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geprüft wird<br />

Für Studierende & Referendare<br />

<strong>RA</strong><br />

Rechtsprechungs-Auswertung<br />

<strong>Digital</strong><br />

<strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

JU<strong>RA</strong><br />

INTENSIV<br />

EDITORIAL<br />

Der Menschen Recht<br />

ZIVILRECHT<br />

Rücktritt von einem gemischten Kauf- und Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB 1<br />

Ersatzfähigkeit von Aufwendungen bei fiktiver Abrechnung von Unfallschäden 5<br />

Bruchteilsberechtigung an Kontoforderung bei neLG 9<br />

Sichtbehindernde Bebauung als nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers 13<br />

Speziell für Referendare:<br />

Örtliche Zuständigkeit bei Rückabwicklung 17<br />

Bereicherungsausgleich bei Insolvenzanfechtung 21<br />

NEBENGEBIETE<br />

Handelsrecht: Sekundäre Unrichtigkeit des Handelsregisters 25<br />

ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Meinungsfreiheit nach der EMRK 29<br />

Anwendbarkeit der Grundrechte in einem Kommunalverfassungsstreit 32<br />

Speziell für Referendare:<br />

Polizeimaßnahmen gegen gewaltbereiten Fußballfan 37<br />

ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

Hypothetische Einwilligung kein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund 45<br />

Strafbarkeit des „bekennenden Schwarzfahrens“ 50<br />

Speziell für Referendare:<br />

Verfahrenshindernis bei rechtsstaatswidriger Tatprovokation 53<br />

GESETZGEBUNG<br />

Baden-Württemberg: Aktualisierung zur Gemeindeordnung 2<strong>01</strong>5<br />

Herausgeberin: Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG, 24. Jahrgang 2<strong>01</strong>6, ISSN 2366-2883


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<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Editorial<br />

EDITORIAL<br />

Der Menschen Recht<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

was der Mensch gewährt, kann der Mensch auch wieder nehmen. Stellen wir uns ein Volk vor, das<br />

in einem demokratischen Rechtsstaat residiert, jedoch eine geschriebene Verfassung ablehnt, weil<br />

es glaubt, dass ein Gesetzgeber, der den Menschen Grundrechte in einer Verfassung zuerkennen<br />

kann, ihnen diese Rechte genauso gut auch wieder entziehen könnte. Ist diese Vorstellung wirklich<br />

so verrückt, wie sie klingt? Die Engländer glauben beispielsweise, dass ihr Staat seit langem eine<br />

Verfassung besitzt, auch wenn diese niemals niedergeschrieben wurde. Vielmehr soll das Staatsvolk<br />

die aus verschiedenen konstitutiven Rechtsakten bestehenden Verfassungsgrundsätze „geerbt“<br />

haben. Ähnlich denkt man in Neuseeland.<br />

Aber wenn Grundrechte nicht von Menschen gewährt werden, von wem dann? Kann man sie aus der<br />

Natur ableiten? Das glauben die vielen Romantiker unter uns immer so lange, bis sie der Natur in ihrer<br />

nackten Brutalität Auge in Auge gegenüber stehen, wenn sie leibhaftig erfahren, was der Brite Herbert<br />

Spencer mit „survival of the fit<strong>test</strong>“ gemeint hat. Wer erinnert sich nicht an die Sommergeschichte um<br />

den Problembären Bruno aus dem Sommer 2006. Wochenlang wurden von Bruno gerissene Haustiere<br />

in Massenmedien präsentiert wie Gefallene beim „bodycount“ im Vietnamkrieg. Weil die Wanderer<br />

keinen „Bärenführerschein“ ablegen wollten, wurden finnische Jäger gerufen um Bruno zu fangen,<br />

vergeblich. Am Ende hallte der Schuss durch die Rotwand. Seitdem erinnert der ausgestopfte Bruno<br />

im Museum an den ewigen Zwist zwischen Natur und Kultur in dicht besiedelten Ländern.<br />

Stammen Grundrechte von Gott? Falls ja, gelten sie dann auch für die zahlreichen Atheisten, die<br />

nicht an Gott glauben?<br />

Einigen wir uns auf den Kompromiss, dass der Wunsch, Menschen unveräußerliche Rechte zuzuerkennen,<br />

dem edlen, hilfreichen und guten Kern unserer Spezies entstammt, ihrem göttlichen<br />

Wesen, nämlich der Begabung zur Vernunft. Auf diese besinnen sich die übrig gebliebenen<br />

Menschen stets nach lang anhaltenden Phasen exzessiver Barbarei, nach einer wirkmächtigen<br />

Begegnung mit dem teuflischen Antagonisten. Es kann kein Zufall sein, dass die Aufklärung dem<br />

dreißigjährigen Krieg folgte, dass das Bonner Grundgesetz eine Antwort auf die Barbarei des NS-<br />

Regimes ist. Nach beinahe 70 Jahren hat sich dieses Grundgesetz nicht nur etabliert, vielmehr<br />

scheint es bei einigen Mitmenschen an die Stelle ihrer verlorenen kindlichen Gottgläubigkeit<br />

getreten zu sein. Sogar für einige Spitzenpolitiker scheint es eine Art Religionsersatz geworden<br />

zu sein, den sie stolz wie eine Monstranz vor sich her tragen, obwohl sie mangels Ausbildung die<br />

Bedeutung der Rechtsnormen nur emotional interpretieren können. An irgendetwas muss der<br />

Mensch ja glauben. Ohne bei den Beratungen dabei gewesen zu sein: Dies hatte der Parlamentarische<br />

Rat bestimmt nicht im Sinn. Erstens darf das Grundgesetz nicht starr sein. Es lebt nur, wenn<br />

es immer wieder neu interpretiert werden darf. Genau dadurch stellt es einen Gegenentwurf zu<br />

den oft starren Regeln der Religionsgemeinschaften dar, gleich, ob sich diese säkularisiert haben,<br />

oder nicht. Zweitens muss jedem einleuchten, dass geschriebene Grundrechte nur einen Wert<br />

haben, wenn ihre Geltung von sowohl starken, als auch weltanschaulich neutralen Institutionen<br />

garantiert wird. Das gilt umso mehr, je individueller sich die unter dem Dach einer solchen Verfassung<br />

lebenden Menschen gerieren. Vielfalt bereichert genauso, wie sie anstrengt.<br />

Für rechtliche Vielfalt der besonderen Art sorgen seit Jahren die Urteile des Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte (EGMR). Wie der Hagelschlag im Sommer stören sie die deutsche Gemütlichkeit.


Editorial <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Sie wirbeln nicht nur rechtliche, sondern auch gesellschaftliche und sprachliche Verabredungen<br />

durcheinander wie die Windhose in der Gewitterzelle und hinterlassen Erstaunen und Verblüffung<br />

unter den Juristen. Wer in Deutschland Vergleiche mit dem Holocaust anstellt, muss um seine Karriere,<br />

mindestens aber um sein gesellschaftliches Ansehen fürchten. Es ist gesellschaftlicher Konsens,<br />

dass diese Verbrechen einzigartig und unvergleichlich sind. Der Vergleich mit ihnen gilt deshalb<br />

regelmäßig als Relativierung. Wer an Ärzte in Konzentrationslagern denkt, dem erscheinen Unmenschen<br />

wie Josef Mengele. Wer einen Arzt, der „rechtswidrige“, aber „nicht strafbare“ Abtreibungen<br />

vornimmt, in die Nähe von Ärzten in Konzentrationslagern rückt, läuft Gefahr, die dort verübten<br />

Verbrechen zu relativieren. Der mit Naziverbrechern gleichgesetzte oder auch nur verglichene Arzt<br />

bekam mit Unterlassungsklagen vor einem deutschen Gericht in der Vergangenheit immer Recht,<br />

Meinungsäußerungsfreiheit hin oder her. Wie der EGMR die Meinungsfreiheit auf der Grundlage<br />

nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beurteilt, erfahren Sie auf Seite 29<br />

in dieser Ausgabe der <strong>RA</strong>. Der EGMR erkennt zwar die „feine Linie“, welche die deutschen Gerichte bei<br />

der Auslegung des § 218a StGB ziehen, kommt aber dennoch zu ganz eigenen Schlüssen im Hinblick<br />

auf den Schutz der Meinungsfreiheit. In der teilweise im englischen Originaltext abgedruckten, sehr<br />

examensrelevanten Entscheidungsbesprechung erfahren Sie, welchen Rang die Entscheidungen<br />

des EGMR in unserer Rechtsordnung einnehmen. Zugleich erhalten Sie einen Hinweis, wie oft die<br />

Urteile des EGMR in letzter Zeit Thema von Examensklausuren waren. Die Urteile des EGMR betreffen<br />

übrigens auch deutsches Strafprozessrecht. Nicht nur für Referendare ist die Entscheidungsbesprechung<br />

auf Seite 53 deshalb Pflichtlektüre!<br />

Ab dieser Ausgabe erscheint die <strong>RA</strong> in ihrem neuen Layout. Die aus unseren Verlagsprodukten<br />

bekannte Farbgebung führt sie ab sofort auch optisch durch die Rechtsgebiete und soll Ihnen auf<br />

diese Weise eine zusätzliche Orientierungshilfe gewähren.<br />

Die Redaktion der <strong>RA</strong> wünscht Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein frohes neues Jahr 2<strong>01</strong>6.<br />

Rechtsanwalt Oliver Soltner<br />

Franchisenehmer von Jura Intensiv<br />

Frankfurt, Gießen, Heidelberg, Mainz, Mannheim, Marburg und Saarbrücken<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeberin:<br />

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Jura Intensiv Verlags UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG,<br />

Rathausplatz 22, 46562 Voerde, Tel.: 02855/96171-80; Fax: 02855/96171-82<br />

Internet: http://www.verlag.jura-intensiv.de - E-Mail: verlag@jura-intensiv.de<br />

Rechtsanwalt Oliver Soltner (V.i.S.d.P.)<br />

Theresa Bauerdick &<br />

Richterin am Amtsgericht Dr. Katharina Henzler (Zivilrecht)<br />

Assessor Dr. Dirk Schweinberger (Nebengebiete)<br />

Rechtsanwalt Dr. Dirk Kues (Öffentliches Recht)<br />

Rechtsanwalt Uwe Schumacher (Strafrecht)<br />

Ines Susen<br />

Abonnement (monatlich kündbar) zum Vorzugspreis von 5,50 Euro/Heft,<br />

für ehemalige Kursteilnehmer von JU<strong>RA</strong> INTENSIV 4,99 Euro/Heft (regulärer<br />

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gegen Einzugsermächtigung. Lieferung erstmals im Monat nach Eingang<br />

des Abonnements, sofern nichts anderes vereinbart.<br />

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solange der Vorrat reicht.<br />

Die <strong>RA</strong> steht externer Werbung offen. Mediadaten sind unter<br />

verlag@jura-intensiv.de erhältlich.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

1<br />

ZIVILRECHT<br />

Problem: Rücktritt von einem gemischten Kauf- und<br />

Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB<br />

Einordnung: Schuldrecht<br />

AG Eilenburg, Urteil vom 19.11.2<strong>01</strong>5<br />

11 C 790/14 (bisher unveröffentlicht)<br />

EINLEITUNG<br />

Von typengemischten Verträgen spricht man, wenn sich ein Gesamtvertrag<br />

aus Einzelleistungen zusammensetzt, die verschiedenen Vertragstypen zugeordnet<br />

werden können. Ferner sind bei ihnen diese Einzelleistungen derart<br />

eng miteinander verbunden, dass sie nur in ihrer Gesamtheit ein sinnvolles<br />

Ganzes ergeben. Dadurch unterscheiden sich typengemischte von zusammengesetzten<br />

Verträgen. Bei letzteren verlieren die einzelnen Bestandteile<br />

nicht ihren Sinn, wenn die aus Ihnen folgenden Pflichten getrennt erfüllt<br />

werden. Im Mittelpunkt der vorliegenden Entscheidung steht ein nachträglich<br />

geschlossener gemischter Kauf- und Tauschvertrag gem. §§ 433, 480 BGB.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Kläger (K) betreibt eine Frischkäseproduktion. Am 24.06.2<strong>01</strong>4 kauft der K<br />

bei der Beklagten (B) eine gebrauchte Kolbenfüllmaschine vom Typ „Frey Oscar<br />

Kolbenfüller - 20 Liter“ zum Preis von insgesamt 2.963,10 €. Im schriftlichen<br />

Vertrag heißt es: „Verkauf wie vom Kunden zurück nur an Gewerbetreibende,<br />

Händler (...). Keine Gewährleistung oder Umtausch.“ Den Kaufpreis zahlt K im<br />

Anschluss an den Vertragsabschluss in bar. Anfang Juli 2<strong>01</strong>4 trifft die Maschine<br />

in seinem Betrieb ein. Bereits einen Tag später meldet sich K bei B und teilt ihr<br />

mit, die Maschine funktioniere nicht. Beim Einschalten käme es zu einem Kurzschluss.<br />

K lässt die Maschine bei der Firma T begutachten. Am Vormittag des<br />

10.07.2<strong>01</strong>4 erscheint B‘s Geschäftsführer (G) zusammen mit dem Angestellten<br />

F bei K. Gemeinsam untersuchen sie die Maschine. F ändert daraufhin etwas<br />

am Stromanschluss und führt einen kurzen Probelauf durch. Anschließend<br />

fahren G und F weiter zu einem anderen Kunden. Noch im Verlauf desselben<br />

Tages meldet sich K erneut bei G und erklärt ihm, die Maschine funktioniere<br />

immer noch nicht. Hierauf erscheint F am Nachmittag nochmals bei K. Zwischenzeitlich<br />

war die Maschine von Angestellten des K mit Frischkäse befüllt<br />

und in Betrieb genommen worden. Allerdings lief der Frischkäse unten aus der<br />

Maschine heraus. G erkennt die konkrete Ursache nicht, jedoch ist ihm klar,<br />

dass irgendetwas mit der Maschine nicht stimmt. Er zeigt K auf seinem Handy<br />

ein Bild von einem ebenfalls gebrauchten, aber größeren 30-Liter-Kolbenfüller.<br />

Diesen bietet er im Namen der B der K im Austausch und gegen Zahlung<br />

weiterer 800,00 € an. Damit ist K einverstanden und übergibt G sogleich den<br />

20-Liter-Kolbenfüller. G nimmt diesen zum Firmensitz der B in Eilenburg mit.<br />

Am Vormittag des folgenden Tages ruft K bei G an, um sich nach der Lieferung<br />

der neuen Maschine zu erkundigen. G erklärt ihm daraufhin, dass er diese nicht<br />

bekommen werde. Mit Schreiben vom 12.07.2<strong>01</strong>4 fordert K den G auf, ihm den<br />

30-Liter-Kolbenfüller bis zum 14.07.2<strong>01</strong>4 zu liefern. Denn jeder Tag, an dem die<br />

Maschine seinem Betrieb nicht zur Verfügung stehe, führe wei<strong>test</strong>gehend zu<br />

einem Stillstand seiner Frischkäseproduktion. Als B nicht liefert, erklärt K mit<br />

Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5 „den Rücktritt vom am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen<br />

LEITSÄTZE<br />

1. Nimmt der Verkäufer die dem<br />

Käufer verkaufte Sache zurück<br />

und vereinbaren beide zugleich,<br />

dass unter Anrechnung des bereits<br />

gezahlten Kaufpreises sowie<br />

gegen Zahlung eines zusätzlichen<br />

Aufpreises eine andere<br />

Sache geliefert wird, so wird<br />

damit ein neues Vertragsverhältnis<br />

in Gestalt eines gemischten Kaufund<br />

Tauschvertrag nach §§ 433;<br />

480 BGB begründet.<br />

2. Dieses lässt den Inhalt des ursprünglich<br />

geschlossenen Vertrages<br />

grundsätzlich unberührt,<br />

namentlich einen dort vereinbarten<br />

Gewährleistungsausschluss.<br />

3. Tritt eine der beiden Vertragsparteien<br />

von dem neuen (zweiten)<br />

Vertrag zurück, so beschränkt sich<br />

die dann nach § 346 BGB entstehende<br />

Rückgewährpflicht ausschließlich<br />

auf die im Rahmen<br />

dieses (zweiten) Vertrages ausgetauschten<br />

Leistungen, umfasst<br />

also nicht den ursprünglich gezahlten<br />

Kaufpreis.


2 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Kaufvertrag“ und verlangt Rückzahlung der 2.963,10 €. B führt an, dass man<br />

den 20-Liter-Kolbenfüller am 10.07.2<strong>01</strong>4 nur aus Kulanz mitgenommen habe,<br />

um ihn im eigenen Betrieb auf angebliche technische Mängel zu untersuchen.<br />

Dabei habe sich aber herausgestellt, dass die Ursache des Defekts eine Fehlbedienung<br />

der Maschine durch K bzw. seine Angestellten gewesen sein muss.<br />

Diese hätten nämlich bei der Inbetriebnahme der Maschine vergessen, den<br />

Kolbenschlüssel aus dem Zylinder herauszunehmen. Dadurch sei die Zylinderwand<br />

vollständig verbeult worden.<br />

Hat K gegen B einen Anspruch auf Rückzahlung der 2.963,10 €?<br />

PRÜFUNGSSCHEMA<br />

A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung von 2.963,10 € gem.<br />

§§ 346 I, 323 I BGB<br />

I. Rücktrittserklärung, § 349 BGB<br />

II. Rücktrittsrecht<br />

1. Gegenseitiger Vertrag<br />

2. Nichterfüllung der fälligen und durchsetzbaren Leistungspflicht<br />

3. Angemessene Leistungsfrist<br />

4. Erfolgloser Fristablauf<br />

III. Kein Ausschluss des Rücktritts<br />

IV. Zwischenergebnis<br />

V. Rechtsfolge<br />

B. Ergebnis<br />

LÖSUNG<br />

Rückzahlungsanspruch aus §§ 346 I,<br />

323 I BGB<br />

Erklärung des Rücktritts mit<br />

Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5<br />

Gesetzliches Rücktrittsrecht gem.<br />

§ 323 I BGB<br />

Gemischter Kauf- und Tauschvertrag<br />

vom 10.07.2<strong>01</strong>4 ist ein gegenseitiger<br />

Vertrag<br />

30-Liter-Maschine soll gegen die<br />

vorhandene 20-Liter-Maschine ausgetauscht<br />

werden<br />

A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung von 2.963,10 € gem. §§ 346 I, 323 I BGB<br />

K könnte gegen B einen Anspruch auf Rückzahlung von 2.963,10 € aus §§ 346 I,<br />

323 I BGB haben.<br />

I. Rücktrittserklärung, § 349 BGB<br />

Mit Schreiben vom 15.07.2<strong>01</strong>5 hat K gegenüber B ausdrücklich „den Rücktritt<br />

vom am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen Kaufvertrag“ erklärt. Eine Rücktrittserklärung<br />

gem. § 349 BGB liegt damit vor.<br />

II. Rücktrittsrecht<br />

Weiterhin müsste K ein Rücktrittsrecht zustehen. Insoweit kommt ein gesetzliches<br />

Rücktrittsrecht gem. § 323 I BGB in Betracht.<br />

1. Gegenseitiger Vertrag<br />

Dies setzt zunächst einen gegenseitigen Vertrag voraus. Ein solcher liegt vor,<br />

wenn wenigstens einzelne der beiderseitigen Leistungspflichten im Verhältnis<br />

von Leistung und Gegenleistung stehen. Hier könnte zwischen K und B am<br />

10.07.2<strong>01</strong>4 ein solcher in Form eines gemischten Kauf- und Tauschvertrages<br />

gemäß §§ 433, 480 BGB zustande gekommen sein. K und G haben sich an dem<br />

Tag darauf geeinigt, dass B den 20-Liter-Kolbenfüller aus dem Kaufvertrag<br />

vom 24.06.2<strong>01</strong>4 wieder zurücknimmt. Im Austausch hierfür soll B dem K unter<br />

Anrechnung der bereits gezahlten 2.963,10 € und Zuzahlung weiterer 800,00 €<br />

einen anderen, größeren 30-Liter-Kolbenfüller liefern. Die von G abgegebene<br />

Willenserklärung wirkt aufgrund seiner Stellung als Geschäftsführer gem.<br />

§ <strong>16</strong>4 I BGB i.V.m. § 35 I GmbHG für und gegen B.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

3<br />

„[25] Das Gericht hat nach mündlicher Verhandlung keinen Zweifel daran,<br />

dass darüber beiderseits Einvernehmen erzielt worden ist. Denn die Parteien<br />

haben dies, abweichend von den vorbereiteten Schriftsätzen, in der<br />

mündlichen Verhandlung am 31.07.2<strong>01</strong>5 im Ergebnis unstreitig gestellt.<br />

Der Geschäftsführer der Beklagten hat zum Vortrag des Klägers nämlich<br />

wörtlich erklärt: „Das mit der 30-Liter-Maschine im Austausch habe ich<br />

angeboten“.<br />

[26] Die wiederholten schriftsätzlichen Bemühungen des Prozessbevollmächtigten<br />

der Beklagten, dies sei alles nur „aus Kulanz, ohne Anerkennung<br />

einer Rechtspflicht und ohne Präjudiz etc.“ geschehen, sind lediglich Ausdruck<br />

anwaltlichen Bemühens, die tatsächlich getroffene Abrede aus<br />

prozesstaktischen Erwägungen nun nachträglich zu relativieren. Denn es<br />

ist zwischen den Beteiligten am 10.07.2<strong>01</strong>4 weder über Kulanz noch über<br />

irgendwelche Rechtspflichten der Beklagten gesprochen worden. Auch<br />

das hat der Geschäftsführer der Beklagten in der ersten mündlichen Verhandlung<br />

eingeräumt.<br />

[27] Er mag sich derartiges insgeheim vorbehalten haben. Aber gerade<br />

deshalb, weil er diese Vorbehalte nicht deutlich gegenüber dem Kläger<br />

zum Ausdruck gebracht hat, sind sie auch nicht Bestandteil der vertraglichen<br />

Vereinbarung geworden.“<br />

Mithin liegt ein gegenseitiger Vertrag in Gestalt eines gemischten Kauf- und<br />

Tauschvertrags gem. §§ 433, 480 BGB vor.<br />

2. Nichterbringung der fälligen und durchsetzbaren Leistung<br />

Des Weiteren müsste B eine mögliche, fällige und durchsetzbare Leistungspflicht<br />

aus dem Vertrag verletzt haben. Die vertragliche Hauptleistungspflicht<br />

der B bestand vorliegend gem. § 433 I 1 BGB in der Übereignung des 30-Liter-<br />

Kolbenfüllers, den G dem K auf dem Handy gezeigt hatte. Durch die Nichtübereignung<br />

der Maschine hat B diese Leistungspflicht verletzt. Mangels entgegenstehender<br />

Anhaltspunkte kann zudem von der Möglich-, Fällig- (§ 271 I 1<br />

BGB) als auch Durchsetzbarkeit der Pflicht ausgegangen werden.<br />

3. Angemessene Leistungsfrist<br />

Darüber hinaus ist der rücktrittsberechtigte Gläubiger gemäß § 323 I BGB dazu<br />

verpflichtet, eine angemessene Frist zur Leistung zu setzen. Eine Fristsetzung<br />

ist die Aufforderung zur Bewirkung einer bestimmten Leistung nach Fälligkeit<br />

binnen einer hinreichend bestimmten Frist. Mit Schreiben vom 12.07.2<strong>01</strong>4<br />

hat K den G aufgefordert, ihm den 30-Liter-Kolbenfüller bis zum 14.07.2<strong>01</strong>4<br />

zu liefern. Die Angemessenheit der Leistungsfrist bestimmt sich nach den<br />

jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Dabei sind alle tatsächlichen Aspekte<br />

auf Schuldner- wie Gläubigerseite zu berücksichtigen. Der rasche Austausch<br />

und die Lieferung einer neuen Maschine waren im Hinblick auf die Frischkäseproduktion<br />

des K sehr dringlich. Zudem war es B auch ohne weiteren Aufwand<br />

möglich, K die neue und nur geringfügig größere Maschine zu liefern. Mithin<br />

liegt mit den zwei Tagen eine angemessene Leistungsfrist seitens K an B vor.<br />

4. Erfolgloser Fristablauf<br />

Diese Frist ist am 14.07.2<strong>01</strong>4 um 24 Uhr erfolglos abgelaufen.<br />

Am 10.07.2<strong>01</strong>4 fanden zwischen K<br />

und G keine Gespräche im Hinblick<br />

auf „Kulanz, ohne Anerkennung<br />

einer Rechtspflicht, Präjudiz etc.“<br />

statt.<br />

Unbeachtlichkeit eines geheimen<br />

Vorbehalts<br />

Die Nichtlieferung der 30-Liter-<br />

Maschine stellt die Nichterfüllung<br />

eines fälligen und durchsetzbaren<br />

Anspruchs auf Leistung dar.<br />

Hier war eine kurze Leistungsfrist<br />

von 2 Tagen im Hinblick auf die<br />

Schuldner- und Gläubigerinteressen<br />

angemessen.


4 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

III. Kein Ausschluss des Rücktritts<br />

Ausschlussgründe sind im Hinblick auf das Rücktrittsrecht aus § 323 I BGB<br />

nicht ersichtlich.<br />

Wirksamer Rücktritt vom neuen am<br />

10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen Vertrag<br />

Das Rückgewährschuldverhältnis<br />

bezieht sich auf die Leistungen, die<br />

auf Grund desjenigen Vertrages<br />

empfangen wurden, auf den sich der<br />

Rücktritt bezieht.<br />

Zahlung der 2.963,10 € erfolgte<br />

aufgrund des ursprünglich geschlossenen<br />

Kaufvertrags vom 24.06.2<strong>01</strong>4<br />

Vom ursprünglichen Kaufvertrag<br />

hätte K aufgrund des wirksamen<br />

Gewährleistungsausschluss nicht<br />

zurücktreten können.<br />

K kann somit allenfalls den 20-Liter-<br />

Kolbenfüller zurückverlangen, der<br />

derzeit bei B in Eilenburg steht<br />

Kein Rückzahlungsanspruch<br />

IV. Zwischenergebnis<br />

Am 15.07.2<strong>01</strong>4 ist K folglich von dem am 10.07.2<strong>01</strong>4 mit B geschlossenen,<br />

neuen Vertrag wirksam zurückgetreten.<br />

V. Rechtsfolge<br />

Als Rechtsfolge des wirksamen Rücktritts entsteht ein sog. Rückgewährschuldverhältnis.<br />

Im Rahmen dessen sind jedoch immer nur die Leistungen zurückzugewähren,<br />

die auf Grund desjenigen Vertrages empfangen wurden, auf den<br />

sich der Rücktritt bezieht.<br />

„[35] Die 2.963,10 €, die der Kläger zurückbekommen möchte, hat er jedoch<br />

nicht auf Grund des Vertrages vom 10.07.2<strong>01</strong>4 geleistet und die Beklagte<br />

auch nicht auf Grund des Vertrages vom 10.07.2<strong>01</strong>4 empfangen. Leistung<br />

und Empfang dieses Geldes beruhen vielmehr auf dem ursprünglich<br />

geschlossenen Kaufvertrag vom 24.06.2<strong>01</strong>4.<br />

[36] Von diesem ist der Kläger indes nicht - erst Recht nicht wirksam - zurückgetreten.<br />

Bereits der Inhalt seiner Rücktrittserklärung vom 15.07.2<strong>01</strong>4<br />

bezieht sich hierauf nicht. So heißt es darin: „...erkläre ich... den Rücktritt<br />

von dem Kaufvertrag vom 10.07.2<strong>01</strong>4...“.<br />

[37] Von dem ursprünglichen Kaufvertrag vom 24.06.2<strong>01</strong>4 hätte er auch gar<br />

nicht zurücktreten können. Dieser beinhaltete einen Gewährleistungsausschluss.<br />

Es heißt im schriftlichen Vertrag dazu: „Verkauf wie vom Kunden<br />

zurück nur an Gewerbetreibende, Händler...Keine Gewährleistung oder<br />

Umtausch.“<br />

[38] Die besagte Klausel ist, da beide Parteien den Vertrag als Kaufleute<br />

im Rahmen ihres Geschäfts- bzw. Gewerbebetriebes geschlossen haben,<br />

wirksam.<br />

[39] Durch den am 10.07.2<strong>01</strong>4 geschlossenen neuen Vertrag wurde dieser<br />

Gewährleistungsausschluss nicht berührt.<br />

[40 Zurückverlangen könnte der Kläger in Folge seines Rücktritts daher<br />

allenfalls den 20-Liter-Kolbenfüller, der derzeit noch bei der Beklagten in<br />

Eilenburg steht. Dies wurde von dem Kläger jedoch nicht begehrt.<br />

[41] Nach alledem bedarf es deshalb auch keiner Feststellungen zu der<br />

Frage, ob der 20-Liter-Kolbenfüller tatsächlich mangelhaft ist/war und<br />

wenn ja, wer diesen Mangel ggf. zu vertreten hat.“<br />

B. Ergebnis<br />

K steht gegen B kein Anspruch auf Rückzahlung von 2.963,10 € aus §§ 346 I,<br />

323 I BGB zu.<br />

FAZIT<br />

Werden nacheinander mehrere im Zusammenhang stehende Verträge<br />

abgeschlossen, gilt es zu beachten, dass sich die bei einem Rücktritt entstehende<br />

Rückgewährpflicht ausschließlich auf die im jeweiligen Vertrag ausgetauschten<br />

Leistungen bezieht. Eine Leistung, die aufgrund des ersten Vertrags<br />

erfolgt ist, kann nicht aufgrund eines Rücktritts vom zweiten Vertrag zurückverlangt<br />

werden.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

5<br />

Problem: Ersatzfähigkeit von Aufwendungen für<br />

Reparatur in markengebundener Werkstatt bei fiktiver<br />

Abrechnung von Unfallschäden<br />

Einordnung: Vertragsrecht, allgemeine Geschäftsbedingungen<br />

BGH, Urteil vom 11.11.2<strong>01</strong>5,<br />

IV ZR 426/14<br />

EINLEITUNG<br />

Sind Aufwendungen, die bei Durchführung der Reparatur eines Unfallschadens<br />

in einer markengebundenen Fachwerkstatt angefallen wären, bei<br />

fiktiver Abrechnung ersatzfähig? Erneut beantwortete der BGH diese aufgeworfene<br />

Frage im vorliegenden Fall.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Kläger (K) geriet am 10.12.2<strong>01</strong>3 mit F in einen Verkehrsunfall. Dabei wurde<br />

sein seit dem <strong>01</strong>.<strong>01</strong>.2008 bei der Beklagten (B) vollkaskoversicherter Mercedes<br />

beschädigt. K hat das Fahrzeug bisher nicht reparieren lassen. Dem Versicherungsvertrag<br />

zwischen K und B liegt mit Ziffer A.2.7.1 der allgemeinen Bedingungen<br />

für die Kraftfahrtversicherung (AKB) 2008 folgende Regelung zugrunde:<br />

„Wird das Fahrzeug beschädigt, zahlen wir die für die Reparatur erforderlichen<br />

Kosten bis zu folgenden Obergrenzen:<br />

a) Wird das Fahrzeug vollständig und fachgerecht repariert, zahlen wir die<br />

hierfür erforderlichen Kosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts<br />

nach A.2.6.6, wenn Sie uns dies durch eine Rechnung nachweisen. Fehlt<br />

dieser Nachweis, zahlen wir entsprechend A.2.7.1.b.<br />

b) Wird das Fahrzeug nicht, nicht vollständig oder nicht fachgerecht repariert,<br />

zahlen wir die erforderlichen Kosten einer vollständigen Reparatur bis<br />

zur Höhe des um den Restwert verminderten Wiederbeschaffungswerts<br />

nach A.2.6.6.“<br />

Auf Grundlage dessen begehrt K von B die Schadensregulierung entsprechend<br />

einem von ihm beauftragten Gutachten. Dieses weist für das beschädigte<br />

Fahrzeug einen Reparaturkostenaufwand i.H.v. 9.396,24 € aus. Dieser basiert<br />

auf den Stundenverrechnungssätzen einer Mercedes-Fachwerkstatt. B will<br />

den Schaden nur entsprechend einem von ihr eingeholten Gutachten regulieren.<br />

Dieses stellt auf die Lohnkosten einer ortsansässigen, nicht markengebundenen<br />

Fachwerkstatt ab und ermittelt dadurch Nettoreparaturkosten von<br />

lediglich 6.425,08 € für das versicherte Fahrzeug. K hat sein Fahrzeug stets in<br />

der Mercedes-Vertragswerkstatt habe warten und reparieren lassen. Hat K den<br />

geltend gemachten Anspruch?<br />

PRÜFUNGSSCHEMA<br />

LEITSÄTZE<br />

1. In der Fahrzeugkaskoversicherung<br />

können auch fiktive Aufwendungen<br />

für die Reparatur in einer markengebundenen<br />

Werkstatt als „erforderliche“<br />

Kosten im Sinne von<br />

A.2.7.1 b) AKB 2008 anzusehen sein.<br />

2. Dies ist zum einen dann zu<br />

bejahen, wenn die fachgerechte<br />

Wiederherstellung des Fahrzeugs<br />

nur in einer markengebundenen<br />

Werkstatt erfolgen kann, zum<br />

anderen aber regelmäßig auch<br />

dann, wenn es sich um ein neueres<br />

Fahrzeug oder um ein solches<br />

handelt, das der Versicherungsnehmer<br />

bisher stets in einer markengebundenen<br />

Fachwerkstatt hat<br />

warten und reparieren lassen.<br />

Kosten der Fachwerkstatt<br />

Kosten der nicht markengebundenen<br />

Werkstatt<br />

A. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 9.396,24 € gem. dem<br />

Versicherungsvertrag i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008<br />

I. Versicherungsvertrag<br />

II. Verhältnis zu den Schadensersatzvorschriften<br />

III. Voraussetzungen des A.2.7.1.b. AKB 2008<br />

B. Ergebnis


6 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

LÖSUNG<br />

Anspruch aufgrund des Versicherungsvertrags<br />

und der allgemeinen<br />

Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung<br />

(AKB) 2008<br />

A. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 9.396,24 € gem. dem<br />

Versicherungsvertrag i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008<br />

K könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 9.396,24 € für das beschädigte<br />

Fahrzeug aufgrund des Versicherungsvertrags i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB<br />

2008 haben.<br />

I. Versicherungsvertrag<br />

Seit dem <strong>01</strong>.<strong>01</strong>.2008 besteht zwischen K und B ein wirksamer Versicherungsvertrag<br />

für den am 10.12.2<strong>01</strong>3 bei einem Verkehrsunfall beschädigten Mercedes<br />

des K.<br />

II. Verhältnis zu den Schadensersatzvorschriften<br />

Weiterhin ist zu prüfen, ob im Hinblick auf eine etwaige Einstandspflicht der<br />

B allein auf den Versicherungsvertrag oder aber die gesetzlichen Vorschriften<br />

zum Schadensersatz (§§ 280 ff. BGB) abzustellen ist.<br />

Vorrang der vertraglichen Regelungen<br />

vor den gesetzlichen<br />

Schadensersatzvorschriften (§§ 280 ff.<br />

BGB)<br />

„[9] Im Ansatz zutreffend geht das Berufungsgericht in Übereinstimmung<br />

mit der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur davon<br />

aus, dass maßgeblich allein das vertragliche Leistungsversprechen des Versicherers<br />

ist und die gesetzlichen Vorschriften zum Schadensersatz keine<br />

Anwendung finden.“<br />

Folglich richtet sich ein möglicher Ersatzanspruch allein nach dem Versicherungsvertrag<br />

i.V.m. der Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008. Von einer wirksamen Einbeziehung<br />

der AKB gem. § 305 II BGB ist auszugehen.<br />

Voraussetzungen der Ziffer A.2.7.1.b.<br />

AKB 2008<br />

Problem der „erforderlichen“ Kosten<br />

i.S.d. der Klausel<br />

Auslegung der Geschäftsbedingungen<br />

nach allgemeinen Maßstäben:<br />

Maßgebend sind vor allem<br />

Wortlaut sowie Sinnzusammenhang<br />

und Zweck der Klausel<br />

III. Voraussetzungen des A.2.7.1.b. AKB 2008<br />

Die Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008 sieht vor, dass in den Fällen, in denen ein unfallgeschädigtes<br />

Fahrzeug nicht, nicht vollständig oder nicht fachgerecht repariert<br />

wird, B als Versicherer lediglich die erforderlichen Kosten einer vollständigen<br />

Reparatur bis zur Höhe des um den Restwert verminderten Wiederbeschaffungswerts<br />

gem. A.2.6.6 zahlen muss. K hat seinen aufgrund des Verkehrsunfalls<br />

mit F beschädigten Mercedes nicht reparieren lassen. Nach dem von ihm<br />

beauftragten Gutachten in einer markengebundenen Fachwerkstatt belaufen<br />

sich die Reparaturkosten auf 9.396,24 €. Zu prüfen ist, ob diese „erforderlich“<br />

i.S.d. A.2.7.1.b. AKB 2008 sind.<br />

„[10] Für die Auslegung, welche Kosten als für die Reparatur erforderlich im<br />

Sinne von A.2.7.1 AKB 2008 anzusehen sind, gelten die allgemeinen Maßstäbe.<br />

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger<br />

Rechtsprechung des Senats so auszulegen, wie ein durchschnittlicher<br />

Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer<br />

Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs<br />

verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten<br />

eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche<br />

Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie<br />

ist vom Wortlaut der jeweiligen Klausel auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk<br />

verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind<br />

zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer<br />

erkennbar sind.“


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

7<br />

Fraglich ist somit, ob auch (fiktive) Aufwendungen für die Reparatur in einer<br />

markengebundenen Werkstatt nach diesen Grundsätzen und den jeweiligen<br />

Umständen des Einzelfalles als „erforderliche“ Kosten i.S.v. A.2.7.1 AKB 2008<br />

anzusehen sein.<br />

„[11] Dies ist zum einen dann zu bejahen, wenn die fachgerechte Wiederherstellung<br />

des Fahrzeugs nur in einer markengebundenen Werkstatt<br />

erfolgen kann, zum anderen aber regelmäßig auch dann, wenn es sich<br />

um ein neueres Fahrzeug oder aber um ein solches handelt, das der Versicherungsnehmer<br />

bisher stets in einer markengebundenen Fachwerkstatt<br />

hat warten und reparieren lassen.“<br />

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird schon nach dem Wortlaut<br />

der Klausel davon ausgehen, dass ihm im Versicherungsfall diejenigen Aufwendungen<br />

ersetzt werden, die ein wirtschaftlich vernünftig handelnder<br />

Betroffener in seiner Lage tätigen würde, um das beschädigte Fahrzeug wieder<br />

fachgerecht herzustellen.<br />

„[13] Somit sind Aufwendungen für die Reparatur in einer markengebundenen<br />

Werkstatt dann erforderlich, wenn aufgrund der Art der anfallenden<br />

Reparaturarbeiten nur dort eine vollständige und fachgerechte<br />

Reparatur durchgeführt werden kann.<br />

[14] Neben den technischen Notwendigkeiten wird der Versicherungsnehmer<br />

aber auch den Werterhalt seines Fahrzeugs in den Blick nehmen.<br />

Er wird deshalb berücksichtigen, dass insbesondere bei neuwertigen Fahrzeugen,<br />

die noch einer Herstellergarantie unterliegen, die Reparatur in<br />

einer Markenwerkstatt weitgehend üblich ist, dies darüber hinaus aber<br />

auch bei einem älteren Fahrzeug in Betracht kommen kann, wenn dieses in<br />

der Vergangenheit zur Erhaltung eines höheren Wiederverkaufswerts stets<br />

in einer Markenwerkstatt gewartet und repariert worden ist („scheckheftgepflegt“),<br />

weil bei einem großen Teil des Publikums insbesondere wegen<br />

fehlender Überprüfungsmöglichkeiten die Einschätzung vorherrscht, dass<br />

bei einer (regelmäßigen) Wartung und Reparatur eines Kraftfahrzeugs in<br />

einer markengebundenen Fachwerkstatt eine höhere Wahrscheinlichkeit<br />

besteht, dass diese ordnungsgemäß und fachgerecht erfolgt ist. Dagegen<br />

wird die Reparatur eines älteren Fahrzeugs in einer Markenwerkstatt<br />

nicht mehr als üblich anzusehen sein, wenn das Fahrzeug bereits in der<br />

Vergangenheit in freien Werkstätten repariert worden ist oder wenn<br />

vom Hersteller vorgesehene Wartungsarbeiten nicht durchgeführt<br />

worden sind.“<br />

Weil es für die Frage der Erforderlichkeit der Kosten nicht allein auf die technisch<br />

einwandfreie Instandsetzung des Fahrzeugs ankommen muss, ist weiterhin<br />

auch der vom Versicherungsnehmer beabsichtigte Zweck der Versicherung<br />

zu berücksichtigen.<br />

„[15] Denn mit dem Abschluss einer Fahrzeugkaskoversicherung erstrebt<br />

er in der Regel nicht nur den Schutz vor wirtschaftlich nachteiligen Folgen<br />

hinsichtlich des eigenen Fahrzeugschadens bei selbst verschuldeten<br />

Unfällen, sondern auch die Befreiung vom Risiko der Durchsetzung von<br />

Ersatzansprüchen gegen den Unfallgegner bei unklarer Haftungslage. Die<br />

Praxis zeigt, dass Versicherungsnehmer es in derartigen Fällen vielfach<br />

vorziehen, ihren Fahrzeugschaden beim eigenen Kaskoversicherer zu<br />

„Erforderlichkeit“ der Kosten, wenn<br />

die Reparatur des Fahrzeugs nur in<br />

der markengebundenen Fachwerkstatt<br />

erfolgen kann<br />

Art der anfallenden Reparaturarbeiten<br />

nur von einer markengebundenen<br />

Fachwerkstatt durchführbar<br />

Dortige Reparatur vor allem bei<br />

Neufahrzeugen üblich<br />

Üblich ist die Reparatur bei einem<br />

älteren Fahrzeug nur dann, wenn<br />

dieses in der Vergangenheit zur<br />

Erhaltung eines höheren Wiederverkaufswerts<br />

stets in einer Markenwerkstatt<br />

gewartet und repariert<br />

worden ist.<br />

Sinn und Zweck einer Vollkaskoversicherung<br />

für das Fahrzeug


8 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

In der Praxis zunehmend Tarife mit<br />

Werkstattbindung<br />

Die Auslegung der Klauseln A.2.7.1<br />

a) AKB 2008, sowie A.2.7.1 b) AKB<br />

2008 ist im Hinblick auf die „Erforderlichkeit“<br />

der Reparaturkosten<br />

identisch.<br />

Den Versicherungsnehmer treffen<br />

die Darlegungs- und Beweislast,<br />

dass die Anspruchsvoraussetzungen<br />

für den Ersatz der höheren Kosten<br />

in einer markengebundenen Fachwerkstatt<br />

vorliegen.<br />

Fahrzeug des K ist „scheckheftgepflegt“<br />

Zahlungsanspruch des K gegen B<br />

i.H.v. 9.396,24 €<br />

regulieren und diesem die Prüfung eines Regresses beim Unfallgegner<br />

zu überlassen. Dass der Umfang ihres Anspruchs gegen den Versicherer<br />

insoweit generell hinter dem zurückbleiben soll, was im Schadenfall von<br />

einem haftpflichtigen Unfallgegner verlangt werden kann, wird der durchschnittliche<br />

Versicherungsnehmer dem Begriff der erforderlichen Kosten<br />

jedenfalls nicht entnehmen.<br />

[<strong>16</strong>] Er wird sich in diesem Verständnis durch den Umstand bestärkt sehen,<br />

dass am Markt zunehmend Tarife mit Werkstattbindung angeboten werden,<br />

bei denen sich der Versicherungsnehmer verpflichtet, im Reparaturfall eine<br />

vom Versicherer ausgesuchte Werkstatt zu beauftragen, was von diesem<br />

mit einem niedrigeren Beitrag honoriert wird. Dies weckt beim Versicherungsnehmer<br />

die Erwartung, sein Fahrzeug gegebenenfalls auch<br />

in der teureren markengebundenen Werkstatt reparieren lassen zu<br />

dürfen, wenn er einen solchen Tarif gerade nicht gewählt und statt<br />

dessen eine höhere Prämie bezahlt hat.<br />

[20] Sind Kosten der Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt nach<br />

dem vorstehenden Maßstab als erforderlich im Sinne von A.2.7.1 a) AKB<br />

2008 anzusehen, so gilt dies auch für den Anspruch nach A.2.7.1 b) AKB<br />

2008, also bei einer Abrechnung fiktiver Reparaturkosten auf Gutachtenbasis.<br />

Beide Regelungen enthalten denselben Begriff der “erforderlichen<br />

Kosten”, so dass eine Differenzierung nicht erfolgt. Ein Unterschied besteht<br />

lediglich insoweit, als für den Fall einer nicht, nicht vollständig oder nicht<br />

fachgerecht durchgeführten Reparatur eine andere, niedrigere, nämlich<br />

um den Restwert verminderte Obergrenze der ersatzfähigen Reparaturkosten<br />

vereinbart ist.<br />

[21] Allerdings trägt der Versicherungsnehmer für die Umstände, die eine<br />

Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt als erforderlich erscheinen<br />

lassen, die Darlegungs- und Beweislast, weil es sich insoweit um eine<br />

Anspruchsvoraussetzung hinsichtlich der entsprechend höheren Kosten<br />

handelt. Er muss daher entweder darlegen und gegebenenfalls beweisen,<br />

dass die dortige Reparatur zur vollständigen und fachgerechten Instandsetzung<br />

des Fahrzeugs notwendig war, oder wenn das nicht der Fall ist,<br />

dass eine der oben genannten Voraussetzungen vorliegt. Zur Höhe dieser<br />

Kosten genügt er seiner Darlegungslast auch - wie im Streitfall geschehen -<br />

durch Zugrundelegung der üblichen Stundenverrechnungssätze einer<br />

markengebundenen Fachwerkstatt, die ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger<br />

auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat.“<br />

K ließ den Mercedes regelmäßig in einer Fachwerkstatt warten und reparieren.<br />

Es ist damit „scheckheftgepflegt“ i.S.d. oben gemachten Ausführungen.<br />

Folglich kann K die nach diesem Unfall entstandenen Reparaturkosten auf<br />

Basis der Stundenverrechnungssätze der markengebundenen Fachwerkstatt<br />

ersetzt verlangen.<br />

B. Ergebnis<br />

K steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung von 9.396,24 € für das beschädigte<br />

Fahrzeug aufgrund des Vertragsvertrags i.V.m. Ziffer A.2.7.1.b. AKB 2008 zu.<br />

FAZIT<br />

Hat der Versicherungsnehmer ein “scheckheftgepflegtes” Kfz, kann ihn der<br />

Vollkaskoversicherer nicht immer auf die niedrigeren Kosten einer „freien“<br />

Werkstatt verweisen.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

9<br />

Problem: Konkludent vereinbarte<br />

Bruchteilsberechtigung an Kontoforderung bei<br />

nichtehelicher Lebensgemeinschaft<br />

Einordnung: Bereicherungsrecht<br />

OLG Schleswig, Urteil vom 17.11.2<strong>01</strong>5<br />

3 U 20/15 (bisher unveröffentlicht)<br />

EINLEITUNG<br />

Scheiden tut weh, vor allem finanziell. Haben die Ehegatten während der<br />

Ehe gemeinsame Giro-, Spar-, oder Festgeldkonten geführt, streiten sie bei<br />

Scheitern der Ehe nicht selten darum, wem ein vorhandenes Guthaben<br />

zusteht. Konfliktträchtig sind auch Kontoverfügungen, die ein Ehegatte ohne<br />

Einverständnis des anderen im zeitlichen Zusammenhang mit der Trennung<br />

getroffen hat. Ähnlich verhält es sich nach dem Tod eines Ehegatten, wenn sich<br />

der Überlebende mit den Erben um das zum Todeszeitpunkt auf dem Konto<br />

befindliche Geld streiten muss. Noch problematischer wird es hingegen, wenn<br />

der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Rechte an einer im<br />

Nachlass vorhandenen Kontoforderung geltend macht. Ob und unter welchen<br />

Voraussetzungen dies möglich ist, steht im Mittelpunkt dieser Entscheidung.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Erblasser (E) lebte bis zu seinem Tod am 10.07.2<strong>01</strong>1 mit der Klägerin (A)<br />

in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Sie besaßen bei der Y-Bank ein<br />

gemeinsames Konto, auf dem Investmentfonds verbucht waren. Der wesentliche<br />

Zweck dieses Kontos bestand in der Unterhaltung ihrer gemeinsamen,<br />

im hälftigen Miteigentum stehenden Wohnung. Nach dem Verkauf der Investmentfonds<br />

und Auflösung des gemeinsamen Kontos im Juli 2<strong>01</strong>0 wurde der<br />

Verkaufserlös i.H.v. 110.000,- € auf ein bei der Y-Bank geführtes Festgeldkonto<br />

des E übertragen. Im Herbst 2<strong>01</strong>0 bezahlten E und A davon eine neue Verglasung<br />

des Wintergartens in ihrer Eigentumswohnung. Zum Todeszeitpunkt<br />

des E befanden sich hierdurch nur noch 84.797,02 € auf dem Festgeldkonto.<br />

Kurze Zeit später öffnet A zusammen mit den beiden Kindern des E das am<br />

12.05.2008 von diesem wirksam errichtete Testament. Darin beruft E seine<br />

Tochter (B) und seinen Sohn (X) als Erben zu je ½. Weiterhin heißt es:<br />

„Die Wohnung … und das Geld bei der Y-Bank in … gehört zur Hälfte A<br />

und mir. Das sollen alle Drei entscheiden, ob verkaufen oder das Konto aufheben,<br />

und die Hälfte sich B und X teilen, oder sie es nutzen.“<br />

LEITSATZ<br />

Auch Partner einer nichtehelichen<br />

Lebensgemeinschaft können konkludent<br />

eine (hälftige) Bruchteilsberechtigung<br />

(§ 742 BGB) des Partners,<br />

der nicht Kontoinhaber ist, an einer<br />

Kontoforderung vereinbaren. Eine<br />

derartige konkludente Vereinbarung<br />

ist insbesondere anzunehmen, wenn<br />

sich im Hinblick auf die eingezahlten<br />

Sparguthaben eine gemeinsame<br />

Zweckverfolgung - hier: Unterhaltung<br />

und Renovierung einer<br />

Eigentumswohnung, an der beide<br />

Miteigentum zu ½ haben - feststellen<br />

lässt.<br />

A wendet sich daraufhin an die beiden Kinder und verlangt ihre Hälfte am im<br />

Zeitpunkt des Erbfalls vorhandenen Guthabenbestand. Auf<br />

Nachfragen teilt X ihr mit, dass er und seine Schwester das Konto bereits aufgelöst<br />

und von der Y-Bank jeweils 42.398,50 € in bar ausgezahlt bekommen<br />

haben. X, der nicht mit A streiten möchte, gibt ihr die Hälfte des erhaltenen<br />

Geldes ab. B indes lehnt jegliche Zahlung ab. Steht A gegen B ein Anspruch auf<br />

Zahlung von 21.199,25 € zu?


10 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

PRÜFUNGSSCHEMA<br />

A. Anspruch A gegen B auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II BGB<br />

I. Anspruchsvoraussetzungen<br />

1. Leistung der Y-Bank<br />

2. Gegenüber einem Nichtberechtigten<br />

3. Wirksamkeit gegenüber dem Berechtigten<br />

II. Rechtsfolge<br />

B. Ergebnis<br />

LÖSUNG<br />

A. Anspruch A gegen B auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II BGB<br />

A könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 21.199,25 € gem. § 8<strong>16</strong> II<br />

BGB haben.<br />

Voraussetzzungen des Anspruchs<br />

aus § 8<strong>16</strong> II BGB<br />

Leistung der Y-Bank an B durch Auszahlung<br />

der Hälfte des Guthabens<br />

i.H.v. 84.797,02 €<br />

B ist Nichtberechtigte, wenn ihr der<br />

ausgezahlte Anteil am Kontoguthaben<br />

nicht vollständig zustand.<br />

Inzidentprüfung, wem das Geld<br />

nach Auflösung des Kontos zustand<br />

Am gemeinschaftlichen Konto<br />

von K und E bestand bis zu dessen<br />

Auflösung im Juli 2<strong>01</strong>0 eine Bruchteilsgemeinschaft<br />

zu je ½ gem.<br />

§§ 741, 742 BGB.<br />

I. Anspruchsvoraussetzungen<br />

Wird an einen Nichtberechtigten eine Leistung bewirkt, die dem Berechtigten<br />

gegenüber wirksam ist, so ist nach dieser Norm der Nichtberechtigte dem<br />

Berechtigten zur Herausgabe des Geleisteten verpflichtet.<br />

1. Leistung der Y-Bank<br />

Zunächst müsste die Y-Bank eine Leistung am B erbracht haben. Unter einer Leistung<br />

versteht man die bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.<br />

Vorliegend haben B und ihr Bruder X das bei der Y-Bank bestehende<br />

Festgeldkonto des E mit dem im Zeitpunkt des Erbfalls bestehenden Guthaben<br />

von 84.797,02 € aufgelöst. Die Y-Bank hat den Betrag an die Geschwister je<br />

hälftig ausgezahlt. Dadurch hat sie das Vermögen der B bewusst und zweckgerichtet<br />

gemehrt und somit eine Leistung erbracht.<br />

2. An einen Nichtberechtigten<br />

Fraglich ist, ob B diese Leistung berechtigterweise erhalten hat oder ob es sich<br />

um die Leistung an einen Nichtberechtigten handelt. Zur Beurteilung dieser<br />

Frage ist maßgeblich, wem die 84.797,02 € nach der Auflösung des Kontos<br />

zustanden.<br />

„[18] Bis Juli 2<strong>01</strong>0 waren die Klägerin und E auch im Verhältnis zur<br />

Y-Bank gemeinschaftliche Inhaber des Kontos, auf dem zunächst<br />

Investmentfonds verbucht waren. Auf diesem gemeinschaftlichen Konto<br />

ist dann nach der von der Y-Bank den beiden Kontoinhabern gemeinschaftlich<br />

erteilten Abrechnung vom 2. Juli 2<strong>01</strong>0 aber auch der Verkaufserlös<br />

der Investmentfonds als Festgeld in Höhe von 110.000 € verbucht<br />

worden, wie sich dem das gemeinschaftliche Konto betreffenden Kontoauszug<br />

für den Zeitraum 1. bis 31. Juli 2<strong>01</strong>0 entnehmen lässt.<br />

[19] Im Innenverhältnis der Klägerin und des E bestand hinsichtlich des<br />

gemeinsamen Kontos eine Bruchteilsgemeinschaft zu je ½, wobei es nicht<br />

darauf ankommt, von wem die Mittel für die Investmentfonds ursprünglich<br />

stammten und ob die Klägerin eigenes Geld eingebracht hat. Die Überzeugung<br />

von einer Bruchteilsgemeinschaft zu je ½ ergibt sich vielmehr<br />

- neben dem wichtigen Indiz der gemeinsamen Kontoinhaberschaft - vor<br />

allem aus der eigenen Darstellung des Erblassers in seinem Testament. Mit<br />

der dortigen Formulierung „gehört zur Hälfte A und mir“ ist in Bezug auf


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

11<br />

das Konto das (damalige) gemeinsame Investmentkonto bei der Y-Bank<br />

gemeint, denn nur hier bestand auch im Außenverhältnis ein gemeinsames<br />

Konto (im Unterschied zu dem vom Erblasser bei dieser Bank als alleiniger<br />

Inhaber geführten Girokonto). Die Beklagte hat dies erstinstanzlich selbst<br />

unstreitig gestellt, nämlich dazu im Schriftsatz vom 1. Juli 2<strong>01</strong>4, ausgeführt,<br />

der Erblasser „meint hiermit offenkundig das Konto mit den Investmentfonds.<br />

Denn das Guthaben auf dem Girokonto war demgegenüber von<br />

keiner wirtschaftlichen Relevanz.“<br />

Problematisch ist jedoch, dass die 110.000,- € Erlös aus dem Verkauf der Investmentfonds<br />

im Anschluss an die Auflösung des gemeinsamen Kontos im Juli<br />

2<strong>01</strong>0 auf ein Festgeldkonto bei der Y-Bank überwiesen wurden, das als Kontoinhaber<br />

allein E auswies.<br />

„[20] Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Klägerin dieser Änderung der<br />

Kontoinhaberschaft nicht zugestimmt haben sollte, weil anderenfalls die<br />

Bank bei ordnungsgemäßem Ablauf keine Umschreibung vorgenommen<br />

hätte. Allerdings fehlt auch jeder Hinweis darauf, dass sich damit eine<br />

Änderung in Bezug auf die im Innenverhältnis bestehende Bruchteilsgemeinschaft<br />

ergeben haben könnte. Für eine Schenkung der Klägerin an<br />

E gibt es keinen Anhaltspunkt. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt,<br />

dass Eheleute - für Partner einer Lebensgemeinschaft kann hier nichts<br />

anderes gelten - auch konkludent eine (hälftige) Bruchteilsberechtigung<br />

des Partners, der nicht Kontoinhaber ist, an der Kontoforderung<br />

vereinbaren können.“<br />

Eine derartige konkludente Vereinbarung ist insbesondere anzunehmen,<br />

wenn sich im Hinblick auf die eingezahlten Sparguthaben eine gemeinsame<br />

Zweckverfolgung der Parteien feststellen lässt. Die Rechtsprechung bejaht<br />

eine solche gemeinsame Zweckverfolgung jedenfalls dann, wenn zwischen<br />

den Partnern Einvernehmen besteht, dass die Ersparnisse beiden zugutekommen<br />

sollen<br />

„[21] Ausgehend von diesen Grundsätzen bestand zwischen der Klägerin<br />

und dem Erblasser eine Bruchteilsgemeinschaft an der Festgeldkontoforderung<br />

auch nach dem Wechsel auf die alleinige Kontoinhaberschaft<br />

des E. Beide waren Lebensgefährten. Wesentliches<br />

Indiz für die - fortbestehende - Bruchteilsgemeinschaft ist hier zudem der<br />

Umstand, dass das auf dem Konto des Erblassers verbuchte Festgeld von<br />

einem ursprünglich unstreitig gemeinsam als Kontoinhaber geführten<br />

Konto stammt. Der damalige wesentliche Zweck des gemeinschaftlichen<br />

Kontos – Bestreitung der Verwendungen für die im gemeinsamen je<br />

hälftigen Miteigentum stehende Wohnung gemäß dem Vorbringen der<br />

Klägerin vor dem Landgericht - ist auch nach Weiterführung des Festgeldes<br />

auf dem Einzelkonto des Erblassers fortgesetzt worden. Nach dem unstreitigen<br />

Vortrag der Parteien erster Instanz ist von diesem Konto nämlich im<br />

Herbst 2<strong>01</strong>0 die neue Verglasung des Wintergartens der gemeinsamen<br />

Wohnung bezahlt worden. Weiteres wesentliches Indiz für die (fortbestehende)<br />

Bruchteilsgemeinschaft des Erblassers und der Klägerin ist der<br />

Umstand, dass der Erblasser sein Testament - mit dem dort enthaltenden<br />

Hinweis darauf, dass das Geld bei der Y-Bank zur Hälfte der Klägerin<br />

gehöre - trotz Umwandlung des gemeinschaftlichen Kontos in ein Einzelkonto<br />

nicht geändert hat.“<br />

Auswirkung der Überweisung des<br />

Verkaufserlös i.H.v. 110.000,- € auf<br />

das Festgeldkonto des E<br />

BGH, Urteil vom 20.12.2<strong>01</strong>1, 3 U 31/11,<br />

NJW 2000, 2347<br />

Das Einvernehmen, dass die Ersparnisse<br />

beiden Partnern zugutekommen<br />

sollen, kann konkludent<br />

zu einer (hälftigen) Bruchteilsberechtigung<br />

gem. §§ 741, 742 BGB<br />

desjenigen führen, der nicht Kontoinhaber<br />

ist<br />

Auslegung der Anhaltspunkte im<br />

jeweiligen Einzelfall


12 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Fortsetzung der Bruchteilsgemeinschaft<br />

nach dem Tod des E<br />

Genehmigung der Einziehung durch<br />

B gem. §§ 185 I, 362 I BGB<br />

Herausgabe der 21.199,25 € oder<br />

Zahlung von Wertersatz in derselben<br />

Höhe<br />

Zahlungsanspruch aus § 8<strong>16</strong> II BGB<br />

Nach dem Tod eines der Partner setzt sich eine solche Bruchteilsgemeinschaft<br />

zwischen dem Überlebenden und der Erbengemeinschaft fort. Nach der faktischen<br />

Aufhebung der Bruchteilsgemeinschaft durch Auszahlung je des hälftigen<br />

Guthabens an die Beklagte und ihren Bruder seitens der Y-Bank haben<br />

diese somit im Verhältnis zur Klägerin jeweils die Hälfte des ihnen zugekommenen<br />

Betrages, d.h. 21.199,25 €, als Nichtberechtigte erlangt.<br />

III. Wirksamkeit gegenüber dem Berechtigten<br />

Grundsätzlich kann sich der Schuldner durch eine Leistung an einen Nichtberechtigten<br />

nicht von seiner Verpflichtung befreien (Arg. ex §§ 407 ff. BGB). In der<br />

Aufforderung der A an B, den Geldbetrag hälftig wieder herauszugeben, liegt<br />

jedoch eine Genehmigung der Einziehung durch B gem. §§ 185 I BGB, 362 I<br />

BGB. Mithin ist die Auszahlung seitens der Y-Bank an B gegenüber A wirksam.<br />

IV. Rechtsfolge<br />

Nach § 8<strong>16</strong> II BGB ist B als nicht berechtigter Empfänger der Leistung seitens der<br />

Y-Bank verpflichtet, das Erlangte herauszugeben. Hier hat sich B die 21.199,25 €<br />

in bar auszahlen und damit Besitz und Eigentum an diesen Geldscheinen<br />

erlangt. Sofern diese Geldscheine noch unterscheidbar bei ihr vorhanden sind,<br />

muss sie diese an A übergeben und übereignen. Andernfalls schuldet sie nach<br />

§ 818 II BGB Wertersatz i.H.v. 21.199,25 €.<br />

B. Ergebnis<br />

A steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung der geforderten 21.199,25 € aus<br />

§ 8<strong>16</strong> II BGB zu.<br />

FAZIT<br />

Auch ein nichtehelicher, verstorbener Kontoinhaber kann den nichtehelichen<br />

Lebenspartner zu Lebzeiten im Innenverhältnis an der Kontoforderung derart<br />

beteiligt haben, dass eine Bruchteilsberechtigung entstanden ist. Eine entsprechende<br />

Vereinbarung kann auch stillschweigend geschlossen werden. Bei der<br />

Auslegung konkludenten Verhaltens müssen besondere Umstände erkennbar<br />

hervortreten, welche den Schluss auf eine Einigung über eine gemeinsame<br />

Berechtigung am Guthaben zulassen. Anhaltspunkte hierfür können z.B.<br />

Absprachen über die Verwendung des Angesparten i.S.e. gemeinsamen Verwendung<br />

sein. In Betracht kommen auch Hinweise im Testament über einen<br />

Anteil an der Kontoforderung. Gleichwohl ist bei der Annahme einer für das<br />

Innenverhältnis stillschweigend vereinbarten Mitberechtigung des überlebenden<br />

Lebenspartners Zurückhaltung geboten. Es bedarf einer genauen<br />

Prüfung des jeweiligen Einzelfalls.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

13<br />

Problem: Sichtbehindernde Bebauung als<br />

nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers<br />

Einordnung: Schadensersatz, nachträgliche Pflichtverletzung<br />

OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 12.11.2<strong>01</strong>5<br />

3 U 4/14<br />

EINLEITUNG<br />

Die Stadt Frankfurt verzeichnete bereits Jahre vor der Flüchtlingswelle ein kontinuierliches<br />

Bevölkerungswachstum – gegen den allgemeinen Bundestrend.<br />

Vorausschauend plante sie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

den Bau zweier neuer Stadtteile, das innenstadtnahe “Europaviertel” und den<br />

nördlich gelegenen “Riedberg”. Letzterer liegt zwar außerhalb der eigentlichen<br />

Metropole, aber dafür etwas erhöht in einer gedachten Linie zwischen<br />

Taunus und City. Besonders begehrt waren und sind dort jene Grundstücke,<br />

die den Blick auf die in Deutschland einzigartige Skyline Mainhattens<br />

ermöglichen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilte in der<br />

vorliegenden Entscheidung einen Bauträger zur Rücknahme einer Eigentumswohnung<br />

in ebendiesem Frankfurter Stadtteil Riedberg gegen Rückzahlung<br />

des Kaufpreises, weil durch dessen Veranlassung der den Käufern zugesagte<br />

„Skyline-Blick“ nachträglich verbaut wurde. Es sieht in der sichtbehindernden<br />

Bebauung eine nachvertragliche Pflichtverletzung des Bauträgers, die zur<br />

Rückabwicklung des Kaufvertrages berechtige. Unter Skyline sei nämlich die<br />

Teilansicht oder das Panorama zu verstehen, das eine Stadt mit ihren höchsten<br />

Bauwerken und Strukturen vor dem Horizont abzeichne.<br />

LEITSÄTZE (DES BEARBEITERS)<br />

1. Ist der Frankfurter „Skyline-Blick“<br />

dem Vertrag als Beschaffenheit<br />

zugrunde gelegt, so liegt in der<br />

nachträglichen Verbauung durch<br />

denselben Bauträger eine nachträgliche<br />

Pflichtverletzung.<br />

2. Der Käufer der Eigentumswohnung<br />

kann Rückzahlung des Kaufpreises<br />

Zug um Zug gegen Rückgabe der<br />

Eigentumswohnung gem. § 280 I<br />

BGB verlangen.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Kläger (K) und der Beklagte (B) schließen am 18.04.2008 einen notariellen<br />

Bauträgervertrag über eine Eigentumswohnung in der A-Straße 10 in Riedberg<br />

ab. Dem Vertrag liegen die Baubeschreibung und der Verkaufsprospekt<br />

„Skyline-Wohnkonzept“ zugrunde. Darin heißt es:<br />

„Auf der Südterrasse über dem X die Türme der Stadt fest im Blick. Der<br />

Abend, die Stadt mit ihren Türmen glüht. Die passende Bühne für den unverbaubaren<br />

Skyline-Blick. [...] Blick auf die Skyline der Frankfurter Innenstadt.“<br />

Im Anschluss an den Vertragsschluss zahlt K den Kaufpreis i.H.v. insgesamt<br />

326.118,<strong>01</strong> € an B aus. Die Übergabe des Objekts findet am 23.06.2009 statt.<br />

Kurz danach wird unterhalb des Hauses durch B eine weitere Bebauung in dreigeschossiger<br />

Bauweise errichtet (sog. X-Projekt). Mit Schreiben vom 20.05.2<strong>01</strong>1<br />

verlangt K von B die Rücknahme des Einfamilienhauses und Rückzahlung des<br />

Kaufpreises. Zur Begründung führt K an, dass B ihm im Verkaufsprospekt einen<br />

Blick auf die Frankfurter Skyline zugesagt habe. Dieser sei aber nach der Verwirklichung<br />

des X-Projekts nicht mehr gesichert. B macht daraufhin geltend,<br />

dass die Unverbaubarkeit des Blicks nicht zugesagt gewesen sei. Sein Mitarbeiter<br />

D habe alle Erwerber mündlich darauf hingewiesen, dass auf dem<br />

gegenüberliegenden Grundstück noch gebaut werde. Zu Recht?


14 Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

PRÜFUNGSSCHEMA<br />

A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung des Kaufpreis i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />

gem. § 280 I BGB<br />

I. Schuldverhältnis<br />

II. Nicht spezieller geregelte Pflichtverletzung<br />

III. Vertretenmüssen<br />

IV. Rechtsfolge<br />

B. Ergebnis<br />

LÖSUNG<br />

A. Anspruch K gegen B auf Rückzahlung des Kaufpreises i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />

gem. § 280 I BGB<br />

K könnte gegen B einen Rückzahlungsanspruch i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> € gem. § 280 I<br />

BGB haben.<br />

Abschluss eines notariellen Bauträgervertrags<br />

als gemischttypischer<br />

Vertrag<br />

In einer Klausur müssten Sie zunächst<br />

ein Rücktrittsrecht aus §§ 437 Nr.2,<br />

323 I BGB wegen eines Sachmangels<br />

gem. § 434 I BGB prüfen. Aus Platzgründen<br />

müssen wir hier darauf leider<br />

verzichten. Die Besonderheit des<br />

Falles liegt im Übrigen darin, dass die<br />

Liegenschaft bei Gefahrübergang die<br />

vereinbarte Beschaffenheit aufwies<br />

und eine Haftung der X wegen eines<br />

Sachmangels nach § 434 BGB damit<br />

ausscheidet. Erst durch das nachvertragliche<br />

Verhalten der X wurde der<br />

Sache die vereinbarte Beschaffenheit<br />

wieder entzogen. Deshalb kommt<br />

hier nur die Verletzung einer nachvertraglichen<br />

Treuepflicht in Betracht.<br />

Das OLG nimmt wegen dieser “culpa<br />

post contractum finitum” konsequent<br />

§ 280 I BGB als Anspruchsgrundlage<br />

an.<br />

Bestimmter Ausblick auf seinem<br />

Grundstück im Regelfall nicht<br />

geschützt<br />

Vorliegend liegt der Blick auf die<br />

Frankfurter Skyline dem Vertrag<br />

als Beschaffenheit der erworbenen<br />

Eigentumswohnung zugrunde.<br />

Einzelne Anhaltspunkte im Verkaufsprospekt<br />

I. Schuldverhältnis<br />

K und B haben am 18.04.2008 einen notariellen Bauträgervertrag über eine<br />

Eigentumswohnung in Riedberg geschlossen. Der Bauträgervertrag stellt nach<br />

der h.M. einen typengemischten Vertrag dar, der aus kaufvertraglichen, werkvertraglichen<br />

und u.U. Auftrags- und Geschäftsbesorgungselementen besteht.<br />

II. Nicht spezieller geregelte Pflichtverletzung<br />

B müsste eine sich aus diesem Vertrag ergebene Pflicht verletzt haben.<br />

Grundsätzlich versteht man unter einer Pflichtverletzung i.S.d. § 280 I BGB<br />

jede objektive Abweichung des Verhaltens einer Partei vom geschuldeten<br />

Pflichtenprogramm. Soweit nachvertragliche Pflichten bestehen und verletzt<br />

werden, gilt § 280 I BGB. Verletzt werden kann, die nach der Vertragserfüllung<br />

im Rahmen des Zumutbaren bestehende Pflicht, alles zu unterlassen,<br />

was den Vertragszweck gefährden könnte. Ferner darf der Schuldner nichts<br />

unternehmen, was dem Gläubiger die aufgrund des Vertrags gewährten Vorteile<br />

wieder entziehen könnte. Im Falle eines Grundstückskauf kann es z.B. eine<br />

Pflichtverletzung darstellen, wenn der Verkäufer das Restgrundstück bebaut<br />

oder es anders bebaut als von ihm zugesagt oder die Pflicht zur Nichtbebauung<br />

nicht auf den Rechtsnachfolger überträgt. Der Erhalt einer Aussicht<br />

ist üblicherweise nicht geschützt, sodass darauf nach der Vertragsabwicklung<br />

keine Rücksicht genommen werden muss. Etwas anderes könnte sich jedoch<br />

ergeben, wenn der Blick auf die Frankfurter Skyline dem Vertrag vorliegend als<br />

Beschaffenheit des Grundstücks zugrunde gelegt wurde.<br />

„[15] K konnte als Beschaffenheit der erworbenen Eigentumswohnung<br />

erwarten, dass diese von den Wohn- und Außenbereichen einen unverbauten<br />

Blick auf die Frankfurter Skyline bietet; dies zwar nicht von<br />

jedem Punkt des Grundstücks und der Wohnung, aber jedenfalls von den<br />

im wesentlichen genutzten Bereichen im Inneren und auf der Terrasse. Dass<br />

K diese Beschaffenheit erwarten konnte, folgt aus dem Verkaufsprospekt,<br />

der als Werbung im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 3 BGB anzusehen ist und bei<br />

dem es sich um einen 138-seitigen ausführlich bebilderten Prospekt in DIN-<br />

A-3-Format handelt. Der Prospekt trägt den Titel „Skyline-Wohnkonzept“.<br />

Der Begriff „Skyline“ ist auch sonst der prägende Begriff des Objektes, wie<br />

es im Prospekt dargestellt wird. Im Inhaltsverzeichnis auf S. 9 sind beispielsweise<br />

10 der <strong>16</strong> Kapitel mit dem Zusatz „Skyline“ versehen. Auf S. 8 und


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Zivilrecht<br />

15<br />

134 des Prospektes findet sich eine Silhouettenzeichnung der Frankfurter<br />

Skyline, auf S. 21, 24, 25, 53 und 114 Fotos, welche die Frankfurter<br />

Hochhausbebauung zeigen, davon auf S. 53 ganzseitig. Das Bauvorhaben,<br />

welches aus insgesamt 8 Mehrfamilienhäusern besteht, hat die Anschrift/<br />

Straßenbezeichnung „A-Straße“. Zur Lage und zu den Sichtverhältnissen<br />

führt der Prospekt u.a. folgendes aus: „Auf der Südterrasse über dem X die<br />

Türme der Stadt fest im Blick. Der Abend, die Stadt mit ihren Türmen glüht.<br />

Die passende Bühne für den unverbaubaren Skyline-Blick. [...] Blick auf die<br />

Skyline der Frankfurter Innenstadt.“<br />

Der unverbaute Skyline-Blick auf die Stadt Frankfurt ist damit eine dem<br />

Vertrag zugrunde liegende Beschaffenheit der von K erworbenen Eigentumswohnung.<br />

Zu prüfen ist damit, ob dieser Blick durch die anschließende dreistöckige<br />

Bebauung des B im Rahmen des X-Projekts zerstört wurde und eine<br />

nachträgliche Pflichtverletzung i.S.d. § 280 I BGB angenommen werden kann.<br />

„[<strong>16</strong>] Der bei Vertragsschluss und Übergabe des Objektes an die Kläger<br />

vorhandene Blick auf die Skyline Frankfurts ist durch die nachfolgende<br />

von der Beklagten veranlasste Bebauung jenseits des X (X), soweit es die<br />

Sichtverhältnisse der Wohnung der Kläger betrifft, wesentlich beschränkt<br />

und beeinträchtigt worden. Dies hat die durchgeführte Ortsbesichtigung<br />

ergeben.<br />

[17] Auszugehen ist dabei von der Definition einer Skyline (englisch<br />

„Horizont“ oder „Silhouette“) als die Teilansicht oder das Panorama,<br />

das eine Stadt mit ihren höchsten Bauwerken und Strukturen vor dem<br />

Horizont abzeichnet (Wikipedia, Definition Skyline).<br />

[18] Das Panorama, welches sich von der Terrasse der Kläger bietet, zeigt als<br />

markan<strong>test</strong>e Bauten von links nach rechts das neue Gebäude der Europäischen<br />

Zentralbank (185 Meter hoch), den Commerzbank-Tower (259 Meter<br />

hoch), den Fernsehturm (337 Meter hoch) und den Messeturm (256 Meter<br />

hoch). Unbeeinträchtigt durch das Bauprojekt X bleibt allein die Sicht auf<br />

die Europäische Zentralbank und den Messeturm. Der dazwischen liegende<br />

Bereich einschließlich des Commerzbank-Towers und des Fernsehturms<br />

wird nunmehr verdeckt, der Fernsehturm etwa zur Hälfte, wenn man<br />

die Skyline vom günstigsten Standpunkt in den Blick nimmt. Dieser Blick<br />

bietet sich, wenn man auf der Terrasse auf der vordersten linken Ecke steht.<br />

[19] Nimmt man auf der Terrasse auf den dort aufgestellten Sitzmöbeln<br />

Platz, so sieht man nur noch die obere Spitze des Commerzbank-Towers,<br />

dem mit 259 Meter höchsten Gebäude der Stadt. Das in diesem Umfeld<br />

gelegene Frankfurter Bankenviertel ist nahezu völlig verdeckt. Das Panorama,<br />

welches nach der oben gegebenen Definition der Skyline auch aus<br />

den Hochhäusern besteht, die nicht die Höhe etwa des Commerzbank-<br />

Towers erreichen, ist damit in seinem zentralen Bereich durch den sichtbehindernden<br />

Bau des X-Projektes in einer Weise beeinträchtigt, dass eben<br />

kein unverbaubarer oder unverbauter Skyline-Blick mehr vorliegt.“<br />

Nachträgliche Bebauung führt zu<br />

einer wesentlichen Beschränkung<br />

und Beeinträchtigung des Blicks auf<br />

die Skyline<br />

Definition der „Skyline“<br />

Beschreibung des Ausblicks auf die<br />

einzelnen Türme, die die Frankfurter<br />

Skyline prägen<br />

Kein unverbauter Blick mehr vorhanden<br />

Die sichtbehindernde Bebauung durch das Projekt X stellt eine nachvertragliche<br />

Pflichtverletzung des B dar, die K zur Rückabwicklung des Kaufvertrages<br />

berechtigt. So wird das Integritätsinteresse des K beim Grunderwerb ausreichend<br />

geschützt.


<strong>16</strong> Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Keine Entlastung durch B bzgl. des<br />

Vertretenmüssen der nachträglichen<br />

Pflichtverletzung<br />

III. Vertretenmüssen<br />

Weiterhin müsste B die Pflichtverletzung auch zu vertreten haben. Dieses wird<br />

gem. § 280 I 2 BGB grundsätzlich vermutet.<br />

„[21] Von dem nach § 280 I 2 BGB vermuteten Vertretenmüssen kann sich<br />

die Beklagte schon deshalb nicht entlasten, weil sie selbst die sichtbehindernde<br />

Bebauung geplant und ausgeführt hat. Der von ihr behauptete<br />

Hinweis des Zeugen F, „dass auf der gegenüberliegenden Seite noch gebaut<br />

werde“, stellt - seine Richtigkeit unterstellt - weder eine ordnungsgemäße<br />

Aufklärung noch eine Äußerung dar, die das vermutete Verschulden der<br />

Beklagten entfallen lassen könnte.“<br />

B ist die weitere Bebauung im Rahmen des X-Projekts zuzurechnen. Er hat die<br />

Pflichtverletzung damit auch nach §§ 280 I 2, 276 I BGB zu vertreten.<br />

Rechtsfolge ist die Rückabwicklung<br />

des gesamten Vertrags<br />

Palandt/Grüneberg, BGB, § 280 Rn 32<br />

Zahlungsanspruch des K gegen B<br />

i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> €<br />

IV. Rechtsfolge<br />

Die vom Schuldner zu vertretene Pflichtverletzung begründet für den anderen<br />

Teil einen Schadensersatzanspruch, der sich auf alle unmittelbaren und mittelbaren<br />

Nachteile des schädigenden Verhaltens erstreckt. Ist infolge der<br />

Pflichtverletzung ein nachteiliger Vertrag über den Erwerb eines Gegenstands<br />

(Grundstück, Wohnung etc.) abgeschlossen worden, richtet sich der Anspruch<br />

auf Erstattung des aufgewendeten Betrags Zug um Zug gegen Übertragung<br />

des erworbenen Gegenstandes. Gleiches gilt, wenn der Vertrag - wie hier - erst<br />

durch eine nachträgliche Pflichtverletzung nachteilig wird.<br />

B. Ergebnis<br />

K steht somit gegen B ein Anspruch auf Rückzahlung des gezahlten Kaufpreises<br />

i.H.v. 326.118,<strong>01</strong> € aus § 280 I BGB zu.<br />

FAZIT<br />

Üblicherweise wird auf den Erhalt der Aussicht bei Eigenheimen keine Rücksicht<br />

genommen. Vorliegend gilt jedoch zum einen wegen der Anpreisung<br />

im Verkaufsprospekt etwas anderes und zum anderen, weil der Bauträger<br />

selbst die Aussicht nachvertraglich verbaut hat. Der Käufer hat vorliegend<br />

erwarten können, dass von den Wohn- und Außenbereichen der erworbenen<br />

Eigentumswohnung ein unverbauter Blick auf die Frankfurter Skyline auch<br />

nach Gefahrübergang möglich ist. Mindestens durfte er die Vertragstreue des<br />

Bauträgers erwarten. Dass der Skyline-Blick als Beschaffenheit der Wohnung<br />

vereinbart wurde, folgt aus dem Verkaufsprospekt, in dem mit dem Begriff<br />

„Skyline“ prägend geworben wurde. Die Entscheidung ist deswegen interessant,<br />

weil sie eine Ausnahme zum üblichen Regelfall darstellt, ferner weil<br />

sie den Zusammenhang zwischen der Sachmängelhaftung und den sonstigen<br />

Treuepflichten des Vertrages deutlich aufzeigt.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Zivilrecht<br />

17<br />

Speziell für Referendare<br />

Problem: Örtliche Zuständigkeit bei Rückabwicklung<br />

Einordnung: Zivilprozessrecht, Kauf-Sachmangelrecht<br />

OLG Hamm, Urteil vom 20.10.2<strong>01</strong>5,<br />

28 U 91/15<br />

EINLEITUNG<br />

Im materiellen Recht wird seit Jahrzehnten über die Frage gestritten, ob im<br />

Falle eines Rücktritts vom Kaufvertrag sich der Leistungsort der herauszugebenden<br />

Sache beim Käufer oder beim Verkäufer befindet. -Die Entscheidung<br />

dieser Frage hat wiederum im Zivilprozessrecht zur Folge, wo der örtliche<br />

Gerichtsstand der Klage ist.. Schließlich möchte niemand reisen, der auch<br />

daheim klagen kann. Zur Frage des Erfüllungsortes gem. § 29 ZPO hat sich<br />

für den Fall des Rücktritts eine Standardrechtsprechung herausgebildet, die<br />

man für beide Examina unbedingt beherrschen muss. Die nachfolgend dargestellte<br />

Entscheidung des OLG Hamm stellt die wesentlichen Erwägungen<br />

dieser Rechtsprechung dar.<br />

TATBESTAND<br />

Die Parteien streiten über die Rückabwicklung eines Kaufvertrags über ein<br />

Gebrauchtfahrzeug vom Typ Saab 900 Cabriolet.<br />

Dieses Fahrzeug befand sich im Besitz des Beklagten, der in Q im Landgerichtsbezirk<br />

Potsdam wohnt. Er bot das Cabriolet im September 2<strong>01</strong>4 über<br />

das Internet zum Kauf an. Der Kläger, der in M im Landgerichtsbezirk Bielefeld<br />

wohnt, wurde auf das Inserat aufmerksam. Er nahm in Q eine Fahrzeugbesichtigung<br />

vor und einigte sich mit dem Beklagten darauf, das Cabriolet zum<br />

Preis von 5.650,- € zu kaufen. Nach entsprechender Barzahlung verbrachte der<br />

Kläger das Fahrzeug nach M.<br />

LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />

Bei der Rückabwicklung eines Autokaufs<br />

ist im Rahmen des § 29 I ZPO<br />

ein einheitlicher Gerichtsstand des<br />

Erfüllungsortes dort anzunehmen,<br />

wo sich das gekaufte Fahrzeug im<br />

Zeitpunkt der Rücktrittserklärung<br />

vertragsgemäß befindet.<br />

Einleitungssätze sind nicht immer<br />

erwünscht. Richten Sie sich nach<br />

dem Usus in Ihrem Gericht bzw.<br />

Bundesland.<br />

Dort fand der Kläger heraus, dass die im Kaufvertrag vom 07.09.2<strong>01</strong>4 angegebene<br />

Gesamtlaufleistung von 173.000 km unzutreffend war und das<br />

Fahrzeug tatsächlich eine erheblich höhere Laufleistung aufweist. Noch bevor<br />

er das Fahrzeug auf seinen Namen zugelassen hatte, erklärte er aus diesem<br />

Grund am 09.09.2<strong>01</strong>4 den Rücktritt vom Kaufvertrag. Er forderte den Beklagten<br />

auf, das Cabriolet bis zum 20.09.2<strong>01</strong>4 in M abzuholen.<br />

Der Beklagte verweigerte die Rückabwicklung des Kaufvertrags.<br />

Der Kläger behauptet, dem Beklagten sei bekannt gewesen, dass das Saab<br />

Cabriolet von der Ehefrau des Klägers habe genutzt werden sollen, also am<br />

Wohnsitz des Klägers.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 5.650,00 € Zug um Zug gegen Rücknahme<br />

des PKW Saab 900 Cabrio, Fahrzeugident.nr. ... zu zahlen.<br />

2. festzustellen, dass sich der Beklagte mit der Rücknahme des PKW Saab 900<br />

Cabriolet, amtliches Kennzeichen ..., Fahrzeugident.nr. ... wie auch der zugehörigen<br />

Fahrzeugpapiere in Annahmeverzug befindet.


18 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Die Rüge der Zuständigkeit sollten<br />

Sie in das jeweilige Beklagtenvorbringen<br />

im Indikativ Präsens<br />

aufnehmen.<br />

Rechtansichten nur im Ausnahmefall<br />

zitieren: wenn, wie hier, im Wesentlichen<br />

nur Rechtsfragen streitig sind.<br />

Das Bestreiten mit Nichtwissen muss<br />

unbedingt benannt werden, da es<br />

gem. § 138 IV ZPO nur in engen Voraussetzungen<br />

zulässig ist.<br />

Zulässigkeit der Klage<br />

§ 35 ZPO: Wahlrecht zwischen verschiedenen<br />

allgemeinen und besonderen<br />

Gerichtsständen<br />

BGH, Urteil vom 18.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>1, X ZR<br />

71/10<br />

Beim Vortrag zum Erfüllungsort<br />

handelt es sich um sog. „doppelrelevante<br />

Tatsachen“. Sofern es für<br />

die Zuständigkeit darauf ankommt,<br />

muss dieses nicht bewiesen, sondern<br />

nur schlüssig vorgetragen sein.<br />

Der Leistungsort richtet sich nach<br />

dem Parteiwillen oder nach den<br />

Begleitumständen, insbesondere<br />

der Natur des Schuldverhältnisses.<br />

Es müsste §§ 437 Nr.2, 440, 323, 346 I<br />

BGB heißen.<br />

Rückabwicklung nur Zug um Zug.<br />

In diesem Fall ist der Verkäufer verpflichtet,<br />

das Fahrzeug beim Käufer<br />

abzuholen.<br />

Der Beklagte beantragt,<br />

die Klage abzuweisen.<br />

Er rügt die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Bielefeld.<br />

Er ist der Rechtansicht, dass dort nicht der Gerichtsstand des Erfüllungsortes<br />

nach § 29 ZPO liege. Bei der Rückabwicklung eines Kaufvertrages könne nicht<br />

von einem einheitlichen Erfüllungsort am Belegenheitsort der gekauften<br />

Sache ausgegangen werden. Vielmehr seien die Leistungspflichten gem. § 269<br />

BGB grundsätzlich gesondert zu bestimmen. Der mutmaßliche Parteiwille sei<br />

nicht darauf ausgerichtet, dass die Kaufsache nach Übergabe an den Käufer an<br />

dessen Wohnsitz verbleibe.<br />

Der Beklagte bestreitet mit Nichtwissen, dass bei Vertragsschluss über eine<br />

relativ stationäre Verwendung des Saab Cabriolets am Wohnsitz des Klägers<br />

gesprochen worden sei. Das ergebe sich nicht aus dem Vertragstext.<br />

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das LG Bielefeld örtlich zuständig.<br />

Der Kläger konnte nämlich gem. § 35 ZPO nach seiner Wahl die Klage vor<br />

dem Landgericht Bielefeld erheben, weil dort der Gerichtsstand des Erfüllungsortes<br />

nach § 29 ZPO gegeben ist.<br />

Nach § 29 ZPO ist für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis auch das<br />

Gericht des Ortes zuständig, an dem die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist.<br />

Der insofern maßgebliche Ort richtet sich nach dem materiellen Recht.<br />

Nach dem vom Kläger zur Klagebegründung vorgetragenen Sachverhalt steht<br />

ihm gegen den Beklagten ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreis von<br />

5.650,- € zu, weil er wirksam von dem Kaufvertrag über das Saab 900 Cabriolet<br />

zurückgetreten sei.<br />

„[21] Das materielle Recht enthält keine abschließende Regelung, an<br />

welchem Ort die hier streitige Verpflichtung zur Rückzahlung des Kaufpreises<br />

zu erfüllen ist. Abzustellen ist vielmehr auf § 269 I BGB. Danach<br />

richtet sich der Ort für die Leistung nach der von den Parteien getroffenen<br />

Bestimmung oder nach den Begleitumständen, die sich insbesondere<br />

aus der Natur des Schuldverhältnisses ergeben. Wenn sich<br />

insoweit keine Feststellungen treffen lassen, bildet der Wohnsitz des Verkäufers,<br />

der vermeintlich die Rückzahlung des Kaufpreises schuldet, den<br />

maßgeblichen Leistungsort.<br />

[22] Die Parteien haben bei Abschluss des Kaufvertrages zwar keine ausdrückliche<br />

Bestimmung getroffen, wie im Falle der Rückabwicklung des<br />

Vertrages zu verfahren sei. Ihnen kann allerdings der mutmaßliche Wille<br />

unterstellt werden, dies nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen<br />

zu tun. Dabei ergibt sich aus §§ 346, 434, 440, 434, 433 BGB, dass<br />

der Käufer selbst bei wirksamer Ausübung des gesetzlichen Rücktrittsrechts<br />

keinen uneingeschränkten Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises<br />

hat, sondern dass dieser Anspruch vom Verkäufer nur Zug um Zug<br />

gegen Rückgabe und Rückübereignung der Kaufsache zu erfüllen ist.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Zivilrecht<br />

19<br />

[24] Wenn man vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass hier nach<br />

einem wirksamen Rücktritt die ausgetauschten Leistungen Zug um Zug<br />

rückabzuwickeln sind, dann steht wiederum rechtlich außer Frage, dass<br />

der Beklagte als Verkäufer verpflichtet ist, das - unterstellt: - mangelhafte<br />

Fahrzeug bei dem Kläger in M abzuholen. Nach der Vorstellung des<br />

Gesetzgebers soll der Verkäufer dann auch bei dieser Gelegenheit der<br />

Fahrzeugabholung Zug um Zug seine Verpflichtung zur Rückzahlung<br />

des Kaufpreises erfüllen.<br />

Für die vorherrschende Auffassung:<br />

OLG München, Urteil vom 13.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>4,<br />

19 U 3721/13 und Palandt-Grüneberg,<br />

BGB, § 269, Rn <strong>16</strong><br />

[25] Dieses mutmaßlich auch von den Parteien so gewollte Prozedere spricht<br />

dafür, bei der Rückabwicklung eines Autokaufs im Rahmen des § 29 I<br />

ZPO einen einheitlichen Gerichtsstand des Erfüllungsortes dort anzunehmen,<br />

wo sich das gekaufte Fahrzeug im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung<br />

vertragsgemäß befindet - nämlich regelmäßig am Wohnsitz des<br />

Käufers. Dies entspricht zu Recht der vorherrschenden Auffassung.“<br />

Dabei ist als unstreitig zu unterstellen, dass die Ehefrau des Klägers das<br />

Fahrzeug in M nutzen sollte. Dies hat der Beklagte nicht wirksam mit Nichtwissen<br />

bestritten. Denn nach § 138 IV ZPO können nur solche Tatsachen mit<br />

Nichtwissen bestritten werden, die nicht Gegenstand der Wahrnehmung<br />

einer Partei gewesen sein können. Dies ist für Bestandteile der Vertragsverhandlungen<br />

nicht der Fall.<br />

Für die abweichende Rechtsansicht des Beklagten, der Gerichtsstand des<br />

Erfüllungsortes liege an seinem Wohnsitz in Q, lassen sich dagegen keine tragfähigen<br />

Umstände anführen:<br />

„[26] Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch die nach § 439<br />

BGB vom Verkäufer vorrangig geschuldete Nacherfüllung grundsätzlich<br />

an dessen Betriebs- oder Wohnsitz vorzunehmen ist. Das lässt aber<br />

nicht den Rückschluss zu, dass dort auch die spätere Rückabwicklung<br />

des Kaufvertrages zu erfolgen hat. Vielmehr wird sich im Gegenteil das<br />

Scheitern der Nacherfüllung als Rücktrittsvoraussetzungen in der Regel erst<br />

dann feststellen lassen, wenn der Käufer das Fahrzeug im Anschluss an den<br />

Nacherfüllungsversuch wieder zur bestimmungsgemäßen Verwendung<br />

zurückerhalten hat.“<br />

Der Klageantrag zu 1. ist auch begründet.<br />

Der Kläger kann Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe<br />

des Fahrzeugs verlangen, § 346 I BGB, da er wirksam ein ihm nach den §§ 437<br />

Nr. 2, 434 I 1, 326 V BGB zustehendes Rücktrittsrecht ausgeübt hat. Das verkaufte<br />

Fahrzeug weist einen Mangel im Sinne des § 434 I 1 BGB auf, da es mit<br />

der höheren Laufleistung nicht die vereinbarte Beschaffenheit aufweist.<br />

Dies ist zwischen den Parteien auch unstreitig, da es der Beklagte nicht<br />

bestritten hat. Einer Nachfristsetzung seitens des Klägers bedurfte es gem.<br />

§ 326 V BGB nicht, da der Mangel nicht behebbar ist. Zurückzugewähren ist<br />

nach § 346 I BGB der vom Kläger entrichtete Kaufpreis.<br />

Auch der Klageantrag zu 2. ist zulässig.<br />

Das nach § 256 I ZPO für die Feststellungsklage erforderliche besondere Feststellungsinteresse<br />

liegt vor. Es ergibt sich daraus, dass der Kläger bei der<br />

§ 138 IV ZPO: Man kann nur das mit<br />

Nichtwissen bestreiten, was man<br />

nicht wissen kann!<br />

Erfüllungsort der Nacherfüllung ist<br />

nicht automatisch der Erfüllungsort<br />

der Rückabwicklung,<br />

BGH, Urteil vom 18.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>1, X ZR<br />

71/10<br />

Begründetheit der Klage: Voraussetzungen<br />

des wirksamen Rücktritts<br />

vom Kaufvertrag<br />

Das Feststellungsinteresse ergibt<br />

sich hier aus der gem. § 756 I ZPO<br />

erleichterten Vollstreckung aus dem<br />

Zug-um-Zug-Urteil zum Klageantrag<br />

zu 1.


20 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Vollstreckung aus dem Klageantrag zu 1. gem. § 756 I ZPO zunächst die<br />

Gegenleistung angeboten haben muss. Kann der Kläger als Vollstreckungsgläubiger<br />

durch öffentliche Urkunde, wozu insbesondere ein entsprechender<br />

feststellender Urteilstenor zählt, beweisen, dass sich der Vollstreckungsgegner<br />

mit der Annahme der Leistung im Gläubigerverzug befindet, darf<br />

der Kläger nach dieser Regelung sofort vollstrecken.<br />

Der Antrag ist begründet, wenn die<br />

Voraussetzungen des Gläubigerverzugs<br />

vorliegen.<br />

Für die Vollstreckbarkeit müssen Sie<br />

das Urteil als Ganzes betrachten.<br />

Der Antrag ist auch begründet.<br />

Der Beklagte, der die Rücknahme des Zug um Zug zurück zugewährenden<br />

Fahrzeugs verweigert hat, befindet sich in Annahmeverzug nach § 293 BGB.<br />

Der Kläger hat die Leistung dem Beklagten auch gem. § 294 BGB so angeboten,<br />

wie sie zu bewirken war. Der Erfüllungsort für die Nacherfüllung liegt,<br />

beim Kläger.Deshalb durfte der Kläger den Beklagten dazu auffordern, das<br />

Fahrzeug in M abzuholen.<br />

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen<br />

Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 1, 2 ZPO. Auch wenn der Antrag<br />

zu 2. als Feststellungsantrag selbst nicht vollstreckbar ist, sondern lediglich<br />

die sich darauf beziehenden Kosten, ist § 708 Nr. 11 ZPO nicht anwendbar,<br />

da hierfür aus dem gesamten Urteil nur Kosten von nicht mehr als 1.500,- €<br />

für vollstreckbar erklärt sein dürfen.<br />

FAZIT<br />

Diese Entscheidung kann als Vorlage für jeden Klausurtyp im Assessorexamen<br />

dienen, denn sie beinhaltet einige zivilprozessuale Klassiker, die man im<br />

Examen in jedem Fall beherrschen muss: Neben der aktuellen Frage, wo der<br />

Erfüllungsort der Rückabwicklung ist, ist die Wirksamkeit eines Bestreitens<br />

mit Nichtwissen gem. § 138 IV ZPO zu beurteilen. Auch der Feststellungsantrag<br />

hinsichtlich des Gläubigerverzugs mit der Annahme der Zug um Zug<br />

zu gewährenden Gegenleistung zählt zum Standardrepertoire.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Zivilrecht<br />

21<br />

Problem: Bereicherungsausgleich bei<br />

Insolvenzanfechtung<br />

Einordnung: Insolvenzanfechtung, Bereicherungsrecht<br />

OLG München, Urteil vom 26.03.2<strong>01</strong>5<br />

24 U 3722/14<br />

EINLEITUNG<br />

Die nachfolgende Entscheidung befasst sich mit dem komplizierten Recht der<br />

Insolvenzanfechtung. Ein Inkassounternehmen hatte für das insolvente Unternehmen<br />

Beträge vereinnahmt und selektiv direkt an einzelne Gläubiger abgeführt.<br />

Dies warf im Prozess die Frage auf, ob es nach der Insolvenzanfechtung<br />

Geld an die Masse zurückgewähren muss. Besonders examensrelevant ist die<br />

Verknüpfung der §§ 129 ff. InsO mit dem Bereicherungsrecht.<br />

TATBESTAND<br />

Die Klägerin macht Ansprüche aus Insolvenzanfechtung gegen die Beklagten<br />

geltend, die Mitglieder einer Anwaltssozietät in Form einer GbR sind.<br />

Die Josef H. GmbH & Co. Parkettgeschäft KG (im Folgenden: Schuldnerin) hatte<br />

seit dem 05.05.2009 nach Pfändungsmaßnahmen kein liquides Bankvermögen<br />

mehr. Der Kassenbestand betrug maximal 1.000,- €. Im Juni 2009 kündigte die<br />

Vermieterin der Schuldnerin das Mietverhältnis über die Geschäftsräume. In<br />

der Folgezeit zahlte die Schuldnerin weder die Mieten noch das Arbeitsentgelt<br />

für ihre Arbeitnehmer. Spä<strong>test</strong>ens im September 2009 beauftragte der Zeuge<br />

L. als Betriebsleiter der Schuldnerin den Beklagten zu 1) damit, Außenstände<br />

in Höhe von 189.810,99 € für die Klägerin einzuziehen, daneben beriet der<br />

Beklagte zu 1) den Zeugen L. hinsichtlich der Kündigung der Arbeitnehmer.<br />

LEITSÄTZE<br />

1. Es stellt eine vorsätzliche Benachteiligung<br />

nach § 133 Abs. 1<br />

InsO dar, wenn der bereits zahlungsunfähige<br />

Schuldner einen<br />

Rechtsanwalt mit der Einziehung<br />

von Außenständen beauftragt<br />

und ihn anweist, eingehende<br />

Beträge direkt vom Rechtsanwalts-<br />

Anderkonto an ausgewählte<br />

Gläubiger auszuzahlen.(Rn.13)<br />

2. Der als anderer Teil nach §§ 133<br />

Abs. 1, 143 Abs. 2 InsO der Haftung<br />

unterliegende Rechtsanwalt kann<br />

sich nicht auf die Entreicherung<br />

infolge der Auszahlung an Gläubiger<br />

berufen, wenn er Kenntnis<br />

vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />

des Schuldners hatte. Ein<br />

Rechtsanwalt, der den Forderungseinzug<br />

übernommen hat, stellt<br />

nicht lediglich eine Zahlstelle im<br />

Sinn des Urteils des BGH vom<br />

26. April 2<strong>01</strong>2, IX ZR 74/11, BGHZ<br />

193, 129 dar (Rn.24, 37)<br />

Zwischen dem 04.11. und dem 23.12.2009 gelang es dem Beklagten zu 1),<br />

Außenstände in Höhe von 11.379,65 € einzuziehen, von denen er aufgrund<br />

einer Weisung des L. 8.540,54 € direkt an drei Gläubiger der Schuldnerin, darunter<br />

L. selbst, auszahlte. Gegen die restliche Forderung von 2.839,11 € erklärten<br />

die Beklagten mit Schreiben vom 14.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>0 vereinbarungsgemäß die Aufrechnung<br />

mit ihren Honoraransprüchen. Aufgrund von Insolvenzanträgen<br />

vom 27.<strong>01</strong>., 04.02. und 06.07.2<strong>01</strong>0 eröffnete das AG Düsseldorf am 28.04.2<strong>01</strong>1<br />

das Insolvenzverfahren und bestellte die Klägerin zur Insolvenzverwalterin.<br />

Mit Schreiben vom … hat die Klägerin gegenüber den Beklagten die Insolvenzanfechtung<br />

über die eingezogenen Beträge von 11.379,65 € erklärt und die<br />

Beklagten erfolglos zur Rückzahlung aufgefordert.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 11.379,65 € zu zahlen.<br />

Die Beklagten beantragen,<br />

die Klage abzuweisen.<br />

Sie meinen, die Verfügungsmöglichkeit der Beklagte bedeute nicht, dass<br />

sie etwas „erlangt“ hätten. Nur die Anweisung des Betriebsleiters L. zur Auszahlung<br />

des Fremdguthabens an die Gläubiger sei anfechtbar. Damit habe<br />

die Schuldnerin über den Auszahlungsanspruch gegen die Beklagten verfügt.<br />

Hier entfällt das klägerische Vorbringen,<br />

da keine Tatsachen, sondern<br />

lediglich Rechtsfragen streitig<br />

sind.<br />

Hier sollte man die Rechtsauffassung<br />

der Beklagten darstellen, da<br />

das Urteil dieser gerade nicht folgt.


22 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Die Beklagten seien aufgrund ihrer Stellung als Treuhänder zur Erfüllung der<br />

Weisung der Schuldnerin verpflichtet gewesen. Ihre Stellung sei mit der eines<br />

Kreditinstituts vergleichbar.<br />

Zur Zulässigkeit sollten Sie hier<br />

nichts schreiben, da diese unproblematisch<br />

ist.<br />

Erste Tatbestandsvoraussetzungen<br />

der Insolvenzanfechtung aus<br />

§ 129 InsO: Rechtshandlung des<br />

Schuldners, welche die Gläubiger<br />

benachteiligt<br />

Die Beauftragung eines Inkassos<br />

ist grundsätzlich nicht gläubigerbenachteiligend.<br />

Hier aber ausnahmsweise doch: aufgrund<br />

der Anweisung, nur einzelne<br />

Gläubiger zu befriedigen.<br />

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />

Die zulässige Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht aufgrund der wirksamen<br />

Insolvenzanfechtung gegenüber den Beklagten aus §§ 133 I, 143 I, 819 I,<br />

818 IV, 292, 989 BGB der geltend gemachte Rückzahlungsanspruch zu.<br />

„[13] Die Schuldnerin hat durch ihren Betriebsleiter L. im September 2009<br />

die Beklagten mit der Einziehung von Außenständen beauftragt und die<br />

Beklagten angewiesen, eingehende Geldbeträge direkt an einzelne Gläubiger<br />

auszubezahlen. Hierin liegt eine Rechtshandlung der Schuldnerin<br />

vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die die Insolvenzgläubiger<br />

benachteiligt, § 129 I InsO. Die Schuldnerin hat ihre Forderungen,<br />

die sich in Höhe von 11.379,65 € als werthaltig erwiesen, den Beklagten<br />

zum Inkasso übertragen. Grundsätzlich liegt in einer Inkassotätigkeit<br />

keine Gläubigerbenachteiligung, da der Herausgabeanspruch aus dem<br />

Treuhandverhältnis zwischen der Schuldnerin und den Beklagten aus<br />

§§ 675, 667 BGB ein gleichwertiges Surrogat für die einzukassierenden<br />

Forderungen darstellen würde. Der Anspruch der Schuldnerin gegen die<br />

Beklagten würde nämlich der Masse im Fall einer Insolvenzeröffnung in<br />

gleicher Weise zur Verfügung stehen wie vorher die Ansprüche gegen die<br />

verschiedenen Schuldner der Forderungen. Diese Gleichwertigkeit fehlt<br />

jedoch aufgrund der gleichzeitig gegebenen Anweisung der Schuldnerin<br />

an die Beklagten, aus den eingezogenen auf das Anderkonto verbuchten<br />

Geldbeträgen direkt die Forderungen einzelner Gläubiger zu<br />

erfüllen. Aufgrund dieser Anweisung drohte von Anfang an, dass die Geldbeträge<br />

innerhalb kurzer Zeit wieder aus dem Anderkonto verschwinden<br />

und der Insolvenzmasse nicht mehr zur Verfügung stehen.“<br />

Auch die Voraussetzungen einer Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung<br />

nach § 133 I InsO liegen vor.<br />

Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung<br />

nach § 133 I InsO: Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />

der Insolvenzschuldnerin<br />

Diesen bestimmt der BGH anhand<br />

einer Vermutung aufgrund der Zahlungsunfähigkeit,<br />

BGH, Urteil vom<br />

27.05.2003, IX ZR <strong>16</strong>9/02<br />

Definition der Zahlungsunfähigkeit<br />

gem. § 17 InsO: Nicht eine bloß geringfügige<br />

Liquiditätslücke, sondern 10 %<br />

oder mehr<br />

Die Zahlungsunfähigkeit kann auch<br />

anhand von Indizien festgestellt<br />

werden.<br />

„[15] a) Der Betriebsleiter L. der Schuldnerin handelte mit Benachteiligungsvorsatz,<br />

da die Schuldnerin zur Zeit der Erteilung des Inkassoauftrags<br />

bereits zahlungsunfähig war. Der Bundesgerichtshof geht in der Regel<br />

davon aus, dass der Schuldner die angefochtenen Rechtshandlungen<br />

mit Benachteiligungsvorsatz vorgenommen hat, wenn er zur Zeit ihrer<br />

Wirksamkeit (§ 140 InsO) zahlungsunfähig war. Der Schuldner ist nach<br />

§ 17 II 1 InsO zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen<br />

Zahlungspflichten zu erfüllen. Nach der Grundsatzentscheidung des BGH<br />

im Urteil vom 24. Mai 2005 - IX ZR 123/04 -, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit<br />

auszugehen, wenn die Liquiditätslücke des Schuldners<br />

10% oder mehr beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke<br />

demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und<br />

den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls<br />

zuzumuten ist. Derartige Feststellungen hat das Landgericht nicht<br />

getroffen; sie sind auch nicht erforderlich, da die Zahlungsunfähigkeit<br />

auch durch andere Indizien festgestellt werden kann, wie der Schließung<br />

des Geschäftslokals, Lastschriftrückgaben, Kündigungen von Krediten,<br />

größere Anzahl von Mahn- und Vollstreckungsbescheiden, Nichtabführung


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Zivilrecht<br />

23<br />

von Steuern und Sozialabgaben, Zahlungsrückständen bei Löhnen oder<br />

betriebsnotwendigen Leistungen (ebenda, Rn. 43). Derartige Umstände<br />

lagen vor, so dass die Schuldnerin nach den Feststellungen des Landgerichts<br />

am 05.05.2009, spä<strong>test</strong>ens aber bei der Erteilung des Inkassoauftrags<br />

im September 2009 zahlungsunfähig war:“<br />

Unstreitig waren nach einer Pfändung durch das Finanzamt seit dem 05.05.2009<br />

sämtliche Bankkonten der Schuldnerin gesperrt. Infolgedessen kam es zu verschiedenen<br />

Lastschrift-Rückgaben.<br />

Es bestand ein Mietrückstand. Das Mietverhältnis über die Geschäftsräume<br />

der Schuldnerin ist unstreitig im Juni 2009 gekündigt worden. Barmittel waren<br />

maximal in Höhe von 1.000,- € vorhanden.<br />

Drei Mitarbeiter sowie der frühere Geschäftsführer hatten Versäumnisurteile<br />

über zusammen 14.178,22 € sowie 6.026,59 € für ausstehendes Gehalt erwirkt.<br />

Dem Zeugen L. stellte sich die Schuldnerin als ein nicht mehr tätiges Unternehmen<br />

dar, das weder seine Arbeitnehmer noch Schulden beim Finanzamt<br />

und den Krankenkassen bedienen konnte. Der Zeuge L. hatte damit von<br />

den Umständen Kenntnis, die die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin<br />

begründeten.<br />

Die Beklagte haften als „anderer Teil“ i.S.v. § 133 I 1 InsO im Rahmen der<br />

Vorsatzanfechtung.<br />

Zwar haben die Beklagten mit Ausnahme des Anwaltshonorars in Höhe von<br />

2.839,11 €, das sie durch Verrechnung mit dem Restbestand auf dem Anderkonto<br />

eingezogen haben, nichts erlangt. Nach der Rechtsprechung des BGH<br />

kommt jedoch auch die Vorsatzanfechtung gegen den Angewiesenen in<br />

Betracht, wenn der spätere Insolvenzschuldner ihn mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz<br />

veranlasst, unmittelbar an seinen Gläubiger zu bezahlen.<br />

Die Beklagten haben in kritischer Zeit Vermögensgegenstände der Schuldnerin<br />

erworben, indem sie das Inkasso der Außenstände übernommen und<br />

vereinbart haben, die vereinnahmten Beträge nicht an die Schuldnerin,<br />

sondern an deren Gläubiger auszuzahlen.<br />

Der für die Beklagten handelnde Beklagte zu 1) hatte dabei Kenntnis vom<br />

Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des für die Schuldnerin handelnden<br />

Betriebsleiters L.<br />

Der Beklagte zu 1) wusste schon seit der Auftragserteilung, dass der Schuldnerin<br />

keine Konten mehr zur Verfügung standen. Deshalb hatte L. ihn gebeten,<br />

das „Forderungsmanagement“ zu übernehmen. Allein aus diesem Umstand<br />

musste sich dem Beklagten zu 1) aufdrängen, dass sich die Schuldnerin in<br />

einer ernsten Krise befand. Es ist völlig ungewöhnlich, wenn ein Unternehmen<br />

in Deutschland über kein einziges Bankkonto mehr verfügt.<br />

Er wusste zudem, dass bereits zwei ausgeschiedene und ein aktueller Arbeitnehmer<br />

Versäumnisurteile wegen ausstehender Gehälter gegen die Schuldnerin<br />

erwirkt hatten. Er kannte die Klageschriften und die Versäumnisurteile,<br />

nach seinem Vortrag aber nicht die Gründe für die Nichtzahlung der Gehälter.<br />

Darstellung und Subsumtion der<br />

verschiedenen Indizien für eine<br />

Zahlungsunfähigkeit<br />

Von diesen hatte auch der relevante<br />

Mitarbeiter der Schuldnerin<br />

Kenntnis.<br />

Aus der Vorsatzanfechtung haftet<br />

„der andere Teil“. Nach § 143 InsO<br />

ist das, was aus dem Schuldnervermögen<br />

weggegeben wurde,<br />

zurückzugewähren.<br />

Es haftet auch der Angewiesene aus<br />

der Vorsatzanfechtung,<br />

BGH, Urteil vom 29.11.2007, IX ZR<br />

121/06.<br />

Auch der für die Beklagten handelnde<br />

Rechtsanwalt hatte Kenntnis vom<br />

Gläubigerbenachteiligungsvorsatz.<br />

Die Beklagten können gegen die Haftung nicht einwenden, dass sie als Rechtsanwälte<br />

als uneigennützige Treuhänder für die Schuldnerin gehandelt<br />

haben und an die entsprechende Weisung des Betriebsleiters L. gebunden<br />

waren, die eingezogenen Beträge direkt an Gläubiger auszuzahlen.


24 Referendarteil: Zivilrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Die Beklagten sind nicht als uneigennützige<br />

Treuhänder von der Haftung<br />

frei, da sie die Beträge weisungsgemäß<br />

an privilegierte Gläubiger der<br />

Schuldnerin weitergeleitet haben.<br />

Lesenswert dazu auch:<br />

BGH, Urteile vom 26.04.2<strong>01</strong>2, IX ZR<br />

74/11 und 24.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>3, IX ZR 11/12<br />

Für die Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung<br />

verweist § 143 InsO<br />

auf die Rechtsfolgen des Bereicherungsrechts.<br />

Auf Entreicherung kann sich der<br />

andere Teil jedoch gerade bei der<br />

Vorsatzanfechtung kaum berufen.<br />

Beklagten ihrerseits können nach<br />

dem Gesamtschuldnerausgleich<br />

Rückgriff nehmen.<br />

Ein uneigennütziger Treuhänder unterliegt der Vorsatzanfechtung, wenn<br />

er nach Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ihm überlassene<br />

Geldbeträge vereinbarungsgemäß an bestimmte, bevorzugt zu befriedigende<br />

Gläubiger des Schuldners weiterleitet.<br />

Zwar handelt es sich bei den Beklagten um Angehörige rechtsberatender<br />

Berufe, die grundsätzlich an die Weisungen ihrer Mandanten gebunden sind.<br />

Diese Weisungen sind jedoch nicht verbindlich, wenn ihre Befolgung gegen<br />

das Recht verstößt oder - wie vorliegend - ein kollusives Zusammenwirken<br />

zum Nachteil anderer Gläubiger beinhaltet.<br />

Aufgrund der Kenntnis des Beklagten zu 1) von der drohenden Zahlungsunfähigkeit<br />

haften die Beklagten nach §§ 143 I InsO, 819 I, 818 IV, 292, 989 BGB.<br />

Sie können sich daher hinsichtlich der an andere Gläubiger ausgezahlten<br />

8.540,54 € nicht auf Entreicherung berufen. Den Beklagten steht insoweit<br />

ein Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gemäß § 426 I BGB gegen<br />

die Gläubiger zu, die als Empfänger der Zahlungen nach §§ 130, 131 InsO der<br />

Deckungsanfechtung unterliegen, deren Voraussetzungen aufgrund des Zahlungszeitpunkts<br />

weniger als drei Monaten vor Stellung des Insolvenzantrags<br />

nahe liegen. Jedenfalls hinsichtlich des Gläubigers L. dürften auch hinsichtlich<br />

des subjektiven Tatbestands keine Zweifel bestehen.<br />

Hinsichtlich der eigenen Honorarforderung der Beklagten in Höhe von<br />

2.839,11 € fehlt es schon an einer Entreicherung. Insoweit liegen - selbst<br />

wenn man von einer kongruenten Deckung ausgeht - die Voraussetzungen<br />

für eine Deckungsanfechtung nach § 130 I 1 Nr. 1 InsO aufgrund der Kenntnis<br />

des Beklagten zu 1) von der Zahlungsunfähigkeit einen Tag vor der Stellung<br />

des Insolvenzantrags durch das Finanzamt vor.<br />

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 I 1, 709 S. 1, 2 ZPO.<br />

FAZIT<br />

Aus mehreren Gründen ist diese Entscheidung ein heißer Tipp für das Examen.<br />

Weil das Anfechtungsrecht novelliert werden soll, könnten die Landesjustizprüfungämter<br />

die noch in den Schubladen vorhandenen Klausuren zur Insolvenzanfechtung<br />

stellen. Ferner sind Fragen zur Zahlungsunfähigkeit und zur<br />

vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung Klassiker, die auch in Zukunft die<br />

Gerichte beschäftigen werden. Folglich werden sie auch Themen des Assessorexamens<br />

bleiben.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Nebengebiete<br />

25<br />

NEBENGEBIETE<br />

Handelsrecht<br />

Problem: Sekundäre Unrichtigkeit des Handelsregisters<br />

Einordnung: Handelsrecht, Eintragung in das Handelsregister<br />

OLG Köln, Beschluss vom 03.06.2<strong>01</strong>5<br />

2 Wx 117/15 (MDR 2<strong>01</strong>5, 903)<br />

EINLEITUNG<br />

§ 15 HGB gehört zu den zentralen prüfungsrelevanten Normen des Handelsrechts.<br />

Hierbei liegt der Schwerpunkt bei Abs. 1.Diese Norm regelt die<br />

Frage, welche Rechtsfolgen es hat, wenn eine eintragungspflichtige – für die<br />

Änderung der Rechtslage aber nicht konstitutive – Tatsache nicht eingetragen<br />

und bekanntgemacht wird.<br />

Mit „sekundärer Unrichtigkeit“ des Handelsregisters wird der Fall beschrieben,<br />

dass z.B. weder der Ein- noch der Austritt eines Gesellschafters eingetragen<br />

dies. Dies führt zu der Frage, ob § 15 I HGB auf diesen Fall überhaupt anwendbar<br />

ist.<br />

Vorliegend war ein GmbH-Geschäftsführer nicht eingetragen. Das Registergericht<br />

verweigerte deshalb die Eintragung, dass er nicht mehr Geschäftsführer<br />

sei.<br />

SACHVERHALT<br />

Die Beteiligte zu 2. ist im Handelsregister des Amtsgerichts Köln unter HRB 5...5<br />

verzeichnet; die Beteiligte zu 1. ist als deren einzelvertretungsberechtigte<br />

Geschäftsführerin eingetragen.<br />

Am 02.02.2<strong>01</strong>5 hat die Beteiligte zu 1. über ihre Verfahrensbevollmächtigte<br />

dem Amtsgericht – Registergericht – Köln elektronisch einen Gesellschafterbeschluss<br />

vom 19.12.2<strong>01</strong>4 übermittelt, wonach u.a. Herrn T nicht mehr<br />

Geschäftsführer sei, und diese Tatsache zur Eintragung in das Handelsregister<br />

angemeldet (Ziff. 2. der Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5). Ausweislich eines ebenfalls<br />

beigefügten weiteren Gesellschafterbeschlusses war Herr T 12.08.2<strong>01</strong>4<br />

zum Geschäftsführer bestellt worden, eine entsprechende Anmeldung zur<br />

Eintragung im Handelsregister ist indes nicht erfolgt.<br />

LEITSATZ<br />

Das Amtsgericht wird angewiesen,<br />

den Vollzug von Punkt 2. der<br />

Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 nicht<br />

wegen der fehlenden Voreintragung<br />

des Herrn T als Geschäftsführer<br />

abzulehnen.<br />

Das Registergericht hat mit Beschluss vom 13.03.2<strong>01</strong>5, erlassen am <strong>16</strong>.03.2<strong>01</strong>5,<br />

den Antrag auf Vollzug von Punkt 2. der Anmeldung vom 23.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 zurückgewiesen.<br />

Da Herr T derzeit nicht als Geschäftsführer eingetragen sei, komme<br />

auch die Eintragung seines Ausscheidens nicht in Betracht; hierdurch würde<br />

nämlich zum Ausdruck gebracht, dass er zuvor Geschäftsführer gewesen sei.<br />

Dies könne indes vom Registergericht nicht mehr überprüft werden – insbesondere<br />

deshalb, weil die nach §§ 39 III, 6 II GmbHG erforderliche Versicherung<br />

nicht eingereicht worden sei.<br />

Gegen diesen ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 25.03.2<strong>01</strong>5 zugestellten<br />

Beschluss haben die Beteiligten mit Schriftsatz vom 20.04.2<strong>01</strong>5, bei Gericht am<br />

27.04.2<strong>01</strong>5 eingegangen, Beschwerde eingelegt. Das Amtsgericht hat dieser<br />

Beschwerde mit Beschluss vom 29.04.2<strong>01</strong>5, erlassen am 30.04.2<strong>01</strong>5, nicht<br />

abgeholfen und sie dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt.


26 Nebengebiete <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

LÖSUNG<br />

1. Die vorliegende Beschwerde ist gemäß § 58 I FamFG statthaft und auch im<br />

Übrigen zulässig.<br />

Das Rechtsmittel ist nach Maßgabe der §§ 63 I, III, 64 II 1 FamFG form- und<br />

fristgerecht eingelegt worden. (...)<br />

Schließlich sind auch beide Beteiligte im Sinne des § 59 FamFG beschwerdeberechtigt.<br />

(...)<br />

2. Die Beschwerde ist auch begründet; die vom Registergericht geäußerten<br />

Bedenken stehen der beantragten Eintragung nicht entgegen.<br />

„[9] Gemäß § 39 I GmbHG ist jede Änderung in den Personen der<br />

Geschäftsführer sowie die Beendigung der Vertretungsbefugnis eines<br />

Geschäftsführers zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Zu<br />

den danach anmeldepflichtigen Tatsachen zählt neben der Neubestellung<br />

von Geschäftsführern insbesondere auch die Beendigung des Geschäftsführeramtes,<br />

sei es durch Abberufung oder durch Amtsniederlegung. Die<br />

Eintragungspflicht für eine Amtsbeendigung entfällt nach herrschender<br />

Auffassung auch nicht etwa deshalb, weil schon die Bestellung nicht eingetragen<br />

worden war (...).<br />

[10] Dem schließt sich der Senat an. Die Eintragung der nach § 39 I GmbHG<br />

anmeldungspflichtigen Tatsachen hat grundsätzlich keine konstitutive<br />

Wirkung für die durch sie bekundeten Rechtsvorgänge (...). Sofern also der<br />

Bestellung eines GmbH-Geschäftsführers nicht anderweitige Hindernisse<br />

entgegenstehen, ist diese auch dann wirksam, wenn sie nicht im Handelsregister<br />

eingetragen ist. Dementsprechend führt auch die Abberufung eines<br />

nicht voreingetragenen Geschäftsführers – jedenfalls im Regelfall – zu einer<br />

Änderung in der Person der Geschäftsführer im Sinne des § 39 I GmbHG.<br />

[11] Vor allem aber beruht die dargestellte Auffassung wesentlich auf der<br />

auch vom Senat geteilten Erwägung, dass die Gesellschaft im Hinblick auf<br />

§ 15 I HGB ein erhebliches Interesse daran hat, das Wiederausscheiden<br />

des Geschäftsführers eintragen zu lassen. Ihr droht nämlich bei fehlender<br />

Eintragung der Amtsbeendigung auch dann eine Rechtsscheinhaftung<br />

aus § 15 I HGB, wenn schon die Bestellung nicht eingetragen worden war<br />

(...). Denn nach § 15 I HGB wird ein gutgläubiger Dritter gegen die Folgen<br />

nicht eingetragener Tatsachen auch dann geschützt, wenn die gebotene<br />

Voreintragung unterblieben ist (BGHZ 1<strong>16</strong>, 37, 44; Baumbach/Hopt, HGB,<br />

36. Aufl. 2<strong>01</strong>4, § 15 Rdn. 11). Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass<br />

der Dritte auf andere Weise als durch das Handelsregister von der – dort<br />

nicht eingetragenen – Tatsache erfahren haben kann; er kann auf deren<br />

Fortbestand vertrauen, solange ihr Wegfall nicht entsprechend der Eintragungspflicht<br />

im Handelsregister kenntlich gemacht worden ist (BGHZ<br />

1<strong>16</strong>, 37, 44). Die Gesellschaft kann demnach einem Dritten die Abberufung<br />

eines Geschäftsführers unabhängig von dessen Voreintragung nur dann<br />

entgegenhalten, wenn die Abberufung entweder in das Handelsregister<br />

eingetragen und bekanntgemacht wurde oder dem Dritten positiv bekannt<br />

war. Vor diesem Hintergrund muss es möglich sein, die Abberufung ohne<br />

Rücksicht auf die Voreintragung einzutragen.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Nebengebiete<br />

27<br />

[12] Dementsprechend handelt es sich auch bei der Abberufung des Herrn<br />

T gemäß Gesellschafterbeschluss vom 19.12.2<strong>01</strong>4 um eine Tatsache, die<br />

nach § 39 I GmbHG anmeldepflichtig ist. Soweit das Registergericht die<br />

Eintragung gleichwohl im Hinblick auf den damit verbundenen Aussagegehalt<br />

für unzulässig hält, teilt der Senat diese Bedenken, die – soweit<br />

ersichtlich – auch in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht geäußert<br />

worden sind, nicht. Mit der Eintragung der Amtsbeendigung des Herrn T<br />

wird nämlich nicht zugleich register-rechtlich verlautbart, dass und insbesondere<br />

für welchen Zeitraum Herr T zuvor Geschäftsführer gewesen<br />

ist. Zwar mag die Beendigung des Geschäftsführeramtes gedanklich voraussetzen,<br />

dass der Geschäftsführer dieses Amt zuvor jedenfalls für eine<br />

logische Sekunde innehatte; hierbei handelt es sich aber nur um eine mittelbare<br />

Schlussfolgerung, die insbesondere nicht an den Rechtswirkungen<br />

des § 15 HGB teilnimmt. Vor diesem Hintergrund wird mit der beantragten<br />

Eintragung lediglich verlautbart, dass Herr T ( jedenfalls) jetzt nicht mehr<br />

Geschäftsführer ist – nicht aber, dass er es jemals gewesen sei.“<br />

FALLUMSETZUNG<br />

SACHVERHALT<br />

K erteilt P Prokura, was nicht eingetragen und bekannt gemacht wird. Später<br />

entzieht K dem P die Prokura wieder, was ebenfalls nicht eingetragen und<br />

bekannt gemacht wird. Aus Verärgerung über seine Abberufung kauft P bei<br />

dem nichts ahnenden V für 40.000 € ein Kfz „als Geschäftswagen für den<br />

Kaufmann K“ und verwertet dieses für sich. Kann V von K die Zahlung von<br />

40.000 € verlangen?<br />

LÖSUNG<br />

Anspruch auf 40.000 € aus § 433 II BGB<br />

V könnte gegen K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von<br />

40.000 € aus § 433 II BGB haben, wenn zwischen ihm und K ein wirksamer<br />

Kaufvertrag zustande gekommen ist.<br />

Ein wirksamer Kaufvertrag, § 433 I BGB, setzt eine Stellvertretung des K durch<br />

P voraus, da K den Vertrag jedenfalls nicht selbst abgeschlossen hat. Hierfür<br />

müsste P eine eigene Willenserklärung im fremden Namen mit Vertretungsmacht<br />

abgegeben haben.<br />

Die Einkleidung des Problems<br />

in eine Beschwerde gegen eine<br />

Eintragungsverweigerung des Registergerichts<br />

ist eher unüblich. Deshalb<br />

wird das Problem nunmehr in einer<br />

typischen Klausurkonstellation aufgezeigt.<br />

Der Fall ist dem neuen HGB-Pocket<br />

aus dem JI-Verlag entnommen,<br />

welches in Kürze erscheinen wird.<br />

Voraussetzungen der Stellvertretung<br />

I. Eigene Willenserklärung in fremdem Namen<br />

Eine eigene Willenserklärung in fremdem Namen hat P abgegeben.<br />

II. Mit Vertretungsmacht<br />

Fraglich ist jedoch, ob P mit Vertretungsmacht, § <strong>16</strong>4 I BGB, ge-handelt hat.<br />

Die Vertretungsmacht könnte sich aus einer Prokura des P ergeben, § 48 HGB.<br />

1. Tatsächliche Rechtslage<br />

Im Zeitpunkt der Abgabe der Willenserklärung hatte K dem P die Prokura<br />

bereits entzogen, allerdings war dies weder eingetragen, noch bekannt<br />

gemacht. Dies ändert jedoch an der Entziehung der Prokura nichts, da die Eintragung<br />

insoweit eine rein deklaratorische Wirkung hat. Folglich bestand die<br />

Prokura des P seit dem Widerruf durch K nicht mehr, § 52 I HGB.<br />

Bevor auf § 15 I HGB eingegangen<br />

wird, ist stets zu prüfen, wie sich die<br />

„tatsächliche“ Rechtslage darstellt.


28 Nebengebiete <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Die sich aus § 15 I HGB Rechtslage<br />

wird „fiktive“ Rechtslage genannt.<br />

Man spricht insoweit von „negativer“<br />

Publizität des Handelsregisters, da<br />

die nicht eingetragene Tatsache<br />

dem Dritten nicht entgegengesetzt<br />

werden kann; insoweit kann<br />

der Dritte auf das Schweigen des<br />

Registers vertrauen.<br />

Hiervon ist § 15 III HGB zu unterscheiden,<br />

welcher die positive Publizität<br />

der Bekanntmachung regelt.<br />

2. Fiktive Rechtslage, § 15 I HGB<br />

Ein anderes Ergebnis könnte sich aber aus dem gesetzlichen Rechtsscheinstatbestand<br />

des § 15 I HGB ergeben.<br />

Nach dieser Vorschrift kann derjenige, der eine eintragungspflichtige Tatsache<br />

– wie den Widerruf der Prokura, § 53 II HGB – nicht hat eintragen lassen, diese<br />

Tatsache einem Dritten nicht entgegensetzen, sofern der Dritte die Tatsache<br />

nicht kannte. Hier hat K die Entziehung der Prokura des P weder eintragen und<br />

bekannt machen lassen, noch war die Entziehung dem V bekannt.<br />

Fraglich ist jedoch, ob § 15 I HGB auf den vorliegenden Fall überhaupt<br />

Anwendung findet, da bereits die Erteilung der Prokura, § 53 I HGB, nicht eingetragen<br />

und bekannt gemacht war.<br />

Wie dieser Fall der „sekundären Unrichtigkeit des Handelsregisters“ zu<br />

behandeln ist, ist streitig.<br />

Nach einer Ansicht ist § 15 I HGB auf diesen Fall nicht anwendbar. Es könne<br />

keinen (handelsregisterlichen) Rechtsschein des Fortbestehens der Prokura<br />

geben, da die Prokuraerteilung niemals eingetragen wurde. Ein (handelsrechtlicher)<br />

Rechtsschein könne nur durch Eintragung und Bekanntmachung<br />

erzeugt werden.<br />

Ein Schutz des Dritten komme allenfalls durch allgemeine Rechtsscheinhaftung<br />

des Kaufmanns in Betracht. Hiernach wäre § 15 I HGB unanwendbar<br />

mit der Folge, dass P ohne Vertretungsmacht gehandelt hätte.<br />

Nach anderer Ansicht findet § 15 I HGB hingegen auch auf den Fall der „sekundären<br />

Unrichtigkeit des Handelsregisters“ Anwendung.<br />

§ 15 I HGB regele einen abstrakten Vertrauenstatbestand. Dieser setze nicht<br />

voraus, dass ein konkretes Vertrauen auf das Nicht-vorliegen einer nicht eingetragenen<br />

Tatsache gebildet worden sei. Über § 15 I HGB müsste sich K mithin<br />

so behandeln lassen, als habe P noch Prokura. Folglich hätte P mit Vertretungsmacht<br />

gehandelt.<br />

Vertiefung: Die Geltung des § 15 I<br />

HGB im Fall der „sekundären Unrichtigkeit<br />

des Handelsregisters“ wird<br />

zunehmend nur für den Fall angenommen,<br />

dass die voreintragungspflichtige<br />

Tatsache auch nach außen<br />

tatsächlich bekannt geworden war,<br />

weil es sonst zu einer Rechtsscheinhaftung<br />

ohne Vertrauenstatbestand<br />

kommen würde.<br />

Für die letztgenannte (herrschende) Ansicht spricht, dass sich im (handelsrechtlichen)<br />

Geschäftsverkehr Vertrauenstatbestände gerade auch durch den<br />

täglichen Rechtsverkehr bilden und eher selten durch die (Nicht-)Eintragungen<br />

im Handelsregister. Weiterhin stellt es einen Wertungswiderspruch dar, wenn<br />

§ 15 I HGB bei einmaliger Verletzung der Eintragungspflicht angewendet<br />

wird, bei mehrfacher hingegen nicht. Nach erstgenannter Ansicht würde sich<br />

eine mehrfache Verletzung der Eintragungspflicht somit quasi schlussendlich<br />

selbst legitimieren.<br />

3. Zwischenergebnis<br />

Folglich greift § 15 I HGB hier ein. K kann dem V den Entzug der Prokura des P<br />

nicht entgegensetzen und muss sich folglich so behandeln lassen, wie wenn P<br />

noch sein Prokurist wäre. In diesem Fall wäre der Vertrag mit Wirkung für den<br />

K zustande gekommen.<br />

III. Endergebnis<br />

V kann von K die Erfüllung des Vertrages und folglich auch die Bezahlung des<br />

Kfz gem. § 433 II BGB i.H.v. 40.000 € verlangen.


Übersicht zur GemO 2<strong>01</strong>5<br />

AKTUALISIERUNG<br />

FÜR BADEN-WÜRTTEMBERG<br />

Sehr geehrte <strong>RA</strong>-Leserinnen und <strong>RA</strong>-Leser,<br />

der Landtag von Baden-Württemberg hat am 14.10.2<strong>01</strong>5 das Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften<br />

beschlossen (LT-Drs. 15/7573), das am <strong>01</strong>.12.2<strong>01</strong>5 in Kraft getreten ist. Das Gesetz beruht auf einem Gesetzentwurf<br />

der Landesregierung (LT-Drs. 15/7265) sowie der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Innenausschusses<br />

(LT-Drs. 15/7480).<br />

Es handelt sich um ein sog. Artikel-Gesetz, das mehrere bereits bestehende Gesetze ändert.<br />

Regelungsziel des Gesetzgebers ist es, die Beteiligungsmöglichkeiten für die gesamte Bevölkerung auf kommunaler Ebene zu<br />

verbessern. Dazu hat er insbesondere Änderungen an § 21 GemO (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid) vorgenommen.<br />

Zu den examensrelevanten Neuerungen im Einzelnen:<br />

A. Änderung der Gemeindeordnung (GemO):<br />

I. § 21 GemO:<br />

§ 21 II GemO:<br />

In § 21 II Nr. 6 GemO werden nach dem Wort „Bauvorschriften“ die Wörter „mit Ausnahme des verfahrenseinleitenden<br />

Beschlusses“ eingefügt.<br />

zum Herausnehmen<br />

Kommentar:<br />

Der verfahrenseinleitende Beschluss ist bei Bauleitplänen in der Regel der Planaufstellungsbeschluss.<br />

Fehlt dieser (fakultative) Beschluss, ist ein Bürgerbegehren gegen den später erfolgenden ersten Beschluss<br />

des Gemeinderats im Bauleitplanverfahren möglich (z.B. den Auslegungsbeschluss, vgl. § 3 II 1<br />

BauGB). Im weiteren Verlauf des Bauleitplanverfahrens sind Bürgerbegehren und Bürgerentscheid nicht<br />

mehr möglich, insbesondere nicht zu dem Beschluss über den Flächennutzungsplan nach § 5 BauGB<br />

oder zu dem Beschluss über den Bebauungsplan nach § 10 BauGB. Dadurch sollen Rechts- und Planungssicherheit<br />

erzeugt werden (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />

Mit der Änderung des § 21 II Nr. 6 GemO korrigiert der Gesetzgeber eine gegenläufige Rechtsprechung<br />

des VGH Mannheim, der bisher davon ausgegangen ist, dass die Sperrwirkung des § 21 II Nr. 6 GemO ab<br />

dem Planaufstellungsbeschluss eintritt, dieser also nicht Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein kann<br />

(VGH Mannheim, Beschluss vom 27.6.2<strong>01</strong>1, 1 S 1509/11, juris Rn. 24 ff.).<br />

§ 21 III GemO:<br />

Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />

„(3) Über eine Angelegenheit des Wirkungskreises der Gemeinde, für die der Gemeinderat zuständig ist, kann die Bürgerschaft<br />

einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand<br />

haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid aufgrund eines Bürgerbegehrens durchgeführt<br />

worden ist. Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden, dabei findet § 3a LVwVfG keine Anwendung;<br />

richtet es sich gegen einen Beschluss des Gemeinderats, muss es innerhalb von drei Monaten nach der Bekanntgabe des<br />

Beschlusses eingereicht sein. Das Bürgerbegehren muss die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung und<br />

einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme<br />

enthalten. Die Gemeinde erteilt zur Erstellung des Kostendeckungsvorschlags Auskünfte zur Sach- und Rechtslage. Das<br />

Bürgerbegehren muss von mindestens 7 von Hundert der Bürger unterzeichnet sein, höchstens jedoch von 20000 Bürgern.<br />

Es soll bis zu drei Vertrauenspersonen mit Namen und Anschrift benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu<br />

vertreten. Sind keine Vertrauenspersonen benannt, gelten die beiden ersten Unterzeichner als Vertrauenspersonen. Nur die<br />

Vertrauenspersonen sind, jede für sich, berechtigt, verbindliche Erklärungen zum Antrag abzugeben und entgegenzunehmen.“<br />

Kommentar:<br />

Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 21 III 3 GemO die Frist für die Einreichung eines Bürgerbegehrens<br />

von 6 Wochen auf 3 Monate verlängert. Damit soll ausreichend Zeit für die Vorbereitung und<br />

Durchführung des Bürgerbegehrens eingeräumt werden (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />

Vollständig neu ist die in § 21 III 5 GemO vorgesehene Auskunftspflicht der Gemeinde bzgl. des Kostendeckungsvorschlags.<br />

Dieser verursachte den Initiatoren von Bürgerbegehren in der Vergangenheit


immer wieder große Schwierigkeiten, weil sie entweder die auftretenden Kosten nicht verlässlich schätzen<br />

konnten oder die rechtlich zulässigen Finanzierungsmöglichkeiten nicht kannten. Deshalb verlangt<br />

die Gesetzesbegründung auch, dass die Gemeinde sowohl zur Höhe der Kosten als auch zu den rechtlichen<br />

Möglichkeiten ihrer Deckung Auskunft geben muss (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />

Mit § 21 III 6 GemO hat der Gesetzgeber die zuvor bestehende sehr komplizierte und missverständliche<br />

Regelung des Unterschriftenquorums deutlich vereinfacht. Die Obergrenze von 20.000 Unterschriften<br />

trägt dem Umstand Rechnung, dass es gerade in Großstädten oftmals schwierig ist, die Bürger für lokale<br />

Themen, die eventuell auch nur Teile der Stadt betreffen, zu interessieren.<br />

Mit dem neu eingefügten § 21 III 7, 8 GemO übernimmt der Gesetzgeber die Bestimmungen des § 53 I<br />

1, 2 Kommunalwahlordnung (KomWO), erhöht allerdings die Zahl der möglichen Vertrauenspersonen<br />

von 2 auf 3. Mit der Änderung wird die Handhabung der Vorgaben für das Bürgerbegehren - gerade für<br />

juristische Laien - erleichtert, weil sich nunmehr alle zentralen Bestimmungen in § 21 GemO befinden.<br />

§ 21 III 9 GemO stellt mit dem Passus „jede für sich“ klar, dass jede Vertrauensperson alleinvertretungsberechtigt<br />

ist (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />

§ 21 IV GemO:<br />

Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />

„(4) Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat nach Anhörung der Vertrauenspersonen<br />

unverzüglich, spä<strong>test</strong>ens innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags. Nach Feststellung der Zulässigkeit des<br />

Bürgerbegehrens dürfen die Gemeindeorgane bis zur Durchführung des Bürgerentscheids keine dem Bürgerbegehren entgegenstehende<br />

Entscheidung treffen oder vollziehen, es sei denn, zum Zeitpunkt der Einreichung des Bürgerbegehrens haben<br />

rechtliche Verpflichtungen hierzu bestanden. Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit<br />

dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.“<br />

Kommentar:<br />

Die Anhörung der Vertrauenspersonen gem. § 21 IV 1 GemO kann schriftlich oder mündlich erfolgen. Sie<br />

soll sicherstellen, dass der Gemeinderat bei der Entscheidung über die Zulässigkeit umfassend informiert<br />

ist (LT-Drs. 15/7265, S. 36). Um eine Verzögerung des Ablaufs zu vermeiden, hat der Gesetzgeber zudem<br />

eine Zweimonatsfrist eingefügt (LT-Drs. 15/7265, S. 36).<br />

Von großer Bedeutung ist § 21 IV 2 GemO, der eine Sperrwirkung normiert, die allerdings erst eintritt,<br />

wenn der Gemeinderat das Bürgerbegehren für zulässig erklärt hat. Mit diesem relativ späten Eintritt<br />

der Sperrwirkung will der Gesetzgeber eine langandauernde und möglicherweise unbegründete Handlungsunfähigkeit<br />

der Gemeindeorgane vermeiden (LT-Drs. 15/7265, S. 36f.). Für den Zeitraum vor der<br />

Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens bleibt es daher hinsichtlich einer etwaigen Sperrwirkung<br />

bei den Vorgaben, die der VGH Mannheim formuliert hat. D.h. im Zeitraum vor der Einreichung des<br />

Bürgerbegehrens steht Rechtsschutz nur zur Verfügung, wenn die Gemeindeverwaltung gegen den aus<br />

dem Staatsrecht bekannten Grundsatz der Organtreue verstößt. Das ist der Fall, wenn ein treuwidriges<br />

Verhalten der Gemeinde droht, welches allein dem Zweck dient, dem Bürgerbegehren die Grundlage zu<br />

entziehen. Nach Einreichung des Bürgerbegehrens und vor der Entscheidung des Gemeinderats über seine<br />

Zulässigkeit ist die vorläufige gerichtliche Feststellung möglich, dass das Bürgerbegehren zulässig ist.<br />

Das notwendige Rechtsschutzbedürfnis für eine solche vorläufige Feststellung soll in dem Warneffekt für<br />

die Gemeindeverwaltung bestehen, die auf diesem Weg von etwaigen Vollzugsmaßnahmen abgehalten<br />

werden könnte. Allerdings kommt diese Feststellung nur in Betracht, wenn die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens<br />

bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren mit solcher Wahrscheinlichkeit bejaht werden<br />

kann, dass eine gegenteilige Entscheidung im Hauptsacheverfahren praktisch auszuschließen ist und der<br />

mit dem Hauptsacheverfahren verbundene Zeitablauf voraussichtlich eine Erledigung des Bürgerbegehrens<br />

zur Folge hat (VGH Mannheim, Beschluss vom 6.12.2<strong>01</strong>2, 1 S 2408/12 und Beschluss vom 27.6.2<strong>01</strong>1,<br />

1 S 1509/11).<br />

zum Herausnehmen<br />

§ 21 V GemO:<br />

Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />

„(5) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, muss den Bürgern die innerhalb der Gemeindeorgane vertretene Auffassung<br />

durch Veröffentlichung oder Zusendung einer schriftlichen Information bis zum 20. Tag vor dem Bürgerentscheid dargelegt<br />

werden. In dieser Veröffentlichung oder schriftlichen Information der Gemeinde zum Bürgerentscheid dürfen die Vertrauenspersonen<br />

eines Bürgerbegehrens ihre Auffassung zum Gegenstand des Bürgerentscheids in gleichem Umfang darstellen<br />

wie die Gemeindeorgane.“


Kommentar:<br />

Durch die Neufassung des § 21 V 1 GemO wird die Informationspflicht der Gemeinde konkreter gefasst.<br />

§ 21 V 2 GemO stellt sicher, dass keine einseitige Information der Bürger erfolgt.<br />

§ 21 VI GemO:<br />

Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />

„(6) Der Bürgerentscheid ist innerhalb von vier Monaten nach der Entscheidung über die Zulässigkeit durchzuführen, es sei<br />

denn, die Vertrauenspersonen stimmen einer Verschiebung zu.“<br />

Kommentar:<br />

Der neu eingefügte § 21 VI GemO soll, wie bereits § 21 IV 1 GemO, unangemessene Verfahrensverzögerungen<br />

ausschließen. § 21 IV 1, VI GemO stellt sicher, dass spä<strong>test</strong>ens innerhalb eines halben Jahres nach<br />

Einreichung eines zulässigen Bürgerbegehrens ein Bürgerentscheid stattfindet. Um im Einzelfall flexibel<br />

zu sein und Raum z.B. für eine Kompromisssuche zu geben, kann der Termin für den Bürgerentscheid mit<br />

Zustimmung der Vertrauenspersonen verschoben werden (LT-Drs. 15/7265, S. 37).<br />

zum Herausnehmen<br />

§ 21 VII GemO:<br />

Die Vorschrift wird wie folgt gefasst:<br />

„(7) Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen<br />

Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 20 von Hundert der Stimmberechtigten beträgt. Bei Stimmengleichheit<br />

gilt die Frage als mit Nein beantwortet. Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat<br />

der Gemeinderat die Angelegenheit zu entscheiden.“<br />

Kommentar:<br />

Der Gesetzgeber hat das Zustimmungsquorum von 25% auf 20% gesenkt und damit die Hürden für<br />

einen erfolgreichen Bürgerentscheid herabgesetzt.<br />

§ 21 VIII, IX GemO:<br />

Die Vorschriften werden wie folgt gefasst:<br />

„(8) Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Gemeinderatsbeschlusses. Er kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen<br />

neuen Bürgerentscheid abgeändert werden.“<br />

„(9) Das Nähere wird durch das Kommunalwahlgesetz geregelt.“<br />

Kommentar:<br />

Inhaltlich keine Änderung gegenüber der alten Rechtslage.<br />

II. § 24 GemO:<br />

§ 24 III GemO wird wie folgt gefasst:<br />

„(3) Eine Fraktion oder ein Sechstel der Gemeinderäte kann in allen Angelegenheiten der Gemeinde und ihrer Verwaltung<br />

verlangen, dass der Bürgermeister den Gemeinderat unterrichtet. Ein Viertel der Gemeinderäte kann in Angelegenheiten im<br />

Sinne von Satz 1 verlangen, dass dem Gemeinderat oder einem von ihm bestellten Ausschuss Akteneinsicht gewährt wird. In<br />

dem Ausschuss müssen die Antragsteller vertreten sein.“<br />

Kommentar:<br />

Das Quorum für das Verlangen an den Bürgermeister auf Unterrichtung des Gemeinderats wird von ¼ auf 1⁄6<br />

gesenkt. Fraktionen erhalten dieses Recht unabhängig von der Zahl ihrer Mitglieder (LT-Drs. 15/7265, S. 37).


III. § 29 GemO:<br />

§ 29 GemO wird wie folgt geändert:<br />

Die Absätze 2 bis 4 werden aufgehoben.<br />

Kommentar:<br />

§ 29 II-IV GemO verhinderte bisher insbesondere die gleichzeitige Mitgliedschaft von Familienangehörigen<br />

im Gemeinderat sowie die Mitgliedschaft von Personen, die mit dem Bürgermeister oder einem Beigeordneten<br />

in einem die Befangenheit begründenden Verhältnis stehen. Der Gesetzgeber hat diese Vorschriften<br />

gestrichen, weil es respektiert werden soll, wenn der Wähler diese Personen in seine Vertretung<br />

wählt. Die Gefahr, dass eine Familie den Gemeinderat dominiert, sieht der Gesetzgeber als begrenzt an.<br />

Die Wähler haben es letztlich selbst in der Hand, dies zu verhindern. Zudem sind die Befangenheitsgründe<br />

des § 18 GemO ausreichend, um Interessenkollisionen zu verhindern (LT-Drs. 15/7480, S. 30).<br />

Der Hinderungsgrund für Personen, die als persönlich haftende Gesellschafter an derselben Handelsgesellschaft<br />

beteiligt sind, entfällt vor diesem Hintergrund ebenfalls, weil zwischen Gesellschaftern keine<br />

engere Bindung als zwischen Verwandten anzunehmen ist (LT-Drs. 15/7480, S. 39).<br />

IV. § 32a GemO:<br />

Nach § 32 GemO wird folgender § 32a GemO eingefügt:<br />

㤠32a<br />

Fraktionen<br />

(1) Gemeinderäte können sich zu Fraktionen zusammenschließen. Das Nähere über die Bildung der Fraktionen, die Mindestzahl<br />

ihrer Mitglieder sowie die Rechte und Pflichten der Fraktionen regelt die Geschäftsordnung.<br />

(2) Die Fraktionen wirken bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Gemeinderats mit. Sie dürfen insoweit<br />

ihre Auffassungen öffentlich darstellen. Ihre innere Ordnung muss demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen.<br />

(3) Die Gemeinde kann den Fraktionen Mittel aus ihrem Haushalt für die sächlichen und personellen Aufwendungen der<br />

Fraktionsarbeit gewähren. Über die Verwendung der Mittel ist ein Nachweis in einfacher Form zu führen.“<br />

zum Herausnehmen<br />

Kommentar:<br />

Mit § 32a GemO schafft der Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage für die Bildung von Fraktionen.<br />

Da die Ratsmitglieder ein freies Mandat ausüben, spielt es für die Fraktionszugehörigkeit keine Rolle, aufgrund<br />

welchen Wahlvorschlags das jeweilige Ratsmitglied in den Gemeinderat gewählt wurde (LT-Drs.<br />

15/7265, S. 38). Folglich können Gemeinderatsmitglieder, die auf den Listen unterschiedlicher Parteien<br />

standen, zusammen eine Fraktion bilden.<br />

Die Fraktion muss mindestens aus 2 Mitgliedern bestehen, weil es anderenfalls an dem in § 32a I 1<br />

GemO geforderten Merkmal „zusammenschließen“ fehlt (LT-Drs. 15/7265, S. 38). Weitere Details legt die<br />

Geschäftsordnung des Gemeinderats fest (vgl. § 36 II GemO). Sie darf den Fraktionsstatus von einer bestimmten<br />

Mindestzahl von Mitgliedern (also mehr als 2 Mitglieder) abhängig machen, um die Arbeit im<br />

Gemeinderat zu straffen. Jedoch darf diese Mindeststärke in Abhängigkeit von der Größe des Gemeinderats<br />

und der Anzahl der auf die Mehrheit der Wahlvorschläge entfallenden Sitze nicht unangemessen<br />

hoch sein (LT-Drs. 15/7265, S. 38).<br />

Dass die Geschäftsordnung die Rechte und Pflichten der Fraktionen regelt beinhaltet nicht die Befugnis,<br />

Rechte und Pflichten der einzelnen Ratsmitglieder einzuschränken. Zudem können den Fraktionen auf<br />

diesem Weg keine Rechte eingeräumt werden, die über die Rechte des Gesamtgemeinderats hinausgehen<br />

oder in die Zuständigkeiten des Bürgermeisters eingreifen (LT-Drs. 15/7265, S. 38f.).<br />

Da die Fraktionen Teil des Organs Gemeinderat sind, hält es der Gesetzgeber für gerechtfertigt, ihnen<br />

gem. § 32a III 1 GemO eine Finanzierung aus dem Gemeindehaushalt zu gewähren. In Betracht kommen<br />

insbesondere Aufwendungen für die Fraktionsgeschäftsführung (z.B. Unterhaltung einer Geschäftsstelle,<br />

Anschaffung von Fachliteratur), für Fraktionssitzungen oder für die Öffentlichkeitsarbeit. Nicht erfasst hingegen<br />

ist der Aufwand für den Fraktionsvorsitzenden und die Fraktionsmitglieder, weil insoweit bereits<br />

in § 19 GemO Regelungen existieren (LT-Drs. 15/7265, S. 39). Der Gesetzgeber betont darüber hinaus ausdrücklich,<br />

dass die von der Gemeinde gewährten Zuwendungen nicht zur Finanzierung der Parteiarbeit<br />

verwendet werden dürfen (LT-Drs. 15/7265, S. 39).<br />

Mit dem Passus „in einfacher Form“ in § 32a III 2 GemO ist gemeint, dass z.B. eine summarische Darstellung<br />

der wesentlichen Ausgabearten mit den darauf entfallenden Beträgen genügt (LT-Drs. 15/7265, S. 39).<br />

Fortsetzung siehe vorletzte Seite


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Öffentliches Recht<br />

29<br />

ÖFFENTLICHES RECHT<br />

Problem: Meinungsfreiheit nach der EMRK<br />

Einordnung: Grundrechte/Völkerrecht<br />

EGMR, Urteil vom 26.11.2<strong>01</strong>5<br />

Case of Annen vs. Germany (Application no. 3690/10)<br />

EINLEITUNG<br />

Dürfen Ärzte, die Abtreibungen durchführen, massiv öffentlich kritisiert und ihr<br />

Handeln sogar in die Nähe der unbeschreiblichen Verbrechen gerückt werden,<br />

die in den NS-Konzentrationslagern begangen wurden? Mit dieser heiklen<br />

Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in<br />

einem Fall aus Deutschland zu befassen. Da die offiziellen Verfahrenssprachen<br />

beim EGMR Englisch und Französisch sind, werden die zitierten Passagen der<br />

Entscheidung im englischen Originaltext wiedergegeben.<br />

LEITSATZ (DER REDAKTION)<br />

Zum Spannungsverhältnis zwischen<br />

der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK)<br />

und dem Schutz der persönlichen<br />

Ehre als Bestandteil des Art. 8 EMRK.<br />

SACHVERHALT (LEICHT GEKÜRZT)<br />

Der Beschwerdeführer (B) hatte im Juli 2005 u.a. in unmittelbarer Nachbarschaft<br />

einer Tagesklinik, die Abtreibungen durchführte, Flugblätter verteilt. Auf der<br />

ersten Seite des Faltblattes stand in Fettbuchstaben, dass die Klinik der beiden<br />

behandelnden Ärzte, deren vollständige Namen genannt wurden, „rechtswidrige<br />

Abtreibungen“ durchführe. Darunter wurde in kleinerer Schriftgröße<br />

ausgeführt, dass diese vom deutschen Gesetzgeber „erlaubt und nicht unter<br />

Strafe“ gestellt seien. Die Rückseite des Faltblattes enthielt folgenden Satz: „Die<br />

Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch<br />

verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt<br />

und nicht unter Strafe gestellt.“ Vor dem EGMR macht B geltend, dass das von<br />

deutschen Gerichten verhängte Verbot der Verbreitung der Flugblätter sein<br />

Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 10 EMRK verletze. Ist seine nach<br />

Art. 34 EMRK erhobene Individualbeschwerde begründet?<br />

LÖSUNG<br />

Die Individualbeschwerde ist begründet, soweit B in seinem Recht aus Art. 10<br />

EMRK verletzt ist.<br />

I. Eingriff in den Schutzbereich<br />

Das setzt voraus, dass ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 I EMRK<br />

vorliegt. Art. 10 I 2 EMRK schützt nicht nur die Meinungsäußerungsfreiheit,<br />

sondern auch die Freiheit, Informationen und Ideen weiterzugeben. Damit<br />

unterfallen auch Tatsachenbehauptungen dem Schutzbereich, sodass sich<br />

die Abgrenzung der Tatsachen von den Meinungen erübrigt. Somit unterfällt<br />

das Verhalten des B dem Schutzbereich des Art. 10 I EMRK.<br />

Eingriffe sind nur möglich durch die Verpflichteten der EMRK. Damit sind alle<br />

Organe der Legislative, Exekutive und Judikative in den Staaten gemeint,<br />

die die EMRK ratifiziert haben (sog. Konventionsstaaten). Deutschland ist<br />

ein Konventionsstaat. Durch das gerichtlich ausgesprochene Verbot greift die<br />

Bundesrepublik in die Meinungsäußerungsfreiheit des B ein.<br />

Der EGMR hat den Begriff „Meinung“<br />

bisher nicht abstrakt definiert,<br />

sondern prüft stets mit Blick auf den<br />

konkreten Einzelfall. Er zieht den<br />

Schutzbereich jedenfalls sehr weit,<br />

weil auch Werbung erfasst sein soll<br />

(Ehlers, EuGR, § 4 Rn 6 f.).<br />

Da eindeutig ein Eingriff vorliegt,<br />

bedarf es keiner Definition. In<br />

Zweifelsfällen ist zu fordern, dass<br />

die Beeinträchtigung eine gewisse<br />

Intensität aufweisen muss. Die<br />

deutsche Eingriffsdogmatik ist nicht<br />

übertragbar.


30 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

II. Rechtfertigung des Eingriffs<br />

Der Eingriff ist gerechtfertigt, soweit er durch die Schranken des Art. 10 EMRK<br />

gedeckt ist.<br />

Art. 10 II EMRK dürfte im deutschen<br />

Recht am ehesten einem<br />

qualifizierten Gesetzesvorbehalt<br />

entsprechen.<br />

1. Vorliegen einer Schranke<br />

Art. 10 II EMRK verlangt für Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit,<br />

dass diese „gesetzlich vorgesehen“ sind. Gesetzliche Grundlage für das<br />

gerichtliche Verbot sind §§ 823 I, 1004 I BGB. Weiterhin muss die Beschränkung<br />

einem der in Art. 10 II EMRK genannten Ziele dienen. Das ist hier der Schutz<br />

des guten Rufs.<br />

2. Verhältnismäßigkeit<br />

Der Eingriff in die Meinungsfreiheit muss schließlich gem. Art. 10 II EMRK<br />

in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, d.h. dem<br />

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Das von den deutschen Gerichten<br />

verhängte Verbot dient dem legitimen Schutz der persönlichen Ehre der<br />

betroffenen Ärzte und ist dafür auch geeignet und erforderlich. Fraglich ist<br />

jedoch die Angemessenheit des Verbots.<br />

Rechtfertigung verlangt dringendes<br />

soziales Bedürfnis.<br />

Mitgliedstaaten steht Beurteilungsspielraum<br />

zu, der jedoch nicht<br />

unbegrenzt ist.<br />

Wenig Raum für Eingriffe, wenn<br />

Äußerung sich auf politische/öffentliche<br />

Themen bezieht.<br />

Schutz der Reputation der betroffenen<br />

Ärzte durch Art. 8 EMRK.<br />

“[52] […] The adjective ‘necessary’, within the meaning of Article 10 § 2,<br />

implies the existence of a ‘pressing social need’. The Contracting States<br />

have a certain margin of appreciation in assessing whether such a need<br />

exists, but it goes hand in hand with European supervision, embracing both<br />

the legislation and the decisions applying it, even those given by an independent<br />

court. […]<br />

[53] Another principle that has consistently emphasised in the Court’s<br />

case-law is that there is little scope under Article 10 of the Convention<br />

for restrictions on political expressions or on debate on questions of<br />

public interest.<br />

[54] The Court further reiterates that the right to protection of reputation<br />

is protected by Article 8 of the Convention as part of the right to respect<br />

for private life. […]”<br />

Unter Zugrundelegung dieser allgemeinen Erwägungen ist hinsichtlich der<br />

Aussagen auf dem Flugblatt festzuhalten, dass sie mit der Abtreibung ein<br />

öffentliches Thema betreffen, also besonders schutzwürdig sind.<br />

Hinweis des EGMR, dass Abtreibungen<br />

nach deutschem Recht, wie<br />

von B behauptet, rechtswidrig, aber<br />

nicht strafbar sein können.<br />

Aufmachung des Flugblatts veranlasst<br />

sorgfältigen Leser nicht zu der<br />

Annahme, das Verhalten der Ärzte<br />

sei strafbar.<br />

„[60] The Court notes that the German law, under section 218a of the<br />

Criminal Code, draws a fine line between abortions which are considered<br />

to be “unlawful”, but exempt from criminal liability, and those<br />

abortions which are considered as justified and thus “lawful” […]. It<br />

follows that the applicant’s statement that “unlawful abortions” had<br />

been performed was correct from a judicial point of view.<br />

[61] The Court moreover considers that – although the leaflet’s layout was<br />

clearly designed to draw the reader’s attention to the first sentence<br />

set in bold letters – the very wording of the applicant’s further explanation,<br />

according to which the abortions were not subject to criminal<br />

liability, was sufficiently clear, even from a layperson’s perspective.<br />

Although the assessment and interpretation of the factual background of a<br />

case is primarily a matter for the domestic courts, the Court, in the particular


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Öffentliches Recht<br />

31<br />

circumstances of the present case and also bearing in mind the judgment<br />

of the Federal Constitutional Court of 8 June 2<strong>01</strong>0 […] dealing with almost<br />

identical questions, is convinced that the mere fact that the additional<br />

explanation had not been visually highlighted does not imply that a<br />

reasonable person with ordinary awareness would assume that the<br />

abortions were performed outside the legal conditions and were forbidden<br />

in a stricter sense of criminal liability. […].<br />

[63] As to the applicant’s reference to the Auschwitz concentration camps<br />

and the Holocaust, the Court reiterates that the impact an expression of<br />

opinion has on another person’s personality rights cannot be detached<br />

from the historical and social context in which the statement was<br />

made. The reference to the Holocaust must also be seen in the specific<br />

context of German history. However, given the very wording of the leaflet,<br />

the Court cannot agree with the domestic courts’ interpretation that the<br />

applicant had compared the doctors and their professional activities<br />

to the Nazi regime. In fact, the applicant’s statement according to which<br />

the killing of human beings in Auschwitz had been unlawful, but allowed,<br />

and had not been subject to criminal liability under the Nazi regime, may<br />

also be understood as a way of creating awareness of the more general<br />

fact that law may diverge from morality. Although the Court is aware of<br />

the subtext of the applicant’s statement, which was further intensified by<br />

the reference to the webpage “www.babycaust.de”, it observes that the<br />

applicant did not – at least not explicitly – equate abortion with the<br />

Holocaust. Thus, the Court is not convinced that the prohibition of disseminating<br />

the leaflets was justified by a violation of the doctors’ personality<br />

rights due to the Holocaust reference alone.”<br />

Keine zwingende Gleichstellung<br />

der Abtreibung mit dem Holocaust.<br />

Flugblatt kann auch anders interpretiert<br />

werden.<br />

Folglich ist das Verbot der Verbreitung der Flugblätter unverhältnismäßig<br />

und verletzt den B in Art. 10 EMRK. Seine Individualbeschwerde ist demnach<br />

begründet.<br />

FAZIT<br />

Die Entscheidung des EGMR hat auch in der Tagespresse für Aufsehen gesorgt<br />

– wie immer, wenn der EGMR eine gegenläufige deutsche Rechtsprechung korrigiert.<br />

Das ist auch der eine Grund für die Examensrelevanz der Entscheidung.<br />

Der 2. Grund besteht in der Häufigkeit, mit welcher die EMRK inzwischen auch<br />

in Pflichtfachklausuren geprüft wird. Es sei in diesem Zusammenhang daran<br />

erinnert, dass nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des BVerfG auch die<br />

deutschen Grundrechte „EMRK-freundlich“ auszulegen sind, d.h. die EMRK im<br />

Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung/Angemessenheit zu berücksichtigen<br />

ist.<br />

In der Sache sind die Entscheidungen der deutschen Gerichte im Übrigen<br />

nicht unvertretbar. Sie hatten betont, aufgrund des fettgedruckten Vorwurfs<br />

rechtswidriger Abtreibungen und der Verbindung zu den NS-Verbrechen entstehe<br />

eine besondere Prangerwirkung für die namentlich genannten Ärzte.<br />

Da die Entscheidungen des EGMR nur Feststellungsurteile sind, hat er die<br />

Entscheidungen der deutschen Gerichte nicht aufgehoben. Allerdings muss<br />

sein Urteil gem. Art. 46 EMRK bei zukünftigen Streitigkeiten beachtet werden.<br />

Z.B. Bad.-Württ., Termin 2<strong>01</strong>5 I,<br />

2. ÖR-Klausur; Termin 2009 I,<br />

1. ÖR-Klausur; Bayern, Termin 2<strong>01</strong>2 II,<br />

1. ÖR-Klausur; Nds., Termin Jan. 2<strong>01</strong>2,<br />

2. ÖR-Klausur; Rh.-Pfalz, Termin 2<strong>01</strong>2 II,<br />

1. ÖR-Klausur; Saarland, Termin 2<strong>01</strong>5 I,<br />

2. ÖR-Klausur<br />

Eine Auflistung wichtiger Entscheidungen<br />

des EGMR, die Deutschland<br />

betreffen, findet sich unter:<br />

www.echr.coe.int/Documents/CP_<br />

Germany_DEU.pdf


32 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

LEITSÄTZE<br />

1. § 43 Abs. 1 GO NRW stattet die Ratsmitglieder<br />

mit einem freien Mandat<br />

aus. Sie haben dabei insbesondere<br />

auch das Recht zur – ggf. gegenüber<br />

der Gemeinde und ihrer Politik kritischen<br />

– freien Meinungsäußerung,<br />

das nicht nur statusrechtlich,<br />

sondern – jedenfalls außerhalb von<br />

Ratssitzungen – zudem über Art. 5<br />

Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG grundrechtlich<br />

geschützt ist.<br />

2. Hinter der Treuepflicht des § 32<br />

Abs. 1 Satz 1 GO NRW steht der<br />

Gedanke, die Gemeindeverwaltung<br />

von allen Einflüssen freizuhalten,<br />

die eine objektive, unparteiische und<br />

einwandfreie Führung der Geschäfte<br />

gefährden könnten. Ratsmitglieder<br />

müssen alles unterlassen, was dem<br />

Wohl der Gemeinde und der Einwohnerschaft<br />

zuwiderläuft.<br />

3. Die verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung<br />

des Art. 5 Abs. 1<br />

Satz 1 Hs. 1 GG führt dazu, dass<br />

die Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1<br />

GO NRW einem Ratsmitglied grund<br />

sätzlich nicht verbietet, sich außerhalb<br />

von Ratssitzungen gegenüber<br />

der Gemeindeöffentlichkeit oder einzelnen<br />

Bürgern zu Vorgängen der<br />

Gemeindepolitik kritisch zu äußern.<br />

Soweit ein Ratsmitglied derartige<br />

Äußerungen tätigt, muss es dies<br />

allerdings nach pflichtgemäßer Prüfung<br />

insbesondere wahrheitsgemäß<br />

und – soweit geboten – vollständig<br />

tun. Die Äußerungen dürfen auch<br />

keinen diffamierenden Inhalt haben.<br />

4. Ein Gemeinderat kann eine Befugnis<br />

für eine Missbilligung und<br />

Rüge des Verhaltens seiner Mitglieder<br />

nicht allgemein aus §§ 40,<br />

41 Abs. 1 GO NRW in Verbindung<br />

mit der Garantie der kommunalen<br />

Selbstverwaltung gemäß Art. 28<br />

Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 78 LVerf NRW<br />

ableiten. Diese Normen ermächtigen<br />

den Rat lediglich dazu,<br />

Verstöße gegen organschaftliche<br />

Pflichten seiner Mitglieder festzustellen.<br />

5. Ein Gemeinderat hat nach nordrhein-westfälischem<br />

Kommunalrecht<br />

nicht die Befugnis, einem<br />

seiner Mitglieder den Ausschluss<br />

aus dem Rat anzudrohen.<br />

Problem: Anwendbarkeit der Grundrechte in einem<br />

Kommunalverfassungsstreit<br />

Einordnung: Kommunalrecht<br />

OVG Münster, Urteil vom 15.09.2<strong>01</strong>5<br />

15 A 1961/13<br />

EINLEITUNG<br />

Das OVG Münster hatte sich eigentlich „nur“ mit der Zulässigkeit eines<br />

Ratsbeschlusses zu befassen, in dem das Verhalten eines Ratsmitglieds<br />

missbilligt und gerügt wurde. Dabei hat sich das Gericht jedoch auch zur<br />

Anwendung der Grundrechte im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits<br />

geäußert.<br />

Der „Rat“ heißt in anderen Bundesländern im Übrigen „Gemeinderat“ oder<br />

„Gemeindevertretung“.<br />

SACHVERHALT (VEREINFACHT DARGESTELLT)<br />

Der Kläger (K) ist Mitglied des Rates der Gemeinde T. Gegen einen<br />

Bebauungsplan der T klagt einer ihrer Einwohner, Herr X. Dieser wandte<br />

sich an K mit der Frage, ob der Bebauungsplan formell ordnungsgemäß<br />

beschlossen worden sei. K bezweifelte dies und suggerierte, der Rat werde<br />

sich unabhängig von der objektiven Sachlage nicht an Recht und Gesetz<br />

halten, weil er den in Rede stehenden Bebauungsplan in jedem Fall halten<br />

wolle. Daraufhin fasst der Rat einen Beschluss, mit dem er das Verhalten des<br />

K als Verstoß gegen seine Treuepflichten missbilligt sowie rügt und sich im<br />

Wiederholungsfalle einen Ausschluss des K aus dem Rat vorbehält. Mit seiner<br />

Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht möchte K festgestellt wissen,<br />

dass er nicht gegen seine Pflichten als Ratsmitglied verstoßen hat und der<br />

Ratsbeschluss rechtswidrig ist.<br />

LÖSUNG<br />

Die Klage hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.<br />

A. Zulässigkeit der Klage<br />

I. Verwaltungsrechtsweg<br />

Mangels auf- und abdrängender Sonderzuweisungen richtet sich die<br />

Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I 1 VwGO. Die danach erforderliche<br />

öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor, wenn die streitentscheidende<br />

Norm eine solche des öffentlichen Rechts ist, d.h. ausschließlich einen<br />

Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet (sog. modifizierte Subjektstheorie<br />

bzw. Sonderrechtslehre). Streitentscheidend sind §§ 32, 43 GO NRW, also<br />

Normen des öffentlichen Rechts, sodass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit<br />

vorliegt. Diese ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art, sodass für die Klage<br />

des K der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.<br />

II. Statthafte Klageart<br />

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehren, § 88<br />

VwGO. K begehrt die Feststellung, dass er nicht gegen seine Pflichten als<br />

Ratsmitglied verstoßen hat und der Beschluss des Rates rechtswidrig ist.<br />

Diesem Begehren könnte die Feststellungsklage entsprechen. Dann muss K


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Öffentliches Recht<br />

33<br />

gem. § 43 I VwGO die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines<br />

Rechtsverhältnisses begehren.<br />

Ein Rechtsverhältnis sind die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund<br />

öffentlich-rechtlicher Normen ergebenden Rechtsbeziehungen zwischen<br />

Personen oder zwischen einer Person und einer Sache. Der konkrete Sachverhalt<br />

besteht einerseits in der Äußerung des K gegenüber Herrn X sowie andererseits<br />

in dem Beschluss des Rates. Die zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen<br />

Normen sind diejenigen der GO NRW. Die sich daraus ergebenden umstrittenen<br />

Rechtsbeziehungen betreffen zum einen die Frage, ob K durch die Äußerung<br />

gegenüber Herrn X seine Pflichten als Ratsmitglied verletzt hat. Zum anderen<br />

will K festgestellt wissen, dass der Rat nicht berechtigt war, sein Verhalten zu<br />

rügen, zu missbilligen und sich einen Ratsausschluss vorzubehalten. Demnach<br />

geht es ihm in beiden Konstellationen um die Feststellung des Nichtbestehens<br />

eines Rechtsverhältnisses (sog. negative Feststellungsklage).<br />

Die prozessuale Situation weist allerdings die Besonderheit auf, dass K ein<br />

kommunales Mandat innehat und sich seine Klage gegen Maßnahmen des<br />

Organs richtet, dem er selbst angehört. Folglich handelt es sich um einen sog.<br />

Kommunalverfassungsstreit, der sich dadurch auszeichnet, dass Organe<br />

oder Organteile einer kommunalen Selbstverwaltungskörperschaft um die<br />

ihnen zustehenden Kompetenzen streiten. Auf diese Innenrechtsstreitigkeiten<br />

(hier in Gestalt eines sog. Intraorganstreits) ist die VwGO zwar nicht unmittelbar<br />

zugeschnitten. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass die ausdrücklich<br />

normierten Klagearten, namentlich die Feststellungs- und die<br />

Leistungsklage, in ihren Voraussetzungen so angepasst werden können, dass<br />

sie auch Innenrechtsstreitigkeiten erfassen.<br />

Folglich ist die Feststellungsklage die statthafte Klageart.<br />

III. Feststellungsinteresse<br />

Gem. § 43 I VwGO muss der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten<br />

Feststellung haben. Ein berechtigtes Interesse ist jedes schutzwürdige Interesse<br />

rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Bzgl. des Ratsbeschlusses weist<br />

der Kläger das sowohl rechtliche als auch ideelle Interesse auf, den dadurch<br />

gesetzten Anschein aus der Welt zu schaffen, er habe durch seine Äußerung<br />

gegenüber T seine Treuepflichten als Ratsmitglied verletzt. Darüber hinaus<br />

hat K ein berechtigtes rechtliches Interesse daran, generell die Grenzen und<br />

Reichweite seiner Rechte als Ratsmitglied aus § 43 I GO NRW klären zu<br />

lassen. Mithin weist er das erforderliche Feststellungsinteresse auf.<br />

IV. Klagebefugnis<br />

Fraglich ist, ob K klagebefugt sein muss. Die analoge Anwendung des § 42 II<br />

VwGO im Rahmen der Feststellungsklage ist zwar durchaus umstritten,<br />

jedoch kommt es auf diesen Meinungsstreit nicht an, wenn K klagebefugt<br />

ist. Da der Kläger bei einem Kommunalverfassungsstreit nicht als natürliche<br />

Person, sondern in seiner öffentlichen Funktion klagt, verlangt dies eine mögliche<br />

Verletzung der ihm als kommunales Organ oder Organteil zustehenden<br />

Rechte (sog. Organrechte bzw. organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte<br />

bzw. wehrfähige Innenrechtsposition).<br />

„[46] Die im Rahmen von § 42 Abs. 2 VwGO analog wehrfähige (Innen-)<br />

Rechtsposition des Klägers folgt im Anschluss daran aus seiner Stellung als<br />

Mitglied des Beklagten und den damit gemäß § 43 Abs. 1 GO NRW verbundenen<br />

Statusrechten - hier in Verbindung mit seinem Grundrecht auf<br />

freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG.<br />

Hätte K die Feststellung begehrt,<br />

dass er zu seiner Äußerung<br />

gegenüber Herrn X berechtigt war,<br />

läge eine positive Feststellungsklage<br />

vor.<br />

Da der Kommunalverfassungsstreit<br />

(KVS) allgemein anerkannt ist, erübrigen<br />

sich langatmige Ausführungen<br />

zu seiner dogmatischen Herleitung.<br />

Es muss daher insbesondere nicht<br />

zwingend darauf eingegangen<br />

werden, dass es sich nicht um eine<br />

Klageart sui generis handelt.<br />

Wie schon im Rahmen der statthaften<br />

Klageart muss ganz genau<br />

zwischen den beiden Begehren des<br />

K differenziert werden.<br />

Da beim KVS in besonderem Maße<br />

die Gefahr besteht, dass der Kläger<br />

sich zum „Hüter des Allgemeinwohls“<br />

aufschwingt, ist es ganz h.M., dass<br />

§ 42 II VwGO in diesem Fall auch<br />

i.R. einer Feststellungsklage anzuwenden<br />

ist (Hufen, VerwProzessR,<br />

§ 18 Rn 17).<br />

§ 43 I GO NRW normiert das sog.<br />

freie Mandat der Ratsmitglieder.


34 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

DIE examensrelevante Aussage:<br />

auch im Rahmen eines KVS können<br />

die Grundrechte zur Anwendung<br />

gelangen, zumindest wenn es um<br />

ein Verhalten außerhalb von Ratssitzungen<br />

geht!<br />

Vgl. BVerwG, Beschluss vom<br />

12.2.1988, 7 B 123.87, juris Rn 4 ff.;<br />

VGH München, Beschluss vom<br />

20.4.2<strong>01</strong>5, 4 CS 15.381, juris Rn<br />

25; VGH Mannheim, Urteil vom<br />

11.10.2000, 1 S 2624/99, juris Rn 27.<br />

Diese Fundstellen belegen allerdings<br />

nur, dass sich Ratsmitglieder<br />

auf Grundrechte berufen können,<br />

nicht jedoch, dass es sich dann noch<br />

um einen KVS handelt.<br />

[47] § 43 Abs. 1 GO NRW stattet die Ratsmitglieder als Vertreter der<br />

gesamten Gemeindebürgerschaft mit einem freien Mandat aus. Sie haben<br />

dabei insbesondere auch das Recht zur - ggf. gegenüber der Gemeinde und<br />

ihrer Politik kritischen - freien Meinungsäußerung, das im Übrigen nicht<br />

nur statusrechtlich, sondern - jedenfalls außerhalb von Ratssitzungen -<br />

zudem über Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG grundrechtlich geschützt ist.<br />

Das freie Mandat, das mit Blick auf die grundlegende Bedeutung des politischen<br />

Meinungskampfes für die Konstituierung eines demokratischen<br />

Gemeinwesens auch auf Gemeindeebene von ganz erheblichem Gewicht<br />

ist, erfährt durch § 43 Abs. 1 GO NRW nur insofern eine Beschränkung, als<br />

die Ratsmitglieder an das Gesetz gebunden sind und [auf ] das öffentliche<br />

Wohl Rücksicht nehmen müssen.<br />

[49] Dies zugrunde gelegt, kann die Annahme eines Treuepflichtverstoßes<br />

aufgrund der [Äußerung des K gegenüber Herrn X] diesen in der freien<br />

Ausübung seines Ratsmandates beeinträchtigen. Diese Feststellung ist<br />

potentiell dazu geeignet, den Kläger von der Wahrnehmung seines<br />

Rechts auf freie Meinungsäußerung im Verhältnis zur Gemeindeöffentlichkeit<br />

bzw. einzelnen Bürgern der Gemeinde abzuhalten oder<br />

ihn in dieser Hinsicht zumindest zu hemmen.“<br />

Gleiches gilt erst recht für den angegriffenen Beschluss des Rates.<br />

Folglich ist K klagebefugt.<br />

Beim KVS: Ausnahme vom Rechtsträgerprinzip<br />

Zur dogmatischen Herleitung:<br />

Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157,<br />

158 f.; Schoch, JuS 1987, 783, 786 f.<br />

Nochmal: es muss erkannt werden,<br />

dass K zwei Begehren verfolgt.<br />

V. Klagegegner<br />

Beim Kommunalverfassungsstreit bestimmt sich der Klagegegner nicht<br />

nach dem Rechtsträgerprinzip, sondern nach der innerorganisatorischen<br />

Kompetenz- und Pflichtenzuordnung. D.h. es ist das Organ bzw. der<br />

Organteil zu verklagen, dessen Verhalten umstritten ist. Das ist hier der Rat.<br />

Er hat den streitgegenständlichen Beschluss gefasst und behauptet einen<br />

Pflichtverstoß des K.<br />

VI. Beteiligungs- und Prozessfähigkeit<br />

Die dogmatische Herleitung der Beteiligungs- und Prozessfähigkeit ist<br />

beim Kommunalverfassungsstreit zwar umstritten (direkte oder analoge<br />

Anwendung des § 61 Nr. 1 oder 2 VwGO oder richterliche Rechtsfortbildung), im<br />

Ergebnis aber allgemein anerkannt, weil es den Kommunalorganen möglich<br />

sein muss, die ihnen zustehenden organschaftlichen Mitgliedschaftsrechte<br />

gerichtlich durchsetzen zu können. Anderenfalls wäre ihre effektive Wahrnehmung<br />

nicht möglich.<br />

Mithin ist die Feststellungsklage des K in der besonderen prozessualen<br />

Situation des Kommunalverfassungsstreits zulässig.<br />

B. Objektive Klagehäufung<br />

Da K mehrere Begehren verfolgt, liegt eine objektive Klagehäufung i.S.v. § 44<br />

VwGO vor, deren Voraussetzungen erfüllt sind.<br />

C. Begründetheit der Klage<br />

Beachte: KVS = nur Prüfung der<br />

Organrechte!<br />

I. Verstoß gegen die Pflichten als Ratsmitglied<br />

Die Feststellungsklage ist begründet, soweit das umstrittene Rechtsverhältnis<br />

nicht besteht. Das ist der Fall, wenn K nicht gegen seine Treuepflichten als<br />

Ratsmitglied verstoßen hat.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Öffentliches Recht<br />

35<br />

Die Treuepflicht als Ratsmitglied folgt aus §§ 32 I 1, 43 II GO NRW.<br />

„[53] Dahinter steht der Gedanke, die Gemeindeverwaltung von allen<br />

Einflüssen freizuhalten, die eine objektive, unparteiische und einwandfreie<br />

Führung der Geschäfte gefährden könnten. Ratsmitglieder<br />

müssen alles unterlassen, was dem Wohl der Gemeinde und der<br />

Einwohnerschaft zuwiderläuft. Sie haben alles in ihrer Macht stehende<br />

zu tun, um Schaden von der Gemeinde abzuhalten und das Wohl der<br />

Einwohnerschaft zu fördern.<br />

[55] Im Verhältnis der kommunalen Organe und Organteile zueinander<br />

gilt zudem der Grundsatz der Organtreue. Er begründet namentlich die<br />

Obliegenheit von Ratsmitgliedern, rechtliche Bedenken gegen eine<br />

(anstehende) Beschlussfassung in der verfahrensrechtlich gebotenen<br />

Form rechtzeitig geltend zu machen.<br />

[57] Soweit § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW in dieser Lesart das Recht eines<br />

Ratsmitglieds auf freie Meinungsäußerung tangiert, […] ist er - auch als allgemeines<br />

Gesetz i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG - seinerseits im Lichte der Bedeutung<br />

und Tragweite dieses Grundrechts verhältnismäßig auszulegen und<br />

anzuwenden.<br />

[59] Nicht zuletzt diese verfassungsrechtliche Ausstrahlungswirkung<br />

führt dazu, dass die Treuepflicht des § 32 Abs. 1 Satz 1 GO NRW einem<br />

Gemeinderatsmitglied grundsätzlich nicht verbietet, sich auch<br />

außerhalb von Ratssitzungen gegenüber der Gemeindeöffentlichkeit<br />

oder einzelnen Bürgern zu Vorgängen der Gemeindepolitik kritisch<br />

zu äußern. Eine andere Betrachtungsweise würde dem freien<br />

Mandat einen wesentlichen Teil der ihm von § 43 Abs. 1 GO NRW<br />

zugedachten politischen Gestaltungskraft nehmen. Sie wäre mit<br />

der grundlegenden Bedeutung der mit der Mandatsausübung verbundenen<br />

Meinungsäußerungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen<br />

auf kommunaler Ebene nicht vereinbar. Dies schließt das prinzipielle<br />

Recht des Ratsmitglieds ein, Dritte über Vorgänge aus öffentlichen<br />

Ratssitzungen, die nicht der Verschwiegenheitspflicht des § 30 GO<br />

NRW unterliegen, zu informieren sowie eigene Einschätzungen hinsichtlich<br />

der Rechtmäßigkeit dieser Vorgänge kundzutun. Allerdings<br />

gilt dieses letztgenannte Recht nicht uneingeschränkt. Soweit ein<br />

Ratsmitglied derartige Äußerungen tätigt, muss es dies, auch um seiner<br />

Verpflichtung auf das Gesetz und das öffentliche Wohl durch § 43 Abs. 1<br />

GO NRW zu genügen, nach pflichtgemäßer Prüfung insbesondere wahrheitsgemäß<br />

und - soweit geboten - vollständig tun. Zudem darf er die<br />

Gemeindeorgane durch seine Äußerungen nicht diffamieren.<br />

Mit seiner Unterstellung, der Rat werde sich nicht an Recht und Gesetz halten,<br />

hat K den Rat diffamiert und damit die Grenzen seines Äußerungsrechts<br />

überschritten. Folglich liegt ein Treuepflichtverstoß vor, sodass die<br />

Feststellungsklage insoweit unbegründet ist.<br />

II. Beschluss des Rates<br />

Die Feststellungsklage bzgl. des Ratsbeschlusses ist begründet, soweit das<br />

umstrittene Rechtsverhältnis nicht besteht. Das ist der Fall, wenn der Rat<br />

nicht berechtigt war, das Verhalten des K zu missbilligen, zu rügen und sich<br />

§ 32 I 1 GO NRW:<br />

„(1) Inhaber eines Ehrenamts<br />

haben eine besondere Treuepflicht<br />

gegenüber der Gemeinde. […]“<br />

§ 43 II GO NRW:<br />

„(2) Für die Tätigkeit als Ratsmitglied,<br />

[…] gelten die Vorschriften der §§ 30<br />

bis 32 […] entsprechend: […]“<br />

Grundsatz der Organtreue = Rücksichtnahme<br />

auf die anderen<br />

Gemeindeorgane bzw. Organteile<br />

Nochmals Betonung der Geltung<br />

und Ausstrahlungswirkung des<br />

Art. 5 I 1 GG.<br />

Grundsätzliches Recht eines<br />

Ratsmitglieds zu öffentlichen,<br />

auch kritischen Äußerungen zur<br />

Gemeindepolitik.<br />

Grenzen: Äußerung muss wahrheitsgemäß,<br />

vollständig und nicht diffamierend<br />

sein.<br />

In der Originalentscheidung war es<br />

etwas schwieriger, den Verstoß festzustellen.<br />

Das OVG musste dafür die<br />

Äußerung des K gegenüber Herrn X<br />

ganz genau unter die Lupe nehmen.<br />

Obersatz neg. Feststellungsklage


36 Öffentliches Recht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Keine ausdrückliche EGL vorhanden<br />

Ist eine EGL überhaupt erforderlich?<br />

Nein, wenn es nur um die bloße Feststellung<br />

eines Pflichtverstoßes geht.<br />

Ja bei Sanktionen. Dazu gehören<br />

auch Missbilligungen und Rügen.<br />

Erst recht EGL erforderlich bei Ratsausschluss.<br />

Anders – soweit ersichtlich – nur § 31<br />

GemO Rh.-Pfalz. Siehe dazu BVerwG,<br />

Urteil vom 21.1.2<strong>01</strong>5, 10 C 11.14,<br />

<strong>RA</strong> 2<strong>01</strong>5, 261 (Heft 5).<br />

einen Ausschluss des K aus dem Rat vorzubehalten. Eine ausdrückliche<br />

Ermächtigungsgrundlage für den Beschluss existiert in der GO NRW nicht.<br />

„[82] Das den Gemeinden und insoweit prinzipiell dem Rat zustehende<br />

Recht, sich mit allen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu<br />

befassen, schließt auch das Recht ein, sich zu etwaigen statusbezogenen<br />

kommunalrechtlichen Pflichtverstößen von Ratsmitgliedern<br />

zu äußern. Dafür bedarf es keiner besonderen gesetzlichen<br />

Ermächtigungsgrundlage, solange der Rat sich mit diesbezüglichen<br />

Äußerungen unterhalb der Schwelle einer Sanktion bewegt.<br />

[84] Damit sind bloße Feststellungen kommunalrechtlicher Pflichtverstöße<br />

durch Ratsmitglieder durch den Rat […] gedeckt. Diese Feststellungen<br />

haben noch keinen Sanktionscharakter. Vielmehr spricht der Rat durch<br />

sie lediglich aus, ob seiner Auffassung nach ein bestimmtes Verhalten eines<br />

Ratsmitglieds mit der Rechtslage im Einklang steht oder nicht.<br />

[85] Anders verhält es sich, sobald der Rat über die materielle Rechtslage<br />

wiedergebende Feststellungen von Rechtsverstößen hinausgeht und<br />

zu disziplinarischen oder diesen vergleichbaren Maßnahmen greift.<br />

Als solche sind […] auch Missbilligungen und Rügen des Verhaltens<br />

von Ratsmitgliedern außerhalb von Ratssitzungen anzusehen.<br />

Diese Maßnahmen gehen über das allgemeine Befassungs- und<br />

Äußerungsrecht der Gemeinde hinaus. Hierfür fordert der verfassungsrechtliche<br />

Wesentlichkeitsgrundsatz eine eigenständige gesetzliche<br />

Ermächtigungsgrundlage.“<br />

Erst recht gilt dies für den vorbehaltenen Ratsausschluss des K, der<br />

einen noch intensiveren Eingriff in seine Mitgliedschaftsrechte darstellt.<br />

Die GO NRW räumt dem Rat lediglich die Befugnis ein, ein Ratsmitglied<br />

z.B. wegen Befangenheit von einzelnen Mitwirkungshandlungen auszuschließen,<br />

gestattet jedoch keinen generellen Ratsausschluss. Somit ist die<br />

Feststellungsklage bzgl. des Ratsbeschlusses in vollem Umfang begründet.<br />

Insgesamt ist die Feststellungsklage zulässig und teilweise begründet, hat also<br />

teilweise Erfolg.<br />

Vgl. zum Streitstand: Wolff/Decker,<br />

VwGO, Anhang zu § 43 Rn 49;<br />

Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157,<br />

159 f.<br />

Das Problem ist bundeslandunabhängig,<br />

sodass die Entscheidung des<br />

OVG für alle Bundesländer Examensrelevanz<br />

besitzt.<br />

FAZIT<br />

Es ist äußerst strittig, ob Grundrechte im Rahmen eines Kommunalverfassungsstreits<br />

gerügt werden können, treten die Beteiligten dort doch<br />

gerade nicht als natürliche Personen, sondern in ihrer hoheitlichen Funktion auf;<br />

evtl. können daher bei einem solchen Streit nur Organrechte geltend gemacht<br />

werden, wie dies ja auch bei dem parallel gelagerten Organstreitverfahren nach<br />

Art. 93 I Nr. 1 GG der Fall ist. Das OVG spricht dieses Problem an, ohne ihm jedoch<br />

ganz auf den Grund zu gehen und nimmt die Grundrechtsgeltung auch nur fallbezogen<br />

für ein Verhalten außerhalb von Ratssitzungen an. Das ändert jedoch<br />

nichts an der Examensrelevanz seiner Entscheidung.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

37<br />

Speziell für Referendare<br />

Problem: Polizeimaßnahmen gegen gewaltbereiten<br />

Fußballfan<br />

Einordnung: Polizeirecht<br />

VG Freiburg, Urteil vom 25.09.2<strong>01</strong>5<br />

4 K 35/15<br />

EINLEITUNG<br />

Das VG Freiburg hatte sich im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit diverser Aufenthalts- und<br />

Betretungsverbote sowie Meldeauflagen zu befassen, die gegenüber einem<br />

Fußballfan angeordnet wurden. Hierbei hat es sich insbesondere eingehend<br />

mit der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage beschäftigt, insbesondere<br />

dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse.<br />

SACHVERHALT<br />

Mit Bescheid vom 30.7.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte unter Anordnung des<br />

Sofortvollzugs gegenüber dem Kläger ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot;<br />

dieses Verbot galt für im Einzelnen aufgeführte Spieltage einer Mannschaft<br />

des SC F für Termine zwischen dem 2.8.2<strong>01</strong>4 und dem 20.9.2<strong>01</strong>4 jeweils für den<br />

Zeitraum 10.00 Uhr bis 22.00 Uhr für im Bescheid näher konkretisierte Bereiche<br />

im Umfeld des X-Stadions, des Y-Stadions, der Z-Straße sowie von Teilen der<br />

Innenstadt und des Stadtteils A (Nr. I.1). Sie gab dem Kläger zudem auf, sich<br />

an bestimmten Spieltagen des SC F zu bestimmten Zeiten beim Polizeirevier<br />

F-Süd zu melden (Nr. I.2). Ferner wurde für den Bescheid eine Gebühr i.H.v.<br />

150,-- € festgesetzt.<br />

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 8.8.2<strong>01</strong>4 Widerspruch ein. Die<br />

Maßnahmen seien unverhältnismäßig. Er wohne in der B-Straße, die in einem der<br />

genannten abgegrenzten Gebiete liege, so dass er für die genannten Tage nicht<br />

wisse, wie er nach Hause gelangen solle. Ob das Ermittlungsverfahren wegen<br />

einer Drittortauseinandersetzung vom 13.10.2<strong>01</strong>2 die Annahme rechtfertige,<br />

dass er auch im Zusammenhang mit den angeführten Spielen eine Gefahr für<br />

Leib und Leben anderer und für Sachwerte darstelle, erscheine fragwürdig.<br />

Mit Bescheid vom 19.8.2<strong>01</strong>4 ersetzte die Beklagte ihren Bescheid vom<br />

30.7.2<strong>01</strong>4 mit Ausnahme der Gebührenfestsetzung. In dem Bescheid vom<br />

30.7.2<strong>01</strong>4 seien, so die Beklagte, irrtümlich einzelne Spieltage falsch benannt<br />

worden. Des Weiteren wurde die Wohnung des Klägers in der B-Straße vom<br />

Aufenthaltsverbot ausgenommen. Zur Begründung führte sie aus, nach<br />

Angaben der Polizeipräsidiums F sei der Kläger dem gewaltbereiten Spektrum<br />

der Fußballszene zuzuordnen. Nachweislich habe sich der Kläger 2<strong>01</strong>2/13 mit<br />

einer Gruppierung aus F an Drittortauseinandersetzungen beteiligt und tue<br />

dies mutmaßlich nach wie vor. Um weitere Straftaten des Klägers im Umfeld<br />

des SC F-Stadions, der Innenstadt und Teilen des Stadtteils A zu verhindern,<br />

werde dem Kläger das Betreten und der Aufenthalt in dem unter Ziff. I.1. näher<br />

definierten Bereich zu den dort genannten Zeiten untersagt. Dieser Bereich<br />

beschränke sich auf das Gebiet des üblichen Aufenthalts von Gästefans sowie<br />

auf die erfahrungsgemäß genutzten Hal<strong>test</strong>ellen des öffentlichen Personenverkehrs<br />

durch diese. Der zeitliche Geltungsbereich dieser Verfügung sei<br />

aufgrund der üblichen Aufenthaltszeiten von Gästefans bei Spielen des SC F<br />

festgelegt. Der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 30.7.2<strong>01</strong>4<br />

wurde durch die Beklagte auf diesen Bescheid erstreckt.<br />

LEITSÄTZE (GEKÜRZT)<br />

Mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG besteht<br />

ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />

ungeachtet der Schwere des<br />

Grundrechtseingriffs bereits dann,<br />

wenn sich ein Verwaltungsakt typischerweise<br />

so kurzfristig erledigt,<br />

dass er ohne Annahme eines<br />

Fortsetzungsfeststellungsinteresses<br />

regelmäßig keiner Überprüfung in<br />

einem gerichtlichen Hauptverfahren<br />

zugeführt werden könnte.<br />

Allein der Umstand, dass der<br />

Betroffene sich mehrfach an sog.<br />

Drittortauseinandersetzungen beteiligt<br />

hat und deshalb in der Datei<br />

Gewalttäter Sport eingetragen ist,<br />

rechtfertigt die Verhängung eines<br />

für das Umfeld des Stadions bzw. der<br />

Innenstadt geltenden Betretungsund<br />

Aufenthaltsverbots nicht.<br />

Wiedergabe des Verwaltungsverfahrens:<br />

Indikativ Imperfekt.<br />

1. Bescheid<br />

Die einzelnen Anordnungen des<br />

Bescheids sind genau wiederzugeben,<br />

da diese das Prüfprogramm für<br />

die Entscheidungsgründe vorgeben.<br />

Anders als andere Bundesländer<br />

hat Baden-Württemberg das Widerspruchsverfahren<br />

nicht weitgehend<br />

abgeschafft. Nur in den – hier<br />

nicht einschlägigen – Fällen des<br />

§ 15 AGVwGO BW bedarf es keiner<br />

Durchführung eines Vorverfahrens.<br />

2. Bescheid<br />

Erlässt die Behörde – wie hier –<br />

mehrere Bescheide, die sogar z.T.<br />

alte Regelungen abändern, ist auf<br />

die genaue Wiedergabe des Inhalts<br />

der Bescheide zu achten. Es muss<br />

klar sein, welche Anordnungen noch<br />

„in der Welt“ sind.<br />

Begründung


38 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

3. Bescheid<br />

4. Bescheid<br />

Widerspruchsbescheid<br />

Klageerhebung: Indikativ Perfekt<br />

Klägervorbingen: Konjunktiv Präsens<br />

Anträge: Indikativ Präsens<br />

Anfechtungsantrag und Fortsetzungsfeststellungsantrag<br />

Mit Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte unter Anordnung des<br />

Sofortvollzugs gegenüber dem Kläger ein weiteres Betretungs- und Aufenthaltsverbot;<br />

dieses Verbot galt für im Einzelnen aufgeführte Spieltage der<br />

Bundes- und Regionalligamannschaft des SC F für Termine zwischen dem<br />

27.9.2<strong>01</strong>4 und dem 21.12.2<strong>01</strong>4 jeweils für den Zeitraum 10.00 Uhr bis 22.00 Uhr<br />

für im Bescheid näher konkretisierte Bereiche im Umfeld des X-Stadions, des<br />

Y-Stadions, der Z-Straße sowie von Teilen der Innenstadt und des Stadtteils A<br />

ausgenommen die Wohnung des Klägers (Nr. I.1). Sie gab dem Kläger zudem<br />

auf, sich an bestimmten Spieltagen des SC F zu bestimmten Zeiten beim Polizeirevier<br />

F-Süd zu melden (Nr. I.2). Ferner wurde für den Bescheid eine Gebühr<br />

i.H.v. 150,-- € festgesetzt. Die Beklagte begründete den Bescheid mit ähnlichen<br />

Erwägungen wie bereits die unter dem 19.8.2<strong>01</strong>4 erlassene Verfügung.<br />

Unter dem 6.10.2<strong>01</strong>4 erließ die Beklagte einen mit „Ergänzungsverfügung“<br />

überschriebenen weiteren Bescheid, durch den der Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4<br />

hinsichtlich der am 19.9.2<strong>01</strong>4 noch nicht bekannten konkreten Zeitpunkte<br />

dreier Fußballbegegnungen konkretisiert wurde. Der Erlass dieses Bescheides<br />

war bereits im Bescheid vom 19.9.2<strong>01</strong>4 angekündigt worden. Mit Schreiben<br />

vom 3.11.2<strong>01</strong>4 wies das Regierungspräsidium F den Kläger darauf hin, dass<br />

sich der Widerspruch vom 8.8.2<strong>01</strong>4 durch Zeitablauf erledigt habe.<br />

Mit Widerspruchsbescheid vom 8.12.2<strong>01</strong>4, zugestellt am 12.12.2<strong>01</strong>4, wies<br />

das Regierungspräsidium F den Widerspruch gegen die Bescheide der Stadt F<br />

vom 19.9.2<strong>01</strong>4 und 6.10.2<strong>01</strong>4 zurück.<br />

Der Kläger hat am 10.1.2<strong>01</strong>5 Klage erhoben.<br />

Zur Begründung führt er aus, die Ersetzung der fehlerhaften Verfügung vom<br />

30.7.2<strong>01</strong>4 durch Verfügung vom 19.8.2<strong>01</strong>4 sei eine (Teil-)Rücknahme der ersten<br />

Verfügung. Die Stadt F beschuldige ihn körperlicher Auseinandersetzungen<br />

bei Heim- und Auswärtsspielen. Im Schlussbericht seien als „Erkenntnisse zur<br />

Person des Beschuldigten“ lediglich ausgeführt, dass er als eine der Gewalt<br />

nicht abgeneigte Person eingestuft werde, die sich in den Jahren 2<strong>01</strong>2/13<br />

mit einer F-Gruppierung nachweislich an zwei Drittortauseinandersetzungen<br />

beteiligt und seine Beteiligung an einer dritten Drittortauseinandersetzung<br />

angekündigt habe. Die beschriebenen Gefahren gingen von ihm nicht aus.<br />

Der Kläger beantragt,<br />

die Gebührenfestsetzungen in den Bescheiden der Beklagten vom 30.7.2<strong>01</strong>4<br />

und vom 19.9.2<strong>01</strong>4 aufzuheben sowie festzustellen, dass das mit Bescheiden<br />

vom 19.8.2<strong>01</strong>4 und vom 19.9.2<strong>01</strong>4 angeordnete Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />

und die Meldeauflagen einschließlich deren Konkretisierung durch den<br />

Bescheid der Beklagten vom 6.10.2<strong>01</strong>4 rechtswidrig waren.<br />

Die Beklagte beantragt,<br />

die Klage abzuweisen.<br />

Beklagtenvorbringen:<br />

Präsens<br />

Konjunktiv<br />

Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und trägt<br />

ergänzend vor, die Klage sei bereits unzulässig. Denn es bestehe kein für<br />

die Erhebung einer Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliches Feststellungsinteresse.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

39<br />

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE<br />

„Die im Wege objektiver Klagehäufung (§ 44 VwGO) erhobenen Klagen<br />

sind zulässig. Soweit sich der Kläger gegen die Gebührenfestsetzungen<br />

in den Bescheiden vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 wendet, sind die<br />

Klagen als Anfechtungsklagen zulässig. Im Hinblick auf den Bescheid vom<br />

30.07.2<strong>01</strong>4 hat das Regierungspräsidium F das vom Kläger durch Widerspruch<br />

vom 08.08.2<strong>01</strong>4 eingeleitete Widerspruchsverfahren mit Schreiben vom<br />

03.11.2<strong>01</strong>4 formlos eingestellt. Die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage<br />

gegen die Gebührenfestsetzung ist als Untätigkeitsklage gemäß §§ 40,<br />

42, 75 VwGO zulässig. Auch die Klage gegen die Gebührenfestsetzung<br />

im Bescheid der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ist gemäß §§ 40, 42, 75 VwGO<br />

zulässig, nachdem die Stadt, die insoweit selbst Widerspruchsbehörde<br />

gewesen wäre, keinen Widerspruchsbescheid erlassen hat.<br />

Der Antrag des Klägers, festzustellen, dass das mit Bescheiden vom 19.08.2<strong>01</strong>4<br />

und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 angeordnete Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />

und die Meldeauflagen einschließlich deren Konkretisierung durch<br />

den Bescheid der Beklagten vom 06.10.2<strong>01</strong>4 rechtswidrig waren, ist als<br />

Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Die hier streitgegenständlichen<br />

Regelungen […] haben sich […] zwischenzeitlich durch Zeitablauf<br />

erledigt, § 43 Abs. 2 LVwVfG. […] Erledigt sich der Verwaltungsakt - wie<br />

hier der Verwaltungsakt vom 19.08.2<strong>01</strong>4 - bereits vor Klageerhebung, findet<br />

[…] § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO entsprechende Anwendung.<br />

Der Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklagen steht nicht der<br />

Ablauf von Rechtsmittelfristen entgegen. Gegen den Bescheid der<br />

Beklagten vom 19.08.2<strong>01</strong>4 hat er zwar keinen Widerspruch eingelegt, mutmaßlich<br />

aufgrund der Anmerkung der Beklagten in diesem Bescheid, der<br />

Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4 werde „auch<br />

auf diese Verfügung angewendet“. Daran, ob eine derartige Erstreckung<br />

rechtlich möglich ist, hat die Kammer Zweifel. Denn zum einen ist<br />

ein Widerspruch vor Ergehen des betreffenden Verwaltungsaktes<br />

nicht zulässig und verwandelt sich auch nicht nachträglich in einen<br />

zulässigen Widerspruch, und zum anderen unterliegt es allein der<br />

Dispositionsbefugnis des Bürgers, ob er gegen einen (erneuten)<br />

Bescheid Widerspruch einlegen will oder nicht; […]<br />

Ob der Kläger rechtswirksam Widerspruch eingelegt hat, Erledigung durch<br />

Zeitablauf somit während des bereits laufenden Widerspruchsverfahren<br />

eingetreten ist, oder ob es an einem rechtswirksamen Widerspruch<br />

fehlt, und wenn ja, ob dieser entbehrlich gewesen ist, kann jedoch<br />

letztlich dahinstehen. Denn Erledigung des am 19.08.2<strong>01</strong>4 erlassenen<br />

Verwaltungsaktes ist am Samstag, dem 20.09.2<strong>01</strong>4 und damit während<br />

der gemäß § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 2 VwGO bis zum Montag, dem<br />

22.09.2<strong>01</strong>4, laufenden Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO eingetreten.<br />

In allen genannten Konstellationen bedürfte es jedenfalls<br />

nach dem 20.09.2<strong>01</strong>4 der Einleitung bzw. (weiteren) Durchführung<br />

eines Widerspruchsverfahrens nicht mehr, da dieses seine Aufgabe<br />

(Selbstkontrolle der Verwaltung, Zweckmäßigkeitsprüfung) nicht<br />

mehr erfüllen könnte. Stattdessen stand mit Ablauf des 20.09.2<strong>01</strong>4 dem<br />

Kläger die […] Fortsetzungsfeststellungsklage offen.<br />

Beachte die Einbindung des § 44<br />

VwGO in den Obersatz.<br />

In der Klausur sollte allerdings<br />

zunächst ein umfassender Ergebnissatz<br />

vorangestellt werden, z.B.: „Die<br />

Klage hat vollumfänglich Erfolg.“<br />

Zulässigkeit:<br />

1. Anfechtungsklage, z.T. in Form<br />

einer Untätigkeitsklage.<br />

2. FFK<br />

In der Klausur müssen im Rahmen<br />

der Zulässigkeit zumindest kurze<br />

Ausführungen zur Erledigung, zum<br />

Feststellungsinteresse und ggf. zur<br />

analogen Anwendung des § 113 I 4<br />

VwGO erfolgen.<br />

Kann ein bereits eingelegter Widerspruch<br />

auf eine später erlassene<br />

Verfügung erstreckt werden? Vgl.<br />

Kopp/Schenke, VwGO, § 68 Rn 2


40 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

H.M.: Keine Klagefrist, wenn Erledigung<br />

innerhalb der Widerspruchsfrist<br />

eintritt.<br />

FF-Interesse<br />

Vgl. BVerfG, Beschluss vom<br />

30.4.1997, 2 BvR 817/90, juris;<br />

BVerfG, Beschluss vom 5.7.2<strong>01</strong>3, 2<br />

BvR 370/13, juris; VGH Mannheim,<br />

Urteil vom 20.5.2<strong>01</strong>5, 6 S 494/15,<br />

juris; VGH München, Urteil vom<br />

4.2.2<strong>01</strong>4, 10 B 10.2913, juris<br />

Eine Kernaussage der Entscheidung:<br />

FF-Interesse verlangt keinen tiefgreifenden<br />

GR-Eingriff.<br />

BVerwG, Urteil vom <strong>16</strong>.5.2<strong>01</strong>3,<br />

8 C 20/12, juris;<br />

Urteil vom <strong>16</strong>.5.2<strong>01</strong>3, 8 C 38/12, juris;<br />

Urteil vom 20.6.2<strong>01</strong>3, 8 C 39/12, juris<br />

Diese ist nicht an die Klagefristen der §§ 74 Abs. 1, 58 Abs. 2 VwGO<br />

gebunden und in zeitlicher Hinsicht nur durch eine Verwirkung<br />

begrenzt. Für eine Verwirkung aber ist […] nichts ersichtlich. Im Hinblick<br />

auf die Bescheide der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 und 06.10.2<strong>01</strong>4 wurde der<br />

fristgerecht eingelegte Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid<br />

vom 08.12.2<strong>01</strong>4, zugestellt am 12.12.2<strong>01</strong>4, zurückgewiesen. Erledigung trat<br />

am 22.12.2<strong>01</strong>4, 22:00 Uhr ein, somit während der einmonatigen Klagefrist<br />

des § 74 Abs. 1 VwGO. Da die Klage am 10.<strong>01</strong>.2<strong>01</strong>5 und damit binnen<br />

Monatsfrist erhoben wurde, bestehen auch insoweit keine Bedenken an<br />

der Zulässigkeit der Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage.<br />

Der Kläger kann ferner bezüglich aller mit der Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

angegriffenen Verwaltungsakte ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />

für sich reklamieren. […]<br />

Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich vorliegend aus<br />

dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, dass<br />

der Betroffene die Möglichkeit erhält, die Rechtmäßigkeit ihn belastender<br />

Eingriffsmaßnahmen nicht nur im Eil-, sondern auch und gerade in einem<br />

gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen zu lassen. Handelt es sich<br />

daher um Maßnahmen, die sich typischerweise - d.h. entsprechend der<br />

Eigenart des Verwaltungsakts - so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die<br />

Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner<br />

Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt<br />

werden könnten, eröffnet Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit einer Klärung<br />

der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts im Wege nachträglicher<br />

Feststellung. Das polizeirechtliche, auf § 27a Abs. 2 PolG BW gestützte<br />

Betretungs- und Aufenthaltsverbot gehört zu den sich typischerweise vor<br />

der Möglichkeit der Erlangung verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes<br />

im Hauptsacheverfahren erledigenden Maßnahmen; […] Art. 19 Abs. 4 GG<br />

wurde bei der Frage, inwieweit ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse vorliegt,<br />

in der Vergangenheit häufig im Zusammenhang mit tiefgreifenden<br />

Grundrechtseingriffen, insbesondere solcher, die das Grundgesetz selbst<br />

unter Richtervorbehalt gestellt hat, fruchtbar gemacht […]. Insoweit kann<br />

aber dahinstehen, inwieweit ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot den<br />

grundrechtsrelevanten Bereich der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2<br />

Satz 2 GG bzw. das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG berührt und<br />

deshalb bereits einen hinreichend tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt.<br />

Denn nach Auffassung der Kammer ist ein auf Art. 19 Abs. 4 GG<br />

gestütztes Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht auf Fälle tiefgreifender<br />

Grundrechtseingriffe beschränkt.<br />

Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Urteilen aus dem<br />

Jahr 2<strong>01</strong>3 festgestellt, die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach<br />

Art. 19 Abs. 4 GG differenziere nicht nach der Intensität des erledigten<br />

Eingriffs und dem Rang der betroffenen Rechte. „Sie gilt auch<br />

für einfach-rechtliche Rechtsverletzungen, die - von der allgemeinen<br />

Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen - kein Grundrecht<br />

tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte<br />

und Grundfreiheiten.“ […]


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

41<br />

Nimmt man die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts<br />

zu Art. 19 Abs. 4 GG ernst, so ist im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG ein<br />

Fortsetzungsfeststellungsinteresse in Fällen typischerweise kurzfristiger<br />

Erledigung eines Verwaltungsaktes zu bejahen, ohne dass<br />

es insoweit besonderer Anforderungen etwa an die Intensität des<br />

Grundrechtseingriffs bedürfte. […]<br />

Die Klagen sind ferner vollumfänglich begründet.<br />

Die Begründetheit der gegen die Gebührenfestsetzungen in den<br />

Bescheiden der Beklagten vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ergibt sich<br />

bereits daraus, dass eine Gebühr, die für eine rechtswidrige Amtshandlung<br />

erhoben wird, deren Schicksal teilt und selbst als rechtswidrig zu qualifizieren<br />

ist.<br />

Die in den Bescheiden vom 30.07.2<strong>01</strong>4 und vom 19.09.2<strong>01</strong>5 erlassenen<br />

Betretungs- und Aufenthaltsverbote sowie Meldeauflagen aber erweisen<br />

sich, wie sich aus den Ausführungen unter ... ergibt, als rechtswidrig. Auch<br />

die Gebührenfestsetzungen sind daher rechtswidrig und verletzen den<br />

Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).<br />

Auch die Fortsetzungsfeststellungsklagen sind begründet. Denn die<br />

Bescheide vom 30.07.2<strong>01</strong>4, 19.08.2<strong>01</strong>4 und 19.09.2<strong>01</strong>4 in Gestalt der<br />

Konkretisierung durch den Bescheid vom 06.10.2<strong>01</strong>4 waren rechtswidrig.<br />

Der Bescheid der Beklagten vom 30.07.2<strong>01</strong>4 ist bereits wegen eines<br />

Anhörungsmangels formal rechtswidrig gewesen. Nach § 28 Abs. 1<br />

LVwVfG ist einem Beteiligten vorbehaltlich der Ausnahmen in § 28 Abs. 2, 3<br />

LVwVfG Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen<br />

Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in<br />

seine Rechte eingreift. Eine Anhörung des Klägers durch die Beklagte vor<br />

Erlass des Bescheides vom 30.07.2<strong>01</strong>4 hat nicht stattgefunden.<br />

Dafür, dass Ausnahmegründe i.S.d. § 28 Abs. 2, 3 LVwVfG gegeben<br />

wären […] gibt es vorliegend keine hinreichenden Anhaltspunkte.<br />

Zwar erhielt die Beklagte erst durch Schreiben des Polizeipräsidiums F vom<br />

23.07.2<strong>01</strong>4 davon Kenntnis, dass es über den Kläger personenbezogene<br />

Kenntnisse gibt, wonach er sich an körperlichen Auseinandersetzungen<br />

außerhalb von Fußballbegegnungen beteilige und die Wahrscheinlichkeit<br />

für die zukünftige Straftatenbegehung als hoch zu bezeichnen sei, […].<br />

Dennoch blieb der Beklagten ungefähr eine Woche bis zum geplanten<br />

Erlass der beantragten Auflagen und Verbote vor der ersten anstehenden<br />

Begegnung. […] Dass durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung<br />

kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust eingetreten wäre, der im Sinne<br />

von § 28 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge gehabt<br />

hätte, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät<br />

gekommen wäre, um ihren Zweck zu erreichen, kann die Kammer […] nicht<br />

erkennen. […]<br />

Der Anhörungsmangel ist vorliegend auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3<br />

LVwVfG unbeachtlich. Nach dieser Vorschrift ist ein Verstoß gegen § 28<br />

LVwVfG unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten<br />

bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen<br />

Verfahrens (Abs. 2) nachgeholt wird.<br />

So bereits VG Freiburg, Urteil vom<br />

23.2.2<strong>01</strong>2, 4 K 2649/10, juris; vgl.<br />

auch OVG Bautzen, Urteil vom<br />

27.1.2<strong>01</strong>5, 4 A 533/13, juris; ebenso<br />

Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rn 145,<br />

mwN.<br />

Begründetheit<br />

Anfechtungsklage<br />

Verweisungen „nach unten“ sollten<br />

vermieden werden, was sich hier<br />

jedoch aufgrund des Umstandes,<br />

dass das Gericht erst den<br />

Anfechtungsantrag (Klageantrag<br />

zu 1.) und anschließend den<br />

Feststellungsantrag (Klageantrag zu<br />

2.) geprüft hat, nicht vermeiden ließ.<br />

FFK<br />

Formelle Rechtswidrigkeit wegen<br />

Anhörungsmangel<br />

Das LVwVfG BW entspricht im<br />

Wesentlichen dem VwVfG des<br />

Bundes.<br />

Keine Ausnahme vom Anhörungserfordernis<br />

Keine Heilung des Anhörungsmangels


42 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

BVerwG, Urteil vom 24.6.2<strong>01</strong>0,<br />

3 C 14/09, juris; Kopp/Ramsauer,<br />

VwVfG, § 45 Rn 26, mwN.<br />

Nach Darlegung der allgemeinen<br />

Maßstäbe folgt die Subsumtion<br />

Keine Heilung der Anhörung nach<br />

Erledigung!<br />

Heilung mit Durchführung des Vorverfahrens?<br />

Nicht durch bloße Einlegung des<br />

Widerspruchs<br />

Erforderlich ist vielmehr inhaltliche<br />

Auseinandersetzung mit dem Vorbringen<br />

des Widerspruchsführers<br />

In einem Urteilsentwurf muss § 46<br />

VwVfG – anders als im Gutachten –<br />

direkt im Anschluss an die Prüfung<br />

des § 45 VwVfG angesprochen<br />

werden.<br />

Obwohl die Ausführungen zur materiellen<br />

Rechtswidrigkeit nicht mehr<br />

tragend sind, ist es nicht unüblich,<br />

dass die Gerichte ihre Entscheidungen<br />

auf „zwei Beine“ stellen.<br />

In der Klausur gilt es, Verweisungen<br />

nach unten zu vermeiden.<br />

Eine Heilung in diesem Sinne tritt allerdings nur dann ein, wenn die<br />

Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre<br />

Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt<br />

erreicht wird. Das setzt voraus, dass der Beteiligte - nachträglich - eine<br />

vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und die Behörde<br />

die vorgebrachten Argumente zum Anlass nimmt, die ohne vorherige<br />

Anhörung getroffene Entscheidung kritisch zu überdenken. […]<br />

Gemessen daran ist eine Heilung hier nicht erfolgt. Eine Heilung des<br />

Anhörungsfehlers wäre nur bis zum 17.08.2<strong>01</strong>4 möglich gewesen, da<br />

sich die Aufenthalts- und Betretungsverbote bzw. Meldeauflagen zu<br />

diesem Zeitpunkt durch Zeitablauf erledigten und eine Nachholung<br />

der Anhörung nach Erledigung eines Verwaltungsaktes nicht mehr<br />

in Betracht kommt. Bis zu diesem Zeitpunkt aber war eine Heilung nicht<br />

erfolgt.<br />

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine unterbliebene<br />

Anhörung regelmäßig auch dadurch geheilt werden kann, dass der<br />

Betroffene auf Grundlage der dem Verwaltungsakt beigefügten Begründung<br />

die Möglichkeit hat, im Rahmen der Widerspruchsbegründung zu den im<br />

Bescheid verwerteten Tatsachen Stellung zu nehmen und weitere ihm<br />

bedeutsam erscheinende Tatsachen vorzutragen. Vorliegend hat der Kläger<br />

am 08.08.2<strong>01</strong>4 Widerspruch eingelegt.<br />

Allerdings führt nicht bereits die Widerspruchseinlegung als solche<br />

zu einer Heilung des Verfahrensmangels der Anhörung. Eine Heilung<br />

tritt nämlich nicht bereits aufgrund schlichter isolierter Nachholung der<br />

fehlerhaften oder versäumten Verfahrenshandlung ein. […] Vielmehr<br />

bedarf es hierfür insbesondere im Falle einer zunächst unterbliebenen<br />

Anhörung im Anschluss an deren Nachholung einer nochmaligen<br />

neuen und unvoreingenommenen Überprüfung des ursprünglichen<br />

Verwaltungsaktes durch die Behörde anhand etwaigen Vorbringens<br />

des Betroffenen sowie aller seit dem Erlass des Verwaltungsaktes<br />

zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen der Rechts- oder<br />

Sachlage und des Weiteren einer daran anschließenden Entscheidung<br />

über die Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes. […] Vorliegend hat die<br />

Beklagte ihre Ausgangsentscheidung bis zum 19.08.2<strong>01</strong>4 nicht überprüft<br />

und lediglich unter dem 19.08.2<strong>01</strong>4 einen neuen, teilweise inhaltlich<br />

abweichenden Bescheid erlassen, der den Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4 für<br />

die Zukunft ersetzte. Nachdem folglich eine Heilung gemäß § 45 LVwVfG<br />

nicht stattgefunden hat und bei der im Ermessen der Behörde stehenden<br />

Verhängung von Aufenthalts- und Betretungsverboten auch kein Fall des<br />

§ 46 LVwVfG gegeben ist, war der Bescheid vom 30.07.2<strong>01</strong>4, soweit er<br />

die genannten Aufenthalts- und Betretungsverbote sowie Meldeauflagen<br />

betraf, rechtswidrig.<br />

Abgesehen davon ist der Bescheid auch deshalb rechtswidrig gewesen,<br />

weil die Voraussetzungen des § 27a Abs. 2 PolG nicht vorgelegen haben<br />

(vgl. dazu die Ausführungen unter ..., die auf diesen Bescheid uneingeschränkt<br />

übertragbar sind).<br />

Auch der Bescheid vom 19.08.2<strong>01</strong>4 ist bereits wegen eines Anhörungsmangels<br />

formal rechtswidrig gewesen. […]


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

43<br />

Auch der Bescheid vom 19.09.2<strong>01</strong>4, konkretisiert durch Bescheid vom<br />

06.10.2<strong>01</strong>4, ist im Ergebnis rechtswidrig gewesen. Zwar sind diese<br />

Bescheide formell rechtmäßig zustande gekommen. […] Das mit Bescheid<br />

vom 19.09.2<strong>01</strong>4 unter Nr. I.1. gegen den Kläger verhängte Aufenthalts- und<br />

Betretungsverbot betreffend näher bestimmte Bereiche Fs an einzelnen<br />

Tagen im Zeitraum vom 27.09.2<strong>01</strong>4 bis zum 21.12.2<strong>01</strong>4, konkretisiert durch<br />

Bescheid vom 06.10.2<strong>01</strong>4, erweist sich jedoch als materiell rechtswidrig.<br />

Das Aufenthalts- und Betretungsverbot ist auf § 27a Abs. 2 PolG gestützt.<br />

Nach § 27a Abs. 2 PolG kann die Polizei einer Person verbieten, einen<br />

bestimmten Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde<br />

oder ein Gemeindegebiet zu betreten oder sich dort aufzuhalten, wenn<br />

Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat<br />

begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird (Aufenthaltsverbot). Das<br />

Aufenthaltsverbot ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat<br />

erforderlichen Umfang zu beschränken und darf räumlich nicht den<br />

Zugang zur Wohnung der betroffenen Person umfassen (Satz 2). Es darf die<br />

Dauer von drei Monaten nicht überschreiten (Satz 3). Die Beklagte stützt<br />

die gegen den Kläger verhängten Aufenthalts- und Betretungsverbote auf<br />

Erkenntnisse der Polizei. Danach sei der Kläger dem erweiterten Umfeld der<br />

Fer Problemfanszene (Drittortszene) zuzurechnen, die sich aus Personen<br />

der „ABC“ und „DEF“ zusammensetze. Auch wenn der Kläger keiner der<br />

Gruppen zuzuordnen sei, beteilige er sich vorsätzlich und willentlich an<br />

geplanten Schlägereien. […] Der Umstand, dass der Kläger sich nachweislich<br />

in der Saison 2<strong>01</strong>2/13 an Drittortauseinandersetzungen beteiligt<br />

habe, zeige seinen Hang zur Gewalt und dazu, bei Fußballbegegnungen<br />

die Konfrontation zu gegnerischen Fans erneut bewusst zu suchen. […]<br />

Diese polizeiliche Auswertung der Sachlage und Gefahreneinschätzung, die<br />

in der mündlichen Verhandlung von Herrn K vom Polizeirevier F-Süd weiter<br />

erläutert wurde, rechtfertigt zur Überzeugung der Kammer ein Betretungsund<br />

Aufenthaltsverbot gegen den Kläger für Bereiche der Innenstadt bzw.<br />

um das Stadion herum nicht. Vielmehr fehlte es insoweit im Herbst 2<strong>01</strong>4<br />

an Tatsachen, die die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger gerade<br />

in den vom Aufenthaltsverbot betroffenen Bereichen - und nur hierauf<br />

kommt es an - eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen<br />

werde, so dass bereits der Tatbestand des § 27a Abs. 2 PolG nicht erfüllt<br />

gewesen ist.<br />

Zwar ist die Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Frage, wann<br />

gegen ein Mitglied einer gewaltbereiten Fangruppierung bzw. einer<br />

Hooliganggruppe ein Aufenthalts- und Betretungsverbot erlassen werden<br />

kann, weil Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person in dem<br />

vom Aufenthaltsverbot erfassten Bereich eine Straftat begehen oder zu ihrer<br />

Begehung beitragen wird, relativ großzügig. So wird zu Recht nicht verlangt,<br />

dass dem Betroffenen im Einzelnen eine konkrete Tatbegehung<br />

nachgewiesen werden kann; selbst der Nachweis der Zugehörigkeit<br />

zum Kernbereich der gewalttätigen Fan- bzw. Hooliganszene wird als<br />

nicht erforderlich erachtet. […]<br />

Materielle Rechtswidrigkeit<br />

1. Aufenthalts- und Betretungsverbot<br />

Inhalt des § 27a II PolG BW<br />

Tatbestandsvoraussetzung („dort<br />

eine Straftat begeht“) der Ermächtigungsgrundlage<br />

nicht erfüllt.<br />

VG Minden, Beschluss vom 2.10.2<strong>01</strong>4,<br />

11 L 763/14, juris;<br />

VG Arnsberg, Beschluss vom 1.7.2009,<br />

3 L 345/09, juris;<br />

VG Aachen, Beschluss vom 26.4.2<strong>01</strong>3,<br />

6 L 170/13, juris;<br />

VG Hannover, Beschluss vom 21.7.2<strong>01</strong>1,<br />

10 B 2096/11, juris


44 Referendarteil: Öffentliches Recht<br />

<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Bloße Vermutungen genügen nicht.<br />

Vielmehr aussagekräftige Hinweise<br />

erforderlich, dass gerade an dem<br />

Ort, für den das Aufenthaltsverbot<br />

gilt, Straftaten begangen werden<br />

sollen.<br />

2. Meldeauflage.<br />

Achtung: Sämtliche Regelungen<br />

aller Bescheide sind zu prüfen!<br />

Ermächtigungsgrundlage für Meldeauflage:<br />

Generalklausel<br />

BVerwG, Urteil vom 25.7.2007,<br />

6 C 39/06, juris; VGH Mannheim,<br />

Beschluss vom 15.6.2000,<br />

1 S 1271/00, juris<br />

Mangelhafte Gefahrenprognose<br />

Andererseits lassen sich Maßnahmen auf Grundlage des § 27a Abs. 2<br />

PolG nicht auf reine Vermutungen stützen; vielmehr müssen aussagekräftige,<br />

tatsächliche Hinweise dafür vorliegen, dass der Betreffende<br />

nicht nur allgemein, sondern gerade dort, wo das Aufenthaltsverbot<br />

gelten soll, eine Straftat verüben wird. An derartigen aussagekräftigen<br />

Hinweisen dafür, dass der Kläger zukünftig in den vom Aufenthalts- und<br />

Betretungsverbot erfassten Bereichen eine Straftat begehen oder zu ihrer<br />

Begehung beitragen würde, aber fehlt es nach Auffassung der Kammer. […]<br />

Auch die Meldeauflage in dem Bescheid der Beklagten vom 19.09.2<strong>01</strong>4 ist<br />

(Nr. I.2.) als rechtswidrig zu qualifizieren. Eine Meldeauflage zielt darauf, dass<br />

die betreffende Person sich bei einer bestimmten polizeilichen Dienststelle<br />

zu einem bestimmten Zeitpunkt „melden“ muss. Im Gegensatz zu einem<br />

Aufenthalts- und Betretungsverbot regelt sie unmittelbar nicht das<br />

„Wegbleiben“ vom einem bestimmten Ort, sondern das „Hinkommen“<br />

zu einer Polizeidienststelle.<br />

Mangels spezialgesetzlicher Grundlage lässt sich eine derartige Meldeauflage<br />

auf die polizeiliche Generalklausel (§§ 1, 3 PolG) stützen.<br />

Voraussetzung für den Erlass einer Meldeauflage ist danach das Vorliegen<br />

einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wobei<br />

eine objektive ex-ante-Sicht maßgeblich ist. Die Beklagte hat den Erlass<br />

der Meldeauflage damit begründet, dass der Kläger von einer Anreise zum<br />

Auswärtsspielort des SC F und dadurch von der Teilnahme an hooligantypischen<br />

Auseinandersetzungen bei Auswärtsspielen habe abgehalten<br />

werden sollen. Damit lässt sich jedoch der Erlass einer Meldeauflage nicht<br />

rechtfertigen. Ebenso wenig nämlich wie konkrete Anhaltspunkte<br />

dafür bestanden, der Kläger werde im Bereich des Stadions Straftaten<br />

begehen, bestand eine hinreichend konkrete Gefahr dafür, dass der<br />

Kläger bei Auswärtsspielen am Auswärtsspielort straffällig werden<br />

würde. […]“<br />

Z.B.: Bad.-Württ., Termin Dez. 2<strong>01</strong>4,<br />

2. Klausur; Hessen, Termin Sept.<br />

2<strong>01</strong>5, 2. Klausur; NRW, März 2<strong>01</strong>5,<br />

1. Klausur, Sept. 2<strong>01</strong>5, 2. Klausur,<br />

Okt. 2<strong>01</strong>5, 1. Klausur; Rh.-Pfalz,<br />

Termin Okt. 2<strong>01</strong>5, 1. Klausur<br />

FAZIT<br />

Klausuren des 2. Staatsexamens befassen sich in allen Bundesländern immer<br />

wieder mit Problemen aus dem Bereich des POR. Dabei geht es jedoch im<br />

Gegensatz zu den Klausuren des 1. Staatsexamens weniger um die „großen“<br />

juristischen Probleme wie z.B. die Verfassungsmäßigkeit des Merkmals der<br />

öffentlichen Ordnung, sondern um die genaue Betrachtung der Details des konkreten<br />

Falles. Dazu gehört insbesondere eine intensive Auseinandersetzung<br />

mit der behördlichen Gefahrenprognose, die immer wieder Schwerpunkt der<br />

Klausuren ist. Prozessual verknüpft ist das POR bei Hauptsacheentscheidungen<br />

regelmäßig mit der FFK in analoger Anwendung des § 113 I 4 VwGO. Genau<br />

diese Kombination weist das vorgestellte Urteil des VG Freiburg auf, das<br />

zudem den Leser dazu zwingt, seine Kenntnisse zu dem Klassiker „Heilung<br />

einer fehlenden Anhördung mit Durchführung des Vorverfahrens“ kritisch zu<br />

überprüfen.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Strafrecht<br />

45<br />

ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

Problem: Hypothetische Einwilligung<br />

Einordnung: Rechtfertigungsgründe<br />

AG Moers, Urteil vom 22.10.2<strong>01</strong>5<br />

6<strong>01</strong> Ds-103 Js 80/14-44/15<br />

EINLEITUNG<br />

Das AG Moers lehnt – in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Literatur – in<br />

der vorliegenden Entscheidung den vom BGH anerkannten Rechtfertigungsgrund<br />

der hypothetischen Einwilligung ab.<br />

SACHVERHALT<br />

Die Nebenklägerin N wurde aufgrund anhaltender Beschwerden von ihrem<br />

Frauenarzt zu einer ambulanten Operation in die Frauenklinik des A-Krankenhauses<br />

in B überwiesen. Am 14.11.2<strong>01</strong>3 fand dort die Voruntersuchung durch<br />

den Chefarzt Dr. U statt, welcher N in dem Zusammenhang über den geplanten<br />

ambulanten Eingriff - eine sogenannte Marsupialisation: die Eröffnung der<br />

Drüse mit anschließender Nahtversorgung zur Ermöglichung des Sekretabflusses<br />

- aufklärte. Nach der erfolgten Aufklärung unterzeichnete N die<br />

Einwilligungserklärung mit folgendem Wortlaut:<br />

„[...] Ich willige in den umseitig vermerkten Eingriff ein. Mit der Schmerzbetäubung,<br />

mit unvorhersehbaren, sich erst während des Eingriffs als medizinisch notwendig<br />

erweisenden Änderungen oder Erweiterungen sowie mit erforderlichen Nebenund<br />

Folgeeingriffen bin ich ebenfalls einverstanden. [...]“<br />

Die Operation sollte am Folgetag stattfinden. Operateur war der Angeklagte<br />

A, der zum damaligen Zeitpunkt leitender Oberarzt der Klinik war. Als N sich<br />

bereits in Narkose befand, wurde sie von A untersucht. Dieser konnte die noch<br />

am Vortag bei der Voruntersuchung im Bereich der linken Labie festgestellte<br />

Zyste nicht feststellen. Stattdessen ertastete er im Bereich der rechten großen<br />

Labie eine 2x2 cm große solide Resistenz, deren Entfernung und histologische<br />

Untersuchung er (zutreffend) für medizinisch indiziert hielt. A, der sich bewusst<br />

war, dass eine Absprache mit N betreffend die Entfernung des (rechtsseitigen)<br />

Befunds zur histologischen Abklärung nicht erfolgt und die Entnahme des<br />

Gewebes nicht eilbedürftig war, entschloss sich - das Einverständnis der Patientin<br />

voraussetzend - zur Vermeidung einer weiteren Operation gleichwohl<br />

zur sofortigen Entfernung der Resistenz.<br />

LEITSATZ (DES BEARBEITERS)<br />

Eine tatbestandliche Körperverletzung<br />

kann nicht über eine sog.<br />

hypothetische Einwilligung gerechtfertigt<br />

sein; diesem Rechtfertigungsgrund<br />

ist im Strafrecht die Anerkennung<br />

zu versagen.<br />

Hat A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I strafbar gemacht?<br />

[Anm.: Ein ggf. erforderlicher Strafantrag ist gestellt.]<br />

PRÜFUNGSSCHEMA: KÖRPERVERLETZUNG, § 223 StGB<br />

A. Tatbestand<br />

I. Körperliche Misshandlung/Gesundheitsschädigung<br />

II. Vorsatz<br />

B. Rechtswidrigkeit<br />

C. Schuld


46 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

LÖSUNG<br />

Durch die Operation könnte A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB<br />

zum Nachteil der N strafbar gemacht haben.<br />

I. Tatbestand<br />

BGH, Urteil vom 05.07.2007, 4 StR<br />

549/06, NStZ-RR 2007, 340, 341<br />

„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs […] stellt jeder<br />

ärztliche Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eine tatbestandsmäßige<br />

Körperverletzung dar. Vom Vorliegen des objektiven Tatbestandes<br />

sowie des erforderlichen Vorsatzes ist dementsprechend ohne<br />

weiteres auszugehen.“<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

A müsste auch rechtswidrig gehandelt haben.<br />

1. Rechtfertigende ausdrückliche Einwilligung der N<br />

A könnte durch eine ausdrückliche Einwilligung der N gerechtfertigt sein.<br />

Tatsächlich durchgeführte Operation<br />

ist nicht von der Einwilligungserklärung<br />

des Opfers gedeckt.<br />

„Eine ausdrückliche Einwilligung in den erfolgten Eingriff, welche die<br />

Rechtswidrigkeit entfallen ließe, ist nicht anzunehmen. Soweit die Verteidigung<br />

sich insoweit auf die von der Nebenklägerin unterzeichnete Einwilligungserklärung,<br />

namentlich auf den Passus mit ‚[...] sich erst während des<br />

Eingriffs als medizinisch notwendig erweisenden Änderungen oder Erweiterungen<br />

[...] bin ich ebenfalls einverstanden‘ berufen hat, ist nicht davon<br />

auszugehen, dass dieser den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt. Der tatsächlich<br />

vorgenommenen Operation lag […] ein gänzlich anderer Befund<br />

zugrunde, als der geplanten Maßnahme. Infolge dessen erforderte der Eingriff<br />

von Vornherein deutlich weiter gehende Maßnahmen als diejenigen,<br />

die im Rahmen des geplanten Eingriffs grundsätzlich vorgesehen waren:<br />

[Insbesondere] erforderte die vom Angeklagten zutreffend als indiziert<br />

beurteilte histologische Untersuchung der von ihm rechtsseitig ertasteten<br />

Resistenz in jedem Falle eine vollständige […] Entfernung des Gewebes<br />

(mit zwingend anschließendem stationärem Aufenthalt), wohingegen die<br />

geplante Behandlung des zystischen Befundes linksseitig grundsätzlich<br />

lediglich eine (ambulante) Eröffnung des Gewebes mit anschließender<br />

Nahtversorgung erfordert hätte. Angesichts dessen kann nicht angenommen<br />

werden, dass die von der Nebenklägerin abgegebene Einwilligungserklärung<br />

den tatsächlich erfolgten Eingriff abdeckt, zumal und<br />

maßgeblich weil die erfolgte Operation gerade an gänzlich anderer Stelle<br />

- wenn auch innerhalb desselben Organs - durchgeführt worden ist.“<br />

Die durchgeführte Operation ist also von der Einwilligungserklärung der N nicht<br />

gedeckt und A deshalb nicht durch eine ausdrückliche Einwilligung gerechtfertigt.<br />

2. Rechtfertigende mutmaßliche Einwilligung der N<br />

A könnte jedoch durch eine mutmaßliche Einwilligung der N gerechtfertigt<br />

sein.<br />

Mutmaßliche Einwilligung nur bei<br />

fehlender Möglichkeit der Einholung<br />

einer ausdrücklichen Einwilligung<br />

„Der Eingriff ist auch nicht im Wege der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt.<br />

Das Eingreifen der mutmaßlichen Einwilligung setzt voraus,<br />

dass eine Einwilligung des Patienten nicht eingeholt werden kann. Für<br />

den hier in Rede stehenden Fall, dass der Arzt intraoperativ vor der Frage<br />

steht, ob er eine mit Zustimmung des Patienten begonnene Operation


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Strafrecht<br />

47<br />

aufgrund von veränderten Umständen abbrechen oder fortsetzen soll,<br />

kommt nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die<br />

Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes<br />

des Patienten dann nicht in Betracht, wenn die Verzögerung<br />

des Eingriffs, die durch die Aufklärung und Einholung der Einwilligungserklärung<br />

entstünde, nicht mit akuter Lebensgefahr oder erheblichen Risiken<br />

für die Gesundheit des Patienten verbunden ist.<br />

Eine Operationserweiterung ohne Zustimmung des Patienten allein<br />

unter dem Gesichtspunkt, dass eine weitere Operation - sollte sie vom<br />

Patienten gewünscht werden - mit den (üblichen) körperlichen oder<br />

seelischen Belastungen verbunden wäre, ist dementsprechend in aller<br />

Regel unzulässig. Anderenfalls liefe das Selbstbestimmungsrecht des<br />

Patienten weitgehend leer. Nach diesen Maßgaben scheidet die Annahme<br />

einer mutmaßlichen Einwilligung im vorliegenden Fall aus. Denn der vom<br />

Angeklagten vorgenommene Eingriff war […] gerade nicht in dem Sinne<br />

eilbedürftig, dass eine Verzögerung weitere Risiken barg, als diejenigen, die<br />

mit einer Folgeoperation zwangsläufig verbunden sind.“<br />

BGH, Urteil vom 04.10.1999, 5 StR<br />

712/98, NJW 2000, 885<br />

A ist somit auch nicht durch mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt.<br />

3. Rechtfertigende hypothetische Einwilligung der N<br />

Denkbar wäre schließlich eine Rechtfertigung des A durch eine hypothetische<br />

Einwilligung der N.<br />

„Schließlich ist auch nicht von einer Rechtfertigung des Eingriffs unter dem<br />

Gesichtspunkt der hypothetischen Einwilligung auszugehen.<br />

Nach Auffassung des Gerichts ist der im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht<br />

entwickelten Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung für<br />

den Bereich des Strafrechts bereits die Anerkennung zu versagen.<br />

Dabei wird nicht verkannt, dass der 1. und 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs<br />

von einer Anwendbarkeit der Rechtsfigur auch bei der Beurteilung<br />

der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Arztes ausgehen. Dem<br />

ist jedoch aus triftigen Gründen nicht zu folgen.<br />

Die bei der hypothetischen Einwilligung aufgeworfene Frage, ob der<br />

Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den vorgenommenen<br />

ärztlichen Eingriff eingewilligt hätte, begegnet bereits methodischen<br />

Bedenken. Denn die Frage, wie sich ein Patient bei ordnungsgemäßer<br />

Aufklärung entschieden hätte, kann mangels Kenntnis entsprechender<br />

Naturgesetze prinzipiell kaum sinnvoll beantwortet werden, zumal<br />

unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nicht auf die Entscheidung<br />

eines vernünftigen Patienten, sondern auf diejenige des höchstpersönlich<br />

betroffenen Patienten abzustellen sein soll. Angesichts der<br />

hiermit verbundenen, kaum zu überwindenden praktischen Schwierigkeiten<br />

bei der Ermittlung des fiktiven Patientenwillens wäre aufgrund des<br />

im Strafrecht geltenden in-dubio-pro-reo-Grundsatzes ein angemessener<br />

Strafrechtsschutz des Patienten nicht mehr gewährleistet. […]<br />

Ferner spricht aus Sicht des Gerichts maßgeblich gegen die Anerkennung<br />

der hypothetischen Einwilligung, dass durch sie das - von den<br />

§§ 223 ff. StGB jedenfalls auch - geschützte Selbstbestimmungsrecht<br />

Hypothetische Einwilligung ist als<br />

Rechtfertigungsgrund abzulehnen.<br />

Zulässigkeit der hypothetischen Einwilligung:<br />

BGH, Urteil vom 05.07.2007,<br />

4 StR 549/06, NStZ-RR 2007, 340;<br />

Urteil vom 23.10.2007, 1 StR 238/07,<br />

NStZ 2008, 150; a.A.: Sowada, NStZ<br />

2<strong>01</strong>2, 1; Rönnau, JuS 2<strong>01</strong>4, 882<br />

Hypothetische Einwilligung führt<br />

zu unüberwindbaren praktischen<br />

Schwierigkeiten.<br />

Hypothetische Einwilligung würde<br />

das Selbstbestimmungsrecht des<br />

Patienten zu sehr aushöhlen.


48 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

des Patienten erheblich ausgehöhlt werden würde. Anders als die mutmaßliche<br />

Einwilligung, setzt die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung<br />

gerade nicht voraus, dass eine Einwilligung nicht bzw. nicht ohne<br />

erhebliche Risiken für Leib oder Leben des Patienten eingeholt werden<br />

kann. Überspitzt formuliert, könnte der Arzt seinem Patienten daher<br />

ohne jegliche Aufklärung jeden lege artis durchgeführten Eingriff im<br />

Vertrauen darauf aufzwingen, dass die medizinische Indikation und<br />

die sachkundige Ausübung des Eingriffs beim Richter zumindest hinreichende<br />

Zweifel auslösen werden, dass sich der Patient bei korrekter<br />

Information dem ärztlichen Votum angeschlossen hätte. Die Barriere,<br />

die der […] Subsidiaritätsgrundsatz im Fall der mutmaßlichen Einwilligung<br />

völlig zu Recht gegen ein Unterlaufen des Selbstbestimmungsrechts<br />

errichtet hat, würde damit gänzlich wieder eingerissen.<br />

Keine Vergleichbarkeit der hypothetischen<br />

Einwilligung mit anderen<br />

Rechtfertigungsgründen<br />

Keine Vergleichbarkeit der hypothetischen<br />

Einwilligung mit pflichtgemäßem<br />

Alternativverhalten<br />

Schließlich überzeugt die Annahme der hypothetischen Einwilligung als<br />

Rechtfertigungsgrund auch in dogmatischer Hinsicht nicht. Die Gründe,<br />

die das (vorläufige) Unwerturteil der Tatbestandsmäßigkeit in Rechtfertigungssituationen<br />

revidieren, liegen bei der hypothetischen Einwilligung<br />

gerade nicht vor: Weder stellt sich die hypothetische Einwilligung<br />

als Akt der Selbstbestimmung dar (als Surrogat der Einwilligung<br />

oder mutmaßlichen Einwilligung), noch war der ärztliche Heileingriff in<br />

Abwägung kollidierender Interessen zu diesem Zeitpunkt erforderlich<br />

(Erforderlichkeitsprinzip als Kennzeichen von Rechtfertigungsgründen).<br />

Dass die hypothetische Einwilligung als Rechtfertigungsgrund dementsprechend<br />

nicht taugt, wird letztlich auch daran deutlich, dass das<br />

in diesem Fall zwangsläufige Entfallen der Rechtswidrigkeit des Eingriffs<br />

konsequenter Weise zugleich zur Folge hätte, dass gegen einen<br />

auf Basis der hypothetischen Einwilligung handelnden Arzt keine Nothilfe<br />

geleistet werden dürfte. […]<br />

Soweit in der Literatur statt der Annahme eines Rechtfertigungsgrundes zur<br />

dogmatischen Begründung der hypothetischen Einwilligung der Gedanke<br />

des rechtmäßigen Alternativverhaltens aus dem Bereich der Zurechnungslehre<br />

fruchtbar gemacht wird, mit der Folge dass lediglich das Erfolgsunrecht<br />

ausgeschlossen sein soll, die Rechtswidrigkeit als solche hingegen<br />

unberührt bleibe, wird dieses untragbare Ergebnis zwar umgangen. Abgesehen<br />

davon, dass die übrigen bereits angeführten Einwände gegen die<br />

hypothetische Einwilligung durch diesen dogmatischen Kniff nicht ausgeräumt<br />

werden, vermag diese Anlehnung an die Zurechnungslehre aber<br />

auch sonst nicht zu überzeugen. Der Gedanke des rechtmäßigen Alternativverhaltens<br />

lässt sich nicht ohne Brüche von der Tatbestandsebene<br />

des Fahrlässigkeitsdelikts auf die Rechtfertigungsebene übertragen.<br />

[…] Im Falle des Fahrlässigkeitsdelikts entfällt die Zurechnung des<br />

tatbestandlichen Erfolgs unter dem Gesichtspunkt des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs<br />

dann, wenn es dem Täter auch im Falle rechtmäßigen<br />

Alternativverhaltens faktisch nicht möglich gewesen wäre, den<br />

Eintritt des Erfolges zu vermeiden. Der Arzt kann indessen in der Situation<br />

der hypothetischen Einwilligung den (Unrechts-)Erfolg faktisch immer<br />

vermeiden, indem er den Eingriff, von dem er weiß, dass er weder durch<br />

eine tatsächliche noch durch eine mutmaßliche Einwilligung gedeckt ist,<br />

schlichtweg unterlässt.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Strafrecht<br />

49<br />

Nach alledem ist die hypothetische Einwilligung nach hier vertretener<br />

Auffassung für den Bereich des Strafrechts abzulehnen. Selbst wenn man<br />

entgegen der hier vertretenen Ansicht der hypothetischen Einwilligung<br />

im Strafrecht die Anerkennung nicht versagen wollte, wäre im Übrigen im<br />

hier zu entscheidenden Fall eine Rechtfertigung (oder ein Ausschluss des<br />

Erfolgsunrechts) unter diesem Gesichtspunkt letztlich abzulehnen. Wie<br />

bereits angedeutet, setzt die Annahme einer hypothetischen Einwilligung<br />

voraus, dass davon auszugehen ist, dass der konkret betroffene Patient -<br />

hier die Nebenklägerin - auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den<br />

medizinisch indizierten und lege artis durchgeführten Eingriff eingewilligt<br />

hätte. Davon ist jedoch nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht<br />

auszugehen.“<br />

Selbst bei Anerkennung der hypothetischen<br />

Einwilligung lägen deren<br />

Voraussetzungen nicht vor.<br />

A ist auch nicht durch eine hypothetische Einwilligung gerechtfertigt und hat<br />

somit rechtswidrig gehandelt.<br />

III. Schuld<br />

Eine Strafbarkeit des A gem. § 223 I StGB könnte jedoch entfallen, wenn er sich<br />

irrig Umstände vorgestellt hätte, bei deren tatsächlichen Vorliegen er gerechtfertigt<br />

wäre (sog. Erlaubnistatbestandsirrtum).<br />

„[…] entfällt die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung auch<br />

nicht wegen Vorliegens eines Erlaubnistatbestandsirrtums. Ein solcher ist<br />

im vorliegenden Fall auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht<br />

gegeben. Wenn ein Arzt das fehlende Einverständnis des Patienten<br />

erkennt, einen körperlichen Eingriff aber gleichwohl für rechtlich<br />

zulässig hält, weil ihm dieser aus medizinischer Sicht sinnvoll und<br />

geboten erscheint, liegt kein Erlaubnistatbestands- sondern lediglich<br />

ein Verbotsirrtum (in Form des Erlaubnisirrtums) gemäß § 17 StGB vor.<br />

In diesem Fall missachtet er - wenn auch wohlmeinend - das dem Patienten<br />

grundsätzlich zustehende Selbstbestimmungsrecht und irrt damit lediglich<br />

über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes. Exakt so liegt der Fall hier.<br />

Der Angeklagte ging […] nicht vom Vorliegen einer tatsächlichen Einwilligung<br />

aus. Er nahm auch nicht irrtümlich Tatsachen an, bei deren Vorliegen<br />

eine mutmaßliche Einwilligung zu bejahen gewesen wäre. Vielmehr ging<br />

der Angeklagte nach seinen eigenen Angaben davon aus, dass der Eingriff<br />

aufgrund der medizinischen Indikation zur Vermeidung einer weiteren Operation<br />

und der hiermit verbundenen Narkose im Interesse der Nebenklägerin<br />

vorgenommen werden dürfe. Dieser Irrtum schließt auch die Schuld<br />

des Angeklagten nicht aus. Diese Wirkung kommt dem Verbotsirrtum nur<br />

dann zu, wenn er unvermeidbar war. Dies kann im Falle eines Irrtums vorstehend<br />

dargestellten Inhalts bei einem Arzt kaum je der Fall sein.“<br />

BGH, Urteil vom 04.10.1999, 5 StR<br />

712/98, NJW 2000, 885<br />

A hat also trotz seines Irrtums schuldhaft gehandelt.<br />

IV. Antrag<br />

Der gem. § 230 StGB erforderliche Strafantrag ist gestellt.<br />

V. Ergebnis<br />

A ist strafbar gem. § 223 I StGB.


50 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Problem: § 265a StGB durch Schwarzfahren<br />

Einordnung: Vermögensdelikte<br />

OLG Köln, Beschluss vom 02.09.2<strong>01</strong>5<br />

1 RVs 118/15<br />

EINLEITUNG<br />

Im vorliegenden Beschluss führt das OLG Köln – in Übereinstimmung mit der<br />

ständigen Rechtsprechung des BGH – aus, dass ein Erschleichen der Beförderung<br />

i.S.v. § 265a StGB voraussetzt, dass der Täter sich den „Anschein der Ordnungsgemäßheit“<br />

gibt. Diese Voraussetzung sei jedoch auch dann gegeben, wenn der<br />

Täter ein Schild bei sich trägt, auf dem ausdrücklich steht „Ich fahre schwarz“<br />

LEITSÄTZE (DES BEARBEITERS)<br />

1. Das Erschleichen einer Beförderungsleistung<br />

i.S.v. § 265a I StGB<br />

setzt voraus, dass der Täter ein Verkehrsmittel<br />

unberechtigt benutzt<br />

und sich dabei allgemein mit dem<br />

Anschein umgibt, er erfülle die<br />

nach den Geschäftsbedingungen<br />

des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen.<br />

2. Dieser „Anschein der Ordnungsgemäßheit“<br />

wird nicht dadurch ausgeschlossen,<br />

dass der Täter ein Schild<br />

bei sich führt, auf dem steht „Ich<br />

fahre schwarz“.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Angeklagte A bestieg am 11.11.2<strong>01</strong>1 in L den ICE Richtung G und suchte<br />

sich einen Sitzplatz, ohne über eine Fahrkarte zu verfügen; zuvor hatte er<br />

einen Zettel mit der Aufschrift „Ich fahre schwarz“ in seine umgeklappte Wollmütze<br />

gesteckt, ohne sich beim Einsteigen oder bei der Sitzplatzsuche einem<br />

Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG (DB) zu präsentieren. Erst bei einer routinemäßigen<br />

Fahrscheinkontrolle wurde der Zugbegleiter Z auf A und den von<br />

diesem getragenen Zettel aufmerksam.<br />

Strafbarkeit des A?<br />

PRÜFUNGSSCHEMA: ERSCHLEICHEN VON LEISTUNGEN,<br />

§ 265a I 3. Fall StGB<br />

A. Tatbestand<br />

I. Tathandlung: Erschlichen der Beförderung durch ein<br />

Transportmittel, § 265 I 3. Fall StGB<br />

II. Vorsatz<br />

III. Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten<br />

B. Rechtswidrigkeit<br />

C. Schuld<br />

LÖSUNG<br />

Da § 265a I StGB formell subsidiär<br />

zu Delikten ist, die eine höhere Strafandrohung<br />

haben, insb. § 263 I StGB,<br />

sollten diese vorab geprüft werden,<br />

sofern sie ernsthaft in Betracht<br />

kommen.<br />

A. Strafbarkeit gem. § 263 I StGB ggü. Z u.z.N.d. DB<br />

Durch das Fahren mit dem ICE könnte A sich wegen Betrugs gem. § 263 I StGB<br />

gegenüber Z und zum Nachteil der DB strafbar gemacht haben.<br />

Dann müsste A den Z über Tatsachen getäuscht haben. Zwar hatte A keine<br />

Fahrkarte. Dies stand jedoch auch deutlich sichtbar auf dem Zettel an seiner<br />

Mütze stand, sodass Z dies sofort sah und somit nicht darüber getäuscht<br />

wurde, dass A im Besitz einer Fahrkarte sei.<br />

Mangels Täuschung ist somit eine Strafbarkeit gem. § 263 I StGB nicht gegeben.<br />

B. Strafbarkeit gem. § 263 I StGB ggü. Z u.z.N.d. DB<br />

A hatte den Zettel bewusst an seine Mütze gesteckt, weil er auch gar nicht<br />

den Eindruck erwecken wollte, dass er im Besitz einer Fahrkarte sei. A hatte


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Strafrecht<br />

51<br />

also keinen Tatentschluss, den Z hierüber zu täuschen. Somit ist A auch nicht<br />

wegen versuchten Betrugs gegenüber Z und zum Nachteil der DB strafbar.<br />

C. Strafbarkeit gem. § 265a I 3. Fall StGB z.N.d. DB<br />

Durch die Fahrt mit dem ICE könnte A sich wegen Erschleichens von Leistungen<br />

gem. § 265a I 3. Fall StGB zum Nachteil der DB strafbar gemacht haben.<br />

I. Tatbestand<br />

1. Tathandlung: Erschleichen der Beförderung durch ein Transportmittel,<br />

§ 265a I 3. Fall StGB<br />

A müsste die Beförderung durch ein Transportmittel – hier den ICE –<br />

erschlichen haben.<br />

„[<strong>16</strong>] Nach der Rechtsprechung wird eine Beförderungsleistung bereits<br />

dann im Sinne des § 265a Abs. 1 StGB erschlichen, wenn der Täter ein<br />

Verkehrsmittel unberechtigt benutzt und sich dabei allgemein mit<br />

dem Anschein umgibt, er erfülle die nach den Geschäftsbedingungen<br />

des Betreibers erforderlichen Voraussetzungen. […]<br />

BGH, Beschluss vom 08.<strong>01</strong>.2009,<br />

4 StR 117/08, NJW 2009, 1091<br />

[17] Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der<br />

Angeklagte mit dem Einsteigen in den abfahrbereiten ICE und der anschließenden<br />

Sitzplatzsuche im Zug mit dem ‚Anschein der Ordnungsgemäßheit‘<br />

im Sinne der zitierten Rechtsprechungsgrundsätze umgeben hat. Der an<br />

seiner Mütze angebrachte Zettel mit der sicht- und lesbaren Aufschrift<br />

‚Ich fahre schwarz‘ war nicht geeignet, den durch das Einsteigen in<br />

den Zug gesetzten Anschein zu erschüttern. Insoweit wäre erforderlich<br />

gewesen, dass in offener und unmissverständlicher Weise nach<br />

außen zum Ausdruck gebracht wird, die Beförderungsbedingungen<br />

nicht erfüllen und den Fahrpreis nicht entrichten zu wollen. Dies war<br />

dem Gesamtverhalten des Angeklagten schon nicht zu entnehmen. Die<br />

Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Vorlageverfügung, die dem Verteidiger<br />

bekanntgemacht worden ist und auf die der Senat zur Begründung<br />

ergänzend Bezug nimmt, zutreffend darauf hingewiesen, dass sich der<br />

Angeklagte mit Ausnahme des an der Mütze zur Schau getragenen<br />

Zettels nach außen ordnungsgemäß verhielt, indem er im L‘er Hauptbahnhof<br />

ohne Erregung von Aufmerksamkeit den Zug bestieg wie<br />

alle anderen zahlenden oder zahlungswilligen Fahrgäste, durch die<br />

Wagen ging und einen Sitzplatz suchte, den er auch fand. Sein Verhalten<br />

erschien insbesondere auch deshalb zunächst regelkonform, weil die Beförderungsbedingungen<br />

im konkreten Fall ein Nachlösen der Fahrkarte im<br />

Zug ermöglichten. Die Zugbegleiter wurden auf die fehlende Bereitschaft<br />

des Angeklagten, das Beförderungsentgelt zu entrichten, erst bei der routinemäßigen<br />

Fahrscheinkontrolle während der Fahrt und damit nach Vollendung<br />

der Tat aufmerksam. Daraus lässt sich ohne weiteres schließen,<br />

dass es dem Angeklagten tatsächlich darum ging, die Beförderung nach<br />

Möglichkeit unentgeltlich zu erlangen, was indes nur gelingen konnte, weil<br />

sich der Angeklagte bis zu seiner Kontrolle durch die Zugbegleiter nicht<br />

hinreichend offenbart hatte. Der Senat schließt sich der auch insoweit<br />

zutreffenden Auffassung der Strafkammer an, nach der es nicht darauf<br />

ankommt, dass andere Fahrgäste vor dem Einsteigen oder während<br />

der Fahrt die Kundgabe mangelnder Zahlungsbereitschaft tatsächlich<br />

wahrgenommen haben. Abgesehen davon, dass sich der Fahrgast eines<br />

KG Berlin, Beschluss vom 02.03.2<strong>01</strong>1,<br />

(4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2<strong>01</strong>1,<br />

2600; OLG Naumburg, Beschluss<br />

vom 06.04.2009, 2 Ss 313/07


52 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

öffentlichen Verkehrsmittels nach der Lebenserfahrung regelmäßig nicht<br />

dafür interessiert, ob andere Fahrgäste die Beförderungsbedingungen<br />

erfüllen, sind Fahrgäste jedenfalls nicht befugt, den Fahrpreisanspruch der<br />

Deutschen Bahn AG durchzusetzen oder einen Fahrgast, der seine mangelnde<br />

Bereitschaft, das Beförderungsentgelt zu entrichten, zum Ausdruck<br />

bringt, am Betreten des Zuges oder an der Fortsetzung der Fahrt zu hindern.<br />

BGH, Beschluss vom 08.<strong>01</strong>.2009,<br />

4 StR 117/08, NJW 2009, 1091<br />

[18] Dieser Annahme steht die zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs<br />

vom 08.<strong>01</strong>.2009 […] nicht entgegen. Soweit nach dieser das Tatbestandsmerkmal<br />

der Leistungserschleichung kein täuschungsähnliches oder manipulatives<br />

Verhalten voraussetzt, durch das sich der Täter in den Genuss der<br />

Leistung bringt, sondern es ausreichen kann, dass sich der Täter allgemein<br />

mit dem Anschein der Ordnungsgemäßheit umgibt, folgt daraus […] nicht,<br />

dass es regelmäßig auf den entsprechenden ‚Anscheinsempfängerhorizont‘<br />

und die tatsächliche Wahrnehmung anderer Fahrgäste ankommt.“<br />

A hat also die Beförderung durch ein Transportmittel erschlichen.<br />

2. Vorsatz<br />

A handelte vorsätzlich.<br />

3. Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten<br />

A hat gezielt gehandelt, um den Fahrpreis nicht zahlen zu müssen. Er hatte<br />

also die Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten.<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

A handelte rechtswidrig.<br />

III. Schuld<br />

A müsste auch schuldhaft gehandelt haben. Im vorliegenden Fall ist es nahe<br />

liegend, dass A glaubte, sich aufgrund des Zettels nicht gem. § 265a StGB<br />

strafbar zu machen. Dieser Verbotsirrtum könnte die Schuld des A gem. § 17<br />

S. 1 StGB entfallen lassen.<br />

AG Eschwege, Urteil vom 12.11.2<strong>01</strong>3,<br />

71 Cs – 9621 Js 14035/13<br />

KG Berlin, Beschluss vom 02.03.2<strong>01</strong>1,<br />

(4) 1 Ss 32/11 (19/11), NJW 2<strong>01</strong>1,<br />

2600<br />

„[22] Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht ein schuldhaftes Verhalten des<br />

Angeklagten angenommen und das Vorliegen eines unvermeidbaren<br />

Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB verneint. Soweit die Revision die Unvermeidbarkeit<br />

eines Verbotsirrtums mit dem Hinweis auf das freisprechende<br />

Urteil des Amtsgerichts Eschwege vom 12.11.2<strong>01</strong>3 zu begründen sucht,<br />

hat sich bereits die Strafkammer mit diesem Einwand auseinandergesetzt<br />

und zutreffend darauf hingewiesen, dass dieses Urteil in anderer Sache<br />

erst nach der Tat ergangen ist und der Angeklagte sich auf einen darauf<br />

gegründeten Rechtsschein oder Vertrauenstatbestand deshalb auch nicht<br />

berufen kann. Demgegenüber war vor der Tat des Angeklagten bereits<br />

der Beschluss des Kammergerichts vom 02.03.2<strong>01</strong>1 ergangen, der die Verurteilung<br />

eines ‚bekennenden Schwarzfahrers‘, der gleichfalls ein Schild<br />

an seine Kleidung geheftet hatte, wegen Leistungserschleichung gemäß<br />

§ 265a StGB bestätigt hat.“<br />

A hat also schuldhaft gehandelt.<br />

IV. Ergebnis<br />

A ist strafbar gem. § 265a I 3. Fall StGB.


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Strafrecht<br />

53<br />

Speziell für Referendare<br />

Problem: Verfahrenshindernis bei rechtsstaatswidriger<br />

Tatprovokation<br />

Einordnung: Verfahrenshindernis<br />

BGH, Urteil vom 30.07.2<strong>01</strong>5<br />

2 StR 97/14 (BeckRS 2<strong>01</strong>5, 19378)<br />

EINLEITUNG<br />

Die Frage, welche Auswirkungen eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />

nach sich zieht, ist seit langem umstritten. Mit der vorliegenden Entscheidung<br />

ändert der BGH seine Rechtsprechung und setzt gleichzeitig eine Entscheidung<br />

des EGMR um.<br />

SACHVERHALT<br />

In einem Ermittlungsverfahren wegen Erpressung ergaben sich Hinweise<br />

darauf, dass B und J international mit Betäubungsmitteln handeln sollen. Im<br />

Zuge eines gegen B und J geführten Ermittlungsverfahrens bestätigten sich<br />

diese Hinweise jedoch nicht, obwohl gegen beide umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen<br />

durchgeführt wurden. Die Ermittlungsbehörden vermuteten<br />

deshalb, dass B und J anderweitige Kommunikationswege gefunden hätten.<br />

Es wurde daraufhin der Einsatz von zwei verdeckten Ermittlern veranlasst und<br />

ermittlungsrichterlich genehmigt. Die beiden verdeckten Ermittler freundeten<br />

sich mit B, der eine Vielzahl von Vorstrafen hatte, unter laufender Bewährung<br />

stand und nunmehr ein Lokal betrieb, an. Die wiederholte Nachfrage nach<br />

Drogen oder Vermittlung von entsprechenden Kontakten lehnte B unter<br />

Hinweis auf seine laufende Bewährung ab. Schließlich gaben die beiden verdeckten<br />

Ermittler vor, von potentiellen serbischen Kunden massiv bedroht<br />

worden zu sein, weil eine Lieferung nicht planmäßig habe durchgeführt<br />

werden können. B lehnte weiterhin die Teilnahme an Betäubungsmitteltaten<br />

ab, versprach jedoch, beiden einen Gefallen zu erweisen und einen Kontakt zu<br />

vermitteln. B kontaktierte J, der seinerseits aus Gefälligkeit Kontakt zu einem<br />

Lieferanten nach Holland herstellte. In der Folgezeit wurden zwei Geschäfte<br />

mit den verdeckten Ermittlern über jeweils eine Vielzahl von Ecstasy-Pillen<br />

abgewickelt. B befand sich dabei zu keinem Zeitpunkt in der Nähe des jeweiligen<br />

Tatortes. J fungierte jeweils als Bote zwischen dem Lieferanten und den<br />

verdeckten Ermittlern.<br />

LEITSATZ<br />

Die rechtsstaatswidrige Provokation<br />

einer Straftat durch Angehörige<br />

von Strafverfolgungsbehörden oder<br />

von ihnen gelenkte Dritte hat regelmäßig<br />

ein Verfahrenshindernis zur<br />

Folge.<br />

Darf das LG B und J wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilen?<br />

LÖSUNG<br />

Der Verurteilung von B und J könnte eine Art. 6 I EMRK verletzende rechtsstaatswidrige<br />

Tatprovokation, die zu einem Verfahrenshindernis führt,<br />

entgegenstehen.<br />

I. Es müsste zunächst eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation festzustellen sein.<br />

[20] Nach der Rspr. des EGMR liegt eine gegen Art. 6 I EMRK verstoßende<br />

Tatprovokation vor, wenn sich die beteiligten Ermittlungspersonen<br />

nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken,<br />

sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass sie zur<br />

Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie ohne die Einwirkung<br />

Rechtsstaatswidrige Tatprovokation,<br />

vgl. EGMR, Entscheidung vom 23.<br />

Oktober 2<strong>01</strong>4, 54648/09 [Furcht<br />

gegen Deutschland]; Meyer/Wohlers<br />

JZ 2<strong>01</strong>5, 761 ff.; Pauly StV 2<strong>01</strong>5, 411 ff.;<br />

Sinn/Maly NStZ 2<strong>01</strong>5, 379 ff.


54 Referendarteil: Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck, diese Straftat nachzuweisen,<br />

also Beweise für sie zu erlangen und eine Strafverfolgung<br />

einzuleiten. Der Grund für dieses Verbot liegt darin, dass es Aufgabe der<br />

Ermittlungsbehörden ist, Straftaten zu verhüten und zu untersuchen, und<br />

nicht, zu solchen zu provozieren.<br />

[21] Im Rahmen der Prüfung, ob die Ermittlungen „im Wesentlichen passiv“<br />

geführt wurden, untersucht der EGMR sowohl die Gründe, auf denen die<br />

verdeckte Ermittlungsmaßnahme beruhte, als auch das Verhalten der die<br />

verdeckte Maßnahme durchführenden Ermittlungspersonen:<br />

Nach Ansicht des EGMR können<br />

folgende Verhaltensweisen dafür<br />

sprechen, dass die Ermittlungsbehörden<br />

den Bereich des passiven<br />

Vorgehens verlassen haben:<br />

• das Ergreifen der Initiative beim<br />

Kontaktieren des Betroffenen,<br />

• das Erneuern des Angebots trotz<br />

anfänglicher Ablehnung,<br />

• hartnäckiges Auffordern zur Tat,<br />

• Steigern des Preises über den<br />

Durchschnitt oder Vorspiegelung<br />

von Entzugserscheinungen, um das<br />

Mitleid des Betroffenen zu erregen.<br />

[22] Insoweit stellt der Gerichtshof zunächst darauf ab, ob es objektive<br />

Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Betroffene bereits an kriminellen<br />

Aktivitäten beteiligt oder der Begehung von Straftaten zugeneigt<br />

war. Dabei spielt es eine Rolle, ob der Betroffene vorbestraft ist und bereits<br />

ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Darüber<br />

hinaus kann im Rahmen dieser Prüfung, je nach den Umständen des konkreten<br />

Falles, nach Ansicht des Gerichtshofs Folgendes für eine Tatgeneigtheit<br />

sprechen: die zu Tag getretene Vertrautheit des Täters mit den im<br />

illegalen Betäubungsmittelhandel üblichen Preisen, seine Fähigkeit, kurzfristig<br />

Drogen beschaffen zu können, sowie der Umstand, dass er aus dem<br />

Geschäft einen finanziellen Vorteil ziehen würde.<br />

[23] Bei der Prüfung des Verhaltens der Ermittlungspersonen untersucht<br />

der EGMR, ob auf den Betroffenen Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu<br />

begehen […].<br />

Staatliche Tatprovokation, vgl. BGH,<br />

Urteil vom 30.05.20<strong>01</strong>, 1 StR 42/<strong>01</strong>;<br />

Urteil vom 18.11.1999, 1 StR 221/99;<br />

Urteil vom 11.12.2<strong>01</strong>3, 5 StR 240/13.<br />

[24] Nach der Rspr. des BGH liegt eine staatliche Tatprovokation<br />

vor, wenn ein Verdeckter Ermittler (oder eine von einem Amtsträger<br />

geführte Vertrauensperson) über das bloße „Mitmachen“ hinaus in<br />

Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung<br />

der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den<br />

Täter einwirkt. Sie ist nur zulässig, wenn diese gegen eine Person eingesetzt<br />

wird, die in einem den § 152 Abs. 2, §<strong>16</strong>0 StPO vergleichbaren Grad verdächtig<br />

ist, an einer bereits begangenen Straftat beteiligt gewesen oder zu<br />

einer zukünftigen Straftat bereit zu sein. Eine unverdächtige und zunächst<br />

nicht tatgeneigte Person darf hingegen nicht in einer dem Staat zurechenbaren<br />

Weise zu einer Straftat verleitet werden. Auch bei anfänglich bereits<br />

bestehendem Anfangsverdacht kann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />

vorliegen, wenn die Einwirkung auf die Zielperson im Verhältnis<br />

zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist; im Rahmen der<br />

erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des<br />

gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, Art, Intensität und Zweck<br />

der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten<br />

des Betroffenen in den Blick zu nehmen.<br />

Vorliegend überschritt das Verhalten der Verdeckten Ermittler die vorgesehenen<br />

Grenzen. Der Einsatz beschränkte sich nicht auf eine weitgehend<br />

„passive Strafermittlung“, sondern stellt eine massive aktive Einwirkung auf B<br />

und J dar, die dazu führte, dass sie sich nur deshalb an den Straftaten beteiligten.<br />

Die Tathandlungen von B und J waren dabei geprägt davon, den Verdeckten<br />

Ermittlern einen Gefallen zu tun; ihr Handeln beruhte zu keinem Zeitpunkt<br />

auf eigenem Antrieb. Es handelte sich um ein fremdnütziges Verhalten,


<strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

Referendarteil: Strafrecht<br />

55<br />

zu dem es nicht gekommen wäre, wären der B und mittelbar auch der J nicht<br />

durch die Verdeckten Ermittler unter „Druck“ gesetzt worden. Die Einwirkung<br />

auf eine verdächtige Person darf im Verhältnis zum Anfangsverdacht nicht<br />

„unvertretbar übergewichtig“ sein. Genau dies war hier aber der Fall. Es<br />

bestand allenfalls ein vager Anfangsverdacht gegen B und J, die sich erst bereit<br />

erklärten, an den Geschäften mitzuwirken, nachdem die Verdeckten Ermittler<br />

das Vertrauen des B gewonnen hatten und diesem vorgespiegelt worden war,<br />

sie würden von serbischen Abnehmern bedroht. Es liegt ein deutliches Missverhältnis<br />

zwischen dem bestehenden Anfangsverdacht einerseits und den<br />

massiven Einwirkungshandlungen der Verdeckten Ermittler vor.<br />

II. Fraglich ist, welche Rechtsfolgen das Bestehen einer rechtsstaatswidrigen<br />

Tatprovokation bewirkt.<br />

[37] Zwar entspricht es der bisher ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,<br />

dass eine unzulässige Tatprovokation kein Verfahrenshindernis<br />

nach sich zieht, sondern nur im Rahmen der Strafzumessung<br />

zu berücksichtigen ist.<br />

[38] An dieser „Strafzumessungslösung“ hält der Senat angesichts der<br />

aktuellen Rspr. des EGMR nicht mehr fest. Die gebotene Berücksichtigung<br />

der Rspr. des EGMR führt nach Ansicht des Senats dazu, dass<br />

jedenfalls in den Fällen der vorliegenden Art ein Verfahrenshindernis<br />

zur Kompensation der Konventionsverletzung erforderlich ist.<br />

[39] Der EGMR hat in seiner Entscheidung Furcht gegen Deutschland, mit<br />

der erstmals die Strafzumessungslösung der deutschen Rechtsprechung<br />

unmittelbar überprüft und als Mittel der Kompensation des Konventionsverstoßes<br />

verworfen wurde, erneut betont, das öffentliche Interesse an der<br />

Verbrechensbekämpfung rechtfertige nicht die Verwendung von Beweismitteln,<br />

die als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation gewonnen wurden,<br />

denn dies würde den Beschuldigten der Gefahr aussetzen, dass ihm von<br />

Beginn an kein faires Verfahren zu Teil wird […].<br />

[45] Danach kommt die Strafzumessungslösung, deren Vereinbarkeit mit<br />

der Rspr. des EGMR im Schrifttum von Anfang an umstritten war als Konsequenz<br />

rechtsstaatswidriger Tatprovokation nicht mehr in Betracht […].<br />

[48] Die danach gebotene Neubewertung der staatlichen Tatprovokation<br />

führt bei der erforderlichen schonenden Einpassung der Rechtsprechung<br />

des EGMR in das nationale Rechtssystem im vorliegenden<br />

Fall zur Annahme eines Verfahrenshindernisses […].<br />

[54] Die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses knüpft an die<br />

provozierte Tat selbst und daher - anders als ein Beweisverwertungsverbot<br />

- an der unmittelbaren Folge des rechtsstaatswidrigen Handelns<br />

an. Es führt zur Einstellung des Verfahrens hinsichtlich dieser Tat<br />

(§§ 206a, 260 III StPO) und damit zu vergleichbaren Konsequenzen wie<br />

der Ausschluss sämtlicher als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation<br />

gewonnener Beweismittel.<br />

Strafzumessungslösung, vgl. BGH,<br />

Urteil vom 11.12.2<strong>01</strong>3, 5 StR 240/13.<br />

Von Amts wegen zu berücksichtigende<br />

Verfahrenshindernisse sind<br />

in strafprozessualen Assessorklausuren<br />

stets zu beachten, unabhängig<br />

davon, ob eine Abschlussverfügung<br />

der Staatsanwaltschaft, ein Urteilsentwurf<br />

oder ein Gutachten zu den<br />

Erfolgsaussichten einer Revision zu<br />

fertigen ist.<br />

Hohe Klausurrelevanz haben dabei<br />

vor allem<br />

• Vorliegen eines Strafantrages,<br />

• Verfolgungsverjährung,<br />

• Strafklageverbrauch,<br />

• sachliche Zuständigkeit des Gerichts,<br />

• wirksame Anklage,<br />

• wirksamer Eröffnungsbeschluss.<br />

Der BGH lehnt den möglichen Ansatz<br />

des EGMR, wonach alle als Ergebnis<br />

polizeilicher Provokation gewonnenen<br />

Beweismittel ausgeschlossen<br />

werden müssen (Beweisverwertungsverbot)<br />

ab. Ein solches Beweisverwertungsverbot<br />

stünde mit<br />

grundlegenden Wertungen des<br />

deutschen Strafrechtssystems nicht<br />

in Einklang und führt zu unlösbaren<br />

Abgrenzungsschwierigkeiten.<br />

[55] Gegen die Annahme eines Verfahrenshindernisses als Folge einer<br />

rechtsstaatswidrigen Tatprovokation bestehen auch keine durchgreifenden<br />

dogmatischen Einwände nach dem System des nationalen Rechts.<br />

Diese Lösung wurde bereits früher von der Rechtsprechung des BGH und


56 Referendarteil: Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>01</strong>/2<strong>01</strong>6<br />

wird auch heute noch von Teilen der Literatur befürwortet. Die Rechtsfigur<br />

des Verfahrenshindernisses ist unbeschadet der Tatsache, dass sie in der<br />

Strafprozessordnung nicht allgemein definiert ist, eine anerkannte dogmatische<br />

Kategorie und stellt daher - anders als etwa die Annahme eines<br />

gesetzlich nicht geregelten Strafausschließungsgrunds - eine aus dem<br />

Blickwinkel der innerstaatlichen Rechtsordnung schonende Möglichkeit<br />

der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte dar […].<br />

[56] Der Annahme eines Verfahrenshindernisses als regelmäßige Folge<br />

einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation kann auch nicht entgegengehalten<br />

werden, die unterschiedslose Behandlung aller davon erfassten Fälle<br />

würde den großen Unterschieden insbesondere hinsichtlich des Umfangs<br />

des späteren schuldhaften Verhaltens des Provozierten nicht gerecht. Zum<br />

einen dürften etwa Fälle wie diejenigen eines zufälligen Ansprechens eines<br />

bislang unverdächtigen Rauschgifthändlers, der daraufhin eigene, umfangreiche<br />

Aktivitäten zur Durchführung eines Betäubungsmittelgeschäfts entfaltet,<br />

schon keine Konstellation sein, die als rechtsstaatswidrige Tatprovokation<br />

anzusehen ist, obwohl sie vielfach als Beispiele dafür angeführt<br />

werden, dass für solche Fälle die Annahme eines Verfahrenshindernisses<br />

nicht angemessen sei. Zum anderen stellt das in diesem Zusammenhang<br />

bemühte Argument, im Hinblick auf die Intensität der anfänglichen Verdachtslage,<br />

die Hartnäckigkeit des Verdeckten Ermittlers sowie die Schuld<br />

des durch diesen zur Tat Provozierten gebe es weit auseinander liegende<br />

Fallgestaltungen, die eine Differenzierung erforderten, eine Behauptung<br />

dar, die jedenfalls mit den Vorgaben des EGMR nicht (mehr) in Einklang<br />

zu bringen ist. Mit der Annahme der Voraussetzungen einer rechtsstaatswidrigen<br />

Tatprovokation müssen alle als Ergebnis polizeilicher Provokation<br />

gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden oder aber es muss ein<br />

Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen eingreifen, damit das Verfahren<br />

- auch als Ganzes - als fair angesehen werden kann. Dies schließt<br />

weitere Differenzierungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten aus […].<br />

Vorliegend folgt mithin aus der rechtsstaatswidrigen Tatprovokation ein<br />

Verfahrenshindernis.<br />

ERGEBNIS<br />

Das LG darf B und J nicht wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilen.<br />

FAZIT<br />

Die Entscheidung des BGH illustriert die Verzahnung des materiellen Rechts<br />

mit dem Strafprozessrecht. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation ist deshalb<br />

für strafprozessuale Assessorklausuren an verschiedenen Stellen von entscheidender<br />

Bedeutung:<br />

Soll eine Abschlussverfügung der Staatsanwaltschaft gefertigt werden, so ist<br />

das Verfahren – trotz Vorliegens eines etwaigen hinreichenden Tatverdachts –<br />

nach der gutachtlichen Prüfung gemäß § 170 I StPO einzustellen. In einer<br />

Urteilsklausur ist das Verfahren nach § 260 III StPO einzustellen und entsprechend<br />

zu tenorieren. Entsprechendes gilt für die Revisionsklausur. Hier ist im<br />

Gutachten bei den von Amts wegen zu Verfahrensvoraussetzungen zu Beginn<br />

der Begründetheitsprüfung auf diesen Aspekt einzugehen.


V. § 34 GemO:<br />

§ 34 I 4 GemO wird wie folgt geändert:<br />

Die Wörter „eines Viertels“ werden durch die Wörter „einer Fraktion oder eines Sechstels“ ersetzt.<br />

Kommentar:<br />

Parallelregelung zu § 24 III 1 GemO. Das Quorum für den Antrag, einen Verhandlungsgegenstand auf die<br />

Tagesordnung zu setzen, wird von ¼ auf 1⁄6 gesenkt. Fraktionen erhalten dieses Recht unabhängig von der<br />

Zahl ihrer Mitglieder (LT-Drs. 15/7265, S. 40).<br />

VI. § 41b GemO:<br />

Nach § 41a GemO wird folgender § 41b GemO eingefügt:<br />

㤠41b<br />

Veröffentlichung von Informationen<br />

zum Herausnehmen<br />

(1) Die Gemeinde veröffentlicht auf ihrer Internetseite Zeit, Ort und Tagesordnung der öffentlichen Sitzungen des Gemeinderats<br />

und seiner Ausschüsse. Absatz 2 Satz 2 gilt entsprechend.<br />

(2) Die der Tagesordnung beigefügten Beratungsunterlagen für öffentliche Sitzungen sind auf der Internetseite der Gemeinde<br />

zu veröffentlichen, nachdem sie den Mitgliedern des Gemeinderats zugegangen sind. Durch geeignete Maßnahmen ist<br />

sicherzustellen, dass hierdurch keine personenbezogenen Daten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse unbefugt offenbart<br />

werden. Sind Maßnahmen nach Satz 2 nicht ohne erheblichen Aufwand oder erhebliche Veränderungen der Beratungsunterlage<br />

möglich, kann im Einzelfall von der Veröffentlichung abgesehen werden.<br />

(3) In öffentlichen Sitzungen sind die Beratungsunterlagen im Sitzungsraum für die Zuhörer auszulegen. Absatz 2 Sätze 2<br />

und 3 gelten entsprechend. Die ausgelegten Beratungsunterlagen dürfen vervielfältigt werden.<br />

(4) Die Mitglieder des Gemeinderats dürfen den Inhalt von Beratungsunterlagen für öffentliche Sitzungen, ausgenommen<br />

personenbezogene Daten oder Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, zur Wahrnehmung ihres Amtes gegenüber Dritten und<br />

der Öffentlichkeit bekannt geben.<br />

(5) Die in öffentlicher Sitzung des Gemeinderats oder des Ausschusses gefassten oder bekannt gegebenen Beschlüsse sind im<br />

Wortlaut oder in Form eines zusammenfassenden Berichts innerhalb einer Woche nach der Sitzung auf der Internetseite der<br />

Gemeinde zu veröffentlichen.<br />

(6) Die Beachtung der Absätze 1 bis 5 ist nicht Voraussetzung für die Ordnungsmäßigkeit der Einberufung und Leitung der<br />

Sitzung.“<br />

Kommentar:<br />

Die in § 41b I 1 GemO normierte grundsätzliche Veröffentlichungspflicht im Internet steht unter dem<br />

Vorbehalt der Übergangsbestimmung des Art. 10 § 1 des Gesetzes zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher<br />

Vorschriften. Danach findet § 41b I, II, V GemO keine Anwendung, wenn die jeweilige Gemeinde<br />

kein elektronisches System zur Bereitstellung der Sitzungsunterlagen besitzt.<br />

§ 41b II 1 GemO erfasst mit „Beratungsunterlagen“ nur die erforderlichen Unterlagen i.S.d. § 34 I 1 Hs. 2<br />

GemO. Welche Unterlagen in diesem Sinne „erforderlich“ sind, legt der Bürgermeister fest. Wird beispielsweise<br />

der wesentliche Inhalt eines Prüfberichts den Gemeinderäten als Sitzungsunterlage übermittelt, so<br />

ist auch nur diese Sitzungsunterlage zu veröffentlichen (LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />

Da die Verfügbarkeit der Daten im Internet mit erheblichen Gefahren einhergehen kann, verlangt der<br />

Gesetzgeber bei personenbezogenen Daten sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen eine zuverlässige<br />

Anonymisierung. Ist diese nicht möglich, mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden oder verliert das<br />

Dokument dadurch seinen Sinngehalt, kann die Veröffentlichung gem. § 41b II 3 GemO unterbleiben<br />

(LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />

§ 41b III 1 GemO soll den Zugang zu den Dokumenten auch denjenigen Zuhörern gewährleisten, die<br />

das Internet nicht nutzen, oder wenn die Gemeinde aufgrund des Art. 10 § 1 des Gesetzes zur Änderung<br />

kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften (s.o.) keine Veröffentlichung im Internet vornimmt (LT-Drs.<br />

15/7265, S. 43).<br />

Die Befugnis zur Veröffentlichung durch die Ratsmitglieder gem. § 41b IV GemO besteht unabhängig<br />

von einer Veröffentlichung durch die Gemeinde. Sie kann erforderlich sein, damit ein Ratsmitglied seine<br />

politische Auffassung der Öffentlichkeit besser vermitteln kann (LT-Drs. 15/7265, S. 43).<br />

Mit § 41b VI GemO „rudert“ der Gesetzgeber gleichsam wieder etwas zurück. Transparenz ist zwar gewollt,<br />

sie soll aber nicht Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die betreffende Sitzung des Gemeinderats sein. Verstöße<br />

gegen § 41b I-V GemO führen also nicht zur Rechtswidrigkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse.


B. Änderung des Kommunalwahlgesetzes (KomWG):<br />

§ 41 KomWG:<br />

§ 41 I KomWG wird wie folgt gefasst:<br />

„(1) Der Antrag auf eine Einwohnerversammlung und der Einwohnerantrag können nur von Einwohnern unterzeichnet<br />

werden, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung das <strong>16</strong>. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens drei Monaten in der<br />

Gemeinde wohnen. § 12 Absatz 1 Satz 2 der Gemeindeordnung gilt entsprechend. Das Bürgerbegehren kann nur von Bürgern<br />

unterzeichnet werden, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung wahlberechtigt sind.“<br />

Kommentar:<br />

Einwohnerversammlung und Einwohnerantrag (§§ 20a, 20b GemO neue Fassung) können von allen Einwohnern<br />

i.S.d. § 10 I GemO unterstützt werden. Bürgerbegehren können hingegen nur von Bürgern i.S.d.<br />

§ 12 I 1 GemO unterzeichnet werden.<br />

C. Änderung der Kommunalwahlordnung (KomWO):<br />

§ 53 KomWO:<br />

§ 53 KomWO wird wie folgt geändert:<br />

§ 53 Abs. 1 Sätze 1 und 2 sowie Abs. 2 werden aufgehoben. Der bisherige Abs. 3 wird Abs. 2.<br />

Kommentar:<br />

Da die bisher in § 53 I 1, 2 KomWO sowie § 53 II KomWO enthaltenen Regelungen jetzt in § 21 III 7-9 GemO<br />

zu finden sind, waren sie in § 53 I, II KomWO zu streichen.<br />

Falls sich Fragen zu den Neuregelungen ergeben sollten, stehen wir natürlich gerne zur Verfügung.<br />

zum Herausnehmen<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Jura Intensiv<br />

Dr. Dirk Kues<br />

(Fachbereichsleiter Öffentliches Recht)


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