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SoSi_Leseprobe 5_2016

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Seiten 169– 208/ www.sozialesicherheit.de / 65. Jahrgang / ISSN 0490-1630 / D 6364<br />

Sicherheit<br />

Zeitschrift für Arbeit und Soziales<br />

5<br />

<strong>2016</strong><br />

sozialesicherheit.de<br />

Private Krankenhaus-<br />

Zusatzversicherungen:<br />

Mogelpackungen<br />

dominieren den<br />

Markt<br />

Betriebliche<br />

Krankenversicherung:<br />

Eine sinnvolle<br />

betriebliche<br />

Sozialleistung?<br />

Soziale<br />

Selbstverwaltung:<br />

Beispiele für<br />

erfolgreiches Handeln<br />

Grundsicherungs-<br />

Leistungen für<br />

EU-Ausländer:<br />

Wer soll künftig<br />

leer ausgehen?<br />

Für Sie beigelegt:<br />

Umfrage bei Krankenkassen:<br />

Freie Klinikwahl für Versicherte?


Gesundheit<br />

Krankenkassen-Umfrage der Sozialen Sicherheit ergibt:<br />

Mehrkosten bei freier Krankenhauswahl spielen<br />

in der Praxis keine Rolle<br />

Von Rolf Winkel und Hans Nakielski<br />

Gesetzlich Versicherte haben die freie Krankenhauswahl, aber die möglichen finanziellen Folgen ihrer freien Entscheidung<br />

müssen sie gegebenenfalls tragen. So lässt sich die Gesetzeslage zusammenfassen. Die überhaupt<br />

möglichen Kosten halten sich dabei in sehr engen Grenzen. Dafür sorgt die Umstellung der Krankenhausvergütung<br />

auf Fallpauschalen. 1 Fraglich ist allerdings, ob die gesetzlichen Krankenkassen überhaupt von der Möglichkeit<br />

Gebrauch machen, ihren Versicherten ggf. entstehende Mehrkosten durch die eigene Wahl eines Krankenhauses<br />

in einem anderen Bundesland in Rechnung zu stellen. Das ist keine Rechts-, sondern eine Praxisfrage. Die Soziale<br />

Sicherheit hat dazu eine Umfrage bei den 14 größten gesetzlichen Krankenkassen, bei denen derzeit fast 60 % der<br />

gesetzlich Versicherten abgesichert sind, 2 vorgenommen. Hier wird das Ergebnis vorgestellt.<br />

Angeschrieben haben wir die Techniker Krankenkasse<br />

(TK), die Barmer GEK, die DAK Gesundheit, die IKK-Klassik,<br />

die Knappschaft, die Kaufmännische Krankenkasse (KKH)<br />

sowie acht AOKs 3 . Alle 14 angeschriebenen Kassen haben<br />

unsere Fragen beantwortet.<br />

Die Antworten im Wortlaut stehen auf der Internetseite<br />

der Sozialen Sicherheit. 4<br />

Wir wollten dabei wissen, welche Rolle die Regelung von<br />

§ 39 Abs. 2 SGB V in der Praxis spielt: Die Gesetzesformulierung<br />

lautet: »Wählen Versicherte ohne zwingenden<br />

Grund ein anderes als ein in der ärztlichen Einweisung genanntes<br />

Krankenhaus, können ihnen die Mehrkosten ganz<br />

oder teilweise auferlegt werden.« Dabei ging es nicht um<br />

den Sonderfall der Wahl einer Privatklinik, sondern nur um<br />

die Wahl von Kliniken, mit denen die gesetzlichen Krankenkassen<br />

Verträge abgeschlossen haben.<br />

1. Inrechnungstellung möglicher Mehrkosten?<br />

Unsere ersten beiden Fragen lauteten:<br />

1. Werden von Ihrer Krankenkasse von Versicherten<br />

Mehrkosten – außer Fahrtkosten – erhoben, wenn sie<br />

sich nicht für eines der vom einweisenden Arzt vorgeschlagenen<br />

Krankenhäuser, sondern für ein anderes<br />

gesetzlich Versicherten offen stehendes Krankenhaus<br />

entscheiden?<br />

2. Falls ja: Welche Kosten sind dies? Können Sie beziffern,<br />

wie hoch die »Mehrkosten« sind, die Ihre Krankenkasse<br />

pro Jahr Ihren Versicherten auferlegt (ggf.<br />

2014/2015)?<br />

1 vgl. Rolf Winkel: (Freie) Krankenhauswahl und Fallpauschalen, S. 177 ff. in<br />

diesem Heft<br />

2 Die befragten Kassen zählten zum Jahresanfang <strong>2016</strong> rund 41,7 Mio. Versicherte.<br />

Insgesamt sind derzeit in Deutschland 70,3 Mio. Menschen gesetzlich<br />

krankenversichert.<br />

3 Es waren die AOK Baden-Württemberg, AOK Bayern, AOK Hessen, AOK Niedersachsen,<br />

AOK Nordost, AOK Nordwest, AOK Plus und AOK Rheinland/<br />

Hamburg.<br />

4 www.sozialesicherheit.de > Ausgabe 5/<strong>2016</strong><br />

Die Mehrkostenklausel in § 39 Abs. 2 bezieht sich nur<br />

auf die Klinikvergütung. Deshalb hatten wir bei der Frage<br />

nach den Mehrkosten mögliche höhere Fahrtkosten,<br />

die durch die Wahl eines weiter entfernten Krankenhauses<br />

entstehen können, ausdrücklich ausgeklammert. Die<br />

Fahrtkostenübernahme wird im SGB V an anderer Stelle<br />

(in § 60 SGB V) geregelt. § 60 Abs. 1 bestimmt, dass nur<br />

Fahrtkosten von der Krankenkasse übernommen werden,<br />

die »aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig<br />

sind«. Solche zwingenden Gründe dürften in der Regel<br />

nicht vorliegen, wenn sich zum Beispiel ein Versicherter<br />

aus Dortmund entscheidet, seine Hüftoperation in einer<br />

Hamburger statt in einer Dortmunder Klinik durchführen zu<br />

lassen. Auch die Gerichtsverfahren, die in der Vergangenheit<br />

– vor Einführung der Fallpauschalen – zu § 39 Abs. 2<br />

SGB V geführt wurden, bezogen sich nur auf reine Krankenhaus-<br />

und nicht auf die Fahrtkosten.<br />

Unsere Frage 1 wurde von elf der 14 angeschriebenen<br />

Kassen klar verneint. So schrieb etwa die AOK Niedersachsen:<br />

«Nein. Die Krankenhauskosten eines behandelnden,<br />

im Krankenhausplan aufgenommenen Krankenhauses<br />

werden übernommen. Privatkliniken bleiben jedoch ausgeschlossen.«<br />

Noch kürzer fasste sich die AOK Plus: «Den<br />

Versicherten werden grundsätzlich keine Mehrkosten auferlegt.«<br />

Am spartanischsten fiel die Antwort der KKH aus.<br />

Sie bestand aus einem einfachen »Nein«.<br />

Besonders schwer tat sich bei dieser Frage die Techniker<br />

Krankenkasse. Sie beantwortete die Frage mit einem<br />

»Zwar – Aber«: »Grundsätzlich nein. Eventuell könnte es<br />

im Einzelfall zu einer Kostenbeteiligung kommen, wenn<br />

der Kunde die Behandlung in einem anderen (teureren)<br />

Bundesland plant. Aufgrund der derzeit geringen Preisunterschiede<br />

ist dies aber unwahrscheinlich.« Auf Nachfrage<br />

erklärte die TK, dass entsprechende Fälle nicht bekannt<br />

seien und das SGB V durch die »Kann-Regelung« zu den<br />

Mehrkosten den Kassen ja einen Ermessensspielraum<br />

gebe. Da sei es rechtlich problematisch, sich auf eine generelle<br />

Nicht-Erhebung von Mehrkosten festzulegen.<br />

Ähnlich gewunden fiel die Antwort der AOK Nordost<br />

aus. Diese erläuterte zunächst ausführlich die (bekannte)<br />

180<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong>


Gesundheit<br />

Rechtslage, ohne jedoch eine prinzipielle Festlegung zu<br />

treffen. Immerhin erklärte die Kasse: »Uns ist aber kein Fall<br />

bekannt, in denen von Versicherten der AOK Nordost derartige<br />

Mehrkosten gefordert wurden.« Ähnlich antwortete<br />

auch die Knappschaft, die ebenfalls eine prinzipielle Festlegung<br />

vermied, gleichwohl aber erklärte: »Fälle, in denen die<br />

Knappschaft in diesem Zusammenhang ihren Versicherten<br />

Mehrkosten für die allgemeine Krankenhausbehandlung in<br />

Rechnung gestellt hat, liegen bisher nicht vor.«<br />

Da keine der befragten Kassen einen Fall vermelden<br />

konnte, in dem Mehrkosten bei »falscher« Krankenhauswahl<br />

auferlegt wurden, erübrigte sich auch die Beantwortung<br />

unserer Frage 2 nach der Höhe dieser Mehrkosten.<br />

2. Bedeutung der Landesbasisfallwerte?<br />

Mögliche Mehrkosten, die als Folge einer »abweichenden«<br />

Krankenhauswahl zustande kommen, können durch die<br />

leicht unterschiedlichen Landesbasisfallwerte (LBFW) verursacht<br />

werden. 5 Daher wollten wir wissen, ob die unterschiedlichen<br />

LBFW eine Rolle spielen, wenn ein Versicherter<br />

ein Krankenhaus in einem anderen Bundesland wählt.<br />

Unsere dritte Frage lautete:<br />

3. Welche Rolle spielen die in den einzelnen Bundesländern<br />

zum Teil noch immer geringfügig unterschiedlichen<br />

Landesbasisfallwerte für Ihre Versicherten. Werden<br />

bei Wahl eines Krankenhauses in einem »teureren«<br />

Bundesland (etwa: Rheinland-Pfalz) die Mehrkosten<br />

dem Versicherten auferlegt?<br />

Entsprechend der Antwort auf Frage 1 wurde dies wiederum<br />

von 11 der 14 angeschriebenen Kassen klar verneint.<br />

Drei Kassen erklärten, dass bei ihnen keine Fälle bekannt<br />

seien, in denen die LBFW eine Rolle gespielt hätten. Die<br />

AOK Nordwest sieht gerade die geringen Unterschiede<br />

bei den Landesbasisfallwerten als Grund, auf eine Inrechnungstellung<br />

der Mehrkosten gegenüber den Versicherten<br />

zu verzichten: »Die entstandenen Differenzbeträge werden<br />

aus verschiedenen Gründen von den Versicherten nicht<br />

erhoben. Insbesondere aus verwaltungsökonomischen Erwägungen<br />

würden die zusätzlichen Verwaltungskosten die<br />

oftmals geringen Mehrerlöse deutlich übertreffen. Zusätzlich<br />

ist zu erwähnen, dass nach aktuellem Stand im April<br />

<strong>2016</strong> zehn Bundesländer den gleichen LBFW in Höhe von<br />

3.278,19 Euro abrechnen. In den meisten Fällen entstehen<br />

somit keine Kostenunterschiede.« Anzumerken ist: Inzwischen<br />

– im Mai <strong>2016</strong> – gibt es sogar in elf von 16 Bundesländern<br />

identische Landesbasisfallwerte. 6<br />

3. »Zwingender Grund« für eine abweichende<br />

Krankenhauswahl?<br />

§ 39 Abs. 2 SGB V unterscheidet, ob Versicherte einen<br />

»zwingenden Grund« für eine von der ärztlichen Einweisung<br />

abweichende Krankenhauswahl haben. Ist dies der<br />

Fall, dürfen ihnen keine Mehrkosten auferlegt werden. Wir<br />

fragten deshalb:<br />

4. Spielt es in der Praxis eine Rolle, ob ein Patient für seine<br />

(abweichende) Krankenhauswahl »einen zwingenden<br />

Grund« hatte?<br />

Da fast alle Krankenkassen von vornherein generell darauf<br />

verzichten, Mehrkosten in Rechnung zu stellen, spielt die<br />

Frage des »zwingenden« Grundes generell keine Rolle. Die<br />

Krankenhauswahl des Versicherten wird – soweit er denn<br />

keine Privatklinik wählt – generell akzeptiert, ohne nach<br />

dem Grund zu fragen. Auch die Techniker Krankenkasse,<br />

die ja eine generelle Festlegung vermeidet, überhaupt nie<br />

Mehrkosten zu erheben, erklärte, dass diese Frage nur<br />

»theoretisch« eine Rolle spiele.<br />

Die AOK Nordost beschäftigte sich dagegen mit der<br />

Frage, was solche zwingenden Gründe sein könnten. Sie<br />

führt die »Entfernung des Krankenhauses von den nächsterreichbaren<br />

Verwandten, bei Kindern von Bezugspersonen,<br />

religiöse Bedürfnisse oder die Berücksichtigung von<br />

angemessenen Wünschen der Versicherten« an. Ob von ihr<br />

eine Prüfung des »zwingenden Grundes« durch die Krankenkasse<br />

vorgenommen wird, erklärte sie allerdings nicht.<br />

Angesichts der Tatsache, dass der AOK Nordost kein Fall bekannt<br />

ist, in dem Mehrkosten in Rechnung gestellt wurden,<br />

erscheint dies jedoch außerordentlich unwahrscheinlich.<br />

4. Streichung der »Mehrkosten-Regelung«<br />

im SGB V?<br />

Unsere letzte Frage war eher politisch und in die Zukunft<br />

gerichtet:<br />

5. Halten Sie die aus Zeiten vor den Diagnosis Related<br />

Groups (DRG) stammende Regelung von § 39 Abs. 2.<br />

SGB V weiterhin für notwendig – oder für irreführend<br />

und entbehrlich?<br />

Mit der Beantwortung taten sich die meisten Krankenkassen<br />

recht schwer. Am deutlichsten haben sich dabei<br />

die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) und die Techniker<br />

Krankenkasse positioniert. Die KKH erklärte kurz und<br />

knapp: »Wir halten die Regelung für entbehrlich.« Die TK<br />

formulierte: Die Regelung »ist nicht mehr notwendig, also<br />

entbehrlich, da die Unterschiede in den Landesbasisfallwerten<br />

sehr gering sind«.<br />

Die AOKs enthielten sich dagegen einer eindeutigen<br />

Wertung bzw. traten eher für die Beibehaltung der Regelung<br />

ein. Die AOK Bayern vermied etwa eine Positionierung,<br />

indem sie erklärte, dass die Regelung für sie in der<br />

Praxis »keine Relevanz« habe. Die AOK Hessen erklärte,<br />

irreführend sei die Regelung sicher nicht, da es sich um<br />

eine Kann-Regelung handele. Die AOK Nordwest hielt die<br />

Regelung für »nicht praxisrelevant«.<br />

Andere AOKs, etwa die AOK Rheinland hielten die Regelung<br />

wegen der möglicherweise vom Versicherten bei<br />

Wahl eines weiter entfernten Krankenhauses zu übernehmenden<br />

Fahrtkosten für relevant. Ähnlich argumentierte<br />

die AOK Plus: »Hinsichtlich der Krankenhausvergütung<br />

ist die Regelung grundsätzlich entbehrlich. Dies gilt jedoch<br />

nicht für darüber hinaus gehende Mehrkosten (z. B.<br />

Fahrtkosten), welche ihre Ursache in der abweichenden<br />

Krankenhauswahl des Versicherten haben.« Anzumerken<br />

ist dazu aber, dass die Fahrtkostenübernahme – wie oben<br />

5 vgl. Rolf Winkel, a. a. O., S. 178 f.<br />

6 vgl. ebenda<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong><br />

181


Gesundheit<br />

dargestellt – an anderer Stelle im SGB V geregelt ist. Ein<br />

Wegfall des § 39 Abs. 2 SGB V würde also wohl kaum Auswirkungen<br />

auf die Fahrtkostenregelung haben.<br />

Wenn es einen Preis für die salomonischste Antwort<br />

gäbe, dann würde ihn die Barmer GEK verdienen. Sie erklärte:<br />

»Die aktuelle Regelung des § 39 SGB V lässt den<br />

Krankenkassen Spielraum für individuelle Regelungen (»…<br />

können ihnen die Mehrkosten […] auferlegt werden«). Wir<br />

nutzen diesen Spielraum […] zugunsten unserer Versicherten<br />

aus. Von daher besteht aus unserer Sicht kein zwingender<br />

Änderungsbedarf.«<br />

Dennoch fällt es den befragten Krankenkassen überwiegend<br />

schwer, Festlegungen zur Abschaffung oder Nichtanwendung<br />

des § 39 Abs. 2 SGB V zu treffen. Wichtig scheint<br />

dabei zu sein, dass die Bestimmung den Krankenkassen<br />

durch die »Kann-Formulierung« einen Ermessensspielraum<br />

einräumt. Eine generelle Festlegung, dieses Ermessen<br />

niemals auszuüben, sondern pauschal zu erklären,<br />

dass Versicherten keine Mehrkosten in Rechnung gestellt<br />

werden, finden manche Kassen-Juristen wohl problematisch.<br />

Der Gesetzgeber könnte hier durch eine simple Streichung<br />

von § 39 Abs. 2 SGV für Klarheit sorgen.<br />

5. Fazit<br />

Als Ergebnis unserer Umfrage kann festgehalten werden,<br />

dass die »Mehrkosten-Regelung« im SGB V zumindest<br />

in der Praxis der 14 größten gesetzlichen Krankenkassen<br />

keinerlei Rolle spielt. Ähnlich dürfte die Situation auch bei<br />

den anderen Krankenkassen sein.<br />

Rolf Winkel und<br />

Hans Nakielski,<br />

verantwortliche Redakteure<br />

der Sozialen Sicherheit<br />

Private Zusatzversicherungen und Krankenhauswahl:<br />

Mogelpackungen dominieren den Markt<br />

Von Rolf Winkel<br />

Private Gesundheits-Zusatzversicherungen boomen. Sie sollen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

(GKV) aufstocken und werben damit, Extras zu bieten, die über den Leistungskatalog der GKV hinausgehen. Insbesondere<br />

die privaten Krankenhauszusatzversicherungen sind weit verbreitet. Fast sechs Millionen solcher Versicherungen<br />

sind derzeit abgeschlossen. Doch einige Leistungen, die von den Krankenhauszusatzversicherungen<br />

offeriert werden, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen gar nicht als »zusätzlich«. Dies betrifft insbesondere<br />

angebliche Extras für die freie Krankenhauswahl. Hier ein Überblick.<br />

1. Entwicklung der privaten Krankenhauszusatzversicherungen<br />

24,3 Mio. Zusatzversicherungen verzeichnete die private<br />

Krankenversicherung (PKV) 2014 insgesamt im Versicherungsbestand.<br />

1 Fast ein Viertel davon waren »Zusatzversicherungen<br />

zum GKV-Schutz für Wahlleistungen im<br />

Krankenhaus« – wie der Verband der Privaten Krankenversicherungen<br />

(PKV) die Krankenhauszusatzversicherungen<br />

korrekt bezeichnet. Die Versicherten sollen sich damit einen<br />

Zusatznutzen erkaufen, den die gesetzliche Krankenversicherung<br />

nicht bietet – als »Aufsattelung« zu Leistungen<br />

der GKV.<br />

1 Vgl. Verband der Privaten Krankenversicherung: Zahlenbericht der Privaten<br />

Krankenversicherung 2014, S. 16. Eine Person kann mehrere Zusatzversicherungsverträge<br />

abgeschlossen haben. Ebenso können in einem Versicherungsvertrag<br />

mehrere Personen mitversichert sein (Gruppenversicherung).<br />

Deshalb spricht der PKV-Verband hier stets von »Versicherungen«<br />

(und nicht von »Versicherten«).<br />

2 Die gesamten Beitragseinnahmen (ohne private Pflegeversicherung) beliefen<br />

sich 2014 auf 34,3 Mrd. Euro (siehe Verband der Privaten Krankenversicherung,<br />

a. a. O, S. 40).<br />

Bei der privaten Krankenhauszusatzversicherung handelt<br />

es sich um ein prosperierendes Marktsegment. Nach den<br />

letzten vorliegenden Daten aus dem Jahr 2014 wurden damals<br />

5,87 Mio. solche Zusatzversicherungen registriert.<br />

2004 lag ihre Zahl noch bei 4,8 Mio. Sie ist seitdem Jahr für<br />

Jahr moderat angestiegen (s. Tabelle 1). 2004 hatten 6,8 %<br />

der damals 70,3 Mio. gesetzlich Krankenversicherten eine<br />

solche Zusatzversicherung. 2014 waren es – bei ebenfalls<br />

insgesamt 70,3 Mio. GKV-Versicherten – schon 8,3 %.<br />

Die Beitragseinnahmen der privaten Krankenversicherungsunternehmen<br />

aus den Krankenhauszusatzversicherungen<br />

beliefen sich 2014 auf 5,2 Mrd. Euro. Damit<br />

entfielen mehr als 15 % der gesamten Beitragseinnahmen<br />

aus der Krankenvoll- und -zusatzversicherung der PKV-<br />

Unternehmen auf die Sparte der Krankenhauszusatzversicherungen.<br />

2<br />

2014 kostete der private Zusatzschutz fürs Krankenhaus<br />

im Schnitt 886,34 Euro, das waren 73,86 Euro pro Monat.<br />

2004 lag der durchschnittliche Monatsbeitrag noch bei<br />

54,31 Euro. Er ist seitdem kontinuierlich angestiegen. Die<br />

Beiträge variieren dabei je nach Abschlussalter. Wer eine<br />

182<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong>


Gesundheit<br />

Tabelle 1: Zusatzversicherung zum GKV-Schutz für Wahlleistungen im Krankenhaus<br />

Zahl der<br />

Beitragseinnahmen<br />

Durchschnittsbeitrag (in Euro)<br />

Versicherungen<br />

(in Mio. Euro)<br />

pro Jahr<br />

pro Monat<br />

2014 5.870.800 5.203,50 886,34 73,86<br />

2013 5.814.500 5.069,70 871,91 72,66<br />

2012 5.776.600 4.756,60 823,43 68,62<br />

2011 5.712.800 4.524,50 791,99 66,00<br />

2010 5.643.500 4.338,20 768,71 64,06<br />

2009 5.565.400 4.121,40 740,54 61,71<br />

2008 5.382.700 3.931,00 730,30 60,86<br />

2007 5.167.600 3.724,00 720,64 60,05<br />

2006 5.096.500 3.520,00 690,67 57,56<br />

2005 5.040.000 3.284,50 651,69 54,31<br />

2004 4.804.400 3.281,90 683,10 56,93<br />

Quelle: Verband der Privaten Krankenversicherung e. V. , eigene Berechnungen<br />

entsprechende Versicherung im höheren Alter abschließt,<br />

wird keine günstigen Angebote mehr finden. Nach einer<br />

Marktanalyse der Stiftung Warentest vom Herbst 2015 variierten<br />

die Angebote damals für einen 43-jährigen gesunden<br />

Modellkunden zwischen 40 und 77 Euro im Monat. 3<br />

2. Was die Krankenhauszusatzversicherungen<br />

bieten und womit sie werben<br />

Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen bei einem<br />

stationären Krankenhausaufenthalt die Kosten für allgemeine<br />

Krankenhausleistungen. Hierzu gehören die ärztliche<br />

Behandlung, die pflegerische Versorgung, die Versorgung<br />

mit Heil- und Hilfsmitteln sowie Unterkunft und<br />

Verpflegung. Dabei fällt allerdings für Versicherte seit 2004<br />

eine Zuzahlung von 10 Euro je Tag für maximal 28 Tage im<br />

Jahr an, maximal sind dies damit 280 Euro pro Jahr. Versicherte<br />

mit niedrigen Einkommen werden aber aufgrund<br />

einer Sozialklausel generell mit weniger Zuzahlungen belastet.<br />

So beträgt etwa für Hartz-IV-Bezieher die Zuzahlung<br />

für alle Kassenleistungen (außer Zahnersatz) im Jahr <strong>2016</strong><br />

höchstens 96,96 Euro.<br />

Gesetzlich Versicherte haben keinen Rechtsanspruch<br />

auf die Behandlung durch einen bestimmten Arzt im Krankenhaus,<br />

sie haben auch keine Wahlmöglichkeiten hinsichtlich<br />

des Krankenzimmers. Wenn eine Klinik beispielsweise<br />

überwiegend Zimmer mit vier Betten hat, muss ein<br />

gesetzlich Versicherter die Zuweisung in ein solches Zimmer<br />

akzeptieren. Manche Patienten erhoffen sich von der<br />

Behandlung durch einen Chefarzt bzw. Arzt ihrer Wahl bessere<br />

Ergebnisse und andere sind daran interessiert, in jedem<br />

Fall in einem Ein- oder Zweibettzimmer aufgenommen<br />

zu werden. Dies kann durch eine private Krankenhauszusatzversicherung<br />

gesichert werden. Dabei ist allerdings zu<br />

berücksichtigen, dass es in immer mehr Krankenhäusern<br />

ohnehin nur noch Zweibett-Zimmer gibt – und diese damit<br />

auch zum Standard für gesetzlich Versicherte gehören.<br />

2.1 Die Kernleistungen der Krankenhauszusatzversicherungen<br />

Die beiden Leistungen »Ein- bzw. Zweibettzimmer« und<br />

»Chefarztbehandlung« sind die Kernleistungen aller privaten<br />

Krankenhauszusatzversicherungen. Andere Leistungen<br />

sind um diese beiden Kernleistungen herumgruppiert.<br />

So kann es beispielsweise bei Verzicht auf die Option<br />

»Chefarzt« oder »Ein-Bett-Zimmer« als eine Art von Entschädigung<br />

hierfür ein kalendertägliches Tagegeld geben.<br />

Die Angebote von privaten Krankenhauszusatzversicherungen<br />

unterscheiden sich in zahlreichen Details. So<br />

wird zum Teil eine Kostenerstattung bei ambulanten Operationen<br />

im Krankenhaus zugesagt, in einigen Versicherungstarifen<br />

werden Arzthonorare nur bis zum Höchstsatz<br />

der Gebührenordnung für Ärzte erstattet, in anderen Tarifen<br />

fehlt diese Begrenzung.<br />

Für alle Angebote gilt aber: Sie satteln auf Leistungen<br />

der GKV auf. Das bedeutet: Wer in einer reinen Privatklinik<br />

behandelt werden möchte, die keinen Vertrag mit den<br />

gesetzlichen Krankenkassen hat, muss – wenn er die Kosten<br />

nicht als Selbstzahler tragen will – schon eine private<br />

Krankenvollversicherung besitzen (was für GKV-Versicherungspflichtige<br />

nicht in Frage kommt). Eine private Zusatzversicherung<br />

kommt für solche Behandlungen in Privatkliniken<br />

nicht oder nur zu geringen Teilen auf. Das wird in den<br />

Versicherungsbedingungen (VB) der Zusatzversicherungen<br />

auch – wenn auch mit unterschiedlichen Formulierungen<br />

– durchweg so kommuniziert. So heißt es etwa in den<br />

VB des »Krankheitskostenteilversicherungstarifs SZ« der<br />

HUK-Coburg unter III. unmissverständlich: »Erfolgt für die<br />

stationäre Heilbehandlung keine Leistung durch die GKV,<br />

so entfällt die Erstattung nach diesem Tarif«. 4<br />

3 vgl. »Status Privatpatient. Krankenhauszusatzversicherung«, in: Finanztest,<br />

12/2015, S. 70–77 (74 ff.)<br />

4 www.huk.de > Produkte > Krankenversicherung > Krankenzusatzversicherung<br />

> Stationäre Zusatzversicherung > Detail > Allgemeine Versicherungsbedingungen<br />

Stationäre Zusatzversicherung Tarif SZ<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong><br />

183


Recht<br />

Soziales<br />

Auf hoher See und vor Gericht in Gotteshand?<br />

Die Folgen des Ausschlusses von SGB-II-Leistungen<br />

für arbeitsuchende EU-Ausländer<br />

Von Annett Wunder<br />

Ob und wann arbeitsuchende EU-Ausländer in Deutschland Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben, ist<br />

nach wie vor heftig umstritten. Trotz mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und des<br />

Bundessozialgerichts (BSG) kann von einer Klärung der Rechtslage nicht die Rede sein. Das Sprichwort »Auf hoher<br />

See und vor Gericht ist man in Gotteshand«, scheint mehr denn je zuzutreffen. Die Gerichte sind sich uneinig<br />

wie selten. Im Folgenden wird die derzeitige Gemengelage erläutert und die BSG-Rechtsprechung skizziert. Im<br />

nächsten Schritt wird dargestellt, welche Personengruppe von dem Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen nach<br />

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II erfasst wird und welche Folgen das für die Betroffenen nach sich zieht. Danach wird die<br />

Kritik in der Literatur und Rechtsprechung vorgestellt und ein Fazit gezogen. Mit einem eigenem Gesetz will nun<br />

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles »die Leistungsausschlüsse im SGB II und im SGB XII für Unionsbürgerinnen<br />

und -bürger […] klarstellen« 1 . Doch es bleibt fraglich, ob die geplanten Regelungen mit dem Grundrecht auf<br />

Sicherung des Existenzminimums vereinbar sind.<br />

1. Wer vom Leistungsausschluss nach<br />

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (nicht) betroffen ist<br />

Ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II sind nach<br />

§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II:<br />

»A.1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der<br />

Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer<br />

oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3<br />

des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt<br />

sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate<br />

ihres Aufenthalts,<br />

A.2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht<br />

sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,<br />

und ihre Familienangehörigen,<br />

A.3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.«<br />

Wenn man über den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1<br />

Satz 2 SGB II spricht, muss man sich, um die Bedeutung<br />

der Entscheidungen von EuGH und BSG besser einordnen<br />

zu können, verdeutlichen, welche ausländischen Personen<br />

1 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Hintergrundinformation zum<br />

Gesetzentwurf über Leistungsansprüche von ausländischen Personen nach<br />

SGB II und SGB XII, 28.4. <strong>2016</strong><br />

2 vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 und Satz 2 SGB II; hierzu: Anders Leopold, in: Rainer<br />

Schlegel/Thomas Voelzke (Gesamt-Hrsg.): juris Praxiskommentar (jurisPK)<br />

SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7, Rn. 115<br />

3 vgl. BSG, Urteil vom 19. 10. 2010, Az.: B 14 AS 23/10 R; so auch Urteil vom<br />

30.1.2013, Az.: B 4 AS 54/12<br />

4 vgl. BSG, Urteil vom 19. 10. 2010, Az.: B 14 AS 23/10 R, Rn. 22<br />

5 vgl. BSG, Urteil vom 3. 12. 2015, Az.: B 4 AS 43/15 R, Rn. 18<br />

6 vgl. BSG, Urteil vom 3. 12. 2015, Az.: B 4 AS 43/15 R, Rn. 19, 20<br />

7 EuGH, Rs. C333/13, Urteil vom 15. 11. 2014 (Dano); EuGH, Rs. C67/14, Urteil<br />

vom 15. 9. 2014 (Alimanovic); hierzu ausführlich: Yasemin Körtek, in:<br />

SozSich 10/2015, S. 370–378; Annett Wunder, in: Die Sozialgerichtsbarkeit<br />

(SGb) 11/2015, S. 620–623; Stamatia Devetzi/Frank Schreiber, in: Zeitschrift<br />

für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 1/<strong>2016</strong>, S. 15–20;<br />

Astrid Wallrabenstein, in: JuristenZeitung (JZ) 3/<strong>2016</strong>, S. 109–120<br />

in Deutschland nicht von dem Leistungsausschluss erfasst<br />

sind. Dazu zählen:<br />

• Unionsbürger mit einem Daueraufenthaltsrecht,<br />

• Selbstständige,<br />

• Arbeitnehmer und Auszubildende,<br />

• Familienangehörige von Ausländern, die in Deutschland<br />

Arbeitnehmer oder Selbstständige sind und<br />

• Aufenthaltsberechtigte aus völkerrechtlichen, humanitären<br />

oder politischen Gründen. 2<br />

Zu beachten ist, dass Staatsangehörige eines Unterzeichnerstaates<br />

des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA)<br />

früher zunächst ab dem ersten Tag der Arbeitsuche in<br />

Deutschland einen Anspruch auf SGB-II-Leistungen hatten.<br />

3 Das EFA erfasst die Staatsangehörige aus Belgien,<br />

Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island,<br />

Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen,<br />

Portugal, Schweden, Spanien, die Türkei und Großbritannien.<br />

4 Seit der Erklärung des Vorbehalts nach Art. 16 b EFA<br />

am 19. Dezember 2011 durch die Bundesregierung steht<br />

das EFA dem Leistungsausschluss des SGB II nicht mehr<br />

entgegen. 5 Das BSG kam zum Ergebnis, dass der Vorhalt<br />

wirksam durch die Bundesregierung erklärt wurde. 6<br />

2. Die Rechtsprechung des EuGH und des BSG<br />

In den Rechtssachen Dano und Alimanovic hat der EuGH<br />

den Ausschluss von EU-Bürgern von der Leistungsgewährung<br />

nach dem SGB II in unterschiedlichen Fallkonstellationen<br />

im Einklang mit Europäischem Recht gesehen. 7 Da<br />

es sich bei beiden Verfahren um Vorabentscheidungsverfahren<br />

handelte, schließt sich nach Art. 267 des Vertrages<br />

über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die<br />

Entscheidung des Gerichts an, das den Fall dem EuGH vor-<br />

198<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong>


Soziales<br />

Recht<br />

gelegt hat. Am 3. Dezember 2015 hat der 4. Senat des BSG<br />

im Nachgang an das EuGH-Urteil in Sachen Alimanovic sowie<br />

in zwei weiteren Rechtsstreiten über die Leistungsgewährung<br />

an EU-Bürger entschieden und dabei den Betroffenen<br />

unter bestimmten Umständen Sozialhilfeleistungen<br />

zugebilligt. 8 Mit Entscheidungen vom 16. Dezember 2015<br />

und 20. Januar <strong>2016</strong> schloss sich dann der 14. BSG-Senat<br />

dieser Rechtsprechung an. Im Folgenden werden die Entscheidungen<br />

des BSG kurz skizziert:<br />

2.1 Fall B 4 AS 43/15 R (Rechtssache Alimanovic)<br />

Die vier Kläger sind schwedische Staatsbürger. 2010 kam<br />

die Familie (erneut) nach Deutschland. Die Mutter und die<br />

älteste Tochter gingen von Juni 2010 bis Mai 2011 kürzeren<br />

Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten nach. Der Familie<br />

wurden bis zum 31. Mai 2012 SGB-II-Leistungen gewährt.<br />

Aufgrund des erklärten Vorbehalts zu EFA hob das<br />

beklagte Jobcenter Berlin-Neukölln diese Leistungen im<br />

Mai auf. Das Sozialgericht (SG) Berlin gab der Klage der<br />

Familie statt, weil der Leistungsausschluss nicht greife. 9<br />

Art. 4 der Verordnung des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme<br />

der sozialen Sicherheit (VO [EG] 883/2004) verbiete<br />

jede Ungleichbehandlung von Unionsbürgern gegenüber<br />

eigenen Staatsangehörigen bei besonderen beitragsunabhängigen<br />

Geldleistungen. 10 Zudem verdränge das<br />

Gleichbehandlungsgebot nach Art 1 EFA weiterhin die Ausschlussregelung.<br />

Das BSG verwies den Rechtsstreit am 3. Dezember<br />

2015 an das Landessozialgericht (LSG) zur weiteren Sachverhaltsaufklärung.<br />

11 Ob der Leistungsausschluss greife,<br />

hänge vom Status des Aufenthaltsrechts ab. Es sei zu<br />

prüfen, ob die Klägerinnen über weitere Aufenthaltsrechte<br />

verfügen. 12 Denn der Leistungsausschluss würde »von<br />

vornherein« entfallen, wenn die Voraussetzungen für ein<br />

anderes materielles Aufenthaltsrecht als dem zur Arbeitsuche<br />

erfüllt seien. 13<br />

2.2 Fall B 4 AS 59/13 R (Grieche)<br />

Am 3. Dezember letzten Jahres hat das BSG auch über den<br />

Leistungsanspruch eines erwerbsfähigen Griechen entschieden,<br />

der im Oktober 2011 erneut nach Deutschland<br />

gezogen war. Er war weniger als zwei Monate als Lagerist/<br />

Fahrer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seit August<br />

2012 verfügte er über eine Bescheinigung nach § 5 Abs. 1<br />

FreizügG/EU. Ihm wurden vom August 2012 bis Januar 2013<br />

SGB-II-Leistungen gewährt. Das zuständige Jobcenter lehnte<br />

die Weiterbewilligung ab, weil der Kläger ein alleiniges<br />

Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe und damit der Leistungsausschluss<br />

des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greife.<br />

Das Sozialgericht Frankfurt a. M. und das Hessische<br />

Landessozialgericht sprachen dem Kläger Leistungen nach<br />

dem SGB II zu. 14 Das LSG vertrat die Ansicht, dass der Leistungsausschluss<br />

des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Fall<br />

des Klägers keine Anwendung fände, obgleich er sich nicht<br />

(mehr) auf den Arbeitnehmerstatus nach dem FreizügG/EU<br />

berufen könne, weil § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit der<br />

VO (EG) 883/2004 – also der Verordnung zur Koordinierung<br />

der Systeme der sozialen Sicherheit – kollidiere, denn<br />

das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 in Verbindung mit<br />

(i. V. m.) Art. 70 VO (EG) 883/2004 schließe eine Ungleichbehandlung<br />

aus Gründen der Staatsangehörigkeit aus. 15<br />

Das BSG hob auf die Revision des Jobcenters die Entscheidung<br />

des LSG auf und verwies die Sache zur Klärung<br />

der Aufenthaltsrechte im streitigen Zeitraum zurück. Es<br />

führte aus, dass der formell und materiell wirksame Vorbehalt<br />

der Bundesregierung zum EFA zwar SGB-II-Leistungen,<br />

nicht jedoch Sozialhilfeleistungen in gesetzlicher Höhe an<br />

den Kläger ausschließe. 16<br />

2.3 Fall B 4 AS 44/15 R (rumänische Familie)<br />

Des Weiteren entschied das BSG am 3. Dezember 2015<br />

über den Leistungsanspruch einer rumänischen Familie.<br />

Die Ehefrau hatte in Rumänien nicht gearbeitet. Der Ehemann<br />

hatte dort eine Schlosserlehre absolviert und nach<br />

dem Armeedienst als Taxifahrer und Tagelöhner in der<br />

Landwirtschaft gearbeitet. Sie zogen 2008 mit den 1992<br />

und 1995 geborenen Kindern nach Deutschland. Von Oktober<br />

2008 bis Oktober 2009 meldete der Ehemann hier ein<br />

Gewerbe für »Abbruch- und Entkernungsarbeiten, Hilfsarbeiten<br />

auf Baustellen« an, das er aber nicht betrieb und<br />

aus dem ihm kein Einkommen zufloss. Durch den Verkauf<br />

einer Obdachlosenzeitschrift blieb den Eheleuten ein Einkommen<br />

von nur 120 Euro im Monat. Für die Söhne erhielten<br />

sie zudem Kindergeld.<br />

Das Jobcenter gewährte der Familie von Oktober 2010<br />

bis November 2011 keine Leistungen. Das zuständige Jobcenter<br />

und das Sozialgericht gingen davon aus, dass die<br />

Familie vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2<br />

SGB II erfasst sei. 17 Das LSG teilte diese Ansicht nicht. Der<br />

Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II erfasse<br />

die Kläger nicht, weil sie kein materielles Aufenthaltsrecht<br />

hätten. Eine erweiternde Auslegung im Sinne des Erstrechtschlusses<br />

scheide aufgrund des Ausnahmecharakters<br />

des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus. 18<br />

8 vgl. dazu SozSich 12/2015, S. 429<br />

9 vgl. Sozialgericht (SG) Berlin, Urteil vom 19. 12. 2012, Az.: S 55 AS 18011/12<br />

10 Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen haben einen Mischcharakter.<br />

Sie vereinen sowohl Elemente der sozialen Sicherheit als auch<br />

Elemente der Sozialhilfe in sich, weil ihr Kennzeichen u. a. die Gewährung<br />

eines Mindesteinkommens zur Bestreitung des Lebensunterhalts ist. Der<br />

EuGH zählt auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach<br />

dem SGB II zu den besonders beitragsunabhängigen Leistungen. (vgl. Yasemin<br />

Körtek, a. a. O.:, S. 372).<br />

11 vgl. BSG, Urteil vom 3. 12. 2015, Az.: B 4 AS 43/15 R, Rn. 26<br />

12 Vgl. ebenda, Rn. 29 ff. Das BSG verweist auf ein mögliches Aufenthaltsrecht<br />

der Mutter nach Art 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer<br />

innerhalb der Union (VO [EU] Nr. 492/2011) und hinsichtlich<br />

der Tochter auf ein möglicherweise vom Vater abgeleitetes Aufenthaltsrecht.<br />

13 vgl. ebenda, Rn.27 unter Bezugnahme auf: BSG, Urteil vom 25. 1. 2012, Az.:<br />

B 14 AS 138/11 R, Rn. 20 f.<br />

14 vgl. LSG Hessen, Urteil vom 20. 9. 2013, Az.: L 7 AS 474/13<br />

15 vgl. ebenda, Rn. 10<br />

16 vgl. BSG, Urteil vom 3. 12. 2015, Az.: B 4 AS 59/13 R, Rn. 25<br />

17 Es erschließt sich nicht, warum im Fall der Kläger nicht wie im Fall Alimanovic<br />

geprüft wurde, ob aufgrund des Schulbesuches eines Sohnes ein abgeleitetes<br />

Aufenthaltsrecht besteht; vgl. BSG, Urteil vom 3. 12. 2015, Az.: B 4<br />

AS 44/15 R, Rn. 30 ff.<br />

18 vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. 10. 2013, Az.: L 19 AS 129/13<br />

Soziale Sicherheit 5/<strong>2016</strong><br />

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