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Die Pforte der Reue (Leseprobe)

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Köln 2015


<strong>Die</strong> <strong>Pforte</strong> <strong>der</strong> <strong>Reue</strong><br />

Original: Ben Pişmanım<br />

info@erolmedien.de<br />

ISBN: 978-3-95707-010-4<br />

Autor: Siraceddin Önlüer<br />

Übersetzung: Ali Ihsan Weiger/Salih Yılmaz<br />

Redaktion: Salih Yılmaz<br />

Lektorat: Ali Ihsan Weiger<br />

Religiöses Lektorat: Rıdvan Sönmez /Harun Reşit Şahin<br />

Quellenrecherche: Hasan Karadoğan/Hüseyin Karadoğan<br />

Erstauflage 2015<br />

Druck: Neuauflage<br />

© <strong>Die</strong>ses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche,<br />

auch auszugsweise, Verwertungen bleiben vorbehalten.<br />

Titelbild ©<br />

Erol Medien GmbH<br />

Kölner Str. 256<br />

51149 Köln<br />

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Web: www.erolmedien.de<br />

www.semerkandonline.de


<strong>Die</strong> <strong>Pforte</strong> <strong>der</strong> <strong>Reue</strong><br />

Siraceddin Önlüer<br />

Übersetzung:<br />

Ali Ihsan Weiger/Salih Yilmaz


Inhaltsverzeichnis<br />

Anmerkung............................................................................................. 7<br />

Vorwort................................................................................................... 9<br />

Ibrahim Bin Edhem (rah.): Vom König <strong>der</strong> Menschen zum König <strong>der</strong> Herzen ........ 13<br />

<strong>Die</strong> Straße nach Mekka................................................................................ 21<br />

Sechs Dinge.................................................................................................. 25<br />

Fudayl Bin Iyad (rah.): Vom Wegelagerer zum Wegweiser............................. 29<br />

Bischr el-Hafi (rah.): Vom Lebemann zum Gottesmann.................................................39<br />

Habib el-Adschemi (rah.): Vom Geldverleiher zum Gottesfreund................. 45<br />

Abdullah Bin Mubarak (rah.): Vom Frauenliebhaber zum Gottesliebhaber ......... 53<br />

Dawud et-Ta’iyy (rah.): Der Weg in die Freiheit........................................... 57<br />

Ma’ruf el-Kerkhi (rah.): Der Konvertit.......................................................... 61<br />

Schaqiq el-Belkhi (rah.): Der Weisheit verborgenen Pfade............................ 69<br />

Malik Bin Dinar (rah.): Das himmlische Kind.............................................. 75<br />

Schah Bin Schudscha el-Kermaniyy (rah.): Der Ritt durch die Wüste .......... 81<br />

Mensur Bin Ammar (rah.): Vier Dirhem für vier Du‘as (Bittgebete) ............ 85<br />

Ibrahim el-Khawwas (rah.): Der Korbmacher............................................... 91<br />

<strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung.................................................................................... 95<br />

Ahmed el-Dschami (rah.): Wissen, von woher man es nicht erwartet........... 97<br />

Anhang: <strong>Die</strong> Tewbeh........................................................................... 103<br />

Der gekaufte Satz........................................................................................ 111<br />

Hidayeh: <strong>Die</strong> größte Gunst des Erhabenen Allah........................................ 113<br />

Von <strong>der</strong> Hure zur ehrbaren Frau................................................................. 121<br />

Der Pilger, dem nicht vergeben wurde........................................................ 125<br />

Nasuhs <strong>Reue</strong>bekenntnis.............................................................................. 131<br />

Der Pferdedieb........................................................................................... 137<br />

Anhang: <strong>Die</strong> Ridschal el-Ghayb.......................................................... 141<br />

Überzeugungsarbeit.................................................................................... 149<br />

Der Rest obliegt Dir!.................................................................................. 151<br />

Der betrunkene Nachbar............................................................................ 153<br />

Der Heiratsantrag....................................................................................... 157<br />

Zwei gravierende Mängel............................................................................ 161<br />

Das Zittern <strong>der</strong> Gottesfurcht...................................................................... 165<br />

Amin!......................................................................................................... 169<br />

Der etwas an<strong>der</strong>e Fluch.............................................................................. 173<br />

Mit Milde zum Ziel.................................................................................... 175


Kehre heim in Frieden!............................................................................... 179<br />

Bitte um Vergebung!................................................................................... 181<br />

Anhang: <strong>Die</strong> Isti’aneh: Sich jemanden zum Beistand nehmen............ 185<br />

Der Erhabene Allah schläft nie…............................................................... 195<br />

Das offene Tor..............................................................................................................................199<br />

Der Fang seines Lebens............................................................................... 201<br />

Wer reumütig zu Uns zurückkehrt, wird herzlich aufgenommen................ 205<br />

Das Sündenregister..................................................................................... 207<br />

Des Einbrechers Lohn................................................................................ 211<br />

Ein Akt <strong>der</strong> Menschlichkeit........................................................................ 213<br />

Das Paradies des Ungläubigen..................................................................... 215<br />

Der Freibrief............................................................................................... 217<br />

<strong>Die</strong> reumütige Verführerin.......................................................................... 223<br />

Ein Weinen und Wimmern........................................................................ 225<br />

Der Erblindete............................................................................................ 231<br />

Der Leugner............................................................................................... 233<br />

Der verbotene Blick.................................................................................... 237<br />

Das Versprechen......................................................................................... 239


Anmerkung<br />

Es ist guter Brauch <strong>der</strong> Muslime, dem Gesandten Muhammed (s.a.w.s.), den Propheten<br />

und den Prophetengefährten Hochachtung und Liebe entgegenzubringen,<br />

indem wir sie mit unseren Segenswünschen und Bittgebeten beschenken. Schon die<br />

Prophetengefährten pflegten den Brauch, den Propheten Muhammed (s.a.w.s.) mit<br />

Segenswünschen zu beschenken. <strong>Die</strong>ser Brauch wurde vom Erhabenen Allah im<br />

Edlen Quran folgen<strong>der</strong>maßen vorgegeben:<br />

„Wahrlich sprechen Allah und Seine Engel Segenswünsche auf den Propheten<br />

(Muhammed). O ihr die ihr glaubt! So sprecht (auch) ihr auf ihn<br />

Segenswünsche und wünscht ihm Frieden!“ 1<br />

Auch die Segenswünsche auf die Prophetengefährten gehen auf einen Quranvers zurück:<br />

„<strong>Die</strong> Vorangehenden, die ersten <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>er und <strong>der</strong> Helfer und jene,<br />

die ihnen auf die beste Art gefolgt sind – mit ihnen ist Allah wohlzufrieden!“ 2<br />

Der Lobpreis, sowie die Segenswünsche und Bittgebete, die wir in diesem<br />

Buch verwenden lauten folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

Wenn <strong>der</strong> Name des Propheten Muhammed (s.a.w.s.) erwähnt wird verwenden<br />

wir, bevorzugt den Ausspruch: „Salla Allahu aleyhi we sellem“ („Allahs Segen<br />

und Friede sei auf ihm“). <strong>Die</strong>sen Ausspruch kürzen wir mit folgendem Symbol ab:<br />

(s.a.w.s.)Wenn <strong>der</strong> Name eines Propheten o<strong>der</strong> eines Engels erwähnt wird, verwenden<br />

wir bevorzugt den Ausspruch: „Aleyhi Selam“ („Friede sei mit ihm“). <strong>Die</strong>sen<br />

Ausspruch kürzen wir mit folgendem Symbol ab: (a.s.) Wenn <strong>der</strong> Name eines Prophetengefährten<br />

bzw. einer Prophetengefährtin erwähnt wird, verwenden wir bevorzugt<br />

den Ausdruck: „Radiya Allahu Anhu“ bzw. „Radiya Allahu Anha“ („Allah<br />

möge mit ihm/ihr zufrieden sein“). <strong>Die</strong>sen Ausspruch kürzen wir mit folgendem<br />

Symbol ab: (rah.) Wenn man schon dem Gesandten Muhammed (s.a.w.s.), den<br />

Propheten, Gefährten, Engeln und Gottesfreunden Hochachtung in dieser Form<br />

zuteil werden lässt, so ist es eine Selbstverständlichkeit dass wir Dem Erhabenen Allah<br />

eine noch größere Hochachtung und Ehrerbietung entgegenbringen indem wir<br />

Ihn lobpreisen. Wenn <strong>der</strong> Name des Erhabenen Allah erwähnt wird, verwenden wir<br />

bevorzugt den Ausspruch: „Dschelle Dschelaluhu“ („Gewaltig ist Seine Majestät“).<br />

<strong>Die</strong>sen Ausspruch kürzen wir mit folgendem Symbol ab: (dd)<br />

1 33. Sure: El-Ehsab, Vers 56.<br />

2 9. Sure: Et-Tewbeh, Vers 100.


Vorwort<br />

„Und wenn sie zu dir gekommen wären, nachdem sie sich selbst<br />

Unrecht zugefügt haben und dann Allah um Vergebung gebeten hätten<br />

und <strong>der</strong> Gesandte für sie um Vergebung gebeten hätte, dann hätten<br />

sie Allah gewiss Allvergebend, Barmherzig vorgefunden.“<br />

(4. Sure: En-Nisa, Vers 64)<br />

<strong>Die</strong> Sündhaftigkeit gehört zum Wesen aller Menschen 1 . Je<strong>der</strong> Mensch<br />

bürdet sich Sünden auf und macht sich damit vor seinem Schöpfer<br />

schuldig. Von dieser Sündenlast kann er sich nur dadurch wie<strong>der</strong> befreien,<br />

indem er den Erhabenen Allah aufrichtig um die Vergebung all<br />

seiner Sünden bittet und sich vornimmt, diese Sünden nie wie<strong>der</strong> zu<br />

begehen. <strong>Die</strong>se reuevolle Hinwendung zu Et-Tewwab (<strong>der</strong> die <strong>Reue</strong> Annehmende),<br />

El- Ghafur (<strong>der</strong> Allvergebende) und Er-Rahman (<strong>der</strong> Allerbarmer)<br />

ist <strong>der</strong> erste Schritt des Menschen auf dem göttlichen Pfad und<br />

gleichzeitig auch sein erster Schritt auf dem Weg zu seiner Befreiung<br />

von den Anhaftungen an die irdische Welt.<br />

Wenn ein Mensch diesen Weg erst einmal eingeschlagen hat, dann<br />

liegt es an ihm, inwieweit er sich an die Regeln des Erhabenen Allah<br />

hält und sich von den verbotenen und zweifelhaften Dingen fernhält.<br />

Umso mehr er dies tut, umso mehr schüttelt er die Fesseln jener Begehrlichkeiten<br />

ab, die sein Herz an die irdische Welt binden und ihm so<br />

den Weg zu seinem Schöpfer versperren.<br />

Je mehr er sich auf diesem Weg bemüht, desto schneller wird er die<br />

Triebhaftigkeit und Aufsässigkeit seiner aufsässigen Triebseele überwinden<br />

und diese zu einem folgsamen <strong>Die</strong>ner des Erhabenen Allah machen.<br />

<strong>Die</strong>ser Wandel seiner Triebseele führt zu einem kompletten Wandel des<br />

ganzen Menschen: Er entwickelt sich von einem gewöhnlichen Sün<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

nur seinen Trieben folgt zu einem Weliyy (Gottesfreund), <strong>der</strong> dem Pfad des<br />

Erhabenen Allah und so gleichzeitig auch seiner Bestimmung folgt.<br />

1 Nur die Propheten sind hiervon ausgenommen. Ihnen verlieh <strong>der</strong> Erhabene Allah die beson<strong>der</strong>e Eigenschaft<br />

<strong>der</strong> „Ismeh“, die sie davor schützte Sünden zu begehen.<br />

9


<strong>Die</strong> Weliyy sind es, die ihrem eigentlichen Daseinszweck folgen und<br />

so ihren Schöpfer zufriedenstellen. Ihr Erkennungsmerkmal ist, dass sie<br />

einen an den Erhabenen Allah erinnern, wenn man sie sieht. Sie bringen<br />

ihrem Herrn größtmögliche Wertschätzung entgegen und werden deshalb<br />

von ihren Mitmenschen wertgeschätzt. Da sie ihrem Schöpfer gegenüber<br />

je<strong>der</strong>zeit loyal sind, stellt <strong>Die</strong>ser die ganze Welt in ihren <strong>Die</strong>nst.<br />

Schon die kleinste Unaufmerksamkeit bereuen sie auf <strong>der</strong> Stelle und so<br />

sind die Reumütigsten <strong>der</strong> Reumütigen, die ihren Mitmenschen als Vorbild<br />

vorangehen und diese ihrerseits an die <strong>Pforte</strong> <strong>der</strong> <strong>Reue</strong> führen.<br />

Das vorliegende Büchlein befasst sich mit dem Wesen <strong>der</strong> <strong>Reue</strong> und<br />

dem Segen <strong>der</strong> Reumütigkeit. Anhand vieler kurzer Erzählungen und<br />

kleiner Anekdoten aus dem Leben <strong>der</strong> frühen Muslime will es den Hoffnungslosen<br />

Hoffnung spenden und ihnen zeigen, dass es nie zu spät ist,<br />

sich dem Erhabenen Allah zuzuwenden. Denn viele <strong>der</strong> großen Gottesfreunde<br />

waren nicht von jeher jene vorbildlichen Muslime, als die<br />

wir sie heute kennen, son<strong>der</strong>n erreichten irgendwann einmal in ihrem<br />

Leben einen Punkt, an dem sie sich von dem Weg <strong>der</strong> Sündhaftigkeit<br />

verabschiedeten und den Weg <strong>der</strong> Gottesfurcht einschlugen.<br />

Zum besseren Verständnis <strong>der</strong> Lebensgeschichten dieser gesegneten<br />

Personen haben wir manchmal einige Erläuterungen eingefügt, die zeigen,<br />

dass diese sich je<strong>der</strong>zeit auf dem Boden <strong>der</strong> Gebote des Erhabenen<br />

Allah und <strong>der</strong> Sunneh Seines Propheten (s.a.w.s.) bewegten, auch wenn<br />

uns ihr Handeln manchmal etwas seltsam erscheint.<br />

Doch ist es denn nicht eher so, dass wir es sind, die seltsame Dinge<br />

tun, in unserer Gottvergessenheit und Hinwendung zur irdischen Welt<br />

und nicht jene, die ihr ganzes Leben in <strong>der</strong> Hinwendung zum Erhabenen<br />

Allah verbrachten?<br />

10


Ibrahim Bin Edhem (rah.): Vom König <strong>der</strong> Menschen<br />

zum König <strong>der</strong> Herzen<br />

Ibrahim Bin Edhem (rah.) lebte im 8. Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr. in <strong>der</strong><br />

Stadt Belkh im Norden des heutigen Afghanistan. Er wird den Tabi‘un,<br />

also <strong>der</strong> Nachfolgegeneration <strong>der</strong> Prophetengefährten, zugerechnet.<br />

Sehr berühmt ist die Geschichte seiner Herkunft. <strong>Die</strong>se beschreibt ihn<br />

als Spross eines Fürstengeschlechts, dessen Herrschaftsgebiet sich auf<br />

die Gegend um die Stadt Belkh herum erstreckte.<br />

Nachdem Ibrahim Bin Edhem (rah.) die Nachfolge seines Vaters in<br />

<strong>der</strong> Herrschaft seines Landes angetreten hatte, genoss er erst einmal<br />

sein Leben in vollen Zügen: Er kleidete sich in prunkvolle Gewän<strong>der</strong>,<br />

ließ sich von seinem Hofstaat bedienen und verbrachte seine Zeit am<br />

liebsten damit, auf die Jagd zu gehen.<br />

Nach seiner Krönung waren schon viele fromme Männer an seinen<br />

Hof gekommen, um ihn auf die Gefahren seines Luxuslebens hinzuweisen.<br />

Doch obwohl sie ihn alle eindringlich darum gebeten hatten,<br />

sich von <strong>der</strong> irdischen Welt abzuwenden und sich stattdessen lieber auf<br />

das Jenseits vorzubereiten, schoss er ihre Warnungen in den Wind und<br />

lebte weiterhin aufs Geradewohl in den Tag hinein. Er dachte gar nicht<br />

daran, auf die Annehmlichkeiten seines fürstlichen Lebens zu verzichten<br />

und sich in aller Bescheidenheit dem Erhabenen Allah zuzuwenden.<br />

Aber die Wege des Erhabenen Allah sind unergründlich und Er leitet<br />

recht, wen Er will und wie Er will. Und so geschah es denn auch mit<br />

Ibrahim Bin Edhem (rah.). <strong>Die</strong> Geschichte seiner Rechtleitung trug<br />

sich folgen<strong>der</strong>maßen zu:<br />

Eines Tages saß Ibrahim Bin Edhem (rah.) auf seinem Thron in seinem<br />

Palast und da wurde er ganz plötzlich von großer Müdigkeit übermannt<br />

und er schlief ein. Auf einmal wurde er von einem seltsamen<br />

Gepolter geweckt, das von seinem Dach zu kommen schien. Da rief er<br />

nach oben zum Dache hin: „Wer ist da?“<br />

13


Da schallte es von dort zurück: „Ich habe mein Kamel verloren und<br />

suche es nun!“<br />

Da rief Ibrahim (rah.): „O du Dummkopf! Wie kommst du denn darauf,<br />

ein Kamel ausgerechnet auf einem Dach zu suchen?“<br />

Da erwi<strong>der</strong>te ihm die Stimme: „O du Achtloser! Und wie kommst du<br />

denn darauf, den Erhabenen Allah ausgerechnet auf einem Thron zu suchen,<br />

sitzend auf seidenen Kissen?“<br />

<strong>Die</strong> Worte des Mannes auf dem Dach stimmten Ibrahim (rah.)<br />

nachdenklich. Er dachte sich: „Wie Recht <strong>der</strong> Mann doch hat! Welch gottvergessenes<br />

Leben habe ich doch bis dahin geführt! So kann ich auf keinen<br />

Fall weitermachen! Denn sonst stünde ich ja in <strong>der</strong> Stunde meines Todes<br />

mit ganz leeren Händen vor meinem Herrn da und würde dies sicherlich<br />

bitterlich bereuen….“<br />

Je länger er über darüber nachdachte, desto mehr wurde sein Herz<br />

von Furcht ergriffen. Am Abend hatten die Worte des Mannes vom<br />

Dach ihre volle Wirkung entfaltet und es begann in seinem Herzen so<br />

stark das Feuer <strong>der</strong> <strong>Reue</strong> zu lo<strong>der</strong>n, dass er die darauffolgende Nacht<br />

kein Auge zutun konnte.<br />

Als sich am nächsten Morgen – wie jeden Morgen – die Amtsträger<br />

seines Fürstentums vor ihm in seinem Thronsaal versammelten, saß er<br />

lustlos und geistesabwesend auf seinem Thron.<br />

Da gab es auf einmal Tumulte vor den <strong>Pforte</strong>n des Thronsaals und<br />

plötzlich kam unter dem heftigen Protest einiger Bediensteter eine hühnenhafte<br />

Gestalt durch die <strong>Pforte</strong>n des Thronsaals herein. Der Mann<br />

ließ sich von niemandem aufhalten, ging zielstrebig auf den Thron Ibrahims<br />

(rah.) zu und baute sich direkt vor diesem auf.<br />

Empört fragte ihn Ibrahim (rah.): „Was willst du?“<br />

Da antwortete ihm <strong>der</strong> Mann: „Ich habe vor, in dieser Herberge abzusteigen!“<br />

Da entgegnete ihm Ibrahim (rah.): „Kerl! Bist du denn noch ganz bei<br />

14


Sinnen? <strong>Die</strong>s ist hier keine Herberge, dies ist mein Palast!“<br />

Da erwi<strong>der</strong>te ihm <strong>der</strong> Mann: „Wem gehörte dieses Haus denn vor dir?“<br />

Ibrahim (rah.) antwortete ihm: „Meinem Vater!“<br />

Der Mann fragte weiter: „Und vor diesem?“<br />

Ibrahim (rah.) antwortete: „Meinem Großvater!“<br />

Der Mann fragte weiter: „Und vor ihm?“<br />

Ibrahim (rah.) antwortet: „Einem gewissen Soundso!“<br />

Da fragte ihn <strong>der</strong> Mann: „Und wo sind die nun alle abgeblieben?“<br />

Er antwortete ihm: „Sie starben und gingen dahin!“<br />

Da sprach <strong>der</strong> Mann: „Ist denn ein Haus keine Herberge, wenn die Leute darin<br />

aus- und eingehen, wie es eben auch in diesem Haus <strong>der</strong> Fall zu sein scheint?“<br />

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, verschwand <strong>der</strong> Mann<br />

genauso plötzlich, wie er gekommen war. Da sagte einer <strong>der</strong> Anwesenden<br />

zu Ibrahim (rah.): „<strong>Die</strong>s war Khidr 2 (a.s.)!“<br />

Ibrahim (rah.) stimmte die Geschichte mit Khidr (a.s.) sehr traurig. <strong>Die</strong>s<br />

war <strong>der</strong> zweite Schlag für ihn in kürzester Zeit: Erst raubte ihm die Geschichte<br />

mit dem Mann auf dem Dach den Schlaf und nun erinnerte ihn Khidr (a.s.)<br />

auch noch daran, dass er genauso sterblich war, wie seine Vorfahren auch.<br />

Sein Leben schien ihm auf einmal sinnlos und leer und er hatte überhaupt<br />

keine Freude mehr an seinem prunkvolle Palastleben. Deshalb<br />

entschloss er sich, auf die Jagd zu gehen; vielleicht konnte er ja dort<br />

etwas Ablenkung finden…<br />

So ritt er also mit seinem Gefolge in die Wüste hinaus. Doch auch<br />

dies konnte ihm keine rechte Freude bereiten, denn seine schweren Gedanken<br />

ließen sich auch jetzt einfach nicht vertreiben.<br />

So ritt er ziel- und planlos durch die Gegend und ha<strong>der</strong>te mit seinem Schicksal:<br />

Nicht einmal bei seiner geliebten Jagd konnte er mehr zur Ruhe finden!<br />

2 Khidr (a.s.) ist entwe<strong>der</strong> ein Prophet o<strong>der</strong> ein Gottesfreund. Da er stets grün gekleidet ist, nennt man ihn<br />

Khidr o<strong>der</strong> Khadir, was so viel bedeutet, wie „<strong>der</strong> Grüne“. Es heißt, dass Khidr (a.s.) – mit <strong>der</strong> Erlaubnis<br />

des Erhabenen Allah – vom Wasser des ewigen Lebens getrunken hat und deshalb nicht stirbt. Da er vom<br />

Erhabenen Allah viele Einblicke in die verborgene Welt erhalten hat, verfügt er über große Weisheit.<br />

15


Er war so gedankenverloren, dass er gar nicht merkte, dass er schon<br />

längst den Anschluss an sein Gefolge verloren hatte und nun ganz allein<br />

auf seinem Pferd in <strong>der</strong> Einöde unterwegs war. Doch plötzlich riss ihn<br />

eine Stimme aus seinen Gedanken. Sie schien ihm ganz nah und rief<br />

laut und deutlich: „Wach auf!“<br />

Er blickte sich um, doch er konnte nirgendwo eine Menschenseele<br />

erblicken. So dachte er sich, dass er sich dies nur eingebildet hatte und<br />

ritt weiter. Doch kaum hatte er sich dies gedacht, hörte er die Stimme<br />

auch schon ein weiteres Mal rufen: „Wach auf!“<br />

Auch diesmal war weit und breit niemand zu sehen und so ignorierte<br />

er die Stimme abermals. Gleich darauf schon rief es ein drittes Mal:<br />

„Wach auf, o Ibrahim!“<br />

Ibrahim (rah.) beschloss, einfach weiterzureiten. <strong>Die</strong> schlaflose Nacht<br />

hatten ihn wohl doch stärker mitgenommen als er dachte…<br />

Aber gleich darauf ertönte die Stimme ein viertes Mal. <strong>Die</strong>smal rief<br />

sie: „Wach auf, bevor du auferweckt wirst!“<br />

Als Ibrahim (rah.) verwirrt um sich blickte, sah er auf einmal eine<br />

Gazelle vor sich im Wüstensand stehen. Ihr Anblick riss ihn aus seiner<br />

Verwirrung heraus und weckte seinen Jagdtrieb. Sofort gab er seinem<br />

Pferd die Sporen, um das prächtige Tier einzuholen. Doch die Gazelle<br />

blieb urplötzlich vor ihm stehen und rief ihm folgende Worte zu, die<br />

ihr <strong>der</strong> Erhabene Allah eingegeben hatte: „Ich wurde geschickt, um dich<br />

zu jagen und nicht, um von dir gejagt zu werden! Du wirst mich nicht<br />

kriegen können!“<br />

Unmittelbar danach hörte er eine Stimme aus seinem Sattel heraus<br />

rufen: „O Ibrahim! Hierfür wurdest du nicht erschaffen! Hierfür wurdest<br />

du nicht in diese Welt geschickt!“<br />

Jetzt wurde es ihm wirklich Angst und Bange! Er ließ von <strong>der</strong> Gazelle<br />

ab und wusste gar nicht mehr, wie ihm geschah. Schon ertönte dieselbe<br />

16


Stimme auf einmal aus <strong>der</strong> Brustasche seines Umhangs hervor: „Hierfür<br />

wurdest du nicht erschaffen! Hierfür wurdest du nicht in diese Welt geschickt!“<br />

<strong>Die</strong>s alles konnte ja nun wirklich kein Zufall mehr sein. <strong>Die</strong>s<br />

konnte nur eine Botschaft des Erhabenen Allah an ihn sein! Sein<br />

Herr schickte ihm bestimmt schon die an<strong>der</strong>en beiden Botschaften,<br />

die ihn hier heraus in die Wüste getrieben hatten und nun wollte Er<br />

ihm bestimmt mitteilen, dass er sich von seinem bisherigen Leben<br />

in Gottvergessenheit und Weltverliebtheit abwenden und seinem<br />

Schöpfer zuwenden solle.<br />

Während er zu dieser Erkenntnis gelangte, wurde sein ganzer Körper<br />

von dem Gefühl aufrichtiger <strong>Reue</strong> erfasst. Der Vorhang lüftete sich<br />

vor seinem geistigen Auge und er sah sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen:<br />

Sein ganzes Leben war eine einzige Aneinan<strong>der</strong>reihung von<br />

Unachtsamkeit und Gottvergessenheit gewesen. Welch sinnloses Leben<br />

er doch die ganze Zeit über geführt hatte!<br />

Auf <strong>der</strong> Stelle beschloss er, sein Leben von Grund auf zu än<strong>der</strong>n. Von<br />

nun an wollte er alles besser machen. Fortan wollte er nichts mehr mit<br />

seinem alten prunkvollen Leben zu schaffen haben!<br />

Deshalb sprang er von seinem Pferd herab, jagte dieses davon und<br />

ging zu Fuß weiter. <strong>Die</strong>se Tat verschaffte seiner Seele eine unglaubliche<br />

Erleichterung und Zufriedenheit. So konnte es weitergehen!<br />

Als er auf diese Weise erleichtert durch die Wüste schritt, traf er auf einen<br />

seiner Bediensteten, <strong>der</strong> damit beauftragt war, seine Schafe hüten. Da beschloss<br />

er, diesem all seine Schafe zu schenken. Und als er dann auch noch<br />

sah, dass <strong>der</strong> Hirte einen schlichten filzenen Umhang und eine einfache<br />

wollene Kopfbedeckung trug, da tauschte er mit diesem seinen königlichen<br />

Umhang gegen den Filzmantel und seine Krone gegen die Wollhaube aus.<br />

Anschließend lief er solange orientierungslos in <strong>der</strong> Wüste umher,<br />

bis er schließlich in eine Stadt namens Merw-i Rudh kam. Just als er<br />

dort die Brücke über den gleichnamigen Fluss überqueren wollte, sah<br />

17


er, wie ein Mann von <strong>der</strong> Brücke fiel und da rief er vor Schreck mit<br />

lauter Stimme: „O Allah! Rette ihn!“<br />

Und da errettete <strong>der</strong> Erhabene Allah den Mann sogleich, indem er<br />

ihn solange in <strong>der</strong> Luft schweben ließ, bis ihn einige <strong>der</strong> Bewohner <strong>der</strong><br />

Stadt zurück auf die Brücke gezogen hatten.<br />

Anschließend zog er nach Nisabur weiter und hauste dort neun Jahre<br />

lang in einer Höhle vor den Toren <strong>der</strong> Stadt. Dort widmete er sich ganz<br />

<strong>der</strong> Ibadeh 3 . Jeden Donnerstag machte er sich fortan dazu auf, in die<br />

Berge zu gehen und ein Bündel Brennholz zu sammeln. <strong>Die</strong>ses verkaufte<br />

er dann am Freitag auf dem Markt und lebte die ganze Woche über<br />

von dem Erlös aus dem Verkauf.<br />

Was dort in dieser Höhle genau mit Ibrahim (rah.) geschah, weiß nur<br />

<strong>der</strong> Erhabene Allah. Sicher aber ist, dass er seither unter den Menschen<br />

als ein frommer und gottesfürchtiger Weliyy 4 bekannt war, dessen Du‘as<br />

(Bittgebete) erhört wurden und dessen Worte vor Weisheit strotzten. 5<br />

Alle Könige seiner Zeit<br />

gerieten in Vergessenheit.<br />

Ibrahim Bin Edhem aber<br />

war einer jener Leute,<br />

die Allah lieben.<br />

Deshalb ist er uns bis heute<br />

in Erinnerung geblieben!<br />

3 „Ibadeh“ ist „<strong>der</strong> Gottesdienst“. <strong>Die</strong>s sind alle Arten <strong>der</strong> Anbetung des Erhabenen Allah, egal, ob diese<br />

verpflichtend o<strong>der</strong> freiwillig sind.<br />

4 „Weliyy“ bedeutet wörtlich „<strong>der</strong> Nahe“. In diesem Büchlein wird damit „<strong>der</strong> Gottesfreund“ bezeichnet.<br />

5 Vgl. Zehebi, Siyer A’lami’n-Nubela, 7/390; Ibn Kudame el-makdisi, Kitabu’t-Tevvabin, S. 124; Attar, Tezkiretu’l-Evliya<br />

(Süleyman Uludag), S. 143.<br />

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