurch auszeichnet, dass Organe<br />
oder Organteile einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft um die<br />
ihnen zustehenden Kompetenzen streiten. Auf diese Innenrechtsstreitigkeiten<br />
(hier in Gestalt eines sog. Intraorganstreits) ist die VwGO zwar nicht unmittelbar<br />
zugeschnitten. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die ausdrücklich<br />
normierten Klagearten, namentlich die Feststellungs- und die<br />
Leistungsklage, in ihren Voraussetzungen so angepasst werden können, dass<br />
sie auch Innenrechtsstreitigkeiten erfassen.<br />
Folglich ist die Feststellungsklage die statthafte Klageart.<br />
III. Feststellungsinteresse<br />
Gem. § 43 I VwGO muss der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten<br />
Feststellung haben. Ein berechtigtes Interesse ist jedes schutzwürdige Interesse<br />
rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Bzgl. des Ratsbeschlusses weist<br />
der Kläger das sowohl rechtliche als auch ideelle Interesse auf, den dadurch<br />
gesetzten Anschein aus der Welt zu schaffen, er habe durch seine Äußerung<br />
gegenüber T seine Treuepflichten als Ratsmitglied verletzt. Darüber hinaus<br />
hat K ein berechtigtes rechtliches Interesse daran, generell die Grenzen und<br />
Reichweite seiner Rechte als Ratsmitglied aus § 43 I GO NRW klären zu<br />
lassen. Mithin weist er das erforderliche Feststellungsinteresse auf.<br />
IV. Klagebefugnis<br />
Fraglich ist, ob K klagebefugt sein muss. Die analoge Anwendung des § 42 II<br />
VwGO im Rahmen der Feststellungsklage ist zwar durchaus umstritten,<br />
jedoch kommt es auf diesen Meinungsstreit nicht an, wenn K klagebefugt<br />
ist. Da der Kläger bei einem Kommunalverfassungsstreit nicht als natürliche<br />
Person, sondern in seiner öffentlichen Funktion klagt, verlangt dies eine mögliche<br />
Verletzung der ihm als kommunales Organ oder Organteil zustehenden<br />
Rechte (sog. Organrechte bzw. organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte<br />
bzw. wehrfähige Innenrechtsposition).<br />
„[46] Die im Rahmen von § 42 Abs. 2 VwGO analog wehrfähige (Innen-)<br />
Rechtsposition des Klägers folgt im Anschluss daran aus seiner Stellung als<br />
Mitglied des Beklagten und den damit gemäß § 43 Abs. 1 GO NRW verbundenen<br />
Statusrechten - hier in Verbindung mit seinem Grundrecht auf<br />
freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG.<br />
Hätte K die Feststellung begehrt,<br />
dass er zu seiner Äußerung<br />
gegenüber Herrn X berechtigt war,<br />
läge eine positive Feststellungsklage<br />
vor.<br />
Da der Kommunalverfassungsstreit<br />
(KVS) allgemein anerkannt ist, erübrigen<br />
sich langatmige Ausführungen<br />
zu seiner dogmatischen Herleitung.<br />
Es muss daher insbesondere nicht<br />
zwingend darauf eingegangen<br />
werden, dass es sich nicht um eine<br />
Klageart sui generis handelt.<br />
Wie schon im Rahmen der statthaften<br />
Klageart muss ganz genau<br />
zwischen den beiden Begehren des<br />
K differenziert werden.<br />
Da beim KVS in besonderem Maße<br />
die Gefahr besteht, dass der Kläger<br />
sich zum „Hüter des Allgemeinwohls“<br />
aufschwingt, ist es ganz h.M., dass<br />
§ 42 II VwGO in diesem Fall auch<br />
i.R. einer Feststellungsklage anzuwenden<br />
ist (Hufen, VerwProzessR,<br />
§ 18 Rn 17).<br />
§ 43 I GO NRW normiert das sog.<br />
freie Mandat der Ratsmitglieder.
34 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
DIE examensrelevante Aussage:<br />
auch im Rahmen eines KVS können<br />
die Grundrechte zur Anwendung<br />
gelangen, zumindest wenn es um<br />
ein Verhalten außerhalb von Ratssitzungen<br />
geht!<br />
Vgl. BVerwG, Beschluss vom<br />
12.2.1988, 7 B 123.87, juris Rn 4 ff.;<br />
VGH München, Beschluss vom<br />
20.4.2<strong>01</strong>5, 4 CS 15.381, juris Rn<br />
25; VGH Mannheim, Urteil vom<br />
11.10.2000, 1 S 2624/99, juris Rn 27.<br />
Diese Fundstellen belegen allerdings<br />
nur, dass sich Ratsmitglieder<br />
auf Grundrechte berufen können,<br />
nicht jedoch, dass es sich dann noch<br />
um einen KVS handelt.<br />
[47] § 43 Abs. 1 GO NRW stattet die Ratsmitglieder als Vertreter der<br />
gesamten Gemeindebürgerschaft mit einem freien Mandat aus. Sie haben<br />
dabei insbesondere auch das Recht zur - ggf. gegenüber der Gemeinde und<br />
ihrer Politik kritischen - freien Meinungsäußerung, das im Übrigen nicht<br />
nur statusrechtlich, sondern - jedenfalls außerhalb von Ratssitzungen -<br />
zudem über Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG grundrechtlich geschützt ist.<br />
Das freie Mandat, das mit Blick auf die grundlegende Bedeutung des politischen<br />
Meinungskampfes für die Konstituierung eines demokratischen<br />
Gemeinwesens auch auf Gemeindeebene von ganz erheblichem Gewicht<br />
ist, erfährt durch § 43 Abs. 1 GO NRW nur insofern eine Beschränkung, als<br />
die Ratsmitglieder an das Gesetz gebunden sind und [auf ] das öffentliche<br />
Wohl Rücksicht nehmen müssen.<br />
[49] Dies zugrunde gelegt, kann die Annahme eines Treuepflichtverstoßes<br />
aufgrund der [Äußerung des K gegenüber Herrn X] diesen in der freien<br />
Ausübung seines Ratsmandates beeinträchtigen. Diese Feststellung ist<br />
potentiell dazu geeignet, den Kläger von der Wahrnehmung seines<br />
Rechts auf freie Meinungsäußerung im Verhältnis zur Gemeindeöffentlichkeit<br />
bzw. einzelnen Bürgern der Gemeinde abzuhalten oder<br />
ihn in dieser Hinsicht zumindest zu hemmen.“<br />
Gleiches gilt erst recht für den angegriffenen Beschluss des Rates.<br />
Folglich ist K klagebefugt.<br />
Beim KVS: Ausnahme vom Rechtsträgerprinzip<br />
Zur dogmatischen Herleitung:<br />
Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157,<br />
158 f.; Schoch, JuS 1987, 783, 786 f.<br />
Nochmal: es muss erkannt werden,<br />
dass K zwei Begehren verfolgt.<br />
V. Klagegegner<br />
Beim Kommunalverfassungsstreit bestimmt sich der Klagegegner nicht<br />
nach dem Rechtsträgerprinzip, sondern nach der innerorganisatorischen<br />
Kompetenz- und Pflichtenzuordnung. D.h. es ist das Organ bzw. der<br />
Organteil zu verklagen, dessen Verhalten umstritten ist. Das ist hier der Rat.<br />
Er hat den streitgegenständlichen Beschluss gefasst und behauptet einen<br />
Pflichtverstoß des K.<br />
VI. Beteiligungs- und Prozessfähigkeit<br />
Die dogmatische Herleitung der Beteiligungs- und Prozessfähigkeit ist<br />
beim Kommunalverfassungsstreit zwar umstritten (direkte oder analoge<br />
Anwendung des § 61 Nr. 1 oder 2 VwGO oder richterliche Rechtsfortbildung), im<br />
Ergebnis aber allgemein anerkannt, weil es den Kommunalorganen möglich<br />
sein muss, die ihnen zustehenden organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte<br />
gerichtlich durchsetzen zu können. Anderenfalls wäre ihre effektive Wahrnehmung<br />
nicht möglich.<br />
Mithin ist die Feststellungsklage des K in der besonderen prozessualen<br />
Situation des Kommunalverfassungsstreits zulässig.<br />
B. Objektive Klagehäufung<br />
Da K mehrere Begehren verfolgt, liegt eine objektive Klagehäufung i.S.v. § 44<br />
VwGO vor, deren Voraussetzungen erfüllt sind.<br />
C. Begründetheit der Klage<br />
Beachte: KVS = nur Prüfung der<br />
Organrechte!<br />
I. Verstoß gegen die Pflichten als Ratsmitglied<br />
Die Feststellungsklage ist begründet, soweit das umstrittene Rechtsverhältnis<br />
nicht besteht. Das ist der Fall, wenn K nicht gegen seine Treuepflichten als<br />
Ratsmitglied verstoßen hat.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Öffentliches Recht<br />
35<br />
Die Treuepflicht als Ratsmitglied folgt aus §§ 32 I 1, 43 II GO NRW.<br />
„[53] Dahinter steht der Gedanke, die Gemeindeverwaltung von allen<br />
Einflüssen freizuhalten, die eine objektive, unparteiische und einwandfreie<br />
Führung der Geschäfte gefährden könnten. Ratsmitglieder<br />
müssen alles unterlassen, was dem Wohl der Gemeinde und der<br />
Einwohnerschaft zuwiderläuft. Sie haben alles in ihrer Macht stehende<br />
zu tun, um Schaden von der Gemeinde abzuhalten und das Wohl der<br />
Einwohnerschaft zu fördern.<br />
[55] Im Verhältnis der kommunalen Organe und Organteile zueinander<br />
gilt zudem der Grundsatz der Organtreue. Er begründet namentlich die<br />
Obliegenheit von Ratsmitgliedern, rechtliche Bedenken gegen eine<br />
(anstehende) Beschlussfassung in der verfahrensrechtlich gebotenen<br />
Form rechtzeitig geltend zu machen.<br />
[57] Soweit § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW in dieser Lesart das Recht eines<br />
Ratsmitglieds auf freie Meinungsäußerung tangiert, […] ist er - auch als allgemeines<br />
Gesetz i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG - seinerseits im Lichte der Bedeutung<br />
und Tragweite dieses Grundrechts verhältnismäßig auszulegen und<br />
anzuwenden.<br />
[59] Nicht zuletzt diese verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung<br />
führt dazu, dass die Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW einem<br />
Gemeinderatsmitglied grundsätzlich nicht verbietet, sich auch<br />
außerhalb von Ratssitzungen gegenüber der Gemeindeöffentlichkeit<br />
oder einzelnen Bürgern zu Vorgängen der Gemeindepolitik kritisch<br />
zu äußern. Eine andere Betrachtungsweise würde dem freien<br />
Mandat einen wesentlichen Teil der ihm von § 43 Abs. 1 GO NRW<br />
zugedachten politischen Gestaltungskraft nehmen. Sie wäre mit<br />
der grundlegenden Bedeutung der mit der Mandatsausübung verbundenen<br />
Meinungsäußerungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen<br />
auf kommunaler Ebene nicht vereinbar. Dies schließt das prinzipielle<br />
Recht des Ratsmitglieds ein, Dritte über Vorgänge aus öffentlichen<br />
Ratssitzungen, die nicht der Verschwiegenheitspflicht des § 30 GO<br />
NRW unterliegen, zu informieren sowie eigene Einschätzungen hinsichtlich<br />
der Rechtmäßigkeit dieser Vorgänge kundzutun. Allerdings<br />
gilt dieses letztgenannte Recht nicht uneingeschränkt. Soweit ein<br />
Ratsmitglied derartige Äußerungen tätigt, muss es dies, auch um seiner<br />
Verpflichtung auf das Gesetz und das öffentliche Wohl durch § 43 Abs. 1<br />
GO NRW zu genügen, nach pflichtgemäßer Prüfung insbesondere wahrheitsgemäß<br />
und - soweit geboten - vollständig tun. Zudem darf er die<br />
Gemeindeorgane durch seine Äußerungen nicht diffamieren.<br />
Mit seiner Unterstellung, der Rat werde sich nicht an Recht und Gesetz halten,<br />
hat K den Rat diffamiert und damit die Grenzen seines Äußerungsrechts<br />
überschritten. Folglich liegt ein Treuepflichtverstoß vor, sodass die<br />
Feststellungsklage insoweit unbegründet ist.<br />
II. Beschluss des Rates<br />
Die Feststellungsklage bzgl. des Ratsbeschlusses ist begründet, soweit das<br />
umstrittene Rechtsverhältnis nicht besteht. Das ist der Fall, wenn der Rat<br />
nicht berechtigt war, das Verhalten des K zu missbilligen, zu rügen und sich<br />
§ 32 I 1 GO NRW:<br />
„(1) Inhaber eines Ehrenamts<br />
haben eine besondere Treuepflicht<br />
gegenüber der Gemeinde. […]“<br />
§ 43 II GO NRW:<br />
„(2) Für die Tätigkeit als Ratsmitglied,<br />
[…] gelten die Vorschriften der §§ 30<br />
bis 32 […] entsprechend: […]“<br />
Grundsatz der Organtreue = Rücksichtnahme<br />
auf die anderen<br />
Gemeindeorgane bzw. Organteile<br />
Nochmals Betonung der Geltung<br />
und Ausstrahlungswirkung des<br />
Art. 5 I 1 GG.<br />
Grundsätzliches Recht eines<br />
Ratsmitglieds zu öffentlichen,<br />
auch kritischen Äußerungen zur<br />
Gemeindepolitik.<br />
Grenzen: Äußerung muss wahrheitsgemäß,<br />
vollständig und nicht diffamierend<br />
sein.<br />
In der Originalentscheidung war es<br />
etwas schwieriger, den Verstoß festzustellen.<br />
Das OVG musste dafür die<br />
Äußerung des K gegenüber Herrn X<br />
ganz genau unter die Lupe nehmen.<br />
Obersatz neg. Feststellungsklage
36 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Keine ausdrückliche EGL vorhanden<br />
Ist eine EGL überhaupt erforderlich?<br />
Nein, wenn es nur um die bloße Feststellung<br />
eines Pflichtverstoßes geht.<br />
Ja bei Sanktionen. Dazu gehören<br />
auch Missbilligungen und Rügen.<br />
Erst recht EGL erforderlich bei Ratsausschluss.<br />
Anders – soweit ersichtlich – nur § 31<br />
GemO Rh.-Pfalz. Siehe dazu BVerwG,<br />
Urteil vom 21.1.2<strong>01</strong>5, 10 C 11.14,<br />
<strong>RA</strong> 2<strong>01</strong>5, 261 (Heft 5).<br />
einen Ausschluss des K aus dem Rat vorzubehalten. Eine ausdrückliche<br />
Ermächtigungsgrundlage für den Beschluss existiert in der GO NRW nicht.<br />
„[82] Das den Gemeinden und insoweit prinzipiell dem Rat zustehende<br />
Recht, sich mit allen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu<br />
befassen, schließt auch das Recht ein, sich zu etwaigen statusbezogenen<br />
kommunalrechtlichen Pflichtverstößen von Ratsmitgliedern<br />
zu äußern. Dafür bedarf es keiner besonderen gesetzlichen<br />
Ermächtigungsgrundlage, solange der Rat sich mit diesbezüglichen<br />
Äußerungen unterhalb der Schwelle einer Sanktion bewegt.<br />
[84] Damit sind bloße Feststellungen kommunalrechtlicher Pflichtverstöße<br />
durch Ratsmitglieder durch den Rat […] gedeckt. Diese Feststellungen<br />
haben noch keinen Sanktionscharakter. Vielmehr spricht der Rat durch<br />
sie lediglich aus, ob seiner Auffassung nach ein bestimmtes Verhalten eines<br />
Ratsmitglieds mit der Rechtslage im Einklang steht oder nicht.<br />
[85] Anders verhält es sich, sobald der Rat über die materielle Rechtslage<br />
wiedergebende Feststellungen von Rechtsverstößen hinausgeht und<br />
zu disziplinarischen oder diesen vergleichbaren Maßnahmen greift.<br />
Als solche sind […] auch Missbilligungen und Rügen des Verhaltens<br />
von Ratsmitgliedern außerhalb von Ratssitzungen anzusehen.<br />
Diese Maßnahmen gehen über das allgemeine Befassungs- und<br />
Äußerungsrecht der Gemeinde hinaus. Hierfür fordert der verfassungsrechtliche<br />
Wesentlichkeitsgrundsatz eine eigenständige gesetzliche<br />
Ermächtigungsgrundlage.“<br />
Erst recht gilt dies für den vorbehaltenen Ratsausschluss des K, der<br />
einen noch intensiveren Eingriff in seine Mitgliedschaftsrechte darstellt.<br />
Die GO NRW räumt dem Rat lediglich die Befugnis ein, ein Ratsmitglied<br />
z.B. wegen Befangenheit von einzelnen Mitwirkungshandlungen auszuschließen,<br />
gestattet jedoch keinen generellen Ratsausschluss. Somit ist die<br />
Feststellungsklage bzgl. des Ratsbeschlusses in vollem Umfang begründet.<br />
Insgesamt ist die Feststellungsklage zulässig und teilweise begründet, hat also<br />
teilweise Erfolg.<br />
Vgl. zum Streitstand: Wolff/Decker,<br />
VwGO, Anhang zu § 43 Rn 49;<br />
Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157,<br />
159 f.<br />
Das Problem ist bundeslandunabhängig,<br />
sodass die Entscheidung des<br />
OVG für alle Bundesländer Examensrelevanz<br />
besitzt.<br />
FAZIT<br />
Es ist äußerst strittig, ob Grundrechte im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits<br />
gerügt werden können, treten die Beteiligten dort doch<br />
gerade nicht als natürliche Personen, sondern in ihrer hoheitlichen Funktion auf;<br />
evtl. können daher bei einem solchen Streit nur Organrechte geltend gemacht<br />
werden, wie dies ja auch bei dem parallel gelagerten Organstreitverfahren nach<br />
Art. 93 I Nr. 1 GG der Fall ist. Das OVG spricht dieses Problem an, ohne ihm jedoch<br />
ganz auf den Grund zu gehen und nimmt die Grundrechtsgeltung auch nur fallbezogen<br />
für ein Verhalten außerhalb von Ratssitzungen an. Das ändert jedoch<br />
nichts an der Examensrelevanz seiner Entscheidung.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
37<br />
Speziell für Referendare<br />
Problem: Polizeimaßnahmen gegen gewaltbereiten<br />
Fußballfan<br />
Einordnung: Polizeirecht<br />
VG Freiburg, Urteil vom 25.09.2<strong>01</strong>5<br />
4 K 35/15<br />
EINLEITUNG<br />
Das VG Freiburg hatte sich im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage<br />
mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit diverser Aufenthalts- und<br />
Betretungsverbote sowie Meldeauflagen zu befassen, die gegenüber einem<br />
Fußballfan angeordnet wurden. Hierbei hat es sich insbesondere eingehend<br />
mit der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage beschäftigt, insbesondere<br />
dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse.<br />
SACHVERHALT<br />
Mit Bescheid vom 30.7.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte unter Anordnung des<br />
Sofortvollzugs gegenüber dem Kläger ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot;<br />
dieses Verbot galt für im Einzelnen aufgeführte Spieltage einer Mannschaft<br />
des SC F für Termine zwischen dem 2.8.2<strong>01</strong>4 und dem 20.9.2<strong>01</strong>4 jeweils für den<br />
Zeitraum 10.00 Uhr bis 22.00 Uhr für im Bescheid näher konkretisierte Bereiche<br />
im Umfeld des X-Stadions, des Y-Stadions, der Z-Straße sowie von Teilen der<br />
Innenstadt und des Stadtteils A (Nr. I.1). Sie gab dem Kläger zudem auf, sich<br />
an bestimmten Spieltagen des SC F zu bestimmten Zeiten beim Polizeirevier<br />
F-Süd zu melden (Nr. I.2). Ferner wurde für den Bescheid eine Gebühr i.H.v.<br />
150,-- € festgesetzt.<br />
Gegen den Bescheid legte der Kläger am 8.8.2<strong>01</strong>4 Widerspruch ein. Die<br />
Maßnahmen seien unverhältnismäßig. Er wohne in der B-Straße, die in einem der<br />
genannten abgegrenzten Gebiete liege, so dass er für die genannten Tage nicht<br />
wisse, wie er nach Hause gelangen solle. Ob das Ermittlungsverfahren wegen<br />
einer Drittortauseinandersetzung vom 13.10.2<strong>01</strong>2 die Annahme rechtfertige,<br />
dass er auch im Zusammenhang mit den angeführten Spielen eine Gefahr für<br />
Leib und Leben anderer und für Sachwerte darstelle, erscheine fragwürdig.<br />
Mit Bescheid vom 19.8.2<strong>01</strong>4 ersetzte die Beklagte ihren Bescheid vom<br />
30.7.2<strong>01</strong>4 mit Ausnahme der Gebührenfestsetzung. In dem Bescheid vom<br />
30.7.2<strong>01</strong>4 seien, so die Beklagte, irrtümlich einzelne Spieltage falsch benannt<br />
worden. Des Weiteren wurde die Wohnung des Klägers in der B-Straße vom<br />
Aufenthaltsverbot ausgenommen. Zur Begründung führte sie aus, nach<br />
Angaben der Polizeipräsidiums F sei der Kläger dem gewaltbereiten Spektrum<br />
der Fußballszene zuzuordnen. Nachweislich habe sich der Kläger 2<strong>01</strong>2/13 mit<br />
einer Gruppierung aus F an Drittortauseinandersetzungen beteiligt und tue<br />
dies mutmaßlich nach wie vor. Um weitere Straftaten des Klägers im Umfeld<br />
des SC F-Stadions, der Innenstadt und Teilen des Stadtteils A zu verhindern,<br />
werde dem Kläger das Betreten und der Aufenthalt in dem unter Ziff. I.1. näher<br />
definierten Bereich zu den dort genannten Zeiten untersagt. Dieser Bereich<br />
beschränke sich auf das Gebiet des üblichen Aufenthalts von Gästefans sowie<br />
auf die erfahrungsgemäß genutzten Hal<strong>test</strong>ellen des öffentlichen Personenverkehrs<br />
durch diese. Der zeitliche Geltungsbereich dieser Verfügung sei<br />
aufgrund der üblichen Aufenthaltszeiten von Gästefans bei Spielen des SC F<br />
festgelegt. Der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 30.7.2<strong>01</strong>4<br />
wurde durch die Beklagte auf diesen Bescheid erstreckt.<br />
LEITSÄTZE (GEKÜRZT)<br />
Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG besteht<br />
ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />
ungeachtet der Schwere des<br />
Grundrechtseingriffs bereits dann,<br />
wenn sich ein Verwaltungsakt typischerweise<br />
so kurzfristig erledigt,<br />
dass er ohne Annahme eines<br />
Fortsetzungsfeststellungsinteresses<br />
regelmäßig keiner Überprüfung in<br />
einem gerichtlichen Hauptverfahren<br />
zugeführt werden könnte.<br />
Allein der Umstand, dass der<br />
Betroffene sich mehrfach an sog.<br />
Drittortauseinandersetzungen beteiligt<br />
hat und deshalb in der Datei<br />
Gewalttäter Sport eingetragen ist,<br />
rechtfertigt die Verhängung eines<br />
für das Umfeld des Stadions bzw. der<br />
Innenstadt geltenden Betretungsund<br />
Aufenthaltsverbots nicht.<br />
Wiedergabe des Verwaltungsverfahrens:<br />
Indikativ Imperfekt.<br />
1. Bescheid<br />
Die einzelnen Anordnungen des<br />
Bescheids sind genau wiederzugeben,<br />
da diese das Prüfprogramm für<br />
die Entscheidungsgründe vorgeben.<br />
Anders als andere Bundesländer<br />
hat Baden-Württemberg das Widerspruchsverfahren<br />
nicht weitgehend<br />
abgeschafft. Nur in den – hier<br />
nicht einschlägigen – Fällen des<br />
§ 15 AGVwGO BW bedarf es keiner<br />
Durchführung eines Vorverfahrens.<br />
2. Bescheid<br />
Erlässt die Behörde – wie hier –<br />
mehrere Bescheide, die sogar z.T.<br />
alte Regelungen abändern, ist auf<br />
die genaue Wiedergabe des Inhalts<br />
der Bescheide zu achten. Es muss<br />
klar sein, welche Anordnungen noch<br />
„in der Welt“ sind.<br />
Begründung
38 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
3. Bescheid<br />
4. Bescheid<br />
Widerspruchsbescheid<br />
Klageerhebung: Indikativ Perfekt<br />
Klägervorbingen: Konjunktiv Präsens<br />
Anträge: Indikativ Präsens<br />
Anfechtungsantrag und Fortsetzungsfeststellungsantrag<br />
Mit Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte unter Anordnung des<br />
Sofortvollzugs gegenüber dem Kläger ein weiteres Betretungs- und Aufenthaltsverbot;<br />
dieses Verbot galt für im Einzelnen aufgeführte Spieltage der<br />
Bundes- und Regionalligamannschaft des SC F für Termine zwischen dem<br />
27.9.2<strong>01</strong>4 und dem 21.12.2<strong>01</strong>4 jeweils für den Zeitraum 10.00 Uhr bis 22.00 Uhr<br />
für im Bescheid näher konkretisierte Bereiche im Umfeld des X-Stadions, des<br />
Y-Stadions, der Z-Straße sowie von Teilen der Innenstadt und des Stadtteils A<br />
ausgenommen die Wohnung des Klägers (Nr. I.1). Sie gab dem Kläger zudem<br />
auf, sich an bestimmten Spieltagen des SC F zu bestimmten Zeiten beim Polizeirevier<br />
F-Süd zu melden (Nr. I.2). Ferner wurde für den Bescheid eine Gebühr<br />
i.H.v. 150,-- € festgesetzt. Die Beklagte begründete den Bescheid mit ähnlichen<br />
Erwägungen wie bereits die unter dem 19.8.2<strong>01</strong>4 erlassene Verfügung.<br />
Unter dem 6.10.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte einen mit „Ergänzungsverfügung“<br />
überschriebenen weiteren Bescheid, durch den der Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4<br />
hinsichtlich der am 19.9.2<strong>01</strong>4 noch nicht bekannten konkreten Zeitpunkte<br />
dreier Fußballbegegnungen konkretisiert wurde. Der Erlass dieses Bescheides<br />
war bereits im Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4 angekündigt worden. Mit Schreiben<br />
vom 3.11.2<strong>01</strong>4 wies das Regierungspräsidium F den Kläger darauf hin, dass<br />
sich der Widerspruch vom 8.8.2<strong>01</strong>4 durch Zeitablauf erledigt habe.<br />
Mit Widerspruchsbescheid vom 8.12.2<strong>01</strong>4, zugestellt am 12.12.2<strong>01</strong>4, wies<br />
das Regierungspräsidium F den Widerspruch gegen die Bescheide der Stadt F<br />
vom 19.9.2<strong>01</strong>4 und 6.10.2<strong>01</strong>4 zurück.<br />
Der Kläger hat am 10.1.2<strong>01</strong>5 Klage erhoben.<br />
Zur Begründung führt er aus, die Ersetzung der fehlerhaften Verfügung vom<br />
30.7.2<strong>01</strong>4 durch Verfügung vom 19.8.2<strong>01</strong>4 sei eine (Teil-)Rücknahme der ersten<br />
Verfügung. Die Stadt F beschuldige ihn körperlicher Auseinandersetzungen<br />
bei Heim- und Auswärtsspielen. Im Schlussbericht seien als „Erkenntnisse zur<br />
Person des Beschuldigten“ lediglich ausgeführt, dass er als eine der Gewalt<br />
nicht abgeneigte Person eingestuft werde, die sich in den Jahren 2<strong>01</strong>2/13<br />
mit einer F-Gruppierung nachweislich an zwei Drittortauseinandersetzungen<br />
beteiligt und seine Beteiligung an einer dritten Drittortauseinandersetzung<br />
angekündigt habe. Die beschriebenen Gefahren gingen von ihm nicht aus.<br />
Der Kläger beantragt,<br />
die Gebührenfestsetzungen in den Bescheiden der Beklagten vom 30.7.2<strong>01</strong>4<br />
und vom 19.9.2<strong>01</strong>4 aufzuheben sowie festzustellen, dass das mit Bescheiden<br />
vom 19.8.2<strong>01</strong>4 und vom 19.9.2<strong>01</strong>4 angeordnete Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />
und die Meldeauflagen einschließlich deren Konkretisierung durch den<br />
Bescheid der Beklagten vom 6.10.2<strong>01</strong>4 rechtswidrig waren.<br />
Die Beklagte beantragt,<br />
die Klage abzuweisen.<br />
Beklagtenvorbringen:<br />
Präsens<br />
Konjunktiv<br />
Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt<br />
ergänzend vor, die Klage sei bereits unzulässig. Denn es bestehe kein für<br />
die Erhebung einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliches Feststellungsinteresse.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
39<br />
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />
„Die im Wege objektiver Klagehäufung (§ 44 VwGO) erhobenen Klagen<br />
sind zulässig. Soweit sich der Kläger gegen die Gebührenfestsetzungen<br />
in den Bescheiden vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 wendet, sind die<br />
Klagen als Anfechtungsklagen zulässig. Im Hinblick auf den Bescheid vom<br />
30.07.2<strong>01</strong>4 hat das Regierungspräsidium F das vom Kläger durch Widerspruch<br />
vom 08.08.2<strong>01</strong>4 eingeleitete Widerspruchsverfahren mit Schreiben vom<br />
03.11.2<strong>01</strong>4 formlos eingestellt. Die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage<br />
gegen die Gebührenfestsetzung ist als Untätigkeitsklage gemäß §§ 40,<br />
42, 75 VwGO zulässig. Auch die Klage gegen die Gebührenfestsetzung<br />
im Bescheid der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ist gemäß §§ 40, 42, 75 VwGO<br />
zulässig, nachdem die Stadt, die insoweit selbst Widerspruchsbehörde<br />
gewesen wäre, keinen Widerspruchsbescheid erlassen hat.<br />
Der Antrag des Klägers, festzustellen, dass das mit Bescheiden vom 19.08.2<strong>01</strong>4<br />
und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 angeordnete Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />
und die Meldeauflagen einschließlich deren Konkretisierung durch<br />
den Bescheid der Beklagten vom 06.10.2<strong>01</strong>4 rechtswidrig waren, ist als<br />
Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Die hier streitgegenständlichen<br />
Regelungen […] haben sich […] zwischenzeitlich durch Zeitablauf<br />
erledigt, § 43 Abs. 2 LVwVfG. […] Erledigt sich der Verwaltungsakt - wie<br />
hier der Verwaltungsakt vom 19.08.2<strong>01</strong>4 - bereits vor Klageerhebung, findet<br />
[…] § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO entsprechende Anwendung.<br />
Der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklagen steht nicht der<br />
Ablauf von Rechtsmittelfristen entgegen. Gegen den Bescheid der<br />
Beklagten vom 19.08.2<strong>01</strong>4 hat er zwar keinen Widerspruch eingelegt, mutmaßlich<br />
aufgrund der Anmerkung der Beklagten in diesem Bescheid, der<br />
Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4 werde „auch<br />
auf diese Verfügung angewendet“. Daran, ob eine derartige Erstreckung<br />
rechtlich möglich ist, hat die Kammer Zweifel. Denn zum einen ist<br />
ein Widerspruch vor Ergehen des betreffenden Verwaltungsaktes<br />
nicht zulässig und verwandelt sich auch nicht nachträglich in einen<br />
zulässigen Widerspruch, und zum anderen unterliegt es allein der<br />
Dispositionsbefugnis des Bürgers, ob er gegen einen (erneuten)<br />
Bescheid Widerspruch einlegen will oder nicht; […]<br />
Ob der Kläger rechtswirksam Widerspruch eingelegt hat, Erledigung durch<br />
Zeitablauf somit während des bereits laufenden Widerspruchsverfahren<br />
eingetreten ist, oder ob es an einem rechtswirksamen Widerspruch<br />
fehlt, und wenn ja, ob dieser entbehrlich gewesen ist, kann jedoch<br />
letztlich dahinstehen. Denn Erledigung des am 19.08.2<strong>01</strong>4 erlassenen<br />
Verwaltungsaktes ist am Samstag, dem 20.09.2<strong>01</strong>4 und damit während<br />
der gemäß § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 2 VwGO bis zum Montag, dem<br />
22.09.2<strong>01</strong>4, laufenden Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO eingetreten.<br />
In allen genannten Konstellationen bedürfte es jedenfalls<br />
nach dem 20.09.2<strong>01</strong>4 der Einleitung bzw. (weiteren) Durchführung<br />
eines Widerspruchsverfahrens nicht mehr, da dieses seine Aufgabe<br />
(Selbstkontrolle der Verwaltung, Zweckmäßigkeitsprüfung) nicht<br />
mehr erfüllen könnte. Stattdessen stand mit Ablauf des 20.09.2<strong>01</strong>4 dem<br />
Kläger die […] Fortsetzungsfeststellungsklage offen.<br />
Beachte die Einbindung des § 44<br />
VwGO in den Obersatz.<br />
In der Klausur sollte allerdings<br />
zunächst ein umfassender Ergebnissatz<br />
vorangestellt werden, z.B.: „Die<br />
Klage hat vollumfänglich Erfolg.“<br />
Zulässigkeit:<br />
1. Anfechtungsklage, z.T. in Form<br />
einer Untätigkeitsklage.<br />
2. FFK<br />
In der Klausur müssen im Rahmen<br />
der Zulässigkeit zumindest kurze<br />
Ausführungen zur Erledigung, zum<br />
Feststellungsinteresse und ggf. zur<br />
analogen Anwendung des § 113 I 4<br />
VwGO erfolgen.<br />
Kann ein bereits eingelegter Widerspruch<br />
auf eine später erlassene<br />
Verfügung erstreckt werden? Vgl.<br />
Kopp/Schenke, VwGO, § 68 Rn 2
40 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
H.M.: Keine Klagefrist, wenn Erledigung<br />
innerhalb der Widerspruchsfrist<br />
eintritt.<br />
FF-Interesse<br />
Vgl. BVerfG, Beschluss vom<br />
30.4.1997, 2 BvR 817/90, juris;<br />
BVerfG, Beschluss vom 5.7.2<strong>01</strong>3, 2<br />
BvR 370/13, juris; VGH Mannheim,<br />
Urteil vom 20.5.2<strong>01</strong>5, 6 S 494/15,<br />
juris; VGH München, Urteil vom<br />
4.2.2<strong>01</strong>4, 10 B 10.2913, juris<br />
Eine Kernaussage der Entscheidung:<br />
FF-Interesse verlangt keinen tiefgreifenden<br />
GR-Eingriff.<br />
BVerwG, Urteil vom <strong>16</strong>.5.2<strong>01</strong>3,<br />
8 C 20/12, juris;<br />
Urteil vom <strong>16</strong>.5.2<strong>01</strong>3, 8 C 38/12, juris;<br />
Urteil vom 20.6.2<strong>01</strong>3, 8 C 39/12, juris<br />
Diese ist nicht an die Klagefristen der §§ 74 Abs. 1, 58 Abs. 2 VwGO<br />
gebunden und in zeitlicher Hinsicht nur durch eine Verwirkung<br />
begrenzt. Für eine Verwirkung aber ist […] nichts ersichtlich. Im Hinblick<br />
auf die Bescheide der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 und 06.10.2<strong>01</strong>4 wurde der<br />
fristgerecht eingelegte Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid<br />
vom 08.12.2<strong>01</strong>4, zugestellt am 12.12.2<strong>01</strong>4, zurückgewiesen. Erledigung trat<br />
am 22.12.2<strong>01</strong>4, 22:00 Uhr ein, somit während der einmonatigen Klagefrist<br />
des § 74 Abs. 1 VwGO. Da die Klage am 10.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 und damit binnen<br />
Monatsfrist erhoben wurde, bestehen auch insoweit keine Bedenken an<br />
der Zulässigkeit der Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage.<br />
Der Kläger kann ferner bezüglich aller mit der Fortsetzungsfeststellungsklage<br />
angegriffenen Verwaltungsakte ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />
für sich reklamieren. […]<br />
Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich vorliegend aus<br />
dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, dass<br />
der Betroffene die Möglichkeit erhält, die Rechtmäßigkeit ihn belastender<br />
Eingriffsmaßnahmen nicht nur im Eil-, sondern auch und gerade in einem<br />
gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen zu lassen. Handelt es sich<br />
daher um Maßnahmen, die sich typischerweise - d.h. entsprechend der<br />
Eigenart des Verwaltungsakts - so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die<br />
Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner<br />
Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt<br />
werden könnten, eröffnet Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer Klärung<br />
der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts im Wege nachträglicher<br />
Feststellung. Das polizeirechtliche, auf § 27a Abs. 2 PolG BW gestützte<br />
Betretungs- und Aufenthaltsverbot gehört zu den sich typischerweise vor<br />
der Möglichkeit der Erlangung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes<br />
im Hauptsacheverfahren erledigenden Maßnahmen; […] Art. 19 Abs. 4 GG<br />
wurde bei der Frage, inwieweit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse vorliegt,<br />
in der Vergangenheit häufig im Zusammenhang mit tiefgreifenden<br />
Grundrechtseingriffen, insbesondere solcher, die das Grundgesetz selbst<br />
unter Richtervorbehalt gestellt hat, fruchtbar gemacht […]. Insoweit kann<br />
aber dahinstehen, inwieweit ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot den<br />
grundrechtsrelevanten Bereich der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2<br />
Satz 2 GG bzw. das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG berührt und<br />
deshalb bereits einen hinreichend tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt.<br />
Denn nach Auffassung der Kammer ist ein auf Art. 19 Abs. 4 GG<br />
gestütztes Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht auf Fälle tiefgreifender<br />
Grundrechtseingriffe beschränkt.<br />
Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Urteilen aus dem<br />
Jahr 2<strong>01</strong>3 festgestellt, die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach<br />
Art. 19 Abs. 4 GG differenziere nicht nach der Intensität des erledigten<br />
Eingriffs und dem Rang der betroffenen Rechte. „Sie gilt auch<br />
für einfach-rechtliche Rechtsverletzungen, die - von der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen - kein Grundrecht<br />
tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte<br />
und Grundfreiheiten.“ […]
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
41<br />
Nimmt man die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts<br />
zu Art. 19 Abs. 4 GG ernst, so ist im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG ein<br />
Fortsetzungsfeststellungsinteresse in Fällen typischerweise kurzfristiger<br />
Erledigung eines Verwaltungsaktes zu bejahen, ohne dass<br />
es insoweit besonderer Anforderungen etwa an die Intensität des<br />
Grundrechtseingriffs bedürfte. […]<br />
Die Klagen sind ferner vollumfänglich begründet.<br />
Die Begründetheit der gegen die Gebührenfestsetzungen in den<br />
Bescheiden der Beklagten vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ergibt sich<br />
bereits daraus, dass eine Gebühr, die für eine rechtswidrige Amtshandlung<br />
erhoben wird, deren Schicksal teilt und selbst als rechtswidrig zu qualifizieren<br />
ist.<br />
Die in den Bescheiden vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>5 erlassenen<br />
Betretungs- und Aufenthaltsverbote sowie Meldeauflagen aber erweisen<br />
sich, wie sich aus den Ausführungen unter ... ergibt, als rechtswidrig. Auch<br />
die Gebührenfestsetzungen sind daher rechtswidrig und verletzen den<br />
Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).<br />
Auch die Fortsetzungsfeststellungsklagen sind begründet. Denn die<br />
Bescheide vom 30.07.2<strong>01</strong>4, 19.08.2<strong>01</strong>4 und 19.09.2<strong>01</strong>4 in Gestalt der<br />
Konkretisierung durch den Bescheid vom 06.10.2<strong>01</strong>4 waren rechtswidrig.<br />
Der Bescheid der Beklagten vom 30.07.2<strong>01</strong>4 ist bereits wegen eines<br />
Anhörungsmangels formal rechtswidrig gewesen. Nach § 28 Abs. 1<br />
LVwVfG ist einem Beteiligten vorbehaltlich der Ausnahmen in § 28 Abs. 2, 3<br />
LVwVfG Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen<br />
Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in<br />
seine Rechte eingreift. Eine Anhörung des Klägers durch die Beklagte vor<br />
Erlass des Bescheides vom 30.07.2<strong>01</strong>4 hat nicht stattgefunden.<br />
Dafür, dass Ausnahmegründe i.S.d. § 28 Abs. 2, 3 LVwVfG gegeben<br />
wären […] gibt es vorliegend keine hinreichenden Anhaltspunkte.<br />
Zwar erhielt die Beklagte erst durch Schreiben des Polizeipräsidiums F vom<br />
23.07.2<strong>01</strong>4 davon Kenntnis, dass es über den Kläger personenbezogene<br />
Kenntnisse gibt, wonach er sich an körperlichen Auseinandersetzungen<br />
außerhalb von Fußballbegegnungen beteilige und die Wahrscheinlichkeit<br />
für die zukünftige Straftatenbegehung als hoch zu bezeichnen sei, […].<br />
Dennoch blieb der Beklagten ungefähr eine Woche bis zum geplanten<br />
Erlass der beantragten Auflagen und Verbote vor der ersten anstehenden<br />
Begegnung. […] Dass durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung<br />
kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust eingetreten wäre, der im Sinne<br />
von § 28 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge gehabt<br />
hätte, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät<br />
gekommen wäre, um ihren Zweck zu erreichen, kann die Kammer […] nicht<br />
erkennen. […]<br />
Der Anhörungsmangel ist vorliegend auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3<br />
LVwVfG unbeachtlich. Nach dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen § 28<br />
LVwVfG unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten<br />
bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen<br />
Verfahrens (Abs. 2) nachgeholt wird.<br />
So bereits VG Freiburg, Urteil vom<br />
23.2.2<strong>01</strong>2, 4 K 2649/10, juris; vgl.<br />
auch OVG Bautzen, Urteil vom<br />
27.1.2<strong>01</strong>5, 4 A 533/13, juris; ebenso<br />
Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn 145,<br />
mwN.<br />
Begründetheit<br />
Anfechtungsklage<br />
Verweisungen „nach unten“ sollten<br />
vermieden werden, was sich hier<br />
jedoch aufgrund des Umstandes,<br />
dass das Gericht erst den<br />
Anfechtungsantrag (Klageantrag<br />
zu 1.) und anschließend den<br />
Feststellungsantrag (Klageantrag zu<br />
2.) geprüft hat, nicht vermeiden ließ.<br />
FFK<br />
Formelle Rechtswidrigkeit wegen<br />
Anhörungsmangel<br />
Das LVwVfG BW entspricht im<br />
Wesentlichen dem VwVfG des<br />
Bundes.<br />
Keine Ausnahme vom Anhörungserfordernis<br />
Keine Heilung des Anhörungsmangels
42 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
BVerwG, Urteil vom 24.6.2<strong>01</strong>0,<br />
3 C 14/09, juris; Kopp/Ramsauer,<br />
VwVfG, § 45 Rn 26, mwN.<br />
Nach Darlegung der allgemeinen<br />
Maßstäbe folgt die Subsumtion<br />
Keine Heilung der Anhörung nach<br />
Erledigung!<br />
Heilung mit Durchführung des Vorverfahrens?<br />
Nicht durch bloße Einlegung des<br />
Widerspruchs<br />
Erforderlich ist vielmehr inhaltliche<br />
Auseinandersetzung mit dem Vorbringen<br />
des Widerspruchsführers<br />
In einem Urteilsentwurf muss § 46<br />
VwVfG – anders als im Gutachten –<br />
direkt im Anschluss an die Prüfung<br />
des § 45 VwVfG angesprochen<br />
werden.<br />
Obwohl die Ausführungen zur materiellen<br />
Rechtswidrigkeit nicht mehr<br />
tragend sind, ist es nicht unüblich,<br />
dass die Gerichte ihre Entscheidungen<br />
auf „zwei Beine“ stellen.<br />
In der Klausur gilt es, Verweisungen<br />
nach unten zu vermeiden.<br />
Eine Heilung in diesem Sinne tritt allerdings nur dann ein, wenn die<br />
Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre<br />
Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt<br />
erreicht wird. Das setzt voraus, dass der Beteiligte - nachträglich - eine<br />
vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und die Behörde<br />
die vorgebrachten Argumente zum Anlass nimmt, die ohne vorherige<br />
Anhörung getroffene Entscheidung kritisch zu überdenken. […]<br />
Gemessen daran ist eine Heilung hier nicht erfolgt. Eine Heilung des<br />
Anhörungsfehlers wäre nur bis zum 17.08.2<strong>01</strong>4 möglich gewesen, da<br />
sich die Aufenthalts- und Betretungsverbote bzw. Meldeauflagen zu<br />
diesem Zeitpunkt durch Zeitablauf erledigten und eine Nachholung<br />
der Anhörung nach Erledigung eines Verwaltungsaktes nicht mehr<br />
in Betracht kommt. Bis zu diesem Zeitpunkt aber war eine Heilung nicht<br />
erfolgt.<br />
Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine unterbliebene<br />
Anhörung regelmäßig auch dadurch geheilt werden kann, dass der<br />
Betroffene auf Grundlage der dem Verwaltungsakt beigefügten Begründung<br />
die Möglichkeit hat, im Rahmen der Widerspruchsbegründung zu den im<br />
Bescheid verwerteten Tatsachen Stellung zu nehmen und weitere ihm<br />
bedeutsam erscheinende Tatsachen vorzutragen. Vorliegend hat der Kläger<br />
am 08.08.2<strong>01</strong>4 Widerspruch eingelegt.<br />
Allerdings führt nicht bereits die Widerspruchseinlegung als solche<br />
zu einer Heilung des Verfahrensmangels der Anhörung. Eine Heilung<br />
tritt nämlich nicht bereits aufgrund schlichter isolierter Nachholung der<br />
fehlerhaften oder versäumten Verfahrenshandlung ein. […] Vielmehr<br />
bedarf es hierfür insbesondere im Falle einer zunächst unterbliebenen<br />
Anhörung im Anschluss an deren Nachholung einer nochmaligen<br />
neuen und unvoreingenommenen Überprüfung des ursprünglichen<br />
Verwaltungsaktes durch die Behörde anhand etwaigen Vorbringens<br />
des Betroffenen sowie aller seit dem Erlass des Verwaltungsaktes<br />
zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen der Rechts- oder<br />
Sachlage und des Weiteren einer daran anschließenden Entscheidung<br />
über die Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes. […] Vorliegend hat die<br />
Beklagte ihre Ausgangsentscheidung bis zum 19.08.2<strong>01</strong>4 nicht überprüft<br />
und lediglich unter dem 19.08.2<strong>01</strong>4 einen neuen, teilweise inhaltlich<br />
abweichenden Bescheid erlassen, der den Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4 für<br />
die Zukunft ersetzte. Nachdem folglich eine Heilung gemäß § 45 LVwVfG<br />
nicht stattgefunden hat und bei der im Ermessen der Behörde stehenden<br />
Verhängung von Aufenthalts- und Betretungsverboten auch kein Fall des<br />
§ 46 LVwVfG gegeben ist, war der Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4, soweit er<br />
die genannten Aufenthalts- und Betretungsverbote sowie Meldeauflagen<br />
betraf, rechtswidrig.<br />
Abgesehen davon ist der Bescheid auch deshalb rechtswidrig gewesen,<br />
weil die Voraussetzungen des § 27a Abs. 2 PolG nicht vorgelegen haben<br />
(vgl. dazu die Ausführungen unter ..., die auf diesen Bescheid uneingeschränkt<br />
übertragbar sind).<br />
Auch der Bescheid vom 19.08.2<strong>01</strong>4 ist bereits wegen eines Anhörungsmangels<br />
formal rechtswidrig gewesen. […]
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
43<br />
Auch der Bescheid vom 19.09.2<strong>01</strong>4, konkretisiert durch Bescheid vom<br />
06.10.2<strong>01</strong>4, ist im Ergebnis rechtswidrig gewesen. Zwar sind diese<br />
Bescheide formell rechtmäßig zustande gekommen. […] Das mit Bescheid<br />
vom 19.09.2<strong>01</strong>4 unter Nr. I.1. gegen den Kläger verhängte Aufenthalts- und<br />
Betretungsverbot betreffend näher bestimmte Bereiche Fs an einzelnen<br />
Tagen im Zeitraum vom 27.09.2<strong>01</strong>4 bis zum 21.12.2<strong>01</strong>4, konkretisiert durch<br />
Bescheid vom 06.10.2<strong>01</strong>4, erweist sich jedoch als materiell rechtswidrig.<br />
Das Aufenthalts- und Betretungsverbot ist auf § 27a Abs. 2 PolG gestützt.<br />
Nach § 27a Abs. 2 PolG kann die Polizei einer Person verbieten, einen<br />
bestimmten Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde<br />
oder ein Gemeindegebiet zu betreten oder sich dort aufzuhalten, wenn<br />
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat<br />
begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird (Aufenthaltsverbot). Das<br />
Aufenthaltsverbot ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat<br />
erforderlichen Umfang zu beschränken und darf räumlich nicht den<br />
Zugang zur Wohnung der betroffenen Person umfassen (Satz 2). Es darf die<br />
Dauer von drei Monaten nicht überschreiten (Satz 3). Die Beklagte stützt<br />
die gegen den Kläger verhängten Aufenthalts- und Betretungsverbote auf<br />
Erkenntnisse der Polizei. Danach sei der Kläger dem erweiterten Umfeld der<br />
Fer Problemfanszene (Drittortszene) zuzurechnen, die sich aus Personen<br />
der „ABC“ und „DEF“ zusammensetze. Auch wenn der Kläger keiner der<br />
Gruppen zuzuordnen sei, beteilige er sich vorsätzlich und willentlich an<br />
geplanten Schlägereien. […] Der Umstand, dass der Kläger sich nachweislich<br />
in der Saison 2<strong>01</strong>2/13 an Drittortauseinandersetzungen beteiligt<br />
habe, zeige seinen Hang zur Gewalt und dazu, bei Fußballbegegnungen<br />
die Konfrontation zu gegnerischen Fans erneut bewusst zu suchen. […]<br />
Diese polizeiliche Auswertung der Sachlage und Gefahreneinschätzung, die<br />
in der mündlichen Verhandlung von Herrn K vom Polizeirevier F-Süd weiter<br />
erläutert wurde, rechtfertigt zur Überzeugung der Kammer ein Betretungsund<br />
Aufenthaltsverbot gegen den Kläger für Bereiche der Innenstadt bzw.<br />
um das Stadion herum nicht. Vielmehr fehlte es insoweit im Herbst 2<strong>01</strong>4<br />
an Tatsachen, die die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger gerade<br />
in den vom Aufenthaltsverbot betroffenen Bereichen - und nur hierauf<br />
kommt es an - eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen<br />
werde, so dass bereits der Tatbestand des § 27a Abs. 2 PolG nicht erfüllt<br />
gewesen ist.<br />
Zwar ist die Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Frage, wann<br />
gegen ein Mitglied einer gewaltbereiten Fangruppierung bzw. einer<br />
Hooliganggruppe ein Aufenthalts- und Betretungsverbot erlassen werden<br />
kann, weil Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person in dem<br />
vom Aufenthaltsverbot erfassten Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer<br />
Begehung beitragen wird, relativ großzügig. So wird zu Recht nicht verlangt,<br />
dass dem Betroffenen im Einzelnen eine konkrete Tatbegehung<br />
nachgewiesen werden kann; selbst der Nachweis der Zugehörigkeit<br />
zum Kernbereich der gewalttätigen Fan- bzw. Hooliganszene wird als<br />
nicht erforderlich erachtet. […]<br />
Materielle Rechtswidrigkeit<br />
1. Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />
Inhalt des § 27a II PolG BW<br />
Tatbestandsvoraussetzung („dort<br />
eine Straftat begeht“) der Ermächtigungsgrundlage<br />
nicht erfüllt.<br />
VG Minden, Beschluss vom 2.10.2<strong>01</strong>4,<br />
11 L 763/14, juris;<br />
VG Arnsberg, Beschluss vom 1.7.2009,<br />
3 L 345/09, juris;<br />
VG Aachen, Beschluss vom 26.4.2<strong>01</strong>3,<br />
6 L 170/13, juris;<br />
VG Hannover, Beschluss vom 21.7.2<strong>01</strong>1,<br />
10 B 2096/11, juris
44 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Bloße Vermutungen genügen nicht.<br />
Vielmehr aussagekräftige Hinweise<br />
erforderlich, dass gerade an dem<br />
Ort, für den das Aufenthaltsverbot<br />
gilt, Straftaten begangen werden<br />
sollen.<br />
2. Meldeauflage.<br />
Achtung: Sämtliche Regelungen<br />
aller Bescheide sind zu prüfen!<br />
Ermächtigungsgrundlage für Meldeauflage:<br />
Generalklausel<br />
BVerwG, Urteil vom 25.7.2007,<br />
6 C 39/06, juris; VGH Mannheim,<br />
Beschluss vom 15.6.2000,<br />
1 S 1271/00, juris<br />
Mangelhafte Gefahrenprognose<br />
Andererseits lassen sich Maßnahmen auf Grundlage des § 27a Abs. 2<br />
PolG nicht auf reine Vermutungen stützen; vielmehr müssen aussagekräftige,<br />
tatsächliche Hinweise dafür vorliegen, dass der Betreffende<br />
nicht nur allgemein, sondern gerade dort, wo das Aufenthaltsverbot<br />
gelten soll, eine Straftat verüben wird. An derartigen aussagekräftigen<br />
Hinweisen dafür, dass der Kläger zukünftig in den vom Aufenthalts- und<br />
Betretungsverbot erfassten Bereichen eine Straftat begehen oder zu ihrer<br />
Begehung beitragen würde, aber fehlt es nach Auffassung der Kammer. […]<br />
Auch die Meldeauflage in dem Bescheid der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ist<br />
(Nr. I.2.) als rechtswidrig zu qualifizieren. Eine Meldeauflage zielt darauf, dass<br />
die betreffende Person sich bei einer bestimmten polizeilichen Dienststelle<br />
zu einem bestimmten Zeitpunkt „melden“ muss. Im Gegensatz zu einem<br />
Aufenthalts- und Betretungsverbot regelt sie unmittelbar nicht das<br />
„Wegbleiben“ vom einem bestimmten Ort, sondern das „Hinkommen“<br />
zu einer Polizeidienststelle.<br />
Mangels spezialgesetzlicher Grundlage lässt sich eine derartige Meldeauflage<br />
auf die polizeiliche Generalklausel (§§ 1, 3 PolG) stützen.<br />
Voraussetzung für den Erlass einer Meldeauflage ist danach das Vorliegen<br />
einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wobei<br />
eine objektive ex-ante-Sicht maßgeblich ist. Die Beklagte hat den Erlass<br />
der Meldeauflage damit begründet, dass der Kläger von einer Anreise zum<br />
Auswärtsspielort des SC F und dadurch von der Teilnahme an hooligantypischen<br />
Auseinandersetzungen bei Auswärtsspielen habe abgehalten<br />
werden sollen. Damit lässt sich jedoch der Erlass einer Meldeauflage nicht<br />
rechtfertigen. Ebenso wenig nämlich wie konkrete Anhaltspunkte<br />
dafür bestanden, der Kläger werde im Bereich des Stadions Straftaten<br />
begehen, bestand eine hinreichend konkrete Gefahr dafür, dass der<br />
Kläger bei Auswärtsspielen am Auswärtsspielort straffällig werden<br />
würde. […]“<br />
Z.B.: Bad.-Württ., Termin Dez. 2<strong>01</strong>4,<br />
2. Klausur; Hessen, Termin Sept.<br />
2<strong>01</strong>5, 2. Klausur; NRW, März 2<strong>01</strong>5,<br />
1. Klausur, Sept. 2<strong>01</strong>5, 2. Klausur,<br />
Okt. 2<strong>01</strong>5, 1. Klausur; Rh.-Pfalz,<br />
Termin Okt. 2<strong>01</strong>5, 1. Klausur<br />
FAZIT<br />
Klausuren des 2. Staatsexamens befassen sich in allen Bundesländern immer<br />
wieder mit Problemen aus dem Bereich des POR. Dabei geht es jedoch im<br />
Gegensatz zu den Klausuren des 1. Staatsexamens weniger um die „großen“<br />
juristischen Probleme wie z.B. die Verfassungsmäßigkeit des Merkmals der<br />
öffentlichen Ordnung, sondern um die genaue Betrachtung der Details des konkreten<br />
Falles. Dazu gehört insbesondere eine intensive Auseinandersetzung<br />
mit der behördlichen Gefahrenprognose, die immer wieder Schwerpunkt der<br />
Klausuren ist. Prozessual verknüpft ist das POR bei Hauptsacheentscheidungen<br />
regelmäßig mit der FFK in analoger Anwendung des § 113 I 4 VwGO. Genau<br />
diese Kombination weist das vorgestellte Urteil des VG Freiburg auf, das<br />
zudem den Leser dazu zwingt, seine Kenntnisse zu dem Klassiker „Heilung<br />
einer fehlenden Anhördung mit Durchführung des Vorverfahrens“ kritisch zu<br />
überprüfen.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Strafrecht<br />
45<br />
ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />
Problem: Hypothetische Einwilligung<br />
Einordnung: Rechtfertigungsgründe<br />
AG Moers, Urteil vom 22.10.2<strong>01</strong>5<br />
6<strong>01</strong> Ds-103 Js 80/14-44/15<br />
EINLEITUNG<br />
Das AG Moers lehnt – in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Literatur – in<br />
der vorliegenden Entscheidung den vom BGH anerkannten Rechtfertigungsgrund<br />
der hypothetischen Einwilligung ab.<br />
SACHVERHALT<br />
Die Nebenklägerin N wurde aufgrund anhaltender Beschwerden von ihrem<br />
Frauenarzt zu einer ambulanten Operation in die Frauenklinik des A-Krankenhauses<br />
in B überwiesen. Am 14.11.2<strong>01</strong>3 fand dort die Voruntersuchung durch<br />
den Chefarzt Dr. U statt, welcher N in dem Zusammenhang über den geplanten<br />
ambulanten Eingriff - eine sogenannte Marsupialisation: die Eröffnung der<br />
Drüse mit anschließender Nahtversorgung zur Ermöglichung des Sekretabflusses<br />
- aufklärte. Nach der erfolgten Aufklärung unterzeichnete N die<br />
Einwilligungserklärung mit folgendem Wortlaut:<br />
„[...] Ich willige in den umseitig vermerkten Eingriff ein. Mit der Schmerzbetäubung,<br />
mit unvorhersehbaren, sich erst während des Eingriffs als medizinisch notwendig<br />
erweisenden Änderungen oder Erweiterungen sowie mit erforderlichen Nebenund<br />
Folgeeingriffen bin ich ebenfalls einverstanden. [...]“<br />
Die Operation sollte am Folgetag stattfinden. Operateur war der Angeklagte<br />
A, der zum damaligen Zeitpunkt leitender Oberarzt der Klinik war. Als N sich<br />
bereits in Narkose befand, wurde sie von A untersucht. Dieser konnte die noch<br />
am Vortag bei der Voruntersuchung im Bereich der linken Labie festgestellte<br />
Zyste nicht feststellen. Stattdessen ertastete er im Bereich der rechten großen<br />
Labie eine 2x2 cm große solide Resistenz, deren Entfernung und histologische<br />
Untersuchung er (zutreffend) für medizinisch indiziert hielt. A, der sich bewusst<br />
war, dass eine Absprache mit N betreffend die Entfernung des (rechtsseitigen)<br />
Befunds zur histologischen Abklärung nicht erfolgt und die Entnahme des<br />
Gewebes nicht eilbedürftig war, entschloss sich - das Einverständnis der Patientin<br />
voraussetzend - zur Vermeidung einer weiteren Operation gleichwohl<br />
zur sofortigen Entfernung der Resistenz.<br />
LEITSATZ (DES BEARBEITERS)<br />
Eine tatbestandliche Körperverletzung<br />
kann nicht über eine sog.<br />
hypothetische Einwilligung gerechtfertigt<br />
sein; diesem Rechtfertigungsgrund<br />
ist im Strafrecht die Anerkennung<br />
zu versagen.<br />
Hat A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I strafbar gemacht?<br />
[Anm.: Ein ggf. erforderlicher Strafantrag ist gestellt.]<br />
PRÜFUNGSSCHEMA: KÖRPERVERLETZUNG, § 223 StGB<br />
A. Tatbestand<br />
I. Körperliche Misshandlung/Gesundheitsschädigung<br />
II. Vorsatz<br />
B. Rechtswidrigkeit<br />
C. Schuld
46 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
LÖSUNG<br />
Durch die Operation könnte A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB<br />
zum Nachteil der N strafbar gemacht haben.<br />
I. Tatbestand<br />
BGH, Urteil vom 05.07.2007, 4 StR<br />
549/06, NStZ-RR 2007, 340, 341<br />
„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs […] stellt jeder<br />
ärztliche Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eine tatbestandsmäßige<br />
Körperverletzung dar. Vom Vorliegen des objektiven Tatbestandes<br />
sowie des erforderlichen Vorsatzes ist dementsprechend ohne<br />
weiteres auszugehen.“<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
A müsste auch rechtswidrig gehandelt haben.<br />
1. Rechtfertigende ausdrückliche Einwilligung der N<br />
A könnte durch eine ausdrückliche Einwilligung der N gerechtfertigt sein.<br />
Tatsächlich durchgeführte Operation<br />
ist nicht von der Einwilligungserklärung<br />
des Opfers gedeckt.<br />
„Eine ausdrückliche Einwilligung in den erfolgten Eingriff, welche die<br />
Rechtswidrigkeit entfallen ließe, ist nicht anzunehmen. Soweit die Verteidigung<br />
sich insoweit auf die von der Nebenklägerin unterzeichnete Einwilligungserklärung,<br />
namentlich auf den Passus mit ‚[...] sich erst während des<br />
Eingriffs als medizinisch notwendig erweisenden Änderungen oder Erweiterungen<br />
[...] bin ich ebenfalls einverstanden‘ berufen hat, ist nicht davon<br />
auszugehen, dass dieser den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt. Der tatsächlich<br />
vorgenommenen Operation lag […] ein gänzlich anderer Befund<br />
zugrunde, als der geplanten Maßnahme. Infolge dessen erforderte der Eingriff<br />
von Vornherein deutlich weiter gehende Maßnahmen als diejenigen,<br />
die im Rahmen des geplanten Eingriffs grundsätzlich vorgesehen waren:<br />
[Insbesondere] erforderte die vom Angeklagten zutreffend als indiziert<br />
beurteilte histologische Untersuchung der von ihm rechtsseitig ertasteten<br />
Resistenz in jedem Falle eine vollständige […] Entfernung des Gewebes<br />
(mit zwingend anschließendem stationärem Aufenthalt), wohingegen die<br />
geplante Behandlung des zystischen Befundes linksseitig grundsätzlich<br />
lediglich eine (ambulante) Eröffnung des Gewebes mit anschließender<br />
Nahtversorgung erfordert hätte. Angesichts dessen kann nicht angenommen<br />
werden, dass die von der Nebenklägerin abgegebene Einwilligungserklärung<br />
den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt, zumal und<br />
maßgeblich weil die erfolgte Operation gerade an gänzlich anderer Stelle<br />
- wenn auch innerhalb desselben Organs - durchgeführt worden ist.“<br />
Die durchgeführte Operation ist also von der Einwilligungserklärung der N nicht<br />
gedeckt und A deshalb nicht durch eine ausdrückliche Einwilligung gerechtfertigt.<br />
2. Rechtfertigende mutmaßliche Einwilligung der N<br />
A könnte jedoch durch eine mutmaßliche Einwilligung der N gerechtfertigt<br />
sein.<br />
Mutmaßliche Einwilligung nur bei<br />
fehlender Möglichkeit der Einholung<br />
einer ausdrücklichen Einwilligung<br />
„Der Eingriff ist auch nicht im Wege der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt.<br />
Das Eingreifen der mutmaßlichen Einwilligung setzt voraus,<br />
dass eine Einwilligung des Patienten nicht eingeholt werden kann. Für<br />
den hier in Rede stehenden Fall, dass der Arzt intraoperativ vor der Frage<br />
steht, ob er eine mit Zustimmung des Patienten begonnene Operation
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Strafrecht<br />
47<br />
aufgrund von veränderten Umständen abbrechen oder fortsetzen soll,<br />
kommt nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die<br />
Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes<br />
des Patienten dann nicht in Betracht, wenn die Verzögerung<br />
des Eingriffs, die durch die Aufklärung und Einholung der Einwilligungserklärung<br />
entstünde, nicht mit akuter Lebensgefahr oder erheblichen Risiken<br />
für die Gesundheit des Patienten verbunden ist.<br />
Eine Operationserweiterung ohne Zustimmung des Patienten allein<br />
unter dem Gesichtspunkt, dass eine weitere Operation - sollte sie vom<br />
Patienten gewünscht werden - mit den (üblichen) körperlichen oder<br />
seelischen Belastungen verbunden wäre, ist dementsprechend in aller<br />
Regel unzulässig. Anderenfalls liefe das Selbstbestimmungsrecht des<br />
Patienten weitgehend leer. Nach diesen Maßgaben scheidet die Annahme<br />
einer mutmaßlichen Einwilligung im vorliegenden Fall aus. Denn der vom<br />
Angeklagten vorgenommene Eingriff war […] gerade nicht in dem Sinne<br />
eilbedürftig, dass eine Verzögerung weitere Risiken barg, als diejenigen, die<br />
mit einer Folgeoperation zwangsläufig verbunden sind.“<br />
BGH, Urteil vom 04.10.1999, 5 StR<br />
712/98, NJW 2000, 885<br />
A ist somit auch nicht durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt.<br />
3. Rechtfertigende hypothetische Einwilligung der N<br />
Denkbar wäre schließlich eine Rechtfertigung des A durch eine hypothetische<br />
Einwilligung der N.<br />
„Schließlich ist auch nicht von einer Rechtfertigung des Eingriffs unter dem<br />
Gesichtspunkt der hypothetischen Einwilligung auszugehen.<br />
Nach Auffassung des Gerichts ist der im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht<br />
entwickelten Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung für<br />
den Bereich des Strafrechts bereits die Anerkennung zu versagen.<br />
Dabei wird nicht verkannt, dass der 1. und 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs<br />
von einer Anwendbarkeit der Rechtsfigur auch bei der Beurteilung<br />
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes ausgehen. Dem<br />
ist jedoch aus triftigen Gründen nicht zu folgen.<br />
Die bei der hypothetischen Einwilligung aufgeworfene Frage, ob der<br />
Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den vorgenommenen<br />
ärztlichen Eingriff eingewilligt hätte, begegnet bereits methodischen<br />
Bedenken. Denn die Frage, wie sich ein Patient bei ordnungsgemäßer<br />
Aufklärung entschieden hätte, kann mangels Kenntnis entsprechender<br />
Naturgesetze prinzipiell kaum sinnvoll beantwortet werden, zumal<br />
unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nicht auf die Entscheidung<br />
eines vernünftigen Patienten, sondern auf diejenige des höchstpersönlich<br />
betroffenen Patienten abzustellen sein soll. Angesichts der<br />
hiermit verbundenen, kaum zu überwindenden praktischen Schwierigkeiten<br />
bei der Ermittlung des fiktiven Patientenwillens wäre aufgrund des<br />
im Strafrecht geltenden in-dubio-pro-reo-Grundsatzes ein angemessener<br />
Strafrechtsschutz des Patienten nicht mehr gewährleistet. […]<br />
Ferner spricht aus Sicht des Gerichts maßgeblich gegen die Anerkennung<br />
der hypothetischen Einwilligung, dass durch sie das - von den<br />
§§ 223 ff. StGB jedenfalls auch - geschützte Selbstbestimmungsrecht<br />
Hypothetische Einwilligung ist als<br />
Rechtfertigungsgrund abzulehnen.<br />
Zulässigkeit der hypothetischen Einwilligung:<br />
BGH, Urteil vom 05.07.2007,<br />
4 StR 549/06, NStZ-RR 2007, 340;<br />
Urteil vom 23.10.2007, 1 StR 238/07,<br />
NStZ 2008, 150; a.A.: Sowada, NStZ<br />
2<strong>01</strong>2, 1; Rönnau, JuS 2<strong>01</strong>4, 882<br />
Hypothetische Einwilligung führt<br />
zu unüberwindbaren praktischen<br />
Schwierigkeiten.<br />
Hypothetische Einwilligung würde<br />
das Selbstbestimmungsrecht des<br />
Patienten zu sehr aushöhlen.
48 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
des Patienten erheblich ausgehöhlt werden würde. Anders als die mutmaßliche<br />
Einwilligung, setzt die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung<br />
gerade nicht voraus, dass eine Einwilligung nicht bzw. nicht ohne<br />
erhebliche Risiken für Leib oder Leben des Patienten eingeholt werden<br />
kann. Überspitzt formuliert, könnte der Arzt seinem Patienten daher<br />
ohne jegliche Aufklärung jeden lege artis durchgeführten Eingriff im<br />
Vertrauen darauf aufzwingen, dass die medizinische Indikation und<br />
die sachkundige Ausübung des Eingriffs beim Richter zumindest hinreichende<br />
Zweifel auslösen werden, dass sich der Patient bei korrekter<br />
Information dem ärztlichen Votum angeschlossen hätte. Die Barriere,<br />
die der […] Subsidiaritätsgrundsatz im Fall der mutmaßlichen Einwilligung<br />
völlig zu Recht gegen ein Unterlaufen des Selbstbestimmungsrechts<br />
errichtet hat, würde damit gänzlich wieder eingerissen.<br />
Keine Vergleichbarkeit der hypothetischen<br />
Einwilligung mit anderen<br />
Rechtfertigungsgründen<br />
Keine Vergleichbarkeit der hypothetischen<br />
Einwilligung mit pflichtgemäßem<br />
Alternativverhalten<br />
Schließlich überzeugt die Annahme der hypothetischen Einwilligung als<br />
Rechtfertigungsgrund auch in dogmatischer Hinsicht nicht. Die Gründe,<br />
die das (vorläufige) Unwerturteil der Tatbestandsmäßigkeit in Rechtfertigungssituationen<br />
revidieren, liegen bei der hypothetischen Einwilligung<br />
gerade nicht vor: Weder stellt sich die hypothetische Einwilligung<br />
als Akt der Selbstbestimmung dar (als Surrogat der Einwilligung<br />
oder mutmaßlichen Einwilligung), noch war der ärztliche Heileingriff in<br />
Abwägung kollidierender Interessen zu diesem Zeitpunkt erforderlich<br />
(Erforderlichkeitsprinzip als Kennzeichen von Rechtfertigungsgründen).<br />
Dass die hypothetische Einwilligung als Rechtfertigungsgrund dementsprechend<br />
nicht taugt, wird letztlich auch daran deutlich, dass das<br />
in diesem Fall zwangsläufige Entfallen der Rechtswidrigkeit des Eingriffs<br />
konsequenter Weise zugleich zur Folge hätte, dass gegen einen<br />
auf Basis der hypothetischen Einwilligung handelnden Arzt keine Nothilfe<br />
geleistet werden dürfte. […]<br />
Soweit in der Literatur statt der Annahme eines Rechtfertigungsgrundes zur<br />
dogmatischen Begründung der hypothetischen Einwilligung der Gedanke<br />
des rechtmäßigen Alternativverhaltens aus dem Bereich der Zurechnungslehre<br />
fruchtbar gemacht wird, mit der Folge dass lediglich das Erfolgsunrecht<br />
ausgeschlossen sein soll, die Rechtswidrigkeit als solche hingegen<br />
unberührt bleibe, wird dieses untragbare Ergebnis zwar umgangen. Abgesehen<br />
davon, dass die übrigen bereits angeführten Einwände gegen die<br />
hypothetische Einwilligung durch diesen dogmatischen Kniff nicht ausgeräumt<br />
werden, vermag diese Anlehnung an die Zurechnungslehre aber<br />
auch sonst nicht zu überzeugen. Der Gedanke des rechtmäßigen Alternativverhaltens<br />
lässt sich nicht ohne Brüche von der Tatbestandsebene<br />
des Fahrlässigkeitsdelikts auf die Rechtfertigungsebene übertragen.<br />
[…] Im Falle des Fahrlässigkeitsdelikts entfällt die Zurechnung des<br />
tatbestandlichen Erfolgs unter dem Gesichtspunkt des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs<br />
dann, wenn es dem Täter auch im Falle rechtmäßigen<br />
Alternativverhaltens faktisch nicht möglich gewesen wäre, den<br />
Eintritt des Erfolges zu vermeiden. Der Arzt kann indessen in der Situation<br />
der hypothetischen Einwilligung den (Unrechts-)Erfolg faktisch immer<br />
vermeiden, indem er den Eingriff, von dem er weiß, dass er weder durch<br />
eine tatsächliche noch durch eine mutmaßliche Einwilligung gedeckt ist,<br />
schlichtweg unterlässt.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Strafrecht<br />
49<br />
Nach alledem ist die hypothetische Einwilligung nach hier vertretener<br />
Auffassung für den Bereich des Strafrechts abzulehnen. Selbst wenn man<br />
entgegen der hier vertretenen Ansicht der hypothetischen Einwilligung<br />
im Strafrecht die Anerkennung nicht versagen wollte, wäre im Übrigen im<br />
hier zu entscheidenden Fall eine Rechtfertigung (oder ein Ausschluss des<br />
Erfolgsunrechts) unter diesem Gesichtspunkt letztlich abzulehnen. Wie<br />
bereits angedeutet, setzt die Annahme einer hypothetischen Einwilligung<br />
voraus, dass davon auszugehen ist, dass der konkret betroffene Patient -<br />
hier die Nebenklägerin - auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den<br />
medizinisch indizierten und lege artis durchgeführten Eingriff eingewilligt<br />
hätte. Davon ist jedoch nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht<br />
auszugehen.“<br />
Selbst bei Anerkennung der hypothetischen<br />
Einwilligung lägen deren<br />
Voraussetzungen nicht vor.<br />
A ist auch nicht durch eine hypothetische Einwilligung gerechtfertigt und hat<br />
somit rechtswidrig gehandelt.<br />
III. Schuld<br />
Eine Strafbarkeit des A gem. § 223 I StGB könnte jedoch entfallen, wenn er sich<br />
irrig Umstände vorgestellt hätte, bei deren tatsächlichen Vorliegen er gerechtfertigt<br />
wäre (sog. Erlaubnistatbestandsirrtum).<br />
„[…] entfällt die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung auch<br />
nicht wegen Vorliegens eines Erlaubnistatbestandsirrtums. Ein solcher ist<br />
im vorliegenden Fall auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht<br />
gegeben. Wenn ein Arzt das fehlende Einverständnis des Patienten<br />
erkennt, einen körperlichen Eingriff aber gleichwohl für rechtlich<br />
zulässig hält, weil ihm dieser aus medizinischer Sicht sinnvoll und<br />
geboten erscheint, liegt kein Erlaubnistatbestands- sondern lediglich<br />
ein Verbotsirrtum (in Form des Erlaubnisirrtums) gemäß § 17 StGB vor.<br />
In diesem Fall missachtet er - wenn auch wohlmeinend - das dem Patienten<br />
grundsätzlich zustehende Selbstbestimmungsrecht und irrt damit lediglich<br />
über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes. Exakt so liegt der Fall hier.<br />
Der Angeklagte ging […] nicht vom Vorliegen einer tatsächlichen Einwilligung<br />
aus. Er nahm auch nicht irrtümlich Tatsachen an, bei deren Vorliegen<br />
eine mutmaßliche Einwilligung zu bejahen gewesen wäre. Vielmehr ging<br />
der Angeklagte nach seinen eigenen Angaben davon aus, dass der Eingriff<br />
aufgrund der medizinischen Indikation zur Vermeidung einer weiteren Operation<br />
und der hiermit verbundenen Narkose im Interesse der Nebenklägerin<br />
vorgenommen werden dürfe. Dieser Irrtum schließt auch die Schuld<br />
des Angeklagten nicht aus. Diese Wirkung kommt dem Verbotsirrtum nur<br />
dann zu, wenn er unvermeidbar war. Dies kann im Falle eines Irrtums vorstehend<br />
dargestellten Inhalts bei einem Arzt kaum je der Fall sein.“<br />
BGH, Urteil vom 04.10.1999, 5 StR<br />
712/98, NJW 2000, 885<br />
A hat also trotz seines Irrtums schuldhaft gehandelt.<br />
IV. Antrag<br />
Der gem. § 230 StGB erforderliche Strafantrag ist gestellt.<br />
V. Ergebnis<br />
A ist strafbar gem. § 223 I StGB.
50 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Problem: § 265a StGB durch Schwarzfahren<br />
Einordnung: Vermögensdelikte<br />
OLG Köln, Beschluss vom 02.09.2<strong>01</strong>5<br />
1 RVs 118/15<br />
EINLEITUNG<br />
Im vorliegenden Beschluss führt das OLG Köln – in Übereinstimmung mit der<br />
ständigen Rechtsprechung des BGH – aus, dass ein Erschleichen der Beförderung<br />
i.S.v. § 265a StGB voraussetzt, dass der Täter sich den „Anschein der Ordnungsgemäßheit“<br />
gibt. Diese Voraussetzung sei jedoch auch dann gegeben, wenn der<br />
Täter ein Schild bei sich trägt, auf dem ausdrücklich steht „Ich fahre schwarz“<br />
LEITSÄTZE (DES BEARBEITERS)<br />
1. Das Erschleichen einer Beförderungsleistung<br />
i.S.v. § 265a I StGB<br />
setzt voraus, dass der Täter ein Verkehrsmittel<br />
unberechtigt benutzt<br />
und sich dabei allgemein mit dem<br />
Anschein umgibt, er erfülle die<br />
nach den Geschäftsbedingungen<br />
des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen.<br />
2. Dieser „Anschein der Ordnungsgemäßheit“<br />
wird nicht dadurch ausgeschlossen,<br />
dass der Täter ein Schild<br />
bei sich führt, auf dem steht „Ich<br />
fahre schwarz“.<br />
SACHVERHALT<br />
Der Angeklagte A bestieg am 11.11.2<strong>01</strong>1 in L den ICE Richtung G und suchte<br />
sich einen Sitzplatz, ohne über eine Fahrkarte zu verfügen; zuvor hatte er<br />
einen Zettel mit der Aufschrift „Ich fahre schwarz“ in seine umgeklappte Wollmütze<br />
gesteckt, ohne sich beim Einsteigen oder bei der Sitzplatzsuche einem<br />
Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG (DB) zu präsentieren. Erst bei einer routinemäßigen<br />
Fahrscheinkontrolle wurde der Zugbegleiter Z auf A und den von<br />
diesem getragenen Zettel aufmerksam.<br />
Strafbarkeit des A?<br />
PRÜFUNGSSCHEMA: ERSCHLEICHEN VON LEISTUNGEN,<br />
§ 265a I 3. Fall StGB<br />
A. Tatbestand<br />
I. Tathandlung: Erschlichen der Beförderung durch ein<br />
Transportmittel, § 265 I 3. Fall StGB<br />
II. Vorsatz<br />
III. Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten<br />
B. Rechtswidrigkeit<br />
C. Schuld<br />
LÖSUNG<br />
Da § 265a I StGB formell subsidiär<br />
zu Delikten ist, die eine höhere Strafandrohung<br />
haben, insb. § 263 I StGB,<br />
sollten diese vorab geprüft werden,<br />
sofern sie ernsthaft in Betracht<br />
kommen.<br />
A. Strafbarkeit gem. § 263 I StGB ggü. Z u.z.N.d. DB<br />
Durch das Fahren mit dem ICE könnte A sich wegen Betrugs gem. § 263 I StGB<br />
gegenüber Z und zum Nachteil der DB strafbar gemacht haben.<br />
Dann müsste A den Z über Tatsachen getäuscht haben. Zwar hatte A keine<br />
Fahrkarte. Dies stand jedoch auch deutlich sichtbar auf dem Zettel an seiner<br />
Mütze stand, sodass Z dies sofort sah und somit nicht darüber getäuscht<br />
wurde, dass A im Besitz einer Fahrkarte sei.<br />
Mangels Täuschung ist somit eine Strafbarkeit gem. § 263 I StGB nicht gegeben.<br />
B. Strafbarkeit gem. § 263 I StGB ggü. Z u.z.N.d. DB<br />
A hatte den Zettel bewusst an seine Mütze gesteckt, weil er auch gar nicht<br />
den Eindruck erwecken wollte, dass er im Besitz einer Fahrkarte sei. A hatte
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Strafrecht<br />
51<br />
also keinen Tatentschluss, den Z hierüber zu täuschen. Somit ist A auch nicht<br />
wegen versuchten Betrugs gegenüber Z und zum Nachteil der DB strafbar.<br />
C. Strafbarkeit gem. § 265a I 3. Fall StGB z.N.d. DB<br />
Durch die Fahrt mit dem ICE könnte A sich wegen Erschleichens von Leistungen<br />
gem. § 265a I 3. Fall StGB zum Nachteil der DB strafbar gemacht haben.<br />
I. Tatbestand<br />
1. Tathandlung: Erschleichen der Beförderung durch ein Transportmittel,<br />
§ 265a I 3. Fall StGB<br />
A müsste die Beförderung durch ein Transportmittel – hier den ICE –<br />
erschlichen haben.<br />
„[<strong>16</strong>] Nach der Rechtsprechung wird eine Beförderungsleistung bereits<br />
dann im Sinne des § 265a Abs. 1 StGB erschlichen, wenn der Täter ein<br />
Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit<br />
dem Anschein umgibt, er erfülle die nach den Geschäftsbedingungen<br />
des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen. […]<br />
BGH, Beschluss vom 08.<strong>01</strong>.2009,<br />
4 StR 117/08, NJW 2009, 1091<br />
[17] Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der<br />
Angeklagte mit dem Einsteigen in den abfahrbereiten ICE und der anschließenden<br />
Sitzplatzsuche im Zug mit dem ‚Anschein der Ordnungsgemäßheit‘<br />
im Sinne der zitierten Rechtsprechungsgrundsätze umgeben hat. Der an<br />
seiner Mütze angebrachte Zettel mit der sicht- und lesbaren Aufschrift<br />
‚Ich fahre schwarz‘ war nicht geeignet, den durch das Einsteigen in<br />
den Zug gesetzten Anschein zu erschüttern. Insoweit wäre erforderlich<br />
gewesen, dass in offener und unmissverständlicher Weise nach<br />
außen zum Ausdruck gebracht wird, die Beförderungsbedingungen<br />
nicht erfüllen und den Fahrpreis nicht entrichten zu wollen. Dies war<br />
dem Gesamtverhalten des Angeklagten schon nicht zu entnehmen. Die<br />
Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Vorlageverfügung, die dem Verteidiger<br />
bekanntgemacht worden ist und auf die der Senat zur Begründung<br />
ergänzend Bezug nimmt, zutreffend darauf hingewiesen, dass sich der<br />
Angeklagte mit Ausnahme des an der Mütze zur Schau getragenen<br />
Zettels nach außen ordnungsgemäß verhielt, indem er im L‘er Hauptbahnhof<br />
ohne Erregung von Aufmerksamkeit den Zug bestieg wie<br />
alle anderen zahlenden oder zahlungswilligen Fahrgäste, durch die<br />
Wagen ging und einen Sitzplatz suchte, den er auch fand. Sein Verhalten<br />
erschien insbesondere auch deshalb zunächst regelkonform, weil die Beförderungsbedingungen<br />
im konkreten Fall ein Nachlösen der Fahrkarte im<br />
Zug ermöglichten. Die Zugbegleiter wurden auf die fehlende Bereitschaft<br />
des Angeklagten, das Beförderungsentgelt zu entrichten, erst bei der routinemäßigen<br />
Fahrscheinkontrolle während der Fahrt und damit nach Vollendung<br />
der Tat aufmerksam. Daraus lässt sich ohne weiteres schließen,<br />
dass es dem Angeklagten tatsächlich darum ging, die Beförderung nach<br />
Möglichkeit unentgeltlich zu erlangen, was indes nur gelingen konnte, weil<br />
sich der Angeklagte bis zu seiner Kontrolle durch die Zugbegleiter nicht<br />
hinreichend offenbart hatte. Der Senat schließt sich der auch insoweit<br />
zutreffenden Auffassung der Strafkammer an, nach der es nicht darauf<br />
ankommt, dass andere Fahrgäste vor dem Einsteigen oder während<br />
der Fahrt die Kundgabe mangelnder Zahlungsbereitschaft tatsächlich<br />
wahrgenommen haben. Abgesehen davon, dass sich der Fahrgast eines<br />
KG Berlin, Beschluss vom 02.03.2<strong>01</strong>1,<br />
(4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2<strong>01</strong>1,<br />
2600; OLG Naumburg, Beschluss<br />
vom 06.04.2009, 2 Ss 313/07
52 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
öffentlichen Verkehrsmittels nach der Lebenserfahrung regelmäßig nicht<br />
dafür interessiert, ob andere Fahrgäste die Beförderungsbedingungen<br />
erfüllen, sind Fahrgäste jedenfalls nicht befugt, den Fahrpreisanspruch der<br />
Deutschen Bahn AG durchzusetzen oder einen Fahrgast, der seine mangelnde<br />
Bereitschaft, das Beförderungsentgelt zu entrichten, zum Ausdruck<br />
bringt, am Betreten des Zuges oder an der Fortsetzung der Fahrt zu hindern.<br />
BGH, Beschluss vom 08.<strong>01</strong>.2009,<br />
4 StR 117/08, NJW 2009, 1091<br />
[18] Dieser Annahme steht die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs<br />
vom 08.<strong>01</strong>.2009 […] nicht entgegen. Soweit nach dieser das Tatbestandsmerkmal<br />
der Leistungserschleichung kein täuschungsähnliches oder manipulatives<br />
Verhalten voraussetzt, durch das sich der Täter in den Genuss der<br />
Leistung bringt, sondern es ausreichen kann, dass sich der Täter allgemein<br />
mit dem Anschein der Ordnungsgemäßheit umgibt, folgt daraus […] nicht,<br />
dass es regelmäßig auf den entsprechenden ‚Anscheinsempfängerhorizont‘<br />
und die tatsächliche Wahrnehmung anderer Fahrgäste ankommt.“<br />
A hat also die Beförderung durch ein Transportmittel erschlichen.<br />
2. Vorsatz<br />
A handelte vorsätzlich.<br />
3. Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten<br />
A hat gezielt gehandelt, um den Fahrpreis nicht zahlen zu müssen. Er hatte<br />
also die Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
A handelte rechtswidrig.<br />
III. Schuld<br />
A müsste auch schuldhaft gehandelt haben. Im vorliegenden Fall ist es nahe<br />
liegend, dass A glaubte, sich aufgrund des Zettels nicht gem. § 265a StGB<br />
strafbar zu machen. Dieser Verbotsirrtum könnte die Schuld des A gem. § 17<br />
S. 1 StGB entfallen lassen.<br />
AG Eschwege, Urteil vom 12.11.2<strong>01</strong>3,<br />
71 Cs – 9621 Js 14035/13<br />
KG Berlin, Beschluss vom 02.03.2<strong>01</strong>1,<br />
(4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2<strong>01</strong>1,<br />
2600<br />
„[22] Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten des<br />
Angeklagten angenommen und das Vorliegen eines unvermeidbaren<br />
Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB verneint. Soweit die Revision die Unvermeidbarkeit<br />
eines Verbotsirrtums mit dem Hinweis auf das freisprechende<br />
Urteil des Amtsgerichts Eschwege vom 12.11.2<strong>01</strong>3 zu begründen sucht,<br />
hat sich bereits die Strafkammer mit diesem Einwand auseinandergesetzt<br />
und zutreffend darauf hingewiesen, dass dieses Urteil in anderer Sache<br />
erst nach der Tat ergangen ist und der Angeklagte sich auf einen darauf<br />
gegründeten Rechtsschein oder Vertrauenstatbestand deshalb auch nicht<br />
berufen kann. Demgegenüber war vor der Tat des Angeklagten bereits<br />
der Beschluss des Kammergerichts vom 02.03.2<strong>01</strong>1 ergangen, der die Verurteilung<br />
eines ‚bekennenden Schwarzfahrers‘, der gleichfalls ein Schild<br />
an seine Kleidung geheftet hatte, wegen Leistungserschleichung gemäß<br />
§ 265a StGB bestätigt hat.“<br />
A hat also schuldhaft gehandelt.<br />
IV. Ergebnis<br />
A ist strafbar gem. § 265a I 3. Fall StGB.
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Strafrecht<br />
53<br />
Speziell für Referendare<br />
Problem: Verfahrenshindernis bei rechtsstaatswidriger<br />
Tatprovokation<br />
Einordnung: Verfahrenshindernis<br />
BGH, Urteil vom 30.07.2<strong>01</strong>5<br />
2 StR 97/14 (BeckRS 2<strong>01</strong>5, 19378)<br />
EINLEITUNG<br />
Die Frage, welche Auswirkungen eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />
nach sich zieht, ist seit langem umstritten. Mit der vorliegenden Entscheidung<br />
ändert der BGH seine Rechtsprechung und setzt gleichzeitig eine Entscheidung<br />
des EGMR um.<br />
SACHVERHALT<br />
In einem Ermittlungsverfahren wegen Erpressung ergaben sich Hinweise<br />
darauf, dass B und J international mit Betäubungsmitteln handeln sollen. Im<br />
Zuge eines gegen B und J geführten Ermittlungsverfahrens bestätigten sich<br />
diese Hinweise jedoch nicht, obwohl gegen beide umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen<br />
durchgeführt wurden. Die Ermittlungsbehörden vermuteten<br />
deshalb, dass B und J anderweitige Kommunikationswege gefunden hätten.<br />
Es wurde daraufhin der Einsatz von zwei verdeckten Ermittlern veranlasst und<br />
ermittlungsrichterlich genehmigt. Die beiden verdeckten Ermittler freundeten<br />
sich mit B, der eine Vielzahl von Vorstrafen hatte, unter laufender Bewährung<br />
stand und nunmehr ein Lokal betrieb, an. Die wiederholte Nachfrage nach<br />
Drogen oder Vermittlung von entsprechenden Kontakten lehnte B unter<br />
Hinweis auf seine laufende Bewährung ab. Schließlich gaben die beiden verdeckten<br />
Ermittler vor, von potentiellen serbischen Kunden massiv bedroht<br />
worden zu sein, weil eine Lieferung nicht planmäßig habe durchgeführt<br />
werden können. B lehnte weiterhin die Teilnahme an Betäubungsmitteltaten<br />
ab, versprach jedoch, beiden einen Gefallen zu erweisen und einen Kontakt zu<br />
vermitteln. B kontaktierte J, der seinerseits aus Gefälligkeit Kontakt zu einem<br />
Lieferanten nach Holland herstellte. In der Folgezeit wurden zwei Geschäfte<br />
mit den verdeckten Ermittlern über jeweils eine Vielzahl von Ecstasy-Pillen<br />
abgewickelt. B befand sich dabei zu keinem Zeitpunkt in der Nähe des jeweiligen<br />
Tatortes. J fungierte jeweils als Bote zwischen dem Lieferanten und den<br />
verdeckten Ermittlern.<br />
LEITSATZ<br />
Die rechtsstaatswidrige Provokation<br />
einer Straftat durch Angehörige<br />
von Strafverfolgungsbehörden oder<br />
von ihnen gelenkte Dritte hat regelmäßig<br />
ein Verfahrenshindernis zur<br />
Folge.<br />
Darf das LG B und J wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilen?<br />
LÖSUNG<br />
Der Verurteilung von B und J könnte eine Art. 6 I EMRK verletzende rechtsstaatswidrige<br />
Tatprovokation, die zu einem Verfahrenshindernis führt,<br />
entgegenstehen.<br />
I. Es müsste zunächst eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation festzustellen sein.<br />
[20] Nach der Rspr. des EGMR liegt eine gegen Art. 6 I EMRK verstoßende<br />
Tatprovokation vor, wenn sich die beteiligten Ermittlungspersonen<br />
nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken,<br />
sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass sie zur<br />
Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie ohne die Einwirkung<br />
Rechtsstaatswidrige Tatprovokation,<br />
vgl. EGMR, Entscheidung vom 23.<br />
Oktober 2<strong>01</strong>4, 54648/09 [Furcht<br />
gegen Deutschland]; Meyer/Wohlers<br />
JZ 2<strong>01</strong>5, 761 ff.; Pauly StV 2<strong>01</strong>5, 411 ff.;<br />
Sinn/Maly NStZ 2<strong>01</strong>5, 379 ff.
54 Referendarteil: Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck, diese Straftat nachzuweisen,<br />
also Beweise für sie zu erlangen und eine Strafverfolgung<br />
einzuleiten. Der Grund für dieses Verbot liegt darin, dass es Aufgabe der<br />
Ermittlungsbehörden ist, Straftaten zu verhüten und zu untersuchen, und<br />
nicht, zu solchen zu provozieren.<br />
[21] Im Rahmen der Prüfung, ob die Ermittlungen „im Wesentlichen passiv“<br />
geführt wurden, untersucht der EGMR sowohl die Gründe, auf denen die<br />
verdeckte Ermittlungsmaßnahme beruhte, als auch das Verhalten der die<br />
verdeckte Maßnahme durchführenden Ermittlungspersonen:<br />
Nach Ansicht des EGMR können<br />
folgende Verhaltensweisen dafür<br />
sprechen, dass die Ermittlungsbehörden<br />
den Bereich des passiven<br />
Vorgehens verlassen haben:<br />
• das Ergreifen der Initiative beim<br />
Kontaktieren des Betroffenen,<br />
• das Erneuern des Angebots trotz<br />
anfänglicher Ablehnung,<br />
• hartnäckiges Auffordern zur Tat,<br />
• Steigern des Preises über den<br />
Durchschnitt oder Vorspiegelung<br />
von Entzugserscheinungen, um das<br />
Mitleid des Betroffenen zu erregen.<br />
[22] Insoweit stellt der Gerichtshof zunächst darauf ab, ob es objektive<br />
Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Betroffene bereits an kriminellen<br />
Aktivitäten beteiligt oder der Begehung von Straftaten zugeneigt<br />
war. Dabei spielt es eine Rolle, ob der Betroffene vorbestraft ist und bereits<br />
ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Darüber<br />
hinaus kann im Rahmen dieser Prüfung, je nach den Umständen des konkreten<br />
Falles, nach Ansicht des Gerichtshofs Folgendes für eine Tatgeneigtheit<br />
sprechen: die zu Tag getretene Vertrautheit des Täters mit den im<br />
illegalen Betäubungsmittelhandel üblichen Preisen, seine Fähigkeit, kurzfristig<br />
Drogen beschaffen zu können, sowie der Umstand, dass er aus dem<br />
Geschäft einen finanziellen Vorteil ziehen würde.<br />
[23] Bei der Prüfung des Verhaltens der Ermittlungspersonen untersucht<br />
der EGMR, ob auf den Betroffenen Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu<br />
begehen […].<br />
Staatliche Tatprovokation, vgl. BGH,<br />
Urteil vom 30.05.20<strong>01</strong>, 1 StR 42/<strong>01</strong>;<br />
Urteil vom 18.11.1999, 1 StR 221/99;<br />
Urteil vom 11.12.2<strong>01</strong>3, 5 StR 240/13.<br />
[24] Nach der Rspr. des BGH liegt eine staatliche Tatprovokation<br />
vor, wenn ein Verdeckter Ermittler (oder eine von einem Amtsträger<br />
geführte Vertrauensperson) über das bloße „Mitmachen“ hinaus in<br />
Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung<br />
der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den<br />
Täter einwirkt. Sie ist nur zulässig, wenn diese gegen eine Person eingesetzt<br />
wird, die in einem den § 152 Abs. 2, §<strong>16</strong>0 StPO vergleichbaren Grad verdächtig<br />
ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen oder zu<br />
einer zukünftigen Straftat bereit zu sein. Eine unverdächtige und zunächst<br />
nicht tatgeneigte Person darf hingegen nicht in einer dem Staat zurechenbaren<br />
Weise zu einer Straftat verleitet werden. Auch bei anfänglich bereits<br />
bestehendem Anfangsverdacht kann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />
vorliegen, wenn die Einwirkung auf die Zielperson im Verhältnis<br />
zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist; im Rahmen der<br />
erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des<br />
gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, Art, Intensität und Zweck<br />
der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten<br />
des Betroffenen in den Blick zu nehmen.<br />
Vorliegend überschritt das Verhalten der Verdeckten Ermittler die vorgesehenen<br />
Grenzen. Der Einsatz beschränkte sich nicht auf eine weitgehend<br />
„passive Strafermittlung“, sondern stellt eine massive aktive Einwirkung auf B<br />
und J dar, die dazu führte, dass sie sich nur deshalb an den Straftaten beteiligten.<br />
Die Tathandlungen von B und J waren dabei geprägt davon, den Verdeckten<br />
Ermittlern einen Gefallen zu tun; ihr Handeln beruhte zu keinem Zeitpunkt<br />
auf eigenem Antrieb. Es handelte sich um ein fremdnütziges Verhalten,
<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
Referendarteil: Strafrecht<br />
55<br />
zu dem es nicht gekommen wäre, wären der B und mittelbar auch der J nicht<br />
durch die Verdeckten Ermittler unter „Druck“ gesetzt worden. Die Einwirkung<br />
auf eine verdächtige Person darf im Verhältnis zum Anfangsverdacht nicht<br />
„unvertretbar übergewichtig“ sein. Genau dies war hier aber der Fall. Es<br />
bestand allenfalls ein vager Anfangsverdacht gegen B und J, die sich erst bereit<br />
erklärten, an den Geschäften mitzuwirken, nachdem die Verdeckten Ermittler<br />
das Vertrauen des B gewonnen hatten und diesem vorgespiegelt worden war,<br />
sie würden von serbischen Abnehmern bedroht. Es liegt ein deutliches Missverhältnis<br />
zwischen dem bestehenden Anfangsverdacht einerseits und den<br />
massiven Einwirkungshandlungen der Verdeckten Ermittler vor.<br />
II. Fraglich ist, welche Rechtsfolgen das Bestehen einer rechtsstaatswidrigen<br />
Tatprovokation bewirkt.<br />
[37] Zwar entspricht es der bisher ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,<br />
dass eine unzulässige Tatprovokation kein Verfahrenshindernis<br />
nach sich zieht, sondern nur im Rahmen der Strafzumessung<br />
zu berücksichtigen ist.<br />
[38] An dieser „Strafzumessungslösung“ hält der Senat angesichts der<br />
aktuellen Rspr. des EGMR nicht mehr fest. Die gebotene Berücksichtigung<br />
der Rspr. des EGMR führt nach Ansicht des Senats dazu, dass<br />
jedenfalls in den Fällen der vorliegenden Art ein Verfahrenshindernis<br />
zur Kompensation der Konventionsverletzung erforderlich ist.<br />
[39] Der EGMR hat in seiner Entscheidung Furcht gegen Deutschland, mit<br />
der erstmals die Strafzumessungslösung der deutschen Rechtsprechung<br />
unmittelbar überprüft und als Mittel der Kompensation des Konventionsverstoßes<br />
verworfen wurde, erneut betont, das öffentliche Interesse an der<br />
Verbrechensbekämpfung rechtfertige nicht die Verwendung von Beweismitteln,<br />
die als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation gewonnen wurden,<br />
denn dies würde den Beschuldigten der Gefahr aussetzen, dass ihm von<br />
Beginn an kein faires Verfahren zu Teil wird […].<br />
[45] Danach kommt die Strafzumessungslösung, deren Vereinbarkeit mit<br />
der Rspr. des EGMR im Schrifttum von Anfang an umstritten war als Konsequenz<br />
rechtsstaatswidriger Tatprovokation nicht mehr in Betracht […].<br />
[48] Die danach gebotene Neubewertung der staatlichen Tatprovokation<br />
führt bei der erforderlichen schonenden Einpassung der Rechtsprechung<br />
des EGMR in das nationale Rechtssystem im vorliegenden<br />
Fall zur Annahme eines Verfahrenshindernisses […].<br />
[54] Die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses knüpft an die<br />
provozierte Tat selbst und daher - anders als ein Beweisverwertungsverbot<br />
- an der unmittelbaren Folge des rechtsstaatswidrigen Handelns<br />
an. Es führt zur Einstellung des Verfahrens hinsichtlich dieser Tat<br />
(§§ 206a, 260 III StPO) und damit zu vergleichbaren Konsequenzen wie<br />
der Ausschluss sämtlicher als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation<br />
gewonnener Beweismittel.<br />
Strafzumessungslösung, vgl. BGH,<br />
Urteil vom 11.12.2<strong>01</strong>3, 5 StR 240/13.<br />
Von Amts wegen zu berücksichtigende<br />
Verfahrenshindernisse sind<br />
in strafprozessualen Assessorklausuren<br />
stets zu beachten, unabhängig<br />
davon, ob eine Abschlussverfügung<br />
der Staatsanwaltschaft, ein Urteilsentwurf<br />
oder ein Gutachten zu den<br />
Erfolgsaussichten einer Revision zu<br />
fertigen ist.<br />
Hohe Klausurrelevanz haben dabei<br />
vor allem<br />
• Vorliegen eines Strafantrages,<br />
• Verfolgungsverjährung,<br />
• Strafklageverbrauch,<br />
• sachliche Zuständigkeit des Gerichts,<br />
• wirksame Anklage,<br />
• wirksamer Eröffnungsbeschluss.<br />
Der BGH lehnt den möglichen Ansatz<br />
des EGMR, wonach alle als Ergebnis<br />
polizeilicher Provokation gewonnenen<br />
Beweismittel ausgeschlossen<br />
werden müssen (Beweisverwertungsverbot)<br />
ab. Ein solches Beweisverwertungsverbot<br />
stünde mit<br />
grundlegenden Wertungen des<br />
deutschen Strafrechtssystems nicht<br />
in Einklang und führt zu unlösbaren<br />
Abgrenzungsschwierigkeiten.<br />
[55] Gegen die Annahme eines Verfahrenshindernisses als Folge einer<br />
rechtsstaatswidrigen Tatprovokation bestehen auch keine durchgreifenden<br />
dogmatischen Einwände nach dem System des nationalen Rechts.<br />
Diese Lösung wurde bereits früher von der Rechtsprechung des BGH und
56 Referendarteil: Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />
wird auch heute noch von Teilen der Literatur befürwortet. Die Rechtsfigur<br />
des Verfahrenshindernisses ist unbeschadet der Tatsache, dass sie in der<br />
Strafprozessordnung nicht allgemein definiert ist, eine anerkannte dogmatische<br />
Kategorie und stellt daher - anders als etwa die Annahme eines<br />
gesetzlich nicht geregelten Strafausschließungsgrunds - eine aus dem<br />
Blickwinkel der innerstaatlichen Rechtsordnung schonende Möglichkeit<br />
der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />
für Menschenrechte dar […].<br />
[56] Der Annahme eines Verfahrenshindernisses als regelmäßige Folge<br />
einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation kann auch nicht entgegengehalten<br />
werden, die unterschiedslose Behandlung aller davon erfassten Fälle<br />
würde den großen Unterschieden insbesondere hinsichtlich des Umfangs<br />
des späteren schuldhaften Verhaltens des Provozierten nicht gerecht. Zum<br />
einen dürften etwa Fälle wie diejenigen eines zufälligen Ansprechens eines<br />
bislang unverdächtigen Rauschgifthändlers, der daraufhin eigene, umfangreiche<br />
Aktivitäten zur Durchführung eines Betäubungsmittelgeschäfts entfaltet,<br />
schon keine Konstellation sein, die als rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />
anzusehen ist, obwohl sie vielfach als Beispiele dafür angeführt<br />
werden, dass für solche Fälle die Annahme eines Verfahrenshindernisses<br />
nicht angemessen sei. Zum anderen stellt das in diesem Zusammenhang<br />
bemühte Argument, im Hinblick auf die Intensität der anfänglichen Verdachtslage,<br />
die Hartnäckigkeit des Verdeckten Ermittlers sowie die Schuld<br />
des durch diesen zur Tat Provozierten gebe es weit auseinander liegende<br />
Fallgestaltungen, die eine Differenzierung erforderten, eine Behauptung<br />
dar, die jedenfalls mit den Vorgaben des EGMR nicht (mehr) in Einklang<br />
zu bringen ist. Mit der Annahme der Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen<br />
Tatprovokation müssen alle als Ergebnis polizeilicher Provokation<br />
gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden oder aber es muss ein<br />
Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen eingreifen, damit das Verfahren<br />
- auch als Ganzes - als fair angesehen werden kann. Dies schließt<br />
weitere Differenzierungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aus […].<br />
Vorliegend folgt mithin aus der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation ein<br />
Verfahrenshindernis.<br />
ERGEBNIS<br />
Das LG darf B und J nicht wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilen.<br />
FAZIT<br />
Die Entscheidung des BGH illustriert die Verzahnung des materiellen Rechts<br />
mit dem Strafprozessrecht. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation ist deshalb<br />
für strafprozessuale Assessorklausuren an verschiedenen Stellen von entscheidender<br />
Bedeutung:<br />
Soll eine Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft gefertigt werden, so ist<br />
das Verfahren – trotz Vorliegens eines etwaigen hinreichenden Tatverdachts –<br />
nach der gutachtlichen Prüfung gemäß § 170 I StPO einzustellen. In einer<br />
Urteilsklausur ist das Verfahren nach § 260 III StPO einzustellen und entsprechend<br />
zu tenorieren. Entsprechendes gilt für die Revisionsklausur. Hier ist im<br />
Gutachten bei den von Amts wegen zu Verfahrensvoraussetzungen zu Beginn<br />
der Begründetheitsprüfung auf diesen Aspekt einzugehen.
V. § 34 GemO:<br />
§ 34 I 4 GemO wird wie folgt geändert:<br />
Die Wörter „eines Viertels“ werden durch die Wörter „einer Fraktion oder eines Sechstels“ ersetzt.<br />
Kommentar:<br />
Parallelregelung zu § 24 III 1 GemO. Das Quorum für den Antrag, einen Verhandlungsgegenstand auf die<br />
Tagesordnung zu setzen, wird von ¼ auf 1⁄6 gesenkt. Fraktionen erhalten dieses Recht unabhängig von der<br />
Zahl ihrer Mitglieder (LT-Drs. 15/7265, S. 40).<br />
VI. § 41b GemO:<br />
Nach § 41a GemO wird folgender § 41b GemO eingefügt:<br />
„§ 41b<br />
Veröffentlichung von Informationen<br />
zum Herausnehmen<br />
(1) Die Gemeinde veröffentlicht auf ihrer Internetseite Zeit, Ort und Tagesordnung der öffentlichen Sitzungen des Gemeinderats<br />
und seiner Ausschüsse. Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend.<br />
(2) Die der Tagesordnung beigefügten Beratungsunterlagen für öffentliche Sitzungen sind auf der Internetseite der Gemeinde<br />
zu veröffentlichen, nachdem sie den Mitgliedern des Gemeinderats zugegangen sind. Durch geeignete Maßnahmen ist<br />
sicherzustellen, dass hierdurch keine personenbezogenen Daten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse unbefugt offenbart<br />
werden. Sind Maßnahmen nach Satz 2 nicht ohne erheblichen Aufwand oder erhebliche Veränderungen der Beratungsunterlage<br />
möglich, kann im Einzelfall von der Veröffentlichung abgesehen werden.<br />
(3) In öffentlichen Sitzungen sind die Beratungsunterlagen im Sitzungsraum für die Zuhörer auszulegen. Absatz 2 Sätze 2<br />
und 3 gelten entsprechend. Die ausgelegten Beratungsunterlagen dürfen vervielfältigt werden.<br />
(4) Die Mitglieder des Gemeinderats dürfen den Inhalt von Beratungsunterlagen für öffentliche Sitzungen, ausgenommen<br />
personenbezogene Daten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, zur Wahrnehmung ihres Amtes gegenüber Dritten und<br />
der Öffentlichkeit bekannt geben.<br />
(5) Die in öffentlicher Sitzung des Gemeinderats oder des Ausschusses gefassten oder bekannt gegebenen Beschlüsse sind im<br />
Wortlaut oder in Form eines zusammenfassenden Berichts innerhalb einer Woche nach der Sitzung auf der Internetseite der<br />
Gemeinde zu veröffentlichen.<br />
(6) Die Beachtung der Absätze 1 bis 5 ist nicht Voraussetzung für die Ordnungsmäßigkeit der Einberufung und Leitung der<br />
Sitzung.“<br />
Kommentar:<br />
Die in § 41b I 1 GemO normierte grundsätzliche Veröffentlichungspflicht im Internet steht unter dem<br />
Vorbehalt der Übergangsbestimmung des Art. 10 § 1 des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher<br />
Vorschriften. Danach findet § 41b I, II, V GemO keine Anwendung, wenn die jeweilige Gemeinde<br />
kein elektronisches System zur Bereitstellung der Sitzungsunterlagen besitzt.<br />
§ 41b II 1 GemO erfasst mit „Beratungsunterlagen“ nur die erforderlichen Unterlagen i.S.d. § 34 I 1 Hs. 2<br />
GemO. Welche Unterlagen in diesem Sinne „erforderlich“ sind, legt der Bürgermeister fest. Wird beispielsweise<br />
der wesentliche Inhalt eines Prüfberichts den Gemeinderäten als Sitzungsunterlage übermittelt, so<br />
ist auch nur diese Sitzungsunterlage zu veröffentlichen (LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />
Da die Verfügbarkeit der Daten im Internet mit erheblichen Gefahren einhergehen kann, verlangt der<br />
Gesetzgeber bei personenbezogenen Daten sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen eine zuverlässige<br />
Anonymisierung. Ist diese nicht möglich, mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden oder verliert das<br />
Dokument dadurch seinen Sinngehalt, kann die Veröffentlichung gem. § 41b II 3 GemO unterbleiben<br />
(LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />
§ 41b III 1 GemO soll den Zugang zu den Dokumenten auch denjenigen Zuhörern gewährleisten, die<br />
das Internet nicht nutzen, oder wenn die Gemeinde aufgrund des Art. 10 § 1 des Gesetzes zur Änderung<br />
kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften (s.o.) keine Veröffentlichung im Internet vornimmt (LT-Drs.<br />
15/7265, S. 43).<br />
Die Befugnis zur Veröffentlichung durch die Ratsmitglieder gem. § 41b IV GemO besteht unabhängig<br />
von einer Veröffentlichung durch die Gemeinde. Sie kann erforderlich sein, damit ein Ratsmitglied seine<br />
politische Auffassung der Öffentlichkeit besser vermitteln kann (LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />
Mit § 41b VI GemO „rudert“ der Gesetzgeber gleichsam wieder etwas zurück. Transparenz ist zwar gewollt,<br />
sie soll aber nicht Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die betreffende Sitzung des Gemeinderats sein. Verstöße<br />
gegen § 41b I-V GemO führen also nicht zur Rechtswidrigkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse.
B. Änderung des Kommunalwahlgesetzes (KomWG):<br />
§ 41 KomWG:<br />
§ 41 I KomWG wird wie folgt gefasst:<br />
„(1) Der Antrag auf eine Einwohnerversammlung und der Einwohnerantrag können nur von Einwohnern unterzeichnet<br />
werden, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung das <strong>16</strong>. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der<br />
Gemeinde wohnen. § 12 Absatz 1 Satz 2 der Gemeindeordnung gilt entsprechend. Das Bürgerbegehren kann nur von Bürgern<br />
unterzeichnet werden, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung wahlberechtigt sind.“<br />
Kommentar:<br />
Einwohnerversammlung und Einwohnerantrag (§§ 20a, 20b GemO neue Fassung) können von allen Einwohnern<br />
i.S.d. § 10 I GemO unterstützt werden. Bürgerbegehren können hingegen nur von Bürgern i.S.d.<br />
§ 12 I 1 GemO unterzeichnet werden.<br />
C. Änderung der Kommunalwahlordnung (KomWO):<br />
§ 53 KomWO:<br />
§ 53 KomWO wird wie folgt geändert:<br />
§ 53 Abs. 1 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 2 werden aufgehoben. Der bisherige Abs. 3 wird Abs. 2.<br />
Kommentar:<br />
Da die bisher in § 53 I 1, 2 KomWO sowie § 53 II KomWO enthaltenen Regelungen jetzt in § 21 III 7-9 GemO<br />
zu finden sind, waren sie in § 53 I, II KomWO zu streichen.<br />
Falls sich Fragen zu den Neuregelungen ergeben sollten, stehen wir natürlich gerne zur Verfügung.<br />
zum Herausnehmen<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Jura Intensiv<br />
Dr. Dirk Kues<br />
(Fachbereichsleiter Öffentliches Recht)
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